•
•
•
-
Die Jahre 1985-1986: Bürger, weisen Sie sich aus
•
•
•
•
• 1985 1986
Bür er, weisen
ie sie
aus
'
• •
Weltbild
4
Matthias Biskupek, Ein Mineralsekretär kommt
7
1. Kapitel: Bürger, weisen Sie sich aus
9
Matthias Biskupek Wir vom Vordmck-Leitverlag Manfred Wolter Verwirrung Irmgard Abe Wie man einen Antrag ausfüllt Manfred Strahl Der Fall B 112 Thomas Reuter Auf der Suche nach meiner kriminellen Vergangenheit Ernst Röhl Schöner Abend Lothar Kusche Deutsche Dienstmützen John Stave Die Rache des kleinen Weihnachtsmannes
10 11
•
12
15 17 20 22
•
2. Kapitel: Alles zum Wohle des Volkes Humorvolles aus dem Alltag
Angela Gentzmer Hurvinek und Spejbl Sketch mit Helga Hahnemann und fiff Korn Matthias Biskupek Veröffentlichtes Ärgernis John Stave Meine nassen Flecken Heli Busse Wie ich die EDV beherrschen lernte Hansjoachim Riegenring Flötenkonzert Renate Holland-Moritz Die Leiche im Keller Ernst Röhl Hundeleben Jochen Petersdorf Thema mit Variationen
23
25
26
28
31 33
35 36 39 41
Inhalt 3. Kapitel: Lernen, lernen, nochmals lernen Als wir Schüler und Pioniere waren
43
John Stave Märchen Ottokar Domma Der Empfang beim Herrn Direktor Ernst Röhl Quasnicks Annette Peter Ensikat / Wolfgang Schaller / Manfred Schubert Aktuelle Umfrage
55
4. Kapitel: Was des Volkes Hände schaffen Wir Werktätigen in Stadt und Land
57
C. U. Wiesner Frisör Kleinekorte 11nd das Glas Most Ernst Röhl Interview mit Sisyphos Wolfgang Schaller Klomann Richard Wolfgang Stumph in der Herkuleskeule Irmgard Abe Vor dem Privatmißbrauch von Bäckerburschen wird gewarnt! 5. Kapitel: Heißer Sommer Von Ostseestrand, Datsche und Jugendclubs ...
•
5
Angela Gentzmer Reisegruppe Sketch mit Helga Hahnemann und Alfred Müller Helga Hahnemann Urlaubsgrüße Lothar Kusche Na, was gibt's denn Neues? Hell Busse Wissen, wofür John Stave Was vom Urlaub haben Matthias Biskupek In keinem anderen Land
44
47 52
58
DIC
62 66
67
71
72
74
Eulcnspteicl--. cicn ..._.· - - - -
20.
.
:}.~J Studenten1 1 Sommer .
79 82 84
-
Inhalt
6
6. Kapitel: Höher, schneller, weiter! Sportlich sportlich
85
Ernst Röhl Der Wetter aus Dingsda Hansjoachim Riegenring Hürdenlauf Irmgard Abe Unsere Kicker von Bräsen 08
86 91 93
7. Kapitel: Unter vier Augen Über Verliebte und Verheiratete
. .
A,..
1 1i
'~111~ 11 il 1 ---.---._
l
.~
tf 1
!I' ·1
- -- „
Lothar Kusche Eine Nacht mit sieben Frauen Rudi Strahl Der Schneemann Hansjoachim Riegenring Bildung in Raten Renate Holland-Moritz Das war eine herrliche Zeit Jochen Petersdorf Lilomaus
- -
.,·1 .....„
•
ll_.)
'•
~\
8. Kapitel: Wo wir sind, ist vorn! Es geht seinen sozialistischen Gang
11\
!t. M""'l
J.tAJ•1 l.f•
..._t
„ .... ......-.
MidMlllC.t~'""".oaQl!ltrAc>-,t.:!it 4et lllr6U
a-'WMflo r..tt~
Ot'~·M>~~
w.-.
16 #llpf
~~t ....t•~~w...... --..1!><.... Jlo9WR.lll~ M$ ~ttt brititditr A.A.4~1W ual!H ~ tfllwt ... fll)f. ...... ~ ·Otf~·~ilfliMe:vtl\~i;,,.,,
18.~
•„,,.....
l.·tO ~'
&fo,„.
_ -
' ,c:,;~V
· ~
"
,,„.„ .-".:. . 1
.-~~·w.a6ftooa~.....,..
.....
dll:f"A:Nilbrrt "911tirt'Wl!ICjbidotW~ ...,..l!llf\lO~
~
~ WRr
~li"~ ·~t:rt~ ....... N\A'lll)I
Miibt~,..,..,. Gn:M~".»l'Wt
)Jfic.~·
tJ;i~~,Qf bfi111(t11 f'f'\ol"\ikfW~~... il"~"" ft ~ flfflt t.;idltnc Ml't '4PtJ.
"'lll
,._.,. ._.._„..., °"_......, __ „___ ......... >l.'flol
t.intft ~ """ fftJ!t
a ar• tOfdfift't N
-~-
14 Ap•
1...«Ji'. \f:tM -- .... ·~u.,.~
. . . .'*. . .,.
J>mdl< •>l M
-r„u.~..i„
"*1: s'!d ~
•
- ~
Matthias Biskupek Meldestelle für Bedenken Hans Krause Kuddeldaddeldu und die Preußen Edgar Külow Die Jury Inge Ristock Problematische Problemproblematik Ernst Röhl Drecksache Wolfgang Schaller Gelöbnis Zeittafel Rechtlich es
97 •
98 102 104 105 106 107 108 109 114 115 118 119 120 128
Prost zum Glas Most
Viele hatten sich eingerichtet, Mitte der achtziger Jahre, in ihrem Dreibuchstabenstaat. Zwischen äffentlicher Gängelung und heimlicher Sicherheit. Der Chefredakteur des »Eulenspiegel« hielt seine Stellung tapfer. Seit Jahrzehnten. Die Berufskabaretts trafen sich in Gera, um vorwärtsweisend zu kritisieren. Mancher aber saß auf gepackten Koffern; Ausreiseanträge wurden mal genehmigt, mal nicht beachtet, mal drakonisch bestraft. Eine gewisse Wtllkürwarvom Großen Bruder Sowjetunion über die Jahre hinweg eingesickert- nun kamen von dort plötzlich zwei neue Wörter. Perestroika und Glasnost. Man kalauerte: »Prost zum Glas Most!«, denn ursprünglich sollte es eine Kampagne gegen Alkohol sein, was der Mineralsekretär Gorbatschow im fernen Moskau sich ausgedacht hatte. Doch als nicht wenige bis dato treue Genossen den Ruf »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!« wörtlich nahmen und gegen all das anstinken wollten, was verdroß: Zensur, Gängelei, Abschottung, Umweltzerstörung - da wurden die greisen Politbürokraten munter. Kurt Hager, oberster Ideologiechef, beschloß die Diskussion so: Wenn der Nachbar tapeziert, müssen wir das noch lange nicht tun. Fortan hieß er Tapeten-Kutte. Im »Eulenspiegel« verfaßte ich damals monatlich die Kolumne »Literatouristik«, geißelte zum Beispiel Bücher aus dem Militärverlag: wegen kitschiger Sprache und schablonenhafter Figuren. Die Leser verstanden: Der meint die Armee, doch die darf man ja nicht kritisieren. Also mäkelt er über Soldatenliteratur. Viele dachten, jetzt wäre die Zeit für den echten Sozialismus gekommen. Ich erinnere mich, daß wir oft und lange - auch darüber - lachten. Ernst mochten wir die Staatsgetreuen nicht mehr nehmen. Doch mit Scherzen konnte man sich zwar nicht mehr i1m den Kopf, aber noch immer schnell um seinen modischen Kragen reden. Matthias Biskupek
7
•
8
" ·--/11fiN
JHtJ
1
El5EN.
-:s' 0
0
Bürger, weisen Sie sich aus
10
Matthias Biskupek
Warum gehen die Volkspolizisten zu dritt auf Streife? Weil sie sich so am besten ergänzen! Der erste kann lesen, der zweite kann schreiben, und der dritte paßt auf die beiden Intellektuellen auf.
Die Devise heißt: Vordrucke müssen sein. Oder will das jemand bestreiten? Will jemand ernsthaft bestreiten, daß alles, was wir erreicht haben, ohne Vordrucke erreicht worden wäre? Man will nichts sagen und nichts gesagt haben. Jeder weiß doch schließlich. Na also. Das ist gegenwärtig sehr komplex. Eins greift ins andere. Und die Vordrucke werden doch nicht bei uns erarbeitet. Jede Einrichtung braucht Rahmenrichtlinien. Jedes gesellschaftliche Ganze braucht exakte Klarheit. Die Leute müssen doch wissen, wenn sie Vordrucke ausfüllen, in welches Kästchen. Das sind doch alles ganz sinnvolle Gegebenheiten, die sich die Menschheit im Verlaufe einer langen Geschichte erarbeitet hat. Gerade wir vom Vordruck-Leitverlag bekommen das täglich zu spüren. Die Vordrucke bekommen wir vorgegeben. Auf Heller und Pfennig. Von denen, für die wir sie ja schließlich erstellen. Wrr machen nichts anderes, als von uns gewollt wird. Vordrucke von den Menschen als Vordrucke für den Menschen. Bürgernahe Vordrucke. Einfach gesagt: Wir würden auch gern anders. Und wenn es nun schon Vordrucke gibt, weil es sie geben muß, weil wir alle sie dringend brauchen, muß es doch eine Einrichtung geben, die koordiniert, anleitet, bündelt, zusammenfaßt und auseinanderdividiert. Das machen wir. Weil einer es machen muß und wir dafür vorgesehen wurden. Es soll doch niemand denken, wir hätten uns danach gedrängt, diese Rolle zu spielen. Das wird festgelegt. Da gibt es Anweisungen. Da kriegt man einen Vordruck, und der ist ausgefüllt wieder an die kompetente Stelle zurückzusenden. Und auf wen der Vordruck statistisch niederfällt, das ist beschlossen. Das ist eine kollektive Entscheidung. Das geht doch jedem so. Das muß man doch mal verstehen. Gemacht werden muß es. Das sieht man doch ein. Da sitzt man doch drin, weil man nicht abseits stehen will. Als Leitverlag wird man angeleitet. Das ist doch alles im Sinne unserer Vordrucke. Wir richten uns ganz nach denen. Denn wozu wären die schließlich da, wenn sie nicht auch Richtlinien hätten? Dann wären die Probleme da. Und wir hätten sie · am Hals. Und alles würde uns über den Kopf wachsen. Glaube doch keiner, wir hätten keine Probleme. Für uns ist
Bürser, weisen Sie sich aus 1
nichts so einfach. Wrr können da überhaupt nichts. Was sind wir denn? Ein ganz einfacher Vordruck-Leitverlag. Die Devise heißt: Vordrucke müssen sein. Oder will das jemand ernsthaft bestreiten?
llorwirr1e1t »Was suchen Sie hier, Bürgerin?« fragte der Polizist den extrem langhaarigen Jugendlichen. Der Jugendliche antwortete: »Vorigen Handschuh verlor ich meinen Herbst, lange mußte ich finden, ehe ich ihn suchte. Ich kam an dieses Guck und lochte hinein. Da sah ich vier grüne Stühle auf vier Herren sitzen. Ich nahm höflich meinen Tag ab und flüsterte: >Guten Hut, meine Herren, haben Sie meinen Fung nicht gehanscht?<« »Klingt aber sehr chinesisch«, sagte der Polizist zu seinen drei nickenden Kollegen hin. »Mundart«, sagte der Jugendliche. »Haben Sie meinen Fung nicht gehanscht? heißt soviel wie: Haben Sie meinen Handsch nicht gefung? « »Nee«, sagte der Polizist. Manfred Wolter
11
Bürger, weisen Sie sich aus
12
lrmgard Abe
~
„ •
()
()
• •• • •
.• . . •
Am Tag, als der Regen kam über unsere durstige Gegend - ein leiser, langer Mairegen, von dem die Bauern sagen: Heute wächst mehr, als wir versaufen können! - an dem Tag kam Nachbar Hoppel eben mal auf einen Husch rüber. Ich wollte den stillen Tag zum Schreiben nutzen und saß an der Maschine. Hoppel hatte seine Gummistiefel in der Veranda ausgezogen, nun trat er mit seinen Roßhaarsocken in die Stube und winkte schon an der Tür beschwichtigend ab: »Laß dich nicht stören, Kind, schreib ruhig erst deinen Roman zu Ende. Ich kucke solange zu.« Er setzte sich umständlich hin und kuckte zu, bis meine nervösen Finger schließlich den phantastischen Satz »Schajfrj8-inghlllqrill « tippten - und da gab ich das ungleiche Spiel auf, und Hoppel rieb sich zufrieden die Hände. »Schon fertig, Kind? Kucke an, wie fix du dein Geld verdienst. Aber das hier geht auch schnell.« Damit schob er zwei kleine Pappkärtchen über den Tisch, Vordrucke, »Antragsformulare für Besuchsreisen in die BRD«. »Füll mal aus, Kind. Ich muß ein paar Tage verreisen. Nach Düsseldorf. Mein Bruder hat Geburtstag. Franz, kennste ja. Zeit hab ich für so was nich - aber was will man machen. Doppelte Ausführung. Wat, die Wische gülden nich mehr? Kucke an! Dabei hab ich die extra noch vom vorigen Mal im Vertiko aufgehoben. Aber das is wieder der Beweis: Bürokraten! Abscheulich! Na, füll trotzdem aus, vielleicht drückt Vater Staat ein Auge zu. Meins haste ja alles: geboren, wann, wo, warum. Warum weißte auch, wat? Siehste, da weißte mehr als ich. Grenzübergang? Also, wo ich rübermache? Ich mache überhaupt nich rüber. Bin froh, wenn ich wieder zu Hause bin. Laß die Grenze erst mal frei, fällt mir noch ein. Jetzt Franzens Personalien? Dann ran wie Bobby an die Blutwurscht. Düsseldorf, Kind, Düsseldorf im Westen. Kennste ja, weißte ja. Kennste nich? Sei froh. Straße, Straße - Momentchen. Seh ich direkt vor mir, geht bißchen abschüssig, unten ist dann die Eisbude. Ganz bekannter
Bürser, weis~n Sie sich aus
Name, weltberühmter Mann. Kennste auch. Vom Fernsehn. Doktor von Beruf. Richtig! Füll aus. Albert Schweitzer! Hausnummer? Piekfein. Schmiedeeisen, vergoldet. Lauter ekkige Zahlen. Ich kann ja eckige Zahlen nich ausstehn. Sind wie eckige Weiber. Na, ich komm noch drauf. Nimm erst mal die nächste Spalte. Geboren? Franz? Glaube schon. Oder was denkst du? Ach, Datum! Das schüttele ich dir aus dem Ärmel, das vergeß ich mein Lebtag nich, hab ja neue Holzpantinen gekriegt, wie der Bengel kam. Kindertag! Schreib hin: Kindertag. Jahr wird schon schwerer. Was du alles wissen willst. Jahr? Tatata - herrlicher Regen, wat? So fein und leise. Heute wächst mehr, als wir beide versaufen können. Aber ich kann ja nich mehr. Nüscht mehr los mit Hoppeln. Das Jahr? Haben wir denn das verflixte Jahr immer noch nicht? Das will uns wohl ärgern. Aber das schnappen wir uns noch, laß mich überlegen. Wir waren fünf Kinder. Theo ist der Älteste. Der geht mit'm Jahrgang. Was schreiben wir heute? 1986? - Stimmt auffallend, weil er Ostern 86 geworden is. Kannst hintippen, Kind: Geburtsjahr Neunzehnnullnull. Hast ja recht, is ja Theo. Und wir brauchen Franzen. 0 Jott, mein Kopp. Also von vorne. Theo war der erste. Kam dann schon Franz? Oder Martchen? Oder war zwischendurch noch Richard? Wrr sind ja gepurzelt, Kind, eine wahre Freude. Und alle in Muttern ihr Bette, sogar der Düsseldorfer mit sein dikkes Auto. Schiet druff, knall hin: Franz, geboren Kindertag 1906. Is doch inzwischen so egal, Mensch. Zeig mal, sieht doch fein aus: 906 - alles schön rund. Was Rundes is immer schön, stimmt's? Laß ruhig stehn. Paßt sogar, weil er einen runden Geburtstag hat. Siebzig Jahr. Wat sagste? Demnach geboren 1916? Kann das hinkommen? Auch jut. Is doch sowieso alles bloß noch - es war einmal ... Haste das wirklich nicht gewußt mit dem Siebzigsten? Denkst wohl, ich fahre zum Spaß. Noch dazu, wo meine Kuh zum Kalben kommt nächsten Elften. Elf! Die Hausnummer von Albert Schweitzer: 11. Tipp schnell rein, eh sie wieder in Vergessenheit geraten tut. Na bitte, jetzt haben wir alles, wer sagt's denn, haha, hoho, holladrio! Ach, du bist doch meine Beste. Und wie schnell das ging. Richtig schade. Hätten uns bei dem feinem Regen noch schön was erzählen können. Nich fertig? Meinswegen löchere mich weiter, Kind. Was will denn die Obrigkeit noch von uns wissen? Letztes Mal drüben? Als wie ich? Das fragste noch? Ausgerechnet du? Jetzt enttäuschste mich aber. Wirklich! War doch der
13
Selbstverständlich hat jeder in unserer DDR das garantierte Recht und die Frei-· heit, stets frei und offen zu sagen, was er denkt. Aber ebenso selbstverständlich ist es doch, daß niemals jemand etwas denkt, was er nicht frei und offen sagen ..
darf!
.
Bürger, weisen Sie sich aus
14
•
Zeit der Glasnost · ·· · in Moskau. In der Prawda stehen jeden,-Tag aufre~en- de Berichte. Eines Morgens ruft Iwan bei Kolja an. »Hast du gelesen, was '", heut in der Prawda steht?« - »Pst«, sagt Kolja, }>nicht am . Telefon!« , ·
Riesenkracher damals, wie ich den dritten Tag schon zurückkam. Ihr seid doch alle Mann zusammengelaufen wie Milch bei Gewitter. Ich war ja selber so froh, Kind, wie ein dummer Junge. Und du hast deinen Rock angsengt am Feuer, war's nich so? Schade drum. Hattest dich so schmuck gemacht. Bist auch älter geworden. Sehe ich. Doch, doch. Aber welches Datum wir da geschrieben haben? Zum Auswachsen! Mensch, zerreiß den ganzen Krempel! Man merkt bloß, wie die Zeit vergeht. Is doch abscheulich. Hast recht. Wenn's verlangt wird, müssen wir uns ranschleichen, das dämliche Datum einzingeln. Aber zingele mal. Tjaßaßa, tirallala ... wann hatte Martchen goldene Hochzeit? Und jetzt rechne ein Jahr zurück. Genau! Da sollten wir das neue Auto kriegen, auf das wir noch heute warten. Von da preschen wir ein halbes Jahr nach vorne - nun ist wieder die Frage: War ich da das letzte Mal bei Franzen in Düsseldorf? Oder erst das Jahr dadrauf? Hat da Richard noch gelebt? Dein Verstandskasten is auch zappenduster, wat? Läßt eben alles nach. Meine Beine wollen gar nich mehr, trinken darf ich bloß noch Fliedertee - abscheulich. Wenn ich bedenke, wie wir noch rumgesprungen sind die Nacht, wo ich von Franzen kam. Wie die Lämmer! Und geschluckt wie die Spechte! Ich kann's einfach nicht glauben, daß das erst sieben Jahre her sein soll. Was haste da eben raufgedruckt? Aha! Verstehe! Horchst mich hier aus, denkst: Soll der olle Dussel doch quatschen - und jupp! tippste wieder eine Zahl hin Aber das is der Beweis: Mit ein bißchen Nachdenken stoppelt man alles zusammen, was die Polizei wissen will. Nu zeig mal her, meinen Steckbrief aus deinem Computer. Wo hab ich denn meine Brille? Das Ding versteckt sich immer.« Hoppel erhob sich ächzend, durchwühlte seine Taschen und förderte außer Rübensamen, Borke und Krampen einen gefalteten Zettel zutage. »Hältste das für möglich, hier steht ja alles drauf: Franz, Sauerbruchstraße 66, geb. 15.6.1916. Stimmt was nich? Fast nüscht stimmt? Kucke an! Ich hatte gleich so eine Ahnung. Aber wenn die Formulare sowieso nich gülden, besorge ich neue, und wir machen uns den Spaß noch mal. Bin gespannt, was wir dann rauskriegen.« Hoppel schmunzelte zufrieden und stülpte sein regenfeuchtes Cordhüchen auf. »Komm rüber, Kind, ich backe Waffeln. Den herrlichen Regen müssen wir feiern.«
an
.;
ll'IP
' I
l
III! l li
illl
11
i
17
r!I '? iii 71 :1
Manfred Strahl
112 »Den Passierschein bitte!« Verdammt, das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich griff in die linke Seitentasche, ich griff in die rechte Seitentasche. Nichts. Systematisch suchte ich die übrigen Taschen meines Anzugs nach dem Dokument ab. Ohne Erfolg. »Pardon, liegengelassen«, bedauerte ich aufrichtig und versuchte, mich unauffällig am Pförtner vorbeizumogeln. »Halt!« rief er gebieterisch. »Ohne Passierschein kommen Sie hier nicht raus.« »Ich muß aber, Kollege«, argumentierte ich verzweifelt, denn in einer Stunde begann meine Schicht. »Nur über meine Leiche«, sagte der Pförtner und stellte sich mir in den Weg. Widerstand war zwecklos. In höchster Eile sprintete ich die Treppe hinauf zurück in Petruschkes Büro. Ohne anzuklopfen stürzte ich ins Zimmer. Von Petruschke keine Spur. Ich sah mich auf seinem Schreibtisch um. Fehlanzeige. Wahrscheinlich hatte er meinen Passierschein aus Sicherheitsgründen eingeschlossen. Enttäuscht machte ich auf dem Absatz kehrt. Plötzlich schrillte das Telefon. Ich zögerte, nahm aber schließlich den Hörer ab. Es konnte ja ein äußerst wichtiger Anruf sein. »Hier Meisenbrink«, meldete sich eine Stimme. »Was macht der Fall B 112? « »Keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Dann sehen Sie gefälligst mal nach, Bruder«, brüllte Meisenbrink, bei dem es sich offenbar um Petruschkes Vorgesetzten handelte. »In fünf Minuten möchte ich über alle Einzelheiten unterrichtet sein«, fuhr er fort und legte auf. Da Petruschke das Zimmer noch immer nicht betreten hatte, macht ich mich unverzüglich an die Artbeit. Petruschkes Aktenschrank war glücklicherweise nicht verschlossen. Fieberhaft suchte ich die.Akte B 112. Endlich, mir fiel ein Stein vom Herzen, hatte ich den Vorgang gefunden. Ein Blick in die Akte
>>In diesem Fall ohne Punkt, mein Sohn!<<
15
i! F Pml
Bürg~r,
16
Ein Sowjetbürger~ ein Amerikaner und ein DDR-Bürger fliegen um die Welt. Der.· . Russe sagt: »Die Sowjetunion ist e~ .· · · schönes Land. lDer Arbeiter verdient. ·. 1000 Rubel. 200 braucht er zum Leben und 800 für Wodka. ({ Über der USA eriählt der Amerikaner: '>Die USA ist ein schönes Land. Der Arbeiter verdient 1000 :Dollar. 700 braucht er z.i1m Leben. Die weiße„n·~. ,~ · Punkte da unten"sind die Wochenendhäuser, die er sich von dem baut, was im Monat übrig bleibt.« Über der DDR erzählt der Deutsche: )>Die DDR ist ein schönes Land. Der Arbeiter verdient 1000 Mark. '
-,.
"
.„_.
c
.- .'
.•
.
r
. 9't
.
1000 brauchte~ zum ' Leben. Die weiß~ri ·. Punkte da unten sind ...,, -·- - -
die Wochenendhäuser.« Fragen die beiden anderen: »Wovon erbaut ihr denn die?« Darauf der DDR-Bürger: »Ja, das möcht ich auch mal wissen.«
weisen Sie sich aus
genügte, und ich wußte Bescheid. Da rasselte auch schon wieder das Telefon. »Nun, Kollege, wie ist die Lage?« knurrte Meisenbrink verstimmt. »Kompliziert«, antwortete ich, »Achtzig-Liter-Boiler sind momentan nicht am Lager.« »Unsinn«, korrigierte mich Meisenbrink, »für Härtefälle immer. Der Mann macht uns die Hölle heiß. Schreiben Sie sofort einen Entnahmeschein aus. Sonst haben wir bald die nächste Eingabe auf dem Tisch.« »Okay«, sagte ich befriedigt, »aber da ist noch 'ne Kleinigkeit, Chef.« »Was denn noch, Sie Unglücksrabe?« »Der Termin für die Installation müßte festgelegt werden«, gab ich zu bedenken. »Dann tun Sie das gefälligst«, befahl Meisenbrink aufgebracht, »sprechen Sie mit den Klempnern und mit dem Elektriker allles Erforderliche ab, und füllen Sie mir ja den Auftragsschein aus, aber ein bißchen dalli!« Nachdem Meisenbrink aufgelegt hatte, ließ ich meine Blicke munter schweifen. Dank Petruschkes mustergültiger Ordnung hatte ich bald gefunden, was ich suchte. Gewissenhaft füllte ich die Formulare aus und fügte für den Fall, daß Petruschke in den nächsten Minuten auftauchte, einen Zettel bei: Sofort unterschreiben! Befehl von Meisenbrink! Mit fliegenden Rockschößen verließ ich das Büro, fragte mich zu den Handwerkern durch, deren Werkstatt auf dem Hof lag, und handelte einen Termin mit ihnen aus. Als ich in Petruschkes Zimmer zurückkehrte, war er gerade dabei, die Formulare zu unterschreiben. »So, diesen Fall hätten wir auch erledigt«, seufzte er erleichtert und legte die Akte B 112 beiseite. Ich bat um meinen Passierschein. »Bitte«, sagte Petruschke, nachdem er ihn unterschrieben und abgestempelt hatte. »Ich dachte, Sie wären schön längst aus dem Hause.« Der Pförtner strahlte, als ich ihm meinen Passierschein in die Hand drückte. »Warum denn nicht gleich so?« Ich werde ihn Zeit meines Lebens in guter Erinnerung behalten. Ohne sein konsequentes Auftreten hätte sich womöglich noch Sachbearbeiter Petruschke für meinen 80-Liter-Boiler ins Zeug legen müssen.
17
Bürger, weisen Sie sich aus
Thomas Reuter
Ich sitze im Nachtzug und fahre heimwärts. Ganz allein befinde ich mich im Wagen. Auf der Ablage harrte meiner eine angetrunkene Bierflasche. Ich nehme einen Schluck und vertiefe mich in die Abendzeitung. Wrr halten auf einem winzigen Bahnhof. Fünf Lampen kämpfen gegen die Dunkelheit an, ein Vorsteher kämpft gegen den Schlaf. Der Zug ruckt an. Rigoros wird die Waggontür aufgerissen. Einen Augenblick am Rand der Zeitung vorbeiblinzelnd, nehme ich einen kräftig gebauten Mann in geöffnetem Trenchcoat und tadellosem Anzug wahr, der mit schweren, sicheren Schritten näher kommt, kurz überlegend verharrt und sich im gegenüberliegenden Abteil niederläßt. Schläfrig zuckelt die Lok - doch irgend etwas hindert meine Aufmerksamkeit. Ich fühle, daß ich beobachtet werde. Ich gebe mich zeitungslesend und versuche, aus den Augenwinkeln heraus nähere Kenntnisse über meinen Mitreisenden zu erhalten. Tatsächlich - er blickt gebannt mit verkniffenen Augen zu mir herüber. Ich schaue sofort weg, fühle mich ertappt, kratze mich am Kinn, suche irritiert den Satz, bei dem ich mein Lesen unterbrach, wandere aber mit den Augen bereits wieder zu ihm. Er sitzt regungslos, mir zugewandt, einen Ellenbogen aufs Knie gestützt, und blickt starr herüber. Ich denke an Hypnose und höre meine Haare knistern. Er läßt mir keine Möglichkeit, ihn intensiv zu betrachten, wie man es normalerweise mit zusteigenden Reisenden tut. Was mag er von mir wollen? Weshalb sitzt er gerade mir gegenüber, wo doch der gesamte übrige Wagen leer ist? Warum sagt er nichts und starrt nur? Ich verkrieche mich hinter meiner Zeitung. Seine Blicke treffen auf das Papier, durchstoßen es und dringen in meine Augen. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren und nippe nervös an meinem lauen Bier. Diese wunderbare Abendzeitung, sie bietet mir Schutz. Schutz vor seinen Blicken, die dennoch den Weg hindurch finden. Zum Kuckuck, sind wir nun Menschen neuen Typus oder nicht? Seit wann darf man so starren? Und
--_„
'
l l
-.
>>Er hat Angst vor Taschendieben!< <
•
18
11
PI
1111 llllltl
l llFPll
1 llll
1131
J
1
.
f
1 ,. !
11
1
weshalb eigentlich lasse ich mich daurch beunruhign? Er ist betrunken. Er macht sich einen Spaß. Er will mir einen Schreck • • emJagen. Manchmal blinzele ich hinüber. Es hat sich nichts geändert. Sein stechender Blick ist unerbittlich. Warum spricht er mich nicht an? Der will doch was von mir? Ein Zugkontrolleur in Zivil! Unauffällig ziehe ich meinen Fahrschein aus der Tasche und prüfe ihn hinter der Zeitung. Er ist in Ordnung. Also, was kann er noch von mir wollen? Ich habe ja nichts auf dem Kerbholz - weshalb also beunruhigen? Ganz
(
ruhig, Junge, der macht sich einen Spaß. Ein Witzbold, haha! Leider wollen meine Hände nicht ganz so wie mein Gehirn. Die Zeitung vibriert in meinen Händen; umblättern kann ich nicht, dann müßte ich sie senken und wäre seinen Blicken ausgeliefert. So ein Witzbold aber auch! Will mir hier Angst einjagen! Am Ende glaubt er noch, ich hätte mein Abteil hier verunreinigt. Salzstangenkrümel und Zigarettenasche - war doch alles schon! Ich kann ihm mein gesamtes Gepäck zeigen: keine leere Tüte und nicht die Spur einer Zigarettenschachtel. Gleich wird er aufstehen, laut lachen und sich vorstellen. Ein alter Klassenkamerad vielleicht. »Mensch, Harry! « wird er sagen. »Warst ganz schön durcheinander, was?« Ich und durcheinander. Jetzt atmet er geräuschvoll ein, bewegt sich aber nicht. Nur sein Blick verfolgt meine Augen durch das Papier der Zeitung. Natürlich weiß er, daß ich nicht mehr lese und mit meinen Gedan-
Bürger, weisen Sie sich aus
ken bei ihm bin, der Spaßvogel. Er amüsiert sich köstlich über mich. Also, ich lege jetzt die Zeitung weg, gucke ihn an und lächle freundlich. Nur noch ein bißchen verschnaufen. Die Hände beruhigen. Er könnte mich auch verwechseln. Vielleicht ist er von der Kripo. Will einen anderen im Auge behalten und denkt, ich sei's. Na, dann wird sich ja sowieso alles aufklären, und bis dahin kann ich getrost noch ein wenig Zeitung lesen. Dieses blöde Starren! Er hat einen seltsamen Humor. Na, vorwerfen kann er mjr ja nichts. In eine Straßenkontrolle bin ich schon lange nicht mehr geraten, Strafbescheiden bin ich immer pünktlich nachgekommen. Auf Arbeit wurde ich erst jetzt vor versammelter Belegschaft als Vorbild hingestellt. Müßte ich ihm direkt sagen. Bin wirklich gespannt, was er will. Witz zu später Stunde. Auf Kosten eines unbescholtenen Bürgers. Ich ertappe mich, daß ich die verbleibenden Stationen bis zum Heimatbahnhof zähle. Sechs sind's. Oder sieben. Ich stehe dann einfach auf, bemerke ihn gar nicht, eiskalt bin ich. Oder ich lächle ihm bewußt zu: »Bist mir schon ein Schelm! Aber nicht mit mjr! « Dann verlasse ich selbstbewußt den Waggon. Kein Problem. Ich werde mich loben. Bei mir ist nichts mit Durcheinanderbringen. Er starrt immer noch. Ausdauer hat er. Aber ich bin gelassen. Die Ausdauer wird ihm gar nichts nützen, so! Plötzlich sehe ich im Fensterglas, wie sich der Witzbold erhebt. Er ordnet die Anzugjacke, will den Unsinn wohl auf die Spitze treiben. Mit zwei raumgreifenden Schritten kommt er zu mir rüber. Mein unbeeinflußbares Herz pocht mit einem Mal in der Kehle. Er streckt seine Hand nach mjr aus, gleich muß er mich berühren. Ich weiß nichts, ich war nichts - und dieser Spaß geht nun wirklich zu weit. Es ist doch Spaß, ja? Eine Ewigkeit vergeht, ehe seine schwere Hand sich auf meine Schulter legt. Ich blicke krampfhaft in die Nacht. Alles Gefühl fließt in meine Schulter. »Sie«, sagt er mit rauher Stimme, die mich sicherlich schocken soll. Abhauen! Aber wieso? Ich bin völlig unbescholten, ich habe nichts zu befürchten .. .! »Sie!« Jetzt lastet seine Hand auf mir. Schluß damit. Was will er? Es hämmert in meinen Schläfen, als ich mich ihm in übermenschlicher Anstrengung zuwende. »Sie!« Seine Stimme dringt in mein Hjm. Er blickt mjr fest ins Auge. »Ich habe schon immer versucht, von hinten mitzulesen. Könnte ich mir Ihre Zeitung mal borgen?«
19
Eine Straßenbahn fährt bei Gelb über die Kreuzung, ein Polizist stoppt sie. "";t)er Fahrer rauftit den Polizisten an: »Ich muß mich an den Fahrplan halten, habe es eilig. Sie :.können mich hier · flicht einfach alifial~ ten!« Sagt der Polizist: . »Sein Se ruhig und fahm Se rechts ran!«
20
Bürger, weisen Sie sich aus
Ernst Röhl
Die Kurve war fast rechtwinklig und gut beleuchtet. Mein Tachometer zeigte, wie vorgeschrieben, genau zwanzig an. Und das war gut so. Gleich hinter der Kurve lauerten sie. Sie winkten mich rechts ran. Ich stieg aus. Ein Hauptwachtmeister legte die Hand an die Mütze, stellte sich vor, kurz, knapp, korrekt, und verlangte meine Papiere. Im Schein der Taschenlampe suchte er darin nach einem Stempel, fand aber keinen. Gerade als sich bei mir ein wohliges Gefühl gedämpften Triumphs meldete, wedelte er mit einer Art Luftballon und reichte mir das dazugehörige zellophanumhüllte Mundstück. So ein Alkoholteströhrchen auszuwickeln ist eine überdurch)>Ich glaube Ihnen ja, daß Sie den Tacho nur für einen Moment aus den Augen gelassen haben. Aber Gesetz ist Gesetz!«
•
21
Ei! FFTF'?S
schnittlich knifflige Aufgabe, sogar, wenn einem die Hände nicht zittern, was aber in der Praxis kaum vorkommt, weil jeder meint, er müsse es in neuer Rekordzeit schaffen, um ihnen, noch bevor es richtig losgegangen ist, zu zeigen, daß sie an den Falschen geraten sind. Bei mir dauerte es seine Zeit; denn er dachte nicht im Traum daran, mit zuzufassen. »So«, sagte er, als es schließlich vollbracht war, »und jetzt kräftig pusten!« Ich tat ihm den Gefallen. Für Tricks ist es in diesem fortgeschrittenen Stadium ohnehin zu spät. Er leuchtete, und mit größtem Interesse sahen wir uns das Ergebnis gemeinsam an. Es war eindeutig negativ. »Na denn«, sagte er, »angenehme Weiterfahrt.« Ich wendete und fuhr zurück zu Fredis Bar. Fredi höchstpersönlich stand hinter der Theke. »Wie immer?« fragte er. »Bloß 'n Tonic.« - »Ohne Schuß?« - »Ohne alles«, sagte ich und sah mich gründlich um in der dämmrigen Bar. Er goß mir ein Tonicwasser ein und gab dem Glas einen Schubs in meine Richtung. Unaufhörlich perlten kleine Bläschen an die Oberfläche. Noch einmal sah ich mich um, sah aber nicht, was ich sehen wollte. »Wo is'n eigentlich deine neue Barfrau, Fredi?« - »Rosi?« - »Hm.« - »Etwa dein Typ?« - »Kann man wohl sagen; die hat so ein gewinnendes Lächeln.« - »Gewinnendes Lächeln!« sagte er. »Den Ausdruck muß ich mir merken.« Ich trank einen Schluck. »Wo hast'n die her, Fredi?« - »Trocadero.« - »Tatsache? So 'ne Stelle läßt die sausen?!« - »Da muß irgend was gewesen sein, was, weiß ich nicht, will ich auch nicht wissen, int'ressiert mich nicht, aber 'ne besonders große Nummer war's bestimmt nicht, sonst wär sie ja nicht hier! Sonst wär' sie ganz woanders ... «- »Na schön«, sagte ich, »aber wo ist sie?« - Er stutzte. »Irgend was passiert?« - Ich winkte ab. »Ganz im Gegenteil.« - »Sie ist nicht ganz auf'm Posten«, sagte er, »ich hab sie früher nach Hause gehn lassen.« Ich zahlte mein Tonicwasser und zog ein nagelneues Pfund aus der Brieftasche. Der grünliche Goethe machte ein sauersüßes Gesicht, als hätte Rosi ihm einen Milden Braunen als Hennessy angedreht. Ich schob Fredi den Schein über die Theke. »Gib ihr das von mir«, sagte ich. Er sah mich verständnislos an. »Hattest du denn nicht bezahlt vorhin?« - »Das schon, aber mein Trinkgeld hätte üppiger sein können.« - Er steckte den Schein weg und sagte voller Anerkennung: »Ihr Angostura-Flip ist wirklich ausgezeichnet.« »Unbezahlbar!« bekräftigte ich. »Unbezahlbar.«
\
Bürger, weisen Sie sich aus
22 Lothar Kusche
Zaubrisch sind, wenigstens in der Vorstellung zahlreicher Landsleute, die Wirkungen einer Dienstmütze. Ist dies doch keine Mütze schlechthin, sondern zur Mütze geronnene Würde. Seit ihrer Erfindung ist jedermann in der glücklichen Lage, sich die Autorität, welche er nicht hat, aufsetzen zu können. Unsere Fahrkarten weisen wir nicht eigentlich dem Mann mit der Knipserzange vor, sondern der Dienstmütze, die jener trägt. Es wäre wohl möglich, daß der Kollege Knipser einmal aus Zerstreutheit seinen Dienst ohne Kopf ausüben würde, aber niemals ohne Mütze. Im Sommer erfuhr man, daß ein Straßenbahnfahrer seine Mütze während des Dienstes nicht abnehmen darf, mag er auch noch so sehr schwitzen. Die Dienstmütze soll vielleicht, wie die große Verantwortung, auf seinem Haupte lasten; täte sie dies nicht, dann könnte der Straßenbahnfahrer plötzlich vergessen, daß er ein solcher ist, könnte seine Kurbel sausen lassen und sogleich auf und davon fliegen; oder dergleichen. Allein die dienstliche Mütze bindet den Mann fest an seine dienstliche Kurbel. Der einzige Mensch, der im Theaterfoyer auf und ab schreitet und nicht daran denkt, seine Kopfbedeckung abzunehmen, ist der Feuerwehrmann vom Dienst. Er scheint Angst zu haben, daß er, falls sich die Mütze von seinem Kopf lösen würde, plötzlich wie durch Magie kein Feuerwehrmann mehr wäre, sondern irgend etwas Unscheinbares, Winziges, Nichtswürdiges. Ja, ich glaube, erwehrt die Gefahr einer Feuersbunst geradezu dadurch ab, daß er seine Dienstmütze trägt. So scheint der Schluß erlaubt, daß eine rechte Dienstmütze nicht nur den braven Bürger, sondern auch die aufsässigen Elemente zu bannen vermag. Wer eine deutsche Dienstmütze trägt, genießt folgende Vorrechte: 1. er darf alle anderen anschnauzen, 2. er leuchtet im Dunkeln.
