Erich JJnger
Politik und Metaphysik
^ts N.
d 'i .
So . v e n t a r i o
Königshausen & Neumann
k
CIP-Titelauf nähme der Deutschen Bibliothek Unger, Erich: Politik und Metaphysik / Erich Unger. Hrsg. von Manfred Voigts. — Würzburg : Königshausen u. Neumann, 1989 ISBN 3-88479-421-3
) Verlag Dr. Johannes Königshausen + Dr. Thomas Neumann, Würzburg 1989 Umschlag: Hummel / Homeyer Druck: Königshausen + Neumann Alle Rechte vorbehalten Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes oder von Teilen daraus (Fotokopie, Mikrokopie) bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags
Printed in Germany ISBN 3-88479-421-3
Erich Unger Politik und Metaphysik H.G. Adler Erinnerung an den Philosophen Erich Unger Manfred Voigts Nachwort Bibliographischer Bibliographischer A nhang
Politik und Metaphysik.
Ein einziger Gedanke, eine einzige bestimmte Umschaltung Umscha ltung der DaseinsEmpfindung soll sowohl in dieser programmatischen Ausführung als in allen von ihr fortgehenden Darlegungen Darlegunge n zum Bewußtsein Bewußtsein gebracht werden. Dieser Oedanke betrifft das Auseinander oder das Zusammen zweier Äußerungsweisen des Lebens, betrifft hier die Beurteilung einer Beziehung, in der wir nichts weniger als einen Lebenspunkt — oder als einen nodus letalis — alles menschlich Existierenden sehen. J e d w e d e E i n r i c h t u n g und un d j e d e s p o r t b e s t e h e n v o n u n k a t a s t r o phalen Menschen-Ordnungen — jede unkatastrophale Politik — ist un m et ap hy s is c h n ic ht m ög li ch . Poli Politi tik k und und Meta Metaph phys ysik ik sin sind d die die beide beiden n Äußerungsbereiche, deren deren Zusammenrücken Zusammenrücken in Frage steht Wie ist das mög lic h? Die jeden Augenblick unumgänglich unumgän glich zu "realisier "realisierende ende praktische Notwendig keit — Politik — und eine noch nicht einmal einmal theoretisch auch nur im entferntesten erledigte Angelegenheit — Metaphysik —, wie kann das anders als literarisch zusamm engebracht engebra cht werden? werde n? Wie kann kann man ein Greifbares und ein Ungreifbares Ung reifbares,, ein Endliches und konkret Bestimmbares wie jede politische Wirklichkeit mit einem Unabsehbaren Unabsehbare n * vereinheitlich vereinh eitlichen«? en«? Und wie kann kann von von solcher »Einheit" »Ein heit" g ar eine ein e Linie zur Auflösung A uflösung harter, konkreter - sozialer sozialer Problematik führen, führen, anders als in einer schwimmenden Unwirklichkeit? Und dennoch glauben wir dieses abenteuerlichste Verfahren zugleich als das realste und nüchternste, ja als das einzige aufweisen aufweisen zu können, können, wofern es nur gelingt, einesteils für den Endgültigkeitscharakter, der in temporären und scheinbar noch so variablen variablen Perioden Peri oden beschlossen liegt, den Blick zu öffnen, öffnen, anderenteils andere nteils die beiden fraglichen Begriffe so weit zu präzisieren, daß sie exakt zu handhaben sind. Das erste bedeutet eine rechnungsmäßige rechnungs mäßige Aufrollung und Abschätzung Abschätzun g der objektiven Möglichkeiten staatlichen und sozialen Geschehens, das zweite den Zugang zur Praxis. Es gilt vorerst, die Art der Geistesverfassung anzugeben, von der aus dieseja nur überblickhafte Überlegung allein mitzumachen ist, ohne im Vorhinein an tausend Einwänden zu ersticken, denen der weitere weitere Rahmen vorbehalten ist. Das ist diejenige Einstellung, die ein Maximum an Hoffnungslosigkeit Hoffnungslosigkeit enthä lt: ausallen Ele men ten und Fakt oren der gegenwärtig en oder ve rg an ge ne n 3
Politik und Metaphysik.
Ein einziger Oedanke, eine einzige bestimmte Umschaltung der DaseinsEmpfindung soll sowohl in dieser programmatischen Ausführung als in allen von ihr fortgehenden Darlegungen zum Bewußtsein gebracht werden. Dieser Oedanke betrifft das Auseinander oder das Zusammen zweier Äußerungsweisen des Lebens, betrifft hier die Beurteilung einer Beziehung, in der wir nichts weniger als einen Lebenspunkt — oder als einen nodus letalis — alles menschlich Existierenden sehen. J e d w ed e E i n ri c h t u n g und jedes F ortbestehen v on u nk at as t ro phalen Me nsc hen -Or dnu ng en — jede unkatastr ophale P oli tik — ist un m et ap hy si s ch ni ch t mö gl ic h. Politik und Metaphysik sind die beiden Äußerungsbereiche, deren Zusammenrücken in Frage st eht Wie ist das möglich ? Die jeden Augenblick unumgänglich zu "realisierende praktische Notwendigkeit — Politik — und eine noch nicht einmal theoretisch auch nur im entferntesten erledigte Angelegenheit — Metaphysik —, wie kann das anders als literarisch zusammengebracht werde n? Wie kann man ein Greifbares und ein Ungreifbares, ein Endliches und konkret Bestimmbares wie jede politische Wirklichkeit mit einem Unabsehbaren »vereinheitlichen«? Und wie kann von solcher »Einheit" ga r eine Linie zur Auflösung harter, konkreter - sozialer Problematik führen, anders als in einer schwimmenden Unwirklichkeit? Und dennoch glauben wir dieses abenteuerlichste Verfahren zugleich als das realste und nüchternste, ja als das einzige aufweisen zu können, wofern es nur gelingt, einesteils für den Endgülligkeitscharakter, der in temporären und scheinbar noch so variablen Perioden beschlossen liegt, den Blick zu öffnen, anderenteils die beiden fraglichen Begriffe so weit zu präzisieren, daß sie exakt zu handhaben sind. Das erste bedeutet eine rechnungsmäßige Aufrollung und Abschätzung der objektiven Möglichkeiten staatlichen und sozialen Geschehens, das zweite den Zugang zur Praxis. Es gilt vorerst, die Art der Geistesverfassung anzugeben, von der aus dieseja nur überblickhafte Überlegung allein mitzumachen ist, ohne im Vorhinein an tausend Einwänden zu ersticken, denen der weitere Rahmen vorbehalten ist. Das ist diejenige Einstellung, die ein Maximum an Hoffnungslosigkeit e nthält: ausallen Elem ent en und Fakt oren der gegenwärtig en oder ve rg an ge ne n
politischen Erfahrung jemals eine ethisch befriedigende Ordnung men sch lic hen Zus amm enda sein s entstehen zu sehen ohne den An sp ru ch darauf aufzugeben oder (wa s'd ass elb e ist) in die Fe rn e zu v e r t a g e n — — eine Einstellung, die also in denkbarster Kraßheit das Gegen einander dieses Dilemmas, das Problem in seiner wirklichen Gespanntheit spüren läßt. Somit wendet sich dieser Gedankengang zuerst an die, welche in den politischen Fakten dieses Menschenalters keine ethisch-produktiveren Kräfte finden als in denen der vergangenen und für die „Geschichte" nur den Sinn hat »Geschichte des Fehlsch lagens" . Geschichte als das von der ethischen Norm Abstechende ist ein Ablauf, dessen Stigma Mißlingen ist (während Mythos ein Ablauf ist, dessen Stigma Gelingen ist). Die hieraus folgende fundamentalste Voraussetzung alles Weiteren ist: jede scheinbare »Annäheru ng" an einen irgendwie »idealen Zu stand" als ein Aufder-Stelle-treten zu durchschauen und jedes dahin-zielende Manöver auf das schärfste abzulehnen. »Annäherung" ist der je de r Generation freistehende Einwand gegen das Ansinnen, eine Idee oder einen ethisch geforderten Inhalt in ihrem Menschenalter und restlos zu realisieren. Hier spielt die moralische Empfindung dafür hinein, ob ein endgültiger ethischer Status gleichsam ein »hohes Verdienst" der Menschheit vorstelle, folgeweise ein Ziel, nach dessen Erreichung eine Vollkommenheit statuiert sei, die einem andauernd »vorschwebt", die also nicht anders als in fernster Zukunft gedacht werden kann, weil man offenbar sich nicht vorstellen kann, was man nach Verwirklichung von »Idealzuständen" mit der Welt noch anfangen sollte — - es spielt, sagten wir, hier die moralische Empfindung dafür hinein, ob die Welt in einem Erfüllungsstadium aufhöre ode r — anfange. In der Tat fehlt das zur Konkretisierung jeder Absicht vorher notwendige » Er f a hr u n g s bild im Geiste" für die Situation . na ch Idealzuständen, und d a r u m sind, sie »unerreichbar". Ganz ernsthaft aber ist Kampf, Streit, Disharmonie und ihre Beseitigung ein Inhalt, ein Erfahrungsgehalt, während eine Endgültigkeit scheinbar keinen weiteren Raum läßt — es sei denn für Wiederholungen. Den Idealzustand' sofort zu denken — das ist ein anderer Ausdruck für lächerliche und undiskutierbare Absurdität für diejenige Daseinsempfindung, de r d am it da s En de de r T a g e g e g e b e n sc hi en e. Umgekehrt aber ist derjenigen Geistesverfassung, die auch nach einer vollkommenen Situation Inhalte anzugeben vermag, der Idealzustand kein Endpunkt, überhaupt keine Angelegenheit, der man sich in endlosen Generationen „annähert" — — sondern eine unausweichliche Voraussetzung, deren Erfüllung kein „Verdienst", sondern deren Nichterfüllung das Maximum an ethischer und sonstiger Minderwertigkeit vorstellt, das in der Welt überhaupt aufzutreiben ist Diese Ansicht wird vorausgesetzt Diese Ansicht aber wird von einer Bewegung geteilt, welche die Aufrichtung ethisch normhafter Zustände ebenfalls für eine bloße Voraussetzung ansieht, aber nicht in der Lage ist anzugeben, für welche I nh al te sie
die Voraussetzung ist Das ist der Ko mm un is mu s und An ar ch is m us jeder Schattierung. Kommunismus sieht wenigstens das Ze it -P ro bl em sozialer Veränderungen in der hier bejahten Überzeugung, daß Menschen nicht nötig haben; sich als Objekt menschlichen Geschehens anzusehen, menschlichen Dingen wie naturhaften gegenüberzustehen, gleichsam sich (wie man sein soll) dem — sich (wie man ist) unterzuordnen er sieht den ethisch geforderten Status, den ganzen, und nicht nur ein Stückchen seiner als au g en b l ic k li c h e Forderung an, d. h. er bezieht eine eventuelle Ruhe paus e im Erreichen nicht schon im V o rh i n ei n in sein Programm ein, insofern er es garnicht erst auf einen Bruchteil, auf ein »Scherflein" und eine .An nähe rung " einstellt — —. Die annäherungsweise Erlangung eines im Geiste »vorgesetzten« Zustandes ist das Erzeugnis einer n a c h h e r i g e n Anschauung des Weges von der Absicht bis zu ihrer Konkretisierung: die r ü c k schauende Betrachtung einer Linie, die zu einem erreichten Punkte führt, kann Annäherungs-Abschnitte feststellen aber die A bsi ch t kann diese AnnäherungsPunkte nicht wirklich einbeziehen, sonst s te ll t sie garnicht echt, sondern nur scheinbar auf den Zielpunkt, in Wahrheit auf den ersten Zwischenpunkt ab. Bezieht schon die Absicht od er der Wille die Ruhepausen zwischen den Etappen in das Programm ein, so bejaht er mehr als zulässig die Widerstände der wider» strebenden Materie, die auf alle Fälle zu verneinen seine einzige Aufgabe ist —eine Verneinung, deren speziellen Modus zu finden die Aufgabe der Vernunft ist. Das »Annäherungs "-Verfahren ist mithin eine Übertragung der historischen Denkweise auf teleologisc he Verhältnisse. Rein e th is ch ist im Verlaufe der rationalen Geschichte nach der zuvor angenommenen Perspektive keine Annäherung an einen ideengemäßen Zustand jemals zu konstatieren (das beweist allein die Tatsache daß es ein »vernünftiges" Geschichtsprinzip empirisch-wissenschaftlich d. h. anders als in philosophischer Spekulation nicht gibt) — — rein c au sa li t er sind nu r Annäherungen an irgendwelche mehr oder weniger willkürlich herausgehobenen Geschichtssituationen festzustellen. Folglich streichen wir sowohl aus logischen wie empirischen Gründen das Prinzip des Annäherungs-Verhaltens aus dieser Einstellung. Die hier nur als Resultat formulierte Erkenntnis der völligen Unbrauchbarkeit aller tatsächlichen politischen Gebilde und Tendenzen für irgendeine unheillose Ordnu ng, sofern sie von unpathetischer und realer Berechnung erwartet werden kann, hat sich zuv or unter eben diesen Gebilden und Tendenzen umblicken müssen. Sie hat vor allem feststellen müssen, daß jede sogenannte Partei das Stigma des Unzulänglichen in eminenter Weise trägt. Schon deshalb, weil je de ein Bruchstück von Richtigem enthält: — ein Bruchstück, das sich dennoch nicht mit den anderen zur ganzen Wahrheit »zusammensetzen" läßt. Dieses „Zusammensetzen« nämlich is t ja Ursache wieder einiger Parteien: der »vermittelnden" - — und gerade diese zeigen in ganzer Schärfe die Unmöglichkeit, entgegengesetzte Prin-
zipien, wie auch immer, einander zu akkomodieren. Daher denn auch die extremsten Ausdrücke der Parteiung, die ultra-konservative und die ultra-revolutionäre, logisch genomm en die diskutabelsten sind. Immerhin halten diese beiden Prinzipien einander mit Recht die schwersten Fehler vor, die man nimmermehr dadurch vermeidet, daß man, wie die »Mittel"-Partei jeder Art tut, beide Prinzipien dadurch »eint«, daß man beide — aufg ib t. Sollte nämlich in der Tat die Wahrheit darauf angewiesen sein, Entgegengesetztes zu vereinen, so könnte diese Vereinigung niemals auf Kosten des Entgegengesetzten geschehen, vielmehr wäre sie wohl oder übel genötigt, einen Ausdruck darzustellen, der zwar eine Einheit vorstellt, in der aber das ehemals Entgegengesetzte jedes voll und ganz aufrecht erhalten is t. Das dürfte, wenn auch nicht unlösbar, so doch schwieriger sein, als zu „vermitteln", indem man die zu vermittelnden Forderungen — fallen läßt oder was dasselbe ist, sich nicht „festlegt". Vor die Aufgabe gestellt, zwischen der Bedingung, ein Dreieck zu zeichnen und der entgegenstehenden Bedingung, gleichwohl eine Figur, deren Winkelsumme größer als zwei rechte sei, zu zeichnen der Aufgabe, in dieser Alternative zu .vermitteln", entzieht man sich nicht, indem man ein Viereck zeichnet, sondern man kann ihr nur gerecht werden, wenn man die ganze E b e n e der Planimetrie v erl äßt , und ein sphärisches Dreieck zeichnet. Dieses .d ie ganze Ebene verlassen" hat, wie sich herausstellen wird, für jeden Fall scheinbar unvereinbaren Widerstreits eine mehr als gleichnishafte Bedeutung. Jede Parteideduktion enthält ein Gemeng e von Richtigem und Falschem, je nachdem, ob sie prinzipielle oder konkrete Gegebenheiten meint, wobei in antipodischen Parteien Irrtümer oder Unterschlagungen faktisch schematisch überkreuz zu ordne n sind. Ist etwa die We rt -U ng leic hheit der Menschen eine kaum bestrittene Tatsache und die aus ihr folgende Notwendigkeit des Gegliedertseins von Menschen-Gesamtheiten eine schwer abweisbare Forderung, so wird diese prinzipielle Forderung, deren Evidenz konservative Parteien für sich auszunutzen pflegen, sofort zu einer Absurdität, wenn die konkr et e Gliederung in Augenschein genommen wird, die nach allen andern als Wert-Maßstäben vorgenommen zu sein scheint, und deren gleichfalls evidente Unsinnigkeit von jeder Art vo jk sh er rs ch af tl ic he r Bestrebung dazu mißbraucht wird, das .Pr inz ip zu leugn en und eine Gle ic hhe it zu stabilieren, die zwar insofern wirklich ist, als sie den konkreten Klassifizierungsstatus Lügen straft, außerhalb desselben aber weder !voihande n noch ethisch legitimiert ist In Wahrheit aber löst sich alle Parteitheoretik, wenigstens was die gegenwärtige n Kulturvölker angeht, für den auf moralische oder philophische Fundamenticrung Ausgehenden auf in ein vorgeschobenes Gerede zur Stützung der allein motivierenden wirtschaftlichen In te re ss en . »Die Wirtsch aft" ist der bei weitem umfangreichste und plausibelste Erkiärungsgrund fast sämtlichen politischen Verhaltens, der Schlüssel zu jeder Maßnahme jeder Partei, zu jeder Äußerung,
mag sie auch noch so abstrakt anheben. Mehr oder weniger offen auch parteitheoretisch zugestanden, besteht das »wirtschaftliche Interesse" der Saturierten in Verteidigung des Erreichten, der »Ordnung", Konservativismus, das der Enterbten im Umstürzen des Bestehenden, revolutionärer Bewegung, das der Dazwischenstehenden in gerin ger Umänder ung. Das Problem jeder Partei besteht bloß darin, ihr Privatinteresse so allgemeingültig als irgend möglich zu formulieren, gegebenenfalls sogar faktische Kompro misse zu schließen, an deren Ende jedoch jedesmal die bestimmende Absicht einer bestimmten wirtschaftlichen Schicht steht. Das wirtschaftliche Interesse ist mit einer solchen Wucht auf allen Wegen moderner Politik entscheidend, daß der Feststellung kaum Widerspruch begegnen wird: daß, unerachtet des Bestehens eines Komplexes nicht-wirtschaftlicher Beweggründe, es doch die Ausnahme ist, wenn das wirtschaftliche Interesse nicht die Richtung anweist. Poli tik — das heißt heut e im wes ent lic hen : Wi rt sc ha ft Wir wollen nicht »den Geist« gegen »das Materielle" in dem Sinne ausspielen, daß wir „dem Materialismus" die üblichen Vorwürfe machen und ihm gegenüber auf die ideellen »Güter« des Lebens weisen und eine Rettung in einer »Abkehr« vom Materiellen und im »Geistigen« eine »Zuflucht« erblicken. Wir haben keineswegs die Absicht, eine Alternative: Kör per o de r Geist aufzustellen. Wir wagen sogar die Äußerung, daß wir kaum der Wichtigkeit, die dem Materiellen, mehr oder weniger »übertragen«: körperhaften Interesse der Menschen zuerkannt wird, Abbruch tun wollen. Wir wollen nur feststellen, daß dieses Interesse nicht vertreten und nicht wahrgenomm en werden kann von ihm selbst. Wir wollen eine der Grundtendenz heutiger Politik widersprechende und ihr ungeheuerlich erscheinende Umkehrung zum Ausdruck bri ngen: als völlig selbstevident scheint heute zu gelten, daß niemand anders als der Interessierte selbst sein Interesse wahrnehme. Wir wollen dem die Möglichkeit entgegenstellen, daß der Interessierte selbst absolut unzuständig sei, sein Interesse zu vertreten, wenn er sich inmitten eines Interessenchaos befindet. Aber, wird man entgegenhalten, die Unzuständigkeit des Interessierten selbst wird ja korrigiert durch das Gegen-Interesse, das, gleichviel nach welchem Vertretungssystem, seinem Umfang entsprechend in die »Regierung« gelangt — in der sich Interessen und Gegen-Interessen so »a us g le ic he n« müssen, daß der objektiven Ger echtigkeit Genüg e geschi eht Hierzu ist zu sagen: das, was heute »Regierung« heißt, ist — selbst im gerechtesten Falle — der Schauplatz des verkürzten Interessenkampfes und das verkürzte Bild der Machtqu anten , die im Staate unverkürzt toben. Woh er sollte aus dieser bloßen Verkürzung ein ethisches Moment gewonnen werden, d. h. wie sollte durch die Umwandlu ng des direkten Widerstreites der Wirtschaftsschichten in den ihrer Vertreter der Charakter des Kampfes beseitigt werden, in dem der Stärkere siegt, der Sch wächer e unterli egt Der Charakter des Kampfes so ll garnicht beseitigt
werden, das Zeichen des »friedlichen Kampfes« ist das Kompromiß, auf das sich die Partner einigen müssen, wird behauptet werden. Nun, der „friedliche Kampf" oder das Kompromiß, das Hauptelement heutiger Politik, ist der latente offene; Kompromiß ist immer, muß immer aufgeschobene Vergewaltigung sein — Kompromiß ist die momentane Einigung zweier Feinde, weil die Überlegenheit des einen nicht ausreicht; Kompromiß ist das, wenn auch noch so sehr alle offene Gewalt verschmähende, dennoch in der Mentalität der Gewalt liegende Produkt, weil die zum Kompromiß führende Strebung nicht von si ch aus, sondern von außen, eben von der Gegenstrebung, motiviert wird, weil aus jedem Kompromiß, wie freiwillig auch immer aufgenommen, der Zwangscharakter nicht weggedacht werden kann. »Besser w äre es anders ", ist das Grundempfinden jeden Kompromisses. Das Komprom iß oder die Resultante aus einander widerstrebenden wirtschaftlichen und politischen Tendenzen ist zwar der Ausdruck der augenblicklichen Kraft-V erteilu ng, aber nie der Ausdruck einer et hi sc h normierten Situation. Denn diese ist nicht mit dem Kompromiß identisch, es sei denn, daß man als Maßstab des Rechts Macht oder Machtausgleich setzt. Dann aber trägt das »Recht« zugleich die Verantwortung für alle Katastrophen, die die Macht-Verschiebung bedingt, und wir, die wir das gänzliche Fernsein irgendwie vernichtender Umwälzungen als d;as Symptom einer moralischen Ordnung aufstellten, können diese Identifikation von Recht und Macht nicht vornehmen lassen — können somit den Kampf, auch nicht den »friedlichen«, das Kompromiß, in keinerlei Gestalt als Vertreter der Gerechtigkeit fungieren lassen. Wi r müssen dem Begriff des »Kräfte-Ausgleichs«, des Kompromisses, hier wenigstens andeutungsweise die Vorstellung einer anderen Möglichkeit entgegenstellen, gemäß der ein Kräftekomplex sich verhalten kann: es können Kräfte, sich subtrahierend oder verstärkend, sich irgendwie mechanisch „ausgleichen" - und es können Kräfte sich so »ausgleichen«, daß sie ein »System« bilden. Das KräfteSy ste m ist das Gegenstück des Kräfte-Kompromisses. Ein Kräfte-Kompromiß im Sinne des Ausgleichs oder der Kraft-Resultante gibt es überall in der Natur, auch in jeder noch so gewillkürten und chaotischen Konstellation — das KräfteSystem nur im Falle des »Organismus». Beim Kräfte-Ausgleich wirkt.jede Kraft rein von si ch aus und wird erst im Tr ef fpu nkt von den anderen beeinflußt, gehemmt oder gefördert, der Ausgleich wirkt mechanisch — beim Kräfte-System wirkt jede Kraft so, als ob die anderen von v o r n h er e i n in sie einbezogen wären, wirkt jede Kraft so, als ob eine Realität des Auf-Ein-Mal aller beteiligten Kräfte vor jeder einzelnen existent und wirksam gewesen wäre, eine Realität des Zusammen, von der aus eine die einzelnen Kräfte differenzierende und ordnende Tendenz ausgegangen wäre - als ob jede Kraft gl ei ch , im Be gi nn , im Entstehungspunkt die Wirkung und Beeinflussung aller anderen erfahren hätte — so en ts te he n sie gleich geordnet, — der Ausgleich wirkt or ga ni sc h.
Dieses Moment der Beeinflussung vor der Entstehung, der ganzen Realität vo r der einzelnen, li eg t nicht in ner hal b de s Be re ic hs der einz elnen Kräfte — weil diese eben als Einzelheiten Verselbständigungen sind, die sie nicht hätten werden können, wenn sie nicht nacheinander als Elemente der »Entwicklung" auf den Plan getreten wären, um irgendwann mechanisch auf einander zu prallen weil eben diese Einzelkräfte Verselbständigungen sind, die sie nicht hätten werden können, wenn sie als im Vorhinein, gleichzeitig einander bestimmende Tendenzen aufgetreten wären, die sich wie Organelemente hätten zueinander einstellen müssen. Der Schauplatz eines solchen ursprünglichen Zusam men der Einzelkräfte ab er wäre im Anbeginn ein geistiger gewesen: — ihr organisches Gefügtsein wäre in einer C o n c e p t i o n vorerst existent gewesen. Die Ganzheit ist aus dem ganzen Umkreis der Teile nicht zu ermitteln, weil die Teile verselbständigte Teile sind. Exemplifizieren wir diesen allgemeinen, in groben Umrissen angegebenen Gedankengang auf den konkreten Sachverhalt, so ergibt sich: Die Tendenzen der Wirtschaftswelt zeigen sich als im Konflikt befindlich. Also sind es selbständige Kräfte, die sich bestenfalls im Zustande mechanischen Ausgleichs halten. Aus diesen Selbständigkeiten aber läßt sich ihre ursprüngliche Ganzheit oder ein Analogon ihres organhaften Zusammen deshalb nicht mehr ermitteln, weil die Tendenzen als Konflikt ermöglichende d. i. als Selbständigkeiten eine andere Gestalt und eine andere Richtung angenommen haben, als sie im Zustande ihrer organischen Verbundenheit aufgewiesen hätten. Aus keiner Kombination oder Permutation der Partei-Tendenzen kann eine normative Ordnung des Wirtschaftsganzen je sich ergeben, weil das, was ihn en Wirtschaft heißt, mehr oder weniger eine Konjunkturformel sein muß und das, was in Wahrheit Wirtschaft ist, nicht aus den Einzelerscheinungen der erkrankten Wirtschaftswelt ableitbar ist, sondern, wie jede organische Ganzheit, selbst wieder nur aus einer außerhalb ihrer liegenden Zweckvorstellung begriffen und vollzogen werden kann. Das heißt: Das P r o b l e m de r Wi rt sc ha ft - das Hauptthema aller menschlichen Kämpfe — ist innerhalb seines eigenen Gebiets nicht zu lösen. Aber es ist auch mit- «dem Geist" nicht zu lösen.. Es ist in letzter Zeit in Deutschland und außerhalb der Versuch gemacht worden, die politische Chaotik dadurch zu reparieren, daß man sich auf die Forderung Piatons besann und das von Natur aus selbstverständliche Gebot, daß der »Vernunft" auch die »Herrs chaft" zukomme, dadurch in die Realität zu übersetzen trachtete, daß man »den Geistigen" auch irgendwie die M a c ht zuzuerteilen gedachte.
