jour-fixe-initiative berlin Jochen Baumann / Elfriede Müller / Stefan Vogt (Hg.)
Kritische Theorie und Poststrukturalismus Theoretische Lockerungsübungen
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Ursprünglich erschienen im Argument Verlag als Argument Sonderband 271. (Die Seitenzahlen dieser Datei entsprechen nicht denen des Buches.) Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Kritische Theorie und Poststrukturalismus : theoretische Lockerungsübung / Jour-Fixe-Initiative Berlin. Jochen Baumann ... (Hrsg.). – Berlin ; Hamburg : Argument-Verl., Argument-Verl., 1999 (Argument-Sonderband (Argument-Sonderband ; N.F., AS 271) ISBN 3-88619-271-7 | Erste Auflage 1999
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Inhalt
jour-fixe-initiative berlin: Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen Lockerungsübungen
3
I. Teil
9
Michael T. Koltan: Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt
10
Jochen Baumann: Baumann: Wertkritik in der Postmoderne
23
Roger Behrens: Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Zur Dialektik materialistischer Pop- und Subkulturkritik
42
Andreas Benl: Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht. Guy Debord und die situationistische Internationale
50
II. Teil
62
Katja Diefenbach: [The crack up:] Kapitalismus verstehen. Poststrukturalistische Mikropolitiken bei Guattari, Deleuze und Foucault
63
Elfriede Müller: Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze
77
Monika Noll: »Radikalisierung des Marxismus«. Derridas dekonstruktive Lektüre der Wertformanalyse
86
Kornelia Hafner: Liquidation der Ökonomie oder ihre Kritik?
97
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Inhalt
jour-fixe-initiative berlin: Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen Lockerungsübungen
3
I. Teil
9
Michael T. Koltan: Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt
10
Jochen Baumann: Baumann: Wertkritik in der Postmoderne
23
Roger Behrens: Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Zur Dialektik materialistischer Pop- und Subkulturkritik
42
Andreas Benl: Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht. Guy Debord und die situationistische Internationale
50
II. Teil
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Katja Diefenbach: [The crack up:] Kapitalismus verstehen. Poststrukturalistische Mikropolitiken bei Guattari, Deleuze und Foucault
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Elfriede Müller: Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze
77
Monika Noll: »Radikalisierung des Marxismus«. Derridas dekonstruktive Lektüre der Wertformanalyse
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Kornelia Hafner: Liquidation der Ökonomie oder ihre Kritik?
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jour-fixe-initiative berlin
Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen Lockerungsübungen „Sicher ist, daß ich kein Marxist bin“ (Karl Marx) „Ich bekenne mich zum Geist des Marxismus“ (Jacques Derrida) Dieser Sammelband befasst sich mit dem Verhältnis von Kritischer Theorie und Poststrukturalismus. Die hier vereinigten acht Essays enstanden im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der jour jour fixe-initiative (berlin) zu diesem Thema von Oktober 1997 bis April 1998 im Kulturhaus Mitte in Berlin und wurden für diese Publikation überarbeitet. Die Kritische Theorie und der Poststrukturalismus haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Die Kritik der Philosophie der Aufklärung und die Kritik am traditionellen Marxismus. Beide lehnen den Etatismus der kommunistischen Bewegung ab. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung des Begriffs objektiver Interessen und des darauf aufbauenden Verständnisses des Klassenkampfs. Beide betrachten die Psychoanalyse als wesentlichen Teil der Gesellschaftstheorie. Ideologiekritisch re- oder dekonstruieren beide Theorien den sich als zweite Natur gerierenden Sinn, der tatsächlich historischgesellschaftlich konstruiert ist. Entgegen dem ursprünglich in der deutschen Rezeption von Habermas kommenden und vervielfältigten Urteil, der Poststrukturalismus sei eine letztlich irrationalistische theoriepolitische Strömung, der sich politisch neokonservativ artikuliere, sehen wir den Poststrukturalismus – genauer: die Gesellschaftskritik eines Gilles Deleuze und Félix Guattari, des späten Michel Foucault, Jacques Derridas und anderer - als eine Kritische Theorie der Gesellschaft auf der Höhe der Zeit. Dieser Perspektive schließen sich allerdings nicht alle AutorInnen an; einige haben ein kritisches Verhältnis zur Marxrezeption Derridas, andere sehen die Notwendigkeit, von Vereinfachungen und Banalisierungen der heutigen Kritischen Theorie abzurücken, die ihre Grundlagen bereits in der Gesellschaftskritik der Dialektik der Dialektik der Aufklärung haben. Aufklärung haben. Im Schnittpunkt - in der Art eines „ausgesparten Zentrums“ - der Kritischen Theorie und der verschiedenen in den Beiträgen dargestellten Poststrukturalisten steht die Gesellschaftstheorie und Kapitalismuskritik von Karl Marx. Alle AutorInnen stehen in dieser Tradition und bemühen sich, diese in ihren Beiträgen im Sinne einer erneuerten Kritischen Theorie der Gesellschaft fortzuführen. Aus der Auseinandersetzung der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus mit der Philosophie Heideggers, Husserls und Nietzsches folgt ein neues Verständnis von Theorie als eigener Praxis. Allerdings stellt keine der beiden Schulen der Gesellschaftskritik ein homogenes Denkgebäude nach der Art eines Systems dar. Vielmehr verweisen sie in vielen ihrer Momente aufeinander. Gegen die lange in Deutschland herrschende Blockade versuchen wir in diesem Band eine Diskussion aufzunehmen, die in den USA, in Großbritannien, in Italien und vor allem in Frankreich schon längst geführt wird: Daß eine an Marx geschulte Kritische Theorie und ein kritischer Poststrukturalismus sich keineswegs diametral entgegenstehen, wenn es darum geht, die heutige kapitalistische Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts zu kritisieren. Im Gegenteil: beide Theorieschulen haben es auf ihre je
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eigene Weise vermocht, in ihren besten Momenten ihre Zeit in Gedanken zu fassen und damit über sie hinauszuweisen. 1 Die in den Aufsätzen behandelten Gesellschaftstheoretiker entsprechen allesamt nicht dem feuilletonistischen Idealtypus des postmodernen Poststrukturalisten, der sich von der Vernunft und damit einer vernünftigen Gesellschaftskritik verabschiedet hat. Die poststrukturalistische Theorie entwickelte sich spezifisch gegen den die Wissenschaften dominierenden Strukturalismus und gegen die Form, in der seit Descartes Aufklärung gedacht wurde. Nicht nur bezüglich der Quellen der »dunklen Denker der Bourgeoisie« (Habermas) wie De Sade, Baudelaire, Bataille oder Rimbaud auf der einen und Nietzsche und Heidegger auf der anderen Seite ergeben sich offensichtliche Berührungspunkte zwischen der Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie und Elementen poststrukturalistischer Gesellschaftskritik. Foucault beispielsweise versteht sich in seinen späten Schriften als in der Tradition der kritischen Aufklärung und der Gesellschaftskritik stehend und betont gleichermaßen Kontinuität wie Diskontinuität der gegenwärtigen Epoche zu der Moderne. Deleuze und Guattari stellen neue Modelle der Theorie, gesellschaftlichen Praxis und Subjektivität vor, welche sie als Alternative zu Praxen der Moderne verstehen. Die Kritik der »Metaphysik der Präsenz« (Derrida) verfolgt eine ähnliche Strategie der Kritik der Aufklärung wie die Kritische Theorie eines Adorno und Horkheimer, ohne die Existenz einer gesellschaftlichen Realität zu leugnen, wie dies etwa der radikale Konstruktivismus oder einzelne Vertreter der Postmoderne wie Baudrillard erledigen, die sie zum Simulacrum erklären. Der Poststrukturalismus bietet dabei allerdings in seinem Rekurs auf eine nietzscheanische Ontologie der Macht und seiner eindimensionalen Kritik des Marxismus selbst Elemente, die der Kritik bedürfen. Genau hier aber hat auch die Kritische Theorie gleich gelagerte Defizite; auch die Dialektik der Aufklärung beruht auf einer Ontologie der Herrschaft. Der Poststrukturalismus ist eine Theorierichtung, die sich der politischen wie theoretischen Radikalität verpflichtet sieht. Entgegen dem beliebten Vorwurf des „linguistischen Idealismus“ beharren Derrida, Deleuze/Guattari und Foucault darauf, daß es auch nicht-diskursive Praktiken gibt; daß die Macht in der Gesellschaft nicht nur eine Frage der Diskurse sei, sondern auch dessen, worauf die Diskurse begründet und gerichtet sind - auf ihre materiellen Voraussetzungen ebenso wie auf ihre keineswegs zufälligen Produkte. Es existieren auf einer anderen Ebene erhebliche Differenzen zwischen beiden Theorieschulen. Der Poststrukturalismus lehnt die zentrale Kategorie und Perspektive der Kritischen Theorie, die gesellschaftliche Totalität , strikt ab. Eine Philosophie, die an der Totalität festhalte, sei selbst Teil der gesellschaftlichen Normalisierung, die ständig Totalisierungen vollziehe. Deshalb müsse Theorie vervielfältigen, Differenzen setzen und jegliche Totalität bekämpfen, so die explizite These von Deleuze und Guattari. Vergleicht man hiermit allerdings das Konzept der Kritischen Theorie Adornos, in der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem gleichsam Idealismus wie Realismus in die Schranken zu weisen und zuallererst darauf zu bestehen, daß die gesellschaftliche Totalität als zu kritisierende zwar bestehe, aber trotzdem nicht vom Denken positiv auf den Begriff gebracht werden kann, springen die Verbindungen zur poststrukturalistischen Gesellschaftskritik förmlich ins Auge. Dialektik als eine Logik des Zerfalls ist 1
Vgl. Kellner, Douglas; Best, Steven: The Postmodern Turn, New York/London (The Guilford Press) 1997. Diese Bemühungen in anderen Ländern können sich zum Teil auf eigene Publikationsreihen stützen, beispielsweise die Semiotext(e) der New Yorker Columbia University oder die Critical Perspectives-Reihe der Guilford Press.
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eine Logik des Denkens und eine Weise der Gesellschaftskritik, die mit postmodernen und poststrukturalistischen Motiven mehr gemein hat als mit dem eindimensionalen Ableitungsmarxismus. Es gibt auch nach Adorno keine philosophisch haltbare Erkenntnis der Totalität, es gibt nur deren immanente Kritik. Die wenigsten poststrukturalistischen Ansätze entwickeln eine Theorie ka pitalistischer Vergesellschaftung oder reflektieren auf die Rolle des Staates. Sie konzentrieren sich alleine auf bestimmte kulturelle Logiken wie Diskurse und Mikropraktiken in- und außerhalb von Institutionen. Macht ist in der postmodernen Theorie verstreuter, pluraler und dezentrierter als in der Kritischen Theorie. Die im vorliegenden Band verhandelten Poststrukturalisten verstehen sich dafür als Philosophen der Aktion. Sie setzen auf differentielle Betrachtung statt auf dialektische Erlösung des Nichtidentischen. Damit stehen sie der ursprünglichen Intention Kritischer Theorie immerhin näher als der in Deutschland äußerst erfolgreiche radikale Konstruktivismus, die neueste Neuauflage des deutschen Idealismus, oder als der negativistische Ableitungsmarxismus der Wertkritik, der das Erbe Marx‘ und Adornos beansprucht. Der Poststrukturalismus entstand mit dem Rückzug des sozialphilosophischen Widerspruchsdenkens aus den Kernbereichen der Gesellschaft in die Felder der kulturellen Reproduktion. Der Strukturalismus und der Poststrukturalismus hängen außerdem sehr eng mit der Mai-Revolte von 1968 zusammen. Der Anti-Ödipus Deleuzes und Guattaris war das erste philosophische Werk, das die Ereignisse des Mai 1968 in seine Theorie einfließen ließ. Die Beschäftigung mit dem Poststrukturalismus liefert daher eine Reihe von thematischen Ergänzungen, die weder vom Marxismus noch von der Kritischen Theorie behandelt wurden. Die Rezeption der Theorien Foucaults, Deleuze/Guattaris und Derridas in der deutschen Linken war lange blockiert. Stürzten sich die einen auf Mikropolitiken der Gegenmacht und betrachteten die marxistisch inspirierte Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung als „totalitär“, lehnten andere, unter einer ähnlichen Denkblockade stehend, den Poststrukturalismus in toto als affirmative und völlig unkritische Denkrichtung ab. Mal wurde die Kritik geäußert, Foucault vernachlässige den Staat und die Institutionen als Basis der Macht in modernen Gesellschaften, mal galt Derrida als semifaschistoider Heidegger-Schüler, der nur politische Verwirrung stiften könne, und dann wurden wieder Deleuze/Guattari als bloß witzig-amüsante Kritiker Freuds wahrgenommen, die mit ihren Wunschmaschinen wahlweise Nachfolger Wilhelm Reichs oder gar unpolitische Hedonisten par Excellence seien. Zutreffend an diesen Kritiken ist sicher, daß Makro-Mächte wie Staat und Kapital bei Foucault im Vergleich zur Kritischen Theorie nicht als zentral erachtet werden. Abgesehen davon aber, daß dies nur für einzelne Teile seines Werkes gilt, trifft eine solche Kritik Deleuze/Guattari von vornherein nicht, und auch Derrida wird spätestens seit seiner fulminanten Neoliberalismus-Kritik kaum mehr als Agent der Bourgeoisie gelten können. Derrida entwickelt ein Denken, das in der Lage sein soll, jede Ontologisierung zu vermeiden und zu kritisieren. Die Defizite des Marxismus resultieren für ihn aus einer »Ontologisierung des Spektralen«. 2 Die postkapitalistische Zukunft muß nach Derrida total mit der bisherigen Geschichte brechen, die Dekonstruktion soll dafür das Potential freisetzen. 3 Moishe Postone hat in einer Rezension von Marx‘ Gespenster gezeigt, wie diese Kritik des traditionellen Marxismus bis hin zur Ontologisierung des Werts durch die postadornitische Wertkritik für eine radikale, d.h. rückhaltlose Kritik spätkapitalisti2 3
Derrida, Jacques: Marx‘ Gespenster, Frankfurt/M. 1995, S. 89-91. Derrida, Jacques: Marx‘ Gespenster, a.a.O., S. 21, 74-75.
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scher Vergesellschaftung fruchtbar gemacht werden kann. 4 Derridas Kritik, daß Marx einen Gebrauchswertstandpunkt einnehme und damit sein Denken für den angestrebten Sprung aus der – kapitalistisch determinierten - Geschichte nicht zu brauchen sei, ist nach Postone partiell zurückzuweisen. Derridas Marxlektüre sei nämlich nicht radikal, d.h. historisch genug. Er arbeite nicht den Zeitkern der Marxschen Kategorien wie Wert, Kapital und abstrakte Arbeit heraus, wie dies im Sinne eines Programmes Kritischer Theorie wäre, sondern interpretiere Marx althusserianisch-orthodox; die Struktur der Kapitalisierung soll gar, ähnlich der These der mittleren Kritischen Theorie, bereits vor der Kultur, vor dem Menschen und seiner Geschichte als Form existent gewesen sein. 5 Eine theoretische Verewigung des Kapitalverhältnisses dient nicht seiner Abschaffung und widerspricht nicht nur historischen Fakten, sondern auch Derridas eigenem Anspruch: Das gewünschte „Ganz Andere“, der Tigersprung aus der Geschichte, den Derrida gemeinsam mit Walter Benjamin und Adorno gerne ansetzen würde, läßt sich so nicht mehr denken – außer als absolute Differenz zu allem Gesellschaftlichen. Die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik ginge verloren, wenn so argumentiert wird – mit der Vorstellung einer Genese des Kapitalverhältnisses geht notwendig auch seine spezifische Struktur verloren -, verändern bzw. abschaffen läßt sich so höchstens eine Vorstellung des Kapitalverhältnisses, aber nicht das Kapitalverhältnis selbst. Richtig an Derridas Theorie – und das verbindet die Dekonstruktion des Kapitalverhältnisses mit dem Strukturalismus und mit der Kritischen Theorie - ist dagegen, daß auch das Kapitalverhältnis nicht Gott, nicht König, sondern ein voraussetzungsreiches gesellschaftliches Verhältnis ist, dessen spezifische Form auf Voraussetzungen beruht, die es nicht selbst sind. Es tritt als Form in einen Kontext, in ein Kräfteverhältnis ein, das es transformiert und durch es selbst transformiert wird. Auch für Derrida gilt daher, was der späte Michel Foucault selbstkritisch eingestand: er hätte sich einige Umwege und Holzwege in der Entwicklung seines eigenen Denkens ersparen können, hätte er die Kritische Theorie früher rezipiert. Aber für die »freundschaftliche Solidarität«, die der späte Foucault gegenüber der kritisch-aufklärerischen Haltung der Kritischen Theorie gegenüber empfindet, wäre das genauso Gift gewesen, wie für das Ausräumen des Ballastes, den die Kritische Theorie in ihren Konzepten der Subjektivität, Identität, Sprache und Geschichte aus der klassischen bürgerlichen Philosophie und Wissenschaft mit sich herumschleppt.6 Ohne diese Umwege hätte sich der Poststrukturalismus nämlich nicht zu dem entwickeln können, was er geworden ist: ein eigenständiger radikaler Weg der Gesellschaftskritik, der es ermöglicht, eine kritische Theorie auf der Höhe der Zeit zu entwickeln – befreit von diesem Ballast und offen für Neues. Freundschaftliche Solidarität und die Fähigkeit, eigenständig Gesellschaftstheorie und –kritik weiterzudenken, setzt nämlich auch Distanz und Autonomie des Denkens voraus. Die verschiedenen Beiträge zu diesem Band stellen sich dieser theoretisch politischen Situation und versuchen, Sondierungen zu leisten: bedingt der Abschied von der leninistischen Borniertheit der Linken eine Verabschiedung von der Perspektive der Kritik der gesellschaftlichen Totalität? Muß eine notwendige Hinwendung zur Kritik an kulturellen Praktiken einen Rückzug aus der Gesellschaftstheorie bedeuten? In wel4 5 6
Postone, Moishe: Deconstruction as Social Critique: Derrida on Marx and the New World Order, in: History and Theory H. 3/1998. Derrida, Marx‘ Gespenster, a.a.O., S. 252. Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992; Foucault, Michel: Remarks On Marx. Conversations with Duccio Trombadori, New York (Semiotext(e) 1991; darin besonders das Kapitel Adorno, Horkheimer, and Marcuse: Who is a ‚Negator‘ of History?, pp. 115-130.
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chem Verhältnis steht die Kritik der Kulturindustrie in der Kritischen Theorie zur Kritik kultureller Machtpraktiken des Poststrukturalismus? Ist die Kritik herrschaftlicher Codierung kultureller Praktiken die nötige Fortsetzung der Kritik der Kulturindustrie? Der erste Teil des Bandes untersucht, wo die Kritische Theorie über den Poststrukturalismus hinausgeht bzw. der poststrukturalistischen Kritik nicht standhält. Im Aufsatz Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt analysiert Michael T. Koltan die Nietzscheanischen Wurzeln in Theodor W. Adornos Homologie von Tauschwert und Identität, um sie mit der Marxschen Kapitalkritik zu kontrastieren. Die Thesen zur Kulturindustrie scheinen ihm für eine Kritik gesellschaftlicher Tendenzen wesentlich geeigneter als die verbreitete stereotype Lesart, die auf die "Tauschwertlogik des Systems" verweist. Jochen Baumann kritisiert in Wertkritik in der Postmoderne die Konfudierung der Identitätsphilosophie mit der Marxschen Wertformanalyse, die zu einer Refundamentalisierung der Kritischen Theorie als Werttheologie führte. Ihr können die Verfahrensweisen der immanenten Kritik und des konstellativen Denkens Adornos entgegengesetzt werden. Mit Frederic Jameson argumentiert er, daß der Begriff der gesellschaftlichen Synthesis nicht apriorisch, wie es in der „Wertkritik“ eines Alfred Sohn-Rethel, Georg Backhaus und anderer geschieht, vorausgesetzt werden kann, sondern daß das Problem der gesellschaftlichen Synthesis um die Reproduktion der Gesellschaft mit all ihrer Fraglichkeit und Gefährdetheit zu zentrieren ist. Ein neues produktives Verhältnis von Dialektik und Differenz ist für derartige Analysen nötig. Roger Behrens untersucht in Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Zur Dialektik materialistischer Pop- und Subkulturkritik die "dritte Renaissance" der Kulturindustriethese der Kritischen Theorie, die deren eigentlichen Kern einfach ausklammert. Andreas Benl geht in seinem Beitrag Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht. Guy Debord und die Situationistische Internationale den Fragen nach, die sich bei einer aktuellen Lektüre von Guy Debords Gesellschaft des Spektakels erge ben: Ist der Situationismus die letzte Rettung bewegungslinker und popkultureller Strategien? In welchem Verhältnis steht die hegelmarxistische Kritik des Spektakels zur Antidialektik postmoderner (Medien-) Theorien? Stellt die Theorie und Gesellschaftskritik Debords ein Bindeglied zwischen Marx, der Kritischen Theorie und dem Poststrukturalismus dar, mit dem eine radikale Kritik des post-postmodernen Kapitalismus möglich ist? Der zweite Teil dieses Bandes geht der Fragestellung nach, ob der Poststrukturalismus eine antidialektische Weiterentwicklung der Kritischen Theorie auf der Höhe der Zeit darstellt. Das Eingreifen von politischen Technologien und Kontrollmechanismen in das Alltagsleben deutlich gemacht zu haben, sei eine Stärke der Analysen Foucaults und Guattaris, stellt Katja Diefenbach in ihrem Beitrag [The crack up]. Kapitalismus verstehen. Poststrukturalistische Mikropolitiken bei Guattari, Deleuze und Foucault fest und erläutert den Begriff der "Mikropolitik". Elfriede Müller begleitet im Aufsatz Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze den radikalen Philosophen auf der Suche nach den Leckstellen der Vergesellschaftung. Deleuze wollte Fluchtlinien schlagen, d.h. dem Denken seine Geschwindigkeit wiedergeben, es von der Kontemplation, der Reflexion oder Kommunikation der ewigen Werte befreien, um das Ereignis zu rehabilitieren. Monika Noll untersucht in ihrem Essay Dekonstruktion und Vermittlung. Gedanken zu Jacques Derrida den Begriff der Dekonstruktion am Beispiel von Marx‘ Gespenster
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und kritisiert an ihm einen radikalen Vermittlungsgestus, der sich von dem der Kritischen Theorie Adornos nicht wesentlich unterscheide. Kornelia Hafner interessiert sich für die Konsequenzen der Spätkapitalismuskritik Adornos und wirft ihr in Liquidation der Ökonomie oder ihre Kritik? vor, daß ein vernünftiger Begriff vom Kapitalverhältnis darin verloren gehe. Gerade in der Negativen Dialektik zeigt sich deutlich der Punkt, an dem sich Kritische Theorie und Poststrukturalismus am stärksten in ihren Intentionen annähern. Beide erweisen sich als Theorien der Differenz; beide bestehen darauf, daß das kritische Denken und die Gesellschaftskritik von den einzelnen Dingen aus denken sollte, die nicht in ihren Begriffen aufgehen. Nur so ist eine Kritik der Identitätslogik und des identifizierenden, subsumtionslogischen und herrschaftlichen Denkens möglich. In diesem Sinne sind beide Kritische Theorien der Gegenwart. Ein weiterer Dialog zwischen beiden Theorien ist nötig, der sich nicht in Einebnungen gewiß wichtiger Differenzen zwischen beiden ergeht, der aber auch sieht, daß beide verschieden ausgeprägte gesellschaftskritische Potentiale bergen, die sich produktiv gegenseitig befruchten und ergänzen können, sobald konkrete Gesellschaftskritik betrieben wird. Diese Debatte und Auseinandersetzung zwischen neuer Kritischer Theorie und den gesellschaftskritischen Potentialen des Poststrukturalismus auf dem Feld der nicht nur bei Marx unterbelichteten Technik-, Staats- und Subjektkritik hat erst begonnen. Hier sind radikaler Poststrukturalismus und kritisch-materialistische Theorie notwendig aufeinander verwiesen. Gemeinsame gesellschaftstheoretische und politische Grundlagen sollten diese notwendige Debatte ermöglichen und befördern. In Derridas Worten: »Es ergeht an uns die Forderung« der »Ver bindung eines Wiederzusammenfügens ohne Verbündeten, ohne Organisation, ohne Partei, ohne Nation, ohne Staat, ohne Eigentum«. 7 jour-fixe-initiative berlin
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Derrida, Marx‘ Gespenster, a.a.O., S. 56.