1 11
111111!1
111 III
1
1 1
1
1 1 ! 11111111
1
111111
11111
III
1111111
1
23
John Stave
' OIHOH
OS ISHtAHHOS
Es war Weihnachstag. Das Ehepaar ging spazieren. Sie groß und stattlich, er eher klein und mickrig. Beide schätzungsweise in den fünfziger Jahren. Die Sonne schien, der Schnee glitzerte. Er knirschte unter den Schuhsohlen. Die große Frau hatte sich bei dem kleinen Mann eingehängt. Man ging fast schon eine Stunde. »Ich hätte jetzt, Emmilein, Appetit auf ein schönes, frisches Bier«, .~ sagte der kleine Mann bescheiden. 0 »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« sagte die große Frau. - - --+-' »Aber wenn ich doch einen solchen Appetit habe ... « »Du hast erst zu deinem Geburtstag ein Bier getrunken, Rudolf!« »Das war ja am 11. November, Emmilein! « »Papperlapapp«, machte die große Frau, und der kleine Mann trabte verdrossen neben ihr her. Der Schnee und die Zähne des kleinen Mannes knirschten. »Dreimal hab ich gestern den Weihnachtsmann gemacht«, warf der kleine Mann in den Wintertag. »Bei Manuela, bei Marko und bei Jacqueline!« »Es sind deine Enkel, indirekt dein Fleisch und Blut.« Knirsch, knirsch, knirsch, knirsch, knirsch ... »Ihr habt jedenfalls Wein getrunken«, sagte der kleine Weihnachtsmann trotzig. »Du hast Magengeschwüre«, sagte die große Frau. »Kein Wunder«, sagte der kleine Weihnachtsmann. »Wie meinst du?!« zischte die große Frau und blieb stehen. »Nur so«, räumte der kleine Weihnachtsmann ein. »Ich bin immerhin zweiundfünfzig.« »Ich dachte schon«, sagte die große Frau, »du wolltest eine un-
•
1
))Sie hören jetzt >Sugar baby love(, an der Lichtorgel Hauptwachtmeister Schulze. ((
24
>>Da können Sie mal sehen, wie energiebewußt ich fahre!<<
Bürger, weisen Sie sich aus
berechtigte Kritik anbringen. Komm, wir gehen rüber in den Park. Marsch!« •• Es war aber kein Ubergang zu sehen. Im Gegenteil. Ein Schild besagte, daß das Überschreiten des Gleiskörpers der Straßenbahn verboten sei. »Ich gehe da nicht rüber«, sagte der kleine Mann. »Waschlappen!« sagte die große Frau. Sie machte sich an den •• verbotenen Uberweg, während der kleine Weihnachtsmann den Umweg zum erlaubten Überweg in Kauf nahm. In der Eile hatte die große Frau jedoch den Funkwagen übersehen, der leise und langsam die Hauptstraße herunterkam. Er stoppte. Ein Polizist stieg aus und legte artig die Hand an die Mütze. Er belehrte die große Frau über ihr leichtsinniges Verhalten im Straßenverkehr. Die große Frau schien uneinsichtig zu sein. Der Polizist forderte ihren Ausweis. Nach einigem Suchen bekannte die große Frau, daß sie ihren PA nicht bei sich habe. »Kennen Sie jemand in der Nähe, der Sie identifizieren könnte?« fragte der Polizist. »Da drüben läuft mein Mann!« Der Funkwagen mitsamt der großen Frau überholte den kleinen Weihnachtsmann. »Diese Bürgerin«, sagte der Polizist, »behauptet, Sie seien ihr Ehemann?« Der kleine Weihnachtsmann blickte seine Frau gründlich an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich kenne die Dame nicht. Ich hab sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!« »Du feiger Schuft!« rief da die große Frau wütend aus und vergaß völlig, daß Weihnachten war. Sie wollte sogar nach dem kleinen Mann schlagen. Da lud der Polizist sie freundlichst ein, mit zur Wache zu kommen, um die Personalien feststellen zu können. »Komm du mir nach Hause!« rief die große Frau, während sie erneut in den Wagen stieg. »Ich weiß gar nicht, wo Sie wohnen«, sagte der kleine Weihnachtsmann listig. Der Funkwagen rauschte davon. Der kleine Weihnachtsmann steckte sich eine Zigarre an und sah hinterher. »Von wegen: Stecke deine Rute ein ... «, sagte er und ging Bier trinken.
•
26
Alles zum Wohle des Volkes
Angela Gentzmer
' po1 Sketch aus dem ))Kessel Buntes<< Helga Hahnemann als Hurvinek, ]in Korn als Spejbl, dessen Vater
•
Der kleine Hurvinek schiebt sich vorsichtig wie eine Marionette auf die Bühne und schreit: Vatiiiii! Der Vater kommt hinterher und fragt tadelnd: No - was schreist du so? Mußt du alle Leute aufwecken? Sohn - leise: Vati, wie sind die Menschen hier alle reingekommen? Vater: Nun, sie haben sich ganz normal eine Karte für den »Kessel« gekauft! Sohn: Vati, du warst wohl lange nicht mehr in der DDR? Vater: Es gibt ja auch noch andere gute Unterhaltung, nicht wahr? Zum Beispiel die Mai-Parade - oder ein anständiges Foul-Spiel beim Fußball - oder den Schwarzen Kanal- oder die lustige Sage vom Wetter Sohn: - oder Pornos! Vater: Das ist sehr ungehörig von dir, so etwas in den Mund zu nehmen! Pornos - das sind Ausschweifungen der monopolkapitalistischen Gesellschaftsordnung und haben nichts mit unserer Auffassung von gesundem Sex zu tun! Sohn: Und warum schickt ihr mich dann ins Bett, wenn es so gesund ist? Vater: Weil es im Bett schöner ist! Brave Kinder gehen um 7 Uhr schlafen! Zur Belohnung erzählt der Vater ihnen dann ein uraltes Märchen! Sohn: Das Märchen, was du der Mamma immer erzählst? Von •• den Uberstunden? Vater: Dein Vater hat es nicht nötig zu lügen! Die einzige Ausnahme sind die Elternabende an deiner Schule! Da gehe ich grundsätzlich unter falschem Namen! Sohn: Ich möchte auch nicht in deiner Haut stecken! Vater: Was soll das heißen? Sohn: Du hast ja jetzt schon Schwierigkeiten mit meinen Matheaufgaben, wie soll das erst werden, wenn ich in die 2. Klasse komme? Vater: No - hast du nicht neulich erst eine Eins dafür bekommen?
Alles zum Wohle des Volkes
27
))Es gibt auch noch andere gute Unterhaltung, zum Beispiel die MaiParade ... « Helga Hahnemann und der tschechische Sänger und Schauspieler ]in Korn bei einem Auftritt im ))Kessel Buntes<<.
Sohn: Das war gelogen! Du hast mir so leid getan! Vater: Wenn du so weitermachst, wird es mit dir mal ein schlimmes Ende nehmen! Sohn: Ja - ich werde Ententrajner, wie diese dicke Frau hier! Vater: Wen meinst du? Sohn: Na- die so aussieht wie unsre Frau Hrdlitschka, die den Gerichtsvollzieher Hrdlitschka geheiratet hat, damit keiner merkt, daß er dienstlich kommt! Vater: Wie kannst du so respektlos von unserer lieben Gastgeberin sprechen? Sie ist eine bemerkenswerte Frau, die ihre Augen und Ohren weltweit offen hält - und manchmal auch ordentlich zupackt! Sohn: Sag ich ja - wie die alte Hrdlitschka! Vater: Du setz dich lieber auf deinen Hosenboden, dann kannst du später mal einen technischen Beruf ergreifen - zum Beispiel einen Computer füttern! Sohn: Das kann ich jetzt auch schon, Vati! Du brauchst mir nur zu sagen, was er frißt!
-------------------------~~~~
28
Alles zum Wohle des Vol k es
Matthias Biskupek
llorö 01tt ie tos
Kann man im SEDParteiorgan »Neues Deutschland« einen Elefanten einwikkeln? Ja, wenn eine Rede Honeckers abgedruckt ist.
••
' OtHIS
Ich betrat die Anzeigenannahme und legte einen Zettel mit folgendem handschriftlichen Text vor: Suche dringend Farbband für Schreibmaschine, 13 mm, mögl. neuw. Nur ernstgem. Zuschr. Die strengfrisierte Dame blickte mich streng an: Das wollen Sie veröffentliehen lassen? Gewiß, sprach ich. Entschuldigen Sie die Handschrift. Meine Schreibmaschine bedarf dringend eines neuen Farbbandes. Das ist nicht mein Problem, sagte die Dame: Aber die Anzeige ist schließlich für die Presse gedacht. Das habe ich vermutet, sagte ich. Für unsere Presse, sprach die strengfrisierte Dame. Bei »unsere« hob sie die Stimme. Dann sprach sie: Also bitte! Farbbänder gibt's im Schreibwarenladen. Wenden Sie sich dorthin! Schüchtern erläuterte ich: Das habe ich bereits getan. Mehrmals. Es gibt im Moment und auf absehbare Zeit hinaus aber nur 16-mm-Bänder. Diese wiederum verträgt meine Maschine nicht. Sie ist da etwas eigen. Wollen Sie mich verklappsen, sprach nun sehr streng die Dame. Ihre Frisur war wirklich überaus streng. Und die Dame sprach tatsächlich in einem Ton, als könne sie auch nur einen Moment lang glauben, daß ich sie verklappsen wolle. Nichts, erläuterte ich mit dem mir eigenen Charme, nichts liegt mjr ferner, als gerade dieses. Die Dame erhob sich zu einer Drohung. Hören Sie, sprach sie. Ich hörte. Hören Sie, so was kommt mir nicht auf unsere Anzeigenseite. Basta! Was sollen denn die Leute denken? Farbband! Lächerlich! Was meinen Sie, was ich dann morgen von unseren Menschen für Zuschriften bekomme! Nun, sprach ich zuversichtlich, auf meine Annonce hoffentlich nur ernstgemeinte.
* Diese Glosse tippte ich mit viel Kraft in meine Maschine und betrat hernach mit sehr viel Zuversicht die Redaktion. Mein lieber, rechtschaffener Redakteur las die Glosse und blickte mich recht lieb an: Das sollen wir veröffentlichen? Gewiß, sprach ich: Entschuldige bitte die blassen Typen im Text. Das Farbband ist ausgelaugt. Wirklich. Wirklich, sprach er, das ist ein Problem.
Alles zum Wohle des Volkes
~
29
»Besonders verweifl,ich ist seine Rückfalltäterschaft: Er hat nämlich schon einmal eine Eingabe geschrieben.«
Und er wiegte seinen lieben rechtschaffenen Kopf vorsichtig nach beiden Seiten: Bedenke -wenn wir deine Glosse veröffentlichen, wird sie gelesen. Das vermute ich, sagte ich bescheiden. So, paß auf, redete er mir zu: Lesen dies die Leute, die ein Farbband brauchen und keines haben - und daran auch nichts ändern können -, ärgern sie sich. Ärgern sich mehr und mehr und immer mehr. Bekommen Falten, Schulterzucken, Magengeschwüre. Willst du das? Magengeschwüre nein. Gut. Lesen das aber die Leute, die Farbbänder gar nicht brauchen, fangen sie an zu hamstern. Hah! warf ich ein: Können sie ja nicht. Weil es keine gibt. So! Hier irrst du dich, belehrte mich mein lieber rechtschaffener Redakteur. Es gibt das Ökonomische Gesetz des Doppelten Nichtvorhandenseins. Gewisse Leute werden sich Farbbandvorräte anlegen und Farbbandspeicher errichten. Folge: Es gibt noch viel weniger als gar keine Farbbänder. Es gibt überhaupt
30
Alles zum Wohle des Volkes
keine Farbbänder. Und außerdem gibts keine Baukapazität, nix Beton, Latex, Eisenträger, Verbund.klemmen, Zwischenschlupfe, Linienkrümmer na und so weiter. Willst du das? Ich will, daß sich was ändert, knurrte ich, sehr sehr eigensinnig. Basta! Es muß doch Leute geben, die daran was ändern können. Gut. Du willst das Schlimmste. Du willst, daß jene Leute das lesen, die sich gar nicht vorstellen können, daß es so was Lächerliches wie Farbbänder bei uns nicht gibt. Na - die müssen doch denken, was du schreibst, sei llnsre Wirklichkeit. Ist sie doch. Da seufzte tief auf mein lieber und rechtschaffener gebeugter Redakteur. Er seufzte und sagte: Ich wollte es uns eigentlich ersparen. Bei »uns« hob er seine Stimme. Er seufzte ein drittes Mal: Du bist ja anders nicht zu überzeugen. Mein lieber Redakteur trat, bewegt, an seinen riesigen Du hast eine lächerliche Unwahr- Schrank, an jenen, in dem ich meine abgelehnten Maheit geschrieben. Du kokettierst nuskripte vermute. Die mit den blassen fypen und die nur mit einem Mangel. mit der falschen fypisierung. Er kramte darin herum und legte ein neues, ein frisches, ein wunderbar schwarzes Farbband vor mich hin. So, sagte er: Erledigt! Ich drehte mich auf meinem Stuhl hin und her. Es war ein Drehstuhl. Nun, sprach mein lieber rechtschaffener Redakteur: Lies dir jetzt deine Glosse noch einmal durch. Unter den neuen, veränderten Bedingungen, unter denen du seit eben lebst. Das ist doch lächerlich, rief ich unbeherrscht aus. Aber ja doch, erklärte mir mein Redakteur ganz lieb: Du hast nämlich, wenn man sich dieses Farbband, dein Farbband hier, genau betrachtet, eine lächerliche Unwahrheit geschrieben. Dir fehlt gar kein Farbband. Du kokettierst nur mit einem Mangel. Du schreibst wissentlich Falsches. Wir wollen das mal nicht an die große Glocke hängen, gell? Ich knirschte. Ich drehte mich. Dann fragte ich: Und was, bitte, soll ich dann, bitteschön überhaupt schreiben? Die Wahrheit, sagte mir mein lieber rechtschaffener Redakteur, und blickte mir zuversichtlich ins Auge. Du mußt nur immer schön bei der Wahrheit bleiben, sagte er. Das habe ich nunmehr getan. Ich habe die Wahrheit leicht und sanft in meine Maschine hineingetippt. Die Wahrheit steht jetzt schwarz auf weißem Papier. Tief schwarz; das liegt am frischen, am geschenkten Farbband.
Alles zum Wohle des Volkes
31
John Stave
,
OIHO HaSSOH Als wir die neue Wohnung im fünften Stock bekamen, sah man sie noch nicht. Es war Juni, und meine nassen Flecken kamen erst im nächsten Frühjahr durch. Wir maßen der Sache zunächst keinerlei Bedeutung bei, denn so ein Neubau ist in der ersten Zeit immer ein bißchen feucht hinter den Ohren. Dann kam der nächste Winter und das nächste Frühjahr. Es tropfte von den Wänden. Die Küche sah aus, als wäre Sie zwanzig Jahre nicht renoviert worden. Das konnte aber nicht sein, weil das Haus ja erst anderthalb Jahre alt war. Als wir nur noch mit dem Regenschirm ins Bett gehen konnten, fing ich an, mir Gedanken zu machen. Ich begab mich zur kommunalen Wohnungsverwaltung, die sich den Schaden anhörte. »Neubau, wie?« fragte der Verwalter. Einige Tage später suchte ein Bauleiter meine Frau auf. Der Herr war mit Recht empört darüber, daß man so hohe Häuser ohne Fahrstuhl baut. Da das Haus unter seiner Leitung entstanden war, faßten wir seine entsprechenden Äußerungen später als Selbstkritik auf. Nun besah sich der Bauleiter vom Korridor aus recht gründlich alle nassen Flecken. Sein fachmännisches Urteil lautete, daß es von innen käme. Er verbot uns das Kochen in der Küche und das Baden im Bad. Für ein Verbot des Schlafens im Schlafzimmer reichten seine Argumente nicht aus. Da ich als Querulant bekannt bin, reichte ich eine Beschwerde über den Bauleiter beim Stadtbezirksbauamt ein. Das Stadtbezirksbauamt entsandte eine Kommission, die erschüttert vor meinen nassen Flecken stand. »Hier muß etwas geschehen«, sagte der Kommissionsleiter. Daraufhin versetzten sie den Bauleiter, womit mir sehr geholfen war. Nun brach eine Kommissionsinvasion an. Die Kommissionen kamen und gingen, die nassen Flecken aber blieben. Meine Frau kränkelte leicht und bekam vom Arzt eine Kaltwasserkur verschrieben, die sie entschieden ablehnte. Wir kauften uns
.
, . ' •
>>Da drüben wohnt der Chefarchitekt.<<
32
Honecker sieht in einem Ort eine lange Jvfenschenschlange vor einer Metzgerei. Da man dort Staatsgäste aus dem westlichen Ausland erwartet, befiehlt er sofortige Abhilfe. Nach einer halben Stunde kommt tatsächlich ein LKW angebraust, hält vor der Menschenschlange und zwei Männer laden vor der erwartungsvollen Menge ab: Bänke.
Alles zum Wohle des Volkes
Gummischlafanzüge. Ich ersteigerte im Fundbüro eine Anzahl Regenschirme und wurde wegen Verdacht des wilden Handelns damit zu vier Monaten Bewährungsfrist verurteilt. Als die zweihundertvierzigste Besichtigungskommission anrollte, war meine Frau gerade gestorben. Die Kommission fand das sehr unpassend. Schließlich hätte sie sich doch drei Tage vorher angemeldet. Die Sache mit den Flecken würde jetzt in gute Hände gelegt, tröstete man mich trotzdem. In der Deutschen Bauakademie, die inzwischen den Namen Bauakademie der Deutschen Demokratischen Republik trug, würde mein Fall verhandelt. Als ich nicht gleich Bescheid erhielt, ging ich fünfeinhalb Jahre später hin zur Akademie. »Nun, Väterchen«, sagten sie zu mir, »WO brennts denn?« Ich durfte mich setzen und schilderte meine nassen Flecken. Zu meiner großen Überraschung teilte man mir mit, daß gerade ein Beschluß gefaßt werde, wonach feuchte Neubauwohnungen unverzüglich gegen trockene umzutauschen seien und die Umzugskosten übernommen würden. »In welchem Jahr wurde ihr Haus gebaut?« fragte der überraschende Mitteiler der Ordnung halber. Ich holte mit zitternden Fingern meine Wohnungszuweisungsurkunde heraus und schob meine Brille auf die Stirn. »Neunzehnhundertsechzig«, las ich laut. »Dann tut es mir allerdings leid«, sagte der Akademiker. »Der Beschluß bezieht sich auf Neubauten. Ihr Haus ist aber schon vierzig Jahre alt. Dann fallen Sie leider nicht darunter.« Als ich mir keine neue Schwimmweste mehr leisten konnte, verkaufte ich meine Möbel als Schwammholz und meldete mich beim Feierabendheim »Gustav Müller« an. »Nun, Opachen«, sagte die freundliche Schwester zu mir, »ich hoffe, Sie werden sich hier bei uns sehr wohl fühlen. Essen und Trinken sind gut, und jeden Mittwoch tritt unser Betriebskabarett auf. Das Rauchen in den Zimmern ist nicht gestattet!« »Ich hätte nur eine Bitte«, sagte ich. »Wenn es geht, dann möchte ich nicht so weit oben im Heim untergebracht werden, sondern mehr unten. Am liebsten wäre mir Parterre. Sie müssen nämlich wissen«, setzte ich vorsichtshalber hinzu, »daß ich mein ganzes Leben lang unter nassen Flecken zu leiden hatte. Und keiner konnte mir helfen ... « Die freundliche Schwester verzog für einen Augenblick ihr hübsches Gesicht, trug mich dann kaltlächelnd in die Bettnässerkartei ein und schob mich in den Seitenflügel ab, wo die unbequemen Fälle lagen.
33
Alles zum Wohle des Volkes
Heli Busse
Wio ieA dio SDll OoAorrseA01t 1Jor1tto Damals, als die elektronische Datenverarbeitung eingeführt wurde, gab es nicht wenige Skeptiker, die meinten, daß diese EDV-Maschinen das Leben bloß noch komplizierter machen und •• mit mehr Arger anreichern würden. Inzwischen hat sich gezeigt, daß diese Leute, die so daherredeten, recht hatten. Aber warum? Weil wir viel zu sehr an die Technik geglaubt und nicht auf die Philosophen gehört haben, die gleich sagten, daß auch die denkenden Maschinen des denkenden Menschen bedürften und ohne ihn nicht bis drei zählen könnten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Sparkasse auf EDV umstellte, denn ich bekam damals acht Wochen lang kein Geld. Mein Verhältnis zur EDV war zu jener Zeit völlig passiv. Ich borgte bei Bekannten und dachte, irgendwann wird diese Maschine dein Konto schon finden. An die Energieversorgung und das Möbelhaus schrieb ich beruhigende Briefe, in denen ich darlegte, warum sie von mir vorläufig kein Geld zu erwarten hätten. Ich dachte, sie müßten das verstehen, weil sie ja über kurz oder lang in dieselbe Situation geraten würden. Aber sie reagierten herzlos und behandelten mich, als wäre ich es gewesen, der die EDV erfunden und das ganze Dilemma eingerührt hätte. Ich beka.m einen Haufen Rennerei zu allen möglichen Kassen, zahlte Verzugszuschläge und Mahngebühren und begriff die Welt nicht mehr. Dann kam, was ich vorausgesehen hatte: Das Möbelhaus stellte auf EDV um. Jetzt, dachte ich, werden sie mal sehen, wie das ist, wenn das Schicksal in Form der EDV zuschlägt und kein Geld rankommt. Da kann man halt nichts machen! Aber sie ließen sich was einfallen: Sie mahnten einfach wieder mich. Ich ging gar nicht darauf ein, weil ich ein reines Gewissen hatte. Da liefen sie zum Stadtgericht, und es gab eine noch größere Rennerei als beim letztenmal zu allen möglichen Kassen, weil die Gerichtskasse noch dazukam, und ich mußte alles ausbaden und bezahlen. Aber damals fing ich an umzudenken, wenn auch noch rein instinktiv. Als sie bei der Energieversorgung umstellten, wartete ich nicht ab, bis sie ohne Geld dasaßen und ärgerlich auf mich •
))Ingenieur Müller. Das von ihm entwickelte Mini-Radio ist ihm auf den Fuß gefallen. <<
34
Alles zum Wohle des Volkes
wurden. Ich ging hin und zahlte im voraus, Verzugszuschläge und Mahngebühren gleich mit. Richtig war das auch nicht, denn es brachte den Computer fast um. Er konnte es nicht fassen, daß von mir schon alles da war. Ich bekam ein Dutzend stornierte Mahngutschriften oder wie sie das nannten, und sie brauchten bei der Energieversorgung ein viertel Jahr, bis sie die Sache wieder halbwegs im Griff hatten, aber irgend etwas anhängen konnten sie mjr diesmal nicht. Mein Schritt war vielleicht übereilt, im Prinzip aber richtig gewesen: Man durfte sich als Mensch nicht die Initiative von der Maschine nehmen lassen, sondern mußte ihr was zu grübeln geben. Ich wurde mjr langsam meiner Überlegenheit bewußt, und ein solcher Mensch ist dem Walten blinder Kräfte nicht hilflos ausgesetzt. Als mir die Post kürzlich eine Karte zuschickte und Man darf sich als Mensch nicht mjch darauf aufmerksam machte, daß sie zur Bewältidie Initiative von der Maschine gung des ständig größer werdenden Arbeitsumfanges nehmen lassen. die EDV bei der Abonnementskassierung einzusetzen gedächte, rannte ich nicht mehr gleich jammernd los wie irgendein Anfänger. Ich wartete gelassen den Augenblick ab, wo feststand, welche Zeitungen und Zeitschriften, die ich bestellt hatte, nicht mehr geliefert werden und welche anderen, die ich nicht bekam, bei mir abkassiert würden. Erst dann ging ich zum zuständigen Postzeitungsvertrieb, und wir überlegten dort gemeinsam, was man tun könnte, damit ich wieder meine Zeitungen und sie wieder ihr Geld bekämen. Es dauerte insgesamt etwa ein viertel Jahr, aber weil ich mich inzwischen mit Büchern befaßte, verlernte ich das Lesen nicht. Wrr wurden da bei der Post ein festes Kollektiv, und ich möchte diese sinnvolle Freizeitgestaltung heute nicht mehr missen. Ähnlich gute Beziehungen stellte ich zur Versicherung anläßlich der Umstellung auf EDV her. Eines Tages, so wußte ich, würde die Kassiererin wegen der Beiträge kommen, die Sache nicht mehr durchschauen und sich bei mir ausheulen. Tatsächlich kam sie, heulte, und mein Optimismus, daß sich alles noch z11m Guten wenden würde, machte sie wieder zuversichtlich. Wrr gingen zusammen zur Versicherungszweigstelle, richteten die Kollegen dort ein wenig auf und erschienen bald als nun schon gefestigtes Team bei der Kreisdirektion. Ich habe dort sehr nette Kollegen gefunden und arbeite gern und oft mit ihnen zusammen. So, denke ich, muß man unsere Philosophen verstehen, wenn sie sagen, daß der Mensch immer der beherrschende Faktor in '
35
Alles zum Wohle des Volkes
einer technisierten Welt, immer der aktive Teil bleiben müßte und sich nicht der Maschine willenlos hingeben und ihr unterordnen dürfte. Das wäre dann eine ganz verkehrte Welt, denn schließlich soll uns die Maschine das Leben erleichtern und nicht wir ihr. In diesem tiefen Verständnis der Sache gehe ich heute aus und ein bei der Energieversorgung, dem Möbelhaus, der Sparkasse, der Post, der Versicherung und - seit sie unseren Gemüseladen wegrationalisiert haben und ich einen Garten pachten mußte - auch bei den Wasserwerken und der Gemeindeabgabenerhebungsstelle, und ich lasse mich von dieser ganzen EDV auch nicht für einen Augenblick an die Wand drücken Ein Mensch, sage ich mir immer, wie stolz das klingt. Ich könnte, weiß Gott, zufrieden mit mir sein, wie ich diese ja nicht ganz einfache Materie beherrschen lernte, hätte ich jetzt nicht ein anderes Problem. Ich müßte noch Zeit für irgendeine Arbeit finden, die bezahlt wird. Sonst geht das mit den Mahnungen wieder los, und dann ja mit einer gewissen Berechtigung.
.
Hansjoachim Riegenring
.
·An die Tür des Wei-
ßen Hauses in Washington klopft ein kleines Teufelchen. Die Tür wird geöffnet. »Ich bin das kleine Teufelchen mit dem kleinen goldenen Eimerchen, ich will hier klauen!« - »Hau bloß ab, sonst , kommst du nach Sing · Sing! (( Tür zu. Das Teufelchen geht nach Bonn. »Ich bin das kleine Teufelchen mit dem kleinen goldenen Eimerchen, ich will hier klauen!« - »Verschwinde, sonst wird dich der Verfassungsschutz in die Mangel ,nehmen!« Tür zu, :schließlich kommt das Teufelchen nach Berlin und klopft an die Tür des Staatsratsgebäudes. »Ich tiin das kleine Teufelchen - nanu, wo ist denn mein kleines goldenes Eimerchen? « .
~
Endlich hatte es Frau Huber geschafft. Ihr Mann wollte mit ihr in die Gemäldegalerie gehen! »Seit wir das Haus bauen«, warf sie ihm vor, »kommen wir überhaupt nicht mehr raus. Unser Haus ist das Mausoleum der Kultur, da haben wir sie begraben! In Zement und Dachsparren!« Sie hatte ihm die gute Hose gebügelt, die Schuhe geputzt, Hemd und Schlips hingelegt, ihm den Kalk aus den Haaren gewaschen. Dann standen sie zwischen den alten und neuen Meistem. »Hat ihm ja irgendwie imponiert«, erzählte sie, »was da an den Wänden hing. Ich glaube, bei Leda mit dem Schwan und der nackten Maja vergaß er seinen Betonmischer. Er schlug sogar vor, daß wir anschließend eine kulturvolle Flasche Wein trinken gehen. Und dann kamen wir in den Saal, wo das Flötenkonzert hängt. Sie wissen schon, mit diesem König, der seit einiger Zeit Unter den Linden seine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hat. Richtig andächtig stand er davor, mein Mann, und plötzlich sagte er >Donnerwetter< und >Das halt ich im Kopf nicht aus! Sieh dir dieses Parkett an! Das sind ja glatt tausend Quadratmeter, was da im Saal liegt. Und ich renne mir seit Wochen nach fünfzig Quadratmetern die Hacken ab!<«
.
~·
.•
.
..
-
,
:-' __,
_.