Dieser rein logisch unbezweifelbar einwandfreie Gedanke war und muß nur deshalb zu völliger Sterilität verurteilt bleiben, weil die intensivst erforderliche Einsicht fehlte, daß ein solcher Versuch zwar einer richtigen Idee entsprechen würde, diese aber absolut formal sei. Denn so sicher »der Geist" der Inbegriff aller Lösungen aller Fragen ist, so sehr hängt jede ko nk re t e Lösung von einem ganz bestimmten Inh al t dieses sonst ganz formalen Inbegriffs ab und so sicher ist dieser Inhalt nicht: die faktische Gesamtheit der empirisch vorhandenen »Geistigen*. Durch deren Sammlung würde für den Geist bestenfalls etwas wie eine »Atmosphäre" geschaffen, bessere »Arbeitsbedingungen« — ein Vorteil, der hundertfach zu teuer bezahlt wäre durch die so bestechende wie alles vernichtende Vorstellung, daß die so gesammelten Geistigen sich nur angelegentlichst mit Politik zu befassen brauchten, damit die Leitung menschlicher Angelegenheiten in der Tat den denkbar besten Händen anvertraut sei. Hier werden nämlich die relativ mehr oder minder Geistigen, bestimmte empirische Personen, an die Stelle gesetzt, die logisch, „dem Geist" zukommt, eine Verwechselung, die durch das banale Sophisma: »der Geist" existiere eben nur in einzelnen konkreten Personen, gestützt wird. Die Banalität, daß geistige Realitäten ohne empirische Träger nicht vorstellbar sind, wird dazu benutzt, um zu dem Schluß zu verführen, daß man »Geist« »sammle«, wenn man die Träger addiert Da nun aber jede mögliche »Sammlung «, Potenzierung des »Geistes" als solchen völlig die Angelegenheit eines psychischen Innen ist und somit auf einer gänzlich ander en Ebene vor sich geht als die Beziehungen der physischen »Geistigen" — nämlich auf einer psychischen oder De nk ebene und nicht auf einer irgendwie »äußeren" — so erhellt zunächst, daß eine Sammlung der Geistigen zur Steigerung des »Geistes« bestenfalls eine Beziehung hat wie etwa eine gute »Arbeitsstube" zur Lösung eines Gedankenganges. Geist muß »gesammelt« > werden, um nach auße n zu treten. Völlig richtig. Aber diese Sammlung geschieht nicht in derjenigen Sphäre, in der sich die physiologischen •Verkörperungen" geistiger Begebenheiten aufhalten. Aber, so argumentiert der sogenannte Aktivismus, es kommt auf Potenzierung des Geistes als solchen ja garnicht oder höchstens insofern an, als es zur Bewältigung praktischer Probleme vonnöten ist Dazu ist zu sag en: es ist jene gänzlich fo r m a l e Auffassung von Geist, welche die Gleichsetzung von »Geist« und »Geistigen " möglic h macht. Die Geistigen sind Personen, w elche eine B eziehung zum »Geist«, d. i. zum äußersten . denkbaren Steigerungspunkt geistiger Bewegung smöglichkeiten, aufweisen. Diese Beziehung äußert sich weitaus am häufigsten unpolitisch. Es ist nun auf keine Weis e einzusehen, wie jene unpolitische Beziehung zum Geist dazu fruchtbar Diese Art gemach t werden sollte, ger ade politische Wert e zu produzieren. »Geistigen« sind quoad Politik um nichts zuständiger als politische Fachleute, denen aber diese unpolitische Beziehung zum Geist fehlt. Und diejenigen
Geistigen, die eine politische Beziehung zum Geist aufweisen, sich also politisch betätigen, werden, wie dargetan, durch Zusammenschluß ihre geistige Beg ab un g nich t vertiefen. Aber es so ll nichts vertieft werden, meint der Aktivismus, es soll g ew ir kt werden. Man besinne sich: zum W ir ke n gehört ein Angriffspunkt, der ein Berührungspunkt ist zwischen Wirkendem und Material. Wenn zwischen einer geistigen Norm oder einer geistigen Haltung einerseits und den Faktoren der Erfahrungswelt andererseits ein Abstand klafft, der eine direkte Berührung nicht zuläßt, so kann m o m e n t a n nicht ge wi rk t werden wenn man die geistige Haltung nicht verläßt und „Realpolitik" treibt. (Ein umfassendes Beispiel bietet etwa die Geschichte der Sozialdemokratie) Diese Realpolitik ist das, was allenthalben bereits betrieben wi rd , und sie s te ll t schon den Abstieg dar aus jenen der Menschheit ja nicht unbekannten geistigen Haltungen. Der Aktivismus w 11 noch einmal verkürzt dieses Herabsteigen ad oculos demonstrieren. .Geist" h ei ßt ja gerade: Nicht -Wirku ng, wenn praktisches K om p ro m i ß erforderlich, heißt: Bewahren des Richtungspunktes bis zur Wirkungs-Möglichkeit. Geist, der wirkt — ist unversehens „Realpolitik" und unterscheidet sich in nichts von der betriebenen. Geist ziplt nicht üb e rh aupt auf Unwirksamkeit und Esoterik, sondern nur so lange als Wirkung — Zugeständnis bedeutet. Und daß ohne Zugeständnisse ein angriffsloses Visavis von Norm und Erfahrung besteht, kann kaum bestritten werden. Aber man vergegenwärtige sich doch einmal: was bedeutet denn diese viel gebrauchte Vorstellung „geistig" , wenn es sich um Bearbeitung politischer oder wirtschaftlicher Materie handelt? Was heißt „geistige Behandlung" sozia'er Problematik? Hier sind zwei Faktoren: die politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten und das geistige Vermögen. Dem geistigen Vermögen kann einzig und allein die Aufgabe zufallen, diese Gegebenheiten in einer Weise zu or dnen , nach Ursache und Wirkung in tausenderlei Gestalt einzuteilen und diese Geteiltheiten so zu rangieren, daß die also hergestellte Ordnung reibungslos läuft. Das aber versucht die politische Überlegung seit Menschengedenken. Aber es muß „geistig" versucht werden. Was bedeutet geistig? Bedeutet es „durch einen geistigen Menschen"? — und es können nur die bisher Unpolitisch-Geistigen gemeint sein — so ist wahrhaftig die Hoffnung gerin g, etwa von einer Befähigung zur Gefühlsgestaltung die Ordnung wirtschaftlicher Phänom ene zu erwarten. Denn der dem so Befähigten eigene Grad von „Kultur«, von „Menschlichkeit", welcher der Politik „gut täte«, ist es ja gerade, der den also Ausgezeichneten un po liti sch macht, weil zwischen seiner geistigen Einstellung und den Tatsachen jener Riß klatft, der ihn ahnen oder wissen ließ, daß seine „Menschlichkeit" auf dem Wege vom unwirksamen Geist zu den Bedingungen der Wirtschaftswelt sich in Nichts verwandle, — — oder, aufrecht erhalten, sich in jenen wei terh in unwirksamen Beschwörungen der Allgemeinheit ausdrückt, die man aus den Äußerungen der
„politischen Dichter" kennt, und die maßlos verschieden sind und sein müssen von der äußersten politischen Produktivität, die das Ganze der sozialen Komplexe begreift. Denn es läßt sich zeigen, daß gewisse normative, p s y ch o lo g is c h und eth isch begründete Ein zel -Fo rderun gen , die zu den Situationen de r aktuellen politischen Welt kontrastieren, - daß solche Einzelforderungen, wie sie von geistigen Menschen, die sich der Politik zuwenden, auszugehen pflegen, sich zwar in einem Einzel-Gesetz formulieren ließen, — - daß aber die Durchführung solchen Gesetzes die ganze aktuelle politische Welt revolutionierte, und von einer EinzelSchwierigkeit zu prinzipiellen führt, weil nicht zwei Einzelheiten, nicht Symptome, sondern ganze Ebenen gegeneinander stehen. Das bedeutet, daß hier ni cht s geschieht, wenn Dichter oder Wissenschaftler sich sammeln und politisch werden — hier, wo der politische Genius selbst beansprucht wird. Die äußere „Sammlung" der Geistigen aber als das Moment „geistiger" Politik einzustellen, ist, abgesehen davon, daß es genau so anfechtbar, wie der Gedanke des Parlamentarismus überhaupt - ist, wie ausgeführt, jene Verwechslung, welche „Internationale des Geistes* sagt und „Internationale der Schriftsteller" bedeutet. Oder heißt „geistig« eine besondere Met hod e der Behandlung politischen Materials? Dann könnte es nur den Sinn eines lo g is c hen Verfahrens haben. Hier aber ist nicht das Gebiet der re in en Logik, da durch Begriffe und Schlüsse „richtig" und „falsch" entschieden wird. D aß die Linien der Kausalität, nicht wi e sie verlaufen, sind logi sch regelbare Angelegenheiten, und die Logik ist so durch und durch Allge mein wiss ensch aft, daß sie für ein Spezialgebiet zu einem So n d er verfahren gestalten zu wollen, zu einem leeren Prunken mit einer unkonkretisierbaren Über-Berechtigung werden muß. Das Prädikat „geistig" als Attribut der Politik bezeichnet also eine leere Wünschbarkeit und eine ethische Forderung wie das Postulat „gut" — so lange unter den Bedeutungen, die ihm seine Erfinder gaben, kein reales Agens zur Bewältigung höchst drastischer und gefährlicher Notlagen enthalten ist. Es verflüchtigt sich zu einem formalen Erfordernis. Geist als solcher ist nichts Hinzukommendes, heißt nur das formal richtige Umgehen mit den Gegebenheiten, und die Unmöglichkeit, eine katastrophenl ose Ordnung dieser herzustellen, kann an den Ge g eb en h ei t en liegen oder an dem Ni ch t- Vo rh an de ns es in an de re r. Wie eine Aufgabe unlösbar sein kann, wenn die Zahl der bekannten Fakioren zu klein und die der unbekannten zu gro ß ist, so kann die Unlösbarkeit des politisch-wirtschaftlichen Problems daran liegen, daß die Faktoren, ; die in Ordnung gebracht werden sollen, so, wie, sie si nd , ni ch t au srei chen . Nicht, als ob ne ue wirtschaftliche Fakten zu eruieren seien - es könnte sein, daß das gesamte Wirtschafts-Gefüge deshalb nicht in Ordnung gebrach t werden kann, weil es als ein in sich geschlossenes, r u h en d e s Ganzes
betrachtet und in Angriff genommen wird, während es in Wirklichkeit eine (als Ganzes) abhängige Größe ist. In dem bloß-wirtschaft lichen Material finden sich diejenigen Elemente, welche machen, daß alle anderen zueinander »passen«, nicht, und in der zu dieser Wirtschaftswelt gehörenden geistigen finden sie sich auch nicht Denn — und dies ist ein Sachverhalt von einer vielleicht anfangs befremdlichen, indessen kaum zu überschätzenden Bedeutung -: D ie se W ir ts ch af ts welt und diese — scheinbar doch ganz heterogene — »geistige« Welt mitsamt allen ihren das Wirtschaftsdasein revolutionierenden Forderungen, mitsamt allen ihren scheinbar materie-femen Betätigungen — — bedingen einander. Das will sagen: wenn das geistige Verhalten, das wir als in einem Umkreise herrschend beobachten können, der weif über den Unterschied von »Gebieten" ode r »Strömungen« oder »Richtunge n" innerhalb des Geisteslebens hinausgeht, nicht ein bestimmtes Stigma aufwiese (zu dessen bloßer Sichtbarmachung schon die Aufstellung eines anderen Types geistiger Möglichkeit notwendig ist und hier versucht werden soll), d as es in de r Ta t au fw ei st , so könnte diese äußere Ordnung der Dinge nicht diese totale Unberührbarkeit von geistiger Motivation aufweisen, die sie in der Tat aufweis t Da das Prinzip der „Herrschaft des Geistes" in formaler Weise richtig ist, so muß diese vollkommene Unangreifbarkeit der materialen, politischen, wirtschaftlichen Welt durch den „Geist" daran liegen, daß es keine inhaltliche geistige Wesenheit gibt, — wie weit man auch diesen tatsächlich vorhandenen Bereich geistiger Gegebenheiten durchläuft die diesen äußeren Komplex sogleich zu bewegen vermöchte. Da sich vom Geist her nichts faktisch ändert, so muß geschlossen werden: Dieses Wir tsc haft sch aos und diese geisti ge Welt passen zusammen. Es findet sich in dieser kein eingreifendes Motiv (außer dem allgemeinen, formalen). Woran liegt das? Es liegt daran, daß die maßge bende geistige Einstellung, die durchgängig ist und die mit dem konkreten Dasein dieser Epochen übereinstimmt, die ist: daß alle geistige Wirkung keine augenblickliche nach Art der körperlichen, sondern eine an Unsichtbarkeit grenzend ferne und allmähliche ist: daß mithin geistige Faktoren nur nach langen Abläufen irgendwie merkbar und wertbar, materielle Faktoren aber augenblicklich und sofort einsetzbar und wirkend gewertet werden: daß somit allem Geistigen eine zeitliche Na ch tr ä g li ch ke i t eigen sei, der die Regelung des Körperlichen zeitlich voranzugehen habe: daß Körperhaftes überall die Notwendigkeit momentaner Regelung zeige, demgegenüber Geistiges jedweden unbestimmten Aufschub vertrage. Diese Auffassung ist im innersten identisch mit jener, daß das Geistige nur der „Überbau" der materialen Welt sei, deren eigentlich bestimmende Mächte in ihr selbst lägen.
Aber die gegenteilige, .idealistische" Perspektive, daß der »Geist" es sei, der die bewegende Kraft bedeute, macht es sich zu leicht, wenn sie die Wirkung dieses bewegenden Agens »schließlich und endlich" einmal in mehr oder weniger ferner Zukunft erwartet — —. Denn mit der Aberkennung der s o f or ti g en Wirkungsfähigkeit des Geistigen m u ß dieses wohl oder übel zum unnotwendigen »Überbau« werden, mögen auch die .Idealisten" noch, so intensiv das Gegenteil behaupten. Was nicht in bestimmten Sachlagen sofort »da ist", ist überhaupt nicht da, muß bei der Ordnung der wichtigsten Sachlagen unausweislich vernachlässigt, d. i. zum „Überbau" werden. Der Geist, als etwas Nicht-Augenblickliches an Wirkungsfähigkeit verstanden, ist das Stigma, das diese gesamte" geistige, kulturelle Welt zeichnet und sie zu etwas der augenblicklichen Eingriffs-Fähigkeit und »Notwendigkeit des kö rp er ha ft en Daseins" N a c h g e o r d n e t e m macht und zu etwas allen Verrenkungen und Erkrankungen dieses körperhaften „wirtschaftlichen" Daseins eingriffsunfähig Gegenüberstehendem, zu etwas — im Effekt — dazu Passendem. Aber man wird entgegenstellen: das sei nicht das Stigma dieser geistigen Welt, das sei. das Stigma des Geistes überhaupt, als solchen — auf eine andere Weis e als mehr oder weniger allmählich und ferne zu wirken, sei sämtlichen Mitteln des Geistes überhaupt unmöglich — Geist heiße im Gegensatz zu Körper: Fernwirkung. Darauf antworten wir: Sollte dies so sein, sollte diese „Fernwirkung" auch ze it lic h unumstößliches Gesetz sein, so gilt es, sich darauf gefaßt zu machen, daß die körperhaften, materiellen Bewegungen vom Geist überhaupt niemals eingeholt werden. Es gibt keinerlei exakten Anhalt dafür, daß sich nicht ständig und ewig körperhafte Notwendigkeiten vor geistige Erfordernisse drängen und diese in infinitum hinausschieben, es gibt — abgesehen von einem transzendentalen Dogma von ewiger Weltverbesserung — keinerlei Garantie, mit Sicherheit aber keinerlei h an dhabbares Moment dafür, daß unter dieser Perspektive nicht das Chaos in Permanenz erklärt wird samt allen theoretisch ungeheuerlichen Konsequenzen, die bis zur Selbstaufhebung jeder Geltung führen. Man gewöhne sich, in Alternativen zu denken, und hüte sich, „Unmöglichkeiten" zu stabilieren, deren antipodisch entsprechende „Möglichkeit" nur zu Ende geführt, noch nicht einmal — denkbar ist. Wi r werden also, von undenkbaren Folgerungen genötigt, eine Weile bei der Erwägung von Möglichkeiten zu verharren haben, die, wenn auch zu einem Teil als Aussichtslosigkeiten verschrieen, dennoch eigentlich niemals — wie es doch bei echten Aussichtslosigkeiten sein müßte — zu Gleichgültigem und zu Nichts geworden sind, sondern, wenn auch problematisch, immer dringend dagewesen sind: der Möglichkeit einer unmittelbaren und augenblicklichen geistigen Wirk-
samkeit, einer Eventualität, die allerdings aus einer Realitätsempfindung stammt, die unter den Kräften, die diese Kulturwelt ausmachen, nicht anzutreffen ist Die Möglichkeit geistiger Momentanwirkung ist mithin unerläßlich oder: es ist logische Anarchie zu gewärtigen. Es entsteht die Frag e nach dem Paradigma einer solchen Wirkung. Es zeigt sich, daß nur ein Fall eines sogleich sichtbaren Effekts geistiger Einwirkung bekannt ist: der der physiologischen Beherrschung des Körpers durch geistige Mome nte auf dem ganzen übrigen Felde des „Geistes" aber nichts dergleichen bekannt ist. Es gibt also eine solche Gegebenheit, aber sie gehört nicht in die Politik. Gibt es nun im ganzen Umkreis des außerphysiologischen Bereichs keinen Anhalt für eine Eingriffsmöglichkeit des Geistes in die Dinge der menschlichen Außenwelt nach Art des Körpers? Wir müssen antworten : es gibt keinen we nn nicht „die Na tu r" , das Naturgegebene des psychophysiologischen Phänomens — modifizierbar, behandelbar ist. Hier ist ein kritischer Punkt von kaum überschätzbarer Wesentlichkeit: eine Stelle, an der „Ta tsachen" auf ihre „Tatsächlichkeit" hin zu überprüfen sind. Daher ein Punkt jahrhundertelangen Stockens. Worauf kommt es an? Es muß dem Wirken des Geistes die Möglichkeit gegeben sein, mit der gleichen Unmittelbarkeit, mit der gleichen unzweifelhaften, unmetaphorischen Drastik und Plötzlichkeit da zu sein wie dem des Körpers — — sonst verbürgt nichts das Aufhören seiner ewigen Nachträglichkeit Augenblicklich einsetzbar aber ist nichts absolut Körperloses. Der Geist oder eine geist ige Gegebenheit als s o l ch e ist nicht augenblicklich einsetzbar. Um die Dinge des Außen anzugreifen wie ein Arm, wie eine Maschine oder wie ein Zahlmittel genügt nicht ein — im Vergleich zur übrigen Erfahrungswelt: gestaltloses Etwas, wie es selbst die bestimmteste Überlegung ist und das deutlichste Gefühl. Selbst die genaueste Reflexion und die intensivste Empfindung verlieren, den widerstrebenden Reflexionen und Empfindungen, die die Erfahrungskörperlichkeit auf ihrer Seite haben, im Kampfe ausgesetzt, ihren undurchbrochenen Umriß, ihre Härte, die absolute Bestimmtheit, die im Geiste Ersatz des Körperhaften bedeutet sie verlieren ihre unantastbare Eindeutigkeit und damit ihr Wesen und ihre Ersetzbarkeit. Hier ist keine Mathematik: also gibt es keine Unbezweifelbarkeit, die vermög e anschauungsmäßiger Logik durchdringt. Mathematik nämlich heißt Geist und Körperhaftes, d. i. gesetzmäßige Anschauung.
Etwas der Mathematik Entsprechendes ist notwendig. Gesetzmäßige Anschauung ist die Betätigung des Geistes auf der Ebene der Sinne, ist »reine« Sinnlichkeit. Gibt es also zu dem Gebiet der nichtindividuellen Realitäten keine Sinnenhaftigkeit, kein Feld gesetzmäßiger Anschauung, keine S in ne — so ist der »Geist" ewig ein, im buchstäblichsten Sinne: »losgelöster« Schemen, der ewig dem Zwang der körperhaften, sogenannten „Wirklichkeit" weichen muß. Diese Alternative gilt es sich in ihrer ganzen Kraßheit zu vergegenwärtigen: es wird zur Auflösung der Probleme der Menschen-Ordnung, zur Aufhebung der ganzen zwischenindividueilen Pathologie nicht weniger verlangt als eine Modifizierbarkeit des Naturgegebenen: der psychophysischen Sinnlichkeit Man mag das für unmöglich erklären — aber man sei sich zunächst darüber klar, daß man damit im pl i c i t e fast alles für absolut unmöglich erklärt, das aus der unaufhörlichen Katastrophe des Völkerdaseins herausführen könnte — man sei sich dann bewußt, daß man damit nicht nur jedes politische Beginnen, dessen Notwendigkeit doch unausweichlich ist, dennoch für zweck- und ^ sinnlos erklärt — daß man einen ewigen Irrsinn damit von diesem Augenblick an statuiert. Ehe man sich zu dergleichen entschließt, sieht man wohl auch eine sogenannte Unmöglichkeit noch einmal genauer an. — Um die Verantwortung für die Behauptung der Unerläßlichkeit eines Abenteuers, wie es die Bewältigung eines bis heute sicherlich nicht durchdrung enen Feldes darstellt, übernehm en zu können, ist. vorerst klarzustellen, wie denn überhaupt ein sozialer Problem komplex mit einem — (mit Einschränkung g esagt ): naturwissenschaftlichen zusammenhängen könne, sodann, wie sie derart verknotet sein können, daß hier eine leben- und todbedingende Verbindung liege. Wir wollen zuerst mit einigen dogmatischen Worten angeben, welche Beziehung hier gemeint ist Politik gilt gemeinhin als die Aufgabe der konkreten Ordnung von Menschengesamtheiten unter einstweiliger Beiseitesetzung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Möglichkeiten des Menschen. Politik betraf gleichsam nur die Ordnung des physiologischen Nebeneinander, indessen die psychi sche Sphäre, die kulturelle, der Bereich der „Bestimmung des Menschen«, als Reservat des Ein ze ln en angesehen war. .. Letzteres war darum auch nicht „bindend", es lag außerhalb des „Staates". Die Ideen, die der Einzelne sich über seine personale Existenz machte, waren für die Wel t des Staates höchstens insofern da, als er ihnen irgendeine kulturelle Institution überließ, und damit war dieses Gebiet ne be n dem staatlichen bestimmt, das seinerseits von eigenen Faktoren kausiert wurde. Der Ursachen- und damit der Zielpunkt aller gegenwärtigen Politik liegt, im Kern, im mer no ch in der Rege lung des phys isch en
Ausgleichs, sei es der Einzelnen, sei es der Völkerges amtheiten untereinander. Die Politik blickt auf Vielheit, der Einzelnen oder de r Völker, und will sie rangieren. Nach Erreichung dieser Ordnung hätte die Politik als solche kein Programm mehr, sie würde, heute vor eine solche Frage gestellt, antworten: alles «Fernere» werde sich »da nn« ergeben, es handle sich heute um den Zwang der augenblicklichen »Wirklichkeit" und nicht um eine entlegene »Möglichkeit". Unter Zugrundelegung des hier ausgeführten Gedankens, der die Umkehrung von all dem ist und der sagt: daß sich diese sogenannte „Wirklichkeit" durchaus nicht „verwirklichen", durchaus praktisch auf keine Weise einrichten lasse, ohne jene „Möglichkeit" vo rh er einbezogen zu haben — daß Politik, fü r si ch ge nommen, spezialisiert, abgetrennt, als „Politik" gehandhabt, mit Katastrophenpolitik ewig identisch sein müsse, daß jene realitätferne Möglichkeit vorher ge regelt zu haben augenblicklich pra kt is ch unerläßlich sei, daß es also einen Fehler von unabsehbaren Konsequenzen bedeute, das teleo logische Gebiet neb en statt vo r das staatliche zu lokalisieren, auß er Kausalnexus statt in de n be st i m m en de n Kausalnexus zu setzen, und zwar nicht, wie gewöhnlich geglaubt wird, um des Kulturellen, sondern um des Physiologischen willen — unter Zugrundelegung dieser Erwägung müssen wir also ein anderes Bild von „Politik" gewinnen. Es wird hier, das sei wiederum unterstrichen, keine »idealistische" Politik gegen eine materialistische gefordert — nicht »Geist* gegen „Materie" ausgespielt, sondern eine we i. te rg es pa nn te Vorstellung des psychophysischen Verhältnisses gegen eine zu enge. Der Begriff von Politik, den wir im Auge haben, ist genötigt, alle Ungelöstheit, die sich zunächst in einem psychischen Innen abspielt, einzubeziehen und auf irgendeine Weise vor de r P ra x i s zur Entscheidung zu bringen, nicht nur um der sogenannten „Kultur" willen (der etwa eine rein materielle Sphäre gegenüberstünde), sondern gerade und erst recht um dieser materiellen Sphäre willen. Diese materielle Sphäre, die heute so verzweifelt umkämpft wird, schätzen wir nicht etwa als zu groß, wir urteilen, daß sie zu klein sei, und daß ihr Erweiterung not tue. Es müssen m ehr und andere materielle Angelegenheiten in den Gesichtskreis der Politik gebracht werden, um die Regelung der physischen Welt zu ermöglichen — das politische Unternehmen scheitert, wie in manchem anderen Fall, nicht an der Größe, sondern an der Kleinheit seines Umfanges. Die Erweiterung und Einbeziehung heute als apolitisch angesehener Komplexe bringt nämlich eine Verschiebung des Wertakzentes herbei, der auf den einzelnen materieilpolitischen Tatbeständen ruht: sie verhindert Überbewertungen, die im zwischenmenschlichen Organismus zu psychischen Verknotungen und fixen
Gebilden werden, von denen Sterilität und Auflösung ausgeht Um konkret zu sein: eine so ungeheure Bedeutung das rein wirtschaftliche Interesse immerhin für den Einzelnen haben mag, so gibt es dennoch auch für diesen Werte, hinter die es, selbst bei krassestem Materialismus, zurücktritt Das sind alle na turhaft en Momente im Dasein des Einzelnen (Anfang, Ende, Fortsetzung, naturhafte Bedrohung u. s. f.), die ja sogar das Urmotiv auch seines wirtschaftlichen Interesses sind, aber, wie bekannt, nur zu einem geringen Bruchteil durch dieses letztere zu sichern sind. Diese naturhaften Momente aber sind im wesentlichen außerhalb der Vielheits-Existenz, sie gehen den Einzelnen an. Sie gelten als gemeinschaftsgemäß, d. i. als politisch irrelevante Fakta. Es gilt, daß »naturgesetzlich" die Kausalreihe der Biologie und die der Soziologie nebeneinander nicht ineinander laufen. Die soziologische Tendenz kann auf die biologische nur vermittels dieser einwirken. Ließe sich nun dennoch ein nicht vermittelter Zusammenhang aufdecken zwischen diesen naturhaften Gegebenheiten und der Vielheits-Tatsache, so erhielte die letztere mit einem Schlage eine dringende Realität für den Einzelnen, und aus einer bloßen »Vorstellung", die die Einzelnen zusammenfaßte, würde plötzlich realiter und drastisch das, was jeder Nationalismus nur metaphorisch meinen kann (und z.T. meinen muß, weil diejenige Vielheit, auf die er abzielt, meistens als solche tot ist). Wird also die „Natur" von der Vielheit erfaßt, so sind die Einzelnen einer solchen Vielheit in der Intensität ihres (z. B. wirtschaftlichen) Gegeneinander eingeschränkt, aus körperhaftem Interesse in ihrem Widerstreit von sich selbst au s begrenzt, weil die eigene physiologische Lebendigkeit von einem Gesamtheitsmoment völlig unmetaphorisch mit bedingt ist. Dieser Zusammenhang, der naturgemäß weder ein „reingeistiger" noch ein bloß biologisch-kausaler sein kann (denn beide erfüllen die ang ege ben en Bedi ngun gen nicht) ist — exis tiere nd od er nicht, conditio sine qua non und die einzi ge einer kata str oph enlo sen Ord nun g. Denn nur so kann niemals das körperhafte Interesse des Einzelnen bis zur Explosionsgefahr gegen die Gesamtheit oder Teile von ihr gerichtet sein. Die Frage eines solchen Zusammenhangs aber ist aller auf „Einzelsinnlichkeit" abgestellten Wissenschaft unzugänglich. Es gilt im Ausmaß dieses Gedankenganges nicht, das Bestehen dieser Verbindung evident zu machen, es gilt, das Abhängigkeitsverhältnis aller soziologischen Fragestellung von dem Oegebensein oder Nichtgegebensein jener Verbindung aufzuzeigen und methodologisch darzutun, daß dieses Problem real ist, der Ausfall seiner Lösung alles entscheidet, und daß seine umfänglichste Inangriffnahme und Fortführung Anfang und Zentrum aller wirkliche!? Politik ist, daß alles übrige „politische" Tun letzten Endes und nicht nur letzten Endes ein sinn- und erfolgloses Umherirren sein muß. Dieses Prob lem ist nämlic h nic hts and ere s als ein Aus druc k des ps yc ho ph ys io lo gi sc he n, und wir haben auch hier die Möglichkeit, aus einer
scheinbaren Häufung von Schwierigkeiten — da die Fragwürdigkeiten zweier Bereiche auf einer Zone zusammentreffen — Vprteil zu ziehen, weil so neue Faktoren in die Rechnung eintreten. Das wollen wir in größter Zusammendrängung andeuten: Wi r können nämlich vermuten und werden es bestätigt finden, daß die unerhörte Widerstandskraft der psychophysiologischen Verkettungsfrage zu einem groß en Teil davon bedingt ist, daß wir dauernd eine psychische Größe mit Materialität innerhalb des Einzelindividuums in Verbindung zu bringen trachteten, das möglicherweis e gam ich t den Treffpunkt bildet, oder nur von der physiologischen Seite aus gesehen bilden müßte, nicht notwendig aber von der psychischen Seite aus. Denn der Geist und sein Organism us sind insofern unhomogen und in keine Kommensurabilität zu bringen, weil der Körper in einen biologischen Vielheits-Nexus eingestellt ist, wofür sich in allen Elementen des „naturgegebenen" Bewußtseins kein Analogon und kein Anhalt findet. Infolgedessen empfindet das Bewußtsein, dem nur begreifbar sein kann, was aus ihm selbst deduzierbar ist, den Körper als etwas außerhalb seiner Entstandenes, als ein buchstäblich „H etero-genes". Dieses Bewußtsein ist für den Körper in gewissem Sinne zu kurz. Es gibt scheinbar kein Bewußtseinselement, das mir die Konstruktion meines Körpers vermittelt. Während es für den G e b r a u c h meines Körpers Anschauungsformen des Geistes gibt, gibt es für seine A nl ag e scheinbar nichts dergleichen. Für Körper von a uß en gibt es Formen, für Körper von innen nicht. Die Einzel-Sinnlichkeit reicht lo gi sc h (nicht etwa historisch) nicht so weit wie die Genetik des eigenen Körpers, und sie kann nicht so weit reichen, weil es für das restlose Begreifen der eigenen Materialität — womit in der Tat das psychophysiologische Problem gelöst wäre — nicht auf die zyklisch-biologische, sondern auf die einmalig-kausale Genese ankommt. Einmalig-kausale Genese bedeutet, im Gegensatz zu der sich immer wiederholenden biologischen causa, in der ein Ablauf bereits vorgezeichnet ist, die causa zu dieser Vorzeichnung — die Konstruktions-Ursache, weiche nicht gem äß naiver Vermutung eine Einzel-Ursache, nur am » An fa ng ", sondern eine Q u e r - oder KonzentrationsUrsache wäre. Ein Anschauungsmoment für die einmalig-kausale Genese aber kann in dem Umkreis einer Einzel-Sinnlichkeit unmöglich anzutreffen sein, denn diese ist wiederum keine kommensurable psychische Größe für den Umfang eines Ereignisses wie das einer ailen biologischen Kreislauf konzentrierenden Kausalität So kommen psychische und physiologische Data nicht zusammen d. i. so bleibt das psychophysiologische Problem unhandlich wegen der völligen Ungeklärtheit des Vielheitsmoments. Die Realitä t einer Vi elh ei tse xis ten z ist also der Punkt, von dem in gle ich er We ise das psycho phy sio log isc he wie im t iefst en Grunde das soziologische Problem abhängt, und damit ist die Unerläßlichkeit einer
Entscheidung der naturwissenschaftlichen Grenz-Aufgabe für ein die wirkliche Macht der Überlegung einsetzendes politisches Beginnen gegeben. Die historisch verstandene „Politik" beurteilt alles so, als ob es nur den Einzelnen in n-facher Wieder holung gäbe, und übersieht, daß dieser Wiederh olung ein S inn zukommen muß, demzufolge die V ie lh ei t al s so lc he eine ebenso originäre Existenz-Geltung haben könnte als „E in ze lh ei t" . Vielheit ist nicht als das bloß „geistige Band" der „allein realen" Einzelnen, sie ist selbst als Realität zu verstehen, deren Sinn zu ermitteln is t Soll nun nicht die logisch wie ethisch gleich gefährliche Loslösung der Zweck- und Sinnhaftigkeit von der Frage der Existenz stattfinden, wobei es für die Systematik, die eine transzendente Realität einsetzt, nur darauf ankommt, nicht diese mit empirischer Realität zu vermengen, denn diese ist für die Sinnfrage belanglos, jene entscheidend — — d .h . sollen also nicht Beziehungen zwischen psychischen Einheiten ohne das Fundam ent einer Wirklichkeit statuiert werden, so bleibt entweder die Dogmatik des entschiedenen Materialismus, nach der der faktischen Vielheit einzig im quantitativen V erstände ein Sinn zukommt, oder es gilt die nachstehende Möglichkeit: Da A d d i t i o n in geistigem Betracht nicht möglich ist, so kann, soll Vielheit auf der Ebene der psychischen Realität überhaupt eine Bedeutung haben, unter Ausschluß des oben Dargestellten die Existenz von Vielheit auf dieser Ebene gleichfalls nur die Möglichkeit einer Steigerbarkeit bedeuten. Diese Intensivierung kann aber nicht, wie durch physiologische Anhäufung, in die Breite gehen und von der zahlenmäßigen Vervielfachung abhängen, sie kann, da Bewußtsein ein prinzipielles „In ne n" von unbegrenzter Ausschließlichkeit ist, nur in einer Erweiterbarkeit dieses Innen liegen, d. h. in ein er Ei nb ez ie hu ng u rs pr ün gl ic h fremder psychischer Faktoren in eine einzige Bewußt heit Alle philosophischen Fragwürdigkeiten, und nicht nur die philosophischen, wie wir dartun wollen, laufen im psychophysiologischen Problem zusammen, das quer durch jede beliebige Systematik, von der materialistischsten bis zur illusionistischen, einen Riß durch das Denken treibt, den weder diese noch jene, noch eine parallelistische Schematisierung zu heilen vermögen, und der sich der jeweiligen Erklärungshypothese hartnäckig als die Beziehungslosigkeit aufdrängt, die zwischen einer Begebenheit, deren Körperhaftigkeit zum mindesten ungreifbar ist, der psychischen, und ihrem physischen Parallelvorgang oder — bei anderer Dogmatik — zwischen der Empfindung des Bewußtseins und der Empfindung der Ausdehnung klafft (denn dadurch, daß ich beides subjektiv fasse und es etwa „Empfindungen" oder ähnlich nenne, habe ich wieder den auseinanderstrebenden In ha lt solcher Empfindungen keineswegs überbrückt). Da nun in dem Umkreis der bekannten Bewußtheiten ein Zusammentreffen des psychischen und des materiellen Moments noch nicht zu finden ist, so muß dies
darauf zurückzuführen sein, daß dessen Inhalt, der, wohin auch immer durch ein Schema gewendet, im Prinzip derselbe bleibt, als solcher zu klein ist Bei einer methodologischen Untersuchung, welche Faktoren denn nun unter den zunächst l o g i s c h systematischen Elementen eines Bewußtseins feh le n oder als solche verkannt sein könnten, würde man auf die Frage der direkten Beziehung von verschiedenen Bewußtseinseinheiten stoßen. Diese scheint zu fehlen. Wenigstens vermöchten wir für sie im Gegensatz zu der direkten Beziehung von Bewußtsein und eigener Materialität, d. i. Körper, im Gegensatz sogar zu der direkten Beziehung zwischen Bewußtsein und fremder Materialität, ohne weiteres keine Form anzugeben. — Ich bin mir fremder Materie unmittelbar gewiß und sollte es fremder Bewußtheit nur durch deren Vermittlung sein? (Der Einwand, ich wäre des eigenen Bewußtseins auch nur „mittels" der Materialität, nämlich der eigenen, gewiß, trifft deshalb nicht, weil diese Gewißheit sowohl des eigenen Bewußtseins wie der fremden Materialität sich bis zu einem Modus der „W ahr ne hm u ng " — wenn auch der inneren — verdichtet, auf den allein es hier ankommt; die externe Bewußtheit als solche aber könnte in dem angenommenen Fall lediglich „erschlossen" werden, und es ist logisch-systematisch zumindest nicht einzusehen, warum die Perception fremder Bewußtheit an der Wahrnehmbarkeit — wenn auch nicht „von .außen" — nicht teilhaben sollte, die ja auch „mittels" der Materialität vor sich gehen könnte: aber als Em pf in db ar ke it , nicht als — Syllogismus.) Die Perception eines Phänomens, das meiner Personalität der Struktur nach näher sein muß, als das der fremden Materialität, sollte gleichwohl auf e n t fe r n t e re Methode als die Percepti on dieser Materialität vor sich gehe n? Nun, eine genauere Unters uchung würde zeigen, daß, wenn dem so wäre, der Solipsismus recht hätte und ein jeder sich nur einer Unzahl von fremden Automaten geg enüber fühlte. Dieses Minus an Umkreis des Einzelbewußtseins deutet ebenfalls auf die transzendente Realität der Vielheit im Sinne einer — da es „Bewußtsein von außen" als solches nicht geben kann — Potenzierung einer einzelnen Bewußtseinsgröße, in deren Erweiterungskreis alsdann diejenigen körperhaften Momente fallen müßten, die außerhalb der unmodifizierten psychischen Einheit liegen: wie schon angedeutet, die genetischen. Es leuchtet ein, daß für die Konception gerade des genetisch-konstruktiven Elements des Organismus die Vorstellung einer sozusagen psychischen Gesamteinheit logisch unerläßlich ist; denn nur in dieser ist überhaupt das geistige Komplement das geistige Parallelfaktum zu der eine biologische Einmaligkeit zum Ausdruck bringenden einmaligen Körper-Kausalität vorhanden, aus der allein dessen Konstruktion begreifbar werden kann. Da es sich hierbei keineswegs um eine bloß-logische, sondern durchaus um eine der Exaktheit der Sinneserfahrung adäquate, unmittelbare Erfahrung handelt, so ist zumindest der Begriff gegeben, in dem oben von einer Erweiterung der „gesetzmäßigen Anschauung",
also der Behandelbarkeit eines Naturgegebenen, die Rede war. Naturgegeben kann nämlich nicht notwendig unveränderlich bedeuten, am wenigsten dann, wenn die Naturgegebenheit in sich so zwiespältig ist, daß sie das Vorhandensein eines ec ht en Problems zuläßt Denn es ist nicht angängig, alles Problemhafte in uns zu verlegen, gleich als ob diesem »Uns" noch ein zur Fehlerlosigkeit fähiges Subjekt entspräche. Dies ist nicht immer der Fäll, am wenigsten aber bei den der „Unlö sbarkei t" verdächtigen Problemen. Diese bedeuten einen Fehler in „unserer Natur", von dem nicht gesagt ist, daß er nicht korrigierbar wäre: aber ein anderes ist ein logischer oder verstandesmäßiger, ein anderes ein Sinnenfehler, der wiederum nicht mit einer „Täuschung" zu verwechseln ist, sondern eine Begrenzung der Sinnenhaftigkeit ausdrückt, der wir uns nur auf Grund einer anderen überhaupt bewußt werden können : sodaß jede wahre Problem-Empfindun g nur auf Grund des Keimes einer anderen („erweiterten" oder wie immer) Sinnlichkeit überhaupt erst zu begreifen ist. Wir stehen vor folgenden Möglichkeiten: Ist das psychophysiologische Problem lösbar, so gelingen im Prinzip zwei Dinge: Erstens: Das Bewußtsein bestimmter physiologischer Einzelindividuen ist keine konstante Größe, sondern einer Modifizierbarkeit durch psychische Faktoren einer Vielheit zugänglich, für die ein unmetaphorischer psychophysiologischer Zusammenhang existent ist Zweit ens: Mit eben dieser Potenzierung, deren materialreiche Technik Thema eines ganzen Wissenschaftsbereichs ist, ist ein Vorrücken in der Erfahrbarkeit der eigenen Materialität, d. i. des Körpers, nach der Richtung seines Zustandekommens hin gegeben, d. h. ein Zusammentreffen und Ineinsrücken des Bewußtseins mit den genetischen d. i. den konstruktiven Kräften des Organismus (die sonst weit außerhalb des Bewußtseins lagen); das bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger als das Prinzip, sie zu handhaben, als eine Verschiebung der Zugänglichkeitsgrenze bis in vorher verschlossene Gebiete. Hiermit hätten wir das Paradigma jener erweiterten Sinnenhaftigkeit, die geistige Leistungen von momentaner Wirksamkeit einzusetzen hätte, deren politische Relevanz wir nochmals in konkreto aufzuweisen haben. Aller For tga ng der Philosophie liegt in einer gesteigerten Analysierbarkeit der eigenen Materialität oder des Bewußtseins von ihr. Und wie die Exaktheit der Mathematik und mit ihr die Gesetzlichkeit der ganzen physikalischen Welt aus einem bestimmten Status u n s er er Sinnenhaftigkeit folgt, so ist, um zu einer gesetzmäßigen Anschauung der soziologischen Welt zu gelangen, eine gesteigerte Erfahrbarkeit.der eigenen Materialität notwendig, weil nur in dieser oder, wenn man will, in der „reinen Form" derselben alle Exaktheit beschlossen liegt.