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I. Teil
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Michael T. Koltan
Adorno, gegen seine Liebhaber verteidigt Kritik Kritik an Adornos Schriften zu äußern, ist ein äußerst zwiespältiges Unterfangen. Schon wenn man die Literatur zu Adorno nur oberflächlich durchsieht, entdeckt man ein höchst interessantes Phänomen: Noch in die wohlwollendsten Interpretationen schleichen sich meist einige gereizte Bemerkungen, in denen der Autor seine zumindest partielle Distanz zu Adorno dokumentiert. Undenkbar was der Adorno-Rezeption zugestoßen wäre, hätte dieser nicht seine Haßtiraden auf den Jazz veröffentlicht. Schließlich erlauben es einem diese, Adorno zwar allgemein ganz prima zu finden, andererseits aber - mit einem Hinweis auf eben diese Aussagen zum Jazz - darauf hinzuweisen, daß er doch manchmal über das Ziel hinausgeschossen sei. Interessanter als der Inhalt der dann doch meist ziemlich stereotypen Anwürfe ist der gereizte Ton, mit dem sie hervorgestoßen werden. Diese affektive Seite der AdornoRezeption verweist auf den besonderen Charakter der Schriften Adornos. Undenkbar, daß Habermas derartige Emotionen auslösen könnte; das einzige Gefühl, das dessen Texte beim Leser hervorbringen, ist Langeweile. Bei Adornos Texten ist dies grundsätzlich anders. Recht schnell hat man den Eindruck, als stünde hinter diesen Abwehrgesten das Bedürfnis, sich auf einer keineswegs intellektuellen Ebene der Zumutungen zu erwehren, als die Adornos Schriften empfunden werden. Tatsächlich sind diese Reaktionen durchaus in der Sache begründet und legitim. Was Adorno seinen Leser zumutet ist eigentlich derart unerträglich, daß die Selbsterhaltung dazu zwingt, seine Diagnose der Gesellschaft und der Rolle, die das Individuum darin spielt, von sich fernzuhalten. Die von Adorno permanent beschworene Einsicht, daß der Einzelne keineswegs Herr seiner selbst ist, sondern bis in die kleinsten Regungen gesellschaftlich präformiert, wird, durchaus zu Recht, als eine Bedrohung empfunden, derer man sich zu erwehren hat. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf jede Kritik an Adorno. Hier läßt sich überhaupt nicht auseinanderhalten, ob eine Kritik nun sachlich berechtigt ist, oder ob sie nicht vor allem vom Wunsch beseelt ist, Adorno möge unrecht haben. Seine besondere Heimtücke erhält dieses Dilemma vor allem dadurch, daß der Wunsch, Adorno möge unrecht haben, keinesfalls illegitim ist: Adorno will widerlegt werden. Allerdings, und darauf ist mit aller Nachdrücklichkeit hinzuweisen, nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Doch auch diese letztere Formel ist wieder zu einfach, denn eine säuberliche Trennung von Theorie und Praxis läßt sich gar nicht so vornehmen, wie die einfache Formulierung suggeriert. Zur gesellschaftlichen Praxis, die auf eine Überwindung der herrschenden Gesellschaftsordnung zielt, gehört auch eine theoretische Widerlegung Adornos, die gleichwohl nicht in einen durch nichts zu begründenden Optimismus, was den Charakter dieser Gesellschaftsordnung betrifft, verfallen darf. Wenn also im folgenden theoretische Kritik an Adorno geübt wird, dann nicht aus dem Grund, sich der Adornoschen Zumutungen zu entziehen. Es geht darum, ein falsches oder vielleicht besser: schiefes Bild von gesellschaftlicher Synthesis zu kritisieren, das in Adornos Schriften entworfen wird. Daß die Aussicht, die dabei entworfen
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wird, keineswegs rosiger aussieht als bei Adorno, liegt möglicherweise im Pessimismus des Vortragenden, vielleicht auch in der Sache begründet. Es gibt allerdings auch noch einen guten zweiten Grund, außer dem, daß Adorno meiner Ansicht nach teilweise sachlich unrecht hat, warum eine solche Kritik dringend nötig ist. Dieser hängt mit den bereits beschworenen Abwehrstrategien gegenüber Adornos Schriften zusammen. Es gibt nämlich noch eine andere Strategie, sich der Bedrohlichkeit der Adornoschen Theoreme zu erwehren, die bislang nicht erwähnt wurde. Psychoanalytisch ist diese Strategie unter dem Namen der "Identifikation mit dem Aggressor" bekannt. Es gibt unter Linksradikalen eine Spezies von Adornojüngern, die Adorno gerade dadurch entschärfen, daß sie sich seinen Texten bedingungslos unterwerfen. Mit der Rigidität typisch autoritärer Charaktere werden Adornosche Theoreme für sakrosant erklärt, jede Ambivalenz ausgemerzt, Kritik als Ketzerei verfolgt. Statt der realen Verstrickung wenigstens im Gedanken etwas entgegenzusetzen, suhlt man sich begeistert in der Aussichtslosigkeit der Lage. Adornos Einsicht, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, wird hier gegen die Intention des Autors gewendet. Adorno wollte mit diesem bon mot daran erinnern, daß es innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft niemals eine sichere Position, einen ruhigen Ort, ein einmal Erreichtes gibt, auf das man sich im Notfall immer zurückziehen kann. Wie die Gesellschaft, so ist auch der Einzelne permanent von der Regression, dem Rückfall in Barbarei bedroht; und es bedarf der permanenten Anstrengung, sich dem allgemeinen Sog zu entziehen, ohne daß es eine Garantie dafür geben kann, daß dieser Versuch auch nur ansatzweise gelingt. Ins Gegenteil verkehrt aber wird diese Einsicht, wo das Theorem vom universellen Schuldzusammenhang nurmehr dazu verwendet wird, allen anderen armseligen Trotteln, die meinen, sie könnten gesellschaftlich etwas verändern, vorzurechnen, wie unglaublich dämlich sie doch sind. Hier wird die Hermetik der kapitalistischen Gesellschaftsformation noch einmal verdoppelt, indem man unter dem Deckmäntelchen Kritischer Theorie selbstgerechte Besserwisserei zelebriert. Die Aussichtslosigkeit der Lage wird so zum sicheren Refugium, zur unhinterfragbaren Position, die einen aller Anstrengungen entbindet, diese Lage tatsächlich zu begreifen, geschweige denn an ihr etwas zu verändern. Diese Sorte Liebhaber der kritischen Theorie ist es, die dem Vortrag seinen Titel gegeben hat, und gegen diese Liebhaber soll Adorno auf die einzige Art und Weise verteidigt werden, die ihm angemessen ist, nämlich indem man ihn kritisiert. Tausch Diese Kritik setzt an einer für die Kritische Theorie zentralen Kategorie an, der des Tausches. Kritik des Warentausches, der Wertform, ist in den letzten Jahren Stecken pferd einer spezifischen Variante von Linksradikalen geworden, die über jedes x beliebige Thema die immer gleiche Wertkritik-Soße ausschütten. Da man der Meinung ist, mit der Kritik der Wertform den wesentlichen Schlüssel zur Kritik der kapitalistischen Gesellschaft zu besitzen, bedarf es eigentlich keiner gesonderten Untersuchung irgendeines Phänomens, denn mit der Kritik der Wertform hat man apriori die Kritik schon geleistet; am einzelnen Phänomen braucht nur noch das bereits vollzogene Urteil vollstreckt werden. Bei Marx hatte die Darstellung der Wertform längst nicht den hypertrophen Anspruch, den diese radikalen Kritiker ihr zuschreiben wollen. Tatsächlich geht die Über-
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bewertung des Wertformkapitals im Marxschen Kapital ganz wesentlich auf 68erRezeption der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos zurück. Bei letzteren hatte in der Tat der Begriff des Tausches und der Tauschwertlogik einen ganz zentralen Stellenwert in ihre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft als bei Marx. In der Kritischen Theorie fungiert der Tausch, im Unterschied zu Marx, als grundlegendes Prinzip, als echte arché im aristotelischen Sinne. Es wird deshalb länger bei diesem Begriff zu verweilen sein, um seine Implikationen in ihrer ganzen Reichweite auszuloten. Ich will dabei anhand der Dialektik der Aufklärung , in der die Zentralität der Tauschkategorie ausführlich entfaltet wird, darstellen, was dieser Begriff bei Horkheimer und Adorno impliziert. Gezeigt werden soll, daß die Marxsche Kritik der politi schen Ökonomie überhaupt nicht konstitutiv in den Begriff eingeht. Tatsächlich wird der Begriff des Tauschs aus dem Begriff des Opfers entfaltet; und es wird zu zeigen sein, daß es sich keineswegs um ökonomische, sondern vielmehr um erkenntnistheoretische Begrifflichkeiten handelt, die in Konstellation mit der Kategorie des Tausches ge bracht werden müssen. Opfer Wenn ich nun mit dem Begriff des Opfers und nicht mit dem des Tausches beginne, dann deshalb, weil das Opfer sozusagen dem Tausch vorausgeht. Der Tausch ist, der Dialektik der Aufklärung zufolge, die rationalisierte Form des Opfers. Indem die archaischen Opferrituale der Aufklärung unterworfen werden, schlagen sie um in Tauschhandlungen, in denen, um die klassisch dialektische Formel zu gebrauchen, das Opfer aufgehoben ist. Und zwar aufgehoben in dem bekanntermaßen vertrackten Sinn, daß es sowohl überwunden als auch aufbewahrt ist. Aus naheliegenden Gründen haben Adorno und Horkheimer den Zusammenhang von Tausch und Opfer in der Dialektik der Aufklärung entfaltet. Der äußere historische Anlaß ist leicht zu konstatieren. Man muß sich nur vergegenwärtigen, daß die philosophischen Fragmente der Dialektik der Aufklärung zuerst und vor allem die Absicht verfolgten, die Katastrophe des Nationalsozialismus in Worte zu fassen. Indem Horkheimer und Adorno den engen Zusammenhang zwischen dem Opfer und dem Tausch herausheben, betreiben sie Kritik an der Nationalsozialistischen Ideologie, in der der Opferkult eine wesentliche Rolle spielt. Um die Wichtigkeit dieses Unterfangens deutlich zu machen, sei an die Funktion der faschistischen Ideologie erinnert: Die kruden Archaismen der faschistischen Ideologie dienten im wesentlichen dazu, die diffusen Ängste, die durch die kapitalistische Modernisierung ausgelöst wurden, zu kanalisieren und gerade im Sinne dieser Modernisierung zu nützen. Die antikapitalistische Rhetorik der Faschisten verdammte zwar den losgelassenen laissez-faire-Kapitalismus, die ungegängelte Zirkulation, vollstreckte aber gerade damit die bereits von Marx aufgezeigte Gesetzmäßigkeit dieser freien Zirkulation, die von vornherein auf Konzentration und staatliche Regulierung hinzielte. Die faschistischen Bilder, die einen rohen, archaischen Zustand beschwören, in dem die Einheit des Volkes in Blut und Boden noch intakt war, dienen keineswegs dem Zweck, zu einem Zustand zurückzukehren, der vor der Zeit lag, in dem Zirkulation und Intellekt diese imaginierte ursprüngliche Einheit zersetzten. Das Opfer, das die Faschisten von ihren Anhängern fordern, dient vielmehr der Konsolidierung, nicht der Abschaffung der kapitalistischen Akkumulation. In diesem Kontext müssen Adornos und Hork-
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heimers Bemühungen gesehen werden, wenn sie versuchen, die irrationalistischfaschistische Ideologie des Opfers zu unterminieren, die dessen blutige Archaik der verabscheuten bürgerlichen Zirkulation entgegensetzte. Dem Opfer wird von den faschistischen Ideologen eine Unmittelbarkeit zugesprochen, die sie in unmittelbaren Gegensatz zu der in der Zirkulation der Waren gelegenen Vermittlung bringen soll. Adorno zitiert zur Illustration Ludwig Klages mit den Worten: »Das Opfernmüssen schlechthin betrifft einen jeden, weil jeder [...] vom Leben und allen Gütern des Lebens den ihm umfaßbaren Anteil [...] nur dadurch empfängt, daß er beständig gibt und wiedergibt. Es ist aber nicht vom Tauschen im Sinne des gewöhnlichen Gütertauschs die Rede [...], sondern vom Austausch der Fluiden oder Essenzen durch Hingebung der eigenen Seele an das tragende und nährende Leben der Welt.« 1 Zwei Dinge vor allem zeichnen das Opfer aus: Zum einen, darauf wies Klages bereits in der eben zitierten Passage hin, die scheinbar unmittelbare Kommunikation mit dem Absoluten; ob dieses Absolute nun wie bei Klages als »das tragende und nährende Leben der Welt« halluziniert wird oder eher als die Opfer, die der im Führer inkarnierten Nation im Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst gebracht werden müssen, ist prinzi piell nebensächlich. Die mehr oder minder banale Tätigkeit, das Kruppen in der Fabrik, das Büffeln am Schreibtisch oder das Krepieren im Schützengraben erhalten dadurch, daß sie als Opfer deklariert werden, sofort die höheren Weihen einer Kommunikation mit dem Absoluten; wobei Kommunikation eigentlich schon zu distanziert ist: Es wird eine unmittelbare Einheit mit dem Absoluten imaginiert, die die Form bedingungsloser Unterwerfung annimmt. Gleichzeitig, und das macht die zweite Ebene des Opfers aus, wird das, was geopfert wird, geheiligt. Indem das Geopferte Teil des Absoluten wird, bekommt es einen Wert, der seinen eigentlichen Wert bei weitem übersteigt. Und gerade deshalb kann und darf das Geopferte nicht irgend etwas Beliebiges, sondern muß eben opferwürdig sein. Die Perfidie der Opferideologie liegt ja gerade darin, daß das Opfer umso wirksamer ist, je schwerer es fällt, sich von dem zu trennen, was geopfert wird. Somit ist das eigentliche Opfer das des eigenen Lebens, womit natürlich der Soldatentod als Opfer für die Nation zur ultima ratio des Opfers stilisiert werden kann. Diese ultima ratio des Opfers, die das Individuum der Gattung opfert, verweist auf ihre prähistorischen Ursprünge. Horkheimer und Adorno erklären zumindest die Ursprünge des Menschenopfers daraus, daß bei zu stark ansteigender Population die Notwendigkeit bestand, die Horde oder den Stamm zu dezimieren, auf Grund der Notsituation wahrscheinlich sogar in Form von Kannibalismus. Wie dem auch immer sei: Daß das Opfer in irgendwelchen prähistorischen Zeiten vielleicht tatsächlich notwendig war, um das Überleben der Gattung zu sichern, begründet keineswegs die Legitimität der Opferideologie, ganz im Gegenteil. Denn es macht gerade die Besonderheit der menschlichen Gattung aus, sich über die Naturnotwendigkeit zu erheben. In dem Maße, in dem eine hypothetische reale Notwendigkeit des Menschenopfers überflüssig wird, in dem Maße setzt auch die Aufklärung in ihrer ganzen Dialektik ein. Aufklärung, so Horkheimers und Adornos Feststellung, ist wesentlich Überwindung des Opfers; wobei das Opfer selbst schon, und das verweist wieder auf die merkwürdige Dialektik von Opfer und Tausch, die Überwindung des Opfers darstellt. Wo der Kannibalismus in Opferritualen gebändigt ist, das Opfer in eine Kommunikation mit einer höheren Macht und Heiligung der Opergabe 1
Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, zitiert nach: Max Horkheimer, Th.W.Adorno, Dialektik der Aufklärung,in: Max Horkheimer, Werke, Bd.5, S.73, Fußnote..
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uminterpretiert und der Schmerz erträglich gemacht wird, ist bereits die Unmittelbarkeit der barbarischen Naturnotwendigkeit gebrochen. Doch gerade dadurch offenbart sich auch die Irrationalität des Opfers, die den Prozeß der Aufklärung weitertreibt. Ein für Adorno und Horkheimer wesentlicher Schritt ist dabei der zur Substitution der Opfergabe. Dieser Schritt wird festgehalten in den klassischen Opfermythen, etwa des Opfers von Abraham, der seinen Sohn Isaak, oder dasjenige Agamemmnons, der seine Tochter Iphigenie den höheren Mächten zu übergeben bereit ist. Das Menschenopfer wird hier, auf Geheiß der Götter, durch ein Tieropfer ersetzt. Damit aber wird das Opfer gerade zu dem, was es der faschistischen Ideologie nach überhaupt nicht sein darf, ein Tauschgeschäft mit den höheren Mächten. Das Opfer wird hier strukturell zu einem Geschäft. Auch wenn Abraham Isaak sozusagen reinen Herzens, ohne Hintergedanken zu opfern bereit ist, das Endergebnis weist das Opfer als gelungenes Geschäft aus. Isaak wird durch einen Widder ersetzt, und Gott verspricht Abraham allein für seine Bereitschaft zum Opfer: »Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand.« 2 Das Opfer ist von vornherein nicht einfach Hingabe an das Absolute, sondern schlägt um in einen deal, bei dem man mehr zurückerhält als man tatsächlich gegeben hat. Es ist eine List, mit der die Götter übertölpelt werden sollen, die bei diesem Tausch die eigentlichen Verlierer sind. Iphigenie etwa wird für günstige Winde eingetauscht, damit die griechische Flotte nach Troja segeln kann. Zum Tausch wird das Opfer dadurch, daß es rational, sozusagen technisch eingesetzt wird. Geopfert wird mit der I ntention, für die Opfergabe etwas zurückzuerhalten, das für den Opfernden einen höheren Wert besitzt als die Opfergabe selbst. Damit aber ist die archaisierende Ideologie, die das Opfer dem Tausch entgegengesetzt hatte, ad absurdum geführt. Das Opfer selbst schlägt, durch die Intentionalität der Opferhandlung, von alleine um in Tausch, die Einmaligkeit der Opfergabe verflüchtigt sich in die Beliebigkeit eines Tauschobjektes. Hätte dieser Aufweis einer Dialektik von Opfer und Tausch nur diese ideologiekritische Dimension, könnte man sie als durchaus interessantes, aber nicht allzuwichtiges Moment einer Theorie des Tausches zur Kenntnis nehmen, als eine Art historischer Ergänzung zu Marx' rein logischer Analyse der Wertform. Doch dieser Schein trügt; weit davon entfernt, ein historischer Exkurs zu den Ursprüngen des Tausches zu sein, wird der Tausch für Horkheimer und Adorno zu einer Art condition humaine. Dies wird deutlich, wenn wir den weiteren Implikationen dieses Theorems nachgehen. Subjekt und Objekt Die faschistische Ideologie hatte das Opfer als Gegenpol zu all dem, was sie an der bürgerlichen Gesellschaft verabscheute, aufgerichtet: Individualismus, rationales Kalkül, Tausch. Das Opfer sollte ein nicht rational begründbarer Akt sein, in dem das Individuum über sein kleinliches Selbst hinauswächst und unmittelbar mit dem Kollektiv eins wird. Ein sozusagen freier und unbegründbarer Entschluß - Heideggers "Entschlossen2 Gen 22.26-27.
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heit" läßt grüßen - sollte über die kleinlichen Abwägungen von Zweck und Mittel, die den bürgerlichen Krämerseelen so ans Herz gewachsen sind, hinausweisen. Grundsätzlich hatten Horkheimer und Adorno diese Opferideologie schon dadurch ausgehebelt, daß sie den direkten Zusammenhang von Opfer und Tausch aufgedeckt hatten. Doch sie gehen noch weiter: Sozusagen als Negativbild der faschistischen Ideologie bemühen sie sich zu zeigen, wie in diesem Übergang vom Opfer zum Tausch die wesentlichen Strukturen zumindest der abendländischen Rationalität grundgelegt werden. Offensichtlich ist, daß die rationale Abwägung von Mittel und Zweck, die unsere Vernunft auszeichnet, bereits im Opfer enthalten ist. Bei aller Irrationalität des Opfers im ganzen, steckt insgeheim schon die listige Abwägung dahinter, für das Opfer mehr zu erhalten, als man geopfert hatte. Abraham macht eine gute Investition für die Zukunft, als er sich bereiterklärt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Doch diese auf der Hand liegende Rationalität von Mittel und Zweck, die die ritualisierte Opferhandlung bereits in nuce enthält, ist nicht die einzige grundlegende Struktur unserer Vernunft, die im Übergang vom Opfer zum Tausch entspringt. Horkheimer und Adorno behaupten vielmehr, daß noch ein anderer Dualismus als der von Zweck und Mittel in dieser ursprünglichen Form des Tausches schon angelegt ist, nämlich das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Es gehört zu den Kabinettstückchen der Dialektik der Aufklärung , wie Horkheimer und Adorno die Konstitution des bürgerlichen Subjekts im Übergang vom Opfer zum Tausch lokalisieren. Daß die Konstitution des mit sich identischen Subjekts im Zusammenhang mit der Entstehung des Tausches gesehen wird, kann nur auf den ersten Blick verblüffen. Bereits Marx hatte das bürgerliche Individuum nicht als ein sozusagen ursprüngliches Phänomen, sondern als ein durch die Warenzirkulation erst gesetztes inter pretiert. Nach Marx ist das bürgerliche Individuum, das sich wesentlich durch Freiheit und Unabhängigkeit auszeichnet, Resultat der Auflösung vorbürgerlicher Produktionsverhältnisse. Indem die mehr oder minder auf Subsistenz ausgerichteten agrarischen Produktionsverhältnisse sich zersetzten, die personalen Abhängigkeiten aufgelöst und durch die Bande des Warentausches ersetzt werden, konnte überhaupt erst die Illusion des unabhängigen, mit sich selbst identischen Individuums in die Köpfe einsickern. Schon bei Marx also ist der Zusammenhang von Subjektkonstitution und Warentausch entfaltet. Doch Adorno und Horkheimer gehen noch einen Schritt weiter. Bei Marx war der Zusammenhang zwischen der Konstituition des bürgerlichen Subjekts und der Entfaltung des Warentauschs selbst nur indirekt. Beide Phänomen sind sozusagen parallele Entwicklungen, die ihren eigentlichen Ursprung in der Fortentwicklung der Produktivkräfte haben. Bei Horkheimer und Adorno - und genau darauf wird unser Augenmerk zu richten sein - wird dieser "Umweg" über die Entwicklung der Produktivkräfte ausgespart. Sie stellen einen Zusammenhang von Tausch und Subjektkonstitution her, der direkt zu denken ist. Diese Konstitution des bürgerlichen Subjekts aus dem Tausch entfalten sie anhand des Homerischen Epos, der Odyssee. Am Beispiel der Figur des Odysseus stellen sie dar, wie das identische Selbst auf einem Tauschgeschäft beruht. Die Abenteuer des Odysseus werden von ihnen gedeutet als rudimentäre Opfer- beziehungsweise Tauschhandlungen, in denen Odysseus listig sein Leben aufs Spiel setzt, um im Tausch dafür das Überleben - und gleichzeitig ein identisches Selbst zu erhalten. Möglich wurde eine derartige, weit über Marx hinausgehende Deutung durch die Einsichten der Psychoana-
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lyse. Was Adorno und Horkheimer letztendlich an Odysseus exemplifizieren ist die Ausbildung des Ichs durch Triebunterdrückung. Um dies etwas genauer auszuführen: Wesentlich ist praktisch allen Abenteuern des Odysseus, daß sie das identische Selbst, das monomanisch auf einen einzigen Zweck, die Rückkehr nach Ithaka, ausgerichtet ist, bedrohen. Ständig schwebt über ihm das Damoklesschwert der Regression. Dieser muß getrotzt und in der Überwindung der Gefahr stählt sich dann das Selbst. Recht plastisch wird diese Struktur etwa in der Episode bei den Lotophagen: »Es sannen die Lotophagen gegen unsere Gefährten kein Verderben, sondern gaben ihnen zu essen von dem Lotos: und wer von ihnen aß die honigsüße Frucht des Lotos, der wollte nicht mehr zurück Meldung bringen noch heimkehren, sondern an Ort und Stelle wollten sie unter den Lotophagenmännern den Lotos rupfen und bleiben und der Heimkehr vergessen. Diese führte ich weinend mit Gewalt zu den Schiffen und zog sie in den gewölbten Schiffen unter die Deckenbalken und band sie. Aber die andern geschätzten Gefährten trieb ich, daß sie sich eilen und die schnellen Schiffe besteigen sollten, damit keiner auf irgendeine Weise von dem Lotos äße und der Heimkehr vergäße.« 3 Die einzige Gefahr, die vom vom Genuß des Lotos droht, ist die, die eigenen Ziele zu vergessen und sich der unmittelbaren Lust hinzugeben. Odysseus, der seine Gefährten gewaltsam wieder auf das Schiff schleppt, agiert als das personifizierte Überich, das mit Rücksicht auf die übergeordneten Ziele, die Heimkehr nach Ithaka, jede Lust unterdrückt. Bei der Konstitution des bürgerlichen Subjekts findet somit ein Tausch von unmittel barer Triebbefriedigung gegen Selbsterhaltung statt. Geopfert wird die Lust auf dem Altar der Verfolgung langfristiger Ziele. Horkheimer und Adorno schreiben : »Furcht bares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.« 4 Der Preis für Rationalität und Selbsterhaltung ist der schmerzliche Verzicht auf unmittelbare Lust. Dieser teuer bezahlte Tausch muß laut Horkheimer und Adorno als eine Form von Naturbeherrschung gedeutet werden, in diesem Fall der Beherrschung innerer Natur. Das höhere Maß an Rationalität, Sicherheit, Planbarkeit der eigenen Existenz wird erkauft durch die Distanzierung von der eigenen Naturhaftigkeit. Bürgerliche Rationalität fußt auf der zunehmenden Entfernung von Natur und deren Degradierung zum bloßen Objekt technischer Manipulation. Damit sind wir beim beim anderen Pol des Subjekt-Objekt-Dualismus gelandet. Die Konstitution des Selbst durch Ausschließung der eigenen, inneren Natur, geht einher mit einer Verdinglichung der Natur überhaupt. So wie in der Subjektkonstitution die eigenen Triebe zu einem Fremden, das bekämpft und überwunden werden muß, umgearbeitet werden, so die äußere Natur. Auch die Verdinglichung der äußeren Natur, ihre Reduktion auf bloße Objekte der Manipulation, deren Besonderheit ausgelöscht wird, ist Horkheimer und Adorno bereits im Übergang vom Opfer zum Tausch angelegt. Wo das Opfer rationalisiert, das Menschenopfer durch ein Tieropfer ersetzt wird, ist dieser Fortschritt an Humanität und Rationalität dadurch erkauft, daß die Besonderheit der Opfergabe ausgelöscht wird. Die 3 4
Homer, Die Odyssee (Übersetzung von Robert Schadewaldt), Reinbek1974, S.111. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Werke, Bd.5, Frankfurt a.M. 1987, S.56.