•
Alles zum Wohle des Volkes
36
Renate Holland-Moritz
or Im allgemeinen bin ich ein verträglicher Mensch. Aber die menschliche Natur ist ein unerforschtes Land. Plötzlich tun sich Abgründe auf, und man steht am Kraterrand der eigenen Seele. Mich ereilte die Katastrophe an einem gewöhnlichen Nachmittag in meiner Kaufhalle. Ich hatte einen sogenannten mittleren Einkauf getätigt, also weder nach Südfrüchten noch importierten Konfektkästen gegriffen, sondern lediglich Brot, Butter, Milch, Eier, Käse, Brause und andere Billigwaren ins Wägelchen praktiziert. Die junge goldblonde Kassiererin vom Stamme der punkfeindlichen Popper unterzog sich erst gar nicht der Mühe des Umlagerns in den bereitstehenden Zweitwagen. Wieder und wieder huschte ihr behendes Linkshändchen über J meine Waren des täglichen Bedarfs. Die Preise entnahm sie einem entrückten Blick ins Leere. Schließlich resümierte ihre Kasse eine Endsumme, die mir nun doch stark aus der Luft gegriffen vorkam. Und da muß in meinem sonst so kundendienstfertigen Gesicht irgendein Zug entgleist sein. »Is wat? « erkundigte sich die Poppermaid. »47 Mark 50!« sagte ich ungläubig. »Donnerwetter«, entgegnete die Schöne, »lesen könnse also!« Ich spürte, wie meine Adrenalinpumpe ansprang. »Rechnen auch, Verehrteste! Deshalb hätte ich gern den Kassenzettel.« Mit dem Gesichtsausdruck einer stomatologischen Schwester, die gerade eine Spritze aufzieht, meinte sie: »Hat wohl doch nichjanz hinjehaun inne Schule, wa? Was steht denn hier groß •• und breitjeschriem? KASSE LAUFT OHNE BON! « Widerwillig wich ich der Übermacht hinter mir parkender Wagenschieber. Zu Hause nahm ich Zettel und Bleistift, legte den Finger auf jeden Posten und prüfte die Rechnung. Mehrmals. Doch stets ergab sich eine Summe von 37 Mark und 50 Pfennigen. Wie gesagt, ich bin sonst nicht so. Aber an diesem Tag ritt mich der Teufel. Und an solchen Tagen geht eben alles schief. In Minutenschnelle hatte ich nicht nur die Telefonnum-
37
Alles zum Wohle des Volkes
mer der Kaufhalle ermittelt, sondern auch deren Leiter an der Strippe. Meine Beschwerde über die bonlose Halsabschneiderin versetzte ihm einen Schock. Mit stockender Stimme ließ er mich vom Ausmaß seiner Verzweiflung wissen. Immerhin seien sie ein mehrfach ausgezeichnetes Handelskollektiv, wiederholt siegreich aus dem Titelkampf hervorgegangen! Und nun diese Schande. Vergeblich versuchte ich, ihn zu beruhigen. Ich wies darauf hin, daß mir das Recht auf Reklamation nur innerhalb der Halle zustünde, ein Regreß also juristisch überhaupt nicht haltbar sei. Aber er bestand flehentlich auf Wiedergutmachung. Eine halbe Stunde später klingelte die Kassiererin an meiner Wohnungstür. Ihre sonst so gepflegte Poppermähne stand punkartig zu Berge. Tränen des Zorns hatten schwarze Tuschespuren in ihre Wangen gekerbt, und unter grünen Lidschatten schossen mordlüsterne Blicke auf mich hernieder. Stumm überreichte sie mir ein Kuvert, welches eine schriftliche Entschuldigung des Kaufhallenleiters, einen nagelneuen Zehnmarkschein sowie die Mitteilung enthielt, bewußte Kollegin habe bis eben am Pranger ihres Kollektivs gestanden und befinde sich nun auf dem Wege der Besserung. Tief zerknirscht wollte ich ihre Ankunft in Canossa zu einer menschlich-herzlichen Begegnung am Kaffeetisch umfunktionieren, aber sie lehnte die Einladung strikt ab und verschwand grußlos. Ich zwang meine aufgewühlte Seele zur Ruhe und überdachte die Ereignisse. Einer jungen Mitarbeiterin, vermutlich noch in der Ausbildung stehend, gestreßt von den täglichen Widrigkeiten des sozialistischen Einzelhandels, war also ein kleiner Fehler unterlaufen. Und ich hatte die Lappalie an die große Glocke gehängt, gewissermaßen ein Schnellgerichtsverfahren ausgelöst, der jungen Kollegin empfindlich ins Lehrlingsportemonnaie gegriffen und für einen wunden Punkt im Brigadetagebuch gesorgt. Wie sollte mir solcher Frevel verziehen werden? Gewiß hatte mich die Gemaßregelte längst ihren Kolleginnen beschrieben. Die Folgen lagen auf der Hand. Am Fleischstand würden sich künftig Rouladen und Rumpsteaks vor meinen Augen in Luft auflösen, am Gemüsestand würde bei meinem Eintreffen der Zustrom von Saisonfrüchten wie Erdbeeren, Kirschen und Pfirsichen versiegen. Und an welcher Kasse ich auch Aufstellung nehmen mochte, vor mir würde immer so ein unseliger Brömmel stehen und in den Ruf ausbrechen: »Hier nicht mehr anstellen. Hier ist Schluß.« Eins war klar, ich konnte die Kaufhalle nicht mehr betreten. Ein diesbezügliches Kadergespräch mit meinen Angehörigen •
•
Schneewittchen liegt in1 Glassarg. Weder den Zwergen noch .einem singenden· · ·Vogel gelingt es, sie zu wecken. Als aber ein Prinz ihr einige Worte ins Ohr flüs.tert, springt die, . ·Schlafende sofori auf. Was waren das für Worte? »Im nächsten Kaufhaus gibt es Apfelsinen .. .« '• .„.
38
))Was ist in dieser Tüte?(( >>Eine kaputte Tüte. Sie trägt die Aufschrift )Zucker
Alles zum Wohle des Volkes
endete beschämend. Man zeigte mir einen Vogel, verwies auf die Broschüre »Das Recht des Kunden« und schließlich sogar auf die ausgezeichnete psychiatrische Betreuung in den Eheund Familienberatungsstellen. Zu einer Umverteilung der häuslichen Pflichten kam es jedenfalls nicht. Die nächste Kaufualle war genau einen Kilometer entfernt. Für einen kleinen Spaziergang durchaus empfehlenswert, nicht aber für einen Gepäckmarsch mit dreißig Pfund Konserven, Kartoffeln und anderem Sperrgut. Öfter als einmal die Woche konnte ich mir diese Strapaze nicht zumuten. Wenn mir zwischendurch ein paar Kleinigkeiten ausgingen, mietete ich dienstbare Geister von unserem Spielplatz, und zwar zu einer Pauschale von zwei großen Softeis pro Gang. Eines Tages sprach mich eine ältere Frau im Fahrstuhl an. »Sie sind das also«, sagte sie streng, »die meinen Enkel dauernd mit Eis vollstopft! Wissen Sie eigentlich, daß der arme Junge seit drei Tagen mit Bauchkrämpfen im Bett liegt?« Es war mir entsetzlich peinlich, und ich stammelte etwas von meinen ärztlich beglaubigten Knick-Senk-Spreizfüßen, die mir das lange Anstehen nicht erlaubten. Sie war sofort voller Mitgefühl und erzählte mir bei mehreren Tassen Kaffee die Geschichte ihrer Krampfadern. Ebenso ausführlich referierte sie über die unglückliche Ehe ihrer Tochter mit dem nichtsnutzigen Trunkenbold und Weiberhelden Ekkehard. Beim Abschied versprach sie, bewußten Schwiegersohn in meine Einkaufsdienste zu stellen, damit er wenigstens in dieser Zeit kein Unheil anrichtete. Schon am nächsten Tag erschien der gutaussehende junge Mann und erklärte sein prinzipielles Einverständnis, vorausgesetzt, ich würde ihm die Mühe mit hochprozentigen Naturalien vergelten. Von nun an schleppte er sich mit zunehmender Bereitwilligkeit für mich ab, blieb aber nach dem Auspacken jedesmal so lange, bis nichts mehr in den Flaschen war. Schließlich wußte er ja am besten, was wir im Hause hatten. Der Zustand wurde langsam unhaltbar. Doch da nach den Gesetzen der Dialektik nichts bleibt, wie es ist, sollte auch meine Qual ein Ende finden. Das Wunder geschah an einem späten Nachmittag, als ich mit einer Freundin ein Cafe besuchte. Der Kellner plazierte uns in eine Nische, in der schon
39
Alles zum Wohle des Volkes
ein heftig knutschendes Pärchen saß. Als sich die beiden aus ihrer minutenlangen Verstrickung lösten, erkannte ich zu meinem heillosen Entzücken nicht nur den ungetreuen Eckehard, sondern auch meinen blondmähnigen Alptraum aus der Kaufhalle, den er sich bei einem seiner Einkäufe unter den Nagel gerissen haben mußte. Ein sekundenlanges Feuergefecht dreier weitaufgerissener Augenpaare endete zu meinen Gunsten. Der Kellner wunderte sich, daß es das Pärchen plötzlich so eilig mit dem Zahlen hatte, denn die Weinflasche war noch halb voll. Tags darauf traf ich Eckehard in Begleitung seiner rechtmäßig Angetrauten in unserem Hausflur. Ich begrüßte die beiden herzlich und überreichte dem auffallend bleichen jungen Mann einen Einkaufszettel. Er warf einen Blick darauf und erbleichte noch tiefer. »Rinderfilet, Schweinefilet, Rosenthaler Kadarka«, formulierte er mit unhörbarer Stimme. Doch Mitleid konnte ich mir in meiner Situation nicht leisten. Ich genoß im Gegenteil das unbeschreibliche Hochgefühl des Uberraschungssiegers und sagte mit freundlicher Bestimmtheit: »Sie werden's schon machen. Da bin ich ganz sicher!« ••
Mein Dackel raucht nicht, hält nicht viel vom Saufen, hat keine Weiber und geht früh zu Bett. Er liebt den Sport, das Raufen und Laufen, kein Wunder, daß er schlank ist. Ich bin fett, weil ich, Kollegen, täglich einen hebe. Ich hab Zirrhose, Asthma, Muskelschwund. Ich weiß genau, wie ungesund ich lebe, und doch ... wer mag schon leben wie ein Hund.
Ernst Röhl
•
• ~~OA.,
.
(
~t.no.llQ
atel.ri luna 3)
._ WcW&der Basgs
....
• d.
~' Herrn Walter g,
u SS.
~ s s n e r
Wissen Sie überhaupt, warum es in unseren Neubaugebieten so wenig Gaststätten gibt? Aus Sorge um den Menschen. Man hat es ja schon in nüchternem Zustand schwer, sein eigenes Haus herauszufinden. ~~a
•
V
• .
•
'
•
•
•
Vorsicht! Hund beißt · ';
. außerh.alb der .
••
•
ßEi UNS IST D~
~UNDEJ<ÖN 16~
1
•
•
ZIGARETTEN
• fj
\
\
\ l
·
Alles zum Wohle des Volkes
41
Jochen Petersdorf
»Nach Hause, bitte«, sagte der berühmte Pianist Anton de Moll, als er das Taxi bestieg. »Geht in Ordnung, Meistro«, erwiderte der Taxifahrer. Und er fügte hinzu: »Pinguin-Bar oder Rassel-Keller?« »Nehmse das Nächstliegende«, sagte der Meistro, »es wird Ihr Schade nicht sein.« Der Fahrer fuhr zur »Butterbemme«. Ein Schmalzstullenlokal. »Die Gäste dort«, sagte er, »erkennen als Pianisten nur Richard Kleidermann und Hans Hick an. Da sind Sie vor Belästigungen sicher.« »Danke für den Hinweis«, sagte de Moll. Der Taxifahrer fuhr fort: »Übrigens, ich hab gestern im Radio Ihr Konzert gehört. Ihr Anschlag - wie immer phantastisch. Besonders bei der Etüde über ein Thema von Kamill Zang-Zangs war's unüberhörbar. « »Sie sind ein Spinner«, sagte der Meistro. »Nein, ich bin Taxifahrer. Und früher war ich Oboist beim Orchester des Theaters Durolstedt. Kennen Sie das Orchester?« »Natürlich nicht!« erwiderte der berühmte Pianist. »Dann können Sie sich ja vorstellen, was ich dort verdiente«, sagte der Fahrer. »Deshalb bin ich auf Taxi umgestiegen. Oboe spiele ich nebenbei im Zentralorchester des Anglerverbandes. Habe dort übrigens einen dollen Kumpel kennengelernt. Der war früher mal Zuschneider beim VEB >Herrensocke<. Hat sich selbständig gemacht und betreibt jetzt mit seiner Frau eine Eisbude mit Laufmaschenreparatur, 'ne Gold- und Silbergrube in einem, sage ich Ihnen!« »Und was macht er im Zentralorchester des Anglerverbandes?« »Eigentlich nichts Besonderes. Er männätscht uns ein wenig. Denn bevor er Zuschneider beim VEB >Herrensocke< war, hat er mal Kulturwissenschaft studiert. Er stand damals sogar schon im dritten Semester, als er erfuhr, daß sie im VEB >Herrensocke< injedem Quartal außer dem Lohn auch noch Fersengeld zahlen. Da sagte er sich: Kassieren geht über Studieren! und machte sich auf die Socken.« »Ja ja, wie das Leben so spielt«, meinte der Pianist. Vor dem Hotel Grand Prix hielt das Taxi. »Warum?« fragte de Moll. »Diese Frage werde ich gleich dem Barmixer stellen«, sagte der
Übrigens ist der Trabbi ein echter Fortschritt im Automobilbau: Bei·eineni l:Tiffrul· haben Fußgänger jetzt erstmals die Möglichkeit, zurückzuschlagen ... „„ ..,.
"
.. · ..
42
Alles zum Wohle des Volkes
Taxifahrer, »denn der Mixer ist gelernter Autoelektriker. Er hat mir schon mehrmals aus der Klemme geholfen.« Der Mixer arbeitete nicht mehr im Hotel. Er hat jetzt eine Pachttoilette im Vergnügungspark. Neben dem Bierzelt. Das ständige Einrollen der Groschen geht ihm zwar mächtig auf die Nerven, aber die Buchführung ist weniger gefährlich als in der Bar. > >Und Sie meinen, ich muß auch bei Kurzstreckenfahrten das Auto ganz auspacken?<<
•
»Ich habe die Zentrale angerufen«, sagte der Taxifahrer zu de Moll. »Man wird mich gleich abschleppen kommen. Für Sie macht's bis hierher sechs Mark neunzig. Schade, hätte gern weiter mit Ihnen geplaudert. Sehnse zu, daß Sie 'ne Schwarztaxe kriegen.« De Moll kriegte. Citroen. Eine charmante junge Dame saß hinterm Lenkrad. Der nicht gerade als Charmeur bekannte Pianist fragte knallhart: »Haben Sie das nötig?« »Nicht so, wie Sie denken«, antwortete die Dame. »Aber man lernt Leute kennen. Und das ist wichtig, denn wir bauen gerade. Und ich habe heute nacht schon einen Butzenscheibenmacher aufgerissen. Verstehen Sie zufällig was von Mosaikarbei- ten?« »Leider nicht«, sagte de Moll, »ich bin Pianist.« »Bei welcher Gruppe?« »Bei keiner. Ich bin Konzertpianist.« »Lohnt sich das?« fragte die Dame. »Es geht«, sagte de Moll, »aber ich mach's auch aus Leidenschaft.« Da schaute ihn die Dame nachdenklich an und sagte: »Ich glaube, Sie haben großes Talent zum Komiker. Sie sollten wechseln.«
44
Lernen, lernen, nochmals lernen
John Stave
Sonntagnachmittag legt sich Benno Falke immer aufs Kanapee und macht ein kleines Nickerchen. Dazu läßt er das Radio leise dudeln. Dieser Nachmittagsschlaf gehört seit einigen Jahren zu Bennos Sonntagspens11m. Er macht es so: Er schaltet das Radio ein, legt sich aufs Kanapee und nimmt die Wochenbeilage von der BZ oder vom ND. Und die liest er dann ohne Brille, ganz dicht, weil nämlich stets nach einer kleinen Weile Benno ganz sachte von Morpheus in die Arme genommen wird, und dann drückt die Brille beim Schlafen. Es ist eine Erfahrungssache. Da Etzel, der kleine Sohn Bennos, von der Existenz eines gewissen Herm Morpheus nichts weiß, deutet die Situation des von Unterhaltungsbeilagen bedeckten Vaters so: Bei Papa war • . „ • schon das Sandmännchen. Im Grunde genommen ist das E~ war einmal ~1n Konig, der ja auch das gleiche. Es ist lediglich eine Auslegungsfrag1ng gern spaz1er~n, und der ge. Am Sonntagnachmittag nun, von dem hier die Rede ist, trank auch gern Bier. weicht etwas vom üblichen Usus ab; denn Klein Etzel begnügt sich diesmal nicht mit seiner Sandmännchenfeststellung. Es ist ein regnerischer Sonntag. Die umliegenden Kinos spielen nur Filme, die Etzel schon gesehen hat: »Privatleben«, »Das Appartement« oder »Ein Hauch Glückseligkeit«. Benno Falke war über dem Satz, »Joachim Zapke aus Berlin meinte zunächst, in der Jugenddiskussion des ND seien die Verhältnisse >etwas zu rosig< gemalt« eingeschlafen. Da öffnet der kleine Etzel die Tür. Er schleicht sich leise zum Kanapee und kitzelt an den Fußsohlen des Vaters. »Bist du schon mit dem Abwaschen fertig?« fragt Benno im Halbschlaf, weil er annimmt, daß es seine Frau ist. Aber die ist noch nicht fertig. »Mutti sagt, du sollst mir ein Märchen erzählen«, sagt Etzel. Benno Falke nimmt die Beilage vom Gesicht. Er reibt sich die Augen und setzt die Brille auf. »Ich denke, du bist im Kino?« - »Nee.« - »Es heißt nein! Wie oft soll ich dir noch sagen, daß es nein heißt?« - »Erzählst du mir jetzt ein Märchen?« - »So ein Blödsinn! Na, meinetwegen. Es war einmal ... Ich kenne keine Märchen mehr!« »Andere Kinder ihre Väter erzählen andauernd Märchen«, sagt Etzel trotzig. »Das ist ein Deutsch!« ruft Benno Falke entsetzt aus. »Der anderen Kinder Väter heißt es. So spricht ein normaler Mensch. Der anderen Kinder Väter erzählen andauernd Märchen!«
Lernen, lernen, nochmals lernen
»Also los«, sagt Etzel hartnäckig. Der Vater schielt traurig zum Fenster. Es ist tatsächlich ein Wetter, bei dem man keinen Sohn hinausjagt. »Also meinetwegen. Aber ich muß liegenbleiben können. Hm, hm. Ä. Also. Es war einmal ein König, der war so ein bißchen - der hatte so - der ging gern spazieren. Ohne seine Frau machte er das. Und er trank auch gern Bier. Und eines Tages kommt er nun nach Hause, und da sagt seine Frau ... « »Soll ich dir was zu trinken bringen?« fragt Bennos Frau, die mit dem Abwasch fertig ist und sich freut, daß ihr Mann sich so nett mit dem Kleinen beschäftigt. »Ja«, sagt Benno unwirsch, weil er fürchtet, aus •• dem Konzept gebracht zu werden. »A. Also der König kommt nach Haus. Es war sehr spät. Schon früh, gewissermaßen. Und die Frau ist noch ganz verpennt - verschlafen also. Und da sagt sie: >Du hast ja keine Krone auf!< Da sagt der König: >Verflucht und zugenäht! Die muß ich wieder irgendwo hängengelassen haben. Da werde ich gleich noch mal losgehen!< Da ging er noch mal in die Kneipe, und die eine Prinzessin, die da das Bier ausschenkt, die rief schon von weitem: >Du hast deine Krone da hängengelassen!< Da freute sich der König sehr. Aber als er sich die Krone zu Hause genau ansah, da hatte er einen ganz schönen Zacken drin.« »Es war ein feines Märchen, Papa«, sagt Etzel, und Anita bringt den Kaffee rein. »Papa soll noch ein Märchen erzählen«, fordert Etzel. »Ja«, sagt die Mutter. »Erzähl ihm noch eins. Es ist auch für dich mal eine Abwechslung!« »Ich danke für solche Abwechslungen«, entgegnet Benno. Aber der Erfolg des ersten Märchens hat ihm etwas geschmeichelt. »Ja. Also«, fährt Benno fort. »Ä. Hm, hm. Eine Königin und ein König, die gingen - ä . . . Es war einmal ein Schloß. Dieses Schloß hatte der König in einen tiefen Wald bauen lassen. Ein sogenanntes Waldschloß. Hm. Und der König war nun ein bißchen zerstreut vom vielen Regieren und den ganzen Sitzungen, und da ging er immer gern ein bißchen spazieren. Aber die Frau mußte er zu Hause lassen, weil ja jemand kommen konnte. Ein Kaiser oder ein Ritter. Die kamen ja früher öfter mal vorbei. Nun war der König auch noch kurzsichtig! Und so kam es vor, daß er nicht nach Hause fand. Als es der Königin zu bunt wurde, sagte sie zum König: >Streu Körner auf den Weg, dann kannst
45
46
Ein Junge steht an einer Jauchegrube und heult: »Meine Mutter ist weg, meine Mutter ist hier reingefallen.« Ein Polizist zieht sich schnell aus, springt in die Grube und durchwühlt sie mehrmals. ». . . ich kann nichts finden! Sag mal, ist deine Mutter wirklich hier reingefallen?« Darauf der Junge: »Na gut, komm Se raus, da schmeiß ich eben die Schraube auch noch weg.«
Lernen, lernen, nochmals lernen
du sicher nach Hause finden!< Der König tat so, aber er kam auch in der folgenden Nacht nicht nach Hause. Erst gegen Morgen traf er ein, und die Königin war empört. >Ich habe dir gesagt, wie du es mit den Körnern machen sollst<, schrie sie. Aber der König sprach: >Ich habe es genauso gemacht, wie du gesagt hast. Aber als ich dann an den Körnern entlang nach Hause gehen wollte, da waren sie alle schon ausgetrunken!<« »So ein Märchen«, sagte Anita Falke, »kann ein Kind überhaupt nicht begreifen. Es ist einfach Unsinn und kein Märchen!« »Vielleicht, weil ein Körnchen Wahrheit drin ist«, gibt Benno zu bedenken. »Aber wenn euch meine Märchen nicht gefallen, dann erzählt euch selber welche. Gute Nacht!« »Mir hat das Märchen sehr gefallen, Papa«, sagt Etzel. »Besonders das mit der Prinzessin und mit den Hühnern, alle beide. Besonders das erste und das zweite auch! Erzähl noch ein Märchen, bitte, ja?<< »Nun«, sagt Benno und gähnt heftig. »Jeden Sonntag zwei Märchen, das ist zuviel des Guten. Das Jahr hat zweiundfünfzig Sonntage, und wenn ich zehn Jahre Märchen erzähle, muß ich mir fün±hundertzwanzig Märchen ausdenken. Ich hab noch 'ne kleine Nebenbeschäftigung!« »Es waren die einzigen zwei Märchen deines Lebens! Jedenfalls für den Jungen. Vielleicht dramatisierst du einfach ein altes Märchen?« »Au, fein!« jubiliert Klein Etzel. »Wie denn, dramatisieren?« fragt Benno gähnend. »Na irgendwie mit verteilten Rollen«, meint Anita. »Also gut«, sagt Benno Falke, der ein großer Pädagoge sowie Psychologe ist. »Wrr spielen das Märchen >Dornröschen<. Dramatisiert! Es geht so: Dornröschen liegt in einem Glassarg, und sieben kleine Ritter wollen sie wachküssen. Ich spiele das Dornröschen und muß hundert Jahre schlafen. Dann kommst du, Etzel, als Ritter und erlöst mich. Du, Anita, spielst die Mutter der Königin und sitzt am Fenster und spinnst. Fangen wir an. « Benno Falke nimmt die Brille ab und legt sich die Unterhaltungsbeilage übers Gesicht. »Wann soll ich dich wachküssen kommen, Papa?« fragt Ritter Etzel. »In etwa zwei Stunden«, spricht Dornröschen unter der Zeitung und schläft prompt ein. »Dramatisieren ist Scheiße!«sagt Etzel. Daraufuin schallert ihm die Mutter eine, und er darf zur Strafe am nächsten Sonntag nicht ins Kino gehen. Das hat Benno Falke nun davon!
Lern e n, 1e r n e n, n o c h m a 1s 1e-r n e n Ottokar Domma
e;„ 811tp ""fl OoiHt HottH 'Dito tot Es ist doch schön, daß sich unser Herr Direktor immer wieder etwas Neues einfallen läßt, um uns zu belohnen. Ich meine jetzt nicht die Lobe oder die Tadel, daran kann sich ein Schüler gewöhnen. Ich meine etwas ganz Besonderes, worauf sich alle freuen und wofür jeder die Daumen drückt, daß er dabeisein darf. Ich merke schon, da kommt keiner drauf, deshalb will ich es verraten: Unser Herr Direktor gibt einmal im Jahr einen Empfang der Besten. Ich weiß nicht, woher der Herr Direktor Keiler diese Idee hat, aber er wird sich schon etwas dabei gedacht haben, zum Beispiel, daß zu den Besten die Schüler mit sehr gutem und noch besserem Durchschnitt zählen, und die Eltern bekommen gleich eine Einladung dazu. Es ist auch ein großer Fortschritt, daß neben dem Herrn Bürgermeister auch der Herr Direktor Keiler einen Empfang geben darf, und wenn die Entwicklung so weitergeht, dann gibt vielleicht unser Herr Burschelmann im nächsten Jahr auch einen Empfang. Manche Schüler sagen: »Das juckt mich nicht!« Und einige meinen sogar, sie sehen den Herrn Direktor und die anderen Lehrer alle Tage, wozu dann extra noch einen Empfang? Die irren sich aber gewaltig! Denn auf einem Empfang gibt es was zu essen und zu trinken. Ich habe das bisher auch noch nicht gewußt. Auch meine Eltern bekamen eine persönlich geschriebene Einladung, darin stand: »Wir geben uns die Ehre, Sie und Ihren Sohn Ottokar zu dem Empfang der Besten herzlich einzuladen.« Die Frau Stichlein, unsere Sekretärin, mußte bestimmt eine Nachtschicht einlegen, um jedem extra zu schreiben. Da haben wir schon den Unterschied. Oder kann sich vielleicht ein gewöhnlicher Schüler erinnern, daß er zum Beginn des neuen Schuljahres, eine Extra-Einladung erhalten hat? Mir hat bisher noch keiner geschrieben: »Sehr geehrter Schüler! Ich gebe mir die Ehre, Dich herzlich zum intensiven Lernprozeß einzuladen. Hochachtungsvoll, Dein Klassenleiter!« Das Gegenteil ist der Fall. Es braucht bloß einer mal ein bißchen zu spät zu kommen oder im Unterricht eine Aufforderung zu überhören, gleich heißt es: »Du brauchst wohl eine Extra-Einladung! « Daran .erkennt man, daß eine schriftliche Einladung etwas Besonderes ist.
47
48
Lernen, lernen, nochmals lernen
I
j l._
Meine Eltern staunten ja auch nicht schlecht, als der Brief ankam. Der Vater fragte gleich selbstkritisch: »Wie komm ich dazu?« Und meine Mutter wollte als erstes wissen, was sie dazu anziehen muß. Ich habe noch nie so schön angezogene Lehrer und Elternteile gesehen wie auf diesem Empfang. Sogar unser Herr Burschelmann hatte einen Schlips um, und er griff sich dauernd an den Kragen und schnitt dabei ekelhafte Grimassen, als wenn er erstickt. Der Herr Direktor Keiler sah aus wie der Herr Pastor Schulz, aber mit Parteiabzeichen, und erst die Frauen, Mannomann, das war vielleicht eine Wucht! Viele sind extra zum Frisör gegangen, und es roch wie ganz Paris in einer Klasse. Wrr als geehrte Schüler brauchten diesen Schönheitswettbewerb nicht mitzumachen, sondern durften in Pionierkleidung oder im Blauhemd erscheinen. Also wenn jeder Schultag wie so ein Empfang wäre, das könnte keiner aushalten. Der Herr Burschelmann wäre dann vielleicht schon vorzeitig Rentner geworden, und die Lehrerinnen würden auch ganz schön alt· aussehen; denn extra Kleidergeld bekommen sie nicht. Aber das ist noch nicht alles, jetzt kommt die dritte Besonderheit. Sie bestand darin, daß sich die Elternteile mit ihren Kindern zusammensetzen mußten. Nicht alle, denn vorne im Saal war ein Quertisch, dort saß der Herr Direktor. Er war nicht lange allein. Denn als wir in den Saal hineinschritten, stürzte gleich der Herr Direktor auf meine Mutter und sprach: »Sie müssen da vorne sitzen! « Meine Mutter wollte eigentlich bei meinem Vater und mir sitzen, weil sie uns schon kennt, aber als man ihr erklärte, daß sie als Elternaktivmutter zu den Besten der Besten gehört und darum da vorne sitzen muß, da gab sie klein bei. Mein Vater freute sich und sagte zu mir: »Guck mal, Mutti weiß jetzt nicht, wo sie hingucken soll.« Als sie doch einmal zu uns schaute, winkte ich ihr, da freute sie sich ein bißchen. Weil jetzt bei uns ein Platz noch frei war, setzte sich der Herr Burschelmann daneben. Der hat mir grade noch gefehlt, dachte ich, gleich gibt es Erziehungsgespräche. Meinem Vater hätte das ja nichts geschadet. Aber der Herr Burschelmann hatte wohl auch keine Lust dazu, sondern schimpfte über die Hitze. Danach unterhielt er sich mit meinem Vater über richtiges Tapezieren und Zementmischungen. Also kann man sagen, ist auch diese Unterhaltung eine Besonderheit. Denn welcher Lehrer hat sich mit uns schon einmal über Zementmischungen unterhalten? Im Gegenteil, wenn wir
lernen, lernen, nochmals lernen
„
49
sagen, es ist aber heute kalt in der Klasse, wird geantwortet: »Ihr werdet gleich schwitzen!« Und wenn uns·zu heiß ist, heißt es: »Ihr braucht wohl eine Abkühlung? Könnt ihr haben!« Damit sind die Besonderheiten aber noch nicht zu Ende. Denn jetzt kam das Wichtigste, nämlich die Begrüßung und die Rede vom Herrn Direktor. Diese hat er vorher aufgeschrieben, und die Lehrer haben ihm sicherlich Schummelzettel zugeschoben, denn woher sollte er denn die besten Schüler und Eltern und ihre guten Taten kennen? Und weil die Aufzählung sonst zu lang geworden wäre, nannte er auch nur die Besten der Besten als die Stellvertreter für die Besten, die als Beste nicht genannt worden sind. Na ja, einige guckten ja ein bißchen sauer, weil sie ihren Namen nicht hörten. Mein Vater und ich guckten nicht sauer, weil wir nicht auf die Namen hörten, sondern auf den Inhalt. Denn der ... Herr Direktor sprach über die Erfolge und die Erziehung, und die Eltern haben auch einen Anteil daran. Bei diesem Satz trat ich meinem Vater gegen den Fuß, aber er kapierte nicht und trat gleich wieder zurück. So diskutiert er immer mit mir. Nach dem Herrn Direktor sprach der ElternWenn ich ein Direktor wäre, dann würde beiratsvorsitzende Herr Dankuleit. Er bedankich einmal zu einem Empfang der verte sich für die Erziehung und überhaupt, daß wöhnten Schüler und Eltern einladen. wir dasein dürfen, und danach wurde nur noch an den Tischen gesprochen, nicht über die Erziehung, sondern mehr über das Leben, zum Beispiel Autoersatzteile, Urlaub, Backrezepte, Fernsehstücke, Frauenkrankheiten und andere schöne Vorkommnisse. Dabei tranken die Erwachsenen Wein und wir Schüler Cola. Der Herr Burschelmann meinte, daß ihm jetzt ein Bier lieber wäre, und mein Vater stimmte diesem Diskussionsbeitrag zu. Auch in diesem Falle kann man sagen, war die Rede vom Herrn Direktor Keiler sehr fruchtbar, indem er alle auf andere Gedanken brachte, und das erleben wir leider in der Schule nicht. Dort dürfen wir nur an das denken, was die Lehrer für uns ausgedacht haben. So kann man also zusammenfassen: Ein Empfang beim Herrn Direktor ist eine hohe Auszeichnung, weil man hier den Besten endlich einmal sagen kann, wie sie erziehen müssen. Die anderen, welche nicht die Ehre hatten, brauchen das nicht zu wissen. Für sie gibt es Elternversammlungen, und wenn sie diese schwänzen, haben sie selber schuld, darum zählen sie auch nicht zu den Besten. Unsere Walli zum Beispiel muß noch fünf kleine Brüderchen versorgen und sich sehr anstrengen,
50
Lernen, lernen, nochmals lernen
daß sie auf die Zensur Befriedigend kommt, aber damit zählt sie eben nicht zu den Besten. Oder nehmen wir den SchweineSigi. Er liebt die Tier- und Pflanzenwelt und ist gar nicht so doof, wie seine Rechtschreibung aussieht. Manchmal weiß er mehr als die Lehrer, zum Beispiel in der Schweinezucht. Aber wenn der Sigi so einseitig weitermacht, wird er nur ein guter Ferkelvater, aber nie zu den Besten zählen. Vielleicht sollten wir überlegen, wie man die Empfänge noch stei€R. SCH~flBr Die Losung könnte gern kann. KLV6E UN/) heißen: Jeder einmal zum Emp~~ANNENDE fang! Wenn nicht als Bester, dann AVFJA'12E "jOtJ~N~L 1S; vielleicht zu einem Empfang der ENTFALLT [>/\MIT Mittelmäßigen oder der Vergeßli,At..SD! chen oder der Petzer und Kratzer. Wenn ich ein Direktor wäre, dann würde ich einmal zu einem Empfang der verwöhnten Schüler und Eltern einladen. Das kann interessant werden, wenn die Schüler gegenseitig aufzählen, was sie alles geschenkt bekommen haben, und die Eltern können erklären, wie teuer das war. Je höher der Preis, um so größer die Liebe. Wein und Cola gibt es bei diesem Empfang nicht, sondern nur Sekt, und der Herr Hausmeister Schröder muß schon beim Eingang darauf achten, ob die empfangenen Damen und Töchter in langen Schleppen und Diamanten daherziehen. Wenn nicht, dann schmeißt er sie gleich raus und brüllt hinterher: Ihr habt euch wohl verirrt! Hier ist kein Gammlerklub, sondern ein Empfang der vornehmsten Eltern und ihrer teuren Kinder! Aber wie ich den Herrn Direktor und unsere Lehrer kenne, machen die so was nicht mit. Erstens, weil sie bei diesem Empfang nicht mitreden können und nur unangenehm auffielen, zweitens, weil es dazu erst eine Anordnung vom Ministerium geben muß, und darauf können sie bis an ihr Lebensende und noch länger warten.
•
• '
. :. . . . ''
'
'_ ::
..
„ Wer ertaubt sich,
; 'ji
..
meine Lektion durch lautes Gähnen zu stören?"
l
j
•
t
! ;
fir die .Abc· Schittl•"
. .,...,,,„. ....~ftend ist der ••• llick in wen•t >;-'V
-
~~ ,;:_..fif"" -- :_,_~~~~~~.~~lC:~~-l~~< 'A•.~.~f:~·~·~~~~,.,,. . . ....., _-.·. ~ · ~-
,Die ·Lehrerin fragt ..·. in der. SC.h~tle·,. ··.mit welchem Bild man .· d.i e DDR beschreiben könnte~ »lcn stelle mirv-0r«, meldet sich ein Schüler• 1>die
:1
1
... DDR ist wie.ein Baum~ .Eest verwurzelt nn·sozialistischen Staatenver1. ·band gedeiht er,:wächs.t em.por und ~d immer stiirker~« - >~Ich stel~ · 1e mir vor{<, tnE}ldet si:cli ein zweiter SchfileI;. }~die DD~ ist ein riesiger · ~
i·
· Traktor mit einem rie~igen Pflug daran1Unermüdlich fährt der Trak:~ . · ... tor vorwä:rtS, u1ld über~, ·wo et den ..Ackerboden a..Ufgebrochen hat~ ·.•. blüht und gedeilit ~ l~Ich steJj'e 111ir VOt«; .meldet.sich Fritzchen, >ldie .·• . DDR ist ein stolzes SQhiff„ Das Schiff trotzt jedel1lSturm und jeder See, · ·: .~~~~~· ,·--···.,..~~-_,,.,,~~~ und die Leute stehen ap D.eck·~ ~ ~ « _, )}Ein sehr schones Bild, Fritzchen«~ .· ·•·. , unterbricht·die Lehrerin. Fritzchen fährt fort; l>Und die Leute stehen ·.
es. {(
: an Deck und kotzen und kotzen ..• {(; · .
.
-.
.
. - -.„,·.. . . :,_- -„
.
.- .
.
.
~
.„„ - .·
.-.
.'.
.
.:
. -:;
_ .. : '
·
. ..
·
· ..
. - ~;;:~»~..;~·~~~~-"it-~o/''- - - -:. ,' - - ' - ' - - ', ---- ~....~~--.„.~~~~-'lil:
.. .
--~- ~~~'fe.~~~~~-~~~4ffl~'<>*iif#f_ -~
>l::::::~=-----------~ JUDO, , ,__
'•:
„ .,
.
.
'---- <::./:-- .
------------...--=------------ _______. .--
_ _ _1:......-
0
-
'
„_
·
-
• •
-
.