Diese Beziehung von unmodifizierter Sinnenhaftigkeit und objektiver Natur (im engeren Sinne) einerseits und von modifizierter »Anschauung« und der „Seinesgleichen-Welt" (d. i. der naturhaften Wertung der Wiederholung des Einzelnen) andererseits ist auch systematisch evident (man mißverstehe übrigens den Terminus »Anschauung« nicht, der ja z. B. auch Ze it als Form der „A ns ch au un g" umfaßt). Die Naturerfahrung ist gestaltet, als ob es nur einen Einzelnen gäbe, die Vielheitstatsache ist für sie irrelevant, sie wird entscheidend für die soziologische Problematik. Die diesem Komplex gewid mete Wissenschaft aber stellte sich so ein, als ob der Natur-Begriff vor diesem Komplex zu Ende sei, und ließ eine entwurzelte Normation ohne Entscheidung über ein Existenz-Fundament einsetzen (die an anderer Stelle wohl begriffene Notwendigkeit transzendenter Realität hier übersehend), gleich als ob die »ei ge ne N a t u r " ein gelöstes Problem sei. (Daß nebenbei die Autonom ie der Normation oder die Willensfreiheit durch die Kenntnis der Gesetzmäßigkeit eines Erfahrungsbereichs aufgehoben werden sollte, ist am allerwenigsten dann zu begreifen, wenn eine Gesetzmäßigkeit zwar vorhanden ist, aber aus der Personalität selbst stammt.) Natur-Erfahrung ist so gestaltet, als ob es nur einen Einzelnen gäbe. Abgesehen von dem höchst beachtenswerten Faktum der sogenannten „Allgemeingültigkeit", in dem bereits ein in te ns iv er Ausdruck für die Möglichkeit e x t e r n e r Bewußtheit liegt, bedeutet Natur-Erfahrung dennoch im wesentlichen eine Erfahrung meiner selbst, so weit ich ein biologischEinzelner bin. Die Perception der Vielheit aber bedeutet ebenfalls die Perception meiner selbst, nur nicht biologisch-einzeihaft, sondern biologisch-einmalig, archetypisch-kausal. Es ist (mythologisch ausgedrückt) der Unterschied zwischen Zeugung und (»Schöpfung« oder) Konstruktion. Der Körper, soweit er willkürliches Erfahrungsinstrument ist, gehört dem biologisch Einzelnen — der Körper seiner Konstruktion nach gehört zu einer Einheit, in den die biologische Vervielfachung rückgängig gemacht ist. Wenn somit das Thema der soziologischen Wissenschaft, die Vielheit, für die Aufhellung des eigentlichsten Natur-Problems relevant wird, also in die Naturwissenschaft hineingezogen wird, so darf angenommen werden, daß damit die soziologische Fragestellung von d i es er naturhaften Wertung d er Vielheit entscheidend beeinflußt werden wird. Der Staat wird Natur, die Antithese hört auf, nicht im banalen Rousseauschen Sinne durch Rückkehr zu einem verflossenen Status, sondern durch Weitertreiben b ei d e r Pole, nicht nur des Staates, so ndern au ch der — psychophysiologischen — Na tur über ihren gegenwär tigen Endpun kt Nichts als- diese gesteigerte Perceptio n meiner selbst aber ist es, die einen Fortgang in Richtung auf das konstruktive Element und eine modifizierte gesetzm äßige Anschauung bedeutet. So wie unsere unmodifizierte Sinnenhaftigkeit die physikalische Welt ergibt, so ergibt die modifizierte in gleicher Wei se die Erfahrbarkeit bis dahin trans-
zendenter Verhältnisse ("über diese physikalischen d. i. über die biolo gisch-einzelhaft-eigenen Grenzen hinaus), buchstäblich metaphysischer Verhältnisse, zu denen auch — so wenig man es bisher glauben mochte — die soziologischen gehören . Alles endlose Mißlingen des soziologischen Problems ruht darauf, daß man es zu kurz fassen wollte und sich nicht in die gewaltige Unternehmung metaphysischer Untersuchung, die allerdings nicht rein-spekulativ zu bewältigen ist, verstricken wollte. Aber es gibt dennoch keinen anderen Ausweg. Der Mensch ist diejenige Form, die in der Systematik der Ganzheit dabei angekommen ist, daß er seine eigenen Verhältnisse nur universal regeln kann. Darum ist Metaphysik für ihn kein an sich nicht lebensnotwendiger Luxu s und Überbau, es ist seine eigene, ihm typische und leben- und todentscheidend unerläßliche Methode, mit sich und seinesgleichen auszukommen. Das Tier ist fertig, der Mensch unfertig: er muß über die Gesam t-Pro blema tik hinweg, um sich auch nur mit sich und seinesgleichen einrichten zu können. Ein vernunftgemäßer Ausdruck der Typenvielfalt der Tierwelt ist bisher verschlossen. Zum Fressen und' Zeugen und Dasein bedarf es ihrer nic ht Jedenfalls aber können wir annehmen, daß der Sinn ihrer Existenz, w elcher er auch immer sein mag, e in lin ig und schwankungslos ist Die Vieldeutigkeit und MehrLinigkeit menschlicher Existenz aber kann nicht verstanden werden, wenn es nicht Beziehungslinien aller Totalität sind, die in ihm zusammenlaufen. Er kann sich nicht für eine einlineare Richtung entscheiden, ohne sich tierhaft zu verhallen, der Struktur seiner Vielheit entgegenzuhandeln und sich und seinesgleichen nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Nicht als ob sein Wesen die bloße soziologische Ordnung wäre, aber selbst diese ist außerhalb seines telos nicht zu erreichen. Weil alles in ihm auf Gesamtheit abgestellt ist, so kommt er nicht aus, wenn er dominierende Einzelbereiche für si ch , a b g e s o n d er t , regeln will, er kommt materiell nicht aus, wenn er nicht diese Materialität in seine Gesamttendenz einstellt, wenn er sie nicht an ih re n Or t stellt, der ganz allein universal, d. i. metaphysisch, zu bestimmen ist. Somit ist Metaphysik nicht entlegene Theorie, sondern, sogar ob lösbar oder nicht, der erste Schritt aller Praxis. Freilich nicht eine Metaphysik der körperlosen Abstraktion, nicht eine vom Körper abgelöste Spekulation, welche den Ausgangspunkt aller Philosophie, die ps yc ho -p hy si ol og is ch e Verknüpftheit unter den Füßen verloren hat, nicht eine entwurzelte Dogmatik, die di re kt an makrokosmische Fragwürdi gkeiten heranwill, die allerdings so lange zu leeren Hülsen und unerfahrbaren Formeln werden müssen, als der W e g zu ihrer Erfahrung außerhalb der Überleg ung bleibt, als die psychophysiologische Problematik nicht angegriffen, sondern dahingestellt wird nicht all dies, sondern eine Transzendental-Wi ssenschaft, die, sich vor
Unmöglichkeits-Erklärungen hütend, aus der disproportionierten Beleuchtung der Körper -Erfahr ung und des theoretischen Bewußtseins eine wechselweise Aufhellung und ein experimentales Eindringen versucht Metaphysik in diesem Betracht bedeutet also keine logische Nicht-Erfahrung, die Unmöglichkeit, auf metaphysischem Felde je etwas auszurichten, wird nicht schon in seine Definition gelegt als prinzipielle Nicht-Erfahrbarkeit - wobei man sich dann nicht wundern kann, wenn in der Tat nichts ausgerichtet und eine Unmöglichkeit bewiesen wird — Metaphysik bedeutet nicht l o g i sc h e, sondern nur gleichsam-historische Nicht-Erfahrung. Wir sagen „gl eic hsa m- his tor is ch" , weil Metaphysik und Empirie dennoch nicht in einem Z^it-Bewußtsein aufeinander folgen, wie sonst ein „Fortschritt" (dies eben ließ sie als prinzielle Gegensätze erscheinen), sondern weil sie aufeinander folgen wie zw ei Bewußtseins-Modi. Und im Maße der Transgression in die selbsteigene Unbekanntheit muß eine Aufdeckung e x t e r n e r Beziehungen fortschreiten, so notwendig, als Außen und Innen ein korrelatives Ganzes bilden. Um nun überhaupt eine Vorstellung von dem geben zu können, was in den Bewußtseinskreis eines also gesteigerten Anschauungs-Vermögens eintreten könnte, müssen wir seine Mö gl ic hk ei t, da ja seine Wi rk li ch ke it a uß erh al b der hier allein möglichen theoretischen Demonstrationen liegt, zunächst so lange setzen, als wir die Konsequenzen dieser Möglichkeit im Sy ste m dieses Gedankenkreises als syst em at is ch -be den ken fre i erweisen müssen. Das heißt: aus dieser Möglichkeit einer Steigerung müssen sich Konsequenzen ergeben, die geeignet sind, das zu leisten, was sonst auf keine Weise zur Ordnung des soziologisch-menschlichen Problems geleistet werden kann. Wel che gegenwärtig hauptsächlich verschlossene Erscheinung nun müßte durch jene Erweiterung einiges Licht erhalten? Zunächst die, die vorausgesetzt werden muß, um solche Ausdehnung des Gesichtsfeldes überhaupt erst zu ermö glichen: der psychophysiologische Zusammenhang einer bestimmten Vielheit, der über den rein generat iven hinausgeht. Und zwar insofern, als er durch einen psychischen Konnex ergänzt wird, der zu körperhafter Wirkung gebracht werden kann, weil die mit dem psychischen Moment der Vielheit zusammenhängende Intensivierung eines Bewußtseins-Inhalts ein Vordringen in die eigene psychophysiologi sche Verknüpftheit gestattet. Diese körperhafte Wirkung aber würde beweisen, daß es sich hier nicht um einen „re in g e i st i g e n" Zusammenhang unter den empirischen Repräsentanten einer solchen Vielheit handeln kann, um eine bl oß-psychische Beziehung, wie sie in jeder „Kultur-Gemeinschaft" au ch vorkommt, um nichts Übertragenes und nichts nur schattenhaft-Wirkliches, sondern um eine unmetaphorisch-reale Verbindung, die — außerhalb des biologisch-zeitlichen, län gs fo lg end en: des generativen — einen Nexus qu er durch die Zahl der zu einer solchen Vielheit gehörenden darstellt.
Die Existenz einer solchen Einheit einer bestimmten empirischen Vielheit ist das Gru ndel eme nt und die Bedi ngun g katast rophen lose r soziologischer Ordnung. Die Realität der Gesam theit ist keine in der „logischen Luft" über den Einzelnen schwebende, durch einen theoretischen Machtspruch zur „Realität" ernannte Metapher, wie die Begriffsbildungen der Romantiker von „Volksgeist" und dergleichen, sondern die Realität der Gesamtheit ist eine Erscheinung am Ei nz el ne n , eine am Ei nz el ne n empirisch und logisch aufzuzeigende Modifizierbarkeit, ist die am Einzelnen empirisch auftretende und in ihm sich lokalisierende, erscheinende Potenz einer Gesamtheitsgröße. Diese Einheit, deren Realitätsindizien zur Erscheinung zu bringen sind und die doch nicht nur in die Psyche (das wäre die metaphorische), sondern bis zu deren Treffpunkt mit der Physis des Einzelnen reicht, kann verfallen, sich lösen und aufhören, ohne diese Physis mitzureißen. „Letzten Endes ", d. h. auf d em Um we g üb er di e soz io lo gi sc he Ve rh ee ru ng , reißt sie sie mit Ja, diese Generationen überdauernden Explosionen in den Völkern beweisen den vollständigen Verfall s olcher Einheiten. Was heute leb t, ist, was die sogenannten Kulturvölker anlangt, in der Tat nur der Einzelne in n-facher Wiederho lung, und oberhalb seiner hat die reale Einheit so gut wie aufgehört zu existieren und an ihre Stelle ist die metaphorische, die „historische", d.i. lebendig-tote, gefolgt, in deren künstlichen Schranken und in deren erstorbenen Grenzen sich die Völker in Krämpfen winden. Denn es ist etwas verloren gega ngen, wovon vielleicht das, was heute, in mediumistisch-um gedeutetem Treiben, „der Kreis" genannt wird, eine schwächliche Vorstellung geben kann. Stellen wir nun die wesentlichsten Konsequenzen einer so lc he n re al en Verbindung zusammen, so ergibt sich zunächst das Hervortreten einzelner empirischer Individuen, nämlich derjenigen, in deren Bewußtheit intensiv eine Steigerung zum Ausdruck kommt Diese Steigerung aber ist ke in e re i n - i n t e r n e Angelegenheit, wie etwa der gesteigerte Gesichtskreis der „Philosophen" bei Piaton, welche deshalb nach ihm den „Staat" regieren sollen, solche Potenzierung muß nach außen treten, weil sie, wie dargetan, eine gesteigerte Beherrschung des psychophysi ologischen Apparats be deutet Sie muß sich als eine — über die bis dahin normalerweise vorhandene psychophysiologische Einwirkungsmöglichkeit hinausliegende Fähigkeit der Handhabung körperlicher Phänomene äußern. Ein solches Vorrücken im Bereiche der organischen Beziehungen bedeutet, soweit der medizinische und naturwissenschaftliche Forschungskreis in Frage steht, Selbst- und Endzweck. In dem uns vorliegenden Felde soziologischer Problematik aber hat es die nicht abzuschätzende Bedeutung einer Legitimation.
Einer Legitimierung nämlich für diejenigen Individuen, deren psychische Intensität einer Steigerung über die normale Ebene fähig ist. Mit diesem Kennzeichen, das den Priester der alten Völker zum Arzt und Regenten machte, ist nämlich jenes soziologisch unerläßliche Kriterium eines ob je kt iv en Ra ng es der Menschen gegeben, an dessen Mangel alle Gemeinschaft scheitert. Denn alle Chaotik staatlichen und gemeinschaftlichen Daseins, alle- sinn- und regellosen und verzweifelten Organisierungsversuche, alles Durchund Gegeneinander der Einzelnen springt aus der völligen Dunkelheit, die über jedem Anhalt, jedem Anzeichen ruht, die Menschen naturhaft, d. i. mit allgemeingültiger Exaktheit und widerstandausschließender sinnenhafter Evidenz, zu gruppieren. Ein objektives Kriterium menschlicher Rangordnung kann nicht intern und innerlich sein und wenn tausendmal der psychische Wert der entscheidende ist — — es muß die Physis ergreifen. In der primitivsten Ordnung menschlicher Gemeinschaft war das Prinzip der Stufenfolge soziologischen Organisiertseins nur physisch oder vornehmlich physisch: der Stärkste seines Stammes der Mächt igste. Das wa r objektiv und sinnenfällig.
Der n u r- p s y c h i s c h e Maßstab, nur-geistige Wertunterschied bedeutet aber das Fehlen jeden soziologischen Klassifizierungs-Prinzips, weil er, wenn auch zweifellos existent, so doch intern ist. Darum kommt der platonischen Staats-Konception und allen den anderen ihr folgenden, die, einer nicht abzuweisenden Empfindung Genüge leistend, den psychischen Wert als Maßstab anthrop ologis cher Ordnungen ansetzen, bei formaler Gültigkeit eine restlose Unwirklichkeit zu. Einen anderen Ausweg (auf den jene tieferen Geister nicht verfielen) aus dem hoffnungslosen Dilemma: einerseits eine Wertdifferenz unter Menschen anerkennen zu müssen, andererseits diese Differenz unmöglich allgemeingültig formulieren zu können, bildet der gewaltsame Entschluß: die unleugbare Wertdifferenz aus dem Staatsleben dennoch einfach z^t streichen und die Menschen gleich zu setzen, weil man sie nicht klassifizieren kann. Daß aber, wenn Unglei chheit Realität ist, Gleichheit Chaos bedeutet, daß damit der Staat zur Anarchie oder zum Zuchthaus wurde, sah man nicht oder wollte es nicht sehen. Außer dem physischen und außer dem unrealisierbar-psychischen Kennzeichen, d. i. der totalen Abwesenheit eines solchen, aber gibt es das auf de m W eg e über die P s y c h e wieder physisc h sichtbar werdende Kriterium, und dieses ist das einzige, keinem logischen Einwand unterworfene, mit der ganzen Evidenz der Sinne auftretende, d. i. mit der Unwiderstehbarkeit physischer Gewißheit wirksame Organisierungsprinzip menschlicher Gesamtheiten.
Damit ist aber erst die physische Seite der Umgestaltung der psychophysiologischen Situation getroffen und vor allem noch nicht der Inhalt dessen umschrieben, wo für jene Legitimierung das Zeichen ist. Denn der physiologischen Erweiterung entspricht notwendig ein Vortragen der psychischen Bewußtheit sowohl des körperhaft-eigenen wie — auf Grund jener hinlänglich erkannten Verknüpftheit zwischen sinnenhaften Elementen und Verstand einerseits und der „Natur" andererseits — wie des k ör pe rl ic h- fr em de n Ob je kt s, das heißt der Erkenntnis-Grenze überhaupt dies aber nicht im Sinne einer privaten, von der Empirie abgelösten, und somit für eine Gesamtheit unverbindlichen Spekulation, sondern als eine eben durch das gegebenenfalls auftretende Ergreifen physiologischer Verhältnisse sich als exakt ausweisende Orientierung in bis dahin metaphysischen Beziehungen. Damit ist folgendes gegeben : eine geistige Leistung, die, obzwar die Struktur eines scheinbar fernen Außen zum Thema habend, dennoch in engstem Anschluß an eine sinnenhaft organische Evidenz steht, und in ununterbrochener Verbindung bis an ein körperlich-fundamentales Interesse reicht und es trifft, das noch primärer als das ökonomisch-materiale ist. Dem Trä ger dieser geistigen Leistung Widerstand bieten, hieße heute sich gegen den Arzt oder den Techniker in seinem eigenen Bezirk zu empören, nur daß beide sich zu jenem verhalten wie die Kopie zur Realität. Anslatt der Wirtschaft wird Leben, Vitalität und Tod in die Mitte des Staats gerückt. Hier liegt somit jene eingangs geforderte geistige Produktion vor, die nicht wie die gegenwärtige Geistigkeit weit hinter der materialen Notwendigkeit einherschwebt, sondern die geeignet ist, momentan eingesetzt zu werden, weil sie sowohl an Drastik wie an Interesse der primärsten Materialität nicht nur ebenbürtig, sondern sogar vorgeordnet ist, und dennoch und gerade deswegen psychisch die Perception der fernsten Beziehungen in sich trägt. Das ist es, was wir augenblickliche Wirksamkeit des Geistes nannten, und sie kann — da zur Augenblicklichkeit Materialität nicht entbehrlich ist — nur metaphysisch ausfallen, weil Geist und Körper ein transzendentes Verhältnis bedeuten. Hier ist die Erse tzba rkei t des Geistes gegeben, der Sich als Hervor bringungs prinzip an die Spitze der materialen Bewegung setzt, statt als Erklärungsprinzip hinter ihr her zu «geistern" . Der In ha lt dieser geistigen Begebenheiten ist zwar das, was heute »metaphysisch" heißt, aber in einer gänzlich veränderten Empfindung seiner G e g e n w är t i g k ei t . Jetzt bezeichnet diese Sphäre ein Entlegenes, von allem Materiellem Fernstes, dann bezeichnet es die- Perception, die Wahrnehmung, die Er fa hr un g des Ma te ri el le n se lb st — — dann ist es ein Mittel, das so in Gemeinschaftsverhältnisse eingreift wie heute die Tec hnik, aber ein weit
intensiveres, weil in ihm, das über die »Kunst", die »Technik", die ihren Ersatzcharakter noch immer hat spüren lassen, hinweggreift, die Tendenz des Bewußtseins (die, von Sein oder »Natur« alleingelassen, die »Künstlichkeit" bedeutet) und die des Objekts selbst wied er so zusammentreffen wie in allem „bewußtExistierenden". Und wenn alles Bewußt sein, das als »Wis sen« im weitesten Sinne wesentlich wird, im Grunde: V orher -W issen meint, so muß, wenn irgend etwas, die metaphysische Perspektive das leisten, was das konkreteste Ziel des Geistes ist: den Lauf des Materiellen zu überholen. Das kann nicht als »Ideal" gelten — denn es ist praktisch unerläßlich; es gibt keinen anderen Gedanken, der theoretisch den Punkt bezeichnet, von dem aus das blinde Drängen in den Bewe gungen sozialer Gesamtheiten zu bändigen ist. Wenn irgend jemand, so ist der „Staatsmann" v er pf li ch te t — vorauszuwissen.
Aber die Aufhellung jener metaphysischen Beziehungen wird schon deshalb für die Vielheit verbindlich, weil sie ohne das Element der realen Gesamthei t un zu g än gl ic h ble ibt . Es ist ein Ve rh al te n der Gesamtheit erfordert, damit auf einer Ebene etwas erreicht werde, für die gegenwärtig gerade die Vielheit das gleichgültigste auf der Welt ist. Dieses Verhalten ist das Them a der metaphysischen Gesetzgebungen alter Völker, und mit ihm entsteht das, was in den neueren Zeiten höchstens gelegentlich vage und unwissenschaftlich zu formulieren versucht ward, meistens aber und als Praxis überhaupt unbekannt ist: Das Volk mit einem schlüssig aufzeigbaren P r o g r a m m — mit einer Bestimmung, welche die bloße Ökonomie, die heute das Richtungsprinzip abgibt, deshalb weit übergreift, weil sie die Leiblichkeit noch radikaler angeht als jene. Hier gebraucht der extreme „Idealismus" als Argument den extremen „Materialismus" — denn im Körper kommt der bedingungsloseste Materien-Instinkt mit dem Weg des entlegensten Geistigen zusammen. Es tritt in einem Volke, der metaphysische Zweck auf, nicht als ein „idealistisches", d. i, ewig vor tauben Ohren tönendes Postulat, sondern als Bedingung körperhafter Existenz. Mit dem Vorhandensein dieser zwar teleologischen, aber dennoch unübertragen körperhaften Bewegungsrichtung, in der Körper und Geist nur zugleich motivieren, ist für die Gesamtheit die Gefahr desjenigen Risses vermieden, der droht, wenn die Körper-Tendenzen der Einzelnen oder von Gruppen solcher gegene inander zu wirken beginnen, was unfehlbar eintreten muß, wenn sie sich verselbständigen, d. i. nicht in dieser psychophysiologischen Einheit zusammengesc hlossen sind: Hier wird die Verbindung des einzelnen organischen Lebens mit der Gesamtheit sichtbar, folglich rückt die Bedeutung des Ökonomischen an die zweite Stelle — — indessen es im Falle des Zerrissenseins des
metaphysischen Nexus zwischen-Körperhaftem und Geistigem notwendig an der ersten Stelle stehen muß. »Ökonomie« aber heißt be st en fa ll s: Kompromiß von Gegeneinander und jeder Appell an eine b lo ß- g ei s ti ge oder hi st or is ch e oder entlegen generative Einheit, um den Zwiespalt zu beschwören, muß wirkungslos verhallen, wenn die reale Einheit, d. i. die Gemeinschaft der intensivsten theoretisch-konkreten Interessiertheit, verloren gegangen ist. Volk — das hieß einstmals, als Geistiges und Körperliches noch nicht auseinanderstrebten: Stam mesgesam theit, denn in ihr lag das Seelische beschlossen. Heute gibt es keine Völker. Und was es geben wird, wird Stamm es- und Problemgemeinschaft, Gemeinschaft der dringendsten theoretisch-leibhaftigen Fragwürdigkeit sein.