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Opfergabe wird zu einem Tauschobjekt, das nicht mehr um seiner Besonderheit willen gewählt wird, sondern gerade durch seine Austauschbarkeit definiert ist: »Die Substitution beim Opfer bezeichnet einen Schritt zur diskursiven Logik hin. Wenn auch die Hirschkuh, die für die Tochter, das Lamm, das für den Erstgeborenen darzubringen war, noch eigene Qualitäten haben mußten, stellten sie doch bereits die Gattung vor. Sie trugen die Beliebigkeit des Exemplars in sich.« 5 Natur wird entzaubert, verdinglicht, die Besonderheit des Einzelnen ausgelöscht. Die Geburtsstunde der Abstraktion schlägt. Diese Thematik von Naturbeherrschung, Rationalität und Abstraktion soll jetzt nicht weiter vertieft werden. Verdeutlicht werden sollte mit diesen Ausführungen, daß die Kategorie des Tausches bei Adorno und Horkheimer keineswegs auf die Ebene der Ökonomie beschränkt ist, im Gegenteil: Diese etwa für Marx grundlegende Ebene wurde noch gar nicht tangiert. Dem Tausch kommt bei Horkheimer und Adorno vielmehr universale Bedeutung zu: Er ist das praktische Modell grundlegender kategorialer Formen, die die gesamte abendländische Rationalität bestimmen. Der Tausch regelt, wenn man Adorno und Horkheimer glaubt, nicht etwa nur die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen untereinander, sondern in einem ganz wesentlichen Maß auch das Verhältnis der Menschen zur Natur, sowohl der eigenen, inneren, als auch der äußeren. Wenn also Horkheimer und Adorno die Logik des Tausches kritisieren, dann läßt sich diese Kritik keineswegs auf die Kritik der Warenform reduzieren; vielmehr schließt sie eine grundsätzliche Kritik bürgerlicher Rationalität inklusive der dieser entsprechenden Formen der Subjektivität und Objektivität ein. Damit greift diese Kritik weit über die Kritik der politischen Ökonomie hinaus. Die kapitalistische Produktionsweise erscheint in dieser Perspektive nur als die bislang jüngste und entwickeltste Form eines allgemeinen menschheitsgeschichtlichen Problems, der Selbsterhaltung durch Ausbildung einer speziellen Rationalität. Und in dieser Perspektive erscheint der Warentausch nur als Sonderfall einer allgemeinen Tauschlogik, die älter ist als der Warentausch. Kritik der "Tauschlogik" Diese Universalisierung der Kategorie des Tausches bringt jedoch, gerade aufgrund ihrer Universalisierung, einige nicht unbeträchtliche Probleme mit sich. Deutlich wird dies etwa im Kontrast zur Marxschen Kategorie des Warentausches. Bei Marx ist der Austausch von Waren Resultat eines bestimmten Standes der Produktivkräfte, deren weitere Entwicklung er fördert. Zum einen setzt eine rudimentäre Tauschwirtschaft bereits voraus, daß über den unmittelbaren Bedarf hinaus produziert wird, zum anderen entwickelt sich gerade dadurch ein zunehmend anonymer Markt, der selbst dazu anreizt, über die eigene Subsistenz hinaus zu produzieren. Dadurch erhält die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte auf einmal eine Dynamik, die weit über die gelegentlichen Verbesserungen, wie sie in vorkapitalistischen Formen der Produktion durchaus auch vorkamen, hinausgeht. Doch diese dynamische Entwicklung der Produktivkräfte, die der Tausch befördert, erreicht eine Grenze, die selbst wieder durch den Tausch gesetzt ist. Es wird mehr produziert, als der Markt absorbieren kann, es kommt zu Überproduktionskrisen. Der Warentausch wird selbst zu einer Bremse des technischen Fortschritts. Dies sollte nach Marx der Punkt sein, an dem der Warentausch selbst dysfunktional wird und seine eige5
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Werke, Bd.5, Frankfurt a.M. 1987, S.32.
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ne Abschaffung provoziert. Am Ende, so zumindest die Marxsche Utopie, steht eine klassenlose Gesellschaft, die über hochentwickelte Produktivkräfte verfügt und keines Austausches mehr bedarf. Der Warentausch taucht also in einem bestimmten Stadium der Menschheitsentwicklung auf, begleitet die Menschheit sozusagen ein Stück ihres Weges, und verschwindet dann wieder. Er ist, wie andere Elemente, die der Sphäre der Produktionsverhältnisse zuzuordnen sind, ein vorübergehendes historisches Phänomen, und insofern vielleicht der Monarchie als politischer Form zu vergleichbar. Diesen transitorischen Charakter hat der universalisierte Tausch, wie er von Horkheimer und Adorno unterstellt wird, nicht mehr. Seine Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Vorzeit; und auch für die Zukunft ist nicht mit einer Abschaffung zu rechnen. Letzteres ist durchaus nicht als Anspielung auf den durchaus berechtigten Pessimismus von Horkheimer und Adorno zu verstehen, im Gegenteil. Wenn man so will, ist das ein Teil ihrer "Utopie", wenn man diesen ketzerischen Ausdruck verwenden darf: Da die abendländische Rationalität untrennbar in die Logik des Tausches verwoben ist, diese Rationalität aber auch nicht über Bord geworfen werden soll, kommt eigentlich bestenfalls eine Modifizierung, keineswegs eine Abschaffung dieser Logik in Frage. Das mag jetzt auf den einen oder anderen begeisterten Adorno-Anhänger wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Doch man braucht sich zur Bestätigung des Befundes nur einige der zugegebenermaßen seltenen Stellen ins Gedächtnis rufen, in denen Adorno ansatzweise das Bilderverbot hinsichtlich einer befreiten Gesellschaft übertritt. So schreibt Adorno in dem für seine Philosophie grundlegenden Aufsatz mit dem Titel Fortschritt : »Die Konvergenz totalen Fortschritts in der bürgerlichen Gesellschaft, die den Begriff schuf, mit der Negation von Fortschritt entspringt in ihrem Prinzip, dem Tausch. Er ist die rationale Gestalt der mythischen Immergleichheit. [...] Von je, gar nicht erst bei der kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch der Ware Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten, empfängt der eine, gesellschaftlich mächtigere Kontrahent mehr als der andere. [...] Die Erfüllung des immer wieder gebrochenen Tauschvertrags konvergierte mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde; der wahre Fortschritt dem Tausch gegenüber [wäre] nicht bloß ein Anderes sondern auch dieser, zu sich selbst gebracht.« 6 Man mag derartige Bemerkungen darauf schieben, daß Adornos Beschäftigung mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie nicht sehr weitgehend war, und daß es sich hier, zumindest aus der Marxschen Perspektive, um einen theoretischen Rückschritt allerersten Ranges handelt. Tatsächlich aber ist diese Forderung eines "gerechten Tausches" durchaus konsequent, wenn wir die universale Geltung der Tauschkategorie und ihre Verschwisterung mit Rationalität bei Adorno in Rechnung stellen. Die sozusagen außertheoretischen Gründe für diesen "Rückfall" vor die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie dürften in der historischen Situation zu finden sein, in der die Dialektik der Aufklärung entworfen wurde. Zu Unrecht gingen Horkheimer und Adorno in den vierziger Jahren davon aus, daß der Faschismus als ökonomisches System die Zirkulationssphäre ausgelöscht habe. Demgegenüber wurde ihnen die Blütezeit des Bürgertums, in der noch die freie Zirkulation die Akkumulation des Kapitals steuerte, zum zwar trügerischen, aber trotzdem wichtige Impulse liefernden Gegenbild.
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Th.W.Adorno, Fortschritt, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1980, S.48.
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Natürlich war für Horkheimer und Adorno klar, daß die präfaschistischen Spielarten des Kapitalismus keineswegs als Gegengift zum Faschismus herhalten können. Horkheimers bis zum Erbrechen zitierter Satz, daß wer vom Kapitalismus nicht sprechen wolle, zum Faschimus schweigen solle, ist hier Beleg genug. Doch solange die freie Zirkulation noch existierte, gab es nach Meinung von Horkheimer und Adorno durchaus noch Nischen, in denen sich etwas entwickeln konnte, das, wie fragil und gefährdet auch immer, nicht in seiner Funktion für die bürgerliche Gesellschaft aufging, sondern ein utopisches Potential beinhaltete. Insbesondere die Kunst, aber auch die große Philosophie der bürgerlichen Epoche weisen, wie widersprüchlich auch immer, über die durch die kapitalistische Akkumulation gesetzten Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Wie dieser, nennen wir es ruhig einmal so, utopische Gehalt der Kunstwerke zu fassen wäre, braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu interessieren; wichtig ist für uns hier vor allem, daß Horkheimer und Adorno der Ansicht sind, daß der Niedergang der großen bürgerlichen Kunst, ihr Zurückdrängen in immer kleinere und immer esoterischere Zirkel in einem direkten Zusammenhang steht mit der faschistischen Liquidation der Zirkulationssphäre. Insofern ist, mit einem abgewandelten Wort von Hans-Jürgen Krahl, Adornos Trauer über den Verlust der Zirkulationssphäre durchaus nachvollzieh bar. Doch das wesentliche Problem besteht darin, daß der angenommene Zusammenhang zwischen der Liquidation der Zirkulationssphäre und der Zerstörung der utopischen Potentiale der bürgerlichen Gesellschaft so nicht existiert. Tatsächlich war das Theorem von der schlechten Aufhebung der Zirkulationssphäre schon in den dreißiger und vierziger Jahren im Institut für Sozialforschung schwer umstritten. Trotzdem hielten Horkheimer und der an ökonomischen Fragen sowieso desinteressierte Adorno wider die besseren Argumente der anderen Fraktion daran hartnäckig fest. Tatsächlich ist wohl zu konstatieren, daß dem Tausch überhaupt nicht die universale Bedeutung zukommt, die ihm Horkheimer und Adorno zuschreiben, weder im Guten noch im Schlechten. Das heißt nun allerdings nicht, daß die Kritische Theorie über Bord zu werfen wäre, ganz im Gegenteil. Nur muß sie sozusagen vom Bauch auf den Rücken gedreht werden. In welche Richtung eine derartige Wendung zu gehen hätte, soll zum Abschluß an zwei zentralen Theoremen der Kritischen Theorie skizziert werden, zum einen ihrer Kritik der naturbeherrschenden Ratio, zum anderen an der Kulturindustrie. Kritische Theorie weiterdenken Soweit Horkheimers und Adornos Kritik der bürgerlichen Rationalität sich auf die Ebene der Symptome beschränkt, ist wenig an ihr auszusetzen. Die Defizite einer rein technizistischen Rationalität, die Natur nur als Objekt der Unterwerfung auffaßt, als bloße Faktizität, die in jeder beliebigen Hinsicht zu manipulieren ist, sind heute noch weit offensichtlicher als sie es zu der Zeit waren, als die Dialektik der Aufklärung niedergeschrieben wurde. Doch die Fundierung dieser Rationalität in der Logik des Tausches ist mehr als obskur. Vorhin wurde bereits die Textstelle zitiert, in der die Substitution des Menschenopfers durch ein Tieropfer als der Beginn der diskursiven Logik interpretiert wurde. Das Tier, das an Stelle des einzigartigen Menschen, der zum Opfer vorherbestimmt war, geopfert wird, ist bloßes Exemplar der Gattung, verliert seine Einzigartigkeit, kurz: es
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findet eine Abstraktion statt, die die Besonderheit auf dem Altar der Allgemeinheit opfert. Es ist nun aber, bei näherem Hinsehen, recht merkwürdig, daß die Naturbeherrschung dem Leser gerade mit einem derartigen Bild vor Augen geführt wird. Um einiges plausibler wäre es sicherlich, würde man die Beliebigkeit des Exemplars nicht im Opferritual, einer Veranstaltung des Überbaus, suchen, sondern im Produktionsprozeß wenn diese etwas anachronistischen Termini hier gestattet sind. Dem Jäger, der einen Widder schießt, ist die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des individuellen Tiers mindestens ebenso egal wie dem Priester, Hauptsache es gibt einen guten Braten. Nähere Überlegung aber macht deutlich, warum das Bild des Priesters, zumindest in der Perspektive der Kritischen Theorie, mehr verdeutlicht als das des Jägers. Auch wenn das Bild des Jägers, der ein Tier umbringt, eher unserer Vorstellung von Naturbeherrschung entspricht als das des Priesters, steht letzteres doch eher für das, was Adorno und Horkheimer als die Ursünde der technizistischen Vernunft ansehen: Die klare Distanz zum Objekt und das dadurch begründete Herrschaftsverhältnis. Damit wird deutlich, was die eigentliche Intention ist: Das Bild des Priesters dient dazu, die kalte Emotionslosigkeit technokratischer Herrschaft zu denunzieren. Die Kritik der abendländischen Rationalität ist bei Adorno im wesentlichen eine Kritik der Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Herrschaft und Distanz zur Sache sind zwei Seiten einer Medaille. Ausdrücklich stellen Horkheimer und Adorno diese Distanz ins Zentrum ihrer Überlegungen: »Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt. [...] Die Allgemeinheit der Gedanken, wie die diskursive Logik sie entwickelt, die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit.« 7 Doch gerade in dieser Generalisierung verschwinden eben die spezifischen historischen Differenzen, insbesondere die zwischen kapitalistischen und vorkapitalistischen Formen der Herrschaft. Es ist sicherlich richtig, daß die großen Werke der griechischen Philosophie ohne die Muse, die die Sklaven den Philosophen verschafften, undenkbar sind. Doch die eigentlich zerstörerischen Kräfte dieser distanzierten Rationalität werden eben zu dem Zeitpunkt freigesetzt, als diese Denker ihre Distanz zur äußeren Natur aufgaben, nämlich mit der Industrialisierung, als aus den Philosophen Ingenieure wurden. Es ist nicht die abstrakte Rationalität als solche, die zu den bekannten katastrophalen Folgen führt, sondern ihre Indienstnahme durch den kapitalistischen Produktionsprozeß. Und hier ist genau der Punkt, an dem über die Kritische Theorie hinausgegangen werden muß: Mag die Adornosche Kritik an der Abstraktion, an der starren Trennung von Subjekt und Objekt, dem Gefängnis des Begriffs auch noch so begründet sein, sie bleibt ohnmächtig, so lange sie nicht den historisch wechselhaften Zusammenhang zwischen destruktiver Rationalität und konkretem Produktionsprozeß aufzeigt. Das aber heißt, daß die von Adorno und Horkheimer unterschlagene Marxsche Kategorie der Produktivkräfte und deren Entwicklung wieder in die Theorie aufgenommen werden muß. Dies wiederum heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß der Marxsche Begriff der Geschichte als des Fortschreitens der Produktivkräfte wieder zu seinem Recht kommen muß; allerdings nicht in der affirmativen Variante eines apriorischen 7
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Werke, Bd.5, Frankfurt a.M. 1987, S.36.
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"Fortschritts der Produktivkräfte", sondern eben als konkrete Kritik der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung. Indem so die von Marx postulierte Kontingenz des Geschichtsprozesses wieder in ihr Recht gesetzt wird, entkäme man sowohl der Affirmation der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung durch die marxistische Arbeiterbewegung wie auch der Ahistorizität der Rationalitätskritik von Horkheimer und Adorno. Darin allerdings kann sich eine Fortschreibung der Kritischen Theorie nicht erschöpfen. Es wäre ein schwerer Fehler zu glauben, die Ahistorizität des von Horkheimer und Adorno behaupteten Verhängnisses sei ein bloßer Irrtum, der, wenn man ihn einmal eingesehen hat, eben korrigiert werden muß. Ihr korrespondiert eine ganz wesentliche Erfahrung, die mitnichten ignoriert werden kann und darf. Es ist dies die Erfahrung, daß die kapitalistische Entwicklung, bei all ihrer Dynamik, eigentlich auf der Stelle zu treten scheint, daß, je mehr sich alles ändert, desto mehr alles beim Alten bleibt. Tatsächlich produziert die kapitalistische Gesellschaft permanent den Schein, daß Geschichte nur mehr als unendliche Wiederholung stattfinden könne. Diese Erfahrung hatte Adorno und Horkheimer dazu bewogen, eine Kategorie der Zirkulationssphäre, den Tausch, über die Kategorien der Produktionssphäre zu setzen. Auch wenn sich der materiale Inhalt dessen, was getauscht wird, mit der Entwicklung der Produktivkräfte ändert, so schien hier, in den Formen des Tausches, das einheitsstiftende Moment faßbar zu sein. Aufs erste klingt das freilich nicht übel: Der Tausch macht alles mit allem vergleich bar, stiftet einen Zusammenhang von allem und jedem und bildet somit einen universellen Zusammenhang. Doch diese Einsicht bleibt abstrakt. Auch wenn die universale Warenzirkulation die Einheit der kapitalistischen Gesellschaft stiftet, so läßt sich die Sphäre der Zirkulation ebensogut als der gesellschaftliche Bereich begreifen, von dem die immer wieder auftretenden Krisen des kapitalistischen Systems ausgehen. Es gehört zu den großen Leistungen von Marx, gezeigt zu haben, daß gerade in der Zirkulationssphäre einerseits die Dynamik, andererseits auch die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Produktionsweise begründet liegt. Es ist die banale Tatsache, daß alle Produkte getauscht, genauer: verkauft werden müssen, was die kapitalistische Gesellschaftsformation immer wieder in katastrophale Krisen stürzt. Diese Einsicht ist es ja, auf die Marx seine Revolutionshoffnungen gründete. Das eigentlich Verblüffende ist, daß diese Revolution nicht eingetreten ist, obwohl die Distribution der gesellschaftlichen Produktion dem Wahnsinn des Marktes überlassen bleibt. Tatsächlich verstellt die ausschließliche Konzentration auf den Tausch den Blick in zwei Richtungen, nämlich nicht nur, wie bereits angemerkt, in Richtung des Produktionsprozesses, sondern ebenso in die Richtung des - nennen wir es ruhig einmal so - gesellschaftlichen Überbaus. Nicht, daß die Kritische Theorie dem Überbau keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte, im Gegenteil. Von allen Spielarten des Marxismus hat die Kritische Theorie sich sicherlich am ausführlichsten mit derartigen Fragen beschäftigt. Doch die Kritik der Kulturindustrie, wie sie von Horkheimer und Adorno geleistet wurde, bleibt in bestimmter Hinsicht defizitär. Grund dafür ist eben die überzogene Bedeutung, die sie dem Tausch zuschrieben. Die standardisierten Kulturwaren sind in dieser auf den Tausch fokussierten Optik nur ein spezielles, wenn auch wichtiges Segment der totalen Warenwelt. Diese Auffassung prägt grundlegend die Kritik der Kulturindustrie. Die Kritik des kulturindustriellen Schunds hat bei Adorno oft genug nur den Charakter eines bloßen Beispiels, anhand
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dessen die Tauschlogik exemplifiziert wird. Doch tatsächlich ist seine Kritik des Jazz, der Freizeit, des Fernsehens in ihrem materialen Gehalt bedeutsamer als er wahrscheinlich selber wahrhaben wollte. Denn die zentrale Bedeutung der Kulturindustrie wird erst dann deutlich, wenn man von der irrigen Annahme Abstand nimmt, die Logik des Warentausches stifte den Totalitätscharakter der kapitalistischen Ordnung. Denn die Totalität der kapitalistischen Ordnung ist nicht einfach gegeben, sondern muß immer wieder neu hergestellt werden. Um einen Sartreschen Begriff zweckzuentfremden: Die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist gezwungen, sich ständig neu zu totalisieren. In dieser Bewegung der Totalisierung kommt der Kulturindustrie eine erheblich größere Bedeutung zu, als Adorno und Horkheimer wahrhaben wollten. Die standardisierten Kulturwaren sind keineswegs bloß Symptom einer allgemeinen Vereinheitlichung der Gesellschaft durch den Wert, sondern gerade sie stellen überhaupt erst die Einheit, die durch die Entwicklung der Produktivkräfte in Frage gestellt wird, immer wieder auf's Neue her. Und deshalb, so das Fazit dieses Vortrags, ist vor allem die Kulturindustriekritik der Kritischen Theorie weiterzudenken, nicht indem man die Kulturindustrie aus der Zirkulationssphäre ableitet, sondern indem man sie als gesellschaftlichen Bereich sui generis gemäß dessen eigener Logik analysiert und denunziert.