-
. ,,,.,
'• __,
52
Lernen, lernen, nochmals lernen •
Ernst Röhl
HHOtto Ahnungslos gehe ich über den Fritz-Stippekohl-Platz - wer kommt mir entgegen? Der leibhaftige Quasnick. Mit Frau und Tochter. Er selber sah aus wie immer. Genau wie damals, als wir gemeinsam in der Wirtschaft tätig waren, speziell in der Gastwirtschaft. Junge, Junge, waren das Zeiten! Die ganze Mittagspause von zwölf bis fünf in Willis Glas-Bier-Geschäft. Quasnick, wie gesagt, hatte sich äußerlich so gut wie gar nicht verändert. Die Frau aber hatte mächtig ausgelegt. Und die Tochter kam ganz nach der Mutter. Das Gewicht hatte sie schon, obwohl sie kaum mehr als dreizehn, vierzehn Jahre alt sein konnte. Sie steckte in einem rotweißen Pummelfummel, der gewiß nicht zufällig, sondern auf Anraten oder Anweisung der Mutter längsgestreift war. Ich wäre mit Quasnick gern in einem anständigen Lokal Du könntest also jeden Tag 25 Pfund eingekehrt, wo ein anständiger halber Liter vom Hahn Gurken essen und sogar noch ein paar läuft, die Frau allerdings drängte uns zielstrebig ab ins Fässer Selters dazu trinken. erste, beste Cafe. Da saßen wir nun auf diesen zierlichen Schnörkelstühlchen um ein zierliches rundes Schnörkeltischchen herum und lächelten uns gegenseitig verlegen zu, und ich dachte mir, es könne gewiß nicht verkehrt sein, wenn ich irgendwas Schmeichelhaftes sagte. »Eure kleine Annette«, sagte ich, »ist aber auch ganz schön groß geworden.« »Groß klingt sehr hübsch«, sagte die Frau, und es klang nahezu feindselig. Quasnick distanzierte sich mit einer bjlflosen Handbewegung. »Groß wäre nicht weiter schlimm«, sagte die Frau, »aber sie ist leider stark übergewichtig, viel zu korpulent für ihr Alter.« »Das verliert sich«, sagte ich, »beim ersten Liebeskummer.« Die Tochter schlug die Augen nieder. Quasnick schielte kritisch auf das ansehnliche Mittelstück seiner Gemahlin. »Mit Zureden haben wir's versucht«, barmte Frau Quasnick, »und auch mit Appetitzüglern - ohne Erfolg.« »Aber Trudchen! « Quasnick versuchte abzuwiegeln. »Ist denn das wirklich alles so schrecklich?« Die Frau sah mich groß an: »Intelligente Fragen stellt der Mann, finden Sie nicht auch? Und das, obwohl ihr die Kinder auf der Straße schon dumme Sprüche hinterherbrüllen: Annette, die Fette! « Obwohl Annettes Gesicht feuerrot anlief, fuhr Frau Quasnick in ihren Ausführungen zügig fort: »Kinder kön-
Lern e n, 1e r n e n, n o c h m a 1s 1e r n.e n
53
nen ja so grausam sein! Zur Disco traut sich unsere Annette nicht mehr hin. Ihr Selbstbewußtsein ist natürlich angekratzt. Und das Unangenehmste: In ihren schulischen Leistungen, besonders in Mathe, ist sie stark abgerutscht. Sehr peinlich!« Quasnick hob, wenn auch kraftlos, die Hände zum Zeichen des Protests. »Ich weiß, was du sagen willst!« So einfach ließ Frau Quasnick sich das Wort nicht abschneiden, schon gar nicht vom eigenen Mann. »Wir haben die großen Ferien gründlich genutzt, um einen, nun, man kann schon sagen wissenschaftlich begründeten Ernährungsplan zu realisieren ... « »Wir!« schnaufte Quasnick und reckte den Hals, um vielleicht doch noch irgendwo eine Serviererin zu erspähen. »Jawohl - wir! « bekräftigte Frau Quasnick. »Annette mit meiner Hilfe. Ein regelrechtes Kalorienminimierungsprogramm nach der Ernährungstabelle von Professor Gräfe. Annette hatte pro Tag eine Vorgabe von 1000 Kilokalorien ... « »Allerhand«, sagte ich. »Ü nein«, erklärte Frau Quasnick, »1000 sind herzlich wenig.« »Eine Kilokalorie«, sagte Annette, »ist die Wärmemenge, die nötig ist, um einen Liter Wasser von 14,5 auf 15,5 Grad Celsius zu erwärmen.« Annettes Pausbacken erglühten abermals, diesmal vor Stolz. Quasnick war es endlich gelungen, die Serviererin herbeizuspähen. Frau Quasnick bestellte sich ein Kännchen Mokka sowie ein Stück Kirsch-Sahne-Torte, Quasnick und mir gewährte sie je einen doppelten Weinbrand, und für Annette ließ sie ein Glas Selters kommen. »Selterswasser«, sagte sie, »ist geradezu ideal, weil es überhaupt keine Kalorien enthält. Gurken sind auch verhältnismäßig günstig, aber doch bei weitem nicht so günstig wie Selterswasser. 100 Gramm Gurken enthalten nur 8 Kilokalorien.« »Bei einer Vorgabe von 1000«, knobelte ich, »könnte Annette demnach täglich, Moment mal, 1000 geteilt durch 8 ... « »... gleich 125«, sagte Annette, »multipliziert mit 100 Gramm ist gleich 12,5 Kilo.« »Du könntest also jeden Tag 25 Pfund Gurken essen«, sagte ich, »und sogar noch ein paar Fässer Selters dazu trinken.« Annette lächelte schmerzlich, denn in diesem Augenblick servierte die Serviererin außer der Selters einen gewaltigen Kirsch-Sahne-Tortensektor. '
•
0
> >Es soll sehr gesund sein, hin und wieder mit den Hühnern zu Bett zu gehen.«
54
Lernen, lernen, nochmals lernen
»Aber«, sagte Quasnick zu mir, »wenn du von der Torte da nur einen Teelöffel voll probierst, bist du gleich auf achtzig, und wenn du zwei Stücke wegschrotest, bist du dicke auf 1000.« »Du verstehst also auch etwas davon«, stellte Frau Quasnick indigniert fest. »Bei uns zu Hause wird doch von nichts anderem mehr gesprochen.« Quasnick erhob sein Glas in meine Richtung. »Prost, Erwin!« sagte ich. »Mann, waren das Zeiten ... «,begann er zu schwärmen. »Wir wägen äußerst präzise«, warf Frau Quasnick eilig in die Debatte. »Wenn die Haushaltswaage zu grob anzeigt, benutzen wir die Briefwaage, am liebsten hätte ich eine Diätwaage, aber die meisten Werte prägt man sich ja schnell ein, nehmen wir spaßeshalber das Frühstück: ein Ei gleich 87, 20 Gramm Leberwurst gleich 42, eine Scheibe Mischbrot zu SO Gramm gleich 125, bestrichen mit 5 Gramm Margarine, Marke Soma, übrigens eine sehr fortschrittliche Margarine, mit dem Verpakkungsaufdruck >100 Gramm= 1550 Kilojoule<, Sie verstehen, die Kalorie ist ja genaugenommen passe, aber die Rechnung mit Joule ist doch noch recht ungewohnt.« »Ein Kilojoule gleich etwa 4,19 Kilokalorien«, sagte Annette, »1550 Kilojoule aufgerundet 390 Kilokalorien, 5 Gramm Soma, errechnet mit Dreisatz gleich 19, Frühstück insgesamt 273. « Quasnick verdrehte gequält die Augen, ich als höflicher Mensch nickte zustimmend, obwohl ich nicht mal Bahnhof verstanden hatte. »Auf dieselbe Weise«, erläuterte Frau Quasnick, »errechnen wir auch das Mittagessen, so daß wir beim Abendbrot ganz exakt dosieren und auf 1000 orientieren können.« »Und was ist mit Naschen?« fragte ich. »Verboten!<< knurrte Quasnick. »Wenn ich eine halbe Tafel Vollmilchschokolade zusätzlich esse«, sagte Annette, »aus Heißhunger oder Disziplinlosigkeit oder was weiß ich, müßte ich entweder 12 Kilometer radfahren oder 1000 Meter in 20 Minuten schwimmen oder 45 Minuten tanzen, möglichst Reggae.« Frau Quasnick hatte ihr Stück Torte beendet und blickte mich mit unverhohlenem Stolz an. »Mal eine ganz dumme Frage«, sagte ich. »Hat sie denn nun eigentlich abgenommen?« »Abgenommen?« fragte Frau Quasnick zurück und schob den leeren Tortenteller ein paar Millimeter der Tischmitte zu. »Nicht direkt«, sagte Annette. »Aber«, sagte Quasnick, »sie kann jetzt hervorragend rechnen.«
Lernen, lernen, nochmals lernen
55
Peter Ensikat/Wolfgang Schaller/Manfred Schubert
Reporler spricht auf dem Dresdner Altmarkt Passanten an. Reporter: Guten Abend, meine lieben Fernsehzuschauer, heute wieder eine verblüffend aktuelle Umfrage: Was halten Sie von unserer Jugend? Und da strömt auch schon ein einzelner DDRBürger über den Altmarkt. Gestatten Sie eine Frage: Sie haben sicher den Entwurf des neuen Jugendgesetzes gelesen. Ihre Meinung, bitte? 1. Mann: Hier rein? In das Sieb? Reporter: Sie können sagen, was Sie wollen, es wird sowieso gesiebt. Also: Was halten Sie von unserer Jugend? 1. Mann: Ach Gottchen, direkt halten tu ich nischt von ihr. Aber andererseits wird unsereins auch kaum noch von ihr belästigt. Reporter: Was sind Sie denn von Beruf? 1. Mann: Frisör. Ab. Reporter: Da kann man nur sagen: Figaros Tiefzeit. Aber schon geht's weiter. Auch an Sie die Frage. Was halten Sie von unserer Jugend und ihrer Arbeit? 2. Mann: Ich bin Betriebsleiter, und für mich ist das ein dialektischer Prozeß. Wrr haben jüngere Menschen, die machen die Arbeit. So leistet der ganze Betrieb Jugendarbeit. Reporter: Und was sagen Sie zu der Forderung, der Jugend mehr Verantwortung zu geben? 2. Mann: Wrr haben entsprechend gehandelt und unseren Lehrlingen bereits die Raumpflege eines ganzen Stockwerkes in eigener Verantwortung übergeben. Reporter: Meinen Sie, Lehrlinge sind die geeigneten Kräfte? 2. Mann: Natürlich. Die können nicht kündigen. Ab. Reporter: Auch an Sie, meine Dame, die Frage. Was halten Sie von unserer Jugend? 1. Frau: Ja, also, wie bereits Lenin dazu ausführte, hat schon Engels gesagt, daß auch Karl Marx in dieser Frage entschieden - äh, wie war bitte Ihre Frage? Reporter: Was halten Sie von unserer Jugend? 1. Frau: Ja, wie ich hierzu bereits richtig bemerkte, können uns darüber nur die Klassiker Auskunft geben. Reporter: Ich wollte aber die Frage Ihnen persönlich stellen. 1. Frau: Vielleicht wollen Sie auch noch meine eigene Meinung wissen?! Wo gab's denn so was mal bei uns im Fernsehen! Ab. Reporter: Na, Opa, beim Abendspaziergang?
Als ein Mann am Zeitungskiosk »Neues Deutschland« kaufen will, muß er hören: »Ist noch nicht da ... « Als er dara11fhin »Die Freiheit« aus Halle kaufen will, muß er hören: »Geht nicht, Die Freiheit kommt erst mit dem neuen Deutschland.«
Lernen, lernen, nochmals lernen
56
Der Jugend unser Vertrauen
3. Mann: Ja, ja! Reporter: Was halten Sie von unserer Jugend? 3. Mann: Nu ja, ich hielte schon mal gerne. Wenn ich mir so die BH-losen Mädchen angucke, möchte ich immer ausrufen: Hoch sollen sie leben! Ab. Reporter: Und da begegnet uns auch schon ein junges Mädchen. Sag mal, was treibst du eigentlich in deiner Freizeit? 2. Frau: Wrr arbeiten in den Lernkollektiven, sorgen für die Pioniere und Veteranen, studieren für das Abzeichen »Für gutes Wissen«, trainieren für das Sportleistungsabzeichen, kämpfen in der GST und singen frohe Jugendlieder. Reporter: Na bitte, das war eine Antwort, wie man sie gern hört. So ein Jugendkollektiv hab ich noch nicht gesehen! 2. Frau: Ich auch nicht. Aber die Kreisleitung freut sich, wenn's in den Berichten steht. Ab. Reporter: Mein Herr, darf ich Ihnen die Frage stellen: Was halten Sie von unserer Jugend? 4. Mann: Sehr viel. Auf der Messe der Meister von morgen hat unser Betrieb ein Exponat ausgestellt - Weltniveau! Das ist mein Neuerervorschlag! Reporter: Wieso Ihrer? Sie sehen doch nicht mehr wie 20 aus? 4. Mann: Deshalb stehen ja auch unsere Jugendlichen auf der Messe und erklären die Kiste. Reporter: So erziehen Sie also junge Facharbeiter? 4. Mann: Nee, junge Propagandisten! Ab. Reporter: Was halten Sie ... 5. Mann (übertrieben schlampig gekleidet}: Hallo Fans! Reporter: Sie gehen sicher zu einem Kostümball? 5. Mann: Nein, zum Jugendball! Reporter: Wäre da ein Blauhemd vielleicht passender? 5. Mann: Wohl 'ne Meise, Mann! Wenn wir dort schon Musik machen, dann ziehen wir uns wenigstens anständig an! Ab. Reporter: Und an Sie ein letztes Mal die Frage: Was halten Sie von unserer Jugend? 6. Mann: Ich sage immer: Jugend voran, erhebe dich jetzt! Reporter: Sind Sie ein Jugendfunktionär? 6. Mann: Nee, Rausschmeißer im Jugendklubhaus. Reporter: Aber wieso? Unsere Jugendklubhäuser sind doch für die Jugend da? 6. Mann: Natürlich! Solange sie friedlich und organisiert häkeln, sticken oder Mandoline spielen, von mir aus. Aber wenn die erst tun, was ihnen Spaß macht, hört bei mir der Spaß auf! Reporter: Aber Erich Honecker hat doch gesagt ... 6. Mann: Ist Honecker Hausmeister oder ich?!
58
•
Was des Volkes Hände schaffen
C. U. Wiesner
' "• r1sor
orto ~H
as Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschichtjehabt? Wat kiekense sich denn so um in mein Salong? Hier hat sich nischt verändert, und hier verändert sich ooch nischt, und die Tapete is immer noch dieselbe. Im Gejensatz zu mein Nachbarn bin ick da mehr konserventief. Veränderungen machen nischt wie lästige Umstände, und solange ick selber mit mein Laden noch sehr zufrieden bin, laß ick mir in diese Hinrichtung von niemand Vorschriften machen. Und mit Neutappsieren wärs bei mir schonjar nich mehr jetan. Da müßte man schon von oben anfangen und die janze Decke abkloppen. Stellnse sich da mal die Wirtschaft bei uns vor! Nee, die paar Jahre, die ick noch lebe, bleibt alles beim alten. Wir deutschen Herrenfrisöre inne DDR ham schließlich Jrund jenug, auf uns selber stolz zu sein. Bei uns anne Spree wurden schon die feinsten Alfonso- und Melangeperücken jeknüppert, wie der jroße Zar Peter seine verbohrten Altrussen nochjewaltsam die Rauschebärte absäbeln ließ. Und beis Haarefärben waren wir immer schon die Größten. Nee, ick sage Ihnen doch: Hier hat sich nischt verändert. Ach so, dis Schild meinse? Hab ick eijenhändig jemalen: Vorwärts zu neuen gewaltigen Haarschneide-Erfolgen! Dis is nämlich meine einzige Devise; wie soll ick denn sonst zu Devisen kommen? Ach ja, der neue Tüllstohr vors Schaufenster, den hat mir Muttern nähen müssen, damit sich meine wartende Kundschaft auf den bevorstehenden Haarschnitt konzentriert und nich andauernd durch den Blick aufe andere Straßenseite kopp scheu jemacht wird. Ich bin ja in mein hohes Alter noch ein Fuchs und sage mir: Wer nu schon rostet, dürf wenigstens nich rasten. Wer hat denn früher son Jewese um olle Männer jemacht? Von jewisse Ausnahmen mal abjesehn. Wie der alte Kaiser Willem vor neunundneuzig Jahre seinjoldnen Löffel abjegeben hat, war er schlappe einundneunzig Lenze jung, aber immer noch propper und pikobello. Jedenfalls ham wir dis so inne Schule mußten lernen. Und den sein Sohnematz, der Kronprinz Willem - der hat ja ein trauriges Los jehabt: Da lauert dis arme Schwein von Jahr zu Jahr, deß der Olle nu endlich abnibbeln tut. Er selber ging ja schon auf die sechzig zu, und wie er sich denn endlich den Hermelinmantel hat konnten überziehn, saß ihm der Jevatter Dod
59
Was des Volkes Hände schaffen _
schon am Kehlkopp und hat ihm man jrade neunundneunzig Tage regieren lassen. Und denn kam der Fatzke von Enkel auf den Thron und wird doch gleich den jroßen Bismarck inne Wüste schicken. Dabei wurde der jrade erst fümmensiebzig, also dis beste Reisealter für einen Politiker. Aber damals hattense ebent noch keine Alterswissenschaftler wie bleistiftsweise Professor Pellwunn, wo ich die Ehre habe, zu meine Kundschaft zu zählen. Nehmse mal den Kopp 'n bißken runter! Der Herr Professor is nämlich Garantologe, also Altertumsforscher ins Rejierungskrankenhaus, und sein Fachjebiet heißt Geranienchemie, und die kommen baldjeden Tag zu neue spektrale Ergebnisse. Neulich sag ick zu ihm: Son oller Knacker kann doch nich mehr ewig rumkrepeln, noch dazu mit die Verantwortung - für einen kompletten Herrensalong. Sagense mir doch mal ehrlich: Wann sollte man denn nu abtreten? Meister Kleinekorte, meint er, dis is keine Frage der Jahre. Manch einen erledigt der Kalk oder Suff schon mit fümmenvierzig, worauf ich ein kräftiges Räuspern hinter de Küchentüre höre. Muttern, werd ickjanz laut rufen, so persönlich hat der Herr Professor dis nich jemeint. Bring uns mal ruhig 'n kleinen Spaßmacher. Herr Professor sind heut ohne Wagen da, und ick mach sowieso jetz Feierabend. Na, denn ham wir in alle Ehren 'n Schluck zur Brust jenommen, und Muttern hat hinten kleine Häppchen gemacht. Herr Kafforke saß die janze Zeit mit sone Stielaugen dabei und dachte, ick vererbe ihm noch am selben Abend meinen Salong. Aber hinterher waren bloß noch zwei Personen einigermaßen nüchtern: icke und der Professor. Machense sich keine Sorgen, Meister Kleinekorte, hat er zum Abschiedjesagt. Für Sie gib's momentan kein Altersproblem. Wenn man meine Patienten noch alle so inovulationsfähig wie Sie wären ... Dis hat mir inwendig so beflügelt, deß ick am liebsten noch mit Muttern 'n Abendbummel durch 'n Friedrichshain jemacht hätte. Aber Sie hat mir nich jelassen und obendrein als ollen Lustmolch beschimpt. Daran sehnse dis Elend der Jeschlechter. Haltense mal den Kopp 'n bißken stille! Sehnse, da drüben, aufe andere Straßenseite, unser berühm-
J
>>Ohne Anmeldung kann ich Sie nicht drannehmen. Sie sehen doch, wir zwei sind heute ganz allein. <<
60
Was des Volkes Hände schaffen
tes Vorbild, die PeJeHa Wellenreiter! Ewig wurdense uns als leuchtendes Beispiel unter der Nase jerieben: Von der Jenossenschaft lernen heißt frisieren lernen! Dabei wußte jeder, was bei die Brüder los war. Der Scheff von die, der jreise Obermeister Konzfried, der hat bloß noch mit 'n Kopp jewackelt, und zu Kundenjespräche war der jar nich mehr fähig. Was soll denn ein Kunde von ein Frisör halten, der zu alles, was Se sagen, bloß immerzu den Kopp schütteln tut? Also eines Tages hat die PeJeHa selber jemerkt, deß bei Konzfried keine Spur mehr von Ovulationsfähigkeit drinne war. Denn hamse ihm endlich ins Feierabendheim hinjeschafft. Da hält er noch im Väterahnenklub Vorträge über seine Lehr- und Wanderjahre, und ab und zu zückt er seinen Staublappen für die Glatzenträger, weil se ihm so an den großen Lenin erinnern. So weit so jut, aber nu sind se da drüben von ein Ekzem ins andere jetrampelt, indem se Meister Mischke zum Scheff jemacht ham. Dabei soll der man jrade erst Mitte fuffzig sind. Also keine Spur von Erfahrung, ick meine, als Leiter. Und wat passiert? Also Meister Mischke hat vor nischt, aber vor jar nischt hat der Respekt. Alles uff eenmal will er umkrempeln, dieser junge Dachs. Dabei hat er ja, also teilweise hat er sojar recht, dis is ja dis schlimme. Jahrelang hat die Jenossenschaft alles vereinnahmt, wasses an Orden, Wanderfahnen und Ehrenbanner zu holen jab, aber warum? Weil se am dollsten aufen Putz jehauen und ihre Pläne erfüllt ham, deß unsereinen angst und bange wurde. Zum Beispiel die Kehrhaare: Die müssen sorgfältig jesammelt und für die Hutindustrie abjeliefert werden. Die Bevölkerung will ja nich andauernd mit alte Hüte rumloofen. Aber wenn Se die Zahlen von Wellenreiters jesehn ham, da müssen die nachts noch olle Frauen wechjefangen und die d.en mausjrauen Dutt abjeschnitten ham. Kam uns ja allen spanisch vor, aber wer hat denn die Kuraasche jehabt, gejen den großen Obermeister Konzfried was zu sagen? Und nu lauft es genau ins Gejenteil. Meister Mischke sagt, dis war alles Vorspiegelung von falsche Tatsachen, Potentatenkinsche Dörfer. In diese PeJeHa is rumjeschludert worden, des ses auf keine Kuhhaut mehr jing, aber jetz kommt alles anders. Als erstes hat er sich den Glaser bestellt und die große neue Schaufensterscheibe einsetzen lassen. In Zukunft, soll er jesagt ham, kann hier.jeder durchkieken und sehn, ob unsere Frisöre wirklich arbeiten tun. Is ja an sich nich verkehrt, wa? Auch für ein transpirentes Klima sorgt er, neue Ventilatoren und so. Jetz weht hier 'n anderer Wind, sagt er. Ooch im Prinzip nich schlecht. Und aufe Versammlung, sagt er, soll jetz jeder sagen,
Was des Volkes Hände schaffen ~
was er beschissen findet und wie mans besser machen könnte. Is ja im Prinzip nischt gejen zu sagen. Aber man dürf ebent dis Kind nich mit 'n Bade in den Brunnen fallen lassen! Vor allem, wenn sone übertriebenen Maßnahmen Schule machen! Nehmse bleistiftsweise mein Jehülfen. Den Mann muß ick ja beinah auf Knien anflehn: Lieber Herr Kollege Kafforke, nu sagense doch endlich mal Ihre Meinung zu unsere innerbetrübliche Demokratie! Wo sind wir denn noch nich janz Weltspitze mit unsern Salong? Aber denn jrient er bloß wie son Schmalztopp: Och, Meester, bei uns is doch alles paletti. Und denn schnippelt er hier mit Ach und Krach seine Stunden runter und schont sich dabei mächtig. Ick weiß dochjenau, deß der krumme Hund mündestens dreimal die Woche malern oder sonstwat jeht. Die Arbeit im Salong - jut, aber nich mehr wie nötig und vor allem wegen die Sozialversicherung. Is nu mal so: Privat jeht vor Katastrophe. Seh ickja alles ein, und zur Not läuft ja mein kleiner Laden man grade noch so. Aber was mir schweinsmäßig ärgert: Deß er mir nu dauernd die PeJeHa Wellenreiter vor die Nase halten will, und ick soll mir mal ne Scheibe abschneiden von die ihre neuen Methoden, so mit Peristaltik und 'n Glas Most. Ne Weile hab ich mir dis Gemotze noch anjehört, aber denn hab ick zu ihm jesagt: Bei uns is alles in Butter, und da muß ick mir nich Hals über Kopp auf Marjarine umstellen, bloß um als modern zu jelten. Hier jeht jefälligst alles weiter seinen Jang. Wie er nu immer noch n1mzackeriert und mir sojar vorje-schmissen hat - wenn der Ochse schon mal 'n Fremdwort uffschnappt - ick wäre nich mehr ovationsfähig, da hab ich ihm eiskalt jeantwortet: Jut, Herr Kafforke, wir übernehmen die Methoden von Meister Mischke: Ab morgen strenges Alkoholverbot während die Arbeitszeit. Muttern hat nochjenuch einjekochten Appelsaft. Da könnse sich in Keller setzen und ein Glas Most nachm andern trinken, dis befördert Ihre Perestroika im Dünndarm! Da feift die ab wie son Sputnik! Da hättense mal dis Jesicht von mein Jehülfen sollen sehn: Weiß wie die Wand hier vor Jahren! Und seitdem erzählt er dis alle Kunden dreist, wenn ihm keiner nach frägt: Hier wird nischt verändert wird hier! Nehmen wir zum Abschluß 'n Schnäpperken, Herr Jeheimrat? Hab ick bei Herm Kafforke inne Kitteltasche beschlagnahmt: Wodka Gorbatschoff. Schluckensen vorsichtig, jeder verträgt ihn nich. Macht zweifuffzig.
61
))In unserem Kollektiv gibt es keinen Widerspruch.<<
62
Was des Volkes Hände schaffen
Ernst Röhl
1tlo111iow Htit
~
Mit ungeheurem Getöse donnerte der Felsblock zu Tal. Ich trat rechtzeitig beiseite und wartete auf Sisyphos. Er kam auch bald, außer Atem, Schweißperlen auf der Stirn. Flüchtig erwiderte er meinen Gruß. »Moment«, sagte er, »bloß noch eine einzige Tour, dann ist Frühstück.« Ohne Zeit zu verlieren, stemmte er sich hinter die Klamotte, und schon ging's wieder los, immer fleißig bergauf. Er trug eine kurze, ausgefranste Exomis aus derbem Leinen, wie Handwerker und Landarbeiter sie zu tragen pflegten. Kein Gedanke mehr an den hochmodischen plissierten Chiton, mit dem er damals in Korinth, in seinen besseren Tagen, herumstolziert war. Wenn es stimmte, was der Buschfunk meldete, hatten sie ihn dort mit einer sagenhaften Beurteilung weggelobt und ihn hier zu gleichen Gehaltsbedingungen eingesetzt ich glaube, 90 Drachmen monatlich. Mehr muß ich wohl nicht sagen; es ist ja allgemein bekannt, wie so was gedeichselt wird, wenn man die Bekanntschaft des Arbeitsrichters vermeiden will. Mit ungeheurem Getöse donnerte der Felsblock zu Tal. »Fuffzehn!« ächzte Sisyphos und setzte sich zu mir ins Gras. Er nahm die Arbeitsschutzkappe vom Haupt und wischte sich mit seinem schon recht feuchten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Aus dem Rucksack zog er eine kleine, abgeflachte Amphore mit Landwein und griff mit seinen Riesenpratzen gierig in die Stullenbüchse. »O Mann«, stöhnte er, »hab ich 'n Kohldampf!« Ich beneidete ihn. Seit Wochen berichteten wir massiert aus allen Bereichen der materiellen Produktion. Seit Wochen war meine abendliche Joggingrunde dieser Kampagne zum Opfer gefallen. Ich litt unter Gürteldruck und Völlegefühl. »'ne ruhige Kugel«, sagte ich, »schieben Sie hier nicht gerade.« Bescheiden winkte er ab. »Man tut, was man kann.« Er hielt mir den Flachmann hin. »Danke«, sagte ich, »muß noch fahrn.« Sein Körper war muskulöser als der jedes Giganten oder Titanen, von den Olympioniken ganz zu schweigen. »Also wirklich«, sagte ich, »Hut ab! Ob es regnet, ob die Sonne scheint, immer vor Ort, rund um die Uhr ... « »Ist doch eine Selbstverständlichkeit«, sagte er, »jeder andere würde genauso handeln.«
Was des Volkes Hände schaffen
»Wie schwer ist der Stein eigentlich?« »Dieser hochwertige Wälzstein aus arkadischem Granit wiegt 1,8 Tonnen netto, was umgerechnet 2923 Waggonladungen hellgrüner Luftballons entspricht.« Es war offenbar nicht das erste Interview, das er gewährte. »Und welche Entfernung ist zurückzulegen? In der Schubphase? Hangaufwärts? « »Bei einem Steigungswinkel von etwa 45 Grad beträgt die effektive Schub„Sinnlos isses ja... " ~ :distanz 2 attische Stadien, pro Schicht also insgesamt 32, das bedeutet 8 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.« »Donnerwetter! « »Der Bestwert aus meiner Initiativschicht steht sogar bei 38 Stadien.« »Das«, mutmaßte ich, »ist nun sicherlich die neue anspruchsvolle Zielsetzung.« »Ehrensache. « »Wie stabilisiert man solche Spitzenleistungen?« »Nun, es gilt, kreativ an die Probleme heranzutreten, originelle Ideen einzubringen, Neuerungen durchzusetzen. Wrr wollen ja weg von der manuellen Arbeit, mein Wälzwerk bildet da keine Ausnahme.« „ ...aber es ist von oben »Andererseits gibt es vielleicht noch so festgelegt." Reserven, sehe ich das richtig?« »Richtig. Beispielsweise suche ich zur Zeit einen Wettbewerbspartner mit vergleichbarer Tätigkeit und abrechenbarer Aufgabenstellung.« »Den werd ich schon finden, dazu bin ich ja da.« Einzuversichtliches Lächeln erhellte seine Züge. »Letzte Frage: Wie ist es um den Nachwuchs bestellt?« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ein düsteres Kapitel, ehrlich gesagt. Weit und breit nichts in Sicht.« »Woran liegt es -Arbeitskräftelenkung?« »Vielleicht«, sagte er versonnen, »vielleicht ist aber auch meine Vorbildwirkung einfach zu gering.« »Quatsch!« sagte ich.
63
64
Was des Volkes Hände schaffen
»Jedenfalls will keiner ran. Oder ... ?« Er musterte mich eingehend. »... willst du's übernehmen?« »Ich? Nicht doch, danke bestens.« Mit aller gebotenen Behutsamkeit erklärte ich ihm, ich sei mehr ein Mann der Feder, mir liege seine Arbeit nicht, ich hielte sie sogar, pardon, für ein bißchen ... sinnlos. »Siehste! Das sagen sie alle. Jeder hat was viel, viel Wichtigeres zu tun.« Seufzend erhob er sich. »Na schön, mach ich eben weiter, solange meine Gesundheit es erlaubt.« Schicksalsergeben baute er sich auf neben seinem Felsen. »Irgendwer muß es ja machen.« Damit schob er ab. Von Herzen wünschte ich ihm Gesundheit, Schaffenskraft und einen würdigen Nachfolger, den vor allem. Eine extrem kritische Situation, Freunde! Man paßt einen Moment nicht so genau auf, und - schwupp! - haben sie dir die Planstelle schon wegrationalisiert. >>Kuck mal, wie die Kunden auf unsere Erzeugnisse fliegen.<<
'
Viel besser a~ als am Weih~ nachtstag 1984, wollen d ie F~ure im Salon Karl-Marx-Straße der · PGH „Chi c" ihren Kunjen 1985 begegnen · und . ihnen darum -nicht
••
mehr nach einer Stunde, sondern schon nach 45 Minuten ·offenbaren, daß sie, obwohl vorher versichert, auch ohne bestellt ~u sein, bedient werden, unfrisiert nach Hause geben können.
Unterschi~
Kennen Sie den zwischen der soziali- 1 1 stischen Kaderpolitik und der Champignon-Zucht? ~ Es gibt keinen, sobald sich ein helles Köpfchen zeigt, wird es abgeschnitten.
'•
l
·"""'~~-~~"·~~~~~~~~~-~-~~~~~·,~;~=~~~~-~-~-~=~~~~~=~·~-~tii
-
=
"°'*~ wett
1
e
•*tta ''' ter8S ft11ltllieb· ,._ lollt&tn . · -
h • •
uabplte,
O"
0
„ 0
A '
•
•
1
••
$
7
.
....
„·
s ••
7
• •
•
7
•
'
~-"'!"!-'=..,,_ -~~~~~~
N
'
I~':: . atascha s~hreibt einen bitterbösen Brief an Gorbatschow. » Seit zwanzig Jahren arb 't . h . d VII 1 ei e 1c nun schon m en ogograder Samowarwerken und habe nie einen ·fl
''6 ' '
!'IEf
"""'oii..,..„„,„„•.,,." A
-
'~'~h~~~~··~·r~&-~•·~-·--„~~~~~~~ ~ -ffe" MlJSWeit)i\{_-..,,„ - „. "'" ~ --~·"' ""'' ltix4:S11M1 ~'II:! .. , "' lK~~-----· 7.c!'4U:i~~~~11·~uu''~"'"::O.""'f...~mm~~..,.!-.filil:SJ:--ii~·~iv,_~~iltt~'*~··t"""n•J8~r!!:•!'Oifr1...,,!tir;..-.~wa...,..www„
..._ ,..,
'
.....
/; //! . ~ '
zu kaufen bekommen.« i Gorbatschow antwortet freundlich· N hm . uffälli · · » e en sie doch una g aus Jeder Abteilung ein Stück mit und bauen den Samowar zu Hanse zusammen.« Wochen spä~er Nataschas Antwort: »Vielen Dank für I~en Rat. Emen Samowar habe ich 'lW . L
=-~~~. ~~~
AM . TAG
DES
r
1
-
~
BERGMANNS
schwenkten in -Aue viele iwisd.'en Festwi•s• am FUiteich und Stod1on.
Schneewittchen: ,,Wir brauchen unbedingt 'ne neue Planstelle.,,
66
Was des Volkes Hände schaffen
Wolfgang Schaller
OHtaHH R,ie " ' Wolfgang Stumph in der Herkuleskeule
>>Ich hatte ein Radio angebracht hinterm Spülkasten. Sie wissen doch: Mit Musik geht alles besser!<< Wolfgang Stumph, 1985, in seiner Paraderolle als Kl.omann Richard im Dresdner Kabarett >>Herkules- . keule<<.
Ich muß mal stören. Ich bin der Richard. Vom Männerklo. Ich wollt bloß mal fragen: Muß jetzt keiner? Ich sitz nämlich schon eine halbe Stunde auf meinem Abort, und keine Kundschaft kommt! Das macht mich alle. Früher, als ich noch die volkseigene Toilette auf dem Altmarkt hatte, da florierte das Geschäft. Da konnt ich nachher sagen: Der Tag war nicht umsonst, Richard - heut hast du wieder vielen Leuten aus der Not geholfen. Für viele war das die Befreiung. Manchmal stand eine Schlange bei mir! Manche haben sich angestellt, weil sie dachten, es gibt Bananen! Ich hätt einen Stellvertreter brauchen können für den ganzen Papierkram. Wenn sie alle so anstanden in dringender Angelegenheit, das tat mir in der Seele weh. Da hab ich Nummern ausgegeben in der Spitzenbelastungszeit, mit der Uhrzeit drauf, wann sie dran sind. Damit die Wartezeiten verkürzt werden. Das hat sich aber in der Praxis nicht bewährt. Die kamen alle auf den letzten Drücker. Das war die Hektik, die innere Unruhe. Jeder wußte: So kann's nicht weitergehn. Da konnte keiner mehr was in Ruhe erledigen. Die kamen reingehechelt, völlig unter Druck, und dann gleich wieder raus! Da reichte die Zeit nicht, sich bißchen näherzukommen. So ging im Sozialismus das Menschliche verloren. Deshalb wollt ich's den Leuten ein bißchen gemütlich machen, sie sollten sich wie zu Hause fühlen. Weihnachten zum Beispiel, da hab ich Räucherkerzen angebrannt, da roch's bei mir wie bei Christus in der Krippe. Ich hatte auch ein Radio angebracht hinterm Spülkasten. Sie wissen ja: Mit Musik geht alles besser. Und wenn ich die glücklichen Augen der Kundschaft gesehen hab, so was hat mich angespornt. Da hab ich gleich noch mal den Schrubber genommen. Wenn auch das Land verdreckte - bei mir war immer alles sauber. Da konnten Sie vom Fußboden essen! Die Brille geputzt und die Kacheln poliert, ich hab mir immer gesagt: Das Auge pullert mit! Das war die Berufsehre, die ich schon damals im Leib drinhatte. Und deshalb wollt ich ja auch nur mal fragen: Muß jetzt jemand freiwillig?