•.;•••' iL
;
, v
Es ist notwendig, die Luft der politischen Welt vollständig zu verändern. Es liegen heute keine M ö g l i c h k e i t e n in ihr, und höchstens kristallisieren sich in ihr geringfügi ge und mühsame Varianten des Vergangenen oder platte Umkehrungen des Bestehenden (die zuletzt durchaus nichts anderes, sondern nur dessen im Grunde identisches Negativ sind). Zum Bewußtsein dieser wahrhaft ungeheuren, erstickenden Sterilität des soziologischen Bereichs kann indessen niemand kommen, der nicht die Sphäre: anderer Konstellationen gespürt hat. Unfruchtbarkeit gehört nicht zur Wirklichkeit Die hiesigen Denker und Dichter haben entweder das Volk in eine furchtbare Gedankenrichtung hinei ngedrängt, od er sie sind selbst der Ausdruck dieser verheerenden Tendenz: daß nur im »Rei che des Gedankens" Reichtum, Buntheit und Fülle zu erleben sei, daß das Gehirn „weit", die Realität aber „ eng" sei, daß der Geist und die Phantasie blühend, die Wirklichkeit nüchtern sei, weshalb man aus dieser zu jenen „flücht et". Letzten Endes hat das Kantische „Nein" zu aller erfahrbaren Metaphysik einen geradezu ertötenden Erfolg für das ganz konkrete Dasein gehabt — — oder es ist, wie angedeutet, selbst die Äußerung einer unerhörten Mögjichkeitsarmut im „Realen". Daß die Welt einen unglaublichen Grad der Langeweile oder der tierischsten Sensation (die sehr zusammenhängen ) erreicht hat, liegt daran, daß sie von dem r e a l i s i e r b a r e n und lohnenden Anschluß an die Möglichkeiten des Geistes abgeschnitten wurde. V Der Erkenntnis Schranken setzen heißt nämlich dem konkreten Dasein das Blut abschnüren und heißt bereits innerhalb des rein Theoretischen einem Triebe
Grenzen setzen, der sich schon darum nicht begrenzen läßt, weil er mit der Logik schaffenden Fähigkeit selbst zu innerst identisch ist: dem Erkenntnis-Trieb. Hier verlangt ein voluntarisches Element logische Ausdrückbarkeit und eine Legitimierung als logische, nicht als voluntarische Größ e: hier ist der Punkt, wo Trieb und Syllogistik angewiesen sind übereinzukommen, nicht zu divergieren, wie sie es gemäß dem Kantischen Votum tun müssen, das den Erkenntnis-Trieb — schweigen heißt. Hier ist der Grenzfall, wo die Nichtbefriedigung eines vo l u n t a r i s c h e n Erfordernisses einen l og is ch en Fehler bedeuten muß, wo dieses voluntarische Erfordernis gleichwohl logisch zufriedengestellt werden muß und nicht durch irgend einen Machtspruch der Voluntas. Die umfangreichere voluntarische Befriedigung bedeutet hier zugleich die grö ßere logische Systematisierbarkeit, und da Ödigkeit und Verdorrtheit des konkreten Daseins entweder die Folge der verschlossenen Realisierbarkeit inhaltreicherer Möglichkeiten ist, die vorerst nur „im Geiste« existieren, o der beides der Ausdruck der gleichen Unfruchtbarkeit — — so ist die vielfältigere, an Auswegen, Mitteln und Möglichkeiten reichere, mannigfaltigere rein voluntarisch befreiende, buntere, „angenehmereTendenz zugleich die theoretisch tiefer gegründete, die willensmäßig erwartete zugleich.die — logisch richtigere: die me ta ph ys is ch e At mo sp hä re — die jederzeit alles ermöglichende — — zugleich die exakter Überlegung und Einstellung entstammende. An den Anfang aller sozialproblematischen d. i. politischen Besinnung muß daher unumgänglich zu der Einsicht gelangt we rden: Alles ist möglich — Unmöglichkeit in menschlichen Dingen ist Übersehen von Mitteln. Denn konkretes Dasein und äußerste Theorie hängen sprunglos zusammen, und nur die Zerreißung dieses Zusammenhangs schafft den Gegensatz zwischen beiden. Es gilt, sich jederzeit bewußt zu halten, daß die entlegenste Forschung: erkenntnistheoretische, transzendentale, grenzmathematische Untersuchung, daß gerade im Bereich des von aller Konkretheit fernsten Gedankenfeldes der Umkehrungspunkt zur rückläufigen Richtung und gerade dort der Aufhellungspunkt für die Konvulsionen der Praxis liegt, wofern man nur die Linie, die von dort zur drastischen Welt führt, an jeder Stelle ihres Laufes erkennt. Der Sinn aller Theorie ist Praxis — — und der Sinn aller Praxis Theorie, und wenn in diesem Weitauseinanderliegenden die Einheit, die praktikable Identität nicht begriffen wird, müssen beide steril bleiben. Im Theoretischen liegen die Möglichkeiten und wenn es gelingt, die pathologische Empirie anzuschließen, so gelten sie auch für diese. Es steht ni ch t fest, was gegeben ist Es gibt kein Gegebenes, keine Wirklichkeit über der Theorie. Wo die Theorie Nein sagt, ist die Realität in Frage gestellt. Denn Realität ist eine Frage der „Zusammenfassung/?, eine Frage darüber, was zu einer Einheit
gehört. Diese Zusammenfassung aber ist erst „objektiv", wenn die Theorie die äußersten Punkte einer transzendenten Realität festgelegt hat und eine objektmäßige Struktur im Subjektiven, kraft deren sie r eale Einheiten zu bezeichnen und von fiktiven zu unterscheiden vermag. Aus bloßem Das ei n kann nichts entscheidend ergeben, was Wirklichkeit werden wird und was nicht; nur dann, wenn auf dies Dasein ein Begreifungstypus beziehbar ist, der aus einem wenn auch vorerst transzendenten Legitimationsbereich stammt, nicht, wenn seine Einheit, unter der es begriffen wird, einer empirischen oder noch nicht einmal empirisch restlosen Systematik entstammt. Man kann aber nicht denken: mag dort die umfänglicher systematisierte Begriffseinheit sein — — hier ist dennoch das F a k t i s c h e auf Seiten der vorläufigen Schematisierungen und das Faktische is t doch wirklich, und das wi rk l i c h er e Zeichen existiert nur — „im Geiste" — — wir sagen : man kann nicht so denken. Denn jenes Unbekannte, X, das die Einheiten erfüllt, das Substrat der Wirklichkeit, ; die Drastik als solche, ist beweisend für die jeweils tiefste Form der Realität: das „Ideal", das nur im Geiste dem Faktischen gegenüber verbleibt, und dies nicht logisch und also empirisch notwendig herbeizieht, wie die tiefere Ebene das Wasser aus der flacheren ist das Trugbild eines „Ideals" oder sein Schatten. Wo Drastik ist, da ist die jeweils gegründetste Form des Wirklichen, und wenn sie noch so verneinenswert is t Denn en tweder gelingt der tieferen Systematisierung der Experimentalbeweis oder sie ist keine. Und dennoch ist die Faktizität nicht entscheidend für Realität Dennoch ist mancherlei da, was nicht real ist — - weil das Kriterium der Wirklichkeit nicht aus der Oberflächen-Optik kommt, in der willkürliche Einheiten auftreten, die als wirklich gelten, weil sie materiell abgrenzbar sind, indessen die Grenzführung echter Wirklichkeit nicht nur von den Linien der Materialität, sondern von denen al le r Elemente der Welt gezeichnet werden muß. Denn Realität heißt letzten Endes: „standhalten", und das Wachsein ist nur darum „realer" als der Traum, weil es den Kriterien nach mehr Elementen standhält als dieser. Das Experiment muß dieser Perspektive rechtgeben: die leere Realität muß vor der erfüllteren zusammenbrechen. Es gibt vielerlei „Zusammenfassungen«, aber wie tief sie an Objektität, an Realität teilhaben, das erweist sich erst, wenn eine tiefer gegründete Wirklichkeit sich neben ihnen bildet, — vor der sie erscheinen, wie ein Bild aus drei Farben gegen eins , aus sieben. Vor den Kriterien der Wirklichkeit aber muß sich alles bloß „Vorhandene« ausweisen und vordem ist nichts gegeben und alles möglich. Das Bewußtsein, daß die Hauptmasse des „Bestehenden" nicht real ist, ist selbst ein realitätschaffender und zerstörender Fakto r — eine vorerst rein psychische Einstellung, der erste Schritt in eine intensivere Wirklichkeit
Das Primäre ist darum nicht das Angefülltsein der soziologischen Welt mit Bestehendem und das Sekundäre, das von diesem »Freigelassene", der »Rest", das noch Mögliche, sondern umgekehrt ist eben dies noch Leere das bei weitem Umfänglichere und nur sehr weniges darf sich als wirklich bezeichnen und eine Richtung zu weisen beanspruchen. Denn das den Raum wegnehmende Bestehende als das ewige Hemmnis verdankt seine Konsistenz vorerst einem rein Psychischen: seiner G e l t u n g als Wirklichkeit. Fällt diese Anerkennung, so ist die Atmosphäre gereinigt und die Welt realiter ebenso weit wie das „Gehirn". Hier sollen die praktischen Situationen und Forderungen wie siesich, gesehen in dem Medium dieser metaphysischen Atmosphäre, darstellen, angegeben werden: die soziolo gische Welt ist erfüllt mit unwirklichen Vorhandenheiten. Das sind, — wofür oben die wesentlichsten theoretischen Momente angeführt wurden, — die meisten der großen Zusammenfassungen generativer Gesamtheiten, die wir unter dem Namen der einzelnen Nationen kennen. Ein von Grund aus anhebendes Einsehen und Eingreifen in die soziologische Wirklichkeit — und nur ein solches hat auch nur die Aussicht, über die Ebene des ewigen politischen Zusammenbrechens einmal hinauszugelangen — kann vorerst alle diese Zusammenfassungen nicht anerkennen. Wohl bea cht et: können unter solcher Perspektive nur diese nicht anerkannt werden, nicht etwa zu Gunsten einer Streichung von nationsähnlichen Einheiten ü berh aupt und nicht zu Gunsten einer Atomisierung der Völker in die „allein realen Einzelnen". Das, was es an Gegebenheiten gibt, die sich den Namen „Volk" beilegen, kann nicht anerkannt werden. Denn es hat - im Großen gesehen — für sich selbst kein unmetaphorisches Leben mehr, sondern wird nur noch „gedacht". Es ist möglich (in geringem Ausmaß sogar wahrscheinlich), daß innerhalb einer oder der anderen dieser historischen Einheiten, die England, Frankreich, Rußland, Deutschland, Italien, Tschechien, Irland oder wie immer heißen, noch Elemente einer echteren Einheit sich finden, aber diese würden nicht in eine der Hüllen passen, wie sie heute um dfe Überbleibsel der einstigen lebendigen Urgebilde aller dieser Größen — schlottern. Das erst gilt es sich vor allem anderen bewußt zu machen: daß diese ungeheuerlichen, die ganze Welt ausfüllenden, überall entscheidenden Größen trotz aller Konkretheit ihrer Äußerungen, trotz fühlbarster Drastik ihrer Einrichtungen, trotzdem von ihnen Tod und Erhaltung ausgeht, — — daß diese allgegenwärtigen Gebilde eine Seite der Schembarkeit aufweisen, nicht etwa zu Gunsten der realen physiologischen Einzelperson — was oft gesehen wurde — sondern ge ra de zu Gun ste n ein er Realität ihre r eig ene n Gattun g. (Nicht nur diesseits der „Fiktion«, die die Einzelnen zusammenfaßt, liegt eine Realität —
eben diese physiologischen Einzelnen — sondern auch jenseits der Fiktion beginnt wieder eine Realität: nämlich die echte d. i. am bestimmten Individuum sichtbar werdende Zusammenfassung der Einzelnen). Das heißtf diese gegenwärtigen politischen Größen sind durchdringlich, nicht, wie oft kindisch gewähnt wurde, von der Realität der Einzelnen, körperhaften Personen, der »Menschen", um »derentwillen schließlich doch alles da sei«, diese Größen sind durchdringlich fü r ei ne Rea li tä t i hr e r ei g en en G at tu ng , vor der allein sie ihre Unwirklichkeit d. i. ihre Bestandlosigkeit und gleichzeitig ihre konkrete Angreitbarkeit enthüllen müssen, wofern es nicht, was unwahrscheinlich ist, in einem oder dem anderen Falle gelingen sollte, in ihnen Elemente von gleicher Konsistenz aufzuweisen. Für den physiologischen Einzelnen ist die Welt vermauert und verschlossen, er ist ausweglos einer gefährlichen Irrealität ausgeliefert, für die Körperlichkeit einer metaphysischen Einheit ist die Welt leer, und alle diese kolossalischen Hemmnisse sind von geringerer Dichte. Es gilt also einzusehen, daß es nicht notwendig ist, daß das Gegebene die Richtung der »Entwicklung" des Geschehens weist, sondern daß für gewisse Realitäten die Welt frei steht — und das Bewußtsein dieser Situation ist selbst ein objektives, produzierendes Element und erzeugt zunächst das, was wir die metaphysische Atmosphäre nannten. Diese für den Raum' des soziologischen Ablaufs geltende Modifizierbarkeit führt zugleich eine die Zeit -Emp findung betreffende Umschaltung herbei. Wenn nämlich der Bereich dieses Ablaufs frei wird von den überall vorhandenen starren politischen Gebilden, die ständig das Minimum eines noch übrigen Platzes für etwaige Veränderungen übriglassen und bestimmen wenn diese dauernde Unmöglichkeitsperspektive aufgehoben wird, so tritt gleichzeitig an die Stelle einer unendlich langsamen, den Blick ständig auf kommende und ferne Generationen gerichteten Progression das augenblickliche, d. h. längstens eine Generation umfassende Zeitmaß für endgültige politische Ziele: denn diese werden ja möglich. Es tritt das Zeitmaß der Einzelperson in Verbindung (nicht, wie jetzt, mit Teilen) sondern mit dem Ganz en äußerster soziolog ischer Erfordernisse. Denn es wäre absurd, wenn die Möglichkeit endgültiger Erfüllungen in den Gesichtskreis tritt, lediglich sozusagen wegen der Größe des Ziels die Erreichung zu vertagen. »Ideal" und „Zukunft" sind gegenwär tig so innig verknotete Assoziationen geworden, daß »Ideal" in der »Gegenwart" vorzustellen gegen alle Denkgewohnheit geht. Und doch ist das nicht nur die Voraussetzung allen nur halbwegs ernst zu nehmenden soziologischen Vorgehens, es ist nicht nur die eigentliche, ursprüngliche, naivselbstverständliche Einstellung — — so wie jemand bei Einrichtun g seines Einzeldaseins doch auf dessen Dauer und allenfalls die der Nachfahren, die er er le bt , abstellt, andernfalls aus einem direkten und lebensvollen Motiv ein begriffliches, schales und übertragenes würde — es bietet zugleich das Kriterium: alle politischen
Unternehmungen abzulehnen, die nicht mit bestimmten, aus der Dauer eines Einzellebens entnommenen entnomm enen Zeitmaßen und deren deren Garantien Garantien operieren, analog analo g den U eberebe rlegungen jemandes, der von einem Endziel, das er in einem bestimmten Zeitpunkt seines Daseins setzt, den Fortgang veranschlagt Hieran sind insbesondere alle Parteien zu erkennen, die ständig für irgend etwas „kämpfen" und bis zu jeder beliebigen Majorität anschwellen können, ohne daß sich das Bild der Außenwelt in wesentlichen Zügen ändert, weil sie zwar zuweilen zuweilen ein Ziel ang eben, aber nicht nicht den den Z ei t pu nk t dieses Ziels, Ziels, der ad libitum libitum zu vertagen vertag en ist — — indessen als untrügliches Kennzeic Kennzeichen hen gelten sollte, daß da ß j e d e Programmatik in dem Moment als widerlegt gelten kann, in dem evident wird, wird, daß sie nach den gemachten gemachten Anfänge Anfängen n in ihr er Ge ne ra ti o n nicht nicht zu erfüllen ist Jahrzehntelang Jahrzehntel ang werden die Anhänger Anhäng er sämtlicher Parteien mit irgendwelchen irgendwel chen Fortschritten genarrt, die in ihrer Wesentlichkeit für ein Einzeldasein und für den Einzelnen lächerlich sind, und die Veränderungen, die über dieses Nichts hinwegtäuschen, sind die unwirklichen Variationen in den parteipolitischen Konfigurationen, die für den Einzelnen schon insofern total irrelevant sind, als ihnen jeder Endgültigkeitscharakter fehlt Die metaphysische Perspektive also enthält zwei Wahrnehmungen: Erstens: Das Wesentliche soziologischer Wünschbarkeiten ist möglich. Zweitens Zweitens:: Es ist so fo rt mög lic h. Hiernach erst tritt die aus der Struktur der theoretischen Einleitung folgende folg ende Ueberlegung nach konkreten Gestaltungen auf. Nationalismus und Internationalismus haben in gleicher Weise recht und unrec un rec ht Im Vorhinein steht bei jedem uralten uralten Streit zu erwarten, daß in dem Streitgegenstand etwas Phantomartiges vorhanden sein muß, das ihn scheinen läßt, was er nicht ist — anderenfalls anderenfalls sofort und eindeutig zu erkennen sein muß, ob er bejahens- o der verneinungswürdig verneinungswürdig ist Der Streit Streit der Bewegungen um „die Nation" ist eine Antinomie, die sich dadurch auflöst, daß das Streitobjekt, „die Nation", Nation ", seines Doppelgesichts beraubt wird, wird, das aus einem empirischen und einem ideenmäßigen besteht, und daß an die Stelle dieser Doppeltheit die reale Zusammengefaßtheit gesetzt wird, von der aus gesehen Nationalismus und Internationalismus einen zwar reziproken aber genau gleichen Wahrheits- und Irrtumsgehalt aufweisen. Der Internationalismus verneint die empirischen Nationen: das ist richti ric htig; g; aber er verneint die Nation überhaupt: das ist falsch. Der Nationalismus bejaht die Nation überhaupt: das ist richtig; aber er bejaht auch die empirische: das ist falsch. Der absolut zu bejahende, d. i. metaphysische Begriff der Nation bejaht das Prinzip der Nation überhaupt: sofern wirkt er national; und verneint die empirischen: sofern wirkt er international.
Wenn We nn es keine Völker gäbe, so müßten welche geschaffen werden. Nun Nun aber gibt es keine Völker. Wa s könnte also überhaupt gesc hehen? hehen ? Hier muß einen Augenblick eine Vergegenwärtigung des prinzipiellen Kausalvorganges der Wesenheit „Volk" stattfinden: und unter den möglichen Annahmen über diesen Prozeß die Auswahl getroffen werden. Es gibt zwei denkbare Vorstellungen über die biologisch-kausalen Antecedentien eines „Volkes": die eine Vorstellung läßt in der Biogenese eines Volkes keinen prinzipiell anderen Vorgang sehen als in der Genese eines physiologischen Einzelindividuums. individuums . Danach gibt gi bt es eine Biogenese Biog enese des Volkes als solchen überhaupt nicht, sondern j e d e s Einzelindividuum Einzelindividuum kann kann bei Erfüllung der physiologischen Fortpflanzungsbedingungen sich zum „Volke" vermehren: jedes Individuum hat potentiell potentiell die Eigenschaft Eigenschaft des „S ta m mv at er s" . „Volk" ist ist die lediglich begriffli begriffliche che Zusam menfassun menf assun g dieser vielen Einzelnen. Die andere ander e Vorstellung Vorstel lung läßt eine zunehmende qualitative biologische Veränderung in denjenigen Individuen erblicken, die sich in der aufsteigenden Linie befinden, insofern nur diesen proportional der zunehmenden Aszendenz das Attribut des Stammindividuums nicht nur wegen ihrer zeitlichen Stellung, sondern auch als biologische Qualifikation zukommt — bis zum letzten Einzelnen der Aszendentenreihe, der nicht nur historisch, sondern eben auch biologisch „der Stammvater" ist Es ist unschwer unsc hwer einzusehen, einzusehen, daß d aß die erste Anschauung Anscha uung einen Primat des Körpers bedeutet, sofern es nämlich lediglich von dem Zeugungswillen und den accidentiellen accident iellen Beding ungen dazu abhängt, eine beliebige Anzahl von Individuen Individuen zu kausieren, kausieren, während jede B e g r e n z u n g dieser Möglichkeit Möglichkeit eben die qualitative qualitative biologische Andersheit bedeutet, die das aszendente Individuum von den deszendenten scheidet Wi r legen die zweite Anschauung Anschau ung zu Grunde. Diese Begrenzung bedeutet die Grenze des Volksumfanges, das vorher bestimmt best immte, e, präformierte Volk, und zu ihrem Zustandekommen Zustande kommen muß ein psychisches Element herangezogen werden: wenn nicht das Psychische lediglich lediglich die W i r k un g der materiellen Verm ehrun g sein sein soll, (sodaß so viel Personalitäten Personal itäten zur Verfügung zu stehen hätten als eben Körper erzeugt werden,) so muß das psychische psych ische Element als vo n A n b e g i n n für den den Umfang Umfang der der möglichen möglichen Vervielfach Vervielfachung ung mitbesti mitbestimmmend gedacht werden. Die biologische Eigenschaft, Eigenschaft, die das „Stammindividuum" heraushebt, ist nun das Verhältnis seines Körpers zu eben der psychischen Größe, die den Umfang der möglichen Vervielfachung mitbestimmt Diese Beziehung bedeutet also zugleich eine bestimmte psychische Wertigkeit in B e zu g auf die Stel lung im Desz end enz -S ys tem . Der Der Begr Begril ilff „ Stammindividuum" hat nicht nur einen biologischen, sondern auch einen.psychischen Inhalt. Inha lt. Er bedeutet eine ganz besonder e psychische psychisc he Struktur, die aber in Hinstich
zum Körperlichen stehen muß. Ebenso wie etwa die männliche und weibl iche Differe Differenzi nzieru erung ng gleichzeiti gleichzeitigg zumindest zumindest das das Vorhandens Vorhandensein ein einer p s y c h i s c h e n Typus-Differenz bedeutet (selbst wenn eine wissenschaftliche Formulierung dieser Differe Differenz nz noch nicht geläng e) — — ebenso muß eine genealogi sche psychische Differenz Differenz in Geltung sein, wenn sie auch erst „im Großen « sicht bar wird und im unmittelbaren Verhältnis der Generationen überhaupt nicht zuzutreffen braucht Um sogleich diese psychische Divergenz anzugeben, deren schematische Grundlegung wir in dieser Erörterung nicht mehr hineinzuziehen haben, soll gesagt werden : daß das allgemeine Mome nt welches die psychische Wertigkeit in Bezug auf die Stellung Stellung i m Abstammungs-Sy Abstammungs-System stem kennze kennzeich ichnet net,, di e En g e de s A ns ch lu ss es der geistigen geistigen Welt an die körper körperlic liche he und und u m g e k e h r t ist, ist, die die proportional der Aszendenz zunimmt, proportional der Deszend Deszendenz enz abnimm t — freil freilich ich nicht nicht notwendig in dem Verhältn Verhältnis is be na c hb a rt er Generation Generationen, en, wohl wohl aber im prinzipiell prinzipiellen en Verhältnis der P o l e einer Generationslinie Generationslinie überhaupt, überhaupt, die sich einmal als der „erzeugende" und der „abstammende" gegenüberstehen. Es gilt hierbei, sich bewußt zu bleiben, bleiben, daß die Aufzeigung dieser Ph äno mene zwar empirisch möglich sein muß, daß sie aber in in gewisser Weise nichts anderes als die Form en des psychischen psychischen Prozesses selber darstellen darstellen,, sofern sofern denselben selben eine Kontinuität über Geschlech ter zukommt zukommt und daß das Verhältnis Verhältnis solcher Forme n apriorisch bestimmbar sein muß, wenn es unter psychischen Möglichkeiten ein Prinzip der logischen Reihenfolge gibt, was, unerachtet aller Hegelsch en oder sonstigen Dogmatik, kaum abgewiesen werden kann. Hier ward also als die Situation des „Anfangs" (nicht etwa eine geringere geistige Valenz sondern) eine umfangreichere und intimere Bezogenheit von psychischer und materiaier Wirklichkeit aufeinander angegeben. Dem Dem entspr entsprich ichtt die die Un wi l lk ür li ch ke i t der geisti geistigen gen Hervorb Hervorbrin ringun gungen gen in den primären Individuen infolge der zahlreicheren und ungehemmteren Kommunikationen zwischen Geist und Körper. Körpe r. Daher die alte Zeit und insonderheit die Urzeit durch das „Gelingen" der geistigen Unternehmungen charakterisiert ist, weil das das Psychi sche in engerem Zusammenhang mit dem Körperlichen über umfänglichere umfänglichere und reichere reichere Mitte Mittell geb ot aber zugleich zugleich auch eben eben als Ps y c h i s c h e s d. i. als als di s t a n t zum Körperlichen weniger hervortrat. Das bedeutet gleichzeitig die Sicherheit g ege n die ge ringe re eigentliche Bewußthe it Der We g war den Früheren intensiver vorgezeichnet: Dem alten Volk war sein psychisches Programm mitgeg eben. Alle Teleo logi e stand dem Physischen Physischen näher, und sie war folgeweise mit dem genealogischen Zusammenhang schon mitgegeben: durch die Stammeseinheit war das das geistige Ziel verbürgt und und mehr oder weniger weniger mit ihr ihr id e n t i s c h . Aber in dem Maße, in dem diese unmittelbare Verknüpfthe Verknüpftheit it und der spielende Verkehr zwischen der psychischen psych ischen und der materiellen Realität nachlassen d. h. in dem
beide auseinandertreten, das Materielle eine extreme Außenheit und das Geistige eine extreme Bewußtheit annehmen,'in eben dem Maße verliert sich die relative Kürze der Verbindung zwischen geistiger und körperlicher Wesenheit Damit ist jener typisch und ewig gegenwärtige Zustand gegeben, in dem das Bewußtse Bewußtsein,, in,, von der Fühlungnahme mit der Welt des Körperlichen abge schnitten, auf sich selbst angewiesen ist und aus sich selbst die tausend AuswegsSysteme hervorbringt, denen allen die Irrealität d. i. die Unkörperlichkeit anhaftet Diese Berührungslosigkeit der beiden Pole der Wirklichkeit bedeutet Sterilität und Chaos. Chao s. Die Ebene des Körperhaften ist verschlossen versch lossen und von ihr aus ist also nichts zu entnehmen, was dennoch die Proble Pro bleme me des leibhaftigen Daseins auflösen könnte. Was ehedem der Geist leistete in dichtem Anschluß Ansc hluß an die körperkörper hafte Gegebenheit und ähnlich schwankungslos wie diese, das verfiel mit diesem Zusammenhang. Die Bewußtheit zerstörte diesen diesen Zusamm enhang, denn sie erweiterte weiterte maßlos die Di s ta nz zu allem allem Physischen. Diese chaotische Konstellation Konstellation ist die ewige Gegenwart: allen geistigen Strebungen und Mitteln entspricht kein Körperliches. Die „rein geistigen" Vorschläge, Ideen dieser Epoche entstammen dem richtigen Instinkt, daß auf dem Wege über die entlegenste Bewußtheit zur Lösung zu gelangen sei, sei, aber sie wagen sich nicht weit weit genug in diese Entlegenheit hinein, hinein, weil sie sich allzuweit von den „Tatsa „Ta tsache chen" n" zu entfernen fürchten und nicht vermuten, daß nicht nur diesseits sondern auch jenseits des BloßGeistigen Geistig en die Körperlichkeit beginnt d. i., daß der Geist noch auf eine andere Weise Wei se mit der Materialität zusammenzutreffen zusammenzutreffen ver mag als auf die dem BewußtBewu ßtsein entzogene oder veräußerlichte. Die weitest getriebene Bewußtheit trifft trifft wieder auf den Körper, nicht mehr nur auf dessen empirische, sondern auf dessen des sen ehedem vor-empirische Seite. Dort liegen die Handhaben, den zerrissenen Nexus zwischen materieller und psychischer Welt wiederzuknüpfen und die, ewige Unfruchtbarkeit mit sich führende, Diskrepanzzwischcn teleologischem und physiologischem Verhalten zu indifferenzieren. Das Schema zeigt die umgekehrte Sachlage als „im Anbeginn«: Vorm als: die Physis bringt das geistig e Telos "m it sich. Ein biolog ischer Tatbestand verbürgt einen geistigen. Danach: die die Physis Physis und und das geistige Telos di ff er ie re n. Geist und Materie entarten zu beziehungslosen pathologischen Selbständigkeiten. Sodann: Sod ann: das Telos wird zu einem ei nem konstruktiven Elem ent einer bis dahin prinzipie prinzipiell ll nicht gekannten Physis. Ein geistiger Tatbestand ver bürgt einen einen biologischen. Das alte Volk ward mit seinem Programm geboren. Ein künf künftig tiges es Volk Volk kann kann auf Grund einer geistigen geistigen Realität Realität g e g r ü n d e t werden in einer Weise, daß die physiologischen Kriterie Kriterien n einer solchen Einheit,
der biologische Zusammenhan g que r durch die Reihe der Einzelnen, ebenso evident werden, wie beim einstmals „natürlichen" Volk. Aber in allem, was den Geist angeht, überbietet das „Künstliche" die „Natur". Denn was nicht im Bewußtsein ist, kann verloren werden, was aber im Bewußtsein ist, kann stabilisiert werden, und wenn das Bewußtsein die Körperwelt auf einem bis dahin metaphysisch erachteten Wege wieder erreicht, so ist seine Absichtlichkeit der ehemaligen Natürlichkeit schlechthin überlegen; wie denn, wenn es überhaupt ein „vernünftiges" transzendentales Geschehens-Prinzip gibt, ein solches lediglich darin gesehen werden könnte, daß etwas, was vormals auf blindem, „natürlichem" Wege vor sich ging (und darum irgendwann in die Irre ging), durch das Bewußtsein hindurch müsse, um Subjekt und Objekt einsinnig zu gestalten, welches die einzige Möglichkeit einer sogenannten „Weltordnung„ zu sein scheint, wofern das Bewußtsein nur nicht im Bloß-Psychischen haften bleibt. Das alte Volk, das heißt: ein geistiges Programm ward physiologisch geboren. Einst gewährte die Körperwelt eine geistige Aufgabe: eine Teleologie, jetzt stehen wir vor der Möglichkeit, daß eine geistige Notwendigkeit eine Körperlichkeit zusammenzusetzen habe, die auf dem Wege der ehemals wirksamen „Natur" nimmermehr zu erreichen ist Dieser fehlerhafte Gedanke: — die Menschengesamtheit einem Ziele entgegenzu zü ch te n — ist gedach t worden. Von Nietzsche und anderen. Er ist nur denkbar, wenn die Gesamtheit, die ein Telos zu erfüllen hat, als reale Einheit s c h o n b e s t e h t Von einer schon bestehenden wirklichen Zusammengefaßtheit und deren Bewußtsein aus, das unverlierbar zu machen ist, kann die Natur fortwirken, aber ohne diese Realität und deren Bewußtsein gilt wieder nur der blinde Weg der Materie, die, ohne in die Form der Einheits-Körperlichkeit gefangen zu sein, vom Geiste nicht angreifbar und also nicht lenkbar ist: es wiederholte sich noch rapider der Irrgang, der schon einmal aus einer Erfüllungs-Epoche heraus in die „Gegenwart" geführt hat Es kann nicht mehr, wie einstmals, die reale Gemeinschaft einer Teleologie gezeugt werden. Die realen „Völker" aber sind tot Somit kann in diesem Zeitpunkt der Welt eine körperhafte Zusamm engefaßtheit, ein reales „Volk", nur noch durch ihre schon vorbestehende psychische Wirklichkeit - g e g r ü n d e t werden. Jetzt ist eine ps y c h i s c h e Gegebenheit das Erste — aber ein Psychisches, das im weiteren Verfolg physische Konsequenzen hat —; sein Inhalt entsteht, so oft eine Seite der äußersten entscheidenden Problemsphäre eine augenblickliche, konkrete, zur momentanen Lösung gespannte Gestalt annimmt; und diejenige
Vielheit von beliebigen Einzelnen, auf die jene Gestalt der Frage nicht als nur „philosop hische" d. i. ewig Zeit-habende, sondern als private d. i. befristete und persönliche absolut lösungs-v erlangen de und -mögliche Angelegenheit übergreift, in jenen Einzelnen liegen die Element e einer „realen Einheit". Denn die Lösungsmöglichkeit und -Notwendigkeit, die den allein betrachteten physiologischen Einzelnen übersteigt, erzeugt hier auf dem psychophysischen Felde etwas, was sonst nur aus der physischen Ebene bekannt ist: die Steigerbarkeit d. h. eine reale Wertigkeit der Einzelnen i n Be zu g auf an d e r e d. i. als Summanden — und erzwingt damit zuletzt eine nicht begriffliche, sondern physische Einheit bestimmter Individuen. Das Instrument zu deren Zusammenstellung ist also ein vorerst geistiger Ausdruck der Lösungsmöglichkeit einer nicht letztlich als „Wissenschaft" sondern als soz usagen private • Notwendigkeit empfundenen Frage — ist eine solche Lösungsmöglichkeit mit allen ihren Konsequenzen für das konkrete Dasein, die zusammen eine „kulturelle" Atmosphäre bildet, in der die Gesamtheit der von dieser Möglichkeit Betroffenen lebtDenn von dieser Lösung und dieser realen Gesamtheit derivieren, wie oben dargelegt, die Auflösungen der Probleme des konkreten Daseins. Diese Konstituierung einer Gesamtheit „v on o be n her", von der entscheidensten und letzten Frag- Würdigke it her, bedeutet die radikale Umkehrung der Richtlinie des ewigen Mißlinge ns: dem Aufbau-Versuch „ vo n un te n he r" d. h. von der Vor-Behandlung der Probleme des sogenannten praktischen Daseins vor den „geistigen". Diese praktischen Probleme , voran die der „Wirtschaft" sind, fü r si ch genommen und vorerst behandelt, u nl ö s b ar . Das bedeutet die jahrtausendalte Katastrophe in diesen Dingen. Damit sicherte sich das Geistige letzten Endes vor der völligen Vergessenheit So gültig das Prinzip von unten nach oben bei der Konstruktion physikalischer Verhältnisse, so ungültig ist es bei der Konstruktion menschlicher. Das ist eine immense Schwierigkeit und gleichzeitig die Garantie, die einzige, des NichtMaterialismus: daß noch die Stillung des Hungers, sicherlich was das Ganze angeht, von der Erfüllung äußerster, vorerst geis tiger Voraussetzungen ab häng t Die Fälle dieser Kristallisationen von Einheiten um eine teleologische Aufgabe waren in der alten Form und werden in der kommenden Art die die Geschichte lenkenden sein. Aber die «reale Einhei t" war und ist der Ausnahme-Fall des „Treffens" unter den zahllosen Möglichkeiten des Geschehens, und unter diesen diejenige, von der aus die anderen Sinn und Maß bekommen. Dieser als „ausgezeichneter" zugleich seltenste Fall mußte gleichwohl in seiner endgültigen, typischsten Gestalt der Schein-Existenz und Metaphorik als anderem
Pol entgegengestellt werden, weil allein die antipodisch re s t l o s e Umschreibun g der Realität überhaupt erst Deutung und Wertung alles Übrigen, Vor-endgültigen gestattet Die reale Einheit nimmt ihren Ausgang von »Oberhalb des Bestehenden", von einem bestimmten Grad geistiger Spannung und ihr Anfang sieht völlig anders aus als »Politik". Sie mußte aber vorerst gezeichnet werden, weil sie den Typus abgibt für eine Struktur, die auch das „Bestehende" erfassen kann, vorausgesetzt, daß Kräfte da sind, die einer anderen Form bedürfen. Was ist nun das soziologisch „Beste hende«? Es ist alles unter Ausschaltung des teleologischen Bewußtseins Gewordene, aber es ist zugleich Reservoir und Material auch der ec hten d. i. unter Mitwirkung dieses teleologischen Bewußtseins zustande kommenden Realität. Da aber die Tendenz des teleologischen Bewußtseins in den Situationen des „Anbeginns", der Urzeit, von der „Natur" d. h. in einer unwillkürlichen Form gewahrt ist, so laufen, zwischen der Epoc he des »Anfangs« und einer vom teleologischen Bewußtsein zu bewirkenden zukünftigen, Verbindungslinien, die nur durch die »Gegenwart" verwirrt und, wenn auch nicht unterbrochen, so doch teilweise unsichtig gemacht werden -r weil wir, im Gegensatz zu den realen Einheiten des Ehemaligen und Kommenden im Gegenwärtigen den Abschnitt der illusionären soziologischen Zusammenfassungen durchlaufen, die dem Chaos in der psychophysischen Beziehung entstammen. Aber diese illusionären Einheiten werden irgendwelche Elemente der einstigen realen enthalten und auf Grund der Geltung alles »Beginnenden« für das Teleologische werden auch diese Sc hein-Gesamtheiten des „ Bestehenden«, soweit sie noch von der primären Realität bruchstückhaft einen — vornehmlich genealogischen — Anteil haben, wesentlich für die zukünftig zu erreichenden Kristallisationen existenter Volkseinheiten — — werden gerade gewisse von einst unversehrt vererbten Elemente in den im übrigen nur begrifflichen Vielheitsgrößen, »Staaten«, auf die Gestaltungen der kommenden Zusammenfassungen ansprechen. Wie stark nun überhaupt in dem sogenannten Bestehenden, den Einheiten der soziologischen Welt, umfassenderen und untergeordneten, Verwandlungsmächte vorhanden sind, läßt sich so lange nicht mit Sicherheit entscheiden, solange die logische, reale Möglichkeit einer anderen Bildung als der bestehenden nicht gegeben ist Denn blind kann so wenig ein Schritt gemacht werden, als Erfahrung ohne die Voraussetzungen, die sie ermöglichen. Es können die stärksten Änderungs-Gewalten vorhanden sein, aber sie sind genötigt, einander aufzuheben, wenn sich nicht ein Gefäß öffnet, ihre Wirkung aufzufangen. Alle erdachten Ordnungen aber, ob kapitalistische oder kommunistische, sind Schein-Gefäße, denn sie verkürzen eine Seite des Existierenden und lassen
ein Wesentliches draußen. Ihre Konkretisierung bedeutet notwendig neue Konvulsionen, denn letzten Endes ist die logische Restlosigkeit ein Attribut und Ingredienz der Wirklichkeits-Fähigkeit Hier wurde unternommen, die reale Einheit als die widerspruchsloseste Form aufzuzeigen und ihre Strukturlinien sollen somit ais normative Inhalte formuliert werden, die das Bestehende annehmen kann, wenn anders ihm als solchen die prinzipielle Unzulänglichkeit vindiziert werden muß. Aber in einer Atmosphäre, die über dem Durcheinander, wittert, das aus Realitätsüberbleibseln und Fiktionen besteht und die heutigen »Staaten" bildet — in einer solchen Atmosphäre können diese Inhalte weder eigentlich wahrgenommen, noch etwa gar kompetenzgerecht zur Entscheidung gestellt werden. — — Diese Inhalte setzen bereits eine grundsätzlich andere Anschauungsebene voraus, von der aus sie überhaupt erst systematisch und konkret zugänglich sind, ein Einstellungsniveau, das hier durch die »metaphysische Atmosphäre" bestimmt wurde, deren erstes Zeichen ist, daß die bestehenden Einheiten als reale Größen überhaupt geleugnet werden und demzufolge nicht als zu konservierende Fakta in Rechnung gestellt werden. Genauer: Leugnung , nicht im Sinne einer grund sätzlichen Aufhebung dessen, was vorhanden ist, sondern im Sinne seiner Aufhebung für den Fall seiner tieferen Irrealität; ausnahmsloses und grundsätzliches Zitieren aller politischen Einheiten dieser Kulturwelt — auch der hehrsten, »geschichtlich gewordensten« und gefühlsbetontesten — vor dies Gericht der Realität, vo r dessen Entscheidung diese nicht anerkannt werden kann: auch wenn eine der an Alter ehrwürdigsten Zusammenfüg ungen auf dem Spiele steht, (die für eine weit umfänglichere Vielheit verbindlich zu sein beansprucht als die ist, für die sie realiter noch verbindlich ist) d. Ii. wenn solche historische Einheit buchstäblich eines halluzinatorischen Charakters teilhaft wird. Um es noch einmal zu sagen: nicht aus einer platt-internationalistischen Perspektive heraus waren alte Einheiten zu bekämpfen, nicht aus dem Dogma des »allein realen Einzelnen" heraus — dies gesetzt, gäbe es überhaupt keine soziale Problematik — sondern zu Gunsten neuer d. i. wirklicherer Einheiten. v Die Zwischen.-Erscheinungen zwischen der »realen Zusammengefaßtheit" und dem, quoad »Volk", körperlosen Status haben wir vor uns: wenn der Kristallisationspunkt einer Gesamtheit zwar deutlich gegebe n ist, aber doch noch nicht der (den Streit zwischen Bewußtsein und Materie ordnenden) metaphysischen Intensität entstammt, d. h. in einem mehr physischen oder mehr geistigen Bereich liegt (etwa einem nationalen oder einem ökonomischen) indessen das »gegenwärti ge* Schein-Gesamtheitsgebilde ü b er ha up t k ei ne n Schwerpunkt hat, oder deren eine ganze Reihe, die sich nicht endgültig auseinanderzusetzen vermögen und die zentrifugalen Erschütterungen in allen „Staaten" bedeuten. Diese Konvulsionen führen nicht etwa aus Gründen einer übergeordneten bindenden Energie: »des Staates«,
nicht zur Zerreiß ung des Ganzen, sondern nur deshalb, weil sie einander entgegenwirken und sich paralysieren, wobei der Staat nicht etwa die Rolle des stärksten Dritten, sondern nur die des bewußten oder tatsächlichen Kr aft- We nders spielt. Solche Zwischen- Erscheinungen zwischen realer und illusionärer Einheit sind gegeben, sobald die Bindungs-Energie von Teil-Gesamtheiten eine zentrifugale Tendenz annimm t d. i. stärker wird als die Bewertung der Staats-Ganzheit, weil in der Teil-Gesamtheit ein größeres Deckungs-Verhältnis von Einzelnem und Ganzheitauftrittund eben damit diese untergeordnetere Zusammenfassung » wirklicher" wird. Insofern sind gewisse Parteien »wirklicher« als der ihnen übergeordnete »Staat«, und eine Politik, die »Realität« zum Richtungspunkt hat, wird hier vor der Möglichkeit einer faktischen Scheidung, sofern sie bestünde, keineswegs zurückschrecken. Wo die Ansätze oder Keime wirklicherer Gebilde sich zeigen, die in anderen Gruppierungen oder Zusammenschließungen zu erkennen sind, sich um wirtschaftliche, abstammungsmäßige, religiöse oder andere Bindungszentren gebildet haben: Klassen und Parteien — da hätte ihnen die von teleologischer Einstellung gelenkte Überlegung bedenkenlos die Entscheidungsfrage zu stellen: Ob solche Zusammenschlüsse, mit denen die Struktur ihrer historisch übergeordneten staatlichen Einheit unvereinbar widerstreitet, die Intensität und den Inhaltsreichtum, zur e i g e ne n Lebendigkeit in sich tragen und demzufolge aus der alten Einheit auch formenmäßig heraustreten wollen oder nicht Generationen währendes Parteigezänk müßte mit dem Auftreten dieser Möglichkeit verstummen und alles bloß taktische Manövrieren gegeneinander mit einem Schlage seinen übrigbleibenden wahren Absichts-Kern enthüllen: Die meisten der innerstaatlichen oder querstaatlichen Bindungen würden sich vor solcher Alternative als unfähig zur eigenen Existenz bekennen müssen. Sollte aber einmal diese Frage bejaht werden können: etwa von der zum alten Staat am stärksten zentrifugalen, wirtschaftlichen Schicht, dem »vierten Stand", der für sich eine neue Wirtschaftsordnung erfunden zu haben glaubt, sollte eine solche ganze Klasse in sich eine Kraft des Eigenlebens wahrnehmen, so hätte die metaphysische Perspektive den Blick auf etwas zu lenken, das seit langen Zeiten — von gering en, intensitätlosen und aufs Kasuelle gerichteten Gedanken abgesehen — aus dem Gesichtskreis der weltpolitischen Ueberlegung geraten ist:. Die Wanderung von Völkern und Gesamtheiten als Ganzes. Wohl tauchte gelegentlich die »Abwanderung" von mehr oder wenig er zahlreichen Einzelnen, die in eine andere Volksgesamtheit eindringen, als »Ausweg« vor »Übervölkerung" auf — aber kaum ward in neuerer Zeit je ernsthaft ein Unternehmen zu entwerfen versucht, des gleichzeitigen, Millionen umfassenden Sichin-Bewegung-Setzens ganzer Volksschichten, eine regelrechte Völkerwanderung mit dem Ziel einer neuen territorialen Einheit als Lösungsmittel anders nicht lösbarer Verkrampfungen.