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Jochen Baumann
Wertkritik in der Postmoderne „Jeder Begriff reproduziert die Differenz Diff erenz von Denken und Gedachtem“ Theodor W. Adorno Für Karl Marx war es einfach, ein Konzept der Gesellschaftskritik zu entwerfen. 1 Er konnte einen Bruch diagnostizieren, der moderne von vormodernen Gesellschaften unterscheidet: die Warenproduktion. Die kapitalistische Produktionsweise stellt ihm zufolge eine neue Form der Vergesellschaftung her, die um die Akkumulation und Selbstverwertung des Kapitals und die Warenproduktion zentriert ist. Die Warenform wird dadurch zum konstitutiven Organisationsprinzip des Sozialen selbst. Gegen die zentrale Behauptung der Postmoderne, es gebe kein Zentrum der Vergesellschaftung mehr, es gebe gar ein „Ende des Sozialen“, soll hier dargestellt werden, daß es notwendig ist, an zentralen Einsichten Kritischer Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno festzuhalten. Im Konzept Kritischer Theorie nämlich wird angenommen, daß sich von Kapitalismus reden läßt und daß auch genau angegeben werden kann, was darunter zu verstehen ist. Im durchgesetzten Weltkapitalismus von Marx Kapitaltheorie abzurücken erscheint unsinnig. Wenn er irgend Aktualität besaß, dann heute. Dies gilt auch für andere Formen Kritischer Theorie, etwa die Georg Lukàcs, die Frankfurter Schule oder poststrukturalistische Wertkritiker in der Nachfolge Guy Debords. Diese erweitern das marxsche Konzept des Warenfetischismus auf die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung. Vergesellschaftung. Für eine an die Kritische Theorie anschließende Gesellschaftskritik ist es auch unverzichtbar, sich außer einer kritischen Untersuchung dieser Erweiterung des Marxschen Konzepts auch zentraler Elemente negativer Dialektik zu vergewissern. Dazu zählen die Analyse des Tausches als Basisform der Vergesellschaftung und der repressiven Vergleichung, der spezifische Kritikbegriff, mehr generell die um die Theorie und Kritik gesellschaftlicher Synthesis zentrierte Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung. Gerade in Zeiten der Konjunktur des „Endes des Sozialen“ (Jean Baudrillard) oder der „Gesellschaft des Verschwindens“ (Stefan Breuer), von Theorien also, die Gesellschaftskritik mit dem Postulieren des angeblichen Verschwindens des Gegenstandes der Kritik verwechseln, ist es aber nötig, sich auch mit Adornos Kritik integraler Vergesellschaftung kritisch auseinanderzusetzen. Seine Konzepte können nicht unbesehen übernommen werden, schließlich entstanden wesentliche Teile seiner Gesellschaftstheorie bereits in den vierziger und fünfziger Jahren in einer anderen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation. Außerdem gab es aus poststrukturalistischer Richtung überzeugende Einwände gegen – teilweise unbeabsichtigte – Folgen seiner theoretisch philosophischen Konzepte, wie es auch Versuche gab, sein Konzept integraler Vergesellschaftung zu fundieren. Beides soll hier dargestellt und bewertet werden. Nach oder in Ergänzung zu Adorno bemühten sich verschiedene Kritiker wie HansGeorg Backhaus und Alfred Sohn-Rethel, die kritische Theorie in Richtung einer Wertformanalyse oder Wertkritik weiterzuentwickeln. Mit diesem „Zurück zu Marx“ sollte 1
Für wichtige Anregungen danke ich Andreas Benl, mit dem zusammen ich eine frühere Fassung dieser Überlegungen erarbeitet habe: Jochen Baumann / Andreas Benl: Das Identische ist der Wert. Tausch-, Wert- und Kapitalkritik nach Adorno. In: Leidig, Holger / Ghanaat, Henrik u.a. (Hrsg.): Kritisierte Gesellschaft. Gabi Althaus zum 60. Geburtstag, Berlin (Metropol) 1999.
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das ökonomische Defizit kritischer Theorie, vielbeklagt seit den 40er Jahren - dem Zeit punkt des Auseinanderbrechens Auseinanderbrechens des interdisziplinären Arbeitszusammenhangs Arbeitszusammenhangs mit Ökonomen wie Grossmann und Pollock am Institut für Sozialforschung - beseitigt werden. Diese gegen Habermas’ sprach- und kommunikationstheoretische „Tieferlegung“ der kritischen Theorie, die zurecht als »Depotenzierung kritischer Theorie« bezeichnet wurde 2 , angetretene Rezeption zentraler marxscher und kritisch-theoretischer Einsichten verdient zunächst Sympathie. Hält sie doch an wesentlich kritischen Kategorien wie der Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung und der zentralen Rolle des Fetischcharakters der Ware für die Bildung gesellschaftlichen Bewußtseins fest. Nicht zuletzt war es ja Adorno selbst gewesen, der immer wieder darauf hingewiesen hatte, daß er eine kritische Theorie mit »ausgespartem Zentrum« betreibe, da er nun einmal Philosoph und nicht Ökonom sei. 3 Im Anschluß an Hans-Georg Backhaus’ Studien zur Dialektik zur Dialektik der Wertform entwickelte sich damit eine von Adorno in diesem Sinn gewissermaßen selbst ins Leben gerufene Strömung in der bundesdeutschen Neuen Linken, die versuchte, dieses Defizit der kritischen Theorie durch eine Rekonstruktion und Modifikation der Marxschen Wertformanalyse zu beheben. »Making sense of Marx« 4 kann als das gemeinsame Motto aller Rekonstruktionsversuche des historischen Materialismus der siebziger und frühen achtziger Jahre gelten. Marx’ kritische Theorie der Kapitalvergesellschaftung sollte durch eine systematische Neulektüre des Kapitals rekonstruiert werden. Der Tauschbegriff, die verschiedenen Formen des Werts und die Kapitalform als »automatisches Sub jekt« werden in dieser Neurezeption identisch gesetzt und als Basis einer jeden noch möglichen Gesellschaftskritik ausgegeben, die sich um das Problem der Synthesis der Gesellschaft gruppiert bzw. an der Kategorie der Totalität der Vergesellschaftung festhält. Daß an dieser neomarxistischen Adornorezeption Kritik notwendig ist und daß es zugleich eine an Adorno orientierte kritische krit ische Alternative zu diesem Vorgehen der Wertkritik gibt, soll hier gezeigt werden. Durch die Rückübertragung diverser im Anschluß an Adorno gewonnenen Theoreme auf die Theorie Adornos durch die Schule der Wert-
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Im Anschluß an Habermas bemühten sich verschiedene Autoren, eine Anschlußfähigkeit des Horkheimerschen interdisziplinären Forschungsansatzes gegen die „zu philosophische“ Negative Dialektik Adornos auszuspielen. Vgl. Dubiel, Helmut: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1978; Brunkhorst, Hauke: Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft. In: Soziale Welt 3/1983 sowie Bonß, Wolfgang; Honneth, Axel (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential kritischer Theorie, Frankfurt/M. 1982. Johannes, Rolf: Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie, in: Schweppenhäuser, Gerhard (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftsanalyse Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995. John Elster: Making sense of Marx, Cambridge 1985. Mit den damals neuen Großtheorien von Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme kamen diese ganzen Rekonstruktionsversuche bis Mitte der achtziger Jahre zum Erliegen und die theoretische Soziologie debattiert seitdem nur noch pragmatisch kommunikations-, handlungs- bzw. systemtheoretisch. Regelmäßig bleibt sie bei der Reformulierung von Problemen, die auch zuvor schon sattsam bekannt waren, in der eigenen Theoriesprache stehen. Insbesondere Niklas Luhmann besticht dadurch, ständig zu erklären, wie er die Welt und ihre Zusammenhänge sortiert sehen möchte und kommt gar nicht mehr dazu, Etwas, d.h. ein Objekt, einen gesellschaftlichen Gegenstand zu untersuchen, der nicht seine eigene Theorie wäre.
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kritiker wird seine Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung ihrer kritischen Pointe beraubt, die maßgeblich im kritisch-konstellativen Verfahren negativer Dialektik liegt. Das gemeinsame Dritte im Tausch Auf der Ebene der einfachen Wertform müssen nach Marx im Tausch die beiden Waren auf ein gemeinsames Drittes reduzierbar sein. Dieses Dritte ist der Wert, als dessen »Substanz« Marx die abstrakte menschliche Arbeit gilt. Auf dieser einfachen Wertform beruhe nach Marx »alles Weitere«, was im entfalteten Wertverhältnis bzw. in der Kapitalform zu entwickeln sei. Allerdings beläßt Marx es dabei, der Wertform wesentlich darstellungstechnische Bedeutung zuzuschreiben, auch wenn seine Behauptung natürlich im Raume steht, aus ihr im Kapital »alles« logisch entwickelt zu haben. Diese Behauptung ist dem Geist des 19. Jahrhunderts und insbesondere Hegels Wirkung zuzuschreiben. 5 Marx theoretischer Ausgangspunkt, die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, verhindert aber in seinem Werk eine einseitige Auflösung der Kritik der politischen Ökonomie nach der Seite des Werts. Allerdings kann schon bei Marx die Darstellung dieser Dialektik nicht recht überzeugen. Die Produktivkräfte dominieren zwar auf längere Sicht die Produktionsverhältnisse - Marx glaubt bekanntlich, daß die Produktivkräfte die sie einengenden Produktionsverhältnisse sprengen und beseitigen würden. Im Kapitalismus aber gelte eher das Gegenteil: »Die Produktion greift über«, heißt es in den Grundrissen, Wissenschaft und Technik würden mitsamt den Ar beitern, dem »variablen Kapital«, unter den prozessierenden, sich selbst verwertenden Wert alias Kapital subsumiert. Daß das Kapital, auf dessen Seite die Wertformanalyse analysiert, und die Produktivkräfte andererseits noch gesellschaftlich vermittelt werden, setzt Marx allerdings voraus. Somit kann in Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie von zwei Ebenen der Kritik der politischen Ökonomie gesprochen werden, die im Widerspruch, aber auch in einem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen. Einerseits finden sich auf der Ebene der Produktionsverhältnisse selbst inhärente Widersprüche, die der Marxschen Kritik zum Opfer fallen, andererseits existiert der zentrale, dialektisch gefasste Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. 6 Das Problem der Transformation von Werten in Preise ist in der Marxschen Theorie ungelöst. Es kann systematisch nicht gelöst werden, ist doch die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht überzeugend gelöst. Eine Reihe "simultaner Gleichungen" von Arbeitswerten, Produktionspreisen, Tauschwerten und schließlich Marktpreisen soll das Problem verdecken, daß das Transformationsproblem als solches nicht lösbar ist, steht doch von vorne herein fest, daß zwischen Arbeitswerten und Marktpreisen nur ein Formwandel stattfinden soll, keineswegs ein qualitativer Bruch, der eine relative Autonomie der Produktions-, der Zirkulations- und der Konsumtions5
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Marx betrieb jeweils vor der Niederschrift der Grundrisse und des Kapital eine systematische Neulektüre Hegels. In der Erstfassung des Kapital von 1867 findet sich dieser Einfluß Hegels deutlicher als in der MEW-Fassung, die sechs Jahre später entstand (vgl. Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politische Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Hamburg 1991). Die Erstfassung des Kapital ist über die MEGA, 2. Abteilung, 5. Band zugänglich. Am besten herausgearbeitet hat diesen Widerspruch in der Marxschen Theorie Maurice Godelier. Vgl. ders., System, Struktur und Widerspruch im 'Kapital', Berlin 1970; ders., Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirtschaftsformen, Hamburg 1990.
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sphäre bedingen würde. 7 Diese Sphären fallen heute aber weiter auseinander als zu Marx' und Adornos Zeiten vorhersehbar war, die Zirkulationssphäre hat sich mit dem weltweiten Kapitalismus tatsächlich relativ autonom weiterentwickelt zu einem Bereich der Ökonomie, in dem eigenständig Werte geschaffen werden - sie sind nämlich faktisch da, sie können getauscht werden. Daß sie eine spekulative Blase darstellen, die nichts mit der "wirklichen" Wertschöpfung zu schaffen hat, mag zutreffen oder nicht diese Frage kann erstens nicht beantwortet werden, zweitens wäre sie auch irrelevant, da von ihrer Beantwortung nichts abhängt - Wert ist nicht, was die Theorie bestimmt, sondern alleine, was gesellschaftlich Wertstatus dadurch besitzt, daß es getauscht werden kann. Eigentlich unbestritten dürfte daher sein, daß der Wandel des Kapitalismus die umstandslose Anwendung des kategorialen Rahmens von Marx unmöglich macht. Dem sollte ja gerade - als Verteidigung des „authentischen Marx“ gegen den Marxismus - die „strukturale Revolutionierung“ des Marxismus in den siebziger Jahren durch Reichelt, Backhaus und andere Rechnung tragen. Im Spätkapitalismus 8 im allgemeinen, im bundesdeutschen Postfaschismus im besonderen, sind entscheidende Änderungen im Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu verzeichnen. Die Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, ist entgegen der aktuellen Rede vom Neoliberalismus aufs höchste politisiert und durchstaatlicht. Die Ökonomie bzw. der „freie“ Markt sind nicht nur politisch modifiziert, sondern auch immer stärker politisch vermittelt. Die Kriti k der politischen Ökonomie stellt also von vornherein mehr und anderes dar als die Kritik des „Zur-Ware-Werdens“ und hat damit nicht nur das automatische Subjekt der Wertform bzw. des Geldes/Kapitals als Referenzpunkt. Marx jedenfalls hütete sich davor, in seinen zeitgleich zum Kapital entstandenen Schriften jegliche Kritik am Kapitalismus und seiner Gesellschaft auf eine Kritik der Wertform zu reduzieren. 9 Wesentlich geht die Verdinglichung und Fetischisierung des Wertformkapitels als gewissermaßen logisches Apriori der kapitalistischen Gesellschaft, in dem deren Bestimmungen bereits erschöpfend dargestellt seien, auf die 68erRezeption der kritischen Theorie zurück. Adorno selbst hat dieser Rezeption durch seinen soziologisch amorphen Tauschbegriff Vorschub geleistet. Tausch bei Adorno Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie geht nicht konstitutiv in den Tauschbegriff Adornos ein. Bei diesem handelt es sich zunächst nicht um eine ökonomische, sondern um eine philosophische bzw. erkenntnistheoretische Kategorie. Der Tausch ist der Dialektik der Aufklärung zufolge die rationalisierte Form des Opfers; in anderen Worten: Opfermythologie mit den Mitteln der Aufklärung. Durch die Intentionalität der Opferhandlung - sie ist ein Tausch mit den Göttern, durch den Tausch des Opfers mit ihnen soll ein Mehr zurückerhalten werden, eine Art präkapitalistischer Mehrwert - schlägt sie 7 8 9
vgl. Dobb, Maurice, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith. Eine nationalökonomische Dogmengeschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 177ff. Zur Auseinandersetzung darüber v.a. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt/M. 1988 und Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, in: Soziologische Schriften 1, Frankfurt/M. 1979. vgl. MEW 17 und MEW 22 (Der Bürgerkrieg in Frankreich), MEW 19 (Kritik des Gothaer Programms).
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selbst um in Tausch. »Ist der Tausch die Säkularisierung des Opfers, so erscheint dieses selber schon wie das magische Schema rationalen Tausches, eine Veranstaltung der Menschen, die Götter zu beherrschen, die gestürzt werden gerade durch das System der ihnen widerfahrenden Ehrung.« 10 Der Kern dieses im Opfer-Tausch beschlossenen Verhältnisses geht indessen nach Adorno/Horkheimer weit über eine Zweck-MittelRelation und damit über das bloß instrumentelle Denken hinaus. Die Konstitution des bürgerlichen Subjekts und die Dialektik von Subjekt und Objekt selbst gehen aus diesem herrschaftlichen und angstbesetzten gesellschaftlichen Naturverhältnis hervor. Adorno und Horkheimer behaupten einen direkten Zusammenhang von Tausch und Subjektkonstitution.11 Das identische Selbst des Odysseus wie des modernen Bürgers beruhten auf dem Tausch. Der Tausch dominiert damit nicht, wie noch bei Marx, die Ebene der Ökonomie, wie konstitutiv diese auch für alle anderen Bereiche der Gesellschaft sein mag, er dominiert die gesamte abendländische Rationalität. Der Tausch bestimmt nicht nur die Verhältnisse der Menschen untereinander, sondern auch die zur inneren wie zur äußeren Natur des Menschen. Kritik des Tausches nach Adorno/Horkheimer heißt wesentlich Kritik dieses gesellschaftlichen Naturverhältnisses und keineswegs Kritik der kapitalistisch spezifischen Form des abstrakten Werts. Adornos Kritik des Tausches greift weit über die Kritik politischer Ökonomie hinaus. Entsprechend widmen Adorno und Horkheimer ihre im zeitlichen Kontext zur Dialektik der Aufklärung entstandenen Aufsätze Aspekten der Selbsterhaltung durch die Ausbildung einer instrumentellen Vernunft und »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, so der bezeichnende Untertitel der Minima Moralia. Das Leben ist nicht nur durch die Aufhebung der Grenze zwischen Tod und Leben in den Konzentrationslagern und durch die Dialektik von Produktion und Vernichtung beschädigt, sondern ist dies bereits von Anfang an, seit dem Austritt der Menschen aus der Naturgeschichte, da es der Bildung von Subjektivität durch Herrschaft unterliegt. Der Adornosche Tauschbegriff ist nicht nur wegen seiner herrschaftlichen Herleitung problematisch. Der »Zeitkern der Wahrheit« gesellschaftstheoretischer Begriffe und ihre historische Gebundenheit wird an diesem zentralen Begriff des Tausches nicht reflektiert. Werkgeschichtlich läßt sich nachweisen, daß Adorno den für seine Gesellschaftslehre maßgeblichen Tauschbegriff nicht aus einer Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie der abstrakten Arbeit, sondern aus einer Reflexion über Nietzsches Genealogie der Moral und die Homersche Odyssee gewinnt. 12 Nietzsche behauptet wie Adorno einen Ursprungszusammenhang bzw. eine Wesensverwandtschaft von Äquivalententausch, Geschichte der Subjektivität und Denken. Die Ontologie der Macht, vielkritisiertes Theorem bei poststrukturalistischen Denkern wie Foucault, 13 findet sich 10 11 12 13
Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 56. vgl. Koltan, Michael T.: Adorno, gegen seine Liebhaber verteidigt, in diesem Band. vgl. Horkheimer/Adorno, a.a.O., S. 50 ff. und Nietzsche, Friedrich: Genealogie der Moral, KSA 5, München 1988, S. 169. Zu dieser Kritik an Foucault vgl. am pointiertesten. Breuer, Stefan: Die Gesellschaft des Verschwindens, Hamburg 1992, S. 41ff. Axel Honneth hat in seiner Kritik der Macht die machttheoretische Fundierung der Theorie Foucaults ausführlich dargestellt. Die PoststrukturalismusRezeption in der Erbengeneration der kritischen Theorie unter der Anleitung von Habermas und Honneth ist allerdings systematisch verzerrt, da der Diskurs des kommunikativen Handelns abstreitet, mit Macht etwas zu tun zu haben. Diese Bestreitung auf der eigenen Seite findet ihren Spiegel in umso wüsteren Beschimpfungen der Anderen als Machtontologen. Die Perspektive, daß man Foucault als Kritik der politischen Anatomie lesen könnte, kommt den Erben nicht in den
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auch in der Dialektik der Aufklärung und im Tauschbegriff der Kritischen Theorie als nietzscheanisch fundierte Ontologie der Herrschaft wieder. Für die Dialektik von Denken und Gegenstand des Denkens, von Subjekt und Objekt, gilt nach Adorno nicht nur, daß sie weder absolut getrennt noch aus einem dritten, gemeinsamen herausgestückt sind, sondern sie kommunizieren miteinander im Materiellen, im Leiden der Körper: »Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ‘Weh spricht: vergeh.’ Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis.« 14 Diese Überwindung des Problems der klassischen Philosophie, des Auseinanderfallens von Sein und Sollen, in Adornos dialektischer Philosophie der Trennung von Subjekt und Objekt, ist ein originär nietzschescher Gedanke wie derjenige der Sehnsucht nach der »Auferstehung des Fleisches« als dem Punkt, an dem für Adorno Materialismus und Theologie sich berühren. 15 Adorno weigerte sich aus philosophischem Interesse heraus, eigene eingestandene Defizite in der Analyse des Warentauschs und des Tauschs zwischen Kapital und Arbeit aufzuheben. Ein Ensemble der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse wird von ihm nicht analysiert. Gabe und Warentausch, sozialer und kultureller Tausch, alle Formen werden immer wieder konsequent auf einen alles umfassenden Tauschbegriff zurückgeführt, der nicht zufällig in seiner pessimistischen und eschatologischen Konsequenz an den Tauschbegriff Baudrillards erinnert: der Tausch ist bei Baudrillard der (Opfer-)Tod. Das bürgerliche Subjekt konstituiert sich bei Adorno durch Mimesis ans Tote, an vergegenständlichte Arbeit, an den Wert. Arbeit als Quelle des Werts und der Tod werden bei Baudrillard strukturell dasselbe. Produktion ist Vernichtung, Vernichtung wird produktiv. 16 Dies verweist darauf, daß der Gehalt des Tauschbegriffs bei Adorno ein metaphorischer ist. Gesellschaftlich vielfältig produziertes und voraussetzungsreiches wird auf eine »Expansion des Tauschverhältnisses« reduziert, das totalitär die totale Vergesellschaftung produziert. 17 Das Allgemeine liquidiert das Besondere, das doch seine Voraussetzung ist. Aus derartigen Widersprüchlichkeiten läßt sich leicht eine allumfassendes Apokalyptik zusammenrühren, wie dies z.B. Stefan Breuer in der Gesellschaft des Verschwindens erledigt. Beim Tauschbegriff der kritischen Theorie wie im Poststrukturalismus eines Baudrillard wird historisch spezifisches und divergierendes als identi-
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Sinn. Zum Anderen betonte Foucault abseits der inkriminierten Stellen in der Wille zum Wissen durchaus Unterschiede zwischen Macht und Herrschaft und insbesondere staatlich-institutionelle Fundierungen der Herrschaft, besonders deutlich in Überwachen und Strafen und in seinem Begriff der Biopolitik. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. (5. Auflage) 1988, S. 203. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, KSA 4, München 1988, Das Nachtwandler-Lied, S. 395ff. Eine systematische Untersuchung zur Nietzsche-Rezeption Adornos in der Dialektik der Auf klärung bietet Norbert Rath: Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos, in: Van Reijen, Willem; Schmid Noerr, Gunzelin (Hg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ‘Dialektik der Aufklärung’ 1947 bis 1987, Frankfurt/M. 1987. vgl. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 207. vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S. 54ff. und S. 69ff. vgl. Breuer, Stefan: Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg/Br. 1985 und ders., Die Gesellschaft des Verschwindens, Hamburg 1992.