Was des Volkes Hände schaffen -
lrmgard Abe
llor OHt Pri11at11tilJOra~efc 11011 Nur selten arbeiten die Leute in dem Beruf, der ihnen Berufung ist. Zu diesem Schluß war ich beim Nachdenken über unsere Freunde gekommen. Nehmen wir Kurti: Von ihm hätten wir nicht einmal vermutet, daß er Schomsteinfeger ist, wäre er nicht eines Tages in einem Steiger steckengeblieben. Nach seinen Gesprächen und künstlerischen Einlagen hatten wir ihn immer für einen begabten Meistertänzer gehalten. Oder Kalabreser. Als Zeitungsmann hat er doch wirklich einen hochinteressanten Beruf - neueste Wettbewerbsinitiativen, Altstoffsammelaktionen -, doch in seine Redaktion muß man ihn prügeln. Alle Welt kennt ihn nur in Gummistiefeln in seinem Angelkahn. So war Pongo, der Bäckerbursche, für mich eigentlich stets die rechte Hand von Buschner, zuständig für das Aufspüren junger Talente in den Ligamannschaften. Zwischen Hefe, Backpulver und Sauerteig konnte ich mir diesen bulligen Sportstyp einfach nicht vorstellen. Bis ich eines sackdusteren Morgens im Nieselregen gegen eine mehlverstaubte Gestalt anrannte und daran klebenblieb: Pongo. Er war also richtiger Bäcker, konnte richtiges Brot backen! »Brot macht der Meester. Ick mache die Weißware. Det is, versteh ma richtig - also, ick muß weiter!« Vom Fleischer gegenüber hatte er sich zwei kesselheiße Würste geholt, die er pustend und unruhig von einer Hand in die andere rollte, nun tauchte er eilig in die Finsternis und riß die Tür zur Backstube auf. Helles Licht knallte in den Hof, alles in der Backstube war weiß, übereinandergestapelt lehnten Mehlsäcke, ein Lehrling ließ einen Karton Margarine fallen, Pongos dröhnendes Lachen explodierte, dann krachte die Tür zu. Bruch und dunkel. Benommen trat ich ein paar Schritte seitwärts zum Schaufenster und sah den Laden zum ersten Mal mit wissenden Augen. Das Brot also war der tägliche Handstreich des Meisters, die Weißware Pongos Werk. Sicher zählten dazu auch die stadtberühmten Bunten Plätzchen, für die die Schulkinder heimlich ihr Essengeld oder ihr
67
68
Was des Volkes Hände schaffen
· TÄGLilH
~ ~Ri5CHf
~ARE~
Oo '
•• • •
•
•
»Moment mal, mein Mann bringt gleich zwei Stückchen, frisch aus dem Ofen.«
'
heimliches Zigarettengeld in den Bäckerladen trugen. So erweitert man sein Wissen mitunter ganz unbeabsichtigt. Dieses neue Wissen auch zu nutzen, auf die verheerende Idee kam ich erst eine Woche später. Walter erwartete Pongo zum Spiel Royal Madrid gegen Humphrey Wanderers. Voller Ungeduld war er ihm schon entgegengegangen und suchte mit dem Fernglas die Chaussee ab. Auf einem Moped, das ihm viel zu klein, mit einer Schapka, die ihm viel zu groß ist, kam der Meister der Weißware angeschrubbt wie ein bejubelter Artist im Zirkus. Genau in dem Augenblick überfiel mich der verrückte Gedanke: Wenn er schon hier war, könnte er mir dann nicht vielleicht, eventuell, ganz unter uns das Geheimnis seiner berühmten Bunten Plätzchen verraten? »Wenn's weiter nüscht ist! Stell ma schon alles hin, geht gleich los!« Er wollte sich nur schnell den Einlauf der Mannschaften ansehen. Diese unerwartete Bereitwilligkeit des Geheimnisträgers machte mich sofort unverschämt. Wennschon, dennschon! In ungewohnt großen Mengen stellte ich alles hin, was überhaupt auf den Tisch paßte. Pongo hatte dafür jedoch nur einen geringschätzigen Blick: »Det bißchen? Lohnt doch's Anfangen nich!« »Mann! Ich will keine Stadt satt machen, mir reichen paar Bleche!« »Haste ooch wieder recht«, murrte er unwillig. »Aber da muß ick erst umrechnen. Also: Ick nehme - uffn Zentner Mehl warte ma.« Irgendwie vertrugen sich Fußball, Bier und Prozentrechnung nicht, denn es kamen nach sorgfältiger schriftlicher Rechnerei auf ein Pfund Mehl dreißig Eier und zwanzig Pfund Zucker. Selbst Walter, in Sachen Bunte Plätzchen völlig unbewandert, stutzte. »Stimmt ja ooch nich«, bestätigte Pongo. »Hier, det blöde Komma!« Also noch mal. Ich suchte eben im Keller die letzten Bierflaschen, als die Männer über mir plötzlich wütend auf die Dielen trampelten: LordHastings durch Foul verletzt! Eine Katastrophe, die nicht ohne Folgen für das Rezept bleiben konnte, das jetzt forderte: vier Pfund Mehl, hundert Eier, ein Pfund Zucker. Der kleinlichen Haushaltsrechnerei schon schwer überdrüssig, entschloß sich Pongo, alle Theorie fahrenzulassen und die Sache praktisch anzugehen. Nach Gefühl. Skeptisch befinger-
Was des Volkes Hände schaffen
69
„
teer meine größte Schüssel: »Na, hau erstma allet rin, wat da is. Dann sagste Bescheid.« Das nennt man Entschlußkraft! Ohne langes Fackeln haute ich alles rin, und als die ersten Eier bereits haltlos über den Rand der großen Schüssel glitschten, waren die letzten noch gar nicht aufgeschlagen. »Wat willste denn ooch mit son Finkennapp? Haste nich ne richtige Schüssel?« Irgendwo hatte ich noch die große Schlachteschüssel, da paßte endlich alles rein. 'lrotzdem stand Pongo ganz unglücklich davor und betrachtete seine Hände: »Versteh ma, ick kann dadrinne nich arbeeten. Ick verstauch mir alle Finger. Mach du det ma. « Aber gern! Unter so fachmännischer Anleitung konnte ich nur lernen. So arbeitete ich konzentriert, lauschte dabei jedoch aufmerksam dem Gebrüll und Gestöhn der Männer, und beim nächsten Torschrei wetzte ich augenblicklich in die Stube. Die Schüssel samt Teig wetzte mit, wir waren aufs innigste miteinander verwachsen. Wie zehnmal geknatschter Kaugummi klebte der berühmte Bunte-Plätzchen-Teig an Schüssel und Händen. Die Männer ruckten und zerrten daran, und Pongo stellte nachdenklich fest: »lrgendwat stimmt nich mit die Anteile. Wieviel Margarine haste denn?« Genaugenommen - gar keine. Da hatten wir schon den Fehler! Fett ist bei Bunten Plätzchen die Seele. Nun, daran sollte es nicht scheitern. Ich habe immer viel Fett im Haus. Und so gelang mir auf Anhieb eine wunderbar gelbe, aber doch ungesund fettige Mehlsuppe, die obendrein die große Schlachteschüssel bis zum Überschwappen füllte. Hochzufrieden betrachtete Pongo das neue Fiasko. »Det sieht doch langsam nach wat aus. Wenn du nu noch paar Tüten Mehl hast und endlich son Gefäß, wo ick richtig drin arbeeten kann, versteh ma: arbeeten !« Auf dem Boden fand ich in der notwendigen Arbeitsgröße lediglich einen geflochtenen Überseekoffer, eine Munitionskiste vom letzten Weltkrieg und ein Schlauchboot. Im Stall aber stand verstaubt und verrostet die Kinderbadewanne. Wenn ich die bis zur Halbzeitpause sauber kriegte, hatte ich noch eine Chance. »Endlich wirste vernünftig. Nu mal los, ehs wieder losgeht!« Der heiße Fußballfan verwandelte sich augenblicklich in den sachlich kühlen Fachmann, der zunächst kurzerhand das Gewürzregal leer ramschte. Uns war unklar, wozu er etwas Rosenpaprika, weißen Pfeffer oder gestoßene Pimentkörner
'ne Nußtorte, was sonst?<< >>
70
> >Wir modernisieren nur die Fassade, gute Frau. Es bleibt ein Saftladen. <<
•
Was des Volkes Hände schaffen
benötigte, aber das alles hauchte, streute, puderte Pongo in die Wanne, er bemächtigte sich auch der Flasche Bier, die Walter rein zufällig••mit in die Küche gebracht hatte, und dann krempelte er die Armelauf! Seine Hände, die wir sonst nur bedächtig nach dem Glas hatten greifen sehen, begannen ein rasendes, verwirrendes Spiel, rührten, kneteten, schlugen und klatschten in wirbelndem Wechsel, die Ellenbogen tauchten immer tiefer ein, mal rechts, mal links wurde ein Teigstrang hochgerissen, wieder niedergedroschen, das schmatzte und knallte, schließlich wurden die Geräusche leiser, die Bewegungen leichter, fast zärtlich tätschelte er den fertigen Teigklumpen, stemmte ihn hoch und warf ihn unvermittelt Walter zu: »Genau uff Mann!« Aus Walter war sofort die Luft raus. Der Teigkürbis nagelte ihn mit dem Stuhl an die Wand. Also doch für die ganze Stadt! Pongo mangelte gleich noch ein Stück aus, so groß wie die Tischplatte. Dem Kürbis sah man es nicht an. Er war um kein Jota kleiner geworden. Und nun in den Ofen damit, dalli, dalli, und große Hitze! Vom ersten Blech schwärmt selbst Pongo noch heute. Dem zweiten wurde der inzwischen glühende Ofen zum Verhängnis oder der Nordhäuser. Was mit dem dritten passierte, kann man getrost Verkokung nennen. »Aber Laune hat's gemacht, ehrlich, Leute! Ick hätte echt Lust, ma wieder son kleenet Ding abzuziehen!« Pongo denkt da speziell an ein Faß Backöl, das bei seinem Meister rumsteht. »Klar, son Faß is nicht die Welt! Aber fürn paar Silvester-Pfannkuchen reicht det allema! « Ich werde im Waschhaus den eingemauerten Kessel ausscheuem, Walter wird die trockene Fichte abnehmen, in der gut und gerne anderthalb Meter Holz stecken, und schon muß Pongo in der Silvesternacht nicht gelangweilt rumsitzen, sondern hat eine Kleinigkeit zu tun. Seither bin ich wieder fest überzeugt: Die Berufe unserer Freunde sind ihnen tatsächlich Berufung. Doch, doch! Diese Bäckerburschen haben nur alle ein zweites Gesicht.
Heißer Sommer
72
Angela Gentzmer
Sketch mit Helga Hahnemann und Alfred Müller Zwei DDR-Rentner kommen den Strand langgestiefelt. Sie sind mit Koffern, Tauchsiedern, einem Netz voller Konserven beladen und werden von den Hula-Hula-Mädchen mit Blumen bekränzt. Die Urlauberin läßt sich verlegen die Blumen umhängen und sagt fassungslos zu ihrem Mann: Hier sind wir falsch, Erwin! Dit is doch nie und nimmer Heringsdorf! Er - mit Blick auf die hübschen Mädchen: Nu bleib doch mal ruhig, Hertha, v'leicht sind wir hier grade in so'n Begrüßungsabend mit 'ne Harzer Jodelgruppe rinjeraten! Sie: Mitten inner Woche? Er: Haste recht! Würde kein DDR-Bürgerwagen, sein Tanzbeen zu schwingen! Sie: Unsre Urlauber singen doch nur, wenn se blau sind, sonst lassen se den Strandfunk uff sich eindudeln! Er schnuppert mißtrauisch: Dit Wetter kommt mir hier ooch verdächtig vor! Sie: Eben! Da kommen ja unsre Anoraks und Jummistiefel jar nich' zur Geltung! Er: Ohne Reisegruppe stehst de da wie'n Idiot! Sie: Der Reiseleiter läßt sich ooch nich' blicken, jetzt weeßte nich' mal, ob de zum 1., 2. oder 3. Durchjang jehörst! Er: Nich' mal 'ne Bude, wo es keen Bier jibt, ham se! Sie: Oder'n Andenkenladen! Is man schon eene Stunde da und hat noch keine Ansichtskarte jeschrieben! Sie deutet mit ihrem Kopf in eine Richtung: Soll dit da drüben etwa die Ostsee sein? Er: Ohne Strandkörbe? Sie: Normal wär doch, daß man vor lauter Strandkörbe keen Wasser sieht, Erwin! Er: Ja - langsam wird mir dit ooch unheimlich! Jetzt mach ick mir sachkundig! Ick werd mal bei die hübschen Hostessen da'n Versuch wagen! Sie: Du bleibst hier! Reicht doch wohl, daß de für drei so'ne Versuche Alimente zahlen mußt, nich'? Er stöhnt: Wären wir bloß nach Bulgarien jefahren! Sie spitz: Tja, denn hätteste dir nich' mit meine Schwester in Hamburg verkrachen dürfen! Ohne Devisen kommste dir doch am Joldstrand vor wie der letzte Neckermann!
73
Heißer Sommer
Er: Denn eben nach Rumänien - bei Ceauc;escu! Sie: Dit könnte klappen! Wo außer uns keener mehr hin will! Er grübelnd: Uff eenmal sind wir hier janz janz janz woanders jelandet! Sie: Wir beede normal Sterbliche? Dit gloobste doch alleene nich! Er: So - paß mal uff, dit werden wir jetzt gleich sehn, ob sich dit bei diese Seezunge hier um'n sozialistischet Ferienlager handelt oder nich' ! Er sieht auf seine Uhr: Jetzt isset jenau 14.30 Uhr ... Sie: Mach keen' Quatsch, Erwin, um die Zeit kannste doch keen Mittagessen mehr verlangen! Er: Wer redet denn von Mittagessen, Hertha? Wrr jehn jetzt und suchen die Schlange, wo se nach Abendbrot anstehn!
1Arßa1t6s1Jri,t1Jo von Helga Hahnemann Nachdem unser 17. Urlaubstag auch verregnet war, sind wir für eine Nacht ins Warnemünder Hotel »Neptun« jezogen. Leider war da aber nichts weiter frei als dit Hochzeitszimmer. Und da is oben an der Decke 'n riesiger Spiegel, ja? Ick kann Ihnen sagen: Da konnte ick zukucken, wie mein Mann sich im Bette rasiert hat. Schön - über Thüringen kann man eigentlich nich' meckern bloß in unserm Hotel, da hatten se nich' mal Vorhänge anne Fenster. Hab ick natürlich sofort reklamiert, aber die Wirtin meinte janz locker: »Aber, meine Gudste, außer dem Thüringer Wald guckt Ihnen doch niemand in die Fenster nein.« Ick sage: »Dit is nich' die Frage, liebe Frau, bloß- mit wat sollen wir denn nun unsere Schuhe putzen?« Hier, am Strand, neben mir liegt'n junges Ehepaar, die waren voriges Jahr auch schon hier- auf der Hochzeitsreise. Diesmal wollen sie aber mal baden gehn . •
,.,
\. \
Sketchpartner Helga Hahnemann und Alfred Müller.
74 „
Heißer Sommer
•
Lothar Kusche
OHH Nach einer halben Ewigkeit saßen wir endlich wieder einmal in froher Runde beisammen. »Leute«, sagte ich fröhlich, »das ist schön, euch alle zu sehen. Nun laßt uns erst mal anstoßen!« Und das taten wir. »Wie kommt es denn, dass du so braungebrannt bist?« »Nun, mein Lieber, wenn man gerade um ganz Afrika herumgeschippert ist«, antwortete ich mit falscher Bescheidenheit, »dann ist es schon möglich, daß man einem das auch ansieht. Ich habe als frischgebackener Diplom-Meteorologe eben Schwein gehabt, als sie mich mit einem Forschungsschiff auf so eine kleine Weltreise schickten.« Ich räusperte Ich wurde König Ibn Saud vorgemich bedeutungsvoll und griff zu meinem Glas. stellt. Dann gingen Ibn Saud und »Donnerwetter!« rief Johannes. »Das ist ja Pilsner Urich zur nächsten Imbißstube. quell! Wo hast du denn das aufgetrieben? Kannst mir gleich mal was nachgießen - ehe Carl kommt. Hahaha! « »Ich habe einen Kasten Bier aus Rostock mitgebracht. Ich dachte gleich, nachdem wir unsere Forschungsergebnisse angelandet hatten - so nennen wir Seeleute das -, an eure trockenen Kehlen, Meeresluft macht übrigens auch Durst, von der tropischen Hitze gar nicht zu reden. Apropos - ich habe da ein Ding erlebt! Es war im Golf von Guinea, und unser Steuermann ... « »Also was das Pilsner betrifft«, sagte Johannes, »so muß ich dir wirklich mein Kompliment machen.« »Zu Pauls Geburtstag haben wir Radeberger Bier getrunken«, bemerkte Artur, »das ist auch sehr gut. Es war nur zu warm. Pauls Frau hat kein Gefühl dafür, wie man Bier auf den Tisch bringt. Na ja, Bier ist eben etwas elementar Männliches.« »Hört doch mal mit diesen Biergeschichten auf«, sagte Günter, der nur Selterswasser trank, weil er mit dem Auto gekommen war, »wir haben uns doch so lange nicht gesehen! Was gibt's denn Neues? Na?« »Wenn es euch recht ist, erzähle ich ganz kurz mal das Ding mit dem Steuermann. Also, wir lagen im Golf von Guinea, und da ... « »Stimmt das wirklich«, fragte Günter, »daß sich der dicke Kiesel von seiner Frau hat scheiden lassen, um eine Kugelstoßerin zu heiraten?« »Ja und nein«, sagte Artur, »er hat sich scheiden lassen, aber nicht, weil er eine Kugelstoßerin heiraten wollte. Vielmehr hat seine teure Gemahlin einem Kugelstoßer schöne Augen ge-
Heißer Sommer
macht. Sie hat ihn inzwischen auch geheiratet. Anita hat mir erzählt, es soll eine tolle Hochzeitsfeier gegeben haben; sie war nämlich eingeladen, weil sie doch mit Kiesel zusammen zur Schule gegangen ist. Die Fete ging bis früh um fünfe!« Johannes klatschte in die Hände und fragte: »Was gab's denn Schönes zu verkasematuckeln und zu picheln?« »Na, das ist doch egal«, sagte Günter, »aber wißt ihr schon, daß sich Willibald das Rauchen abgewöhnt hat und dabei dermaßen eklig geworden ist wie eine giftige Qualle? Er sagt kein freundliches Wort mehr, und neulich soll er seine Sekretärin so angeschnauzt haben, daß sie kündigen will. Was macht eigentlich der liebe Zander-Junge?« »Keine Ahnung«, sagte ich, »wir waren ja länger als ein halbes Jahr von Ozean zu Ozean unterwegs. Unser Steuermann hatte übrigens •• eine mächtige Ahnlichkeit mit Zander-Junge - falls der die Haare immer noch so kurz trägt. Eines Tages, das war im Golf von Guinea, verspürte der Steuermann schrecklichen Durst. Er war gerade in meiner Kabine, und ich gab ihm eine Flasche Bier. In diesem Augenblick ahnte ich natürlich nicht ... « Johannes schlug vor, daß ich ihm auch noch eine Flasche Bier geben sollte. In diesem Augenblick klingelte es an der Wohnungstür: Carl kam. Er entschuldigte sich zunächst dafür, daß er überhaupt kam, und dann dafür, daß er zu spät kam, und dann dafür, daß er etwas mißgelaunt sei, und dann dafür, daß er uns unbedingt sofort einen kurzen Bericht über die Gründe seiner Mißlaunigkeit geben müsse. Der Bericht geriet nicht gar so sehr kurz. Es handelte sich um Rachenmandeln, die Carl als angehender Internist tonsillae nannte und nicht in jedem Fall irgendwelcher inneren Krankheiten herauszuschneiden wünschte (Carl sprach von ektomieren) - im Gegensatz zu seinem Professor. Es kam in dem Bericht auch irgendeine amerikanische Schule vor, und wir waren alle außerordentlich gefesselt, weil niemand von uns an inneren Krankheiten litt und weil wir absolut nichts davon verstan-
75
76
>>Heute sind se alle wieder auf'n Beinen.<<
Heißer Sommer
den. Zum Schluß sagte Carl: »Entschuldigt bitte, daß ich euch das so ausführlich erzählt habe; aber ihr werdet sicher zugeben, daß mein Professor ein alter 'lrottel ist!« Er wollte sich, da wir nicht sofort antworteten, offenbar schon dafür entschuldigen, daß er uns aufgefordert hatte, seinen Professor für einen alten Trottel zu halten, aber da sagten wir schnell: »Klar, Recht haste. Was will .„ der Olle denn auch mit den ganzen Tonsillen? Der sollte erst mal auf die amerikanische Schule gehen, ehe er hier wie ein Wtlder um sich herum ektomiert. « Dann hatten wir eine kleine Verschnaufpause nötig, die ich listig dazu benutzte, folgende kleine Erzählung zu beginnen: »In Madagaskar hättet ihr dabei sein müssen. Diese Nelkeninsel ist ein herrliches Stück Erde. Wrr lagen zwei Tage im Hafen von Andevorante vor Anker. Das Wetter war herrlich, eine leichte Brise erfrischte uns, und ... « »Jetzt wird das Bier langsam warm«, sagte Johannes, »hast du keinen Kühlschrank?« »Wenn du deine Gattin länger frisch halten willst«, scherzte Günter unvermittelt, »dann leg sie des Nachts auf den Frigidaire. Was macht übrigens dein Annemäuschen, Carl? Studiert die immer noch angewandte Reklame?« »Ach die!« seufzte Carl und fügte hinzu: »Entschuldigt bitte, wenn ich das so grob sage! Aber es ist wirklich wahr. Die hat mich so ... na, mehr möchte ich wirklich nicht sagen. Entschuldigt bitte, daß ich nicht mehr sagen möchte. Hast du Kognak im Hause?« »Jawohl, mein Lieber! Ich habe sogar einen echten Cognac Napoleon aus Marseille mitgebracht.« »Wie ist es denn so in Marseille? Erzähl doch mal!« bat Artur. »Mach lieber erst mal die Pulle auf«, sagte Johannes. »Marseille läuft uns ja nicht weg.« Carl trank einen ziemlich großen Cognac Napoleon und meinte: »Der Schnaps ist gut!« Daraufhin wurde er von Johannes zur
-Heißer Sommer
Rechenschaft gezogen, welcher die Ansicht vertrat, nur ein Banause oder ein Internist könne ein so edles Getränk als Schnaps bezeichnen. Während Carl sich dafür entschuldigte, daß er so viel trank, klopfte Artur mir auf die Schulter und sagte: »Mensch, Alter - was ist denn heute bloß mit dir los? Wenn du über Marseille schweigen willst, wirst du ja deine Gründe haben. Aber auf so einer langen Reise wirst du doch irgendwas erlebt haben! Tu doch mal den Mund auf!« »Ja, das will ich«, rief ich, »als wir vor Djidda im Roten Meer auf der Reede lagen, tuckerte ich mit einer Barkasse an Land, und wißt ihr, wen ich da kennengelernt habe?« »Entschuldigt bitte, aber ich muß mal«, sagte Johannes. Carl ging mit. Ich wartete, bis sie zurückkamen, und dann fuhr ich fort: »Ich wurde König Ibn Saud vorgestellt, der den Hafen besuchte, nachdem er zuvor in Mekka gewesen war. Und das kam ganz plötzlich; ich spazierte über die Mole und ... « »Ganz plötzlich!« schluchzte Carl. »Genau wie bei meinem Annemäuschen. Entschuldigt, wenn ich euch mit solchen traurigen Geschichten belästige, aber ... « »Aber nein doch«, rief Günter, »erzählen! Immer erzählen!« Und Carl erzählte von seinem Annemäuschen und einem bösen Konsum-Dekorateur, der sie in sich vernarrt gemacht hatte und so weiter. Zwischendurch benutzte ich die kleinen Pausen, welche Carl beim Trinken machen mußte, um attraktive Bruchstücke meiner Geschichte wie Köder in den Raum zu schleudern: »Da klopfte mir der Herrscher Saudi-Arabiens auf die Schulter und sagte ... « Oder: »Da antwortete ich ihm: Mann, Ibn, das können Sie doch nicht machen ... « Oder: »Dann gingen Ibn Saud und ich zur nächsten Imbißstube, um uns rasch ein Paar Würstchen ... « Und so weiter. Aber das alles nützte nichts. Als sie endlich die Treppe hinuntergingen, hörte ich Artur sagen: »Da heißt es immer: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Hat er denn von seiner Afrikafahrt nichts mit nach Hause gebracht? Früher konnte er doch ganz lustige Geschichten erzählen. Und heute? Entweder er fing ganz konfuse Sachen an wie dieses Ding mit dem Steuermann, oder er saß stumm wie ein Fisch herum ... « »Jedem bekommt eben das Tropenklima nicht«, brummte Johannes. Und Carl entschuldigte sich noch in der Haustür dafür, daß er gar nicht wußte, wovon sie überhaupt sprachen.
77
•
•
Zwei Ostseeflundern unterhalten sich. Sagt die eine zur anderen: »Ein Glück, daß wir so platt sind. Die Bäuche der Urlauber hängen von Jahr zu Jahr tiefer.{<
-
'=
•
•
r
.'
I
•
Helfen Sie mit, den ständig steigenden Bedarf an Getränken zu sichern 1
-
en en-
-....ommer
30.. Juni 13. St'J)tcn1b,•r 1985
,
''•
Heißer Sommer
79
Heli Busse
'
ISSOH, WO
••
~t
Gegen neun Uhr morgens setzte ich Nanilein und Rolfi auf den Hochstand an der Gartenecke, von wo aus man den Feldweg vom Dorf her überblicken konnte, und ich schärfte ihnen ein, wie am Spieß loszuschreien, falls sie wen herankommen sähen. Nun sollte ich vielleicht erst einmal kurz erwähnen, daß damals, als die ganze Sippe von meinem Mann beisammensaß und das waren mit Angeheirateten und Kindern um die 20 Personen -, daß also damals mein Mann zu seinem Bruder Alfred sagte, er als Vogelfreund sei doch genau der richtige Mann, das Grundstück und die Laube von der Oma zu übernehmen. Alfred wollte damit jedoch nichts zu tun haben, mit diesem morschen Brennholz in einer Löwenzahnplantage, wo man erst eine halbe Stunde von der Bushaltestelle durch die Wüste laufen und dann noch mal eine halbe Stunde pumpen müsse, um eine Tasse braunes Gift trinken zu können. Alle anderen nickten beifällig zu dieser Rede. Hierauf sagte mein Mann, nun gut, dann übernehme er eben das Grundstück und auch die Notwendigkeit, sich für sie alle zu schämen, die das Andenken der Oma in den Dreck genau des Gartens treten, aus dem sie die eingeweckten Kirschen gegessen hätten. Nachdem wir auf dem Grundstück drei Jahre lang anjedem Wochenende und in jedem Urlaub wie die Wühlmäuse geackert und zwischendurch sogar noch zwei Kinder bekommen hatten, sagte mein Mann eines Tages: »Eigentlich müßte man die Banditen ja doch einmal einladen ... « Aber wir brauchten sie gar nicht einzuladen. Als alles fertig war, kamen sie von selber. Sie setzten sich an den Tisch vor der Laube und ließen sich bedienen und sagten, ja, das sei die wahre Erholung, wenn man so ein Grundstück habe wie wir. Und während sie unseren Kaffee und selbstgemachten Wein tranken und meinen Obstkuchen und überhaupt alles wegaßen, gaben sie uns gute Ratschläge, wie man sich noch besser erholen könne. Wenn sie gegangen waren, saßen wir im Chaos und pumpten und pumpten, um das ganze Geschirr abwaschen zu können. So ging das an jedem Wochenende. Eines Abends, als sie alle weg waren, sagte ich zu meinem Mann: »Dein Bruder Alfred und seine Sippe sind die Allerschlimmsten. Sie sind sechs, aber sie fressen und saufen wie eine siebenköpfige Raupe. Und dann haben sie auch noch den Korb Erdbeeren mitgenommen, den wir eigentlich für den Winter einfrieren wollten.« Mein Mann
80
Heißer Sommer
knirschte mit den Zähnen. Nach einer Weile sagte er, er habe mal einen Film gesehen, wo sich ein Mensch in seinem Blockhaus verschanzt und mit einer alten Flinte einen Haufen Räuber vom Leibe gehalten habe. Ich sagte, vielleicht genüge es, wenn wir so etwas hätten wie ein Frühwarnsystem, um uns rechtzeitig verstecken zu können, wenn die Räuber kämen. Am anderen Tag baute mein Mann den Hochstand an der Gartenecke. Ich hatte Nanilein und Rolfi gerade hinaufgeDa stürzte der Küchenschrank um, setzt, da schrien sie schon los. »Wie viele sind es?« fragund mein Mann fiel in die Küche te ich, denn ich hatte Nanilein beigebracht, bis sechs zu wie ein Engel vom Himmel. zählen. Mehr war nicht nötig, weil sechs das Höchste war, was in der Sippe vorkam. Nanilein zählte: »Eins, swei, dei, fünf, sieben, neun.« Also sechs! Die Alfred-Familie. Mit den Kindern stürzte ich nach hinten und schrie: »Alarm! Sie kommen! Alles in die Laube, alles abschließen, die Fensterläden zu!« Mein Mann stand auf der Laube, um das Dach zu reparieren, wo es durchgeregnet hatte. Er fing an zu schreien und sprang in seinen Gummistiefeln wie ein wildgewordener Gnom auf dem Dach herum. Da knirschte es plötzlich unter ihm, und er wurde immer kleiner und kleiner, bis ich bloß noch seinen Kopf sehen konnte, der wie eine riesige Tomate auf dem Dach herumzuliegen schien. »Komm sofort runter!« flehte ich ihn an. »Sag mir, wie?« schrie er. »Ich bin voll durch den ganzen morschen Dreck durch und steh im Küchenschrank, glaub ich.« Er steckte so fest, daß er noch nicht einmal den Kopf einziehen konnte. Ich also rasch aufs Dach und ihm einen Eimer über den Kopf gestülpt. Als ich alles abgeschlossen und die Fensterläden zugemacht hatte, standen sie schon vor der Gartentür. Es waren sogar sieben. »Wer ist es?« dröhnte mein Mann von oben in dem Eimer. Ich unterrichtete ihn, daß es die Bande von seinem Bruder Alfred sei sowie ein fremder Bengel. Ich sah, wie Alfred am Gartentor rüttelte, und als es nicht aufging, warf er sich dagegen, daß gleich noch zehn Meter Zaun mit umfielen. »Alles ein Schrott hier!« hörte ich ihn sagen, und dann kamen sie herein. Der fremde Bengel blieb vor dem Kirschbaum stehen und wetzte die Krallen, um hinaufzusteigen, aber Alfred hielt ihn zurück. »Erst mal auskundschaften, ob wirklich keiner von den Geizhälsen da ist!« sagte er. »Die bemachen sich wegen jedem Kirschkern, als wär's pures Gold!« Ich vernahm Alfreds Frau: »Merkwürdig! Die sind doch sonst immer da! Werners Frau hätte uns wenigstens Kaffee und Kuchen rausstellen können!« Und Alfred: »Werners Frau! Mit der hat sich mein Bruder was eingehandelt! Wenn's nach dieser geizigen Ziege ginge, müßten wir noch unser Essen mitbringen!«
Heißer Sommer
•
Da schlich ich in die Küche, um das lange Fleischmesser zu holen, aber es knirschte im Schloß der Tür. Jemand drückte die Klinke herunter. Ich schoß zurück ins Zimmer. Durchs Schlüsselloch konnte ich nur den alten Küchenschrank sehen. Nun kam Fanni in mein Blickfeld. Ich sah sie auf den Küchenschrank zugehen und die Türen aufmachen und ... der Schrei, ja, wie soll ich sagen? Jedenfalls ging er mir viel mehr durch und durch als das Allerdurchunddurchgehendste, was ich je in meinem Leben gehört hatte. Nach dem Schrei fiel Fanni llm, und aus dem Schrank klapperten ein Haufen Scherben auf sie herunter. Jetzt konnte ich in dem Schrank zwei nackte Beine in G11mmistiefeln sehen, eins im rechten, eins im linken Schrankteil, und in der Mitte hingen Fetzen von einer Hose. Die anderen kamen hereingestürzt, und von oben dröhnte aus dem Eimer die Stimme meines Mannes: »Was ist los da unten, verdammt?« Nun sah ich Alfred mit seinen Pranken nach den Beinen im Schrank greifen, und da stürzte ich hinaus und auf ihn. »Ah, sieh an!« schrie Alfred. »Wen haben wir denn da?« »Na, wen denn wohl?<
81
82
•
Heißer Sommer
John Stave
Die meisten Menschen machen den Fehler, daß sie den Urlaub nicht richtig ausnutzen. Ehe sie sich dreimal umgesehen haben, ist die schöne Ferienzeit vorbei, und dann dampfen sie schon wieder nach Hause und begeben sich mürrisch an ihre eigentliche Arbeit. Das dauert mindestens vierzehn Tage, drei Wochen, bis sie sich da eingelebt haben - so lange leidet sogar die Familie darunter. Und alles nur, weil diese unglücklichen Menschen sich dem Urlaub einfach hingeben, sich ihm in die Arme werfen. Da kommen sie an im Ferienort, fragen gleich nach dem Bett und hauen sich erst mal ein Stündchen hin. Meist werden darin sowieso drei Stunden draus, und so bricht schon die Zeit des Abendbrotes an. Ja, jetzt geht es natürlich los: Der schöne Tag ist schon zu Schon feiert die Langeweile Ende, und man hat noch gar nichts richtig davon gehabt. Triumphe, und ein endloses Dann gehn sie gleich verzweifelt ins Bett, und morgens Gähnen hebt an. schlafen sie bis in die Puppen. Dabei sagt der Dichter ganz deutlich: Spare in der Zeit - nein, so war es: Nütze die Zeit, denn sie ist bald dahin! Es ist alles eine Frage der Einteilung. Am Urlaubsort angekommen, muß zunächst einmal die Sache geklärt werden, ob eine Morgengymnastik organisiert ist. Jawohl, sagt der Empfangschef oder wie der Kollege sich da nennt, zwei Stück: eine um sieben, eine sogar um fünf. Gut, sagt man, belege ich die um fünf. Das hat seinen bestimmten Grund - weil nämlich die Sonne vielleicht um halb vier aufgeht - das ist immer ein sehr, sehr schöner Anblick! - und man einen erhöhten Vorsprung suchen muß, damit man die ganze Pracht richtig genießen kann. Wenn dieser Naturvorgang überstanden ist, schlendert man langsam zum Gymnastikort hinunter. Das dauert ewig, bis die anderen Erholungsuchenden sich eingefunden haben, und dann geht es auch schon los: Eins, zwei, eins, zwei und so weiter und so fort. Meist findet ja diese Gymnastik am Strande statt, besonders, wenn sich der Urlaub an der See abspielt. Wann gibt es eigentlich Frühstück, Herr Heimleiter? Um halb acht erst? Und dabei knurrt der Magen schon wie eine geheime Treppenstufe. Jetzt kann man Sandburgen bauen, zwei oder drei Stück. Und die Zeit
83
Heißer Sommer
vergeht und vergeht nicht. Um sieben nimmt man noch die zweite Schicht Gymnastik mit und setzt sich um viertel acht an den Frühstückstisch. Also, bis dann der Kaffee kommt, das dauert eine Ewigkeit! Ich will nun nicht meine Tricks vollständig verraten, aber man kann den eigenen Urlaub ganz schön in die Länge ziehen. Zum Beispiel, die Angelegenheit mit dem langweiligen Buch. Jetzt sollen keine Namen genannt werden, weil es sich um keinen kulturellen Beitrag handelt. Aber so ein langweiliges Buch, das zögert die Zeit mächtig hinaus. Dauernd muß man gähnen und auf die Uhr schielen, ob noch nicht bald Mittag ist. Oder ein langweiliger Film im Zeltkino, bei dem man zu Hause schon beinahe eingeschlafen wäre, wenn nicht auf dem Nebenplatz einer so laut geschnarcht hätte. Junge, so ein Film nimmt gar kein Ende, und wenn man dann endlich herauskommt, sind immer noch erst anderthalb Stunden vorbei. Nach dem Abendbrot - vorher kann man auch noch Dame oder Zwackmühle, diese langweiligen Geduldsspiele, spielen geht man in einen Lichtbildvortrag (»Die See hat selbst im Wmter schöne Seiten« oder »Trachten an der Wa_:_;:_.~~-: · ; '"4.&. v. ,· ~ J .. ..,„, „ „„ „. terkante« oder »Das Gegenschwungpendel und seine Anwendung«), der, obwohl mitunter in Farbe, ganz schön Geduld von den Leidtragenden erfordert. Und dann hinterher wird Canasta gespielt oder Romme, was sich noch besser eignet. Schon feiert die Langeweile Triumphe, und ein endloses Gähnen hebt an. Morgen früh ist um drei die Nacht vorbei, sagt man dann gegen halb eins, und man grault sich richtig vor dem nächsten langen Tag, weil man schon gar nicht mehr weiß, wie man den wieder totschlagen soll. Zu Hause kann man dann am ersten Arbeitstag richtig ausschlafen, bis halb sieben, kommt frohgestimmt zur Arbeit, und wenn die Kollegen fragen, wie es war, sagt man: Ach, es war stinklangweilig. Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen. Mir ist schon so zumute, als wär ich ein ganzes halbes Jahr weggewesen. Das nenne ich »Was vom Urlaub haben«. .