Alle wirtschaftlichen Verteilungs-Künste werden in einem Falle fruchtlos bleiben müssen — und die ewige Sterilität und Aussichtslosigkeit aller politischen Kämpfe zeigt diesen Status — wenn das zu Verteilende, oder die Materie, die zum Leben der Völker verbraucht wird, im Verhältnis zum Umfang der Gesamtheiten ni ch t au s r e i c h t : Länder oder Rohstoffe. Vergeblich werden sich Ideen von Wirtschafts-O rdnungen bekämpfen, wenn die Zusammenfassungen von MenschenGesamtheiten unnatürliche sind. Solange der Verkehr der Welt hindernislos läuft, kann das Mißverhältnis von Land und Gesamtheit ausgeglichen werden, aber damit schneidet eine einzige grö ßere der tausend möglichen Störungen allen Völkern den Atem ab, die aus eigenem Material nicht zu existieren vermögen. So gibt es nur ein logisches Entweder-Oder: reibungsloser Verkehr oder W a n d e r u n g der V ö l k e r : das ist entweder T r a n s p o r t der Güter des physiologischen Daseins oder Aufsuchen dieser. Hier kann bei weitem nicht von den Ländern die Rede sein, die unberührt im Überma ß daliegen, noch von allem Einzelnen dieser Möglichkeiten — denn es kann nicht bestritten werden, daß letzten Endes die gesam te Menschheit von der Summ e der bearbeiteten Länder erhalten wird — nur eine prinzipielle Überlegung ist anzudeuten: Der Sturmlauf gegen das „kapitalistische System" muß ewig vergeblich sein am O r t e se i n e r Ge l t u n g . Der Kapitalismus ist das mächtigste und tiefste aller Systeme und kann jeden Einwand gegen sich einbeziehen im G e b i e t seines In - K r af t - s e i n s . Um gegen den Kapitalismus überhaupt etwas auszurichten, ist es vor allem unerläßlich, aus seinem Wirkungsbereich herauszutreten, denn innerhalb dessen vermag er jede Gegenwirkung aufzusaugen. Das rä u m l i c he Verlassen der kapitalistischen Herrschaftsgebiete ist somit unausweichliches Gebot für alle Zusammenfassungen, die sich einen anderen Grundriß ihres materiellen Daseins erstreben und für diejenigen, die das durchaus nicht erstreben, würde diese Loslösung zuletzt doch die Befreiung von einer ebenso wenig abzuweisenden wie zufriedenzustellenden Macht bedeuten. Betraf dieses Prinzip der Völkerwanderung, das in manchem Betracht den Bürgerkri eg ablösen kann, eine wesentliche Voraussetzung zur Entstehung wirklicherer Einheiten: die Entwirrung der zentrifugalen Tendenzen, die den Tod jeder realen Zusammengefaßt heit im Anbeginn bedeuten müßten — betraf dieses Prinzip der Verselbständigung von Gesamtheiten die ä u ß e r e Umgrenzung des Materials zu einer möglichen realen Einheit, so gilt es noch die unumgänglichsten Bedingungen ihrer inneren Struktur in normativen Fassungen aufzustellen. Es handelt sich um die Zentrai-Frage aller Gesamtheitsordnung: die der Klassifizierung von Menschen.
In der realen Einheit ist gemäß dem in der theoretischen Ableitung Angegebenen, das Problem des ob j e k t i v e n R a n g e s gelöst Auf alle soziologischen Erscheinungen, die v o r diesem typischen vollendeten Fall eines Zusammen liegen, sind nun dessen fundamentale Gültigkeiten sogleich dergestalt zu übertragen: Daß die psychophysischen Attribute oder deren Konsequenzen, die in der realen Einheit als objektive Kennzeichen gewisse Individuen herausheben, in allen Vor Stadien einer metaphysischen Gesamtheit in Gestalt strikter, momentan zu erfüllender Forderungen gesetzt werden, denen die eine Lenkung des ganzen beanspruchenden Individuen sich zu unterwerfen haben, wiewo hl i hn en die aus einer metaphysischen Gebundenheit resultierende Steigerung ihrer Fähigkeiten noch nicht zur Ve rfü gu ng st eh t • Das heißt: es ist eine metaphysische Perspektive anzusetzen, obzwar die Voraussetzungen des vollendeten Status noch nicht oder nur unvollkommen (etwa nur vorwiegend psychisch) gegeben sind. Dennoch gibt es keinen anderen Modus, weder einen über das empirische Niveau hinaus liegenden Zustand zu erreichen, noch objektive Kriterien für realiter rangunterschiedene Einzelne zu stabilieren, als die Bedingungen dieses ErfüllungsStadiums vorher gewillkürt zu setzen: das ist die in einer metaphysischen Atmosphäre zutreffende Optik. Damit geschieht eine vollkommene Umkehrung aller der die „gegenwärtige" ungesteigerte Situation beherrschenden Geltungen für den T y p u s d e s zu e i n e r „R e g i e r u n g" B e f u g t e n . Eine unumgängliche Vorbedingung dafür, daß ein bestimmtes Individuum kein psychophysiologisch abgetrennter Einzelner sei, sondern bis in die empiriebedingend-materiale Existenz hinein über das gewöhnliche Maß eine GesamtheitsRealität darstelle, ist selbstverständlich die, daß nicht gerade durch die Beziehung zur Gesamtheit sgröße dieses psychophysiologische A b g e t r e n n t h e i t s-Dasein irgendwie g e s t ä r k t und gefördert werde, wodurch der Accent immer auf dieses letztere fällt: dahin gehören sämtliche materiellen, der psychophysiologischen Einzelperson zukommenden Vorteile, die die illusionäreSocietas verschwenderisch auf ihre Leitenden ausschüttet. Jede E n t g e l t l i c h k e i t und gar die Gestaltung der entscheidenden Einwirkungsmöglichkeit auf eine soziologische Einheit als ein B e r u f bedeutet im Vorhinein das Zerschneiden der Verbindungslinien, ohne die eine reale Zusammengefaßtheit nicht konstituiert werden kann: die a b s o l u t e E n t s c h ä d i g u n g s l o s i g k e i t der irgendwie r ic ht un gg eb en de n Einzelnen ist somit erste indiskutabelste Voraussetzung. Es sei hinzugefügt, daß das unbedingt Lebensnotwendige nicht ausgeschlossen sein kann, daß aber im Hinblick auf das E i n z e l sein die e n t s c h e i d e n d e n Elemente in einer nicht scheinbaren
Vielheit eher der schlechtestgestellten als der bestgestellten ökonomischen Schicht zu gleichen haben. In der metaphorischen „Gesamtheit" bleibt der Einzelne, der an die Führung herantritt, insofern ein Einzelner, als er nur das, was er nach „bestem Wissen und Gewissen" ausrichtet, zu vertreten hat und nur für den „guten Willen" verantwortlich ist Das M iß g lü ck en wird ihm n ic h t zugerechnet, denn er tat, was „in seinen Kräften stand" — er haftet nur sozusagen für diligentia quam suis, für die Anspannung, die er in eigenen Sachen, in den Dingen seines Einzeldaseins einsetzt: er bleibt, wiewohl Lenkender einer Gesamtheit dennoch ein Einzelner, solange — im Großen — die bona fides seine Verantwortung begrenzt Bei jeder Art der wirklichen Zusammengefaßtheit oder im Falle der Orientierung nach ihr haftet der Ric ht un gg eb en de e iner G esa mth eit für den Er f o lg. Es tritt eine völlig veränderte Beanspruchung an ihn heran, in dem Moment, da an die Stelle der empirischen eine teleologische Perspektive eingesetzt wird, deren Kennzeichen nicht mehr ist „guter Wille" — sondern das Kö nn en schlechthin und nur dieses und ohne die Begrenzung des „Menschenmöglichen". Es fällt jede Rücksicht auf eine private Bewußtheit, jedes in Rechnungstellen des besten Willens oder des Einsetzens aller Kräfte eines solchen Einzelnen: es gilt einzig und allein der Erfolg. Und er haftet für diesen mit seiner p h y s i o l o g i s c h e n Existenz: die Ve ra n t w o r t u n g ist unbedingt eine le ib li ch e: das Mißlingen einer von ihm geleiteten gesamtheitlichen Unternehmung trifft ihn ausnahmslos körperlich; er steht nicht mit seinem „Ansehen" und seinem „Ruf für die selbstverständlich bona fide vorgenommenen sozialen Operationen ein, sondern mit seinem Leben. Nicht anders steht es bei der Verbundenheit von Societas und einzelner physiologischer Existenz und anders kann es folgeweise auch nicht bei einer Einrichtung nac h dieser, einstweilen metaphysischen, Ordnung gelten — — indessen alle die „Achtung" und den „Namen" eines Leitenden treffenden Konsequenzen recht aus dem Geiste der Metaphorik stammen und der illusionären Gesamt heitsgebilde: denn noch immer hatte der also „Betroffene" einen Partei-Anhang um sich, der ihm sein gutes Gewissen und das Bewußtsein, „das Beste ge wollt" zu haben erhielt und ihn die „Namensschädigung" ohne Beschwerden ertragen ließ. So befremdlich und so „überwunden" in dieser Kultur-Atmosphäre das Verhalten antiker o der naturhafter Volkseinheiten anmuten mag, die den fehlgreifenden Staatsmann oder den geschlagenen Heerführer an Leib und Leben straften — nicht weil es ihm an bestem Willen und äußerster Einsetzung, sondern am Gelingen fehlte — — so viel näher ist diese Einstellung der objektiven Erkenntnis vom Wes:n einer wirklichen Gesamtheit Gänzlich andere Lebens-Bedingungen gelten für das Individuum, das der Gesamtheit sozusagen „verfallen" ist, als für das mehr oder weniger private
(— — obzwar in der realen Einheit niemand „privat" ist, wenngleich alle an wesensverschiedene Or te der Societas gestellt sind). An dem entscheidenden Punkte einer realen Einheit, bei dem man an eine unmetaphorische psychische „Höhe" zu denken genötigt ist, beginnt nicht nur die Mö gl ic hk ei ts eb en e des V o r a u s w i s s e n s — — diesen Punkt innezuhaben bedeutet vor allem für den oder die bestimmten Einzelnen das Auf-sich-nehmen der Bedingung des Vorherwissens auf je de n Fall. Denn auch, wenn die psychophysiologischen Voraussetzungen der Steiger ung ni cht oder noch nicht erfüllt sind, so muß dennoch dieses Erfordernis fixiert bleiben, weil es Ingredienz und Richtungspunkt zu einer objektiven sozi ologischen Einheit ist — — es muß diese Forde rung bestehen, selbst wenn ihre Aufstellung und der Versuch, sie zu befriedigen, in Folge jener „normalen" ungesteigerten Situation jedes Risiko in sich birgt Diese Belastung ist ein Symptom, daß man es hier mit der zentralen Angelegenheit des Einzel- und Gesamtheitsdaseins zu tun hat, und daß dieses Problem, ein individuell unlösliches, auch nur durch jene k ö r pe r h a ft e V e rbindung dieser beiden Existenzformen lösbar ist, die oben analysieit wurde diese Sachlage läßt ein Problem in die Mitte aller „politischen" Operationen und in den Interessenpunkt alles öffentlichen Geschehens rücken, statt daß es wie gegenwärtig am Rande aller Konkretheit, in femer spezialphilosophischer Betrachtung eine spärliche und seltene Belichtung erfährt In dieser Umstellung, dieser Vertauschung von möglichen Schwerpunkten soziologischer Wesenheiten, in dem Hervorziehen der fundamentalen Fragwürdigkeiten gegenüber den provisorischen und in ihrem Hineinziehen in das materielle Dasein, erkennt man unschwer das Unterscheidungsmoment, das die naiven, betreffs des Ziels, des telos, in einer einzig möglichen, unbefangenen, selbstverständlichen Einstellung befindlichen voreuro päischen oder nichteuropäischen Gesamtheitsgebilde von dem typisch „e u r o p ä i s c h e n " trennt: die Erheblichkeit des »Prophetismus" für das ganze soziologische Gefüge. Aber auch ohne daß die psychophysiologischen Gegebenheiten einer Gemeinschaft so weit potenziert sind, daß sie als eine reale anzusprechen ist, ist allen diesen für den Typus der entscheidenden Personen einer Vielheit normierten Gesetzen zu genüge n; denn die Ue bernah me aller dieser Bedingungen durch jene Individuen ist das einzige Kriterium der Erkennbarkeit eines realen Wertunterschiedes von Einzelnen in einer Gesamtheit und der objektiven und sichtbaren Klassifizierung in einer solchen. Die objektive Klassifizierbarkeit aber ist essentielle Voraussetzung einer wirklichen Einheit. Welch e Inhalte in einem gegeb enen Falle ein soziologisches Unternehmen zu verwirklichen habe, liegt weit außerhalb des Umkreises dieser allgemeineren Untersuchung, in der aber einiges über die Mittel der Auffindung der für die
Aufstellung dieser Inhalte nicht entbehrlichen und nicht ersetzbaren Einzelnen aus dem Zusammenhange des Ganzen zu folgern war. Generell aber sei für die Aussichten eines teleologischen Vorhabens daran erinnert: — Zum Wesen einer „theoretischen" Unternehmung gehört durchaus das Ein setzen der Materie. Keineswegs kann von einem irgendwie „geistigen" Versuch eine EinwirkungsGarantie erwartet werden. Die Materie aber nach Art der empiristischen politischen Gewalten wirken zu machen kann nicht im Verfahren eines von der psychischen Ebene, „von oben" aus anhebenden soziologischen Gebildes liegen: Die Macht der illusionären Einheiten bedeutet: die Verbindung dieser metaphorischen Gesamtheit mit der technischen Behandlung der Materie. Es gibt aber noch einen anderen Zuga ng zur Materie — das ist der, der über das psychische Vermögen zu ihr auf dem Wege geht, der an den körpermäßigen Entstehungspunkt der wirklichen Einheit führt (wie oben analysiert wurde), in deren Wesen ihre Stellung zum Materiellen und ihre Macht mitte begründet sind. Es handelt sich nicht um „Geist" und nicht um .Ma teri e", sondern um ihre Auseinandersetzung d. i. Metaphysik.
III. Aber die Energien, die entstehen, so oft und wo überall die Einsicht gelingt, daß die Katastrophe dieser Soziologie ewig sein müsse — diese Energien, die die Luft der politischen Welt laden, werden an einem Kristallisationsgebilde niederschlagen und sich dort binden. Dieses Gebilde einer Zusammenfassung, der Träg er solcher Kräfte und Einstellungen wird der Ausgangsort einer im Verhältnis zum Einstmals umgekehrten Entstehungsart einer unmetaphorischen, im Reiche des Objektiven, existierenden Gesamthei t: — der psychophysischen (statt der physopsychischen) Genesis; der naturhaft-bewußten (statt der naturhaftunbewußten). Der Ort eines solchen Beginns ist, im Gegensatz zu einer vom bestehenden Staate abzweigenden Forschungseinrichtung eine vor der Staaten„Wirklichkeit" liegende und solche erst begründende metapolitische universi tas : ein Indifferenzpunkt der soziologischen Realität, aus dem diese überhaupt erst hervorgeht und ihre Kompetenz nimmt.
Aber das Problem, das diese universitas zu lösen stellt, ist u n m i t t el b a r kein politisches, sondern ein fundamentales; der formale Zusammenschluß zu seiner Lösung ist das Politische an ihr. Das erste »P o li ti s ch e" , » Po li ti k" im »Uranfa ng* ist zunächs t un will kürl iche Beg leit ersc hein ung ei ner sich auf weit Zentraleres richtenden Bewußtseinsreihe. Deren wirkliche Problematik ist identisch mit einem Ausdruck der metaphysischen und das Soziologische ist hierbei die Hervorbringung einer die Spannung zur Auflösung dieser Aufgabe steigernden Atmosphäre, die aus der Anerkennung aller der Geltungen sich ergibt, die eine reale Gesamtheit zu konstituieren vermögen und aus der Bearbeitung desjenigen Feldes, das um jene zentrale Fragwürdigkeit lie gt (Es gilt nicht die »Sammlung von Geistigen« zwecks politis cher Betätigung — sondern eine Akkumulierung der geistigen Fähigkeit al s solcher zwecks Bezwingung der ihr an sich, eigentümlich gestellten erkenntnismäßigen Aufgabe.) Das bedeutet den Arbeitsbereich jener metapolitischen universitas durch folgende Zielsetzungen abzugrenzen: Es gilt vorerst die Umschaltung in der Wertung der Möglichkeit — Metaphysik: Gerade die e n t l e g e n s t e philosophische Theoretik ist nicht um »reiner Erkenntnis" willen da, sondern um der k o n k r e t e n Bewältigung aller ExistenzPathologie einschließlich der soziologischen willen — — o h n e um deswillen » p r a k t i s c h e " »Weltweisheit" werden zu dürfen. Da s Zi e l d er „ P h i l o s o phie" ist nicht Erke nnt nis , son der n Be wä lt ig un g all er Ko nk re th ei t abe r die se s Ziel ist nur er re ic hb ar , wenn sie die Ri ch tu ng auf rei ne Er ke nn tn is innehä lt. Das Richtunggebende ist die Dignität und Unaufschiebbarkeit gerade der empirie- f e r n s t e n Untersuchung und Einstellung. Die metapolitische universitas i s t gleicherweise selbst der Archetypus einer realen Einheit wie auch das der Ermittelung der Bedingungen solcher gewidmete Unternehmen: Sofern sie das erste ist, k a n n s i e e b e n d a m i t n i c h t u m h i n , bereits eine bestimmte universale d. i. aber völlig „politikferne" Problem-Gestalt zum Zentrum ihrer Existenz zu machen; sofern sie das zweite ist, wird sie, auf das „Bestehende« blickend, in diesem die M a t e r i a l i e n der realen Einheit aufzusuchen und so weit dieselben im Vergangenen und Gegenwärtigen den A u ß e n a n b l i c k solcher Einheiten darstellen, die Masse des T a t s a c h e n haften zusammenzubringen haben. (Die dennoch beileibe nicht » G e s c h i c h t e « , sondern Erzielung von Orientierungspunkten in einem h ö c h s t a k t u e l l e n , noch kaum gegenwärtigen Bereich bedeutet) Die Untersuchung des W e s e n s de r r e a l e n E i n h e i t , sofern sie faktisch ist, wird sich in zwei Haup trichtungen b egeben: in die eine: die der
Gewinnung der P r i n c i p i e n z u r K o n s t i t u i e r u n g einer wirklichen (d. i. als V o l k wirklichen, nicht als Einzelnen-Begriffs-Gesamtheit existierenden) Zusammengefaßtheit, welche Principien identisch sein werden mit bestimmten psychischen Ausdrücken, die im Zentrum dieses oder jenes realen „Volkes« gestanden haben oder stehen — und in die andere: die der Sichtung der m a t e r i e l l e n , p s y c h o p h y s i o l o g i s c h e n Konsequenzen und Erscheinungsformen der realen Einhei t Zwei sehr umfangreiche Arsenale sind zu erschöpfen: Wa s das sogenannte » K u l t u r - V o l k « angeht, so gibt es Fälle der realen Einheit n ur in der a l t e n Zeit (und nur unter dieser Perspektive wird es gelingen zu den ebenso provozierenden wie uneinreihbaren Gegebenheiten der „mythologischen Geschichte« überhaupt eine andere als die hilflos umdeutende Stellung zu finden) — das N a t u r - V o l k existiert in dem Status der wirklichen Gesamtheit auch in der g e g e n w ä r t i g e n Periode oder besser: ist in dieser Zeit vorhanden, weil eine Art „geschichtslosen" Daseins ihm eignet, die es zu einem Volk einer „ewigen Urzeit" macht, wie es mit gutem Grunde genannt wurde. Hier ist das p s y c h o p h y s i o l o g i s c h e Material, das auf Kosten einer realen Vo lks-B i n d u n g kommt, in Sicherheit zu bringen und zu systematisieren. Dieser Behandlung des Bestehend en: — einer Sichtung desselben zur k o n s t r u k t i v e n Bearbeitung — entspricht eine a b w e h r e n d e : der Zusammentragung der empirisch-vorhandenen Elemente in Fällen der realen Einheit korrespondiert die Kritik der ungleich näheren soziologischen Gegebenheiten, die aus unwirklichen »Gesamtheiten« bestehen, und die Zerstörung dieser Tendenzen zur metaphorischen Einheit. Hier werden vornehmlich alle I d e o l o g i e n s ä m t l i c h e r P a r t e i e n zu treffen und zu destruieren sein, nicht etwa von einer „übergeordneten" Staatsganzheit aus, die selbst nichts anderes ist als eine Partei, sondern weil diese Ideologien ständig auf einem nur p e r i p h e r e n Prinzip ruhen, das eben wegen dieser Peripherität niemals eine wirkliche T o t a l i t ä t soziologischer Komplexe konstituieren kann, die allein lebendig d. i. katastrophenlos sein kann und die nur von einem sie universal d. i. z e n t r a l beherrschenden Punkt aus ergriffen werden kann also nicht von einer empirischen „Staats"ganzheit aus (die doch nur T e i l ist), sondern von einem, logisch erfordert, u n i v e r s a l e n Hervorbringungs-Ort aus, in dem alle denkbaren peripheren Gesichtspunkte, alle P a r t e i - Teleologien nicht etwa »verbunden«, sondern aufgegangen sind. Aufgehoben aber deswegen, weil der Punkt u m f a s s e n d e r Perspektive apriorisch v o r h e r die verschiedenen Strebungen konzentrisch enthält, von denen die Parteiformulationen nachträgliche losgerissene Verselbständigungen sind, aus denen nimmer mehr eine Einheit »kombiniert" werden kann, weil diese nur mechanisch ausfallen könnte. Die u m f a s s e n d e metapolitische Einstellung nämlich enthält die antinomischen Tendenzen zwar miteinander
f
|
au se in an de rg es et zt , aber impli cit e, weil ihre expl ic it e Form auf etwas anderes, nämlich auf den oben bezeichneten erkenntnismäßigen Lösungs-Ausdruck gerichtet ist — obwohl von diesem Anderen aus nun gleichfalls explicite ein notwendiges Verhalten derjenigen soziologischen Komplexe analysiert werden kann, die vpn der Parteidogmatik mit Beschlag belegt werden. Somit wird die negierende Wirksamkeit der metapolitischen universitas sein: durch Vergleich mit der an eine Endgültigkeit geketteten soziologischen Regelung die ihrem Wesen nach vo rl äu fi ge Partei-S yste mati k zu ze rs tö re n: hier muß j e d e Partei in gleicher Weise zu entlarven sein: denn keine kann an wirklich übergeordneter Einstellung teilhaben ohne ihren Begriff aufzugeben. Alle konkreten Versprechungen der Parteien müs sen hinfällig sein, weil Parteien ihrem Wesen nach (als »Teile" von Natur aus) nicht weit genug gehen kö nn en , da die extremste Radikalität einer Te il gr öß e mit Notwendigkeit — Hypertrophie, damit aber Gewaltsamkeit wird, ohne diese Hypertrophie aber jedes Ans-Ziel-gelangen unmöglich blei bt Alle Parteien müssen zu unradikal bleiben, wollen sie nicht offenbare Katastrophenpolitik treiben, alle sind nur vor die Wahl eines Zuviel oder Zuwenig gestellt und ihrer Natur nach ewig davon ausgeschlossen den organ-konstituierenden Punkt zu treffen. Dies Bewußtsein des vollkommen hoffnungslosen und unentrinnbaren Nichts allen parteipolitischen Aufwandes gilt es hervorzubringen und zwingend überallhin zu fundieren; es gilt im konkreten Fall die Behauptungen einer Partei zunichte zu machen, nicht von der Basis ihrer Gegenparteien, sondern vo n ih re r e ig en en , a be r g e steigerten Tendenz aus, die, als in einem übergeordnet Anderem — der realen Zusammengefaßtheit und ihrer Teieolog ie — enthalten, auf diese andere Ebene gebracht, sich nicht nur mit den Prinzipien der Gegenstrebung „verträgt«, sondern sogar auch de re n Intensivierung vorausset zt: wie etwa, wenn es einen org ani sc h-„ nat ürl ie hen « „Vertreter" einer Gesamtheit gäbe, (von dem der sogenannte „geniale Staat smann" ein zufälliges und einseitig-ung enaues Abbild ist und von dessen wissenschaftlicher Erfaßbarkeit hier die Rede war), der nicht durch eine nur-politisc he Konstruktion dazu »gemacht« ist, — in diesem äußerste Volksherrschaft und extremste Autokratie in eins treffen müßten. Der notwendig e Abstand jeder Partei-Programm atik, das Zurückbleiben ihrer eigenen Forderungen hinter den Gegebenheiten, die durch die Seiten der wirklichen soziologischen Ganzheit ausgedrückt werden, und in Sonderheit die zeitliche Einstellung der parteihaften Bewegungen sind geeignet, das notwendig Unzureichende auch bei den Mengen derer sinnfällig zu machen, die die obersten Bedingungen weder übersehen können noch müssen; die aber durch die Evidenz jenes Abstandes und der unausweichlichen Alternative zwischen Gewalt oder ewiger Aufschiebung dennoch in unbegrenztem Ausmaß den Parteien abwendig gemacht werden können.