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sches gefaßt, aktuelle gesellschaftstheoretische Begriffe und Kategorien werden ahistorisch auf die Vergangenheit projiziert und damit ihres materiellen Kerns beraubt. 18 Der Tauschbegriff wird in den Frühschriften der kritischen Theorie derartig ausgeweitet und metaphorisch aufgeladen, daß er als überhistorischer Strukturbegriff abseits der Marxschen Kategorien tendenziell mit dem Begriff der Aufklärung verschmilzt und sich das Problem der Differenz von Denken und Tauschen praktisch nicht mehr stellt. Geht es um die konkrete Kritik der bestehenden Gesellschaft, findet die gegenteilige Bewegung statt: »Das Dorado der bürgerlichen Existenzen, die Sphäre der Zirkulation wird liquidiert.«19 Der Tausch verschwindet in der integralen Verwaltung oder wird mit ihr gleichgesetzt. 20 Dieser Rückfall hinter zentrale Marxsche Einsichten entspringt eindeutig der zentralen ökonomietheoretischen Fehleinschätzung der kritischen Theorie der dreißiger und vierziger Jahre: Pollock und mit ihm Horkheimer insistierten seit 1935 darauf, daß der Faschismus die Zirkulationssphäre durch staatliche Herrschaft ersetzt habe und damit ein auf Ewigkeit angelegtes Herrschaftssystem bilden könne, das die inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses beseitige bzw. politisch aufhebe. Der Streit innerhalb der kritischen Theorie zwischen Pollock, Horkheimer und Adorno einerseits und Franz Neumann andererseits über das Primat von Ökonomie oder Politik im Nationalsozialismus 21 ist durch die Geschichte inzwischen eindeutig beschieden: Faschismus und Nationalsozialismus haben keineswegs zu einer Verewigung totaler Herrschaft geführt, die Zirkulationssphäre erfreut sich nach dem Krieg bester Gesundheit und wurde seit 1972, der endgültigen Ablösung des Goldstandards im Weltwährungssystem, der wichtigste Motor kapitalistischer Entwicklung. Und diese verläuft keineswegs, wie es Horkheimer in der Theorie des integralen Etatismus und des autoritären Staates meinte, krisenfrei. Adorno nahm die Unhaltbarkeit der These einer politischen Ökonomie des staatska pitalistischen Monopols nach 1945 durchaus wahr. Er reagierte darauf jedoch nicht mit der offensiven Neuformulierung einer Kritik der politischen Ökonomie im Rahmen des Instituts für Sozialforschung. Vielmehr ließ er die unbrauchbar gewordenen Begriffe »Monopol«, »Rackets« etc. stillschweigen fallen oder stellte sie doch zumindest nicht mehr ins Zentrum seiner Überlegungen. Statt dessen arbeitete er an einer Methodologie negativer Dialektik, die den Stand kapitalistischer Vergesellschaftung nicht durch unmittelbaren Zugriff auf die Ökonomie analysiert, sondern durch eine konstellativ vorgehende Philosophie- und Erkenntniskritik.
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Adorno hat dabei selbstverständlich vor Baudrillard, dem postmodernen Zyniker, den Vorzug, daß er sich weitaus kritischer mit Lebensphilosophie und Existenzialismus auseinandersetzte. Anstatt so wie Baudrillard völlig unkritisch von einer ewigen Wiederkehr der Dialektik von Produktion und Vernichtung, von Leben und Tod zu reden, ordnet sich seine Philosophie dem Imperativ unter, die Integration des Todes in die Kultur und Philosophie zu widerrufen, zum alleinigen Zweck, daß sich Auschwitz und nichts ähnliches wiederhole. Horkheimer, Max: Autoritärer Staat. In: Dubiel, Helmut; Söllner, Alfons (Hg.): Horkheimer, Pollock, Neumann, Kirchheimer, Gurland, Marcuse. Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt/M. 1981, S. 55. vgl. zur Kritik: Brick, Barbara; Postone, Moishe: Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus. In: Bonß, Wolgang; Honneth, Axel (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1984. vgl. die Texte in Dubiel/Söllner (Hg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, a.a.O.
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Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie I. Warenform und Denkform Adornos »Tauschprinzip« im Sinne des Marxschen Wertgesetzes zu präzisieren bzw. zu modifizieren und so zu einer aktuelleren und soziologisch wie gesellschaftstheoretisch gehaltvolleren Vermittlung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu kommen, scheint nach Adorno geboten. Was das Wertgesetz allerdings sein soll, ist umstrittten. Schon bei Marx ist es keineswegs evident, was darunter genau zu begreifen ist. Alfred Sohn-Rethel, Hans-Georg Backhaus und andere haben verschiedene Vorschläge gemacht, wie im Anschluß an Adornos Theorie das Tauschprinzip als Basisform der gesellschaftlichen Rationalisierung im Sinne einer gesellschaftlichen Totalität mit dem Marxschen Wertgesetz zu vermitteln sei. Besonders Sohn-Rethel hat verdeutlicht, daß die Tauschabstraktion als »Realabstraktion« die moderne Rationalität entscheidend bestimmt hat. 22 Adorno beläßt es mit seinem abgerüsteten Tauschbegriff in der Negativen Dialektik bei relativ knappen Ausführungen über die Analogie von Tauschprinzip und Identifikationsprinzip: »Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensura bel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität.« 23 Genau an dieser Analogie setzt Sohn-Rethel mit seiner materialistischen Verortung des Kantschen Transzendalsubjekts in der Warenform an. Es gilt die von Kant ontologisch bestimmte »dualistische Zusammensetzung der Erkenntnis (...) aus Prinzipien a posteriori und a priori« 24 im Doppelcharakter der Ware historisch-kritisch zu verorten. Handlungstheoretisch macht Sohn-Rethel den Tauschakt zum Ausgangspunkt abstrakt wissenschaftlichen Denkens. »Der Austausch der Waren ist abstrakt, weil er von ihrem Gebrauch nicht nur verschieden, sondern zeitlich getrennt ist. (...) Eine zu einem definitiven Preis ausgezeichnete Ware z.B. unterliegt der Fiktion vollständiger materieller Unveränderlichkeit, und dies nicht nur von seiten menschlicher Hände. Selbst von der Natur wird angenommen, daß sie gleichsam im Warenkörper ihren Atem anhält, solange der Preis der gleiche bleiben soll.« 25 Erst die Tauschabstraktion als totale Abstraktion von der lebendigen Natur mache die Trennung Mensch-Natur / Subjekt-Objekt überhaupt denkmöglich. Sie schaffe so die Voraussetzungen für das abstrakte Denken, das in der Wissenschaft sein Ideal in der Ausschaltung aller subjektiven Faktoren aus dem Experiment findet. So lassen sich die Entwicklungen von Philosophie und Naturwissenschaft von der griechischen Antike über die Renaissance bis in den modernen Kapitalismus aus den unterschiedlichen Stadien warenförmiger Vergesellschaftung ableiten. Die Trennung von Kopf- und Handarbeit im Kapitalismus folgt laut Sohn-Rethel notwendig aus dieser Entwicklung. Sie ist weniger als soziologisch definierte Herrschaft „der Wissenschaftler“ über „die Arbeiter“ zu verstehen, denn als das Kommando der 22 23 24 25
vgl. Sohn-Rethel, Alfred: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie gesellschaftlicher Synthesis, Frankfurt/M. 1970. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 149. Sohn-Rethel, Alfred: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte, Weinheim 1989, S. 33. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, a.a.O., S. 17.
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Tauschabstraktion über die im Stoffwechsel mit der Natur stehende Arbeitskraft, die als Gebrauchswert für das Kapital bestimmt ist. Rudolf W. Müller folgt in seinem 1977 erstmals erschienenen Buch Geld und Geist Sohn-Rethels Gedankengang, weicht aber in zwei zentralen Punkten ab: Während Backhaus, Sohn-Rethel und andere direkte Anschlußmöglichkeiten ihrer neomarxistischen Studien an die kritische Theorie sahen, kritisiert Müller die mangelnde Spezifik des Tauschbegriffs bei Horkheimer und Adorno. Auch der oben zitierten Analogie von Tausch- und Identifikationsprinzip entgehe noch die historische Besonderheit der Wertform. Das »Wertgesetz« wirke im eigentlichen Sinn »erst in der bereits etablierten kapitalistischen Produktionsweise. Vorher befindet sich der Wert im Konflikt mit einem ihm entgegenstehenden Strukturprinzip, der direkten Vergesellschaftung der Arbeit.« 26 Darüber hinaus beschrieben Adorno und Horkheimer die »Tauschgesellschaft« nicht als eine durch Lohnarbeit, Mehrwert und Kapital determinierte, sondern als Ansammlung vereinzelter Warenbesitzer. Dies entspreche jedoch der bürgerlichen Gesellschaftsauffassung, deren Glorifizierung der im Tausch hergestellten Gleichheit lediglich negativ gewendet werde. 27 Aus dieser Kritik ergibt sich auch die Abgrenzung zu Sohn-Rethel. Ihm wirft Müller vor, die einfache Warenzirkulation bei Marx in eine vormoderne »Epoche der einfachen Warenproduktion« zu übersetzen. Sohn-Rethels Erkenntniskritik verharre in einer »mechanistischen Widerspiegelungstheorie« und zeichne das undialektische Bild einer linearen Entfaltung der Warenwirtschaft von den alten Griechen bis in die Gegenwart. Dies verkenne jedoch die Besonderheit einer gesamtgesellschaftlichen Synthesis durch den Wert, die erst im modernen Kapitalismus gegeben sei. »Nur wenn die einfache Zirkulation als Oberfläche des sich zum gesellschaftlichen Subjekt erhebenden Kapitals verstanden wird, ist auch die ‘Unbewußtheit’ (Adorno) des Transzendentalsubjekts zu dechiffrieren.« 28 Einig sind sich Müller und Sohn-Rethel jedoch in ihrem Bruch mit Adornos Feststellung, daß auch die Negation der Negation keine unmittelbare Positivität hervorbringe. Die Dialektik wertförmiger Vergesellschaftung hat bei ihnen ein emanzipatorisches Happy End. Bei Sohn-Rethel entspringt der Kommunismus ganz klassisch der Entwicklung der Produktivkräfte, ist »fällig geworden und im Gange.« 29 Müller formuliert vorsichtiger, doch auch für ihn enthält der »reale Vergesellschaftungsprozeß in seiner Widersprüchlichkeit« immerhin »die Forderung, (...) den blinden Automatismus des sich selbst bewegenden Werts aufzuheben durch bewußte und einheitliche Lenkung.« 30 Seit Lukács hatten sich westliche Marxisten bemüht, abseits der sowjetischen Orthodoxie dialektische Letztbegründungen für das kommende Ende der bürgerlichen Gesellschaft zu liefern. Eine neue, philosophischere Lesart von Marx und Adorno, die nun dargestellt wird, brach in den 70er Jahren scheinbar mit dieser Tradition.
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Müller, Rudolf Wolfgang: Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt/M. - New York 1981, S. 200f. Ebenda, S. 198ff. Müller, a.a.O., S. 372, Anm.64. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, a.a.O., S. 91. Müller, a.a.O., S. 208.
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II. Das absolute Wissen der Wertkritik: Wert-Theologie Die Rezeptionsgeschichte der kritischen Theorie in der bundesdeutschen Linken ist höchst ambivalent. Am Anfang der antiautoritären Revolte von 1968 stand die Distanzierung von der Praxisfeindschaft der Überväter aus Frankfurt, 31 die bald in die „organisationspraktischen Stabilisierungen“ des Neoleninismus und Reformismus mündete. Auch diejenigen Intellektuellen, die dieser Dogmatisierung nicht folgen wollten, legten bei dem Versuch, das Scheitern der Neuen Linken zu erklären, zum Teil eine ähnliche Naivität an den Tag, wie ihre innerlinken Gegner, die volkstümelnden Anhänger der „revolutionären Praxis“. Der mißlungenen praktischen Aufhebung der kritischen Theorie sollte nun ihre theoretische Überbietung folgen. In Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts und Stefan Breuers Die Krise der Revolutionstheorie erhält Adornos Begriff der „Nichtidentität“ - wider Adornos Warnung vor dessen Verdinglichung - als »Gebrauchswert« Sub jektstatus: »Und solange die Kritik auf ihn sich berufen konnte, solange die Wertabstraktion mit einem anderen Prinzip konfrontiert war, auf das sich eine mögliche Neuorganisation der Produktion stützen konnte - solange war die kapitalistische Produktionsweise als eine bloß transitorische gekennzeichnet.« 32 Diese begriffliche Operation diente nun jedoch nicht mehr dem Ziel gesellschaftsumwälzender Praxis, sondern dem Nachweis, daß der - einst die revolutionären Potentiale des Kapitalismus repräsentierende - Gebrauchswert im Spätkapitalismus endgültig vom Wert und/oder den Monopolen zerstört worden sei. Bei Adorno ist die Tatsache, daß radikale Gesellschaftskritik weder ein Subjekt a priori noch eine historische Notwendigkeit ihrer praktischen Umsetzung kennt, Ausgangspunkt der Fragestellung, wie eine solche Kritik trotzdem möglich sei. Pohrt, Breuer und anderen dient dieser Zustand lediglich als Anlaß melancholischer Spekulationen und ist damit der Endpunkt der Reflexion. Dieser Paradigmenwechsel steht in Verbindung mit einer Differenz der historischen Verortung kritischer Theorie. Adornos Negative Dialektik ist geprägt von der Erfahrung des Nationalsozialismus. Adorno formuliert als Konsequenz aus dem Holocaust einen kategorischen Imperativ , der sich jeder diskursiv-dialektischen Relativierung entzieht: daß die Menschheit ihr Denken und Handeln so einzurichten habe, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« 33 Die Trauer der antiautoritären 68er um die vermeintliche Auflösung des Gebrauchswerts läßt sich dagegen als entkontextualisierter, wortwörtlicher Verweis auf Adornos Rede vom versäumten Moment der Aufhebung der Philosophie lesen: »Wir sehen uns hier mit folgender Zeit- und Geschichtsvorstellung konfrontiert: Historische Möglichkeiten bereiten sich von langer Hand vor, quasi automatisch durch den Automatismus des Kapitalverhältnisses und
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Prägnant formuliert von Hans-Jürgen Krahl, der selbst noch Marcuse als dem einzigen kritischen Theoretiker von Rang, der sich mit den 68ern solidarisierte, vorwarf, seine »Ideologiekritik der Eindimensionalität« lasse »die empörten Intellektuellen in Ungewißheit darüber, ob die Integration der Arbeiterklasse unwiderrufliches Schicksal oder aufhebbarer Schein sei.« (Krahl, Hans-Jürgen: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Frankfurt/M. 1971, S. 301). Breuer, Stefan: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmeta physik bei Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1977, S. 243. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 358.
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dann kommt der entscheidende Augenblick, der Kairos, der es ermöglicht, jenen Automatismus zu sprengen. Wird er nicht erfaßt, läuft die ganze Chose leer.« 34 Wo kritische Theorie in solcher Weise geschichtsmetaphyisch abgedichtet wird, erscheint die Konsequenz naheliegend, sie auch quasi-theologisch zu formulieren. Der Religionswissenschaftler Christoph Türcke etwa macht das Kapital gleich zum Teufel: »In der Theologie aber ist der Imitator Gottes, auch Affe Gottes genannt, niemand anderes als der Teufel, das gottähnlichste und ungöttlichste Wesen zugleich. Die Bewegung des Kapitals ist dieses Wesen. Sie ist unsichtbar, nirgends direkt greifbar und doch allgegenwärtig. Sie bringt die Gesamtheit des Gesellschaftsprozesses aus sich hervor und läßt sie ebenso wieder in sich verschwinden. Auf dem höchsten Stand des gesellschaftlichen Fortschritts tritt somit ein Gott das Regiment an, der alle seine Vorgänger übertrifft - an göttlicher Wirklichkeit, weil er sich als das den Gesellschaftsprozeß bestimmende Prinzip tatsächlich beweisen läßt, und an Ungöttlichkeit, weil sich ebenso beweisen läßt, daß er von Menschen gemacht ist. Der Gottesbeweis (...) gelingt, indem er zugleich scheitert: Dieser Gott ist beides - sowohl höchste Realität als auch Schein.« 35 Alleine ein Trost bleibe noch: der jüngste Tag stehe noch aus, meint Türcke. Stefan Breuer hingegen, auch und gerade unter Theologen gibt es schließlich nie einen Konsens, beharrt darauf, daß der jüngste Tag bereits eingetreten sei. In der Gesell schaft des Verschwindens behauptet er, daß das »Kapitalverhältnis (...) selbst das Absolute« 36 sei. Seine »dialektische Entropologie« begründe die Einsicht, daß die kapitalistische Gesellschaft von vornherein eine Gesellschaft des Verschwindens ist, da das Kapitalverhältnis durch seine Expansion alles in eine leere Wüste der Abstraktion verwandele: »Das, was die Einheit herstellt, ist der Wert; der Wert aber ist eine reine Abstraktion, etwas, in das ‘kein Atom Naturstoff’ eingeht, eine bloß ‘ideelle’ oder ‘nur gemeinte Bestimmung’«, zitiert er Marx, um zu schlußfolgern: »Bürgerliche Vergesellschaftung heißt dementsprechend abstrakte, reine Vergesellschaftung, Integration durch eine Sphäre, die in der traditionellen Metaphysik als ‘Schein’, in der idealistischen Philoso phie als ‘Geist’ bezeichnet wurde - eine Welt des Symbolischen, der Stellvertretung, der Substitution, die alle Erscheinungsformen des Sozialen, von der Zirkulation über Recht und Staat bis zu den subtileren Gestalten der Kunst, der Wissenschaft und der Philoso phie, strukturiert.« 37 Die Einheit der bürgerlichen Gesellschaft sei damit keine Einheit der Arbeit, »sondern eine des Werts, der Abstraktion von der Arbeit.« 38 Breuer ordnet aus diesen Identifikationen heraus Adornos kritische Theorie dem Theorietypus einer »strukturalistischen Systemtheorie« zu, da für Adorno außer Frage stehe, daß die »bürgerliche Gesellschaft ein System ist, eine Einheit also, die aus einem Punkt heraus erzeugt (...) ist.« 39 Aus Marx und Adornos Kritischer Theorie macht Breuer eine Systemtheorie: »Selbstreferenz« sei der Schlüsselbergriff in Marx’ Theorie des kapitalistischen Systems. »Der Wert ist eine ’prozessierende, sich selbst bewegende 34 35 36 37 38 39
Hafner, Kornelia: Gebrauchswertfetischismus, in: Diethard Behrens (Hg.): Gesellschaft und Erkenntnis. Zur materialistischen Erkenntnis- und Ökonomiekritik, Freiburg/Br. 1993, S. 77. Türcke, Christoph: Über die theologischen Wurzeln der marxschen Kritik. In: Schweppenhäuser, Gerhard u.a. (Hg.): Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Lüneburg (2. Auflage) 1987, S. 33. Breuer, Stefan: Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992, S. 11. Ebenda, S. 69. Ebenda, S. 70. Ebenda, S. 71.
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Substanz’, ein ‘automatisches Subjekt’, das zu sich selbst in einem ‘Privatverhältnis’ steht, nicht anders als in der christlichen Theologie die Trinität«, faßt Breuer seinen essential Marx zusammen. 40 Marx wird zu Adorno wird zu Luhmann, die „dialektische Entropologie“ löst die Kritik der politischen Ökonomie ab. Die Wert-Theologie endet in der „Götterdämmerung“: »Es gibt das Absolute, nur muß es anders gedacht werden nicht als Großsubjekt oder als Geist, (...) vielmehr als autopoietischer Prozeß mit katastrophalem Ausgang. (...) Das Soziale System, in dem es sich manifestiert, ist nicht die Überwindung des Chaos, als die es sich so gerne präsentiert, sondern nur die Methode, es schneller herbeizuführen, als dies nach den Gesetzen der spontanen Evolution der Fall wäre.« 41 Eine Kritische Theorie, die diesen Namen verdient, kann an diese negativtheologische Wert-Systemtheorie mit ihrer apriorischen Setzung der Identität von Wert und Wertform nicht anknüpfen. Die Vermittlungen zwischen Ware, Kapital, Staat, Gesellschaft, Subjekt, Individuum müssen im Zentrum der kritischen Theorie stehen, nicht das „Automatische Subjekt“ als, wenn auch negativ gewendetes, identisches SubjektObjekt der Geschichte, falls von Geschichte hier überhaupt noch die Rede sein kann. Die Marxsche Arbeit wird bei Sohn-Rethel durch den Wert und das Geld als Transzendentalsubjekt ersetzt, als nicht konstituiertes, sondern vielmehr konstituierendes Subjekt, als das „automatische Subjekt“, das schon als Gespenst im Kapital auftaucht, um gegen Hegel aufzutreten und dann wieder von der Bühne zu verschwinden. 42 Diesem Gespenst des sich selbst verwertenden Werts 43 wird nun in der theoretisch polemischen Nachfolge Sohn-Rethels alleine die Funktion der gesellschaftlichen Synthesis übertragen. 44 Das Kapital bekommt so als absolute Positivität und Negativität zugleich eine gottgleiche Position. Eine solche Wertkritik kennt das Problem der Unterscheidung von Wissen und Gegenstand nicht mehr. Begriff und Gegenstand, frei nach Hegel der Maßstab und das zu Prüfende, fallen hier immer in die vorgeblich untersuchten Bewußtseinsgestalten selbst. Da durch das mit-sich-selbst-identisch-setzen aller Erscheinungen mit der Kapitalform alias Warenfetisch ja eine »Zutat« (Hegel) von den Betrachtern selbst vorgeblich überflüssig wird, sind sie doch, wie schon Hegel selbst, »der Mühe und Vergleichung beider und der eigentlichen Prüfung enthoben, so daß, indem das Bewußtsein sich selbst prüft, uns auch von dieser Seite nur das reine Zusehen bleibt.« 45 Dieses Vorgehen ist das genaue Gegenteil materialistischer Theorie - konsequenter Idealismus im materialistischen Gewand. Backhaus und Sohn-Rethel - ihre Theorie dient auch Stefan Breuer, Wolfgang Pohrt und Christoph Türcke als Basis - wollen letztlich eine Gesellschaftstheorie bereitstellen, die auf "gesellschaftlichen Naturgesetzen" basiert, die wiederum durch die Ökonomie in der Gesellschaft wirken sollen. Die Präformierung des Tauschverhältnisses durch das Klassenverhältnis, grundlegend noch bei Adorno, geht dabei verloren. Der Tausch wird
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Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 174. Marx, Das Kapital Bd. 1, a.a.O., S. 169. Ebenda, S. 209. vgl. die an Sohn-Rethel und die Backhaussche Dialektik der Wertform anknüpfenden Ansätze der Wertkritik um die Zeitschrift „Krisis“ und die Initiative Sozialistisches Forum. Vgl. Bruhn, Jochen: was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1995. Hegel, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986, S. 72.