.
....
"
ii" ...... .
.
•• „.... .
••
„
. ·.„d1 .,, „ •• • \ .1„, ~ t:· ..,.,„ ~, t ~ t...wc~ ~ ... >• • • . . •~ ' '!'· • „• „!. <.~.„ „„ "' • ~ : .,,..„ . . . . . . . .,.• ~:.•.-.
Heißer Sommer
84
Matthias Biskupek
Der Schriftstellerverband der DDR empfing den Schriftsteller Emest Hemingway (USA) zu beiderseitigen Gesprächen. Es gab intensive Arbeitskontakte in verschiedenen Städten.
..
.,
.
. ' .„. . .. . . '•·
.
..:-_. .
.
Honeckers Scliutzen-· .• ·gel bi.ttet i~ Hil11mel. ·.~ um Urlaub, "er,sei . ···· : total ersc~höpft. . · .. . . · »\1{ieso, dnhastnur· „ einen 'Menschen zu. .·· .schützen, so wie . . • .' . i
.
.
,.
.. , .
.
.
.
..
~; jeder apd~re' Schutz:_ . . engeI auch~<, .sagt·· · . Petm.s ..>»Ge"'1iß<~, ,• · . ·. ·röchelt der Engel....·-~:· .
''•
.
.„.
.
-.
·. »aber nicht vor .' · • . . ·• i 7·.Millioil.en. Me1l~ · :'· . · sehen'«·' · ·.. ·. ··•·•· · · · ? .: c ·.·.·.
:
i
. ..
. .·
. •
•·...
.
. --~·.
>
:
. .
·•·.
Glauben Sie nicht, daß es kein nettes Land ist. Ich kam da so rein und in dem Flughafenrestaurant gab's eine Bar und an der Bar gab's was, das hatte einen Namen. »Heh«, sagte ich, und dann trank ich noch zehn dieser Dinger, die hier wirklich nett sind, und irgendeiner mit weißer Jacke schrieb das auf. Hier wird immer alles aufgeschrieben. Ich traf dann meinen alten Freund Brecht, der machte eine Theorie in seine Schreibmaschine rein. Aber es war gar nicht Brecht, der sah nur so aus. Hier sehen alle immer nur so aus, und die Theorien sehen aus wie Schreibmaschinen. Bin dann gefahren, in sonem Spielzeug-Pullman-Wagen von dieser Demokratischen Reichsbahn. Draußen lag sie da, die Elbe, richtiger Fluß. Wasser. Vielleicht hieß sie auch Gisela, sie war tief und ich hatte sie einfach gern. Irgendwann war ich noch in Schwerin. Da heißen diese ganzen deutschen Dichter Poeten. Hat ich was getrunken und laut gesagt »Mann oder so«. Das haben sich die Poeten aufgeschrieben, weil ich das Vortrag nannte. Sie haben es sich untereinander aufgeschrieben. Das heißt hier Gedicht. Hier ist immer alles untereinander und von oben nach unten oder umgekehrt. Und das heißt demokratischer Zentralismus. Das hab ich mjr aufgeschrieben. Nett. Später war ich in einem netten deutschen Dorf. Berlin oder Feldberg oder so. Sie haben da eine Semper-Oper mit Sekt und einen Goethe-Nationalpark. Dort haben wir angefangen mit Bier und haben über die Staaten geredet. Alle haben über die Staaten geredet. Aber sie waren noch nie dort. Keine Lust oder so. Ich hab denen gesagt, daß die Staaten gräßlich langweilig sind. Und alle haben begeistert genickt. »Mann«, hab ich gesagt, und da haben sie mir eine Rede gehalten. Waren lauter schreibende Frauen. Und ich hab noch mal »Mann« gesagt. Gut, da hab ich eine Auswertung vorgesetzt gekriegt. Oder hieß das »Auslese«? Und ich hab gesagt, nachdem ich zehn solche Dinger getrunken hatte, daß ich in sonem netten Land auch mal Präsident oder Lyriker sein möchte. In keinem andern Land ist es so nett. Irgendwie hat das nicht geklappt, mit dem Präsidenten oder dem Lyriker. Aber es soll niemand sagen, daß es kein nettes Land ist. Hier sagen immer alle, daß es kein nettes Land ist.
86
•
Höher, schneller, weiter
Ernst Röhl
' IH Ach, du Heimatland! Auch die allerletzte Ampel der vielgerühmten Grünen Welle schaltete, als sich Pinneberg mit seinem altersschwachen Trabant näherte, hastig auf Rot. »Grüne Welle«, murmelte er, »daß ich nicht lache.« Er dachte aber nicht im Traum daran, sich die kostbare Vorfreude trüben zu lassen. Er beschloß, die Rotschaltung nicht als Störung und Ärgernis aufzufassen, sondern als Fingerzeig des Schicksals. Rennfarbe Rot - der heiße Tip des Tages. Schlau nahm er sich vor, auf Jockeis mit roten Jerseys besonders zu achten. Die Ampel schaltete von Rot über Gelb auf Grün. Pinneberg erstarrte, von einer Erleuchtung blitzlichtartig getroffen: RotGelb-Grün! Rot - Sieger, Gelb - Zweiter, Grün - Dritter - der Große Einlauf! Doch ... in welchem der zehn Rennen? Der vollbärtige Fahrer des LADA hinter ihm riß ihn mit einer mißtönenden Hupe aus dem süßen Traum vom großen Geld. Pinneberg legte den Gang ein, sein Auto hoppelte über die •• Kreuzung; während des Uberholvorgangs stierte der Feierlich tätigte Pinneberg die LADA-Affe geringschätzig zu ihm herüber und letzte, die unwiderruflich letzte klatschte sich nach Schimpansenart mit der flachen Wette seines Lebens. Hand ausdrucksvoll vor die Stirn. Du mich auch, dachte Pinneberg und prägte sich eiskalt die drei Ziffern des LADAKennzeichens ein: 2, 9, 1. Ein entgegenkommender Wartburg hatte die Ziffern 7, 4, 6, sein eigenes Fahrzeug die 5, die 3 und die 8, so daß er glücklich alle Zahlen von 1 bis 9 beisammen hatte. Ihm dämmerte, daß es für Pferderennen bessere Vorzeichen geben könnte als ausgerechnet Autonummern. Auf dem Weg zur Rennbahn bemerkte er insgesamt nur 4 Radfahrer, für die Jahreszeit bemerkenswert wenige. Auf dem benachbarten Parkplatz händigte ihm der Wächter eine Parkquittung mit der Nummer 044244 aus, viermal die 4! Das Portal der Rennbahn hat 9 numerierte Eingänge. Pinneberg wählte Eingang 4. Endlich wieder auf der Bahn. Wie lang doch eine kurze Woche sein kann! Dankbar und gerührt ließ er den Blick wandern über die hochaufragenden Tribünengebäude, die Kassenhäuschen des Totalisators, die schattigen Linden. Hier war Natur, hier war das Leben. Und Gastfreundschaft! Oft genug hatte er Kinos, ja selbst Theater ausverkauft vorgefunden, für ihn und sein Trudchen war angeblich kein Platz mehr gewesen. Die Rennbahn dagegen hatte Platz für jedermann, für manchen '
Höher, schneller, weiter
87
sogar Sieg, und an der Eintrittskasse verlangten sie nicht mal den Kultursechser. Pinneberg kaufte sich am Kiosk für SO Pfennig den »Rennkurier«, eine Zeitung, die, wesentlich teurer als beispielsweise das »Neue Deutschland«, weder Leitartikel noch Wetterbericht brachte, dafür aber auf engstem Raum komprimiert Fakten, Daten, Namen, Quoten, Plazierungen. Pinneberg baute sich an der Hecke des Fuhrrings auf und musterte fachmännisch das Feld des ersten Rennens. Seine Knubbelnase juckte erfolgversprechend. Ob das einen guten Riecher für Künftiges bedeutete? Ein paar hundert Eier waren ihm, ehrlich gesagt, hochwillkommen. Hoho, Trudchen würde nicht schlecht staunen, wenn er den Farbfemseher schon ein halbes Jahr früher anschleppte, und mit ihrer Hetze gegen den edlen Vollblutrennsport wäre endgültig Sense. Nummer 4, ein Schimmelwallach namens Othello, sagte ihm zu. Wegen der Startnummer und wegen seiner breiten Hufe. Die Rennleitung hatte in einer Lautsprecherdurchsage das Geläuf als weich bezeichnet, nach der Faustregel »Harter Boden - kleine Hufe, weicher Boden - große Hufe!« mußte Othello aussichtsreich sein. »Total offenes Rennen!« - »Absolut!« \ Bekannte Stimmen hinter ihm. Mit Handschlag begrüßte er das Wetterkollektiv Lüth-Pistorius. Jeder der beiden trug schwer an einer dicken Aktenmappe mit Rennunterlagen. Lüths Tasche enthielt lückenlos alle Rennergebnisse aller Starter. Pistorius war Abstammungsexperte; in seiner Mappe befanden sich die Ahnentafeln vollständig bis ins achte, neunte Glied, wobei ausdrücklich die Spezialitäten der Ahnen hervorgehoben waren - Vorliebe für/Abneigung gegen harten oder weichen Boden, lange oder kurze Distanzen, Gegen- oder Rückenwind. Lüth und Pistorius plazierten ihre Gemeinschaftswetten strikt auf wissenschaftlicher Grundlage und erlitten infolgedessen regelmäßig katastrophale finanzielle Verluste. »Viel Glück, Pinne!« sagte Lüth. »Heute bin ich wieder im Fahrstuhl steckengeblieben«, triumphierte Pinneberg. »Immer wenn mir das passiert, hab ich unheimlich Schwein.« •
~'
.
•
88
Höher, schneller, weiter
»Ach, gib uns doch mal 'n Tip!« bettelte Pistorius, und es klang ziemlich ironisch. »Othello«, flüsterte Pinneberg. Die beiden lächelten müde, womit sie Pinnebergs Vertrauen in die Nummer 4 schwer erschütterten. Schließlich hatte er sein gutes Geld nicht auf der Straße gefunden. Othellos Jockei hatte weder ein rotes Hemd noch überhaupt einen roten Faden am Leibe. Pinneberg steckte keinen Pfennig ins erste Rennen. Er wartete erst einmal ab. Dabei hätte er einen großen Schlag landen können; Nummer 4, Othello, gewann, und wer am Auszahlschalter ein 10-Mark-Siegticket vorlegte, bekam anstandslos 120 Mark retour. Zu d11mm, dachte Pinneberg. Das war fast die Summe, die er zu Hause eingesteckt hatte, er hätte sie auf Anhieb verdoppeln können. Allerdings - Geldgier war es zuallerletzt, die ihn auf die Rennbahn lockte; Tierliebe war ebenso im Spiel, Begeisterung für einen rassigen Sport ... Lüth und Pistorius tauchten in der Menge auf, und Pinneberg präsentierte ihnen das Lächeln des Siegers. »Pinne, gib uns noch 'n Tip!« Diesmal klang Pistorius Das Leben ist Kampf, dachte überhaupt nicht ironisch. Pinneberg, aber ich hab mein »Wer den Sieger kennt«, orakelte Pinneberg, »der weiß Heu rein. genau, wer gewinnt!« Im zweiten Rennen über 1400-Meter-Fliegerdistanz trug die hochbeinige Stute Marilyn die Nummer 4. »Lange Strecke kurze Beine, kurze Strecke - lange Beine!« Nach dieser guten, alten Regel war für Pinneberg alles klar. Die Regel bestätigte sich prompt mit dem Sieg des langbeinigen Hengstes Gamsbock, Nummer 2. Die 9 und die 1 kamen dahinter ein, wodurch sich nicht nur die Verheißung des LADA-Kennzeicheris erfüllte, nein, die drei erstplazierten Reiter trugen in der richtigen Reihenfolge auch die Farben, die ihm die ominöse letzte Ampel signalisiert hatte: Rot, Gelb, Grün. Dreißig Mark Einsatz über den Jordan! Hier ist noch keiner reich geworden, dachte Pinneberg, höchstens der Toto! Wer zwingt mich eigentlich, immer und immer wieder hierherzulatschen? Tierliebe wäre entschieden billiger zu haben. Er betrat die Bedürfnisanstalt und entwickelte in der Abgeschiedenheit des Ortes unter anderem seinen Plan für das dritte Rennen, den er jedoch sofort fallenließ, als er auf dem Weg zum Totoschalter eine wertvolle Information aufschnappte: Jokkei Pritzel, N11mmer 6, hatte Geburtstag! Pinneberg baute auf die Kollegialität seiner Reiterkollegen und hatte auf Sand gebaut. Nummer 6 endete unter ferner liefen! Das hab ich ver-
Höher, schneller, weiter
dient, dachte Pinneberg, wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Tierliebe; daß ich nicht lache, ein waschechtes Laster ist das, Trudchen hat ganz recht, ein als Tierliebe getarntes Laster! Kopfschmerzen stellten sich ein, die Herzstiche waren wieder da. Wieder Valocordin? Wieder Rudotel? Ob die Glücksgöttin ihn vielleicht nur links liegenließ, weil er vergessen hatte, der Klofrau seinen Groschen zu geben? Obwohl er gar nicht mußte, rannte er in die Toilette, tat anstandshalber so als ob, warf der Klofrau, die möglicherweise, wer konnte das schon genau wissen, mit Fortuna identisch war, ein Fünfzigpfennigstück scheppernd auf die Untertasse und setzte im 4. Ren~en fünfzig Mark auf die Nummer 4, die dann, wie von der Fachpresse vorhergesagt, tatsächlich Vierter wurde. Wenn ich doch bloß vorher getankt hätte, dachte Pjnneberg, der nur noch einen kläglichen Zehnmarkschein hatte. Aber bis nach Hause würde der Kraftstoff allemal reichen. Pinneberg mußte ja sowieso langsam und vernünftig fahren: Kopf und Herz schmerzten unerträglich, die Hände wurden vom Tremor geschüttelt. Und doch erfaßte ihn wütender Trotz. Ich will, sagte sich Pjnneberg, dem Schicksal in den Rachen greifen. Auf die zehn Piepen kommt es nun wirklich nicht mehr an. Wie ein Spion schlich er über den Rennplatz und spitzte die Ohren. Als heißester Favorit wurde Nummer 11 gehandelt. Also in Gottes Namen Nummer 11, Hauptsache gewinnen, und wenn die Quote noch so schäbig ist. Feierlich tätigte Pinneberg die letzte, die unwiderruflich letzte Wette seines Lebens. Als das Rennen angeläutet wurde, stellte er bei einem Blick auf sein Ticket erschrocken fest, daß er statt der 11 aus alter Gewohnheit die verfluchte Nummer 4 angesagt hatte, einen hoffnungslosen Außenseiter, eine Bulette auf drei Beinen, einen Maulesel incognito, ein Salamipferd ... , welches Pinneberg allerdings den Gefallen tat zu siegen. In diesem Augenblick begann es zu regnen, doch für Pinneberg ging die Sonne auf. »Nummer 4«, brüllte er, »hab ich!« Lüth und Pistorius sahen ihm neiderfüllt entgegen. Stolz hielt er ihnen sein Superticket unter die Nasen: »Prima«, sagte Lüth, »du hast mal wieder dein Heu rein!« Das Leben ist Kampf, dachte Pinneberg, aber ich hab mein Heu rein. Vom Erfolg berauscht, verließ er die Rennbahn, und es fehlten ihm tatsächlich nur lumpige vierzig Mark an der Summe, die er mitgebracht hatte. Soviel, dachte er, ist mir das Vergnügen wert. Soviel allemal. Und nächste Woche läuft's vielleicht noch besser.
89
•
• ..
-
-~
Frau Schulze nimmt am·Rennsteiglauf teil und ~-zu dem Mannt der neöen ihr läuft: '>>Na, Sie &chwitzen ja . ,, Trend":Lt:-;.::~-...-............._J dance, 8odd'~zbig, mit BreoL auch ganz schön.« ~ , ·. " · .. . '" · · · „ . ie ulldi «· ng u1w • . . }) Ich schwitze nicht, ich tFanspiriere t•<. 1>Na schön. Wir haben all'e·unsere kleinen Laster. Aber~ •
~
·. sc}lwitzen tun Sie dal>ei :~9.Jide~ ganz schön.« . · · .· .
-
.
~~~~~~~~~--_,.. meinte der 24jahrige. gestand aber
.
im gleichen Atemzug, daß er als ein pupulärer ·(ties: weltbekannter) Läufer auch die Chance hat, der sozialen Not zu entrinnen. • Dieses
-
-_ ~'-
--
-
·-
.-.
c
--
-
.,
=--
Höher, schneller, weiter
91
Hansjoachim Riegenring
Es wäre ungerecht, von meinem Freund Karl-Heinz zu behaupten, daß er sich dicketut. Er ist es. Sein Körper, sagt er, speichert die Kalorien wie ein Kondensator die Elektronen. Er ist ganz groß in der Mikroelektronik. Computer. Für den Privatgebrauch hat er einen Taschenrechner gebastelt, der auf Knopfdruck die genaue Uhrzeit aller Hauptstädte der Welt anzeigt und dazu die jeweilige Nationalhymne spielt. Außerdem kann man jederzeit den Spielstand der Fußballoberliga abrufen und die Weltbestleistungen in 78 Sportarten. »Du solltest selbst mal ein bißchen Sport treiben«, empfahl ich. »Gern«, sagte er. »Hürdenlauf zum Beispiel. Wenn mich ein Gabelstapler über die Hürden hebt.« h · ht · t k · rt t 5c wergew1c 1s eine 5po ar , · rt · D hzahl t·· H Er konst rme e einen re messer ur ammer- kl „ t · h d · G . t . h Ab .t . t·· er ar e 1c , son ern eine ewerfer und emen· ht au oma1isc en sei sanzeiger ur wie . htskl asse. 8e1· d'1r nur Gew1c · ht . Fußballschiedsnc er. »Seit ein paar Tagen macht er jeden Morgen zehn Liegestütze und zehn Kniebeugen«, verriet mir seine Frau vorige Woche strahlend. »Hätte ich ihm nie zugetraut«, rief ich begeistert, »wie bringt er denn das fertig?« »Er hat sich hydraulische Hebeanlagen gebaut«, sagte sie, »eine für die Liegestütze und eine für die Kniebeugen.« »Jetzt überlegen wir mal ernsthaft«, sagte ich zu Karl-Heinz, »welche Sportarten für dich in Frage kommen.« »Wie wär's mit Schwergewicht?« schlug er vor. »Schwergewicht ist keine Sportart«, erklärte ich ihm, »sondern eine Gewichtsklasse. Bei dir nur Gewicht. Aber wie wäre es zum Beispiel mit Billard?« »Kann man dabei sitzen?« »Nein!!! « So einen unsportlichen Menschen konnte es ja gar nicht geben. »Man muß um den Tisch herumgehen, muß sich bücken, den Ball anvisieren, den Wmkel berechnen, stoßen ... « »Wmkel berechnen ist gut«, sagte er. »Mach ich. Was schlägst du noch vor?« »Skilaufen wäre das Richtige für dich. Dein Erscheinen würde sicher Lawinenalarm auslösen, aber das macht ja nichts. Slalom solltest du laufen. Das kräftigt die Beinmuskeln und macht die Hüften beweglich.«
92
Höher, schneller, weiter
»Slalom«, notierte er. Ich tat, als würde ich das ernstnehmen, und empfahl ihm noch Rudern, Basketball und Schießen. »Schießen ist gut«, sagt er. »Pistole freihändig und so, nicht? Ich hab das mal in einem Cowboyfilm gesehen. Da warfen die Cowboys die Revolver in die Luft, fingen ihn auf und schossen unfehlbar ins Schwarze. Wenn einer mal den Revolver verkehrtherum auffing, wurde ein neuer Cowboy eingestellt.« »Wenn du dich für eine Sportart entschieden hast«, sagte ich zu ihm, »sagst du mir Bescheid. Wrr stellen dann ein Trainingsprogramm auf.«
0
/
Ich gebe zu, eine Weile vergaß ich Karl-Heinz völlig. Ich fuhr an die Ostsee und sah den Urlaubern zu, wie sie am Strand ungeheuer sportlich taten. Am FKK-Strand sah es noch komischer aus. Gestern traf ich Karl-Heinzens Frau. »Na, was macht der Schwergewichtbillardspieler?« »Ich bin Ihnen ja so dankbar!« Fast wäre sie mir um den Hals gefallen. »Endlich hat er sich mal von seinen Transistoren und integrierten Schaltkreisen getrennt. Er spielt regelmäßig Billard, trainiert Basketball, macht bei der Ruderregatta mit und läuft schon ganz hervorragend Slalom.« »Ich habe mich ganz bestimmt verhört«, sagte ich lächelnd, »oder hat man während meiner Abwesenheit hier einen See zum Rudern und Berge einschießlich Pulverschnee zum Skilaufen hingebaut?« Ich könnte es mir ja selbst ansehen, meinte sie. Karl-Heinz führte mich stolz in sein Arbeitszimmer. »Alles eigene Konstruktion«, strahlte er. Auf vier Fernsehapparaten flimmerten vier Bildschirme. Billard, Basketball, Wettrudern, Slalom. Er übt jetzt bereits sechs Sportarten, elektronisch natürlich, und nimmt ständig zu.
Höher, schneller, weiter
93
lrmgard Abe
riiso1t 08 Heute gilt es. Heute ist unser großer Tag, dem wir lange entgegengefiebert haben. Heute gehen unsere Jungs in die entscheidende Schlacht um den Aufstieg. Leider ausgerechnet gegen Traktor Meisengrün, unseren alten Angstgegner. Aber die Zeichen stehen günstig. Gleich früh lag ein Minoltankwagen mit gebrochener Lenksäule bei Spargel-Müller zwischen den Beeten; und gegen Mittag ist der dicke Marlberro, der auch nur Inter Mailand, Ajax oder Real kennt, durchs Glasdach in sein Orchideenhaus geflogen. »Das will was heißen«, sagt Walter. »Gehn wir. Vergiß die Kissen nicht.« Unterwegs treffen wir Toni, unseren Tormann. Er sieht schlecht aus, er konnte nicht schlafen. Die Verantwortung. »Ihr gefährlichster Mann ist der Funkturm«, murHammer, unser drangvoller Mittelmelt er beschwörend, als ob wir das nicht selber stürmer, verfügt noch über eine wüßten. Gegen diesen Lulatsch hat Toni nur eine Portion Restalkohol, die ihn immer Waffe: Raus aus dem Kasten und Winkel verkürzen. zum Stier werden läßt. Er tut mir leid. Ich nehme ihm die Tasche ab mit den Trikots, die seine Mutter gewaschen hat. Bis zum Platz gesellen sich rund zwanzig Fans zu uns, die anderen dreißig werden sich schon auf den Rängen drängen. Da kommt auch schon der Bus aus Meisengrün. Natürlich geborgt. Ein protziges Ding. Soll wohl heißen: So reisen Sieger! Sonst hätten sie ja die fünf Kilometer mit ihrer Kolchosenhitsche fahren können. Unser Trainer verbreitet Ruhe: »Ihr wißt, wir wachsen am Gegner!« Außerdem hat Hammer, unser drangvoller Mittelstürmer, gestern eine kleinere Party beehrt und verfügt noch über die notwendige Portion Restalkohol, die ihn immer zum Stier werden läßt. Er hat seine Stiefel schon falsch geschnürt und behauptet, wir müßten doch alle besoffen sein. Okay, Hammer! Wo bleibt Ricardo, unser Libero? Ach so, er setzt im Duschraum noch ein Fenster ein. Ist aber schon umgezogen. Walter holt Bier, ich hole mein nervenberuhigendes Strickzeug raus: Stutzen! Auf dem Platz nur Stutzen! Man kann dabei nichts falsch machen und behält das Feld immer im Auge. »Stoppst du mal, wann's losgeht?« bitte ich Walter, doch der schreit schon: »Ricardo! Hintermann!«
94
Höher, schneller, weiter
Demnach wird bereits gespielt. Tatsächlich. Hammer bekommt das Leder vor die Füße, er betrachtet es und schwankt dabei leicht. »Abgeben, Junge!« ruft sein Vater. Hammer blickt auf. »Wohin?« - »Nach links!« Folgt eine herrliche Flanke in die Bänke auf der anderen Seite, wo die Meisengrüner Anhänger mit ihrem Maskottchen sitzen. Dem schwarz-weißen Ziegenbock. Hammer reißt dabei einen Rasenbatzen hoch, tritt ihn aber sofort wieder fest. Ein ordentlicher Junge, ich weiß das von seiner Mutter. Das ist es übrigens, was ich bei der Weltspitze so vermisse einen sinnigen Spielverlauf, Teamwork zwischen Fans und Mannschaft. Diese Maradonas fegenja mit einer Geschwindigkeit über den Rasen, der ein normales Auge nicht folgen kann. Das Ergebnis solcher publikumsentfremdeten Spielweise kennen wir als Rückblenden. Sie sollen den Zuschauer wenigstens auf die Tore aufmerksam machen. Wie ich so sitze und stricke, merke ich plötzlich, daß Hubert, sonst Ersatzmann, heute als Schiedsrichter rumrennt. In Lackschuhen. Merkwürdig. »Erlauben das die Regeln?« frage ich Walter. »Der eigene Mann pfeift?« Aber in diesem Hexenkessel hat Walter keine Zeit für dumme Fragen. Da der Gegner nicht protestiert, soll es mir recht sein. Immerhin kämpfen drei Brüder von Hubert in unserer Mannschaft. Alle Augen bewachen scharf den Funkturm, den Spieler mit der Neun, der kreuzgefährlich für unseren Torhüter werden kann. »Toni! Alles klar?« ruft Walter besorgt. »Alles klar«, schreit Toni zurück. »Schluck Bier, und ich halte wie Jaschin. « Walter greift seine Flasche und schlendert zum Tor. Ich bin eben dabei, den blauen Streifen anzufangen, da kommt drüben, auf dem Bahndamm hinter den Meisengrünem, der Nachmittagszug mit seinen zwei Wagen, die sogenannte Ferkeltaxe, angedampft. Demnach gleich Halbzeit, und Toni hat erst dreimal hinter sich greifen müssen. Nach Walters Bierflasche. Die Ferkeltaxe kriecht jetzt wie eine Schnecke. Lokführer und Fahrgäste winken, auch Toni winkt, er erwartet seine Braut und wir zittern. Das Gehäuse unbewacht! Der Hüter abgelenkt! Nutzen die Meisengrüner die Chance? Da merken wir, der Ball ist sowieso weg, schwimmt in der Nuthe. Immer dasselbe. Hubert hat sofort abgepfiffen. Halbzeit 0 : 0. Den halben Sieg haben wir schon in der Tasche.
Höher, schneller, weiter
Toni jumpt über die Wiese zum Bahnhof; die Schüler werden ins Wasser geschickt, Ball holen; wir setzen uns in den Schatten der großen Akazie. Huberts Frau verteilt Erdbeertörtchen und Kaffee. Ricardos Frau windelt das Baby. Enrico. Ein strammer Bengel, unser ganzer Stolz. Ihm verdanken wir unsere Vereinsbezeichnung. Der Kenner wird schon gestutzt haben. Tatsächlich hießen wir früher ganz normal Traktor Bräsen. Bis dieser Knabe auf die Welt kam. An einem Freitagabend - und Sonnabend Punktspiel: 0 : 8 ! Der bewanderte Sportfreund versteht. Sicher, wir sind auch schon 0 : 13 vom Platz gegangen. Aber das war ganz normales Pech. Ohne bewegenden menschlichen Hintergrund. Und deshalb längst vergessen. Langsam müßte Hubert wieder anpfeifen, doch überraschend ist nur ein Linienrichter da. »Wo steckt der andere Mann?« muß unser Trainer sich fragen lassen. »Der spielt jetzt als Libero.« »Wieso? Wo ist Ricardo?« »Garage bauen, war versprochen!« »Na bitte«, beendet Walter den Disput, »die Frage wäre geklärt.« Er nimmt die Fahne und läuft los. Das Geschehen tobt jetzt in der Hälfte des Gegners. Toni lehnt arbeitslos am Pfosten und küßt seine Braut, das nette Mädel von der Sparkasse - in dem Moment passiert es. Hammer wird im Strafraum kna1lhart gelegt. Unnachahmlich, wie er sich wieder hingepackt hat! Seine Glanznummer. Oft kopiert, nie erreicht. Elfer! Die Meisengrüner schäumen; sie jagen ihren Ziegenbock aufs Feld, um Chaos zu stiften, doch das nützt ihnen gar nichts, sie kriegen eine solche Kirsche reingedrückt, daß sie durchs Netz gleich wieder rausfliegt. »Gooohl! Golgolgolgolgol! « Toni schwenkt seine Braut, Walter umarmt unseren Trainer, Hammers Vater lädt alle zur Wildschwein-Party ein, und ich schrei: »Hammer, das macht dir keiner nach, mein Junge!« Da wird Hammer rausgetragen. Wir sehen es mit Entsetzen. Unser Stier - gefällt. Und das zu einem psychologisch so ungünstigen Zeitpunkt. Wer kommt für Hammer? Für Hammer kommt Walze. Tritt an und liegt der Kürze nach auf dem Bauch. Ein mittleres Beben auf der nach oben offenen Richter-Skala erschüttert den Platz. Spontaner Beifall! Der Gegner kann einpacken. Wo Walze steht, kommt keiner durch! Ab jetzt wird gemauert. Richtig so! Zu den Laden! Es ist abkassiert. Die Meisengrüner wollen es nicht wahrhaben. Wer hatte denn
95
Die DDR-Fußballnationalmannscba:ft fliegt in die UdSSR. Sie nutzen auch: noch die letzten Minuten zum Tta.i@lg , und spielen irtt. Ffug: ' zeug mit .a~xni4~1t~'.IE.· Der Pilot kann fm Maschine kaum -• · noch halten und · schickt den FunRer nach hinten. Naeh kurzer Zeit ist absolute Ruhe. »Wie hast du denn das gemacht?« fragt tler Pilot den Fun:lten~. _. % "
.. -
»Na ja«1
;·,: --
„ .tji
meirit ~·· -: -..'
»ich habe gesa~: Jungs, es ist -scliö- · nes Wetter draußeh, spielt doch vor der c
Tür!«
'
.• •. · ••
i.
96
Höher, schneller, weiter
noch mit Opa Walze gerechnet? Sie hetzen ihren Funkturm auf, der prallt jedes Mal von Walze hoffnungslos zurück bis zur Mittellinie, und ihr Maskottchen meckert schon um sein Leben. Das Ding ist gelaufen. Zeit für uns Frauen, in der Kabine den ersten Siegerschluck vorzubereiten. Wir haben noch nicht alle Gläser ausgepackt, da braust draußen über dem Schauplatz des dramatischen Geschehens schon stolz und mächtig unser Vereinslied auf: Wrr kühnen Kicker von Bräsen Nullacht, wir haben den Gegner fertiggemacht in einer furchtbaren Nervenschlacht. Hoch lebe Enrico und Bräsen Nullacht! Sport frei! Ach, hätte es diesen Tag nie gegeben! Unser Aufstieg wird unser Untergang. Kein Wochenende mehr, keine Partys, kein Familienleben. Nur noch Abstinenz und Training. Die Hinspiele weit außerhalb und immer harte Kämpfe um den Klassenerhalt. Unsere Jungs sind nicht mehr unsere Jungs, sie stehen in der Zeitung. Seitdem steht auch SpargelMüllers Kleinbus immer für sie bereit, und der dicke Marlberro, der ebenfalls Morgenluft wittert, schwenkt die Brieftasche. Dann geht's ab in die Feme. Und Huberts Frau samt ihren drei Schwägerinnen wachsam im Trabant hinterher. Unser Trainer ist schon geschieden. Walter hat heimlich einen Schiedsrichterkursus belegt, die Gebühren werden per Konto überwiesen. Ich weiß es von Tonis verheulter Sparkassen-Braut, bei der man bloß noch Hartgeld einzahlen kann, weil es nicht aufweicht. Aber das Schlimmste: Ricardos Frau radelt jetzt über die Dörfer zu jedem Spiel von Meisengrün, himmelt den F11nkturm an, tanzt auf ihren Partys und singt das neue Lied: Die feinen Pinkel von Bräsen Nullacht trainieren, bis die Schwarte kracht, und haben zu Hause Kahlschlag gemacht. Wrr Meisengrüner ham nie so gelacht. Gut Holz!