Aber eine solcherart zersetzende Auswirkung der nietapolitischen universitas wäre, sowohl der Entfernung von ihrem Eigentlichen Zentrum nach die äußerste als auch die ihr sichtbarlich antinomischen soziologischen Gegebenheiten am drastischsten und leichtesten treffende. Bezeichnender aber, differentialdiagnostisch die Art und Herkunft ihrer Wirkungen — gegen über anderswoher kommenden Angriffen — auf das politische Außen schärfer beleuchtend, schwieriger zu sehen, aber von größerer symptomatischer Intensität, spannungsvoller ist das Verhalten der metapolitischen universitas zu dem relativen Innen jener Außenwelt, zu deren un mi tt el ba rer Geistigem: zu deren wis se ns ch af tl ic h& r Erscheinung und zu jener nach innen hin gewandten Energie, die „Kunst" heißt. Aus dem Wesen der metapolitischen universitas folgt für das Faktum „Wissenschaft" zuerst, daß es eine Fr ei h ei t des G e i s t e s genauer eine solche des Forscheus im geltenden Verstände nicht geben kann, und wenn auch diese Freiheit nicht von außen eingeschränkt werden kann, so ist doch der Geist selbst eine verbietende und gewährende Instanz und ein prinzipielles Gewähren aller Geistesbetätigungen liegt dann nicht in seiner Natur, wenn in dieser ein Gerichtetsein und eine teleologische Struktur angesetzt ist. Es stünde danach nicht frei, beliebige Antriebe der Untersuchung, auch wenn ihnen noch so exakt Folge geleistet werden könnte, und auch wenn sie unter die Kategorie einer bestehenden Disziplin fielen, unter der Idee der »Wissenschaft" zu begreifen. Zu der bisher einzigen Bedingung der Wissenschaftlichkeit, nämlich der M e t h o d e des Vorgehens, tritt »vielmehr noch die einer von ei ne m ob er st en P r o b l e m - A u s druck ununterbro chen fortlaufend legi timi erbaren Frage stell ung. Es hätte die denkbar intensivste Verkürzung des gesamten WissenschaftsBereichs stattzufinden, der zu ein er ei nz ig en Gerichtetheit und Übersehbarkeit zusammenzuziehen wäre, indem der Abstand, ja der Bruch zwischen der Betätigung auf einem konkreten Erfahrungsfelde und der von diesem abgewandten Einstellung durch die ak tue llste , in keinem Moment aussetzende Kommunikation — indem diese Diskrepanz als Hemmu ngsmoment einer einzigen Lebendigkeitsgröße so ausgeschaltet wird. Der Riß entstand, indem aller wißbare Inhalt in das Erfahrungsreservoir und seine Erkenntnis glitt, der „Phi losophie " aber kaum mehr als die F o rm des Wissensmöglic hen übrig blieb. Das ist der gegenwär tige Status. Ist ind ess en, wie oben gesehen wurde, di e ob er st e Pr ob le ma ti k eine solche, daß ihr trotz ihres tran szend ental logi sche n Char akte rs gewisse Inhalte mit Notw endig keit ei gentü mlic h vorb ehalt en bleiben, so wird der ständig momentane Zusammenhang mit der Erfahrungs-Durchforschung bestehen und zugleich eine Architektonik der Fragestellungen, die die absolute Einheit al le r Wissenschaftsbewegung sicherstellt. Die Scheidung in Materie, als Objekt der Erfahrungswissenschaften und in das (von allem Empirischen möglichst) »reine« Bewußtsein, als Objekt der Philosophie, ergibt mit
Notwendigkeit einesteils die völlige Unverwertbarkeit der „Philosophie" für die Erfahrung, ^anderenteils ihre absolute Bewegungslosigkeit in bezug auf ihre eigene Aufgabe. Diese Scheidung involviert Unfruchtbarkeit Gelingt es aber, eine prinzipielle- und exakte Scheidung in „fr em de " und „e ig en e« Materialität aufzuweisen, davon die erste der Naturwissenschaft zu überweisen ist, die zweite rein durch das Bewußtsein zur Darstellung zu bringen und dem Denken als solchen zuzuerteilen ist, so enthält die Philosophie nicht nur die für die Aufhellung der an sie zu richtenden Forderungen notwendigen Inhalte, sondern auch einen Angriffspunkt für die Erfahrung — ein Gelingen also, das unerläßliche methodologische Bedingungen für eine konkrete Wesentlichkeit und Weiterbeweg ungs-Fähigkeit der Philosophie ist. Aber bei dieser Konzentration, die die Weite und chaotische Verlaufenheit wieder zu einem bestimmt gerichteten Umriß zurückzuholen hätte, würden nicht wenige wissenschaftliche Unternehmungen fall en. Zahllose Fragen und die von ihnen motivierten Bearbeitungen, die sich nicht in diesen Nexus einer bestimmten Struktur eingliedern lassen, hätten zu pausieren und, wenn ihnen eine Legitimierung durch das oberste Telos überhaupt nicht zukommt, aufz uh ör en . Das heißt: Das „Entbehrli che" irgendwelchen Wissens ist oft behauptet worden. Aber diese Behauptung ist im Falle des mangelnden Kriteriums sinnlos, am sinnlosesten aber, wenn die empiris che „Praxis« das Entscheidungsinstrument abgeben sollte. Die hier bezeichnete Aufgabe aber wäre, auf jede Weise darzutun und im eigenen Geltungsbereich verbindlich zu erfüllen; nämlich alle „wissenschaftliche« Bewegung, die über den Umriß der auf einem angebbaren Zweck konzentrierten Wissenschaftsgestaltung — der das Kennzeichen ist — hinausragt, abzuschneiden und zu verursachen, daß diese Hypertrophien bildenden Kräfte durch Unterbindung sich in ihrem Anteil an der Konstituierung des eigentlichen teleologischen Organons entbinden müssen. Aber diese zu einem Teil auflösende Wirkung der metapolitischen universitas ist das Anzeichen einer neu auftretenden prinzipiellen Möglichkeit; es ist nämlich hier dem Gedanken an eine überall denkbare Handhabe Raum zu geben, die Verwandlung eines mit unreduzierbaren Entartungen affizierten Erscheinungszusammenhanges zu erzwingen: es gilt nämlich das .Mi tt el des El im i ni er en s re in al s s o l c h es einmal in Rechnung zu stellen: es ist a priori zu erwarten, daß eine — wo auch immer angesetzte — umfassende Zurückdrängung und Unterdrückung an und für sich notwendig eine aus dem Grunde kommende Veränderung heraufbringt und also diese durch jene bedingt ist Dennoch gilt es der schweren Mißdeutung auszuweichen, als ob so „Negation um der Negation willen« gefordert würde. Evidentermaßen kann allerdings — da die pathologischen Gegebenheiten in einem solchen verneinten Erfahrungskomplex ohnehin unter der Perspektive ihrer Aufhebbarkeit resultatlas gewertet werden - nur eine. Untere
bindung von solchen Äußerungsformen jenes Komplexes in Frage stehen, die im Vorhinein zu den vö ll ig le gi ti m ie rt en ge hö re n. Zweifellos nämlich ist gerade die Konzentration der angreifenden Strebungen auf die als Krankheitsherde erkannten soziologischen Gebilde, welche eine positive Wertung der übrigen impliciert, Ur sache der unablässigen Sterilität dieses Vorgehe ns — diese Beschränkung, die ersetzt werden muß durch eine bei weitem umfänglicher ausgreifende Beargwöhnung gerade der »gesundesten" und erstrebtesten Gegenden geistiger Wirksamkeit Denn: wenn die ewige Unlösbarkeit der katastrophalen Phänomen e nicht schicksalmäßig „in der Natur der Sache« liegen, sondern einen Grund haben soll, so muß realiter allerdings ein unterirdischer Zusammenhang, ein sonst verborgener Ausdruck g l e i c h l a u f e n d e r Tendenz der ständig unheilvollen und der immer von aller „Schuld" freien Gebiete menschlichen Agierens zu Tage kommen. Die Idee ist also diese: Einer an unheilbaren Mißbildungen erkrankten Erfahrungs-Gesamtheit gegenüber erweist sich der Angriff auf die als entartet er ke nn ba re n Komplexe ständig als fruchtlos, während einer Zeitdauer, die rein als solche ein maßloses Mißverhältnis und eine Fehlerquell e bedeu tet (Denn die Welt hat nicht für Alles „ewig« „Zeit ".) Es gilt sich also darauf zu besinnen, daß es ein Mittel der Umwandlung jener Gesamtheit auf jeden Fall gibt: die Unterdrückung von Energien schlechthin, rein als solche. Diese ist gleichsam a priori gegeben . Davon fortschreitend wird die Überlegung überhaupt erst darauf geführt, völlig gerechtfertigte, ja geförderte Phänomene unter der Perspektive ihrer Negierung zu sehen, um auf diese Weise, heuristisch, zu der Auffindung einer bis dahin verborgenen Identität gewiss er konkreter „schuldloser«, ja höchstgewerteter Daseinsäußerungen mit jenen schuldverstrickten gebracht zu werden. Nun aber genügt dieses, obzwar vo n einer ratio geführte, aber dennoch vornehmlich, zur Willens-Bestimmung vorangehend notwendige Prinzip allein weder zu der Auffindung des angedeuteten nicht offen liegenden Zusammenhanges noch zu der konkret durchzusetzenden Zurückdrängung völlig anerkannter und nicht nur anerkannter Erscheinung en. Was vorerst die Sichtbarmachung jenes Konnexes zwischen dem intensivst beanstandeten Gebiet: — dem der soziologischen Problematik — und irgendwelchem anderen noch unbekannten bisher gültigen Tätigkeits-Feld des Geistes antrifft, so ist klar, daß es eines Dritten bedarf: eines tertium comparatio nis, eines Berührungs-Zentrums, an dem gemessen, solcherlei Zusammenhänge überhaupt erst evident werden können. Dieses Dritte aber ist die wissenschaftlich transzendentale Einstellung. Deren Antithetik mit der empirisch-soziologischen Patholo gie ist hier auseinander gelegt worden. Hätte diese Einstellung n o c h mi t e i n e r a nd e re n feindlichen Einwirkung zu rechnen, so wäre diese als eine mit dem befehdeten soziologischen Status verbundene, ihn auf irgend eine Weise stützende Instanz zu werten.
Es gibt nun einen Komplex von Bezeugungen, die den Argwohn auf sich lenken, im Ef fe kt jener von Grund aus anhebenden Orientierungstendenz entgegenzuarbeiten, indem sie die Intensität eines realen, zu entscheidenden Hervorbringungen in der soziologischen Welt (und damit nicht nur in dieser) fähigen, metaphysischen Ansatzes dauernd ablösen. Der Verdac ht: Ursache davon zu sein, daß es nie zu einer metaphysischen Spannung kommt — die in ihren Konsequenzen unabsehbare Anschuldigung, diese hervorbringende Spannung immer wieder durch ein Ersetzen ihrer abzuspannen, trifft alle Kunst in beinahe sämtlichen weiten Bereichen ihrer Erscheinungsformen. Hier ist nun die an die anderen Unternehmungen der metapolitischen universitas anschließende Aufgabe von allesbedingendem Gewicht: zu entscheiden über die Möglichkeit einer maßlos zerstörerischen Gewalt, die unablässig das Entstehen einer realen metaphysischen Konzentration auflöst, indem sie ihre eigenen, jener ähnlichen Wirkungen unterschiebt — durch umfängliche Untersuchungen wäre die Gewißheit zu schaffen über das Bestehen einer Macht, die die Ansammlung jener em pi ri eg rü nd en de n Intensität durch ihre eigenen „k le in en " transempirischen Entladung en ableitet oder verteilt und „unschädlich" macht, damit aber der katastrophalen Außensphäre von ihrem gefährlichsten Gegner hilft — — es wäre strikt zu entscheiden, ob Kunst nicht so eine tiefe Gemeinsamkeit mit jenem Außen bilde und dessen ebenbürtiges „Innen" abgebe. Dies scheidet den aus metaphysischer Richtung stammenden Angriff von allen bloß „kunstfeindlichen". Die Kunst, die irgendetwas von der Dignität einer „anderen Ordnung" besitzt, wird nie den Argumentationen der „Praxis" und der „irdischen N o t " erliegen, die mit dem Schluß ihrer „Überflüssigkeit" oder ähnlichem operieren — etwa in der Dialektik Piatons oder Tolstois, und niemals können diese Beweisgründe die Kompetenz zu ihrer Eliminierung aufbringen. Denn nicht aus einer dem Motiv zur Kunst entgegengerichteten, em p i r i s c h e n , sondern einzig aus einer diesem Motiv gleichgerichteten, aber dessen äußerst mögliche Erfüllung zu überholen fähigen Triebkraft, die die Tendenz zur Kunst so wei t treibt, daß sie über den Begriffsumfang „Kunst" weit hinausträgt — — kann ein Legitimiertsein zur Aufhebung der Kunst stammen . Nicht aus einer die Absicht der Kunst v e r n e i n e n d e n , sondern einzig und gerade aus der ihr selbst innewohnenden, aber sie übersteigernden, vom Bild zur Wirklichkeit davonführenden Energie kann auch nur die Fähigkeit kommen, jene Kräfte, die die nicht zureichenden Z w i s c h e n gebilde („Kunst" genannt) hervorbringen, zu unterbinden — um sie, durch Sammlung, bis an den Kristallisationspunkt einer — der „zweiten" — Realität zu zwingen. Die konkrete Form aller dieser Verhinderungen und Unterdrückungen wird lediglich und zureichend
den Ausdruck der ritualartigen Verbannung solcher Wirkungen und Wertungen für die sich dieser Perspektive Unterstellenden annehmen. Die Vorstellung dieser verschieden vorgehenden Manifestationen der metapolitischen universitas könnte die Idee dieser universitas verschleiern, wenn sie nicht den Oedanken ausschließt, daß alle diese Äußerungen das Stigma der „Theorie" zu einer unabhängig von ihr existierenden „Praxis" trügen; daß sie gar als Bearbeitungen des Bezirks der „kulturellen" Politik zu gelten hätten, gleich als ob es diesen und daneben andere „Bezirke" gäbe; daß die universitas „zunächst" ein „Gebiet" umfasse, und daß daneben andere „Gebiete" anerkannt würden, die sie „später" möglicherweise einzubeziehen habe. Diese Deutung würde das Prinzip der metapolitischen universitas verfehlen und alle diese' Scheidungen wären schief. Denn es gehört zum Wesen jeder Einzelaktion, die von einer präzis als metaphysisch zu bezeichnenden Einstellung ausgeht, ü b e r d e u t i g zu sein: Das heißt: die „Gebiete", die eine empiristische „Entwicklung" geschaffen hat, passen nur sehr bedingt für das mit dem Kriterium eines metaphysischen Ablaufs zu bestimmende Geschehen. Die durch Begriffe „Theori e" und „Praxi s" und die durch teils in ihnen enthaltene Unter-Kollektiva teils anders definierten Bereiche, wie Politik, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, die in der pathologischen Wirrnis p a r a l l e l und hauptsächlich g e t r e n n t — wenn auch mit „Grenzeinwirkung" — fortschreiten, konvergieren in einem als metaphysisch zu bezeichnenden processus dergestalt, daß in einem bestimmten Status dieses Verlaufs jeder Vorgang g l e i c h z e i t i g ein Bewirken in a l l e n jenen Bereichen vorstellt; sodaß solches Vorgehen als theoretisch und praktisch in e i n e m (nämlich als die in jenem Stadium einzig mögliche Praxis, neben der es eine andere — jedenfalls metaphysisch orientierte — g a r n i c h t g i b t , während es eine empiristische Praxi s fortwährend neben dem Theoretischen gibt); als „politisch" wie „philosophisch" wie „wirtschaftlich" in e i n e m (nämlich als der in jenem Moment einzig vorhandene Existenzmodus aller dieser Typen) zu erkennen ist Es beruhte somit auf einem vollendeten Fehlschluß, im Stadium der Bearbeitung einer bestimmten metaphysischen Problematik zu fragen, wo demgegen über etwa die Behandlung der wirtschaftlichen sei; vielmehr i s t in solcher Epoche das Einzige, was zur Auflösung der Fragen wirtschaftlicher Soziologie zu geschehen hat, eben jene von ihr völlig absehende Erkenntnis. Die Idee der metapolitischen universitas kann also nicht wie etwa das Prinzip der Universität ein „Gebiet", die „Wissenschaft", für sich okkupieren und die „andere n" andere n Mächten überlassen, sondern sie muß, wohl oder übel, prätendieren, das Indifferenz-Gebilde aller denkbaren „Gebiete" zu sein und nicht nur das »theoretische« — weil sie das Dasein einer übrigen Praxis garnicht anerkennen kann. Sie sieht einem nur-wissenschaftlichen Unternehmen der gegenwärtigen
Empirie einzig deshalb ähnlich, weil diejenige apriorische Einheitlichkeit divergenter Erfahrungsbereiche, die deren Bewältigung ermöglicht, (entgegen der natürlichembryonalen Indifferenziertheit, die zum Chaos geführt hat) im Denken stattfindet; denn Metaphysik ist nur die entschlossenste d. i. am weitesten gehende Theoretik. Ih dieser Überdeutigkeit ist das Auf-Ein-Mal des körperkonstituierenden Prinzips wiederzuerkennen, das vorherige Zusammen alles später Differenzierten, das zuvor archetypisch aufeinander bezogen worden sein muß — denn sie ist ein essentiale eines empiriekonstituierenden d. i. metaphysischen Vorgehens überhaupt Nun wird dem Denken das besondere Prädikat, Einheit von Differentem zu sein, gewiß koncediert werden, aber es wird nicht eingesehen werden, wie denn der Übergang von solcher Art Einheiten zu den Bestimmtheiten der Erfahrung beschaffen sein solle. Und allerdings wird auf diese Frage nur zweierlei möglich sein: entweder ein allmählicher völliger Verzicht auf Erfüllung der ewig an das Denken zu stellenden Forderungen (welche Forderungen nicht etwa als ein beliebiges „Ansinnen", sondern selbst als logische Notwendigkeiten auszuweisen sind) das ist entweder eine Aufhebung der Erkenntnis selbst — oder die Sichtbarmachung einer die ganze Geschichte des Feh lschlag es widerlegenden Möglichkeit einer unvergleichbar zu erhöhenden Leistungsfähigkeit des Denkens. Es gibt für den Fortgang des philosophischen Denkens einen prinzipiell kritischen Punkt Er kann nicht anders bezeichnet werden als durch die Frage einer prinzipiellen Zuw ach s-Mö glichke it, die allein einen Gegensatz zu der langen machtlosen Vergangenheit des Denkens bedeutet und somit diese nicht zum Maßstab werden läßt Dieser Zuwachs kann nirgendwoher kommen als aus einer erweiterten Perception der eigenen Materialität, einem Moment, in dem, wie oben analysiert wurde, gleichzeitig das Vorhandensein der empirischen körpermäßigen Sub jek ts-Viel hei t akut wird. Jener Entscheidungspunkt der Erkenntnis wird also bezeichnet durch eine ganz bestimmte Problematik der „Mehrfachheit". Das heißt: die Philosophie wird sich nicht weiter bewegen als durch die Stellung und Beherrschung des Problems der Auswertbarkeit einer extensiven Gegebenheit, jener Mehrfachheit, fü r ein e in te ns iv e. Die eigenen typischen Fragestellungen des Denkens werden über den toten P unkt an dem sie seit geraumer Zeit ruhen, nicht hinausgelangen als durch neue Mittel, die aus der Möglichkeit einer Ste iger barkeit stammen, die objektive wie subjektive Geltung hat d. i. die sowohl als heuristische Tatsache der Erkenntnis wie als dynamische Quelle der Erkennens-Intensität verstanden werden muß. DieseVielheits-Problematikistaberzugleichinnerstes T h e m a u nd A u f l ö s u n g s - P u n k t a l l e r F r a g w ü r d i g k e i t , d i e p o l i t i s c h h e i ß e n k a n n. Und indem jenes Problem die der Erkenntnis
als solcher zugehörige, eigenste, nicht von außen ihr „aufgegebene" Angelegenheit ist, ist die solcherart d e t e r m i n i e r t e Erkenntnis zugleich die n e u t r a l e d. i. nicht von außen „bestimmte", nur den eigenen Motiven folgende ist das keineswegs als „politische Philosophie" zu begreifende Erkennen ü b e r h a u p t , dennoch das Denken der Politik. Das Ziel der Gesamtheit ist das gleiche wie das des Einzelnen; das der „Politik" — auch der materiellsten — das gleiche wie das des Einzeldaseins: und nur durch bei der Verknüpfung zugänglic h: eine Verknüpfung, die für das VielheitsGanze die Lösung der materialen, für den Einzelnen die Lösung der theoretischen und personalen Problematik ergibt; und für beide die Erfaßbarkeit und Handhabung einer bis dahin transzendenten Sachlage.
2. Veröffentlichung: Oskar Goldberg:
Das Volk. Über eine dynamische Struktur in soziologischen Einheiten und die Theorie ihrer Formel.
Verlag David / Berlin, Neuenburger Str. 3 8. Druck Ad. Alterthum, Berlin-Brandenburg (Havel).
H. G. Adler
(aus: Eckart, Jg. 29, 1960, S. 182-185)
Zu den geistigen Verlusten der zwölf unheilvollen Jahre gehört das Vergessen eines der tiefsinnigsten Philosophen, die unser Jahrhundert hervorgebracht: Erich Unger. Seine nicht sehr zahlreichen Werke sind bis auf das im Buchhandel noch erhältliche grundlegende Buch „Wirklichkeit, Mythos, Erkenntnis" (Oldenbourg, München 1930) und den zwei Essays vereinigenden Band „The Imagination of Reason" (Die Imagination der Vernunft" — Routhledge & Kegan Paul, London 1952) schwer zugänglich, längst vergriffen oder zu einem bedauerlich großen Teil durch die Ungunst der Umstände nie gedruckt worden. Diese Ungunst, 1933 hereingebrochen, wurde auch seit 1945 nicht überwunden, wozu, außer den schwierigen Verhältnissen der ersten Nachkriegszeit, Ungers langjährige Krankheit und sein vorzeitiger Tod beigetragen haben. Dies ist umso mehr zu beklagen, als Unger heute dazu berufen wäre, den philosophisch Interessierten, aber auch Theologen, Erforschern von Religion und Mythos wie allen, die um eine einheitliche, doch umfassende Anschauung vom Menschen und seiner Welt bemüht sind, ein Helfer und Lehrer zu sein. Ein Lehrer, wie er es für viele war, die das Gück seines persönlichen Umganges, seiner einprägsamen, scharfsinnigen, dabei des Humors nicht entratenden Unterweisung genossen. In ungewöhnlichem Maße war ihm die Gabe beschieden, nicht nur sein eigenes Denken, sondern auch die Meinungen anderer, die Lehrgebäude der großen Philosophen, aller Zeiten und Richtungen so durchsichtig und objektiv vorzutragen, als handelte es sich um seine eigenen Anschauungen, mochte er selbst zu ihnen in entschiedenem Gegensatz stehen. Diese Kraft, fremde Auffassungen gerecht zu vertreten, ohne sein persönliches Urteil zu trüben, lenkte Unger auf eine Bahn, die ihm, ohne die Ungunst der Epoche, längst eine Geltung gesichert hätte, während sie jetzt erst mühsam durch Herausgabe und Erschließung seiner wichtigsten Schriften neu zu gewinnen bleibt. Als die böse Zeit hereinbrach, arbeitete Unger an einer Darstellung der Hauptströmungen in der jüngsten Philosophie. Der angesehene Verlag, der ihn dazu beauftragt hatte, löste wegen der nationalsozialistischen Gesetzgebung den Vertrag, das Werk wurde nicht fortgeführt; der erwünschte Weg eines Präzeptors der Philosophie war versperrt. Erich Unger wurde am 25. Oktober 1887 in Berlin geboren, im gleichen Jahre wie Georg Heym, mit dem er gut bekannt war, ein Jahr nach Gottfried Benn, der in einem seiner letzten Bücher ihn gepriesen hat. So gehörte Unger generationsmäßig zu den sogenannten „Expr essi onis ten" , mit denen er in seinen Anfängen, kaum aber später, einiges gemeinsam hat. Nach dem Besuch eines Berliner humanistischen
Gymnasiums studierte er in Berlin, München und Erlangen Philosophie. In Erlangen promovierte er unter Professor Hensel. Schon vor 1914 publizierte er in Zeitschriften wie im „Sturm", in der „Aktion" und in der „Zukunft". Später schrieb er gelegentlich für die Zeitschriften „Der Morgen", „Der Jude" und für die „Vossische Zeitung". Unger geriet in den Bannkreis der Lehren Oskar Goldbergs, wie sie dieser im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts in seiner Pentateuch-Exegese entwickelt und 1925 als „Die Wirklichkeit der Hebräer" herausgegeben hat. Die Deutungsweise Goldbergs, so anregend wie umstritten, hat ihren besonderen Sinn darin, daß sie den biblischen Text, vom Rationalismus wie von moderner religiöser Demutshaltung oder mystischer Spekulation gleich entfernt, als Hinweis auf eine mythische Realität auffaßt, die zwar gegenwärtig — für das aktuelle menschliche Bewußtsein — nicht real ist, aber aus dem Text des Pentateuchs erschlossen werden kann. Goldbergs Betrachtungsweise des Mythos, der zumindest eine Realität war, wie sie einem mythischen und vorrationalen (deswegen freilich keineswegs un-vernünftigen) Bewußtsein entsprach, das die Fülle des Existenten in einer Einheit, also nicht in der Spaltung verschiedener moderner Tätigkeitsgebiete menschlichen Trachtens wie Religion, Mystik, Philosophie, Wissenschaft und Kunst begriff, wurde zum Ausgangspunkt für Ungers Philosophie. Er vertrag eine Gesamtanschauung vom Menschen, der das Existierende unter vielerlei Zeichen, aber als eine Einheit begreifen kann, zumindest als Einheit in der Wurzel und im Ziele aller Erkenntnis. Damit hatte sich Unger vom idealistisch-materialistischen Antagonismus fast aller abendländischen Philosophie gelöst und sich vom Denken nach erstarrten Schulrichtungen befreit. Hatte Schelling im Alter die Geschichte des Weltgeistes in einer Philosophie des Mythos und der Offenbarung nachgezeichnet, so hat Unger den Mythos als realen Kontrast unserer unmythischen Realität verstanden und es unternommen, aus beider Vergleich und Unterscheidung zu philosophieren. Er hat deshalb keine Philosophie des Mythos geliefert, sondern mit Hilfe der Erkenntnis des Mythos als Wirklichkeit philosophiert. Der Mythos wurde nicht als Dichtung begriffen, nicht als Vorstufe der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft, auch nicht als psychologisches Glaubensphänomen, ebenso nicht als mystischer Schluß emotioneller Gleichsetzungen des Ichs und der Universalien, nicht einmal als Magie und noch viel weniger als okkulte vorzeitliche und in die Gegenwart ragende prärationale Übung, sondern als eine sinnliche Teilnahme an übersinnlichen Offenbarungen, wie sie in altbiblischen, doch auch in anderen urtümlichen Zeugnissen geschildert und heute gewöhnlich Wunder genannt werden. Diesen Wundern wohnt nach Goldberg und Unger ein objektiver Charakter inne; sie sind wirklich geschehen, sie sind nicht als Allegorie, als Symbol, als dichterische Zutat zu bewerten, sie stellen aber auch bestimmt kein nur psychologisches Phänomen dar. Nein, sie sind essentiell gegründet, sie haben einen ontologischen Gehalt. Es ist Ungers bleibendes Verdienst, diese Anschauung vom Mythos in die logische Philosophie, in die Begriffssprache des modernen Denkens eingeführt zu haben. Das ist zuerst 1925 in dem
eigenartigen Buch „Gegen die Dichtung" geschehen. In späteren Jahren ist Unger von diesem, seinem am kunstvollsten gestalteten Werk, teilweise in Dialogen, wohl nicht gedanklich, aber formal etwas abgerückt, da er die radikale Schärfe des nicht nur äußerlich mit Piatos dichtungsfeindlichem Standpunkt berührenden Denkens so nicht aufrechterhielt. Allerdings war die Dichtung eine Gefahr, sobald sie andere Leistungen des menschlic hen Geistes, usurpieren oder verdrängen w ollte, wenn sie etwa die letzten Ziele der Menschheit zu vertreten vorgab, die politisch wie theologisch, religiös wie wissenschaftlich verstanden, nicht auf dem Wege der Kunst und namentlich nicht der Dichtung zu gewinnen waren, obwohl und gerade weil poetologische Momente der alten mythischen (nicht mythologischen) Dokumente im Mißbegriff dazu verleiten konnten, die ersten und letzten Dinge nur im ästhetischen Bilde, doch nicht in der gesamten realen Existenz zu verwirklichen. Sollte die ontologische Würde des Mythos unangetastet hergestellt werden, dann war die Dichtung als ihr Ersatz und mögliches Zerrbild zu verneinen. So sollte Ungers Philosophie eine praktische Philosophie werden. Praktisch ist hier nicht so zu begreifen, daß nun unmittelbar das Praktische auch schon durchführbar wäre und die Rezepte sich dafür angeben ließen. Zu dieser Praxis, so erwünscht sie ist, fehlen die konkreten Voraussetzungen — das heißt: dem widerspricht der aktuelle Zustand der Welt. Praktisch kann hier nur meinen, daß dem Umkreis der mythischen als realhistorischen Betrachtungsweise in das moderne Denken als praktische Möglichkeit einbezogen wird, daß demnach unsere Auffassungen vom Sein und von den empirischen Zugängen zum Erlebnis dieses Seins bereichert werden und sich nicht vor Einsichten versperren, die man gemeinhin — in statischen Dogmen befangen — als unpraktisch, unverbindlich, als psychologische Illusion abtut. Diese Illusion bedroht uns nur dann, wenn wir unser gegenwärtiges Dasein zusammenhanglos betrachten, gleichsam nur als eine Sammelstätte beliebiger psychischer Gegebenheiten, die das im Augenblick Unübersteigbare unserer menschlichen Beschränkung als für alle Zeiten stets unübersteigbar postulieren. Diese unleugbar aktuelle, aber nicht zu verewigende, darum auch nicht ewige Beschränkung aufzuzeigen, hat Unger in seiner kleinen Schrift „Das Problem der mythischen Realität" von 1926 und in dem schon erwähnten großen Werk „Wirklichkeit, Mythos, Erkenntnis" von 1930 unternommen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß hier entwickelt wird: was war, was ist, was sein könnte. So gelangt Unger — wie schon vor ihm Schelling in anderem Zusammenhang — zur Betrachtung des Experimentes und des Experimentierbaren in der Philosophie. Er lehrt: „Die Herstellungs-Funktion der philosophischen Überlegung bedeutet eine eigentümliche Einheit von Betrachten und Tun. Diese Einheit erscheint von den gegenwärtig herrschenden Standpunkten der Philosophie aus leicht als jene pragmatisch-psychologistische Vermengung der Geltungs- und der Seinssphäre, mit der sie in Wahrheit nichts zu tun hat. Die herrschende Erkenntnistheorie, welche die Erkenntnisvorgänge nach ,Psy-
chologie' und ,Logik', nach ,Erfahrung' und ,Geltung' aufspaltet, vollzieht diese radikale Trennung mit Recht, solange die psychologische Situation als einheitlicher Komplex der Geltungs-Situation als ebenfalls einheitlichem Komplex gegenübergestellt werden kann. Anders aber würde die Sachlage mit Notwendigkeit werden, wenn diese beiden einheitlichen Gesamtkomplexe des Erkenntnis- Vorgangs und des Erkenntnis-/»Ä
dem Tage des .Judenboykotts", den Unger richtig nicht als einmalige Ausschreitung, sondern als den Anfang viel schlimmerer Übel noch begriff. Unger wandte sich zunächst nach Prag, ging wenige Monate später nach Paris und schließlich 1936 nach England, wo er in Oxford und in seinen letzten Jahren in London mit Würde in dürftigen Umständen lebte. Seit 1943 herzleidend, ist Erich Unger am 25. November 1950 in London gestorben. Auch in Frankreich und England hielt er Vorträge, aber ein Kreis bildete sich nicht wieder, zumal die engsten Freunde aus Berlin jetzt in aller Welt zerstreut waren. In England arbeitete Unger an einer Übersicht über zeitgenössische englische Philosophie und an einer Darstellung der jüdischen Philosophie der letzten 50 Jahre. Vollendet wurde neben vielen kleineren Schriften, von denen nur ein Teil in französischen, englischen und amerikanischen Zeitschriften gedruckt wurde, zwei umfangreichere Bücher, Ungers reifste Gaben, die noch der Veröffentlichung harren: „Warum die Philosophie keine Wissenschaft ist" und „Das Lebendige und das Göttliche". In die Problematik des zuletzt genannten Werkes führt der nachstehende Aufsatz ein. 1 Knapp und kristallen enthält er die Quintessenz seines reifsten Denkens. Alle Gedanken in sich verschränkt, dennoch alle aufeinander bezogen, stehen sie, wenn dieses Sprachbild gelten darf, in monumentaler Schlichtheit vor uns; sie weisen das Nächste und Fernste im realen wie idealen Treffpunkt des Jetzt und Hier. Dieser Treffpunkt ist die Mitte des Menschen, also sein Geist als Organ der Erkenntnis, sein erst durch Einsichten wirksames Dasein. Dieses Dasein blickt auf den wirklichen Gott als erste und fortbestehende Ursache, die ent-fernt, aber nicht deistisch in der Zeit ungültig — und in diesem Sinne dann doch unwirklich — sein kann, und so wird dieses Dasein, menschliches Dasein, des Weges der Menschheit und mit ihr alles Geschaffenen inne, wie er von der Urzeit des Anfangs zur Urzeit des Endes endgültig bestimmt, aber der Freiheit unserer Entscheidung überlassen ist. Das Endgültige kann hinausgeschoben, es kann vertagt werden; dann halten wir es auf und stehen in der Schuld. Der Ablauf der Geschichte, der als Evolution das von Gott gegebene Zeichen unseres kollektiven wie individuellen Daseins ist, wird durch die Schuld scheinbar aufgehalten, weil sie in Verstrickung und kausaler Abfolge diesen Ablauf, als Dauer verstanden, verlängert, ihn fast zu verhindern und aufzuheben droht, während wir, auch wenn wir nicht an die Gültigkeit des göttlichen Gesetzes glauben, die Geschichte als Gericht, als Gerechtigkeit erleben und als Gerechtigkeit auch erschauen können. Alles, was im göttlichen Plane nicht gewollt (doch zugelassen) ist, von uns aber gewollt wird, verwandelt sich in das Wirken der zu erleidenden Gerechtigkeit; die Erfüllung des Gewollten ist der uns vorgeschlagene Weg, sein Verfolgen die Evolution von der Erschaffung unserer Welt bis in das ihr bestimmte letzte Ziel. Mit diesem Augenblick ist die Richtung gewiesen, die einzuschlagen wäre, wenn man die Philosophie Erich Ungers erschließen und sich aneignen will. 1
Anm . d. Hrsg. : gemeint ist ,Go tt, Mensch und Evoluti on", s. Auswahlbibliographie
Manfred Voigts
Mensch sein heißt: dieser Art Wirklichkeit ein kräftiges ,Ne in' entgegenschleudern. Max Scheler1 ... als ob es nicht auch einen rebellischen und auch einen eschatologischen Mythos gäbe. Ernst Bloch2 ... ja, es geht so weit, daß überhaupt nur wenige zugeben, daß es an einem Geschehen etwas Nicht-Historisches geben könne und daß es eine Berechtigung zu einer Betrachtungsweise gebe, die das Ereignis nur als es selbst sieht. Es wird also in Ewigkeit hierdurch verhindert, daß irgend etwas in seinem eigenen Wesen und in seiner eigenen Macht sich enthüllen kann. Erich Unger3
Was Er ic h Un ge r 4 mit ,Politik und Metaphysik', seiner ersten Buch chung 5 , 192 1 vorle gte, war ein umfassen der En tw ur f einer Neufundi eru ng vo n Politik. Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist die Verkoppelung des psychophysischen Problemes mit dem Begriff des Volkes. Dem entspricht der Aufbau des Werkes : De r erste Teil setz t sich kri tis ch mit best ehenden Vors tell ungen vo n Pol itik auseinander und weist die zentrale Stellung des psychophysischen Problemes nach, der zweite Teil entwickelt den metaphysischen Volks-Begriff, der dritte Teil stellt die Grundlagen einer neuen Politik dar. Dieser Aufbau des Werkes hängt zweifellos auch mit seinem Verhältnis zu Oskar Goldberg (1885-1952) zusammen. Beide kannten sich schon vom Berliner FriedrichsGymnasium her. Zurecht galt der zwei Jahre jüngere Unger als Goldbergs Schüler, 1 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos , München 1947 , S. 49 2 Ernst Bloch: Atheismus im Christentum, Frankfu rt/Ma in 1986, S. 70 3 Erich Unge r: Brief an Kurt Breysig vom 7. F ebr. 1915, unveröffentlicht, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin, S. 4 f 4 zu Erich Unge r hier der Beitrag von H.G. Adler und: Biographische Notiz , in: Erich Unger: Das Lebendige und das Göttliche, Jerusalem 1966, S. 181-184; und (für die frühen Jahre): Richard Sheppard (Hrsg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914, Bd. 0, Hildesheim 1983, S. 600 f. 5 s. Auswahlbibliographie am Schluß dieses Nac hwo rtes
Gershom Scholem hielt ihn für den wichtigsten 6. Hans Richter nannte Unger zurecht einen „talmudistischen Philosophen" 7 , während man Goldberg allenfalls als einen philosophischen Talmudisten bezeichnen kann. Was Goldberg aus der Analyse der Fünf Bücher Mose an Erkenntnissen gewann, wurde von Unger ins Philosophische .übersetzt' und in den Zusammenhang mit der neueren Philosophie gestellt. So schrieb er ein Jahr nachdem 1925 Goldbergs Hauptwerk ,Die Wirklichkeit der Hebräer' erschienen war eine Einleitung zu diesem schwierigen Werk'. In der Vorbemerkung hatte Goldberg festgestellt, er habe seine Ausführungen „in den Jahren 1903 bis 1908 in privater Darstellung bekanntgegeben" 9 ; zumindest die Grundideen waren Unger also 1921 bekannt. Das Verhältnis zu Goldberg schlug sich in .Politik und Metaphysik' auf die Weise nieder, daß der erste Teil sich vorwiegend mit aktuellen Geistesströmungen befaßt, während der zweite Teil über den Begriff des metaphysischen Volkes weitgehend eine Wiedergabe Goldbergscher Anschauungen darstellt. Eine genauere Auseinanderlegung gegenseitiger Beeinflussungen ist schon deshalb nicht möglich, weil Goldberg zwischen 1908 (,Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude', Berlin) und 1925 nichts veröffentlicht hat 10 . Wi r werden also im Fol genden erst einmal auf einige Aspekte der damals (wie heute) aktuellen Diskussionen eingehen; danach wird, soweit in diesem Zusammenhang nötig, auf Goldberg einzugehen sein. Im dritten Abschnitt soll besonders auf das Verhältnis von Erich Unger und Walter Benjamin hingewiesen werden. Im letzten Abschnitt soll, um einen Hinweis auf das Gesamtwerk Ungers zu geben, auf einige Zusammenhänge von Ungers letztem Werk und der philosophischen Biologie von Hans Jonas eingegangen werden.