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seines sozialen Kerns beraubt, da er nur noch als ein Abstraktionsprozeß durch die Reduktion verschiedener Gebrauchswerte auf Arbeitswerte gefasst wird. 46 Der Tausch mag zwar mit Adorno weiterhin der Schlüssel zur Gesellschaft sein, Vergesellschaftung wesentlich über ihn konstituiert werden, das Konstituens der Gesellschaft schlechthin dagegen war er nie und wird er nie sein können, im Gegenteil: er selbst, erst recht als Tausch zwischen Arbeit und Kapital, ist ein Konstituiertes und gesellschaftlich höchst voraussetzungsvolles. Das Kapital kann nämlich die Voraussetzungen des Tausches, die funktionierenden Sphären der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, nicht selbst schaffen, sondern benötigt hierzu immerhin mindestens einen Staat, eine Bürokratie, ein Gewaltmonopol, anerkannte Währungssysteme, die Verrechtlichung im Vertragswesen und nicht zuletzt die Individuen, die diese Verhältnisse anerkennen. Soweit der Tausch als synthetisierendes Prinzip der gesellschaftlichen Totalität zuzurechnen sein soll, macht dies nur Sinn, wenn genau vom Wertgesetz, und nicht vom generelleren Tausch gesprochen wird. Eine kausale Ableitbarkeit der Gesellschaft bzw. der Totalität aus dem Wertgesetz ergibt sich daraus aber noch lange nicht. Erstens nämlich ist das der Sohn-Rethelschen Theorie zugrundeliegende orthodoxe Basis-ÜberbauSchema mit seiner Entsprechungslogik schlicht überholt, zweitens ist auch für den ökonomischen Tausch im Kapitalismus etwa die Norm der Gewaltfreiheit, des Einhaltens von Verträgen, der Habitus der Tauschenden auf dem Markt genauso konstitutiv wie die Realabstraktion im Tausch der Produkte selbst. 47 Der Wert einer Sache wird gesamtgesellschaftlich bestimmt, nicht durch einen Gedankengang, auch wenn er noch so abstrakt ist. Schließlich ist auch die Rede vom Gebrauchswert, von dem abstrahiert werde, eine ideologische, entscheidet sich doch erst im konkreten gesellschaftlichen Bedarf und Gebrauch, was ein Gebrauchswert und was unnützes Zeug ist, das an den Bedürfnissen vorbei produziert wurde. Die Entdeckung neuer Gebrauchswerte ist nach wie vor, wie Marx es einmal formulierte, eine historische Tat, die sich jeden Augenblick neu vollzieht. Die Rede vom abstrahieren vom Gebrauchswert führt in die Irre, daß der Gebrauchswert, immerhin nach Marx der äußerst wichtige Träger des Tauschwerts im Kapitalismus, verschwinde, weil sich das Kapital, das Geld etc. selbst zu bewegen scheint. Schließlich wird jede Differenz durch diese Identitätslogik von Wert und Wertform zunichte gemacht. Der Ansatz, daß die Ware, die als Wert die Identität von Identität und Nichtidentität zugleich ihr Anderes, das Geld, sein soll, verhindert gerade die Erklärung der Differenz von Wert des Arbeitsprodukts und Wertform des Austauschprodukts. Der Warenaustausch, der Tausch selbst, wird dadurch zum Nichts, er produziert nämlich nichts anderes, als eine logisch bereits immanent vorhandene Identität von Wert und Wertform zur Entfaltung bzw. zum Ausdruck zu bringen. 48 Letztlich führt die Theorie 46 47
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Backhaus kann sich hierbei auf Adorno berufen, in dessen Seminar er seine eigenständigen Identitätssetzungen entwickelte. (Vgl. Backhaus 1997, S. 502). Diese Argumentation entwickelte zuletzt Jürgen Ritsert: Realabstraktion. Ein zu recht abgewertetes Thema der kritischen Theorie? In: Christoph Görg/Roland Roth (Hrsg.): Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, Jahresband des Sozialistischen Büros, Münster 1998, S. 324348, hier 333ff. Eine hervorragende Interpretation und Kritik der dialektischen Identitätslogik im Ansatz Backhaus' und Sohn-Rethels findet sich bei: Holz, Klaus: Historisierung der Gesellschaftstheorie. Zur Erkenntniskritik marxistischer und kritischer Theorie, Pfaffenweiler 1993, bes. S. 152-182, hier S. 160f.
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der Identität von Wert, basierend auf gesellschaftlicher Arbeit Arbeit , und Wertform, also letztlich der Kapital Kapital form, form, zu abstrusen Konsequenzen: Konsequenzen: Arbeit und Arbeit und Kapital Kapital werden werden identisch. Auf dieser Grundlage eine Gesellschaftskritik zu entwickeln, ist unmöglich. »Der Wert als Identität / Subjekt, das von allem Anfang an sich durchhält und sich in das Resultat hinein entfaltet, gibt der Marxschen Frage eine Logik vor, die die gesellschaftliche Genese des Warenwertes und des Kapitals als Produkt gesellschaftlicher Beziehungen nicht erfassen kann.« 49 (Holz 1993: 164) Daß Adorno in der Negativen Dialektik eine Alternative zu dieser Ableitung- und Identitätslogik bereitstellt, soll nun gezeigt werden. Anschlüsse an Adorno I. Negative Dialektik als Kritik der Identität(sphilosophie) Nachdem die gesellschaftsumwälzende gesellschaftsumwälzende Praxis gescheitert und auf unabsehbare Zeit vertagt ist, muß Gesellschaftskritik laut Adorno die bestimmte Negation der idealistischen Philosophie, die Marx unter dem Aspekt der Praxis vollzog, neu formulieren. »Die Marxsche Theorie insgesamt kann (...) aufgefasst werden als eine Kritik an der Philosophie, und zwar insoweit die Philosophie glaubt, aus irgendwelchen letzten allgemeinen Prinzipien die Realität ableiten zu können. Indem er diesen Begriff der Philosophie bekämpft, ist Marx der Erbe der nominalistischen Theorie (...).« 50 Das Bedürfnis nach Systematik, erst recht nach widerspruchsfreier Ableitung gesellschaftlicher Phänomene aus einem großen Ganzen, ist nach Adorno selber ein problematisches. »Dem Menschen ist heute an sozialen Ordnungskategorien Ordnungskategorien und Orientierungen, ihrer Meinung nach, so wenig vorgegeben, daß sie ein gewisses überwertiges Bedürfnis, möchte ich sagen, nach Systematik haben; dieses Bedürfnis selbe garantiert noch in keiner Weise die Möglichkeit oder gar die Wahrheit dessen, wonach dieses Bedürfnis geht. Die Möglichkeit des Systems steht in der Philosophie zur Diskussion. Sie muß sich dabei aber auch mit jenem im Grunde von Verwaltungskategorien hergeleiteten Bedürfnis nach Totalität beschäftigen, das im Systemzwang sich äußert.« 51 Diese klaren Absagen an Letztbegründungen, Ableitungslogiken und Totalitätsbestimmungen sind nicht nur als vorweggenommene Absage an Habermas' Forschungsprogramm zu deuten, sondern auch als Kritik der Werttheologie mit ihren systematischen systematischen Identifikationen. Im Zentrum von Adornos Kritik an der Philosophie der Aufklärung steht deren Ziel, Begriff und Sache in vollständige Übereinstimmung zu bringen, die in Hegels absolutem Weltgeist als totaler Identität kulminiere. Die »identischen Bestimmungen« als Wunschbild der traditionellen Philosophie sind für Adorno nichts anderes als »Geist gewordener Zwang«. Adornos Kritik des Identifikationsprinzips ist keine philosophieimmanente: Der Zwang zur Identität, der zur Zurichtung des Erkenntnisobjekts auf seinen Begriff hin führt, f ührt, ist Ausdruck der menschlichen Naturbeherrschung, Naturbeherrschung, der Herrschaft des Subjekts über das Objekt, die im ebenfalls identitätslogischen Tauschprinzip als »zweite Natur« auf jenes zurückfällt. Das mit sich selbst identische Ganze, von Hegel als absoluter Weltgeist gefaßt, ist für Adorno nicht das Positive, sondern die Chiffre für das - theoretisch und praktisch - Un49 50 51
Holz, Historisierung der Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 164. Adorno, Philosophische Terminologie, Band 2, Frankfurt/M. 1974, S. 255. Adorno, Philosophische Terminologie, Band 2, Frankfurt/M. 1974, S. 265f.
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wahre. Die Negation der Negation bringt keine unmittelbare Positivität hervor, die Dialektik bleibt negativ. »Nichtidentität« ist zwar das vor dem Zugriff des logischen und gesellschaftlichen Zwangscharakters der Identität zu Rettende. Auch Nichtidentisches wie Nichtidentität sind jedoch keine absoluten Gegenbegriffe zur Identität, kein positiver Archaismus. Eine abstrakte Negation der bürgerlichen Gleichheit wäre ein Rückfall hinter sie. Das Nichtidentische soll vielmehr »die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen« sein, das »was der Begriff im Inneren weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann.« 52 Da Denken ohne Begriffe unmöglich ist, wäre die Utopie der Erkenntnis dann, »Nichtbegriffliches mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen«. Dies ist wiederum nur durch begriffliche »Konstellationen« möglich, als »Versuche, durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen auszudrücken, worauf er geht, anstatt ihn für operative Zwecke zu umreißen.« 53 »Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert.« 54 So ist die Nichtidentität nicht das positiv zu bestimmende "ganz Andere" der Identität. Adorno lehnt das Konzept einer einheitlichen und mit sich selbst identischen Vernunft ab und beruft sich dabei auf Hegel: »Er hat gezeigt, daß sinnvoll von einem Identischen nur dort geredet werden könne, wo zumindest (...) ein Moment des NichtIdentischen hineinspielt; denn bei der einfachen Wiederholung wäre die Behauptung der Identität ein ganz Inhaltsloses.« 55 Eine Annäherung an die Sache kann nur durch die Identität der Begriffe hindurch stattfinden. Identität verschwindet durch ihre Kritik nicht, sie soll sich vielmehr qualitativ verändern. Die zunächst paradox anmutende Annahme Adornos, rationale Identität durch gerechten Tausch wäre möglich, zeigt auf, daß es keine Gesellschaft und kein Individuum ohne Identität geben kann. Alleine zu kritisieren wäre damit die unvernünftige Identität, die durch die kapitalistische/ nationale/ patriarchale Vergesellschaftung Vergesellschaftung produziert wird. Diese umfasst allerdings keineswegs alle Formen der Identität, und sind wiederum nicht alle unmittelbar aus der Wertform ableitbar, wie es die an Sohn-Rethel anschließende Wertkritik suggeriert. Zu derartigen Unterscheidungen - und neuen Begriffen - muß eine Theorie aber geeignet sein, soll sie überhaupt etwas über Gesellschaft aussagen können. Das Denken der Nichtidentität von Denken und Objekt ist dabei die erkenntnistheoretische Prämisse. Das bedeutet: auch eine negativ-dialektische Philosophie kann nicht mit dem Anspruch der alten idealistischen Philosophie auftreten, die Welt als Ganzes zu erklären bzw. die Totalität auf den Begriff bringen zu können, und sei es, wie in der Wertkritik, auf den Begriff des Kapitals als des wahrhaft identischen oder nichtidentischen, also des Wesens oder Unwesens. Das »Nichtidentische« ist bei Adorno keineswegs als eine bloß formale Kategorie vorzustellen, in ihr zieht sich vielmehr das gesamte inhaltliche Spektrum von Adornos Soziologie und Philosophie zusammen. Auch Nichtidentität ist allerdings kein Letztes. Nichtidentisches verhält sich zu Identischem nicht als Gegensatz, sondern dialektisch und kritisiert es immanent.
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Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 164. Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 165f. Adorno, Philosophische Terminologie, Band 2, Frankfurt/M. 1974, S. 115.
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II. Konstellation und Synthesis Adorno selbst weist an verschiedenen Stellen darauf hin, daß die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik nicht alleine davon abhängt, daß die Totalität der Gesellschaft erfasst werde. Im Gegenteil, nur die Erfahrung und kritische Durchdringung des Einzelnen kann die Perspektive der Kritik offenhalten. Die Kritik der Totalität ist nicht unmittelbar oder gar kategorial zu haben: Für eine kritische Theorie der Gesellschaft ist es unabdingbar, den »schwersten Nachdruck« auf das Konkrete und Einzelne zu legen und die Existenz der Totalität nicht einfach zu postulieren, da die »Vormacht der Totale, die zwar abstrakt ist, aber dem allgemeinen Begriff in einem gewissen Sinn sich auch entzieht, nur in der Erfahrung des Einzelnen und in der Deutung dieser Erfahrung des Einzelnen getroffen werden kann.« 56 Bezeichnend für das philosophische Verfahren, mit dem Gesellschaftskritik sich entwickeln läßt, ist der Begriff der Konstellation. Er ist zwar nach wie vor an Philoso phie, an eine »schwache Metaphysik« und einen Zeitkern der Wahrheit gebunden als Bedingung ihrer Möglichkeit. Der Begriff der Konstellation bezeichnet aber vorrangig die Einsicht des nicht-begrifflichen im Begriff. Dem Nichtidentischen an der Sache wie am Begriff soll zum Ausdruck verholfen werden. Die Negative Dialektik als Verfahren der Kritik arbeitet daher nicht als System, sondern in Modellen als »Verbindlichkeit ohne System«. Konstellationen, die sich als Begriffe um den Gegenstand versammeln, belichten das Spezifische des Gegenstandes, Gegenstandes, das dem klassifikatorischen Denken gleichgültig ist. Sie bestimmen potentiell deren Inneres. »Der Konstellation gewahr werden, in der eine Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordene in sich trägt.« 57 Die Gegenstände der Reflexion können dadurch in ihrer Vermittlung mit Subjektivität und Objektivität und nicht als hypostasierte erfaßt werden. »Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination.« 58 Der Widerspruch, Gegenstand der Kritik, liegt in der Sache. Dialektik ist bei Adorno damit keine Methode, sondern sie bezeichnet ein Verfahren der Kritik des »konstitutiven Bewußtseins selbst.« Die Substruktion eines Ersten gilt auch für die Negative Dialektik, die sich als Ideologiekritik noch gegen sich selbst wenden können muß: »Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet.« 59 Für den Totalitätsbegriff oder die Synthesis der widersprechenden widersprechenden Momente bedeutet dies, daß er unkritisch bleiben muß, solange er für selbstverständlich gehalten wird, solange automatisch gilt, daß einzelne Gegenstände in ihm repräsentiert sind. Gerade diese Repräsentation ist das, was ständig zu untersuchen ist. Die Möglichkeit eines realistischen Zugangs zur gesellschaftlichen Totalität von außerhalb, vom Standpunkt der gesellschaftlichen Synthesis aus, wird von Sohn-Rethel für selbstverständlich gehalten. Dabei zeichnet sich eine kritische Theorie, die diesen Namen verdient, gerade dadurch aus, daß sie sich an der Fragwürdigkeit dieser Totalität bildet. Allerdings zeigt sich die Differenz der Elemente der Totalität nicht postmodern-beliebig, sondern alleine im Vollzug der Synthesis. Nur durch den gedanklichen Vollzug der Synthesis läßt sich Dif56 57 58 59
Adorno, Diskussionsbeitrag zu Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in: GS 8, S. 587. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 165. Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 150.
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ferenz bestimmen. Das eine Mal subjektiv im Denken, das andere Mal - als Ergebnis am Objekt. Synthesis steht als leitender und oberster Akt des Denkens zur Kritik - und daß dies bereits bei Adorno der Fall war, wird von der Wertkritik systematisch übersehen. 60 Zu kritisieren ist, daß die Adornosche Kritik des Identitätsdenkens und der Identitätslogik auf jegliche Identität übertragen und damit verabsolutiert wird - mittels der Identifizierung von Identität und Wert. Eine ähnliche inhaltliche Verschiebung in der Wertkritik zeigt sich auch bezüglich der Synthesis. Steht sie bei Adorno zur Kritik, beanspruchen die Nachfolger, eine »um die Theorie der Synthesis« (der Gesellschaft) zentrierte Theorie zu besitzen. Synthesis ist allerdings tatsächlich nur noch der Moment der Gleichsetzung im Wert. Durch die hier verhandelte und kritisierte Wertkritik wird das Problem der Repräsentation des Besonderen im Allgemeinen zerschlagen, jegliches konstellative Denken ist mit ihr unmöglich. Die Metaphysik der Substanz wird in eine Metaphysik des Werts transformiert. Der Begriff des automatischen Subjekts für das Kapital ist nur erklärbar aus der notwendigen Abgrenzung Marx’ zu Hegel und Ricardo. Aus dieser polemischen Abgrenzung macht die Wertkritik ihren einzigen und zentralen theoretischen Bezugs punkt - und sieht nur noch überall das gleiche. Mit einer Theorie, für die Wert und Wertform identisch sind, läßt sich keine Theorie der Krise kapitalistischer Vergesellschaftung entwerfen. Das bedeutet keineswegs, die Kategorie der Totalität (der Gesellschaft) zu verabschieden. Es bedeutet aber, sich von der Vorstellung totaler Vergesellschaftung zu verabschieden die impliziert, daß die Synthesis der Gesellschaft sich alleine im Kapitalverhältnis herstelle. Das Komplettieren Adornos mit Hilfe der Wertkritik, d.h. mit der Setzung, daß alles objekt- und subjekthafte Ausdruck des Kapitalverhältnisses sei, ist theoretisch nicht haltbar, zumindest nicht unter dem alten Primat der Identität von Subjekt und Objekt, nämlich dem Kapital als »realem Subjekt-Objekt der Geschichte« oder »automatischem Subjekt«. Negative Dialektik als (Selbst-)Kritik alles Partikularen, das sich absolut setzt, ist Selbstbewußtsein des falschen Zustands, noch nicht seine Überwindung. Allerdings zeigt die Selbstreflexion des Denkens in der Negativen Dialektik, daß negativdialektisches Denken aus dem Immanenzzusammenhang des Immergleichen der Herrschaft in der Dialektik der Aufklärung hinauszuführen vermag. Die apokalyptische Rede vom »Ende des Gebrauchswerts« (Wolfgang Pohrt) oder der »totalen Vergesellschaftung« (Stefan Breuer) erinnert an die Weltuntergangspropheten, die etwas dumm dastehen, wenn das Jahr 2000 doch stattfindet. Weder die Gesellschaft verschwindet noch ihre Kritik. »Soll Soziologie (...) etwas von dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzipiert ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht selber dem universalen Fetischcharakter erliegen, das Ihre, sei’s noch so Bescheidene, beizutragen, daß der Bann sich löse.« 61 Dazu gehört für die heutige kritische Theorie zuerst, sich von dem Trug zu lösen, »Alles sei eins« (Adorno). Daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse heute eines seien und man deshalb umstandslos die Gesellschaft von den Produktivkräften her konstruieren kann, ist gewiß »gesellschaftlich notwendiger Schein.« 62 Dies gilt allerdings auch für das Gegenteil, die Wert-Theologie. Sie affirmiert die scheinbare Alternativlosigkeit des Kapitalismus. Mit den Mitteln der imma60 61 62
Ebenda, S. 158. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, a.a.O., S. 370. Ebenda, S. 369.
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nenten, konstellativ verfahrenden Kritik am Schein des gesellschaftlichen Gesamtsub jekts Kapital festzuhalten und diese Kritik zu radikalisieren, ist um so notwendiger. Adornos antiteleologische Negative Dialektik, die sich »in einer letzten Bewegung noch gegen sich selbst« kehrt, ist dafür ein geeigneter Stützpunkt. Die konstellativ verfahrende »Methodologie der kritischen Theorie mit ausgespartem Zentrum« (Rolf Johannes) ist gegen die „wertkritische“ Nivellierung zu verteidigen, die in der unkritischen Fusion von Marx und Adorno den einen um die reflektierte Wertformanalyse, den anderen um den ideologie- und selbstkritischen Gehalt seiner Erkenntnistheorie bringt. Wertkritik in der Postmoderne Adorno selbst weist an verschiedenen Stellen darauf hin, daß die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik nicht vorrangig davon abhänge, daß die Totalität der Gesellschaft erfaßt werde. Im Gegenteil, nur die Erfahrung und kritische Durchdringung des Einzelnen kann die Perspektive der Kritik offenhalten. Die Kritik der Totalität ist nicht unmittelbar oder gar kategorial zu haben: Für eine Kritische Theorie der Gesellschaft ist es unabdingbar, den »schwersten Nachdruck« auf das Konkrete und Einzelne zu legen, da die »Vormacht der Totale, die zwar abstrakt ist, aber dem allgemeinen Begriff in einem gewissen Sinn sich auch entzieht, nur in der Erfahrung des Einzelnen und in der Deutung dieser Erfahrung des Einzelnen getroffen werden kann.« 63 Konstellativ verfahrende Kritik bezeichnet die Einsicht des nicht-begrifflichen im Begriff. »Der Konstellation gewahr werden, in der eine Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordene in sich trägt.« 64 Die »Substruktion eines Ersten« gilt daher auch für die Negative Dialektik , die sich als Ideologiekritik noch gegen sich selbst wenden muß: »Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet.« 65 Insbesondere Frederic Jameson hat es verstanden, dieses Verfahren Kritischer Theorie umzusetzen: Die Gesamtstruktur einer Konstellation bedeutet nach ihm eine »bewegliche und ständig wechselnde Reihe von Elementen«, die durch ihre wechselseitigen Beziehungen und weniger durch ihren substantiellen Gehalt bestimmt wird. »Das bedeutet, daß es in einer Konstellation keine ‘grundlegenden’ Eigenschaften gibt, keine Zentren, keine ‚Determination letzter Instanz‘, keine endgültigen Resultate.« 66 Für die Synthesis der widersprechenden Momente, für die theoretische Konstruktion der Totalität gilt daher, daß die Repräsentation des Allgemeinen im Besonderen das Fragliche ist, genau das, was nicht apriori vorausgesetzt werden kann, sondern das, was kritisch zu untersuchen und zu dekonstruieren ist. Eine Kritische Theorie zeichnet sich dadurch als solche aus, daß sie sich an der Fragwürdigkeit der Totalität bildet. Nur so ist die Selbstreflexion des Denkens möglich. Allerdings läßt sich nur durch den gedanklichen Vollzug der Synthesis qualitative Differenz bestimmen. Das eine Mal subjektiv im Denken, das andere Mal - als Ergebnis - am Objekt.
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Adorno, Diskussionsbeitrag zu Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in: ders., GS 8, Darmstadt 1997, S. 587. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 165. Ebenda, S. 150. Jameson, Frederic: Spätkapitalismus. Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, Hamburg 1991, S. 299.
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Daß die Synthesis der Gesellschaft sich alleine im Kapitalverhältnis herstelle, im gesellschaftlichen Moment der Identifizierung von Wert und Wertform, letztlich begründet durch die Kategorie der abstrakten Arbeit, ist jedenfalls gesellschaftlich notwendiger Schein. Diesen zu dekonstruieren, ist Aufgabe der Kritik der post-postmodernen politischen Ökonomie.
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Roger Behrens
Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion Zur Dialektik materialistischer Pop- und Subkulturkritik 1 I. Mit der Veränderung der Produktionsverhältnisse und der durch sie freigesetzten Produktivkraftentwicklung veränderten sich auch die menschlichen Lebensweisen, die sich in der Sphäre manifestieren, die die bürgerliche Gesellschaft als Kultur bezeichnet. Die bürgerliche Theorie hat versucht, diese Veränderungen mit Begriffen der Ästhetik zu fassen beziehungsweise die philosophische Ästhetik selbst als Resultat dieser Veränderungen darzustellen. Die ungeheure Ausdehnung der Arbeit machte es notwendig, einen sozialen Bereich zu umgrenzen, der ausschließlich dem Genuß vorbehalten ist. Die materialistische Theorie der Gesellschaft hat dies mit dem Verhältnis von ökonomischer Basis und Überbau ausgedrückt, nicht ohne schon von Anbeginn an einen Widerspruch zu konstatieren: die Entwicklung des Überbaus stimmt keineswegs unbedingt mit der Entwicklung der materiellen Grundlage überein: die kapitalistische Ordnung war zunächst dadurch geprägt, daß der Überbau kaum mit der ökonomischen Produktivkraftentwicklung schritthalten konnte. Die Ungleichzeitigkeit zwischen Kultur und Ökonomie fand nicht nur ihren Ausdruck in der Ideologie, wonach die Reinheit der bürgerlichen Kultur das Reich der Freiheit jenseits der materiellen Praxis bewahrte, sondern ebenso sachlich: Die industrielle Revolution sollte überall stattfinden, nur nicht in den heiligen Hallen der Kultur; noch heute werden Künstler, die sich fabrikmäßiger Formen bedienen, kaum akzeptiert, solange sie nicht im entscheidenden Moment die Grenzen der kulturellen Sphäre akzeptieren, die hier Konzertsaal, dort Museum, immer aber ein festes Reglement symbolischer Formen bedeuten (das gilt für die Massenliteratur Alexander Dumas', für die Orchestermusik Hector Berlioz'; das gilt auch für Marcel Duchamp, Andy Warhol, John Cage, Nan Goldin oder Frank Zappa und so weiter). Eine entscheidende Änderung trat zum Ende des letzten Jahrhunderts ein, als eine gewissermaßen zweite Kultur errichtet wurde, die sich auch als Reich der Freiheit ideologisch anmeldete, aber nicht mehr war als ein Reich der Freizeit, der materiellen Praxis nicht entgegengesetzt, sondern diese bloß als Reproduktionssphäre verlängernd. - Es trat eine Massenkultur hervor, die die Ansprüche der bürgerlichen Kultur auf Genuß, Autonomie, Schönheit und dergleichen ü bernahm, ohne diese einzulösen. Die bürgerliche Ideologie Ästhetik des Scheins verwandelte sich in den ideologischen Schein der Ästhetisierung. Heute wird nicht selten Kultur insgesamt als Popkultur vorgestellt; so begrifflich unspezifisch dies Etikett bleibt, so gering scheinen die Unterschiede zu den Grundprinzi pen der bürgerlichen Kulturentwicklung. Pop ist nur der gemeinsame Nenner einer Kultur, die längst ihren Begriff verloren hat: sie bezeichnet jene Massenkultur, die aus der individualistischen Kultur des 19. Jahrhunderts und den anonymen Arbeitskollektiven des fortgeschrittenen Kapitalismus zusammengewachsen ist. Während die bürgerliche 1
Dem Text ging ein - inhaltlich anders gelagerter - Vortrag zum selben Thema im Rahmen der Veranstaltungsreihe zu Poststrukturalismus und Kritische Theorie voraus.