98
7
r
z
r
77
Unter vier Augen r
Lothar Kusche
' IHO
1<.
o:. TV""'
ZW
•
AN G
»Ich weiß, daß du Fasching nicht leiden kannst«, sagte Lucie, »aber am Rosenmontag ist bei mir eine Feier, und es werden ein paar sehr interessante Frauen da sein, und wir brauchen noch eine Art Mann.« Ich konnte nicht umhin, in diesen Apfel zu beißen, weil Lucie noch Geld von mir kriegt, das ich seit einem halben Jahr im Moment nicht zur Verfügung habe. »Ich könnte in Räuberzivil erscheinen«, sagte ich, »aber du müßtest mir einen lustigen Hut oder eine Nase oder dergleichen besorgen.« »Deine Nase genügt. Zieh dir einen anständigen Anzug an, falls dir jemand einen pumpt. Um neun Uhr abends gehts los.« Ich kam gegen elf, weil ich ein unsicherer Mensch bin und die Hoffnung hatte, die interessanten Frauen hätten zu dieser Stunde schon etwas getrunken und würden nicht alles, was ich sage, gar so genau nehmen. An der Tür begrüßte mich eine sehr dicke Frau mit einer Brille und einer Tasse in der Hand mit den Worten: »Na, da is ja der olle Schlawiner!« Sie drückte mir die Tasse in die eine Hand und die Brille in die andere Hand und befahl: »Halten!« »Willst du dich nicht gefälligst vorstellen?« zischte mir Lucie zu, »mach einen Diener und benimm dich anständig!« Ich wollte die Tasse auf die Erde stellen, um eine Hand zum Schütteln freizukriegen, aber die dicke Frau rief: »Halten hab ickjesagt!!« Also konnte ich bloß einen Diener machen. In Lucies guter Stube ging es lustig zu. Außer der Dame des Hauses und der dicken Frau waren noch fünf Damen anwesend, von denen zwei bereits abwesend waren. »Die da auf dem Sofa schläft, war meine erste Putzfrau«, flüsterte mir Lucie zu, »und die da unter dem Sofa schläft, ist ihre Mutter. Ich habe den beiden sehr viel zu verdanken.« »Und wer ist die Dicke, der diese Brille gehört?« »Die sollte mal meine Putzfrau werden«, sagte Lucie, »aber die Wohnung war ihr zu kalt. Vielleicht wird im Sommer was draus.« In diesem Augenblick kam eine sehr große Dame mit einem Damenbart auf mich zu und verlangte etwas zu trinken von mir. »Selbstverständlich, gnädige Frau«, sagte ich und füllte zwei Gläser, doch Lucie nahm mir mein Glas wieder weg, weil sie
Unter vier Ausen
fand, ich sei nicht zum Trinken eingeladen. »Schmeiß dich nicht so an«, tadelte sie, »das ist keine gnädige Frau, sondern Frau Wilhelmine Zuhrfraß, genannt Gwendolin. Eine Seele von Mensch. Sie war im vorigen Jahr meine Putzfrau, und ich weiß nicht, ob ich sie noch mal brauchen kann.« Da brüllte die sehr dicke Frau: »Der Misthund hat mir meine Brille gestemmt!« Lucie bedeutete mir, daß ich unverzüglich die gestemmte Brille zurückzugeben und mich zu entschuldigen hätte. Nachdem ich das getan hatte, umarmte mich eine üppige junge Frau, die mit einem quergestreiften Pullover, Strumpfhosen und einem Baströckchen bekleidet war und mir anvertraute, daß sie den Namen Ninong führe und ich ein ganz süßes Schnurpselchen sei. Lucie wagte nicht, ihre Mißbilligung auszusprechen. Sie murmelte: Ninong heißt an und für sich Käthchen. Sie ist für mich sehr wichtig. Sie ist meine derzeitige Putzfrau. Sei ein bißchen nett, aber nimm dich zusammen, verstanden! Ich tat mein Bestes, doch Ninong war nicht damit einverstanden, daß ich mich zusammennahm. Sie versuchte, mich auseinanderzunehmen. Leider bin ich ein wenig ungelenkig, und so verkündete Ninong kritisch: »Ich dachte, Lucie, du hättest einen Mann eingeladen. Und was, du alte Hutschachtel, muß ich hier erleben? Einen Piepenschnurz!« »Wie recht Sie haben, Süße!« bestätigte die Gastgeberin und sah mich so an, wie man einen Kaktus ansieht, wenn man Kakteen nicht mag. Da fiel die Tochter der Frau, die unter dem Sofa schlief, vom Sofa herunter und maulte: »Wrr wollen ins Bett.« Ich machte mich sofort erbötig, die Tochter ins Bett zu bringen, doch Lucie teilte mich der Mutter zu, und wir brachten die beiden Damen gemeinsam ins Bett. Die Mutter war schwer. Später stellte ich fest, daß noch eine Frau da war, mit der ich bislang kein Wort geredet hatte. Sie ließ mich auch nicht mehr zum Reden kommen. >>Ich heiße nemlich Berbel «, teilte sie mit,
99
> >Na, dann geh doch zu deinen Kumpels, wenn du glaubst, daß die dich besser verstehn. ((
100
Unter vier Augen 11
»Berbel mit e wie in Medchen und Etherrausch. Sind Sie nicht bei dem Kohlenfritzen am Bahnhof beschäftigt? Na, is ja auch ägal. Bloß dann müßten Sie nemlich meinen Mann kennen, den Amil. Na, is ja auch ägal. Mein Sohn ist so krank, daß er ganz krumm geht. Sähnenzerrung! Na, is ja auch ägal. Ich war ja bei Lucie und hab ihr sauber gemacht, bis Ämil seine Rente kriegte. Viel isses ja nich. Na, is ja auch ägal. Heute könnte ich das auch nich mehr, wegen dem Bücken. Jetzt macht Kethchen der Lucie alles. Na, is ja auch ägal. Die Ninong sieht wieder mal unmöglich aus. Na, is ja auch ... « •• »Agal! « sagte ich und zog mich ein wenig zurück. Allerdings geriet ich vom Regen in eine Gruppenübung, welche die Damen Gwendolin und Ninong als Reigentanz bezeichneten. Nun, wir hüpften ein wenig umher; das war alles. »Nun tropfe mir ma was in mein Becher, olle Saftschnalle!« wurde ich alsdann von der sehr dicken Frau aufgefordert. Ich tropfte ihr einen Viertelliter Kognak in den Becher. Sie leerte diesen mit einem Zug und sagte: »Die Sache mit die Brille is verziehen! Ich heiße ... ehm ... Dingspieprich ... ich heiße Irmchen.« Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und die Mutter von der Tochter, die von dem Sofa heruntergefallen war, verlangte etwas zu trinken, aber es war nichts mehr da, weil Irmchen alles ausgetrunken hatte, und so zog die Mutter die Tochter an oder umgekehrt, und beide gingen beleidigt nach Hause. Natürlich gab Lucie mir die Schuld. Berbel tröstete mich: »Na, is ja auch ägal! « Dann riß sich Ninong ihr Baströckchen von den Hüften und ging ins Bett. Dies löste eine Diskussion zwischen Gwendolin und Berbel aus; Berbeln war es seltsamerweise nicht ägal, daß Ninong zu Bett gegangen war. Im Verlauf der Debatte verhaute Berbel Gwendolin. Daraufhin waren beide gekränkt und gingen weg. Die sehr dicke Frau behauptete, sie wolle nun Ordnung machen, warf einige Gläser aus dem Fenster und sprang diesen schließlich hinterher; Lucie wohnt hochparterre. »Ich bin müde«, klagte Lucie. Ich empfahl ihr, ins Bett zu gehen. »Bist du irrsinnig?« erkundigte sie sich bei mir, »Ninong liegt in meinem Bett. Denkst du etwa, ich will sie wieder verlieren? Idiot!« Dann machten wir beide die Wohnung sauber. ••
Ein Polizist besucht mit seiner Frau ein Gewandhauskonzert. »Hier ist aber eine gute Akustik«, sagt die Frau. ·. ·.. Darauf der Polizist:.• »Ich weiß nicht, ich rieche nichts.«
•
•
.Der Zuku11ft zugewand Internationaler Fraucr1iag
,, 1
·~
••"""
Eine fruchtbare Ehe mit immer mehr Partnern
•••
22
!
t!
1 4
t
'1•tt:
4
•••
81'.$ J
'
Er: •Du Schatz, ich les hier grade: Die DDR gehört zu den zehn führenden Industrie-Nationen der Welt., ich glaub, das schreibe ich mal unserem Onkel Herbert in Düsseldori.• Sie: •Klar, mach das ... und wenn Du grade dabei bister soll zu Ostern ein paar Rollen Klopapier mitschicken „ . « .,.i>!t...„.""··
•
;!~. .=.;:,:_,c;:~-::'~•>:~~
1
Unter vier Augen
102
Rudi Strahl
•
-
\..
---
\...
-
.
Normalerweise beachte ich keine Schneemänner. Als erwachsener Mensch und Vorgesetzter hat man keine Zeit für solche Kindereien. Der Schneemann aber, der vor unserem Hause stand, ließ mich erschrocken zusammenzucken. Ich sah auf den ersten Blick: das war kein Schneemann üblicher Art, kein harmlos-anonymes Wesen mit Mohrrübennase und Kohlestückchenaugen. Das war ich selbst! Das sollte ich sein? Gewiß, der Hut auf seinem dicken Kopf war dem meinen ähnlich. Auch war er dem Schneemann genauso ins Genick geschoben, wie ich das machmal mit meinem Hut zu tun pflege. Aber sonst -- du lieber Himmel! Ein fetter, gespreizter Kerl, der selbstgefällig seinen Bauch herausstreckte, die Anne über der Brust verschränkt hielt und die Nase hochmütig in die Höhe hob, so daß auch seine Augen über alles Naheliegende hinwegsahen. Seinen großen Mund hatte er so weit aufgerissen, als wollte er jeden Moment rufen: »Seht nur, was ich für ein toller Bursche bin!« Solches Gebaren ist mir gänzlich fremd. Um so verdrießlicher stimmte es mich, als ein paar Nachbarn vorübergingen, die Köpfe zusammensteckten und albern zu kichern begannen. Einer von ihnen zischelte: »Jawohl, das ist er! Wie er leibt und lebt!« Ich bin eigentlich ein stiller, feiner Mensch. Aber so was lasse ich mir nicht gefallen. Ich hob also die Faust und brüllte drohend: »Haut bloß ab, ihr Nullen, sonst knallt's!« Worauf sie verschwanden und ich dem verdammten Schneemann den Hut vom Kopfe hieb. Na also, dachte ich, jetzt ähnelt er mir gleich viel weniger. Befriedigt warf ich den Kopf in den Nacken und verschränkte die Anne über der Brust. Der Schneemann schien mir dabei unverschämt zuzuzwinkern und frech zu grinsen: auch stieß er mich herausfordernd mit dem Bauch an. Beschämt zog ich den Bauch ein - meinen. Eine dumme Angewohnheit, ihn herauszustrecken, nichts weiter. Aber schon flötete das hübsche Fräulein Küssner aus dem ersten Stock: »Bleiben Sie doch mal so stehen - einen Augenblick nur.« Und sie zückte ihren Fotoapparat. »Nicht doch, Fräulein Küssner«, sagte ich sanft, wobei ich mich ein bißchen kleiner machte, »verschwenden Sie kein wertvolles Fotomaterial an diesen Bubenstreich. Ich werde den Bengels, die das getan haben, den Hintern versohlen, das genügt.« »Aber warum denn?« lispelte sie. »Wegen dieses süßen Schnee-
103
Unter vier Augen
manns? Ich dachte, Sie hätten ihn selbst gebaut! Wie ähnlich er ist! Und wie treffend in Ausdruck und Gebärde: die breiten Schultern, die kühne Stirn, der stolze, nachdenkliche Blick. Ja, das sind Sie! Sie erlauben?« Und mit einem betörenden Lächeln drückte sie auf den Auslöser. Nicht, daß ich eitel wäre. Aber nun guckte ich mir den Schneemann doch noch mal genauer an. Tatsächlich - so übel sah er eigentlich gar nicht aus, ein 'fyp, der weiß, was er will. Ein Mann der Tat, in dem man einen eisernen Kern vermutet. Ein bißchen Beethoven, etwas Napoleon, aber dennoch ich ja, das war ganz deutlich zu erkennen. Auch ohne Hut. Ich hob ihn wieder auf und stülpte ihn dem Schneemann ins Genick. So, jetzt war ich es wirklich. Und ich dachte mit wachsendem Wohlwollen: fixe Kerlchen, die lieben Kleinen aus dem Seitenflügel! Junge Talente. Ich werde ihnen eine Tafel Schokolade schenken oder sie mal ein Stück im Auto mitnehmen. Beschwingten Schrittes ging ich nach Hause. I Meine Frau empfing mich ein bißchen verstört ~ und fragte gleich, ob ich die Bescherung schon gesehen hätte. »Natürlich«, sagte ich mit leisem Stolz. »Nicht schlecht geraten, was? Und so ähnlich - oder findest du nicht?« »Ü doch«, sagte meine Frau. »Das heißt«, fügte sie rasch hinzu, »so ähnlich auch wieder nicht. Aber eine Unverschämtheit. Und die ganze Straße hat schon darüber gelacht!« »Purer Neid«, sagte ich. »Jeder hat eben keine so ausdrucksvolle Gestalt, daß sie naive Knabenhände schöpferisch nachbilden könnten. Nun ja, die Stirn ist Beethoven, der Blick Napoleon der Rest aber bin ich!« Meine Frau maß mich mit einem etwas seltsamen Blick. Als ob ich mir was draus mache, was die Leute sagen! »Und weißt du, was das Fräulein Küssner aus dem ersten Stock zu ihrem Verlobten gesagt hat?« fragte sie beiläufig. »Ich kanns mir denken«, sagte ich fröhlich. »Sie sagte: >Das ist der alte Esel von nebenan, der mir immer schöne Augen macht. Und auf so was<, sagte sie, >auf so was bist du eifersüchtig! <« Mir blieb die Spucke weg. So eine war das also! Die breiten Schultern, der kühne Blick- und dann: der alte Esel. Na, dachte ich wütend, die gucke ich nie wieder an. Und die Lümmel aus dem Seitenflügel kriegen doch ein paar hinter die Ohren.
»Aber ich brauche deine Kritik.<<
104 I'
•
'P
1
1
a
a
1111 1H1:;,a;;: 111121:
::
Und den verdammten Schneemann fahre ich gleich morgen früh mit dem Auto über den Haufen. Ein 'fyp, der weiß, was er will? Alles Quatsch! Eine Frechheit! Und der eiserne Kern ... Der war jedenfalls vorhanden. Allerdings merkte ich es erst, als ich aus den Trümmern meines Autos kroch. Wie hätte ich auch ahnen sollen, daß die verdammten Bengels den Schneemann über einem Hydranten errichtet hatten?
illdlifHfJ iH RatOH In der Staatsbibliothek traf ich einen Mann, der, wie er mir erzählte, hier sein lückenhaftes Allgemeinwissen ergänzen wollte. Der größte Wunsch des Mannes - IJ.ennen wir ihn Rudi war immer ein Lexikon gewesen. Als vor etlichen Jahren MEYERS NEUES LEXIKON angekündigt wurde, bestellte es seine Frau für ihn und legte ihm den ersten Band auf den Geburtstagstisch. Rudi treten noch jetzt Tränen der Freude in die Augen, wenn er davon erzählt. Bis zum dritten Band ging alles gut. Rudi fraß die Begriffe und Erklärungen in sich hinein. Der vierte Band ließ lange auf sich warten. War das Papier knapp, hatten sie nicht genug Wörter - das weiß nur Meyer. In dieser lexikalischen Pause ließ sich das Ehepaar scheiden. Die Gründe spielen hier keine Rolle. Für Rudi war die Trennung schmerzlich. Die nächsten Lexikonbände wurden nämlich seiner Frau zugesprochen, weil sie bestellt und bisher auch bezahlt hatte. So gingen Rudi die Bände 4-6 und damit kostbares Wissen verloren. Band 7 brachte ihm sein Sohn mit. Dieser mußte eine Hausarbeit über die Kabardinisch-Balkarische ASSR schreiben, und seine Mutter lieh ihm deshalb Band 7 mit dem Buchstaben K. Die folgenden Bände trat Rudis Ehefrau an ihre Eltern ab, die ihr dafür Geld zum Kauf einer Doppelbettcouch liehen. Rudi fand, als er einmal seine ehemaligen Schwiegereltern besuchte, Band 10 als Ersatz für einen Fuß des Küchenschranks, die Bände 11 bis 14 lagen unter dem Kopfkissen des Schwiegervaters, der wegen Asthma hoch liegen mußte. Es gelang Rudi, ab Band 15 das Abonnement der Schwiegereltern zu übernehmen. Seine Frau hatte sich bereiterklärt, die in ihrem Besitz befindlichen Bände herauszugeben, wenn sie dafür den Farbfernseher bekommt. Bis zur rechtlichen Klärung geht Rudi in die Staatsbibliothek. Einschließlich Buchstabe »Ü« kann man sich schon ganz gut mit ihm unterhalten.
Hansjoachim Riegenring
...
Unter vier Augen
105
Renate Holland-Moritz
Die Telefanstimme meiner Freundin Gisela überschlug sich fast. »Mädchen, bin ich glücklich. Was, du nich? Tut mir leid, mein Kind; aber es kommen bestimmt wieder bessere Zeiten ... Natürlich Heinrich! Bei mir geht's immer um Heinrich, das weißte doch. Es is wirklich 'n lieber guter Mann. Nu hör zu. Mein Heinrich hat mir doch - der Süße! jetzt holt er gerade Kohlen ausm Keller-, hat mir doch ganz gemein die Hand zerquetscht ... Was schreiste denn? Du bist doch sonst nich so zimperlich! Also paß auf. Wrr steigen in ein Taxi, er knallt die Türe zu, und was hab ich dazwischen? Meine Hand ... Weh getan? Na, du machst mir Spaß! Es war wie die Guillotine, das Jüngste Gericht und etwas Selbstkritik auf einmal. Den Taxischofför hätteste hören sollen! Mein Heinrich macht ja, weiß der Himmel, sowieso nur beim Schlafen gelegentlich den Mund zu - aber da war er stille. Mein schweigender Stern! Und weiß war der Mann im Gesicht, sag ich dir, weiß wie ein Alberich oder wie diese Leute heißen, bei denen es mit dem Piment in der Haut nich funktioniert. Es war wirklich erhebend ... Nein, nischt gebrochen, nur eben gequetscht. Der Zeigefinger ist blau, der Mittelfinger grün und der Ringfinger so zwischen gelb und lila - sehr dekorativ. Erinnert an so einen Batikrock ausm Kunstgewerbeladen und is auch so geschwollen wie die dortigen Preise. Und neben mir mein stiller Heinrich mit seinem Weißkäse-Gesicht. Natürlich gleich zum Arzt. Aber das ging schnell. Diese Barbaren sehen ja jeden Tag noch Schlimmeres. Den ersten Mucks tat der gute Heinrich wieder vor Knolles Blumengeschäft. So viel dunkelrote Rosen hast du noch nie auf einem Haufen gesehen, Herzchen; es war wirklich eine Pracht. Und immer meine bunte Hand dazwischen. Zu Hanse packte er mich sofort auf die Kautsch, gab mir ein Glas Sekt zur Beruhigung und machte Abendbrot für die Kinder und steckte sie ins Bett. Und alles ging mucksmäuschenstill vor sich! Ein wahrer Genuß. Danach schob mir mein Guter Kaviarhäppchen in den Mund. Wie bitte? ... Na hör mal, mit der Hand konnte ich das doch gar nicht allein ... Und dann: kein Fernsehen! Stell dir das mal vor: ein Abend ohne >Aktuelle Kamera
> >Mit dem Hut gehst du mir nicht auf die Straße!«
106
:•
.•.
1
b
Ti i
J J
1
ii :l Ji 1
J
J
•
&
Wiel
1t 1 S 1ilil 1 1a; J
oll d
j
il :..:::.
11 1
i 1 ' ;,;
1 ![
A~gen
Unter vier ::
;; 1
J
;,;
1
11 i
J
$
•
„
•
... er wollte doch nie. Aber nu will er. Als ich mir erschöpft mit meiner armen kranken Hand über die Augen fuhr, da wollte er plötzlich. Komisch, nich? Gestern waren wir übrigens in der Staatsoper ... Nee, noch nie: Er kann Oper sonst nicht ausstehen. Und daß ich Kinder habe, merk ich gar nicht mehr. Die sind vielleicht selig! So doll wie in den letzten paar Tagen hat sich ihr Vater jahrelang nich um sie gekümmert. Der englische Stoff, den wir neulich Untern Linden gesehen haben, is schon bei der Maßschneidern in Arbeit. Gibt 'n schickes Kostüm. Brauche ich schließlich für Prag ... Na ja, wir kamen am Reisebüro vorbei, und da tat mir meine Hand gerade wieder so mächtig weh ... Du weißt ja, daß Heinrich ein Weiberfeind ist - wenn man mal von mir absieht. Und nu - deshalb ruf ich dich nämlich an: Nächste Woche darf ich alle meine Freundinnen auf einmal zum Kaffee einladen. Ich freu mich halbtot: wieder mal so richtig klatschen! ... Natürlich gibt's Käsesalat. Auch Krebs - und was du sonst noch willst, mein Engel. Macht alles Heinrich. Nur weißt du, ich habe eine schreckliche Ahnung ... ich glaube, meine Hand wird langsam besser.«
Ich bin bestimmt ziemlich tolerant. Doch mir scheint, seit kurzem nimmt etwas überhand, was man grobe Scherze nennt. Drum glaub mir, liebste Maus: Wenn's sein muß, bin ich konsequent. Dann ist der Ofen aus. Voller Sehnsucht rief ich dich gestern abend an, fragte leise: »Liebst du mich?« »Ja, du wilder Mann«, hast du voller Glut gesagt, ich hab 's, wie stets, geglaubt. Doch hinterher hast du gefragt: »Wer spricht da überhaupt?«
Jochen Petersdorf
108
Wo wir sind, ist vorn
-
Matthias Biskupek
osto
„.
~,
Er hatte in der lokalen Presse von dieser neuen Einrichtung gelesen und wollte sie jetzt endlich nutzen. Die Öffnungszeiten waren günstig gelegt, so daß er nach der Arbeit genügend Zeit hatte, dort vorzusprechen. Links neben dem Eingang glänzte das schlichte Metallschild mit der Bezeichnung: »Meldestelle für Bedenken im VEB Dienstleistungskombinat«. Er wurde in ein Zimmer längs eines Ganges verwiesen. Eine Dame, die hinter einem Schalter saß, schob ihm drei Formulare zu: weiß, gelb und grün. Er nahm sie veIWUndert und sagte: Entschuldigen Sie, aber ich bin hier, weil ich Bedenken habe, wegen ... Ganz recht, meinte die Dame, Sie wollen Bedenken anmelden. Deshalb sind Sie hier. Füllen Sie nur die Formulare aus; hinten Sollten sich für die Bedenken nach links finden Sie Schreibpulte. Wenn Sie keinen Stift bei Ablauf der Wartefrist noch objekti- sich haben: rechts drüben ~egen welche. ve Gründe finden verweisen wir Und wenn ich alles ausgefullt habe, was dann, fragte an die Bezirksmeldestelle. er. Dann.registrieren wir Ihr~ Beden~en mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung. Sie haben Ihre Bedenken somit angemeldet. Die Wartezeit beträgt im Normalfall fünf Jahre. Damit liegen wir unter dem Republikdurchschnitt. Und dann, fragte er und drückte die Formulare an sich. Nach dieser Zeit erhalten wir Nachricht, ob Ihre Bedenken berechtigt sind oder ob sie nicht mehr zutreffen. In den meisten Fällen können wir dann die Bedenken zerstreuen. Unsere Zerstreuungsquote liegt bei etwa 85 %. Eine Anmeldefrist von fünf Jahren hat sich bei Versuchen bisher als optimal erwiesen. Er blieb eine Weile stehen, wendete sich dann doch noch einmal an die freundliche Dame hinter dem Schalter: Und was geschieht mit den restlichen 15 %? Nun, meinte diese, sollten sich für die angemeldeten Bedenken nach Ablauf der Wartefrist noch objektive Gründe finden, verweisen wir die Bedenken an die Bezirksmeldestelle. Aha, sagte er und fürchtete lästig zu werden, wenn er weiter fragte. Er nickte und wollte zum Ausfüllen der Formulare an eines der Stehpulte gehen. Doch die zuvorkommende Dame lächelte verbindlich: Wir erteilen gern Auskunft. Ausführlich finden Sie alles in unserer Informationsschrift. Damit drückte sie ihm ein Faltblatt in die Hand. Er ging an eines der Stehpulte, und bevor er begann, die Formulare auszufüllen, las er aufmerksam das Informationsblatt durch. Da meldeten sich bei ihm Bedenken. •
Wo wir sind, ist vorn
109
Hans Krause
Kuddeldaddeldu ist zwar kein Sachse, doch die Achse Leipzig - Berlin ist ihm heilig. Er will den Sachsen nischt »drieberziehn« und findet's erfreulich und liebenswert, wenn er se sieht und wenn er se hört. Und er hat auch nichts gegen die neue Singebewegung sächsischer Prägung, mit »Sing, mei Sachse, sing!« Denn wo man singt, da laß dich nieder. Aber auch wir Preußen haben Lieder und keineswegs schlechte: z. B. »Kreuzberger Nächte«. - Doch mit einer Frage kommt Kuddel dieser Tage partout nicht ins reine: Sind wa nu welche? Oder sind wir noch keine? Die Sachsen sind Sachsen, das steht auf'm Papier. Aber wat sind nu wir - wenn keine Preußen? Irgendwie muß man ja schließlich heißen?! - Das Femsehn hatte uns Hoffnung jemacht und hatte sich sicher auch was bei gedacht. Doch wie das so ist mit dem Preußisch-Blau, det weeß man noch immer nich so jenau. Kann man nun wieder, ohne historische Grenzen zu sprengen, das Flötenkonzert in den Rahmen hängen? Den Turnvater Jahn neben Ewald plazieren? Oder den Blücher neben den Stoph? Kann man beim Betriebsmaskenschwof sich wieder als oller Fritz kostümieren? Darf eine Brigade für Kim-Eier-Puttchen und Legehennen sich einfach Brigade »von Puttkamer« nennen? Oder 'ne Maurerbrigade Brigade »von Stein«? •
I (
•
Wo wir sind, ist vorn
110
,
Ja oder nein? - Damit wir uns richtig verstehn: Wir wollen natürlich nicht unbesehn das ganze Preußentum restaurieren: Die Prügelstrafe einführen, die Junker ausgraben oder den ollen Kurfürsten wiederhaben. Wir wolln keinen preußischen Aar uffm Dach, keinen Sedanstach, keinen Ziethengalopp und keene Volksarmee mit 'm Zopp am Kopp! Aber alles hat, wer will das bestreiten, seine zwei Seiten. Auch Iwan der Schreckliche war nicht bloß strenge, sondern hatte Verdienste. Und zwar eine Menge. Und steht uns Napoleon auch noch so ferne - seinen Kognak, den saufen wir gerne! - Also, eines ist klar: Wir hatten das Schinkel-Jahr, und bis zum nächsten muß es geschafft sein und Preußens Gloria wieder in Kraft sein. Natürlich nicht das komplette, nur dette, wat sich mit Fleiß und Routine in unsrer proletarischen Waschmaschine reinigen läßt. - Also, das wird ein Fest! In den Betrieben könnt' man dann Thesen lesen wie: In den Staub mit Schund und Murks und allen Feinden Brandenburgs! - Mit Marschall Vorwärts zu neuen Attacken oder: Druschba, Kosaken! Und vor jedem Haus hing ein Transparent: Husaren heraus! Und ran an den Müll wie Blücher und Schill! - Im Fernsehn gäbs einen Preußenboom. Und in allen Häusern, Familien und Stuhm könnt man die flehenden Worte vernehmen: Ich wollt, es wär' acht und die Preußen kämen! Alle säßen ergriffen und stumm;
.
111
Wo wir sind, ist vorn
•
l
\
\
I
denn dann kärn der Jakobus mit dem Tabakkollegium oder Rainer Süß mit: Der Gott, der Eisen wachsen ließ, »Preußisch pour vous«, ein Interview oder 'ne Oertel-Talk-Schau mit Horst Naumann alias Gneisenau oder Generalissimus Drinda. - Unsre Kinder könnten zwar ihren alten Sandmann behalten, doch käme der künftig im Rokokofrack und hätt' nur noch »Märkischen Sand« im Sack. »Rund« würde Preußische Märsche blasen statt Beat oder Sweet. Die heitere Dramatik ein Schwänklein bieten mit Quem1ann als Ziethen. Und Schwabe fände im Rumpelrevier statt immer bloß Diel, Piel, Forst oder Schmitz nun och mal die Krücke vom ollen Fritz. VEB Mode kreierte erneut die Krinoline, das Schleppenkleid, Dreispitz, Gamasche, Schärpe, Jabot - und sogar das Politbüro
J
Wo wir sind, ist vo r n
112
hielte sich strenge an Knigge und tagte bei Plenen nur noch mit Perücke. - Und man könnte den Tilsiter Käse und die andern preußischen Delikatessen wieder völlig ohne Bedenken essen. Die Kartoffel wär nicht mehr reaktionär. Jeder Handwerker kriegte endlich 'n Thron, der Geist von Potsdam 'ne Spukkonzession und unser Generalsekretär seinen Voltaire! - Und die Kaffeeriecher und Schnüffelkuriere schlichen wieder von Tür zu Türe, um festzustelln, ob die Bewohner »Jakobs Krönung« brühn oder »Mona«! Zwar dürften wir bei Friedrich dem Großen auf einige kleine Hemmnisse stoßen. Doch bei Marschall Vorwärts - sprich Blücher sind wir ganz sicher. Und kommt doch noch einer und macht Geschrei, dann nenn' wir ihn einfach Marschall »Dawai«! So weit so schön. So könnte es gehn. Doch bis dahin isses noch weit und viel Zeit wird noch verschleißen, bis wir völlig verpreußen. Drum begnügen wir uns mit dem, was wir haben: Mit Rumpelkammerherm Willi von Schwaben, mit dem Postkutschentempo unserer Post, mit den preußischen Straßen, der preußischen Kost - mit den Pommes »Fritz« und der Bismarck-Makrele, •• dem Amtergenöle, der Bürokratie - mit dem 7jähr'gen Krieg um den Shiguli! Mit den Völkerschlachten im Warenhaus, mit den Schinkels des Städte- und Wohnungsbaus und mit den langen Kerls um Mielke und Axen und nennen uns einfach: - Obersachsen! Was Friedrich-Wilhelm der Vierte schon mal so ähnlich formulierte. Wir nehmen's auch heute noch fröhlich in Kauf: - Preußen jeht jeschlossen in Sachsen auf! '
• • • • '
-
•
••
,
•
~
• • • s •• • • • • • '• · ~ ' • • • • „ • ' . •
~
•
•
•
»Es ist schon schwer, bei der SED-Führung nicht anzuecken«, meint ein Österreicher nach der Rückkehr aus Leipzig. »Beachtet man das, was sie geschaffen hat, nicht genügend, hält sie einen für einen Feind der DDR. Sieht man sich ihre Errungenschaften aber näher an, hält sie einen für einen Spion.«
'
••
• •• ' \
1
··-
~:;...-_
-- •
-
.
ß
•
.
·.. Ein Kamrichen 1i~lt über die Qre~~in den Westen. !tfit · ~er Begtiinnfutg, ih der ""DUR Wfirden ~·' alle Elefailten verifolgt, ·beantragt e& politisches ~yl. ·•Aberi du bi.Sf.ctocli . ~ kein·Elefalit!• :.. •n4$ :wmß ich·aucht aber lnachen Sie, · das mal äer Stasi Klllf .„ • • .~
.
·• •.
· · '
· ·
., .
"'
~
_.,..' .
-
~
" .
. . "
1
~
~·
Durch Welch St ·Arbeii der „ ratia&en Wird die dlara.tterisfert? r1minalp0fizeJ heute •
-~---
.
' $.'
114
•
Wo wir sind, ist vorn
Edgar Külow
' 10
In einer Drogerie.· Kunde: »Genosse Drogist,.icli hätte · gern Rasierklingen. Aber gute. Haben Sie Gillette? « Dro.gist: »Haben wir nicht. Kommen Sie · nächste Woche noch· mal vorbei!« Eine Woche später. Kunde: »Genosse Drogist, wie ist die · Sache mit den Gillette f« Drogist: )>Leiw . der immer noch · nichts~« Der Kunde geht. Die Verkäuferin meint: »Aber Herr Bauer, warum schicken Sie den Kunden immer wie- · der weg? Unterm Ladentisch sind doch genug Gillette.!« Drogist: »Liebe Su. sanne, solange der Kunde Genosse zu . mir sagt, soll er sich meinetwegen mit Hammer und Sichel rasieren!« •
.
>
'
Die Jury hatte Platz genommen: Dr. Wagnerwitz vom Ministerium für heitere Muse, Frau Weißbecker, freischaffend, und Professor Marmorstein, Intendant der komischen Operette, Magdeburg. Heute ging der Ausscheid für die zentrale Leistungsschau weiter mit Musikgruppen. Zuerst gab's Kaffee und dann die Gruppe >>Schmalz und Brot«. Die Bühne betraten 4 Männer, deren jüngster etwa wie 85 aussah. Er trug einen langen, dünnen, blonden, häßlichen Vollbart, der sich in Schulterhöhe mit dem strähnigen Haupthaar mischte. Der zweite trug ebenfalls einen Vollbart, aber hohe Stirn, im Volksmund auch Glatze genannt. Der Drummer sah etwa wie Rasputin aus, trug ein Kreuz an einer langen Kette um den Hals. Es schaukelte ihm recht unfromm in Höhe einer wenig verborgenen Männlichkeit hin und her. Der Vierte war vielleicht ein Mädchen, denn er trug das Haar etwas kürzer und sang auch später nicht so hoch und so häßlich-wie Lakomy. Jedenfalls machte die Jury finstere Gesichter und erste negative Notizen. Die Musik übertraf aber alles bisher Gehörte. Das Dantesche Inferno in Musik umgesetzt. Es raste, raste, raste! Frau Weißbecker hielt sich die Ohren zu. Es schien das Schlimmste, wo je über eine DDR-Bühne geschrien, gejault, geheult und gewinselt wurde. Marmorstein brüllte Wagnerwitz ins Ohr, welcher Agent diesen Provokateuren einen Berufsausweis ausgestellt habe. Sie spielten ihre Instrumente nicht mehr, sie schlugen sie, sägten sie, traten sie, würgten sie. Frau Weißbecker trug in ihre Kladde ein: Verbieten! Wenn nötig, mit der Polizei. Das erzeugt Rowdytum! Und dann geschah etwas Überraschendes. Marmorstein hörte es als erster. Einen -wie soll ich sagen - menschenähnlichen Laut, einen gedämpften, gepreßten Schrei. Und dann ein zweites Mal. »Habt ihr das gehört?« fragte er seine Kollegen. Sie hatten es nicht gehört; aber sie wurden ganz wachsam.Und als sie schon die Hoffnug aufgaben, diesen menschenähnlichen Schrei aus dem totalen Kapellenlärm noch ein drittes Mal herauszuhören, da kam er gegen Ende der Darbietung noch einmal. Und es war genau zu hören, der Schrei in diesem teuflischen Instrumentengekreisch hieß: Solidarität! Ja. Es wurde nun Gewißheit. Einer aus dieser entsetzlichen Gruppe hatte »Solidarität« geschrien. Und die Jury trug in ihren Bewertungsbogen ein: Gruppe »Schmalz und Brot« - ausgezeichnet. Delegiert!
Wo wir sind, ist vorn
115
1nge Ristock
10
pto Personen: Erzähler, Mann, KWV-Angestellter. Schild KWv, 'l'isch, dahinter KWV-Angestellter. Mann kommt herein. Szene I: M: Ja, also, wie ich heute nacht aufwache, merke ich, ich bin feucht. Erst dachte ich, verdammte Buttermilch, verfluchte Blase, aber dann merkte ich, der Segen kommt von oben. Mit konstanter Regelmäßigkeit plätscherten mir Regentropfen ins Bett. Ich hab nachgesehen. Ein Dachziegel ist kaputt. K: Na und? M: Vielleicht könnten Sie ihn auswechseln lassen. K: Einen Ziegel?! Sagten Sie einen Ziegel?! Mit solchem Kleinkram wagen Sie sich hierher?! Wrr haben große Zeiten, und große Zeiten erfordern große Probleme, und die haben wir zur Genüge. Nur ein großes Problem ist wert, daß es mit Elan und Schöpferkraft in Angriff genommen wird. M: Und wenn ich mich erkälte? K: Betrachten Sie sich als Einzelfall. Einzelfälle kommen vor und sind dazu da, von uns ignoriert und als Meckerei abgestempelt zu werden. - Bedenken Sie doch, was das kostet. So ein Aufwand wegen eines Ziegels. M: Was soll ich denn tun? K: Rücken Sie Ihr Bett an die andre Wand, stellen Sie ein Töpfchen unter das Loch und warten Sie ab. Vielleicht verstopft sich das Loch durch natürliche Umweltverschmutzung. K geht zu E: Also, läßt man das Problem offen ... E: Sagen wir: Man gibt ihm eine Entwicklungschance. Schließlich ist ein fehlender Dachziegel noch ein ganz kleines, junges Problemchen. Und junges Leben ist empfindlich. Wie leicht könnte es im Keim erstickt werden. M: Das wäre die Lösung. E: Warten Sie doch ab. Ihr Miniproblem hat Perspektive und wird sich schon irgendwie hochpäppeln. Versuchen Sies doch später noch mal ...