I Wer die geläufige Vorstellung von Politik — damals wie heute — zentr al angreifen will, muß auf den Begriff des Kompromisses zielen, wie dies Unger hier (S. 8) getan hat. Unger spricht dem Kompromiß, den Georg Simmel „eine der größten Erfindungen der Menschheit" 11 genannt hat, die Möglichkeit ab, einen .Maßstab des Rechts' zu bilden. Wer den Kompromiß ablehnt, der lehnt die Parteien und die De6 7 8 9 10 11
Encyclopaedia Judaica, Jerusalem, Bd. 7, 1970, Art . Goldberg, Sp. 706 Hans Richter: DA DA — Kunst und Antikunst, Köln 1978, S. 61 Erich Unger: Das Problem der mythischen Realität, Berlin 1926 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, Berlin 192 5 Vielleicht kann der Nachlaß Goldbergs Aufschluß geben Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die For men der Vergesellschaftung, Berlin 1 908, S. 329; 4. Aufl. 1958, S. 250
mokratie ab, der lehnt die Grundlage der zwischenstaatlichen Beziehungen ab — der will eine andere Welt. Felix Weltsch, der Freund Kafkas, hat den Kompromiß richtig beschrieben als „jene Art von Mischung gegnerischer Ansichten, welche als Resultat nicht viel mehr als die Subtraktion der einen von der anderen Absicht ergibt" 12 . Dennoch sprach er sich für die Demokratie aus — auch in der Einsicht, daß der Kompromiß keinen Maßstab des Rechts bilden kann:,,Die Demokratie beruht nicht auf dem Glauben, daß die Mehrheit immer Recht habe. Wohl aber beruht sie auf dem Glauben, daß die Majorität der beste Schutz gegen das Unrecht sei." Denn: „Die Demokratie ist der Ansicht, daß es unter verantwortlich wählenden Individuen keine Majorität des Bösen in der Welt gibt." 13 Diese Sätze wurden 1936 veröffentlicht, drei Jahre nachdem die Demokratie in Deutschland sich selbst abgewählt hatte. Eine Politik, die sich der Problematik des Kompromisses nicht stellt, weil sie auf die Verantwortlichkeit der Bürger, auf Menschen- und Völkerrecht setzt, bleibt blind gegenüber ihren Gefährdungen. ,,Das Ko mp ro mi ß .... ist zwar der Aus druck der augenblicklichen Kraft-Verteilung, aber nie der Ausdruck einer ethisch normierten Situation." (S. 8) Was Unger hier andeutet, hat Helmut Thielicke mit aller Konsequent dargestellt: „Der Kompromiß ist ein Tribut, der an die gefallene Welt zu entrichten ist... Weil... der Kompromiß ein Tribut an die gefallene Welt ist, entspricht er nicht dem ,eigentlichen' Willen Gotte s; er entspricht nicht dem Schöpfungsentw urf der Welt. Insofern gibt es keine Selbstrechtfertigung des Kompromisses mit Hilfe des Argumentes, er sei notwendig." Der Geist des Kompromisses betreibt „eine illegitime Prolongierung der Welt. Er weiß nicht um ihr Ende, um ihre Gre nze, um ihre Fragwürdigkeit und um den Infragestellenden." 14 Das Argument, so etwas Profanes, Real-Politisches wie den Kompromiß dürfe man nicht mit theologischen Kriterien messen, bestätigt aufs genaueste Thielickes Kritik. Es gibt noch eine andere, grundsätzlich ebenso gewichtige Kritik am Kompromiß — ebenso gewichtig, weil sie zu demselben Punkt zurückführt. Max Weber: „Der praktische Politiker muß Kompromisse machen, aber der Gelehrte darf sie nicht decken." 15 Dieser Satz, bezogen auf unsere immer tiefer wissenschaftlich orientierte Gesellschaft, reißt jenen Abgrund auf, den auch Unger bezeichnet hat. Die um den Kompromiß miteinander streitenden Kräfte wirken „rein von sich aus" und werden „erst im Treffpunkt von den anderen beeinflußt, behemmt oder geför12 Felix Weltsch: Das Wagnis der Mitte, Sttg. /Be rlin /Kö ln/ Mai nz 1965, S. 25; Nachdruck der Erstausgabe 1936 13 ebd. S. 76 und 78 (im Orig. gesperrt) 14 Helmut Thielicke: Theologische Ethik, II. Bd. I. Teil, 3. Aufl. Tübingen 1965, S. 190; zit. nach: Gerhard Zacharias: Der Kompromiß, München 1974, S. 82 15 Max Weber: Gesamme lte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. Tübingen 1 968 (Wissenschaft als Beruf), zit. ebd. S. 11
dert, der Ausgleich wirkt mechanisch" (S. 8) Die Interessen, die sich im Kompromiß treffen, haben sich autonom gesetzt, die theologische Figur — so schon Max Weber —, die dem Kompromiß entspricht, ist der Polytheismus 16 . In demselben Sinne deutete auch Günther Anders den modernen Pluralismus als Polytheismus, ja Polykosmismus 17 : Da die „diversen, unendlich vielen Götter" nichts miteinander zu tun haben, ergebe sich keine übergreifende Ordnung. „Und deshalb ist der heutige Polytheist... ,w el tl os '. Denn wo das Götterchaos herrscht da bleibt auch unsere sublunare Welt chaotisch; da kristallisiert sie sich nicht zu etwas, was wir ,Welt', gar eine ,Welt' nennen dürfen." 18 Auch Unger sprach von der .politischen Chaotik' und gab als Ursache an: „Die Ganzheit ist aus dem ganzen Umkreis der Teile nicht zu ermitteln, weil die Teile verselbständigte Teile sind." (S. 9) Und damit befinden wir uns schon mitten in'der gegenwärtigen Diskussion um politische Theologie, polytheistische und polymythische Politik, wie sie von Hans Blumenberg, Odo Marquard und anderen geführt wird 19 — dies kann hier nicht einmal angedeutet werden. Dennoch muß auf den entscheidenden Punkt hingewiesen werden: Wenn Unger die Geschichte als .Mißlingen' und den Mythos als .Gelingen' bezeichnet (S. 4), wenn Odo Marquard eine .Polymythie' fordert 20 , dann geht es dem einen um Realität und dem anderen um Interpretation. Marquard setzt auf „jene Metaphysik, die so viele Antworten produziert, daß sie einander wechselseitig neutralisieren, und gerade dadurch — teile und denke! — die Probleme offenläßt" 21 — und verkürzt die Metaphysik auf diesem Wege zur Hermeneutik. Unger verknüpft, wie wir sehen werden, die Metaphysik mit dem psychophysischen Problem und versucht den Beweis zu erbringen, daß auch die Metaphysik sich mit Realien befaßt, nicht mit irgendwelchen ,bloß geistigen' Dingen. Gerade gegen die .Geistigen', gegen den literarisch-politischen ,Aktivismus' (S. 10) hat Unger sich am entschiedensten gewendet: „Diese Wirtschaftswelt und diese — scheinbar doch ganz heterogene — .geistige' Welt mitsamt ihren das Wirtschaftsdasein revolutionierenden Forderungen... bedingen einander." (S. 13) Ein Vergleich mit einem der wichtigsten Texte des Aktivismus kann die Position Ungers verdeutlichen: Ludwig Rubiner schrieb für die .Aktion', in der auch Unger veröffentlicht hat, den Beitrag ,Der Dichter greift in die Politik'. Auch Rubiner fordert: „Nieder mit
16 ders. in: Schriften zur theoretischen Soziologie und zur Soziologie der Politik und Verfassung, Frankfurt/Main 1947, S. 20 f. 17 Günthe r Anders: Mensch ohne Welt, München 1984, S. XV I 18 ebd. S. XVI H 19 hier sei nur hingewiesen auf die entsprechenden Beiträge in: Jaco b Taubes (Hrsg.): De r Fürst dieser Welt, Münc hen u.a. 198 3 20 Odo Marquard: Politischer Polytheismus, in: ebd. S. 82 21 ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 20; s. hierzu schon: Walter Bröc ker /Hei nric h Buhr: | Zu r Theol ogie des Geistes, Pfullingen 1960 , S. 12 . »
den Demokraten !" 22 , auch Rubiner stellt sich gegen die Vorstellung einer schrittweise sich vollziehenden Entwicklung zum Besseren — dennoch nehmen Unger und Rubiner diametral entgegengesetzte Positionen ein. Unger konstatiert ein heilloses Chaos und sein Ziel ist eine .unkatastrophale Politik" (S. 3), Rubiner sieht versteinerte Verhältnisse, die es durch Katastrophen zu beenden gilt: „Und jede Idee ist eine Katastrophe ,.." 2 3 . Rubiner kommt es darauf an, „Erschütterungen zu erzeugen" 24 , ein politisches Ziel konnte, ja wollte er nicht vorgeben: „Es gilt nur, daß wir schreiten. Es gilt jetzt die Bewegung. Die Intensität und den Willen zur Katastrophe." 23 Die hier geforderte ,Intensität' bezieht sich allein auf den Einzelnen, während Ungers Vorstellung einer .Steigerung' der menschlichen Möglichkeiten (S. 40 und 57) sich ausdrücklich als soziologische Kategorie versteht (S. 18): „Die Philosophie wird sich nicht weiter bewegen als durch die Stellung und Beherrschung des Problems der Auswertbarkeit einer extensiven Gegebenheit, jener Mehrfachheit, für eine intensive." (S. 57) Eine Intensivierung der Möglichkeiten, die Lebensbedingungen der Menschen zu beherrschen, sieht Unger allein auf der sozialen Ebene, genauer: bei den metaphysischen Völkern. Darum ist für ihn der entscheidende Punkt der Argumentation die Verbindung des psychophysischen Problemes (im Individuum) mit der Gründung des metaphysischen Volkes. Indem wir einen letzten Vergleich von Rubiner und Unger vornehmen, gelangen wir genau an die Ausgangsproblematik des psychophysischen Problemes. Rubiner sah sich unter einem großen Zeitdruck: „Wir können es nicht länger aushalten. ... (Der Dichter) spreche auch zu denen, die nicht warten können — wie er nie warten konnte." 26 Gerade hier setzt Unger mit seiner entscheidenden Kritik des .Geistigen' an, indem er feststellt, „daß alle geistige Wirkung keine augenblickliche nach Art der körperlichen, sondern eine an Unsichtbarkeit grenzend ferne und allmähliche ist;... daß Körperhaftes überall die Notwendigkeit momentaner Regelung zeige, demgegenüber Geistiges jedweden unbestimmten Aufschub vertrage." (S. 13) Seine Forderung, die eben gerade die Losgelöstheit des .Geistigen' aufzuheben bestrebt ist: „Es muß dem Wirken des Geistes die Möglichkeit gegeben sein, mit der gleichen Unmittelbarkeit, mit der gleichen unzweifelhaften, unmetaphorischen Drastik und Plötzlichkeit da zu sein wie dem des Körpers — sonst verbürgt nichts das Aufhören seiner ewigen Nachträglichkeit." (S. 15) Rubiners Ungeduld, die das Problem in gleicher Weise erkannt hatte, wird durch Unger aufgenommen und umgekehrt. Das psychophysische Problem ist gestellt: Wie kann der Geist „Momentanwirkung" (S. 15) erlangen? 22 Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik, hrsg. von Klaus Schuhmann, Frankfu rt/Ma in 1976, S. 262 23 ebd. S. 258 24 ebd. S. 261 25 ebd. S. 264 26 ebd. S. 253 u. 262
Die Frage nach der .Nachträglichkeit* der geistigen hinter den materiellen Wirkungen spielte schon in der Aufklärung eine wichtige Rolle, sie war für die Zuordnung von ,höheren' und .niederen' Seelenvermögen maßgebend, das psychophysische Problem stand im Zentrum des Menschenbildes. Moses Mendelssohn: „Allein die sinnlichen Lüste haben größtentheils mehr Gewalt über die Seele, als die verständigen Vergnügungen. Woher dieses? Warum sind die dunkeln Vorstellungen thätiger als die deutlichen?" Und er beantwortete die Frage so, daß die undeutliche Sinnlichkeit wirkt, „bevor sich noch der denkende Theil des Menschen in das Spiel mischt." 27 Zu lösen suchte Mendelssohn dieses Problem durch die Übung des Geschmacks: „Ein geübter Geschmack findet in einem Nu, was die langsame Kritik nur nach und nach ins Licht setzt." 28 Diese auf die Pädagogik hinweisende Antwort blieb für die bürgerliche Gesellschaft verbindlich — bis hin zu Ludwig Rubiner, für den der Literat der .Führer', der ,Volksmann' sein sollte. Heute stellt sich dasselbe Problem drängender denn je: Können die existenzbedrohenden Vorgänge von der Umweltverschmutzung über die Bevölkerungsexplosion bis zur atomaren Drohung durch rationale Einsicht gelöst werden — oder kommt die Einsicht zu spät, diesmal endgültig zu spät?
II Unger strebte keine Neuinterpretation des psychophysischen Problemes an, sondern seine Veränderung. Es muß, behauptet er, weiterhin bei den katastrophalen Menschen-Ordnungen bleiben, „wenn nicht ,die Natur', das Naturgegebene des psychophysiologischen Phänomens — modifizierbar, behandelbar ist." (S. 15) An diesem .kritischen Punkt' seien die „.Tatsachen' auf ihre .Tatsächlichkeit' hin zu überprüfen" (ebd.) — Unger fordert für die Lösung der politischen Probleme eine .metaphysische Atmosphäre', „deren erstes Zeichen ist, daß die bestehenden Einheiten als reale Größen überhaupt geleugnet werden und demzufolge nicht als zu konservierende Fakta in Rechnung gestellt werden." (S. 42) Die bloße Faktizität sei für die Realität nicht entscheidend (S. 32), die Wirklichkeit wird zur Möglichkeit hin geöffnet: „Alles ist möglich — Unmöglichkeit in menschlichen Dingen ist Übersehen von Mitteln." (S. 31) Spätestens hier erweist sich Ungers Gedankenführung als interpretierende Darstellung Goldbergscher Erkenntnisse. Seine ,Wirklichkeit der Hebräer' begann Goldberg mit einem philosophisch-metaphysischen Einleitungskapitel: ,Philosophi27 Moses Mendelssohn's Schriften, hrsg. v. Moritz Brasch, 2 Bde. Breslau 1892, Bd. 2, S. 51 und 52 (Briefe über die Empfindung, 10. Brief) 28 ebd. Bd. 1, S. 100 (Uber die Evidenz, 4. Abschnitt); s. hierzu: Manfred Voigts: Naturrech t und Ästhetik bei Moses Mendelssohn, in: Mendelssohn-Studien, Bd. 4, Berlin 1979, S. 180 ff.
sehe und kosmologische Grundlagen. Der Begriff der Prophetie', in dem er das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit untersucht: Die „Möglichkeit ist genauso wirklich bzw. existent bzw. seiend wie die in Raum und Zeit befindliche sogenannte Wirklichkeit. De r Unterschied ... ist jedoch der: während die erstere offenbar d.h. stets nur ,wirksam' zu denken ist, ist die letztere latent." (Es ist sicher kein Zufall, daß David Baumgardt, der dem Goldbergkreis nahe stand, schon 1920 über ,Das Möglichkeitsproblem der Kritik der reinen Vernunft, der modernen Phänomenologie und der Gegenstandstheorie' promoviert hatte 30 .) Die .Latenz' der Möglichkeit, die Goldberg hier hervorhebt, weist voraus auf Ernst Bloch. Alfred Schmidt über Bloch: „Die Welt ist kein bloßes Aggregat fertiger Tatsachen, sondern ein zielgerichteter Prozeß. ... Hieraus nun ergibt sich ..., daß die Materie ... ebenso das noch unerschöpfte Totum (ist): das ,In-Möglichkeit-Seiende' schlechthin.... Der Grundwiderspruch dieser Dialektik ist der zwischen dem absolut Möglichen (,In-Möglichkeit-Seienden') und dessen relativer Verwirklichung (im ,Nach-Möglichkeit-Seienden' als partieller Wirklichkeit)." 31 So, wie Bloch die Verwirklichung als relativ, die Möglichkeit aber als absolut ansah, so barg auch für Goldberg und Unger erst die Möglichkeit „eine intensivere Wirklichkeit." (S. 32) Diese greifbar und erfahrbar zu machen, war ihre zentrale Intention. Und so, wie Bloch die Welt zuletzt als ,Experiment' vorstellte (Experimentum mundi', 1975), so definierte Goldberg seine Theorie als „Experim entalwissenscha ft" 32 (s. Unger S. 32). Der Schritt zur Veränderung des psychophysischen Problemes führt vom Einzelnen, auf den allein bezogen das Problem bisher interpretiert wurde, zur Vielheit: „Vielheit ist nicht als das bloß ,geistige Band' der .allein realen' Einzelnen, sie ist selbst als Realität zu verstehen, deren Sinn zu ermitteln ist." (S. 20) Allein die reale Existenz einer „Einheit einer bestimmten empirischen Vielheit" (S. 26) kann die katastrophale Kontinuität unterbrechen, eine Einheit, die — weil sie die bloße physikalische Welt überschreitet — als .metaphysisch' bezeichnet werden muß, die aber dennoch erfahrbar sein muß: „Metaphysik bedeutet nicht logische, sondern nur gleichsam-historische Nicht-Erfahrung." (S. 25) Die Realität dieser Vielfalts-Einheit bezeichnet Unger — Goldberg folgend — als .Volk', und er konstatiert: „Heute gibt es keine Völker." (S. 30) Die Realität der Vielfalts-Einheit ist eine Möglichkeit, die erst Wirklichkeit werde n muß. Das, was Unger hier anstrebte, nannte Goldberg .Mythologie', die er definierte als die „Wissenschaft von den metaphysischen Volkswirklich-
,
19
29 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, Berlin 1925, S. 1 30 David Baumgardt: Das Möglichkeitspro blem der Kritik der reinen Vernunft, der modernen Phänomenologie und der Gegenstandstheorie, Kant-Studien Erg.Heft 51, Berlin 1920, Nachdruck Vaduz/Liechtenstein 1978 31 Alfred Schmidt: Anthropologie und Ontologie bei Ernst Bloch, in: Merkur 393, Febr. 1981, S. 131 u. 133 32 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a.O., S. 16
keitssystemen und deren Herstellung" 33 . Goldberg hob den „Plötzlichkeitscharakter der hebräischen Metaphysik" 34 hervor: „Ein ,Organismus* kann nämlich nur entstehen, wenn die endlos vielen Faktoren, aus denen er sich zusammensetzt, auf einmal da sind. Dadurch unterscheidet er sich von der Maschine . . . " Den Kom prom iß hatte Unger als mechanisch kritisiert, der Ausgleich der Kräfte solle .organisch' wirken (S. 8.). Wer war Oskar Goldberg, welche Grundideen lagen der,W irk lichkeit der Hebräer' zugrunde? Es gibt weder eine Goldberg-Tradition 33 noch eine Goldberg-Forschung. Die beiden vorhandenen Lexikon-Artikel 36 sind schon vom Umfang her völlig unzureichend. Goldberg 37 wird nur noch am Rande erwähnt in der Literatur über den frühexpressionistischen .Neuen Club' in Berlin (Georg Heym, Neopathetischen Cabarett), über Thomas Mann Qosephs-Tetralogie, ,Mass und Wert', Dr. Faustus) und im Briefwechsel Walter Benjamins mit Gershom Scholem (Erinnerungen Scholems). Als Goldberg Michaelis 1906 am Berliner Friedrichs-Gymnasium das Abitur machte, gab er zwar als Berufswunsch .Medizin' an, aber erst einmal vertiefte er seine Hebräisch-Kenntnisse am Rabbiner-Seminar bei Joseph Wohlgemuth und am jüdischen Lehrhaus (Beth Hamidrasch) bei Abraham Biberfeld 3 '. Der dort vertretene orth odox e Standpunkt, der schon eine Ubersetzbarkeit des Pentateuch in Frage stellte, prägte Goldberg tief. 1908 erschien seine erste Schrift, .Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude', in der er anhand des Nachweises einer durchgehenden Zahlenschrift (Gematria) versucht nachzuweisen, daß dieses komplizierte Zahlengebäude nur durch Verbalinspiration geschaffen werden konnte. Ab 1909 studierte Goldberg in Berlin und München Medizin, Orientalistik und Völkerpsychologie, 1913/14 übernahm er die Leitung des ,Neuen Club', 1914 wurde er bei Kriegsausbruch als Militärarzt eingezogen, promovierte aber noch 1915 mit dem Thema .Die anormalen biologischen Vorgänge bei orientalischen Sekten'. Diese Dissertation ist nicht mehr aufzufinden, ja es muß bezweifelt werden, daß sie je als geschlossener Text schriftlich vorlag. Erich Unger jedenfalls, der ein Semester später an derselben Schu33 ebd. S. 273 34 ebd. S. 284 35 Der in Paris veranstalte te Neudruc k einer Artikelserie Goldbergs: .L 'edifice des nombr es dans le Pentateuque' (1986) kann angesichts des Goldbergs Intentionen widersprechenden Nachwortes keine Tradition bilden 36 s. Anm. 6 und: International Biographical Dictionary of Central European Emigres 193 3-1945, Vol. Ii/Part 1: A-K, München/New York/London/Paris 1983, S. 389 (falsches Todesjahr!) 37 Meine Forsch unge n sind — erst einmal — zusammengefaßt in der Rundfunk-Sendung .Oskar Goldberg — ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte', gesendet vom Sender Freies Berlin am 27.12.1988 in SFB III 38 Die einzige mir bekannte autobiographisc he Äußerung Goldbergs befindet sich unter dem Titel .Curriculum' im Max-Horkheimer-Archiv in Frankfurt und wurde höchstwahrscheinlich im August 1941 in New York verfaßt, wohin er im Mai 1941 emigriert war
le sein Abitur abgelegt hatte, erwähnte diesen Text in seiner Dissertation von 1922 nicht, obwohl sie thematisch benachbart war und ihm zweifellos vorgelegen hätte; der Titel von Ungers Dissertation: ,Das psychophysische Problem und sein Arbeitsgebiet. Eine methodologische Einleitung*. Das Besondere der Erkenntnisse Goldbergs war, daß er ihnen von Anfang an eine „naturwissenschaftliche Bedeutung" beimaß 39 — Goldberg wollte die Trennwand zwischen Wissen und Glauben niederreißen 40 . Er wollte sich nicht damit abfinden, daß das Wissen sich fortwährend mit den bedingten und begrenzten Tatsachen beschäftigt, während das Glauben sich auf die unbegrenzten Ideale beschränkt, Goldberg strebte eine Verbindung beider Bereiche in einer höheren Stufe der Wirklichkeit an. Dies meinte er ganz praktisch, und bei der Umsetzung dieses Zieles half ihm Erich Unger. In unterschiedlichen Fassungen wird Folgendes von Martin Buber berichtet — hier im Gespräch mit Werner Kraft: „Während des ersten Weltkriegs sei Erich Unger in Goldbergs Auftrag zu ihm gekommen, mit dem Vorschlag, er solle seinen Einfluß im Berliner Auswärtigen Amt geltend machen, daß dieses ihn, Goldberg, in offiziellem Auftrag nach Indien schicke, um mit den dortigen .Mahatmas' in Verbindung zu treten, denn diese verfügten über metaphysische Geheimnisse, deren Kenntnis Deutschland den Sieg sichern könnte." 41 Die .anormalen biologischen Vorgänge' waren für ihn das Tor zur höheren, nicht mehr mechanisch-technisch orientierten Realität. Diese außerordentlichen biologischen Vorgänge — Atemstillstand, Aussetzen des Herzschlages, Schmerzunempfindlichkeit — waren für Goldberg wie für Unger ein .Paradigma': Die „Beherrschung des Körpers durch geistige Momente" (S. 15) sollte beispielhaft für die Wirksamkeit des Geistigen im Materiellen stehen. Derjenige, der diese außergewöhnlichen Fähigkeiten besitzt, gilt als Heiliger, aber als einer, „der realiter nichts anderes ist als jemand, der die physiologische Anlage seiner Gruppe voll zum Ausdruck bringt, eine Anlage, die somit potentiell jeder Angehörige der Gruppe besitzt." 42 — so die Darstellung Goldbergs in einem unveröffentlichten Brief an Prof. Felix von Luschan vom 30. August 1922, in dem er sein neues Dissertationsvorhaben darlegt mit dem Thema ,Die Verbindung physiologischer und soziologischer Methodik in der Anthropologie als heuristisches Prinzip zur Aufklärung der anthropologischen Gruppenbildung'. Erich Unger — um dies zu ergänzen — half auch bei späteren Versuchen, ein .Indien-Unternehmen' in offizieller Mission zustande zu bringen 43 , Goldberg berichtet aber in jenem Brief an 39 Oskar Goldberg: Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude, Berlin 19 08, Vorbemerkung 40 s. ders.: Maimonides, Wien 1935 41 Werner Kraft: Gespräche mit Martin Buber, München 1966, S. 3 3; s.a.: Schalom Ben-Chorin: Zwiegespräche mit Martin Buber, Gerlingen 1978, S. 104 f, und: Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt/Main 1977, S. 187 f. 42 Oskar Goldberg an v. Luschan 30 .8.1 922 , S. 11, Nachlaß v. Luschan in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin 43 s. Telegramm von Oskar Goldberg an Prof. Kurt Breysig vom 1. Fe br. 1916 und Telegramm von
von Luschan, daß erst Kontakte zum Bayerischen Kriegsministerium insofern zum Erfolg geführt haben, als er an Expeditionen in die Türkei teilgenommen hat. Die Figur des .Heiligen' bzw. einer Person, die die (physiologische) Anlage einer Gruppe in einer besonderen Deutlichkeit und Intensität repräsentiert, ist bei Unger und Goldberg von zentraler Bedeutung, denn diese Repräsentanz gilt nicht nur von der Vergangenheit her, sondern auch in die Zukunft hinein. Für Unger ist sie der „Typus des zu einer .Regierung' Befugten" (S. 45), von dem ein Volk gegründet werden kann. Bei Goldberg ist dies der „Stammvater"* 4 , der gegen das (rein biologische) Abstammungs-Prinzip gesetzt ist. Es ist dies ein Vermögen, „das typisch .Einzelnen' übergeben wird, die hierdurch zu .Völkern' in ihrer eigenen Person werden." 45 Daß Goldberg und Unger hier auf alte hebräische Vorstellungen zurückgreifen, zeigt ein Blick in das Standardwerk von Thorleif Boman ,Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen':,.Die Begriffe des Israeliten sind keine von konkreten Einzeldingen oder Einzelerscheinungen abgeleiteten Abstraktionen, sondern reale Ganzheiten, welche die Einzeldinge in sich schließen.... Das Allgemeine, der Typus ist der gegebene Ausgangspunkt des Denken, der die gemeinsamen Charakterzüge enthält und der Gemeinschaft ein einheitliches Willengepräge gibt.... Das Entscheidende ist nämlich nicht die Anzahl, ob mehrere oder nur ein einzelnes Exemplar darin steckt, sondern, ob die Eigenart oder das Wesen sich in dem betreffenden Individuum oder in den Individuen verkörprt." 46 Hier ist die Umkehrung des Abstämmlings- in das Stammvater-Prinzip schon vorgezeichnet, das Goldberg und Unger („Stammindividuum", S. 36) zum Drehpunkt ihrer .metapolitischen' (S. 48) oder .transzendentalpolitischen' 47 Vorstellungen machten. Goldberg war der Meinung, daß die Besonderheit der Bindungskraft der israelitischen Gemeinschaft (religio) in der von der Abstammung „diskontinuierlichen Volk sg rü n d un g " zu finden sei 48 . Das .geborene' Volk werde durch .feste Gesetzlichkeiten' vorausbestimmt, während „die Struktur des .gegründeten' Volkes durch das Wechselwi rkungssystem zwischen Go tt und Volk erst herges tellt" wir d 49 . Diese Wechselwirkung, die das System der durch Abstamm ung erstel lten biologischen Gesetze durchbricht, vollzieht sich in „metaphysischen Ereignissen" 30 . Da das Volk Israel die Folge einer teleologischen Gründung' war, bezeichnete Goldberg es als ein .teleologisches Volk', das „hinsichtlich des Dienstes dem Wahl- und Zielgott gegen-
44 45 46 • 47 48 49 50
Eric h Ung er an denselben vom 2. Fe br. 1916, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a .O., S. 79 ebd., S. 286 Thorleif Boman: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, 6. Aufl. Göttingen 1977, S.5 6 • Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a .O., S. 35 ebd. S. 20 5 ebd. S. 182 ebd.