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Kultur sich vollends auf ihr individualistisches Leitmotiv, die Versenkung ins Kunstwerk, zurückzog und das Subjekt verklärte, nutzte die Massenkultur eben jene romantischen Ausdrucksformen, die sich vortrefflich mit einer industriell organisierten Kultur produktion verbinden ließen. Die neuen Produktionsweisen drängten verspätet in die um den Alltag erweiterte kulturelle Sphäre, ohne aber die alten Formen abzustreifen; vielmehr versteckten sich Stahl und Beton, Photographie und Elektrizität, Grammophon und Fabrikware im Gewand der bürgerlichen Behaglichkeit, wurden romantisch mit Pflanzenornamenten umspielt oder in Samtetuis wie ein geheimnisvoller Kristall verhüllt. Um diese Zeit entstehen die Fabrikhallen bürgerlicher Kultur, auch die music halls und Riesenorchester. Die technische Reproduzierbarkeit der Kunst machte es möglich, Kunst aus ihrem Funktionszusammenhang zu lösen: eine Entwicklung, die sich gleichzeitig aus der zunehmenden Entfremdung zwischen Publikum und Kunst fast zwangsläufig ergab; die in der Sinfoniemusik und Oper entwickelten Formen von Melodie, Einfall, Leitmotiv und dergleichen konnten ohne weiteres für Zwecke des Schlagers oder der Filmmusik nutzbar gemacht werden. Es galt, diese merkwürdige Mischform aus Hochkultur und Freizeit zu vermitteln und in der Vermittlung ihren Gebrauch und ihre Funktion neu zu definieren. Welche Übersetzungsleistungen sind notwendig, um eine Oper, die scheinbar auf Bühne und Konzertsaal angewiesen ist, als Tonträger- oder Rundfunk-Aufzeichnung privat genießen zu können? Welche Übersetzungsleistungen sind notwendig, um eine afrikanische Tanzmaske, die rituellen Zwecken diente, als Kunstobjekt in europäischen Museen zu präsentieren? Offenbar wenige; die - wie Walter Benjamin feststellte - Reproduktionstechnik löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition heraus. Dies tangiert nicht nur das Produkt, sondern auch die Haltung von Emotionen, Rezeption und Konsum gegenüber den Kulturwaren: so ist in der Popmusik längst die geographische wie historische Codierung des Materials in der sinnlichen Präsenz des Hier und Jetzt verschwunden und es macht keinen funktionalen und emotionalen Unterschied, einen gregorianischen Choral, eine barocke Messe, indische Bhangramusik oder Hip Hop zu hören. Zwischen der öffentlichen Massenrezeption von Kultur, der regungslosen Kollektivrezeption im Konzertsaal, und dem privaten Individualkonsum, dem Hören eines Konzertes als Hintergrundmusik, während man irgendwelchen anderen Tätigkeiten konzentriert nachgeht, gibt es keinen Widerspruch, der das soziale Gefüge bedrohen würde. Der Widerspruch zwischen Individuum und Masse hat kulturell eher dazu geführt, das soziale Gefüge zusammenzuhalten. Es sind dafür genauso wenig Übersetzungsleistungen notwendig, wie bei dem Komponieren einer Großsinfonie in den sommerlichen Alpen, die dann in New York vor einem urbanen Massenpublikum aufgeführt wird. Seit dieser Allianz zwischen Freizeit, bürgerlicher Kultur und Unterhaltung fürchtet das Bürgertum, daß die emanzipatorischen Utopien, die es in eben dieser Kultur aufbewahrt, freigesetzt werden könnten; es fürchtet eine Gefahr, die von unkontrollierbaren Räumen kultureller Rezeption ausgehen könnte, oder von nicht gewollten Mischformen. Hier hat die Trennung von highbrow and lowbrow ihren Ort, überhaupt die Unterscheidung von hoher und niederer Kultur, E und U. Die Gefahr, die gefürchtet wurde, war stets diesel be, ob Jazzkeller oder Kunstsalon, ob dodekaphonische Kammermusik oder DadaBewegung, ob die unverstandene Neue Musik oder die unverstandene Jugend von Rock & Roll bis Punk: man glaubte, aus der Kultur könnte jene emanzipatorische Gewalt los brechen, die das Ideal der Humanität verwirklicht, welches vom Bürgertum selbst in ihr affirmatives Reich der Kultur verbannt wurde.
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Die Popkultur modelte diese vermeintliche Gefahr zu ihrem Programm. Sowohl in ihrer modernen Variante einer politischen Gegenkultur wie in ihrer postmodernen Variante als Praxis von angeblicher Lebenskunst verkehrt sich das Ideal einer Gefahr zum Subversionspotential. Scheinbar gelingt es der Kulturindustrie periodisch, diese Gefahr durch ökonomische Vereinnahmungen zu bändigen; tatsächlich ist es aber eine hegemoniale Option der Kulturindustrie, die solche rebellischen Motive längst zu ihrem inneren Prinzip erklärt. Marcuse sprach treffend von der repressiven Toleranz und die Werbung bestätigt, wie leicht ein Avantgardekonzept in marktstrategische Trendsettings überführt werden kann. Von manchen wird dies mit Bezug auf Pierre Bourdieu und Michel Foucault als ein Verschieben von Machtdispositiven beziehungsweise symbolischen Kapital im sogenannten kulturellen Feld verstanden. Das subversive Gegenmodell bleibt durch solche theoretischen Annahmen allerdings beschränkt auf Dekontextualisierungen und Repräsentationen von Macht; die strukturellen sozialen Bedingungen rutschen durch diese Erklärungsmuster hindurch. Denn anfänglich hatte das System kultureller Codes an der Bändigung dieser Gefahr nur einen geringen Anteil. Die Wirksamkeit von kulturellem Kapital ist erst in einer eindimensionalen Gesellschaft möglich (und notwendig) geworden, die alle Kulturwaren demokratisch gleichgestellt; und die Demokratisierung der Kultur besteht nicht darin, daß alle gleichen Zugang zu den gleichen Produkten haben, sondern daß die Kulturwaren auf der Ebene des symbolischen Tauschs verwertbar geworden sind. Solange sich in den einzelnen kulturellen Schichten von U nach E allerdings noch die Charakteristik der Klassengesellschaft bemerkbar machte, geschah die Unterdrückung vermeintlicher emanzipatorischer Potentiale oder unkontrollierbarer Ausdrucksformen durchs offene Verbot, durch physischen Zwang. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben in der Dialektik der Aufklärung (1944/47) diese Entwicklung mit dem Begriff der Kulturindustrie beschrieben. Angedeutet ist mit dem Wort Kulturindustrie die zunehmende Verflechtung von kulturellem Überbau und ökonomischer Basis im Laufe der bürgerlichen Epoche. Industrie meint, so Adorno 1963 in seinem Resümée über Kulturindustrie, die Standardisierung der Kulturwaren. Das ökonomische Modell, das den Untersuchungen Adornos und Horkheimers voransteht, ist das eines stabilen, krisensicheren Monopolkapitalismus. Gemeinsamkeiten zu Überlegungen, die entweder - inspiriert von Gilles Deleuze - von der Kontrollgesellschaft sowie vom Differenzkapitalismus sprechen, womit gleichsam die fundamentale Stabilität des kapitalistischen Systems konzediert wird, oder die im Sinne von Joachim Hirsch und anderen von einem postfordistischen Regulationsmodell ausgehen, bestehen nur oberflächlich. Verschiedentlich wurde in letzter Zeit auf die Schwierigkeiten in Adornos und Horkheimers Kapitalismuskritik hingewiesen; Adornos und Horkheimers ökonomiekritische Prämissen erweisen sich zwar als problematisch, doch geht es ihnen keineswegs um eine ökonomistische Reduktion, nach der die Popkultur respektive Kulturindustrie als Ausverkauf, Profitmacherei oder Vermarktung ehrlicher, (sub)kultureller Interessen bemäkelt wird. Nicht die Kapitalkonzentration und Konzernverflechtungen sind das Problem an der Kulturindustrie. In dem Grundsatz der Kulturindustrie, wonach alle Kultur zur Ware wird, monieren dem entgegen Adorno und Horkheimer weniger die ökonomische Distribution der Kulturwaren - als wenn ein geschenkter Beethoven besser wäre als ein gekaufter -, sondern den Fetischcharakter, den die Kultur als Ware annimmt. »Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, daß sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, daß man sie nicht mehr gebrauchen kann. Daher verschmilzt sie mit der Reklame.
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Je sinnloser diese unterm Monopol scheint, um so allmächtiger wird sie. Die Motive sind ökonomisch genug. Zu gewiß könnte man ohne die ganze Kulturindustrie leben, zu viel Übersättigung und Apathie muß sie unter den Konsumenten erzeugen; aus sich selbst vermag sie wenig dagegen. Reklame ist ihr Lebenselexier.« (Dialektik der Aufklärung) Obgleich im Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung von Magazinen, Radio und dergleichen die Rede ist, konzentriert sich die Kritik hauptsächlich auf die Musik. Nicht umsonst wollte Adorno seine Philosophie der neuen Musik als Exkurs zur Dialektik der Aufklärung verstanden wissen. Vor allem spricht für einen engen Gegenstandsbezug der Kulturindustriethese zur Musik, daß mitnichten Adorno und Horkheimer diesen Begriff allein gebrauchten, sondern der Komponist Hanns Eisler ebenso. 2 Adornos und Eislers Gemeinschaftsarbeit Komposition für den Film erscheint sogar als konkrete Auseinandersetzung mit der Kulturindustrie – neben Adornos Untersuchungen über das Radio ( Radio Research Project ). Sofern es nun um Musik zu tun ist, ergeben sich meist einige Probleme, die sich nicht in der Schärfe ergeben, wenn man etwa über Waschmittel oder Astrologie spricht, auch wenn ja die zentrale Behauptung der Kulturindustriethese besagt, daß eben die Kultur auf das Niveau von Waschmittel und Aberglaube reduziert wird. Wenige fühlen sich persönlich angegriffen, wenn man ihnen ihre Waschmittelmarke streitig macht; anders sieht das beim Urteil über die Musik aus, die man bei Bekannten im Plattenregal entdeckt. Ich greife dies als Rezeptionsproblem des vermeintlich kritischen Hörers auf. Ich möchte vorausschicken, daß es weder um die Diffamierung eines subjektivemotionalen Bezugs zu irgendeiner Musik geht, noch um ein Verdikt, das über diese oder jene Musik verhängt werden soll. Es geht gleichwohl gegen eine bestimmte, im Popdiskurs verbreitete Anmaßung, das theoretisch meist bodenlose und der Subjektivität verpflichtete Geschacksurteil, oder die von der Industrie eingeforderte Produktwer bung als objektivistisches Urteil über eine Musik eventuell sogar als politisch hochbedeutsam beizubiegen, was in den meisten Fällen musikalisch mir so problematisch scheint wie im übrigen auch politisch Kulturindustriekritik wäre ebenso wie ihre Aktualität im Spiegel der Popkultur mit einer modifizierten Lesart der Kulturindustrietheorie zu begründen. Vor allem Komposition für den Film spricht dafür, daß mit dem Kulturindustriebegriff keine monolithische Theorie sozialer Aporie und Hermetik gedeckt werden sollte. Vielmehr finden sich Hinweise auf die Annahme einer gewissen Dynamik der Kulturindustrie – es sollten »auch die positiven Aspekte der Massenkultur zur Sprache kommen«, hieß es 1944. 3 Der Abschnitt über Kulturindustrie ist »mehr noch als die anderen (…) fragmentarisch.« 4
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Vgl. Eisler, Gesellschaftliche Grundfragen der modernen Musik, in: ders., Materialen zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1976, S. 171ff. Zit.n. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1988, S. 360. Dieser Satz ist in der Buchausgabe der Dialektik der Aufklärung gestrichen. Vgl. Adorno, Th. W; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, hg. von Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Ffm. 1997, S. 17.
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II. In seinem Kunstwerk-Aufsatz hat Walter Benjamin aus der These, daß die technische Reproduktion ein Herauslösen der Kunst aus dem Zusammenhang der Tradition ermögliche, gefolgert, daß damit die Kunst sich gleichsam vom »parasitären Dasein am Ritual« emanzipiere. »An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual ist ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten: nämlich ihre Fundierung auf Politik.« Während Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung die zunehmende Verflechtung von Kultur und Ökonomie beschreiben, geht es Benjamin um das Ineinandergreifen von Kultur und Politik. Beiden Ansätzen ist die materialistische Ausrichtung auf eine zunehmende Konzentration der gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam. Der Befund dieser Konzentration deckt sich mit der kritischen Theorie einer konkreten Totalität des gesellschaftlichen Seins. Dem steht nicht nur die bürgerlich-soziologische Annahme entgegen, bei Politik, Wirtschaft und Kultur handle es sich um getrennte, eigenständige Sphären der Gesellschaft, sondern ebenso die postmoderne Vermutung, in solchen Totalitätsannahmen verstecke sich selbst totalitärer Logozentrismus. Die kritische Theorie begründet solches Systemdenken mit ihrem emanzipatorischen Anspruch auf eine gesamte, grundlegende Umwälzung der Gesellschaft. Während Benjamin noch auf eine linke Massen bewegung hoffen konnte, die mit einer Politisierung der Kunst einer Ästhetisierung der Politik (= Ritualisierung) entgegensteuert, sahen Adorno und Horkheimer in der Massenkultur, in der eine politische Emanzipation durchaus angelegt war, eine Aufklärung als Massenbetrug, also ein weiteres Moment der Dialektik der Aufklärung, ein weiteres Umschlagen von Rationalität in den Mythos beziehungsweise ins Ritual. Im gegenwärtigen - postmodern operierenden - Popdiskurs werden diese Momente der Kritik nicht aufgegriffen. Die Popkultur ist die kulturindustrielle Rückeroberung des rituellen Charakters von Kunst; sie verbindet in einer Mischung von Individualisierung und kollektivem Konsum die technologisch fortgeschrittenen künstlerischen Medien mit einer regressiven Form des Rituals: das bürgerliche Ideal des Künstlers als Genie und der Anspruch einer Autonomie der Kunst lebt fort im Star und der Esoterik popkultureller Moden. Der PopProduzent tritt innerhalb des kulturindustriellen Verwertungszusammenhangs als Handwerker hervor und reproduziert die rückwärtsgewandte Utopie feudal-ökonomischer Prägung - Elvis Presley, King of Rock & Roll; Tina Tuner, die Disco Queen; Märchenstoff und romantische Traumwelt durchwachsen thematisch die ansonsten sachlich gehaltenen Ausdrucksformen der Popmusik. Gegen Vereinseitigung der technischen Aspekte heißt es, daß von den "Interessenten" die Kulturindustrie deshalb technologisch gerechtfertigt wird, weil in den technischen Notwendigkeiten der Massenbelieferung der Menschen mit Kultur scheinbar ein demokratische Potential neuerer technologischer Verfahren steckt. Was damals bejahend und verteidigend über Radio und Film gesagt wurde, vergleiche man einmal mit dem, wie heute bis weit in die selbst fortschritts-sensibilisierte Linke herein neueste Computertechniken - das Internet - mit einer quasi selbstmächtigen Ideologie der Informationszugänglichkeit gepriesen werden. Auch in der Beurteilung der Popmusik - sei es einzelner Exponate, sei es Tendenzen, die ganze Richtungen markieren sollen - wird auf Hervorhebung technologischer Eigenarten zurückgegriffen: Sampling, DJ-Culture, Verfahren, die auch einem musikalischen Laienpublikum Zugang zur kulturellen Produktion ermöglichen sollen. Allein vom technischen Stand der Gesellschaft ist noch
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nichts über ihren Strukturzusammenhang ableitbar. Nicht darf verheimlicht werden, wer über die Technologie verfügt und in wessen Dienst sie genommen ist. Doch solche Technik wird kaum noch in Frage gestellt; defensiv beurteilt man die Resultate und schiebt die Beurteilung solange hin und her, bis sie sich mit dem getroffenen Emotionen decken, mit dem Gefühl, auf das sich in letzter Instanz gerne berufen wird, daß und weshalb über Musik sowieso nicht geredet werden könne. Massenkultur sei, so sagte einmal Leo Löwenthal, Psychoanalyse verkehrt herum. Die Frage, wie in der Massenkultur Bedürfnis, Gefühl und Befriedigung gelöst werden, hat den Begriff der Kulturindustrie gegen andere Varianten zur Bezeichnung derselben Sache begründet: gegen Löwenthal - der eben von Massenkultur sprach (sich auf die bürgerliche Literaturgeschichte beziehend) - wollte Adorno Deutungen ausschließen, »daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. 5 Auch "Traumfabrik", wovon etwa Ernst Bloch sprach, faßt das Phänomen nicht präzise: Die Vorstellung populärer Sozialpsychologen, der Film sei eine Traumfabrik und das happy end eine Wunscherfüllung, greift zu kurz. »Das Ladenmädchen identifiziert sich nicht unmittelbar mit dem als Privatsekretärin kostümierten glamour girl, das den Chef heiratet. Aber im Angesicht jenes Glücks, von seiner Möglichkeit überwältigt, wagt es sich einzugestehen, was einzugestehen sonst die gesamte Einrichtung des Lebens verwehrt: daß es am Glück keinen Teil hat«, schreibt Adorno in seinen Musikalischen Warenanalysen. 6 Die Kulturindustrie reduziert die Reaktionsweisen der Menschen auf Reizschemen, auf Stereotypen und Klischees: »Auf den Trick, einmal ziehe ein jeder das große Los, fallen längst die Dümmsten nicht mehr herein. In der temporären Freigabe der Ahnung, daß man sein Leben versäumte, besteht das Recht des Kitsches. Es erweist sich vorab an der Musik. Die meisten hören emotional: alles in Kategorien der Spätromantik und der von dieser derivierten Waren, die schon aufs emotionale Hören zugeschnitten sind.« 7 Gleichwohl haben Eisler und Adorno einige Analysen darauf verwandt, die psychologischen Muster von Filmmusik im positiven oder sachlichen Sinne herauszuarbeiten: wie etwa das Sehen vom Hören psychologisch und phänomenologisch zu unterscheiden wäre und sich Filmmusik überhaupt begründet, war eine Frage. Der Schock, daß das Leben versäumt wurde, bricht sich emotional stets mit der Beruhigung, daß trotz Versäumnis alles seinen rechten Gang nimmt. »Die Ersatzbefriedigung, die die Kulturindustrie den Massen bereitet, indem sie das Wohlgefühl erweckt, die Welt sei in eben der Ordnung, die sie ihnen suggerieren will, betrügt sie um das Glück, das sie ihnen vorschwindelt.« 8 Die materialistische Kritik an der Popkulturindustrie hat keineswegs im Sinn, den Massenkonsumenten die Unterhaltung zu mißgönnen. Die Feststellung, daß in modernen massenkulturellen Tanzformen Bewegungsabläufe wiederholt werden, die sich von denen der kapitalistischen Arbeit nicht unterscheiden, spricht kein kulturpessimistisches Verdikt über solche somatischen Impulse, sondern hinterfragt das Versprechen des Glücks, um das die Tanzenden betrogen werden. Genau dies bestimmt dialektisch die Kritik des Fetischzusammenhangs der Warengesellschaft, der kulturindustriell in die Popkultur sich verlängert: im Zentrum einer materialistischen Kritik der Popkulturindustrie und ihrer subkulturellen Unterwanderungsstrategien steht die konkrete Ideologie, daß die Gesellschaft in all ihren Grundzügen als natürlich und menschlich aner5 6 7 8
Adorno, Resümée über Kulturindustrie, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 10.1., S. 337. Adorno, Musikalische Warenanalysen, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 16, a.a.O., S. 295. Ebenda. Adorno, Resümée über Kulturindustrie, a.a.O., S. 345.