> >Bei uns herrscht Ordnung: Alles geht durch die Bücher. <<
Wo wir sind, ist vorn
116
Szene II: M zur KWV: Ja also, inzwischen fehlen zehn Ziegel und seit einem Jahr regnet's mir in die Bude. K: Trösten Sie sich, Sie sind nicht der einzige. M: Ich habe chronischen Schnupfen. Mein Fußboden hat den Schwamm. K: Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Lage. M: Sie decken also das Dach? K: Leider sind zehn Ziegel kein Schwerpunktproblem, wenn auch schon von einer gewissen Problematik. Und in diesen Fällen können wir mit einer schlagkräftigen Argumentation aufwarten. Wo habe ich denn die Materialien. Hier ... wie sieht es denn in Sizilien aus? In Sizilien wohnen manche Leute noch in Fässern. Na? M: Ich wohne in keinem Faß, sondern spätestens in einem Jahr in einem Aquarium. Soll ich mich zu einer Amphibie zurückentwickeln? Was soll ich denn tun? E: Abwarten. Ihr Problemchen mausert sich doch schon ganz schön. Es wird erwachsen. Man übersieht es nicht mehr, sondern schiebt es bereits vor sich her, sucht nach Ausreden. Mit Problemen ist es wie mit gutem Wein. Es braucht Zeit und Pflege zur Reife. Versuchen Sies in einem Jahr noch mal ...
.
Szene III: M zu K: Gestern bei dem großen Sturm ist eine Lawine von fünfzig Ziegeln das Dach runtergerauscht. Der Wasserspiegel in meinem Schlafzimmer beträgt dreiundvierzig Zentimeter. Ich schlafe im Taucheranzug mit Sauerstoffflasche auf einer Luftmatratze und mußte der Arbeit drei Tage fernbleiben wegen akuter Seekrankheit. Im Bad blühen die Seerosen. - Was gedenken Sie zu unternehmen?! K: Nichts. Ihr Problem wurde zur objektiven Schwierigkeit erklärt, was eine gute Erfindung ist, denn es enthebt uns jeder Verpflichtung. M: Wieso sind Dachziegel eine objektive Schwierigkeit?! K: Sie sehen das falsch. Nicht die Ziegel, sondern das Wetter ist die objektive Schwierigkeit, wie immer. Außerdem müssen Sie auch unsere Erfolge sehen, der Fernsehturm und das Stadtzentrum, der Womacka-Brunnen, die Mufflons im Tierpark! M: Ja, ja! K: Aber gegen das Wetter ist leider noch kein sozialistisches Kraut gewachsen. M zu E: Ich will kein Kraut, ich will ein sozialistisches Dach. E: Tja, bei objektiven Schwierigkeiten können Sie gar nichts
Wo wir sind, ist vorn
117
machen. Nur abwarten. Bald erreicht Ihr Problem einen Reifegrad, daß es bohrt wie ein schlechtgelaunter Dentist. Sie sind schon lange kein Einzelfall mehr, sondern bereits eine kleine Massenorganisation. Zwischen der "KWV und den übergeordneten Dienststellen gehen Briefe hin und her. Ihr Problem steht in der Blüte seiner Jahre und wird diskutiert. In spätestens einem halben Jahr leidet die halbe Nation an Verschnupfung. Die Presse schaltet sich ein und dann erfolgt die Generalmobilmachung ... Nur Geduld, Entwicklung braucht Zeit ... • <
Szene IV: M zu K: Die Wasserfluten brausen wie die Niagarafälle das Treppenhaus hinunter und überschwemmen bereits die Straße. Trabantbesitzer haben sich auf Segeljachten umgestellt, uns wachsen Schwimmhäute zwischen den Fingern und im ersten Stock kämpft eine Familie erbittert gegen einen Riesenhai. K: Endlich hätte man mal ein Problem, das sogar eine akute Gefahr ist. Man könnte es zum nationalen Schwerpunkthauptaufgabenkomplex Nr. 1 erklären, Feuerwehr, Abrißkommandos und sämtliche Massenorganisationen einsetzen, mit Geld, Arbeitskräften und Material so richtig in die vollen gehen, und da kommt doch gestern die dumme Dienst• anwe1sung raus. M: Welche Dienstanweisung? K: Wrr sollen uns jetzt mehr um die kleinen Probleme kümmern. Hier haben Sie den vor drei Jahren beantragten Dachziegel.
»Det is 'ne Schikane: 'nem Bauarbeiter 'nen Neubau anzudrehn. ((
Wo wir sind, ist vorn
118 Ernst Röhl
Versehrte Kollegen! Es geht um die Lesung außerordentlich nichtiger Probleme unseres volkseigenen Getriebes, an der jeder Kollege zielgerichtet mitwürgen sollte. Es ist bekannt, daß nur noch hin und wieder keine Störungen auftreten und wir es geschafft haben, die Arbeitsproduktivitätkraft eindrucksvoll zu simulieren. Die Erlangung der Baugenehmigung für die neue KO-Kaufhalle war mit Schmierigkeiten verbunden, zeigt aber auch: Für jedes Problem gibt es eine Losung! Diese Richtschnur unseres Handels, für die sich der Direktor persönlich verbirgt, eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Dem Kollegen Absatzleiter ist es in überlegender Manie gelungen, qualitätsgemilderte Schuhe reisend loszuwerden. Allerdings ist er, der ja nun doch weniger verdient als ein Professor mit Lehnstuhl, nur mit einem lumpigen Bücherscheck geehrt worden und fühlt sich geradezu deprämiert. Hier müssen wir den materiellen Hobel noch besser ansetzen. Da hilft kein Zithern vor dem Forst. Ein paar Worte zur Kultur mit ihren vielfältigen Hobbys: Der eine Kollege hat ein VollgasFluchtweg aquarium, der andere sieht sich im Zoo gern die geflickten Hyänen am, der dritte führt künst. . . . . . . lerische Selbstbestätigung durch. . . Auf unserem Betriebsfest aber >>Sollen Sie nur kommen drücken wir unter dem Motto »Ein Mönch - wie stolz das mit ihrer Verantworklingt!« alle gemeinsam die Damen, die uns gewiß nicht zur tung. I eh bin auf alles Lust fallen werden. Kulturell umrahmt wird das Fest von Kamvorbereitet. << mersänger Peter Schleier, der Volksleder bringt, und zwar unter dem Titel »Alte Lider - traute Waisen«. Unsere Sportler, das wißt ihr Kollegen, erfreuen sich zunehmender Beleibtheit. Deshalb meine Forderung: Wrr brauchen mehr Sportgerede! Zum Schluß unserer furchtbaren Diskussion ein ernster Hinweis: Kollegen Protokollanten, vermeidet Schreib- und Druckfehler! Wrr wollen, offen gesagt, mit unserem Referat an höherer Stelle Wirkung erzählen. Druckfehler aber können das Gesagte ins direkte Gegenteil verkehren, bis hin zu charmlosen Lügen. Falls dennoch derartige Fehler auftreten, ist klar, was mit diesem Referat geschieht: Es wird sofort berüchtigt. .
•
'
•
•
Wo wir sind , ist vorn
Wolfgang Schaller
(Eine Diskussionsrunde. Versammlungsleiter) Vers.: Nachdem vom Arbeiter bis zum Wissenschaftler hier alle reden durften, konnte ich es nicht verhindern, daß nun auch noch die Künstler über ihre Arbeit sprechen werden. Wenn auch keine richtigen Künstler, sondern nur Kabarettisten. Aber Sie wissen ja: Kleinkunst i1nd große Klappe! A: Keine Angst! Wrr sagen nur, was schon gedruckt wurde. Vers.: So muß es sein. B: Wrr wollen über unsere Massenmedien sprechen und Gorbatschow zitieren. Vers.: Heiliger Michail! Muß das sein! Ich wußte doch, es kommt was Unerwünschtes! C: Wer sagt, daß es unerwünscht ist, Gorbatschow zu zitieren? Vers.: Sagen tut's keiner. A: Deshalb zitieren wir ihn jetzt mit Vergnügen, und das Vergnügen ist so groß, daß wir die Zitate singen. Alle: (Die Musik klingt wie modernster Sound) »Wrr werden keinen einzigen Schritt vorankommen, wenn wir nicht lernen, den Mut aufzubringen, das Kind beim Namen zu nennen. Verlogene Phrasen und hohle Prahlerei sind das sicherste Unterpfand des politischen Todes. Wenn sich das Wort vom Boden der Tatsachen löst, werden all unsere ideologischen Bemühungen stark beeinträchtigt.« B: Die Einschaltquote der Aktuellen Kamera beträgt m-zig Prozent. C: Warum vernuschelst du die genaue Zahl? A: Ich bin Geheimnisträger. B: Wrr müssen uns eben etwas ausdenken, damit unsere Werktätigen zu Hause nicht einfach ihre Sessel verlassen, wenn unser Fernsehen informiert. C: Interessantere Informationen? A: Oder Anschnallpflicht! B: Ein Massenmedium, das das Bedürfnis der Massen nach Information ingnoriert, wird von den Massen ignoriert. C: Und ein Medium, das kein Medium für die Massen ist, ist auch kein Massenmedi11m. Vers.: Immer auf die gleiche Stelle, injedem Programm das gleiche Thema, und ich wette, im nächsten wieder. Alle: Ja, das geloben wir!
119
1985
120
1985 1. Januar
Die DDR erweitert nach UN-Seerechtskonvention ihr Territorialgewässer von drei auf zwölf Seemeilen.
10. Januar
In Leipzig und 5 weiteren Städten treten die Kabarettisten Dieter Hildebrandt und Werner Schneyder auf.
15. Januar
Die letzten sechs von zeitweilig 168 DDR-Bürgern verlassen nach Zusicherung von Straffreiheit die BRD-Botschaft in Prag, wo sie sich seit dem 2. Oktober 1984 aufgehalten haben. Auch eine Nichte Willi Stophs war darunter.
•;
•
.'
"(f
.,
.
~.
.jtf.'
:,
·-
.
.»Ist· es walir, tlaß man jetzt über Rr~g legal· ausreisend~« · ·. >~ Mitniclat.en~
Peter Ensikat
'
mitnichten.« ·
..
~:. •'
~-
,, - -··
'~
.
.
..
, ··
· .·.
21. Januar
Lessingpreis an Peter Ensikat verliehen.
27. Januar
Bei den Rennrodel-WM in Obersdorf gewinnt die DDRMannschaft acht von neun Medaillen.
30. Januar
DEFA-Filmpremiere >>Die Frau und der Fremde<< nach Leonhard Frank.
6. Februar
Das Ministerium für Staatssicherheit wird für >>vorbildliche Pflichterfüllung im Interesse des ganzen werktätigen Volkes<< mit dem Karl-Marx-Orden ausgezeichnet.
7. Februar
Das Festkomitee zum 750jährigen Bestehen Berlins konstituiert sich unter Vorsitz von Erich Honecker. '
.
,- _,,
-
Was ist die tiefste'Stelle dei DDR.? ·· . -• · · · · Berlin, da sacltt alles hlrl. ·· · '
;;
. -
·'
-
.
.o
.
!-
-
.„.
•
8. Februar
DEFA-Kinderfilmpremiere >>Unternehmen Geigenkasten<<.
9. Februar
Katarina Witt holt Gold bei der WM in Göteborg.
9. Februar
In Radebeul eröffnet die Gedenkstätte für Karl May.
13. Februar 15. Februar 22. Februar
DEFA-Filmpremiere >>Meine Frau lnge und meine Frau Schmidt<<, eine Komödie in der Regie von Roland Oehme.
28. Februar
Politbüromitglied Hermann Axen reist nach Bonn, um den Dialog über eine gemeinsame Friedensinitiative fortzusetzen.
Bernhard Heisig '
121
Zeittafel 1985 7. März
DEFA-Kinderfilmpremiere >>Gritta von Rattenzuhausbeiuns<< mit Hermann Beyer.
10. März
Der sowjetische Staats- und Parteichef Konstantin Tschernenko stirbt. Bundeskanzler Helmut Kohl und Erich Honekker treffen in Moskau am Rande der Trauerfeierlichkeiten zu einem zweistündigen Meinungsaustausch zusammen.
10. März
Katarina Witt holt ihren zweiten Weltmeistertitel in Tokio.
11. März
Michail Gorbatschow wird vom Zentralkomitee der KPdSU zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt.
14. März
DEFA-Filmpremiere >>Ab heute erwachsen<<.
24. März
Erstaufführung von Ernst Barlachs >> Der blaue Ball<< am Deutschen Theater, Regie Rolf Winkelgrund.
8.-10. April
Als erster britischer Außenminister stattet Geoffrey Howe der DDR einen Besuch ab.
16. April
>>Der Spiegel << eröffnet in Berlin sein neues Büro. 1978 war die Ostberliner Dependance von der DDR-Regierung wegen der Veröffentlichung über eine angebliche Widerstandsgruppe innerhalb der SED geschlossen worden.
18. April
Premiere des Hölderlinfilms >>Hälfte des Lebens<
23./24. April
Erich Honecker besucht erstmals ein NATO-Land: Italien. Er hat eine Audienz beim Papst.
25. April
In Torgau verfassen sowjetische und amerikanische Veteranen anläßlich des 40. Jahrestages des Zusammentreffens alliierter Soldaten einen gemeinsamen Friedensaufruf.
26. April
Der Warschauer Vertrag wird um 20 Jahre verlängert.
26. April
John Heartfield, der Begründer der politischen Photomontage, stirbt in Berlin.
4. Mai
Erich Honecker ist als erster Regierungschef der sozialistischen Länder bei Michail Gorbatschow zu Gast.
9. Mai
Uraufführung von Heiner Müllers >>Wolokolamsker Chaussee 1<<.
16. Mai
Michail Gorbatschows Maßnahmenkatalog zum Kampf gegen Alkoholismus in der UdSSR wird festgelegt.
24. Mai
In Leipzig eröffnet die rekonstruierte >>Pfeffermühle<<.
3.-22. Juni
Tage der chilenischen Kultur in Berlin.
6. Juni
Treffen von Erich Honecker und SPD-Politiker Herbert Wehner am Werbellinsee.
10. Juni
Marita Koch wird europäische Läuferin des Jahres 1984.
10.-11 Juni
Der französische Premierminister Fabius besucht Erich Honecker.
11. Juni
Parteichef Michail Gorbatschow kritisiert heftig die Wirtschaftspolitik der KPdSU.
;Was war das ~~&'Wiff!!i' •
, ~Positive an der ... · Regierungszeit Tschemenkos? Sie war kurz.
Katarina Witt
··Parade auf dem Roten Platz. Stalin friert und gibt seinem Adjutanten ein Zeichen, ihm eine kleine Flasche · Wodka zu reichen. Dieser gibt das Fläschchen an einen neben Stalin stehenden Jungen Pionier, , . damit der es weiterreicht. Der Junge Pionier schaut auf das Fläschchen und wirft es auf den , Boden. Stalin voller Empörung »Was erlaubst du dir, und überhaupt, wie heißt du?« - »Michail Gorbatschow.«
Zeittafel 1985
122
Ein Polizist steht auf dem Bürgersteig und schaut sich im• merzu seme neue Uhr an. Eine Frau beobachtet ihn efue Weile, fragt dann ~;·
lf
11. Juni
Auf der Glienicker Brücke in Berlin findet der größte Agentenaustausch seit 1945 statt. 25 Westagenten werden gegen vier Ostagenten ausgetauscht.
5. Juli
Neue Vereinbarungen über den innerdeutschen Handel. Der Swing wird wieder erhöht - von 600 auf 800 Mio. Verrechnungseinheiten.
12. Juli
DEFA-Kinderfilmpremiere >>Weiße Wolke Carolin<<.
18. Juli
Erich Honecker empfängt den SPD-Bundestags-Abgeordneten Gerhard Schröder.
6. August
Die UdSSR ruft einseitig ein Moratorium für alle Atomwaffentests aus.
20. August
Im Gothaer Schloß eröffnet ein kartographisches Museum.
23. August
Der beim BRD-Verfassungsschutz für die Abwehr der DDRSpionage zuständige Hansjoachim Tiedge setzt sich in die DDR ab.
29. August
DEFA-lndianerfilmpremiere >>Atkins<<.
1. September
Zum neuen Schuljahr wird der Schultaschenrechner SR 1 eingeführt, er kostet 123 Mark.
1. September
Am Rande der Leipziger Herbstmesse treffen sich Erich Honecker und der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß.
'
'
freundlicherweis.e··.,; ·· . '' .
~·:
nach der Zeit. .· · ..· »Es ist genau«, sagt der Polizist, »elf durch achtundzwanzig. Aber ausrechnen müssen Se das allein!«
-~-
Harry Kupfer
13. September In Briefen an Bundeskanzler Kohl fordert Erich Honecker die Abschaffung chemischer Waffen in beiden deutschen Staaten. Am 2. Oktober antwortet Helmut Kohl, auch die Bundesrepublik sei für die Abschaffung. 17. September Der West-Industrielle Otto Wolff von Amerongen erhält die Ehrendoktorwürde der Jenaer Universität.
Drei Jungs unterhalten sich, wer die schnellsten Autos hat. Der erste behauptet: auf jeden Fall die Amerikaner. Der zweite: die Franzosen. Der dritte: die DDR. Warum? »Mein Vater arbeitet bis halb vier und.ist· mit seinem Wartburg jeden Tag schon um drei in unserem Garten. «
18.-20. September Erstmals nach der Enttarnung des Spions Guillaume reist SPD-Vorsitzender Willy Brandt wieder in die DDR. 22. September Beim Leichtathletiksportfest in Berlin werden drei Weltrekorde aufgestellt: Heike Drechsler im Weitsprung, Ulf Timmermann im Kugelstoßen, Sabine Busch im Hürdenlauf. 24. September Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen beschließt ihre Umbenennung in >>Evangelische Kirche in der DDR<<. 28. September Uraufführung der Oper >>Judith<< von Siegfried Matthus an der Komischen Oper Berlin, Regie Harry Kupfer. 29. September Der 100. >>Polizeiruf<<-Film wird gesendet: >>Verlockung<<. 1. Oktober
In den Automobilwerken Eisenach läuft der einmillionste Wartburg 353 vom Band.
6. Oktober
In Canberra/Australien erzielen Marita Koch über 400 m und die Damen-Staffel über 4 x 100 m Weltrekorde.
7. Oktober
Oberhof wird Stadt - und bleibt bis 1990 die jüngste Stadt der DDR.
Zeittafel 1985
123
10. Oktober
Erich Honecker zeichnet den griechischen Ministerpräsidenten Papandreou in Berlin mit dem Großen Stern der Völkerfreundschaft aus.
15. Oktober
In Weißenfels wird das Heinrich-Schütz-Haus der Öffentlichkeit übergeben. ·
22./23. Oktober Tagung des Warschauer Vertrags in Sofia, Protest gegen das amerikanische SOi-Programm. Vorschlag zum Verbot von Weltraumwaffen und zur Halbierung des sowjetischen und amerikanischen Waffenpotentials. 30. Oktober
Fürst-Pückler-Ehrung zum 200. Geburtstag in Cottbus.
1. November
Die DDR-Regierung verkündet, daß alle Selbstschußanlagen und Bodenminen an der deutsch-deutschen Grenze abgebaut sind.
1.-6. November Gold für Torsten Koch (Leichtgewicht) und Henry Maske (Mittelgewicht) beim Weltpokal in Seoul. 13.-15. November Besuch des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine. Die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft (Saarlouis und Eisenhüttenstadt) wird vereinbart. 22. November
Konrad Naumann wird als 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin seiner Ämter enthoben.
3. Dezember
Heinz Keßler löst als Verteidigungsminister den am Vortag verstorbenen Armeegeneral Heinz Hoffmann ab.
6. -8. Dezember Erstmals finden in Weimar Jazz-Tage statt. 16. Dezember
Auf einer Polenreise vereinbart Erich Honecker ein >>langfristiges Programm der Zusammenarbeit<<.
20. Dezember
Die erste Folge des Mehrteilers >>Sachsens Glanz und Preußen Gloria<
31. Dezember
Sensation im DDR-Fernsehen. In der Silvestershow treten erstmalig Tänzerinnen >>oben ohne<< auf ...
1985 verlassen 24 912 DDR-Bürger das Land.
Oberliga-Plazierung 1985 1. BFC Dynamo 2. SG Dynamo Dresden 3. 1. FC Lok Leipzig 4. Wismut Aue 5. 1. FC Magdeburg 6. FC Rot-Weiß Erfurt 7. FC Carl Zeiss Jena 8. FC Vorwärts Frankfurt/O. 9. FC Karl-Marx-Stadt 10. FC Hansa Rostock 11. Stahl Brandenburg 12. Stahl Riesa 13. Chemie Leipzig 14. Motor Suhl
Sportler des Jahres:
Fernsehlieblinge:
neue Bücher:
große Hits:
Marita Koch (Leichtathletik)
Herbert Käfer Heinz Rennhack Petra Kusch-Lück Alfred Müller Angelika Unterlauf Muck Helga Göring Heinz Florian Oertel Walter Plathe Jürgen Karney
Volker Braun >> Hinze-Kunze-Roman <<
>> Mein Weg<< Stern Meißen
Christoph Hein >>Horns Ende<<
>>Zeit, die nie vergeht<< Perl
Jens Weißflog (Skispringen) Leichtathletik-Nationalmannschaft der Frauen
Torschützenkönig der Oberliga: Rainer Ernst vom BFC Dynamo mit 24 Treffern
Erik Neutsch >>Steigen Nebel<< >>Der Friede im Osten 3<< Lift Stephan Hermlin >>Äußerungen<< Helga Schubert >>Und morgen wieder<<
>>Rock'n'Roll ist mein Begleiter<< Puhdys >>Gute Nacht<< Pankow
•
Zeitt afel 1986
124
1986 Honecker hat seinen Chirurgen verhaften lassen. Er wollte sich in seine inneren Angelegenheiten einmischen.
10. Januar
Erich Honecker empfängt Vertreter des US-Repräsentantenhauses und führt mit ihnen Gespräche über die weltpolitische Lage und die Beziehungen zwischen beiden Staaten.
11.-12. Januar Andrea Schöne-Ehrig gewinnt in Norwegen die EM im Eisschnellauf (Mehrkampf) über 5000 m mit Weltrekordzeit. 24. Januar
DEFA-Kinderfilmpremiere >>Der Bärenhäuter<<.
31. Januar
In einem Interview mit der ZEIT erklärt Erich Honecker: >>Es ist geradezu ein Glück für die Menschheit, daß es zwei deutsche Staaten gibt.<<
7. Februar
Der zweiteilige Fernsehfilm >>Ernst Thälmann<< mit Helmut Schellhardt in der Titelrolle und Günter Grabbert als Wilhelm Pieck wird ausgestrahlt.
10. Februar
Die DDR erweitert die Reisemöglichkeiten in dringenden Familienangelegenheiten.
11. Februar
Auf der Glienicker Brücke zwischen West-Berlin und Potsdam werden ein sowjetischer Regimekritiker Anatoli Schtscharanski sowie drei westliche Agenten gegen fünf östliche Agenten ausgetauscht.
, .Kenne~ Sie schon das Ii~ue Nationalgericht der DD.R? ·.·· , ·· . . ·. ·•· · Gedä~pfte Zunge! · · •..· . · . . : • . . · , „
•
.·,-. .•
.
.„
,'•
"
.
• .
.'
..
,
·
.
16.-23. Februar 16. Festival des politischen Liedes, Pete Seeger ist zu Gast.
\
18. Februar
In Karl-Marx-Stadt eröffnete eine Ausstellung mit Werken von Fritz Cremer anläßlich seines 80. Geburtstages.
19. Februar
Der Präsident der DDR-Volkskammer, Horst Sindermann, trifft zu einem viertägigen Besuch in Bonn ein. Er ist der ranghöchste DDR-Politiker, der bisher die Bundesrepublik besucht hat.
1.-2. März
Monique Garbrecht erringt in St. Foy (Kanada) den Junioren-WM-Titel im Eisschnellauf (Mehrkampf).
4. März
Erstmals gastiert mit der Staatskapelle Berlin ein sinfonisches Orchester aus der DDR in Australien.
7. März
Das Jugenradio DT 64 wird eigenständiger Sender und ist von 13 bis 24 Uhr zu empfangen.
17. März
Alexander Lang inszeniert Strindbergs >>Totentanz<< am Deutschen Theater und liefert damit gleichzeitig seine letzte Regiearbeit in der DDR ab.
\\
Fritz Cremer
•
125
Zeittafel 1986
4. April
Einweihung des Marx-Engels-Forums in Berlin.
16. April
Anläßlich des 100. Geburtstages von Ernst Thälmann wird das in Thälmann-Denkmal von Lew Kerbel in der neuererbauten Wohnsiedlung Thälmann-Park in Berlin eingeweiht.
17.-21. April
XI. Parteitag. Als Gastredner erklärt Gorbatschow, Selbstkritik sei eine unablässige Bedingung für den Erfolg. Beschluß des Fünfjahrplans.
25. April
Saarlouis und Eisenhüttenstadt gehen die erste deutschdeutsche Städtepartnerschaft ein.
26. April
Atomunglück in Tschernobyl.
Im nächsten Frühjahr wird aus den Wolken das radioaktive Stronti11m 90 aus den sowjetischen Atomexperimenten abregnen. Als Genosse Schrader das erfährt, sagt er stolz: »So sind unsere sowjetischen Freunde. Nun schicken sie uns unser Uran wieder nach Sachsen zurück!« 6. Mai
Das Kulturabkommen zwischen DDR und BRD wird nach zwölfjähriger Verhandlung unterzeichnet.
9. Mai
Schreiben von Angehörigen der autonomen Friedensbewegung an Erich Honecker mit der Forderung nach einem konstruktiven Dialog.
27. Mai
Sportjournalisten und die Olympische Gesellschaft organisieren die massensportliche Aktion >>Dein Herz dem Sport - stark wie ein Baum<<.
6. Juni
In der Regie von Roland Oehme nach einer Vorlage von Rudi Strahl hat der Film >>Je t'aime, cherie<< Premiere.
8. Juni
Wahlen zur 8. Volkskammer.
13. Juni
Dean Reed stirbt. Die Ermittlungen ergeben, es war Selbstmord. Trotzdem gibt sein Tod Anlaß zu Spekulationen.
18. Juni
Weltrekord von Heike Friedrich über 200 m Freistil.
19. Juni
Uraufführung der Kinderoper >> Sechse kommen durch die Welt<
21. Juni
Heike Drechsler springt mit 7,45 m Weltrekord in Tallin.
25.-27. Juni
Erich Honecker trifft zu einem dreitägigen Staatsbesuch in Schweden ein. Vertreter beider Länder unterzeichnen Verträge zum Ausbau des Handels und zu Rechtsfragen.
Honecker geht auf dem Alex spazieren und trifft eine Frau, die über und über mit vollen Einkaufstaschen beladen ist. Er spricht sie an und meint: »Na gute Frau, da haben Sie aber fleißig eingekauft.« »Ja, ja<<, sagt sie. »Ich mußte aber drei Stunden dafür anstehen! « »Denken Sie mal an die anderen Länder«, entgegnet Honni, »die müssen einen ganzen Tag für einen Schluck Wasser anstehen.« Sagt die Frau: »Die haben bestimmt schon viel länger Sozialismus als wir.«
/
Michail Gorbatschow
Margot Honecker sieht fem. Plötzlich ruft sie Erich in der Küche zu: »Erich, Erich, komm schnell, die Mathieu singt!« »Wieso? Ist das ein Schiff von uns?«
Zeittafel 1986
126 5. August
Zum 25. Jahrestag des Mauerbaus erscheint eine Sonderbriefmarke: Kampfgruppen vorm Brandenburger Tor. Die Bundespost will Briefe, auf denen diese Marke klebt, nicht befördern.
Zwei Grenzer auf Streife an der Mauer mit Blick auf den Westen ... »Was denkst denn du gerade so?« »Das Gleiche wie du ...« »Dann muß ich dich leider festnehmen.« · .
UdoBeyer
.
'
20. August
Weltrekord im Kugelstoßen durch Udo Beyer.
25. August
In der DDR wird die Verwendung von Eurochecks zugelassen.
29. August
Drei Ostberliner fliehen mit einem Kieslaster am Checkpoint Charlie nach Westberlin.
4. -7. September Uwe Ampler erringt den Weltmeister-Titel im Straßenfahren in Colorado Springs (USA). 15. September Protestaktion von Greenpeace-Aktivisten vor dem DDR-Umweltministerium. Die Volkspolizei beendet die Aktion binnen Minuten, die Protestler werden nach West-Berlin abgeschoben.
Die Ostasienreise Erich Honeckers war eine der lehr. reichsten. Er brachte folgende Erkenntnisse mit nach Hause: Erstens aus Korea, daß ein Staatschef sich noch viel mehr feiern lassen kann. Zweitens aus Cina, daß man eine Mauer noch viel länger, dicker und höher bauen kann... Und aus der Mongolei, daß man außerhalb der Hauptstadt auch in Zelten leben kann. -·-
:
,
2. Oktober
Die Fährverbindung zwischen Mukran auf Rügen und dem sowjetischen Klaipeda wird eröffnet.
3. Oktober
Treffen von Honecker und Gorbatschow in Moskau. Gorbatschow plädiert für eine Umgestaltung des RGW. Es gebe >>viele Nichtstuer<<. Ein Interview des Schriftstellers Jewtuschenko im West-Fernsehen, in dem für die Einheit Deutschlands eintrat, veranlaßt Honecker zu der Äußerung, man solle >>diese Leute in Sibirien auftreten lassen<<. Gorbatschow und Honecker weihen gemeinsam in Moskau ein Thälmann-Denkmal ein.
Honecker hat sich den Arm gebrochen. Er wollte sich auf sein Volk stützen. 3. Oktober
Mit dem >>Rosenkavalier<< wird das Jugendstiltheater in Cottbus nach fünfjähriger Rekonstruktion wiedereröffnet.
12. Oktober
Im Potsdamer >>Neuen Palais<< wird die seit August gezeigte Ausstellung >>Friedrich II. und seine Kunst<< aufgrund des starken Besucherandranges verlängert.
18.-28. Oktober Offizieller Freundschaftsbesuch Erich Honeckers in der Mongolei, in Nordkorea und in der Volksrepublik China, wo ein Abkommen über langfristige Zusammenarbeit unterzeichnet wird. 30. Oktober
In Ost-Berlin wird die Ausstellung >>Positionen. Malerei aus der Bundesrepublik Deutschland<< gezeigt.
Zeittafel 1986
127
12. November Die DDR und die BRD einigen sich darauf, kriegsbedingt verlagertes Archivgut zurückzuführen. 15. November
Nach eingehender Renovierung Wiedereröffnung der Deutschen Staatsoper in Berlin.
21. November Bei einem Fluchtversuch mit einem LKW werden zwei Männer an der Mauer erschossen. 27. November
Die Volkskammer beschließt den Fünfjahrplan 1986-1990. Anstelle der geplanten Exportüberschüsse muß zunehmend importiert werden, die Zahlungsbilanz wird weiter belastet.
Warum gibt es auf unseren Straßen so viele Schlaglöcher? Wrr haben noch keinen Grund gefunden, sie zu exportieren. 29.-30.11.
Einweihung der zweiten Kunsteis-Bob-und-Rennschlittenbahn der DDR (die achte der Welt) in Altenberg.
1. Dezember
Die DDR-Grenztruppen begehen ihren 40. Jahrestag.
6. Dezember
In Saarbrücken wird eine Ausstellung über >>Bücher in der DDR<< mit mehr als 20000 Titeln eröffnet.
12. Dezember
Eine Tupolew 134 der AEROFLOT aus Minsk stürzt beim Landeanflug auf Schönefeld ab. Bohnsdorfer Bürger können 12 Passagiere aus dem brennenden Wrack retten. 72 Tote, darunter 20 Kinder.
15.-19. Dezember UNESCO-Symposium über Künstler im Dienste des Friedens in Potsdam. 16. Dezmeber
Der in einem Lager bei Gorki inhaftierte Dissident Andrej Sacharow wird entlassen.
17. Dezember
In Moskau wird eine Ausstellung mit über 300 Werken von Werner Tübke eröffnet.
Oberl iga-Plazierung 1986 1. Berliner FC Dynamo 2. 1. FC Lokomotive Leipzig 3. FC Carl Zeiss Jena 4. 1. FC Magdeburg 5. BSG Stahl Brandenburg 6. Dynamo Dresden 7. 1. FC Union Berlin 8. FC Karl-Marx-Stadt 9. FC Vorwärts Frankfurt 10. FC Rot-Weiß Erfurt 11. BSG Wismut Aue 12. BSG Stahl Riesa 13. Hansa Rostock 14. BSG Sachsenring Zwickau
1986 verlassen 26178 Menschen die DDR.
Sportler des Jahres:
Fernsehlieblinge:
neue Bücher:
große Hits:
Heike Drechsler (Leichtathletik)
Walter Plathe Helga Hahnemann Petra Kusch-Lück Helga Piur Heinz Rennhack Muck Frank Schöbel Herbert Käfer Helga Göring Marijam Agischewa
Hermann Kant >>Bronzezeit<<
>>Nicht allein<< Stern Meißen
Erwin Strittmatter >>Grüner Juni<<
>>Feuer im Eis<< Ralf Bummy Bursy
Eva Strittmatter >>Mai in Piestany<<
>>Wunderland<< IC
Joachim Nowotny >>Der Popanz<<
>>Bataillon d' Amour<< Silly
Olaf Ludwig (Radsport) Fußball-Junioren-Auswahl
Torschützenkönig der Oberliga: Ralf Sträßer vom 1. FC Union Berlin mit 14 Treffern
Helga Königsdorf >>Rosalili<< >>Respektloser Umgang<< Rosalili Stefan Heym >>Reden an den Feind<<
>>Ab und ZU<< Karussell
•
128
Nachweise
Die Karikaturen stammen von Peter Bauer: 45 Heinz Behling: 15, 29, 31, 38, 70, 111 Manfred Bofinger: 8, 11, 22, SO, 51 1. o., 98, 99, 109, 113 u. Henry Büttner: 17 Peter Dittrich: 76, 81 Hans Joachim Eggstein: 63 Barbara Henniger: 12, 18, 20, 39, 40 r., 48, 51 r. o., 75, 89 u., 96 Heinz Jankofsky: 42, 67, 69, 118 Harald Kretzschmar: 120, 121, 122, 124, 125, 126 Cleo-Petra Kurze: 101 o. Willy Moese: 102 Lothar Otto: 51 u., 92, 101 u., Harri Parschau: 40 1., 78 o./ u., 87, 101 m., 103, 106 Louis Rauwolf: 33, 36, 53, 64, 65 o., 68, 115, 117 Horst Schrade: 23, 61, 65 u., 89 r., 94, 113 m. Karl Schrader: 47, 58, 83, 105 Wolfgang Schubert: 24 Reiner Schwalme: 59 Fotos: Hans-Ludwig Böhme: 66 Günter Gueffroy: 73 Klaus Wmkler: 27 Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Texte danken wir den Autoren, Zeichnern und Erben. Nicht in allen Fällen ist es uns gelungen, Rechteinhaber und Rechtsnachfolger zu ermitteln. Berechtigte Honoraransprüche bleiben gewahrt. Impressum
Besuchen Sie uns im Internet: www.sammelwerke.de Genehmigte Lizenzausgabe für Sammler-Editionen in der Verlagsgruppe Weltbild, Steinerne Furt, D-86167 Augsburg Copyright © Eulenspiegel · Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Berlin Umschlaggestaltung: Peperoni Werbeagentur GmbH, Berlin Umschlagmotiv: DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö Leipzig GmbH, Zwenkau Printed in the EU
•
•
•
• i
""
"
·;
•
........
•:
UIU\
Bürger, weisen Sie sich aus
•: • ••
•
06 52 234 008
4 026411 190495