über Willensfreiheit" habe51 — mit der Gefahr, daß das Ziel verfehlt werden kann, was Goldbergs Uberzeugung nach geschah 52. | £ Weiterer Hinweise bedarf es nicht um zu erkennen, daß Unge r mit .Politik und Metaphysik' eine ent-theologisierte Fassung Goldbergscher Vorstellungen darbietet; wo er ohne konkretere Hinweise vom .psychischen Programm' (S. 37) oder von .notwendigen Inhalten' (S. 53) spricht, sind jene Punkte getroffen, an denen Goldberg auf hebräische Traditionen (Riten, Gesetze u.a.) zurückgriff. Ei n Ja hr später legte Ung er seine Position zu m Judentum dar in dem Vortrag .Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes'. Auch dort stand das psychophysische Problem im Mittelpunkt: „Den Geist weitertreiben um des Körperhaften willen: den Geist tiefer, gewandter, subtiler und abstrakter zu kultivieren, — gerade um zuletzt der Leiblichkeit und ihren Problemen gewachsen zu sein, aus Liebe zum Materiellen — geistig sein — durch diese Spannung am tiefsten geeignet zu sein, darin liegt vielleicht die Kraft und die Definition des Judentums." 53 Die beiden Publikationen Ungers geben ein grundsätzliches Dilemma Goldbergs wieder: Einerseits hielt er allein die Fünf Bücher Mosis für einen heiligen Text und die darin beschriebenen Rituale allein für geeignet, die Verbindung zu Gott herzustellen, andererseits aber stellt für ihn die Geschichte des Judentums eine einzige Geschichte des Abfalles, des Niederganges dar, sodaß er in Ostasien und in Nordafrika nach Resten ,mythenfähiger' Völker suchte. Das .Hebräerritual' mußte missionsfähig sein, es mußte sowohl der metaphysischen Idee des Volkes Israel entsprechen als auch auf andere Völker übertragbar sein — dies war zweifellos der tiefste Anstoß für Unger, die Goldbergschen Ideen auf die philosophische Ebene zu übertragen. Da diese Fragen den hier zu behandelnden Themenkreis überschreiten, seien hier nur zwei Zitate nebeneneinandergestellt. Erich Unger schrieb; „Der absolut zu bejahende, d.i. metaphysische Begriff der Nation bejaht das Prinzip der Nation überhaupt: sofern wirkt der national; und verneint die empirischen: sofern wirkt er international." (S. 35) Goldberg ganz ähnlich und doch um wichtige Nuancen anders: „Im Gegensatz zu den Moralgesetzen der anderen metaphysischen Völker-Gesetze ... führt der biologische Universalismus der hebräischen Metaphysik ... zu .Moral'gesetzen, die nicht sinnlos werden, wenn sie vom übrigen Ritual abgetrennt werden, sondern welche die Möglichkeit zu universeller Anwendung in,sich enthalten." 54 Hier öffnet sich die tiefe Problematik der Goldbergschen Idee des „Missionierenden Hebräertums' 55 .
51 52 53 54 55
Ebd. S. 88 f. s. ebd. S. 209 Eric h Unger : Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes, Berlin 19 22, S. 28 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a .O., S. 140 Oskar Goldberg: Missionierendes Hebräer turo, in: Saat auf Hoffnun g, Zeitschri ft für die Mission der Kirche an Israel, 70. Jg., 1933, Heft 2, S. 70 (-79)
Eine Nachwirkung hatte Ungers .Politik und Metaphysik' nicht; die einzige Erwähnung, die mir bekannt ist, kommt aus dem Goldberg-Kreis: Adolf Caspary, der Goldberg 1941 ins Exil nach New York folgte und der als ständiger Mitarbeiter der Exil-Zeitschrift .Aufbau' die strategischen Probleme' des Zweiten Weltkrieges analysierte, schrieb über Ungers Buch am Schluß seiner .Geschichte der Staatstheorien im Grundriß' gut zwei Seiten, in denen er nicht mehr als das Grundanliegen Ungers darstellen konnte 56 .
III Von Walter Benjamin wissen wir, daß Erich Unger sein Buch zuerst in Vorlesungen vorgetragen hat. Die folgende längere Passage aus einem Brief Benjamins an Gershom Scholem vom Januar 1920 zeigt, welch gespaltene Haltung Benjamin gegenüber dem Goldberg-Kreis hatte: „Nun habe ich gerade jetzt die Bekanntschaft mit einem Buche gemacht, das soweit ich nach der Vorlesung die der Verfasser an zwei Abenden hielt, denen ich beiwohnte, urteilen kann, die bedeutendste Schrift über Politik aus dieser Zeit mir zu sein scheint.... Erich Unger: Politik und Metaphysik. Der Verfasser ist aus demselben Kreise der Neo-pathetiker, dem auch David Baumgardt (den ich hier einmal sprach) angehört hat und den ich von seiner verrufensten und wirklich verderblichen Seite zur Zeit der Jugendbewegung in einer für Dora und mich höchst eingreifenden Weise in der Gestalt des Herrn Simon Guttmann kennen lernte.... Sie haben recht wenn Sie — selbstverständlich — den zionistischen Tendenzen dieser Leute mit völliger Teilnahmlosigkeit gegenüber stehen. Ich darf das voraussetzen ohne es zu wissen. Das Hebräisch dieser Menschen kommt aus der Quelle eines Herrn Goldberg, — von dem ich zwar wenig weiß, durch dessen unreinliche Aura ich mich aber so oft ich ihn sehen mußte aufs entschiedenste, bis zur Unmöglichkeit ihm die Hand zu geben, abgestoßen fühlte. Dagegen sind Unger und Baumgardt wie mir scheint von gänzlich andrer Art — und ich glaube es aus meinem höchst lebhaften Interesse an Ungers Gedanken, die sich z.B. was das psycho-physische Problem angeht mit den meinigen überraschend berühren, verantworten zu können, Sie, trotzdem ich das Gesagte weiß, auf das Buch hinzuweisen." 57 Simon Guttmann war, wie Scholem anmerkt, Benjamin deswegen in böser Erinnerung, weil dieser 1914 eine Spaltung des ,Sprechsaals' betrieben und erreicht hatte 58 . Diese Anmerkung Scholems erschien 1966, 1970 wurde sein Artikel über 56 Adolf Caspary: Geschichte der Staatstheorien im Grundriss, Mannh eim/Be rlin/L eipz ig 1924, S. 9698 57 Walter Benjamin: Briefe, hrsg. v. Gershom Scholem und Th. W. Adorno, Fra nkfu rt/Ma in 1966 , S. 252 f. s.a. Gesammelte Werke Bd. II.l, S. 191 und 193 58 ebd. S. 256; s. Werner Fuld: Walter Benjamin, Zwischen den Stühlen, München 1979 , S. 51 ff.
Goldberg in der ,Encyclopaedia Judaica' veröffentlicht. Wahrscheinlich in diesem Zusammenhang hatte Scholem versucht, genaueres über Goldberg und dessen Nachlaß zu erfahren 59 , aber erst 1980 gab Richard Sheppard den Hinweis, daß dieser Nachlaß von Simon Guttmann in London verwahrt wird 60 . Gershom Scholem war — neben Schalom Ben-Chorin und Hermann L. Goldschmidt — einer der wenigen, die sich über Goldberg und Unger äußerten 61 und dadurch verhinderten, daß diese vergessen werden. Dennoch muß festgestellt werden, daß Scholem gegenüber dem Goldberg-Kreis eine starke Abneigung hegte — Benjamins Formulierungen zeigen deutlich, wie diplomatisch er versuchte, sein Interesse an Unger zu rechtfertigen. Dieses Interesse aber bestand nicht trotz, sondern wegen Ungers engem Verhältnis zu Goldberg. Leider muß Scholems,Goldberg-Brief' 62 als verloren gelten, über den es neben Benjamins hochlobendem Urteil auch ein wesentlich kritischeres von Franz Rosenzweig gibt 63 . Uber Goldbergs ,Maimonides, Kritik der jüdischen Glaubenslehre' 64 schrieb er 1935 an Benjamin, dieses Buch sei „im unverfälschtesten Zuh älterstil" geschrieben 65 , und noch 1980 gab er als Begründung dafür, daß er sich über dieses Buch nicht geäußert habe, an: „weil mir das Buch die erforderliche Länge nicht wert war." 66 So nimmt es nicht wunder, daß Scholem in seinen Darstellungen keinen Hinweis darauf gibt, daß Unger an Benjamins Zeitschrift ,Angelus No vus' mitarbeiten sollte, die dann allerdings nicht zustande kam: „Unger ist bereit mitzuschreiben, doch habe ich den in Aussicht gestellten Beitrag, einen Aufsatz den er vor ein oder zwei Jahren schrieb, noch nicht. In nächster Zeit beabsichtigt er, den 30 Minuten-Doktor von Erlangen zu machen." 67 Wäre diese Zeitschrift erschienen, so hätte der engste Goldberg-Schüler eine sicher nicht unwichtige Rolle bei ihrer Ausgestaltung übernommen. Indirekt scheint Erich Unger zumindest zwischenzeitig eine entscheidende Rolle bei der Frage gespielt zu haben, ob das Projekt .Angelus Novus' durch den Verleger Richard Weißbach überhaupt realisiert werden könne: In einem Brief an Scholem zitiert Benjamin aus einem Brief von Weißbach, der aus finanziellen Gründen den Satz 59 Brief von Prof. Na chum T. Gidal vom 18. 5.1 988 an Verf.; im Nachl aß von Scholem befindet sich Material über Goldberg und Unger aus dem Literaturarchiv in Marbach 60 Richard Scheppard (Hrsg.): Die Schriften des Neuen Clubs 190 8-1914, Band 1, Hildesheim 1980, S. XV; Brief von Nicholas Jacobs (London) vom 29.1.1988 an Verf. 61 Gershom Scholem: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Fran kfurt /Main 1975, S. 122-126; und: ders.: Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt/Main 1977, S. 184-188 62 s. Walter Benjamin: Briefe, a.a.O., S. 483 u. 48 9 63 Fra nz Rosenzweig: Briefe und Tagebücher Bd. 2 (- D er Mensch und sein Werk, Gesammelte Schriften), Den Haag 1979, S. 1200 (Brief an Martin Buber vom 24.10.1928); der Name Scholems ist durch Punkte ersetzt 64 Oskar Goldberg: Maimonides, Wien 1935 65 Walter Benjamin Gershom Scholem: Briefwechsel, Frankfu rt/Ma in 1980, S. 2112 66 ebd. S. 213 67 Walter Benjamin: Briefe, a.a.O., S. 280
für die Zeitschrift einstellen mußte: „Das Ungerbuch, aus dem ich größere Einnahmen haben werde, wird erst in vier Wochen fertig. Ich hoffe, dann über die notwendige Summe verfügen zu können." 68 Über dieses „Ungerbuch" ist nichts bekannt, mit Sicherheit ist es nicht erschienen. Benjamin verfolgte sämtliche Veröffentlichungen Ungers mit großem Interesse und berichtete Scholem brieflich davon — so auch über den Gedanken einer neuen ,Vö lkerwanderung' 69 , den Unger in .Politik und Metaphysik' dargelegt hat (S. 43 f). Erst Ungers Buch .Wirklichkeit Mythos Erkenntnis' stieß bei ihm auf allerdings scharfe Kritik und hier fällt das erste Mal der Begriff der ,Zauberei', gewendet gegen den Goldbergkreis und dessen zahlenkombinatorischen Tendenzen 70 . Später heißt es dann nur noch, Goldberg sei ein ,Zauberjude' 71 , eine For mul ierung allerdings, die deshalb pikant ist, weil Benjamin seinerseits Scholem einen „abgefeimten Zauber-Juden" genannt hatte 72 . Das Interesse Benjamins an Ungers Arbeiten anfang der 20er Jahre läßt es nicht unwahrscheinlich erscheinen, daß er dessen Dissertation von 1922 gelesen hat. Zweifellos jedenfalls wäre diese Arbeit für ihn von großem Interesse gewesen. Unger führte hier seine Wissenschaftskritik fort, die er 1915 in einem langen Brief an Prof. Kurt Breysig dargelegt hatte 73 — und die deutliche Parallelen zu Benjamins Vorstellung der ,Aura' aufwies —, und die er über .Politik und Metaphysik' immer weiter entwickelte bis hin zu seinen Spätschriften. Und immer stand für Unger das psychophysische Problem im Mittelpunkt. In seiner Dissertation bezog er sich vor allem auf Ricken: und dessen Darstellung eines .transzendentalen Empirismus' 74 ; Benjamin hatte in Freiburg bei Heinrich Rickert studiert 73 . Unger benutzt in seiner Darlegung Begriffe, die Benjamin erst viel später, nämlich in der Erkenntniskritischen Vorrede seines Trauerspielbuches systematisch verwendet hat (deren Vorarbeiten allerdings auf das Jahr 1916 zurückgehen). Hier sollen nur einige Sätze aus der Dissertation zitiert werden, die ein mögliches Interesse Benjamins am deutlichsten belegen können: „Die Wissenschaften pflegen ihren Ausgang von Grenzbegriffen aus zu nehmen. Dies deshalb, weil dem Denken der Radikalismus innewohnt, zuerst die Pole, d.h. die unmittelbaren Gegensätzlichkeiten zu formulieren.... Deshalb fordert auch das Denken in Extremen den geringsten Energieaufwand, weil die Pole als Grenzen stets starr und eindeutig sind, während nach einem Zentrum hin eine end68 69 70 71 72 73 74
ebd. S. 289 ebd. S. 288 ebd. S. 516 ebd. S. 637 ebd. S. 282 s. Anm. 3 Erich Un ger: Das psychophysische Problem und sein Arbeitsgebiet. Eine methodische Einleitung, phil. Diss. der Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen, Tag der mündl. Prüfung: 27.7.1922 75 s. Berd Witte: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 18
los sich steigernde Fülle von Möglichkeiten oszilliert— Aus dem Vorangegangenen dürfte hervorgehen, daß die erweiterte Psychophysiologie echte theoretische und echte Experimentalwissenschaft ist." 76 Wenn es, wie Liselotte Wiesenthal darlegte, Benjamins Frage war, wie „das naturwissenschaftliche Experiment als eine Form der Erfahrung in den Humanwissenschaften realisierbar" sei 77 , so hatte Eri ch Unger hier seine Antwort gegeben. Die scharfe Ablehnung des Goldbergs-Kreises durch Scholem brachte Benjamin, wie Scholem erinnert, „in ziemliche Verlegenheit, da ihm zwar nichts an Goldberg, wohl aber an der Aufrechterhaltung der Verbindung mit Unger lag." 78 Diese Verbindung wurde in verschiedene Gruppen hergestellt. Hans G. Adler berichtete in seinen Erinnerungen über die .Philosophische Gruppe', aber die von ihm angegebenen Jahreszahlen sind wohl zu korrigieren: Die Philosophische Gruppe, die bei Erich Unger tagte, wurde 1925 ins Leben gerufen und löste sich wahrscheinlich 1931 auf. Die Erinnerungen über diese wöchentlich stattfindenden Abende gehen bei den Teilnehmern nach den Jahren des Exils auseinander: Während Hans G. Adler davon sprach, daß die Abende in der Uhlandstraße stattgefunden haben, erinnert sich Werner Kraft an die Wilmersdorfer Straße 79 . Ist dieser Widerspruch durch einen Umzug zu erklären, so gehen doch die Teilnehmerzahlen sehr weit auseinander: Den von Adler genannten 50 oder 60 Personen stehen 8 bis 10 Personen gegenüber, die Te Fuchs angibt 80 . Nicht auseinander gehen die Angaben über die große Breite der behandelten Themen. Über die Rolle Goldbergs aber gehen die Erinnerungen wieder auseinander. Te Fuchs: „Es wurde auch versucht, gewisse Problemstellungen den Veröffentlichungen Oskar Goldberg's anzugleichen und von der Problematik aus zu erklären." Dagegen Werner Kraft: „Die Themen waren rein philosophisch und völlig sachlich, von Goldbergs Schülern, die hoch begabt waren wie Erich Unger, Adolf Caspary und anderen, alles war auf Goldberg im Zentrum bezogen, obwohl er mit Namen nie vorkam. Als Privatperson war er immer anwesend, ohne je persönlich einzugreifen: er lenkte geheim." Zweifellos hat Benjamin an einzelnen dieser Abende teilgenommen 81 . Ob er darüberhinaus auch an den bei Goldberg stattfindenden geselligen Abenden teilgenommen hat, die intern .langweilige Abende' genannt wurden und an denen keine Vorträge oder philosophische Diskussionen stattgefunden haben 82 , ist unbekannt, Scholem aber berichtet, daß Benjamin in anderem Kreise manchmal mit Goldberg und Unger zusammengetroffen ist 83 . 76 Erich Unger: Das psychophysische Problem, a.a.O., S. 3, 11 u. 20 77 Liselotte Wiesenthal: Zur Wissenschaftstheorie Walter Benjamins, Fran kfurt /Main 1973, S. 13; s. Manfred Voigts: Brechts Theaterkonzeptionen, München 1977, S. 124 u. 172 f. 78 Gershom Scholem: Walter Benjamin, a.a.O. S. 124 79 Werner Kraft in einem Brief an den Autor vom 4.2. 88 80 Te Fuchs in einem Brief an den Autor vom 8.9.88 81 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, a.a.O., S. 186 82 s. Anm. 80 83 Gershom Scholem: Walter Benjamin, a.a.O. , S. 123 f.
Da dieser Nachdruck von .Politik und Metaphysik' das einzige im Buchhandel erhältliche Werk Ungers ist, erscheint es sinnvoll, als kurzen Hinweis auf das Gesamtwerk auf das zuletzt erschienene Werk einzugehen, das Unger 1941 bis 1944 verfaßt hat, das aber erst posthum 1966 in Jerusalem erschienen ist — in einer leider an Druckfehlern reichen Form: ,Das Lebendige und das Göttliche'. Um die Bedeutung der Überlegungen Ungers abschätzen zu können, sollen sie im Zusammenhang mit ähnlichen Gedanken erörtert werden, die Hans Jonas in seinem Buch .Organismus und Freiheit' niedergelegt hat. Sowohl Unger als auch Jonas gehen davon aus, daß die Erkenntnis von Mensch, Leben und Kosmos nicht abgetrennt werden kann von der Entwicklung und Stellung des Menschen im Kosmos. Es ist genau diese Verbindung, die nicht nur für Unger — wie wir sahen — sondern auch für Jonas das psychophysische Problem in den Mittelpunkt des Interesses richtete: „Vielleicht ist in einem richtig verstandenen Sinne der Mensch doch das Maß aller Dinge — nicht zwar durch die Gesetzgebung der Vernunft, aber durch das Paradigma seiner psychophysischen Totalität ..." 8 4 Das hat für Jonas gravierende Konsequenzen auch für das Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften: „Die Tatsache des Lebens als körperlich-seelischer Einheit, wie sie im Organismus da ist, macht die Trennung illusorisch." 83 Jonas sieht sich daher an einem wissenschaftsgeschichtlichen Wendepunkt: Nachdem der mythische Panvitalismus durch den neuzeitlichen Panmechanismus abgelöst wurde, müsse jetzt das Verhältnis von Leben und Materie in ein neues paradigmatisches Verhältnis gebracht werden: „Noch immer ist die Frage offen, ob das Leben eine qualitative Komplizierung in der Anordnung von Materie darstellt ... oder ob umgekehrt die ,tote' Materie privativ, als defizienter Modus der Eigenschaften des empfindenden Lebens ... zu verstehen ist" 86 . Erich Unger stellt — in vollständiger Übereinstimmung mit Hans Jonas — fest: „Die ,Verdrängung der Erde aus dem Mittelpunkt der Welt', die ihre wissenschaftliche Rechtfertigung haben mag, hat psychologisch eine andere Verdrängung zur Folge gehabt, die keine wissenschaftliche Rechtfertigung hat und keine haben kann, die Verdrängung des Lebendigen aus dem Gedankenbild von der Welt." 87 Und er folgert: „Der Wiederanschluß der biologischen Sicht an die Betrachtung des Kosmos ist, nach Ueberwindung der Exzesse des Mythos und der ausschließlichen Kultivierung eines ,toten' Kosmos, notwendig." 88 Jonas stellt zum neuzeitlichen Denken 84 Hans Jonas: Organismus und Freiheit, Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1 973, S. 39 85 ebd. S. 31 86 ebd. S. 39 87 Erich Ung er: Das Lebendige und das Göttliche, Jerusalem 1966, S. 46 88 ebd. S. 65
fest: „Das Natürliche und Verständliche ist der Tod, problematisch ist das Leben." 89 Dann aber beginnen die Differenzen — die im Rahmen dieses Nachwortes nur dargestellt und nicht aufgearbeitet werden können. Unger und Jonas legen uns zwei unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten für die Zuordnung von Materie und Leben vor. Hans Jonas: „Vielmehr, da die Materie nun einmal so von sich Kunde gab, nämlich sich tatsächlich auf diese Art und mit diesen Ergebnissen organisierte, so sollte ihr das Denken ihr Recht widerfahren lassen und ihr die Möglichkeit zu dem, was sie tat, als in ihrem anfänglichen Wesen gelegen zuerkennen." Es habe „schon das gründende Prinzip des Überganges von lebloser zu lebender Substanz eine so zu bezeichnende Tendenz in den Tiefen des Seins selber" 90 gehabt. Jonas bleibt im Prinzip bei der Aufeinanderfolge von toter und lebendiger Materie, wenn er auch der toten eine ,Tendenz' zum Leben zuerkennt. Er löst die Zuordnung also durch Gradabstufungen des Lebens von der minimalen Tendenz über die einfachen Stoffwechselfunktionen bis hin zur lebendigen Freiheit des Menschen. Umgekehrt Unger: Er geht davon aus, „dass eine Zunahme der Bildbarkeit und Formbarkeit der lebenden Materie in Richtung auf das Anfangsstadium des Lebens zu konstatieren sei", und daß am Beginn der Welt eine lebendige ,Urmaterie' gestanden hat, „in der es nichts Unbelebtes gab, aber auch noch keinen .Organismus'" 91 . Die Masse toter Materie im Kosmos sei das Produkt des in immer bestimmtere und begrenztere Formen drängenden Lebens 92 . Lebende und unbelebte Materie bleiben aufeinander bezogen, der Kosmos wird von Unger als .Umwelt' des Lebens begriffen 93: „Es gibt keine andere nichtbelebte Materie als .Nichtbelebte Materie f ü r Lebendiges'."94 Solch eine Formulierung wäre für Hans Jonas unannehmbar. Für ihn ist das Phänomen der Freiheit als Kennzeichen des Lebens durch einen „Urakt der Absonderung" von der „allgemeinen Integration der Dinge im Naturganzen" gekennzeichnet 95 . Dieser Urakt ist bei Jonas notwendig, damit das Leben aus dem Bannkreis der unbelebten Materie heraustreten kann. Für Unger bildet die Organismus-Materie und die Umwelt-Materie ein Ganzes, „dessen Unterteilung in einen .belebten' und einen .unbelebten' Teil lediglich dem Endprodukt der Entwicklung und also der wahrnehmungsempirischen Situation, nicht aber der Ursprungs-Situation oder der kosmischen Sachlage zukommt." 96 Der entscheidende Unterschied bei den beiden Lösungskonzepten der Zuordnung von Materie und Leben ist der, daß Unger eine Wandlung in den Naturgesetz89 90 91 92 93 94 95 96
Hans Jonas, a.a.O. , S. 22 ebd. S. 11 und 130 Erich Unger, a.a.O., S. 56 und 107 S. ebd. S. 135 ebd. S. 143 ebd. S. 107 Hans Jonas, a.a.O. , S. 15 Erich Unger, a.a.O. , S. 125
lichkeiten voraussetzt, während für Jonas diese Gesetze „seit Beginn des Alls wie im Augenblick" gelten 97 . Die Veränderbarkeit der Naturgesetze in der Konzeption Ungers hat zweifellos in der Goldbergschen Vorstgellung der Durchbrechung der niederen' Naturgesetzlichkeiten durch .höhere' ihren Ursprung. Diese Durchbrüche, die sich — nach Goldberg — immer zu höheren Stufen der Lebendigkeit hin vollziehen, vollzogen sich bei den Hebräern durch die Wunder; von dieser Vorstellung des Wunders hat sich Un ger hier distanziert 98 . Gleichwohl hat er direkt oder indirekt Goldbergsche Ideen aufgenommen und weiterentwickelt und an seinen Grundideen festgehalten, so an der Uberzeugung der Katastrophalität der gegenwärtigen Geschichte 99 und der ursprünglichen Identität von Individuum und Gattung 100 . Insgesamt aber hat er wichtige neue Perspektiven eröffnet und für sich abschließend die Perspektive und die damit verbundene Verantwortung des Menschen so beschrieben: „Wir könnten sagen, daß das was der Mensch eigentlich ist und werden kann, sich zu dem, was er wahrnehmungsempirisch ist, nochmals verhält wie das Lebendige zum Unlebendigen, wenngleich wir hinzufügen müssen, daß das buchstäblich Nichtbelebte um des Lebendigen willen hervorgebracht ist, während das sozusagen nicht bis zu seiner höchsten Möglichkeit gelangte Lebendige in eben diese Möglichkeit sich umzusetzen trachtet." 10 1
97 Brief von Hans Jonas an den Verf. vom 21.8 .19 88 98 Erich Unger, a.a.O., S. 140 f. 99 ebd. S. 170 100 ebd. S. 101 101 ebd. S. 172 f.
Die Reihe ,Die Theorie' im Verlag David
Erich Ungers ,Politik und Metaphysik' ist als 1. Veröffentlichung der Reihe ,Die Theorie, Versuche zu philosophischer Politik' im Verlag David erschienen. Auf der letzten Seite dieses Buches wird als 2. Veröffentlichung angekündigt: Oskar Goldberg: Das Volk. Über eine dynamische Struktur in soziologischen Einheiten und die Theorie ihrer Formel. Dieses Buch aber ist nie erschienen. 1922 erschien als,Sonderveröffentlichung der Schriftfolge: ,Die Theorie' von Erich Unger: Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes, Vorrede zu einer gesetzgebenden Akademie' 1 .1925 veröffentlichte der Verlag David Goldbergs Hauptschrift ,Die Wirklichkeit der Hebräer, Einleitung in das System des Pentateuch'. Dazu verfaßte Erich Unger ,Das Problem der mythischen Realität, Eine Einleitung in die Goldbergsche Schrift: „Die Wirklichkeit der He br äe r' ", die als 3. Veröffentlichung der Reihe ,Die The orie' 1926 erschien. Die 4. Veröffentlichung dieser Reihe war: Adolf Caspary: ,Die Maschinenutopie, Das Ubereinstimmungsmoment der bürgerlichen und sozialistischen Ökonomie' von 1927. Uber Ernst David sind zwei bedeutende Aussagen von Gershom Scholem erhalten. Am 26. Juli 1933 schrieb dieser an Walter Benjamin: Heute vor vierzehn Tagen ist Ernst David plötzlich gestorben, was ich nicht vergessen möchte Dir mitzuteilen. Er war einer der angenehmsten Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, von einer Sauberkeit und Entschiedenheit des Wesens bei größter Zurückhaltung und Bescheidenheit, die den Umgang mit ihm viele Jahre zu einer Erholung gemacht haben. Er wohnte zuletzt eine Minute von uns, arbeitete freilich sehr viel in Kairo, wo er auch ohne jede Vorbereitung tot umfiel. Ich habe bei seiner Beerdigung für seine Freunde gesprochen und fühle einen wirklichen Verlust. (...) Er war übrigens sehr fromm und lebte hier streng nach jüdischem Gesetz. Uber seine Beziehungen und seinen Bruch mit dem Goldbergkreis bewahrte er ein unverbrüchliches Schweigen, so lebhaft er sich über meine Ansichten darüber zu erkundigen pflegte.2
In seinem Buch über die Freundschaft mit Benjamin schrieb er: Als ich schon in Jerusalem war, befreundete ich mich mit Ernst David, der die Drucklegung von Goldbergs Hauptwerk finanziert hatte. Er war ein Mann von vornehmem Charakter, der jahrelang unter Goldbergs Faszination in diesem Kreis verweilt und sich unter großen Schwierigkeiten von ihm gelöst hatte, indem er das Tabu, mit dem Goldberg die Auswande1 2
Gershom Schole m gab verschiedene falsche Titel an: s. Walter Benjamin: Briefe, Ffm 196 6, Bd. 1, S. 291; und: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Ffm 1975, S. 124. Walter Benjamin Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, Ffm 1980, S. 88 f.
rung und Anteilnahme am zionistischen Aufbau belegt hatte, durchbrach. Von ihm und seiner Frau habe ich viel über die exoterischen und esoterischen Aspekte dieser Gruppe gehört.3
Den offensichtlichen Widerspruch in diesen Aussagen können wir nicht auflösen. Ein Umriß der Persönlichkeit Ernst Davids, der die ersten Bücher Erich Ungers veröffentlichte, wird dennoch deutlich.
3
Gershom Scholem: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Frankf urt/ Main 1 975, S. 123.
Auswahlbibliographie Erich Unger
A. Bücher
1921 1922 1924 1925 1926 1930
Politik und Metaphysik; Berlin Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes; Berlin zusammen mit Adolf Caspary : Die Vergewaltigung des Gymnas iums durch den Geist des pra ktischen Lebens'; Berlin Gegen die Dicht ung; Leipzig Das Problem der mythischen Realität; Berlin Wirklichkeit Mythos Erkenntnis; München
posthum
1952 1966
The Imagination of Reason; London Das Lebendige und das Göttliche; Jerusalem
B. Aufsätze — vor allem bis Anfang, der 20er Jahre
Andeutungen zur Kunst in: Beigaben zu den Monatsberichten der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, Heft 4, März 1909, S. 69 (wiederabgedruckt in: Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914, hrsg. von Richard Sheppard, Bd. II, Hildesheim 1983, S. 403-409) Vom Pathos: Die um George in: der Sturm, Jg. 1, Nr. 40, 1. Dez. 1910, S. 316 Die Gehemmten in: ebd., Jg. 1, Nr. 43, 22. Dez. 1910, S. (343)-344 Nietzsche in: ebd., Jg. 1, Nr. 48, 28. Jan. 1911, S. 380-381, und: Nr. 49, 4. Febr. 1911, S. 388-389 Nachts in: ebd., Jg. 2, Nr. 57, 1. Apr. 1911, S. 452 Vorwort zu einem Roman in: ebd., Jg. 2, Nr. 94, Jan. 1912, S. 749 Wedekinds ,In allen Wassern gewaschen' in: Revolution, Jg. 1, Nr. 5, 20. Dez. 1913, (S. 6-7) Von den obersten Zwecken in: die Aktion, Jg. 4, H. 27, 4. Juli 1914, Sp. 586-589 Mynona: Rosa, die schöne Schutzmannsfrau. Grotesken in: ebd., Jg. 4, H. 31, 1. Aug. 1914, Sp. 691 f Der Krieg in: Der Neue Merkur, Jg. 2, 2. Bd., Okt. 1915 - März 1916, S. 567-572 Schöpferische Indifferenz in: Die Zukunft, hrsg. v. M. Harden, Berlin, XXIX. Jg. Nr. 52 vom 24. Sept. 1921, S. 350-355