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kannt wird. Wenn Adorno und Horkheimer vom Massenbetrug sprechen, dann ist der Betrug um das Glück gemeint, kein Schacher um die Kunst, kein sell-out oder Kuhhandel. Die theoretisch-philosophischen Grundlagen der kritischen Theorie, wie sie von Max Horkheimer im Forschungszusammenhang des (Frankfurter) Instituts für Sozialforschung projektiert wurden, decken sich mit dem Konstruktionsaufbau der Kulturindustrietheorie. Ausgangspunkt war - als Basisgerüst - die Kritik der politischen Ökonomie von Marx; sie sollte erweitert werden um Elemente der Kantischen Erkenntnistheorie, um eine materialistisch gedeutete Hegelsche Geschichtsphilosophie und um die Psychoanalyse Freunds. Die Theorie der Kulturindustrie umfaßt damit technologischtechnische, sozialpsychologische, ästhetische und ökonomisch-ideologische Aspekte. Sie sind keineswegs zu vereinseitigen und meinen für sich noch nicht die Erklärung des Gesamtzusammenhangs. Mit Bezug auf Subkulturtheorien ist Ende der siebziger Jahre, in den achtziger Jahren und schließlich heute eine postmodern-dekonstruktive Variante verteidigt worden, daß innerhalb des popkulturindustriellen Gesamtgefüges sehr wohl Strategien der Subversion und der Dissidenz, also Opposition und Widerstand möglich sind. Anders als in dem ästhetischen Ansatz der kritischen Theorie der Gesellschaft zielt dies jedoch nicht mehr auf eine materialistische Bestimmung des Materials, also den erkenntnistheoretischen Wahrheitsanspruch von Kunstwerken, sondern auf eine soziale und technologische Charakteristik von Kultur. Redlich erscheint zunächst der Anspruch von am Poststrukturalismus und an der Dekonstruktion geschulten Autoren wie Günther Jacob, Diedrich Diederichsen, Christoph Gurk, Jutta Koether, Mark Terkessidis und Tom Holert, die in den letzten Jahren durch entsprechende Publikationen auf sich aufmerksam gemacht haben, durch das »Vermeiden von Kollektivformeln möglichst konkret über Individuen zu reden« (Jacob), um so in der Reflexion auf die eigene kulturelle Praxis Widerstandsmomente deutlich zu machen, die Diederichsen mit Strategien der Über- oder Scheinaffirmation benennt, und die nichts anderes meinen als den subjektivistischen Reflex, der in der Frage mündet: »Wer repräsentiert was unter welchen Bedingungen?« (Gurk) Daß die im Popdiskurs geäußerten Positionen allerdings mitunter in heftigsten persönlichen Denunziationen münden und in einschlägigen Zeitschriften dann in polemischen Streitereien zur Belustigung der Leserschaft ausgetragen werden, deutet kaum auf die Kraft des besseren Arguments. Emanzipationsansprüche werden bloß noch für den eigenen Lebensstil geltend gemacht und dienen zum Beweis korrekter politischer Haltung. Eine gewisse Beliebtheit hat in diesem Spiel der Scheingefechte mittlerweile erreicht, sich jeweils nachzuweisen, daß der gelebte Hedonismus lediglich der Sicherung eigener ökonomischer Interessen dient. Obwohl soviel Wert auf die textuelle Repräsentation und die Selbstverortung im Popdiskurs gelegt wird, fiel es merkwürdigerweise niemandem bisher auf, daß kaum ein Unterschied zum inszenierten Talk-Show-Brimborium besteht. Gleich, ob das Ende vom »Subversionsmodell Pop« (Jacob und andere) proklamiert wird, oder der »Mainstream der Minderheiten« (Holert und Terkessidis) - die Analysen werden zu Formeln einer postmodernen Beliebigkeit, weil die jeweiligen theoretischen Prämissen gar keinen Standpunkt mehr zulassen, der etwa in produktiver Weise in linker Kulturpolitik mündete. Nicht selten hat man sich darauf eingelassen, den Kritikbegriff soweit zu modifizieren, daß es möglich wurde, schon im Bestehenden, innerhalb der Kulturindustrie, befreite Gebiete dingfest machen zu können. Der Gedanke der Emanzipation, und insofern ist Gurks Formulierung vom »Pop als Medium« - also Vermittelndem - »der
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Befreiung« aufzugreifen, ist für die kritische Theorie aus gutem Grund maßgeblich in der Kunst aufbewahrt, nämlich in ihrer Fähigkeit, die Utopie einer freien Gesellschaft vorscheinen zu lassen, ohne sich blind mit der Befreiung zu identifizieren. Zwar ist von der Poplinken viel von Subversion, Unvereinnahmbarkeit, Widerständigem und dergleichen zu lesen, doch fehlen die Kategorien, die für den Kunstbegriff der kritischen Theorie so wichtig sind: Glück, Utopie, Freiheit und so weiter. Sie fehlen notwendig, da der Begründungsrahmen kritischer Theorie, nämlich die Totalität des Systems, die Dialektik von Wesen und Erscheinung, die Einheit des Subjekts und dergleichen blindlings als Gewalt eines Logozentrismus verworfen wurde. Ist jetzt noch mit kritischer Absicht von ökonomischer, rassistischer oder geschlechtlicher Unterdrückung die Rede, so in der kurzen Reichweite, die in dem Denken der Welt als Text angelegt ist: alles reale Leiden wird zum Moment von Konstruktionen. Letzte Konkretion bleibt ein subjektiver Erlebnisraum. Die Kulturindustriethese ist nicht nur theoretisch zur Dancefloorversion verkürzt, sondern Kulturindustrie selbst erscheint mittlerweile nur noch als Tanzboden einer neuen Innerlichkeit. Folglich realisiert sich ein Subversionsanspruch auch nicht anders, als in Strategien regressiven kulturellen Ausdrucksformen lediglich eine andere Form von Repräsentation zu geben. Subversion wird zum binären Entweder/Oder, Widerstand zur Einschätzungssache. Schwierig ist es, in einem solchen Rezeptionsklima den Gehalt der Kulturindustriethese wiederzuerkennen: wo einmal die Theorie zur Ästhetik gemodelt wurde, von der man gleichzeitig theoretisch nicht soviel wissen möchte, gerät die Kritik der Warenlogik, nach der Kultur heute funktioniert, in den Hintergrund – und reproduziert damit selbst ein Moment des Fetischismus, die Verhältnisse als naturgegeben anzuerkennen. Kulturindustriekritik verkürzt sich auf das unmittelbare Erlebnis, sie kehrt als Dancefloorversion wieder, als Remix einer neuen Innnerlichkeit, die sich ohnmächtig der Gesellschaft gegenübersieht. Nötig wäre es, gegenüber der Kultur insgesamt eine offensive Position zurückzugewinnen. Es macht keinen Sinn, der Krise der Gesellschaft kulturell auszuweichen – so emotional man sich auch immer einzelner Popmusik verbunden fühlen mag: sie bleibt selbst Ausdruck von der Krise bürgerlicher Musik, von der Krise der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Deswegen ist die Frage verfehlt, etwa am Technischen festgemacht, wo Fortschritt in der Popmusik ist; vielmehr hätte eine kritische Theorie der Popmusik die regressiven Tendenzen freizulegen, samt ihren Spannungen. Das wäre dann auch eine neue Sachlichkeit der Kulturkritik, wie auch der Subkulturkritik.
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Andreas Benl
Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht Guy Debord und die Situationistische Internationale Mehrere Anläufe und über drei Jahrzehnte hat es gebraucht, bis die Geschichte und Theorie der „Situationistischen Internationale“ (S.I.) in der bundesdeutschen Linken ein Echo gefunden haben, das über kleine Zirkel von Eingeweihten hinausging. Für eine Universitätskarriere war die situationistische Theorie zu antiakademisch. Auf der Ebene der politischen Praxis zeigte sich die westdeutsche Linke in ihrer Ohnmacht desinteressiert an den Experimenten einer Gruppe, die keine der zahlreichen linken Ikonen anerkannte, die Revolution neu erfinden wollte und jede populistische Verwässerung ihrer Kritik zurückwies. »Freizeit ist das wirklich revolutionäre Problem« Die Vorgeschichte der Situationistischen Internationalen beginnt 1946, als der rumänisch-jüdische Emigrant Isidore Isou in Paris die Bewegung des Lettrismus ins Leben rief. Die Lettristen schufen eine Art postdadaistische Buchstabenpoesie und wurden vor allem durch ihre Beschimpfungen der zeitgenössischen Koriphäen aus Philosophie, Literatur und Kunst bekannt. Ihre provokanten Aktionen waren ein Kontrapunkt in der Nachkriegsstimmung des eifrigen Wiederaufbaus, aber sie erreichten kaum die subversiven Qualitäten der dadaistischen und surrealistischen Experimente der zwanziger Jahre. 1952 gründeten Guy Debord und einige andere inzwischen zu den Lettristen gestoßene Personen eine Parallelorganisation zu Isous Bewegung, die „Lettristische Internationale“ (L.I.), die sich zum Ziel setzte, über den kunstimmanenten Rahmen der lettristischen Revolte hinauszugehen. Die L.I.-Mitglieder und späteren Situationisten wollten aber auch nicht, wie so viele Surrealisten, den Weg der parteipolitischen Organisierung in der KP oder einer anderen bolschewistischen Organisation gehen. Der sozialdemokratischen und leninistischen Konzeption von „sozialer Gerechtigkeit“ als bloßer Umverteilung setzten Sie die systemsprengende Kraft von Bedürfnissen entgegen, die warenförmig nicht zu befriedigen seien. Der „Potlatch“, ein altindianischer Kult der Verschwendung (nach dem die L.I. ihre Zeitschrift benannte) tauche als Möglichkeit in den Industrieländern in Ost und West wieder auf. Allerdings nur dann, wenn sich die Menschen nicht mit einer rein quantitativen Ausweitung der Konsumtionsmöglichkeiten und einer Erweiterung der homogenen und leeren Freizeit zufrieden gäben. »Freizeit ist das wirklich revolutionäre Problem« war 1954 in der siebten Nummer des „Potlatch“ zu lesen, »Die ökonomischen Verbote und ihre moralischen Folgen werden ohnehin in Kürze vollständig zerstört und beseitigt sein. Die Organisation der Freizeit - die Organisation der Freiheit einer Masse, die in einem etwas geringeren Ausmaß zu geregelter Arbeit genötigt wird - steht in den kapitalistischen Staaten bereits auf der Tagesordnung, genauso wie bei ihren marxistischen Nachfolgern. Überall hat man sich mit der obligatorischen Erniedrigung durch Sportstadien und Fernsehprogramme abzufinden.
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Deshalb müssen wir die uns auferlegten unmoralischen Bedingungen anprangern, diesen Zustand der Verarmung. Da wir einige Jahre buchstäblich mit Nichtstun verbracht haben, dürfen wir unsere soziale Einstellung als avantgardistisch bezeichnen - denn in einer einstweilen immer noch auf Arbeit basierenden Gesellschaft haben wir ernsthaft versucht, uns ausschließlich der Freizeit zu widmen. Wird diese Frage nicht vor dem Zusammenbruch der aktuellen ökonomischen Entwicklung offen aufgeworfen, dann wird Veränderung nichts weiter sein als ein schlechter Witz. Die neue Gesellschaft, die einmal mehr die Ziele der alten Gesellschaft aufgreift, ohne ein neues Bedürfnis erkannt und durchgesetzt zu haben - das ist die wirklich utopische Tendenz des Sozialismus. (...) Die Konstruktion von Situationen wird die ununterbrochene Verwirklichung eines großartigen Spiels sein, eines Spiels, für das sich die Mitspieler bewußt entschieden haben (...) So eine Synthese wird eine Verhaltenskritik, eine unwiderstehliche Städteplanung und eine Beherrschung der Umgebungen und Beziehungen beinhalten müssen. Die Grundprinzipien sind uns klar (...)« 1 In diesem Manifest sind die wichtigsten Aktivitäten benannt, denen sich die L.I. und später die Situationistische Internationale in den folgenden Jahren widmen sollten: Der Erkundung neuer Bedürfnisstrukturen, Entwürfen für eine revolutionäre Architektur, der industriellen Automation und der Kritik des Alltagslebens und der Kultur. 1957 entstand aus der L.I. die Situationistische Internationale. Erst jetzt war der Titel „Internationale“ kein vollständiger Euphemismus mehr, da vor allem über den Maler Asger Jorn Kontakte in fast alle westeuropäischen Länder hergestellt werden konnten. Zwischen 1957 und 1972 gehörten der S.I. nur 70 Mitglieder an, nie mehr als ein gutes Dutzend auf einmal, da in der S.I. eine rigide Politik des Ausschlusses betrieben wurde. Der Einfluß der S.I. ging jedoch schon bald weit über ihre Zirkel hinaus. Eine Organisation, die für jeden gesellschaftlichen Konflikt ein revolutionäres Maximalprogramm aufstellte und sich damit nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit der gesamten traditionellen Linken anlegte, konnte auf Dauer nicht unbekannt bleiben: Schon 1958 rief die S.I. unter dem Titel „Ein Bürgerkrieg in Frankreich“ zum notfalls bewaffneten Widerstand gegen den Putsch des französischen Militärs in Algerien und die Herrschaft General de Gaulles auf. Die Situationisten machten das 1961 von der Pariser Polizei an algerischen Demonstranten verübte Massaker publik (das die französische Gesellschaft erst heute schockiert zur Kenntnis nimmt) und prangerten den Unwillen der französischen Linken an, in der Algerienfrage mit dem nationalen Konsens zu brechen, ohne daß sie deswegen zu unkritischen Parteigängern der algerischen nationalen Befreiungsfront geworden wären. Neben diesen internationalistischen Interventionen blieb die „Kritik des Alltagsle bens“ 2 zentral für die Aktivitäten der S.I. Die kühle Bosheit, mit der sich die Situationisten scheinbar sinnloser Ereignisse bemächtigten, ließ das Bild einer Organisation entstehen, deren Theorie überall Anhänger hat, die sich dessen vielleicht nur noch nicht 1 2
Zit. nach Greil Marcus: Lipstick Traces, Hamburg 1993, S.360f. Geprägt wurde dieser Terminus schon 1947 von dem französischen marxistischen Soziologen Henri Lefebvre, mit dem die Situationisten bis zum Zerwürfnis 1962 eng zusammenarbeiteten. Vgl.: Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen (1960), in: Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 1, Berlin 1976, S.125-127.
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bewußt sind. So kommentiert die Nummer 9 der „Internationale Situationiste“ lakonisch das Zeitungsfoto eines jungen Mannes: »Robert Burger. Am 11. August 1963 hat Burger in New York jemanden in einer Bar getroffen, der ihm zu trinken anbot und ihn dazu anregte, von seinen Schwierigkeiten im Leben zu erzählen. Als er schließlich erfuhr, daß er von einem als normalem Menschen verkleideten Priester hintergangen worden war, hat Robert Burger diesen auf der Stelle getötet. Die Polizei rätselt immer noch über den Sinn dieser beispielhaften Tat.« 3 Als 1965 der von links und rechts verurteilte Aufstand im Watts-Stadtviertel von Los Angeles den Beginn schwarzer Militanz in den USA einleitete, versuchte die S.I. mit der auch in den USA verbreiteten Schrift „Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie“ nicht nur, den Rebellierenden Recht, sondern auch » ihnen Gründe zu geben, die Wahrheit theoretisch zu erklären, deren Suche sich hier durch die praktische Aktion ausdrückt.« 4 1966 verwandte eine Gruppe von Sympathisanten der S.I. die Finanzmittel der Straßburger StudentenInnenvertretung für den Druck der Broschüre „Über das Elend im Studentenmilieu“, die ihren Weg bis nach Japan fand. Die Schrift hat hat als Kritik der Fetische und Illusionen linker Ideologie kaum etwas an Aktualität verloren, sie müßte nur heute noch schärfer formuliert werden. 5 Sie beginnt mit den berühmten Sätzen: »Ohne große Gefahr, uns zu irren, können wir behaupten, daß der Student in Frankreich nach dem Polizisten und dem Priester das weitestgehendst verachtete Wesen ist. Wenn auch die Gründe für seine Verachtung oft die falschen sind und aus der herrschenden Ideologie stammen, so werden die Gründe, aus denen er vom Standpunkt der revolutionären Kritik her wirklich verachtungswürdig ist und verachtet wird, verdrängt und nicht eingestanden.« 6 Die Bücher „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“ von Raoul Vaneigem und „Die Gesellschaft des Spektakels“ von Guy Debord, beide 1967 erschienen, mußten schließlich im Licht des Mai 1968 wie prophetische Vorwegnahmen erscheinen. Natürlich sahen auch die Situationisten in den Streiks und Fabrikbesetzungen von 1968, an denen sie selbst beteiligt waren, nichts anderes als die Verwirklichung der situationistischen Forderung einer Revolution im Dienste der Poesie und gegen die Ar beit. Daß diese Bewegung scheiterte, war wahrscheinlich der Hauptgrund für die Auflösung der S.I. Anfang der 70er Jahre. Die Gesellschaft des Spektakels In der Geschichte der Situationistischen Internationalen findet eine Akzentverschiebung von der Konstruktion von Situationen zur Kritik des modernen Kapitalismus, der Herrschaft des Spektakels statt. Guy Debord selbst teilte 1968 die Aktivität der S.I. in zwei 3 4 5 6
Die Letzte Show: Die Pfaffen machen ihre Klappe wieder auf (1964), in: Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 2, Berlin 1977, S.103. Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie (1966), in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S.174. Vgl. den Versuch von Negator: »Das Elend ...« - revisited, in: Karoshi 2/1997. Situationistische Internationale: Über das Elend im Studentenmilieu betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, ihm abzuhelfen (1966), in: Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S.216.
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Phasen ein. Die erste (von 1957 bis 1962) habe die „Aufhebung der Kunst“ zum Hauptthema gehabt. Ähnlich wie Adorno beschreibt Debord die Kultur als »allgemeine Sphäre der Erkenntnis und der Vorstellungen des Erlebten der in Klassen geteilten geschichtlichen Gesellschaft«, als »jene Fähigkeit zur Verallgemeinerung, die getrennt besteht.« 7 Der S.I. ging es darum, dieses getrennt bestehende kritisch-utopische Potential der kulturellen Avantgarde in eine revolutionäre Praxis zu überführen. Dies setzte jedoch die Kritik der Halbheiten und Fehler früherer kulturrevolutionärer Versuche voraus, die Debord folgendermaßen formulierte: »Der Dadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen, die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. Sie sind, wenn auch nur auf eine relativ bewußte Weise, Zeitgenossen des letzten großen Ansturms der revolutionären proletarischen Bewegung; und das Scheitern dieser Bewegung, das sie gerade im künstlerischen Feld, dessen Hinfälligkeit sie proklamiert hatten, eingeschlossen hielt, ist der Hauptgrund für ihre Immobilisierung. (...) Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaf fen.« Beides seien jedoch die »unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst «.8 Die kulturrevolutionären Aktivitäten der Situationisten richteten sich zunächst vor allem auf Entwürfe für einen sogenannten „Unitären Urbanismus“. Die Stadt war das Modell der kapitalistisch gestalteten Raum-Zeit, Architektur und Stadtplanung waren somit der sichtbarste Ausdruck der modernen Entfremdung, boten aber auch potentiell die Möglichkeiten einer für alle wahrnehmbaren revolutionären Intervention in das Alltagsleben. Hier wollte man »den schrecklichen Gegensatz zwischen möglichen Konstruktionen des Lebens und dem gegenwärtigem Elend« sichtbar machen. 9 Die urbanistischen Projekte der S.I. (bewegliche Gebäude und Städte, „psychogeographische“ Viertel, die verschiedenen Gefühlen entsprechen u.ä.) wirkten wie eine Mischung aus Surrealismus und Avantgarde-Architektur. Sie sollten jedoch im Gegensatz zu diesen keinen reformistischen Ersatz für die soziale Revolution bieten; das Aufzeigen der Verfälschungen und Beschränkungen, die der Kapitalismus dem „unitären Urbanismus“ auferlege, sei vielmehr die beste Propaganda für dessen Abschaffung. Komplementär dazu war die situationistische Praxis des „Umherschweifens“ ( dérive), die kollektiv organisierte Erkundung unentdeckter Nutzungsmöglichkeiten der bestehenden Städte. Ein weiteres, von Anfang an in der situationistischen Theorie und Praxis eingesetztes Element ist die subversive Entwendung/Zweckentfremdung ( détournement ) von Zitaten historischer und revolutionärer Autoritäten und Produkten der Kulturindustrie (Wer bung, Comics, Filme u.a.). Die Entwendung ist jedoch kein simpler Spaßguerrilla-Gag, sondern Ausdruck des situationistischen Verständnisses der „umkehrbaren Kohärenz“ kapitalistischer Totalität. Die Pazifizierung des Klassenkonflikts vollzieht sich in den westlichen Metropolen nicht mehr in erster Linie über staatliche Repression, sondern durch die Überführung ständischer Unterscheidungen in die hierarchische Demokratie des Konsums. Da die moderne Gesellschaft sich im Spektakel eine » abgesonderte Pseudowelt« als »Gegenstand der bloßen Kontemplation« schafft, wird die entwendende Intervention entscheidend, sei es als Angriff auf die kulturindustriell »etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen«, sei es als Rekonstruktion revolutionärer Theorie 7 8 9
Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels (GdS, 1967), Berlin 1996, § 180. GdS, § 191. Anleitung zum Kampf (1961), in: Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S.91.
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durch die Neuzusammensetzung der »vergangenen kritischen Folgerungen, die zu respektablen Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden«. 10 Die „Situation“ ist schließlich der Moment, in dem die Trennung von aufgezwungener Arbeit und passiver Freizeit aufgebrochen wird und die mögliche Aufhebung dieser Trennung im kollektiven Spiel einer postkapitalistischen Gesellschaft aufscheint. Als Beispiel für eine solche Situation kann der oben erwähnte Aufstand im Wattsviertel von Los Angeles gelten. Gerade in den von den Ideologen des Reformismus verurteilten Plünderungen sahen die Situationisten eine temporäre Durchbrechung des Fetischcharakters der Ware, der sich unter anderem über die zeitliche Trennung von Tauschhandlung und Gebrauchshandlung realisiert: »Die Plünderung des Wattsviertels ist die kürzeste Verwirklichung des abartigen Prinzips „Jedem nach seinen falschen Bedürfnissen“, Bedürfnisse, die vom ökonomischen System, das die Plünderung gerade ablehnt, definiert und produziert werden. Aber durch die Tatsache, daß dieser Überfluß beim Wort genommen wird, daß er unmittelbar eingeholt und nicht mehr durch entfremdete Arbeit und die Vermehrung der hinausgeschobenen sozialen Bedürfnisse unbestimmt lange Zeit verfolgt wird, drücken sich schon die echten Begierden aus (...) Sobald die Warenproduktion nicht mehr gekauft wird, wird sie kritisierbar und kann in allen ihren speziellen Erscheinungsformen verändert werden. Nur wenn sie mit Geld als einem Zeichen für den Rang im Überleben bezahlt wird, wird sie wie ein bewundernswerter Fetisch respektiert.« 11 Vor diesem Hintergrund wurden die Begriffe „Proletariat“ und „Revolution“ neu definiert: »Folgt man der Wirklichkeit, die sich zur Zeit andeutet, kann man diejenigen als Proletarier betrachten, die keine Möglichkeit haben, die gesellschaftliche Raum-Zeit zu verändern, die die Gesellschaft ihnen zum Konsum zuteilt. (...) Revolutionär ist eine Bewegung, die die Organisation dieser Raum-Zeit sowie die künftigen Entscheidungsformen ihrer permanenten Neuorganisation radikal umgestaltet (und nicht eine Bewegung, die nur die Rechtsform des Eigentums oder die soziale Herkunft der Herrschenden verändert).« 12 Die S.I. bezog sich in zweifacher Form auf die Psychoanalyse. Einerseits sollte diese - wie schon im Surrealismus - das Instrument zur Freisetzung unterdrückter Wunschenergien als revolutionäres Potential sein. Andererseits diene sie der Radikalisierung der Ideologiekritik und dem Prozeß der Bewußtwerdung des revolutionären SubjektObjekts, als das das Proletariat bei den Situationisten immer noch definiert wurde. »Wo wirtschafliches Es war, muß Ich werden.« 13 Diese doppelte Bedeutung der Theorien von Freud und Reich für die S.I. verdeutlichte Debord in seiner Kritik des zum Selbstzweck gewordenen Irrationalismus der Surrealisten: »Der Erfolg des Surrealismus hat selbst viel dazu beigetragen, daß die Ideologie dieser Gesellschaft in ihrem modernsten Aspekt eine strenge Hierarchie künstlicher Werte aufgegeben hat, gleichzeitig aber ganz offen das Irrationale und auch das benutzt, was vom Surrealismus übrig geblieben ist.
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GdS, §§ 2 u. 206. Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie (1966), in: Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S.176f. Herrschaft über die Natur, Ideologien und Klassen (1963), in: Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S.160. GdS, § 52.
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(...) Wir müssen weitergehen und mehr Rationalität in die Welt bringen - das ist die Vorbedingung, um in ihr die Leidenschaft zu entzünden.« 14 Unter dem Einfluß der Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ um Jean-Francois Lyotard und Cornelius Castoriadis entwickelten die Situationisten ihre Thesen zur kohärenten Theorie eines Rätekommunismus weiter, der die staatliche Hierarchie aufheben und die warenförmige durch eine direkte Vergesellschaftung ersetzen sollte, indem er »alle Macht auf die entfremdungsauflösende Form der verwirklichten Demokratie zurückführt, auf den Rat, in dem die praktische Theorie sich selbst kontrolliert und ihre Aktion sieht.« 15 Dies hatte jedoch zur Folge, daß die unmittelbare künstlerische Intervention, die „positive“ Konstruktion von Situationen als Wahres im Falschen zurückgenommen und schließlich verworfen wurde. Die, die an einer ausschließlich kulturrevolutionären Tätigkeit festhalten wollten, wurden Schritt für Schritt aus der S.I. ausgeschlossen. Ein neuer Vergesellschaftungsmodus war in den Augen der S.I. für das Ausbleiben der überfälligen revolutionären Aneignung und Nutzbarmachung des aufgehäuften kapitalistischen Reichtums verantwortlich. Der historische Ausgangspunkt dessen, was die Situationisten Spektakel nannten, ist der seit Ende der 20er Jahre in Europa herrschende gesellschaftliche Zustand: Im Westen die Niederschlagung oder Kapitulation der antikapitalistischen politischen und kulturellen Avantgarden, im Osten die Stalinisierung der isolierten Sowjetunion. Parallel zu diesen Verzögerungen bei der Liquidierung der Warenwirtschaft , wie es Debord einmal nannte, breitete sich die Herrschaft der Warenform von der Despotie der Fabrik auf immer weitere Sektoren von Freizeit und Alltagsleben aus. Marx zitierend, beschreibt Debord die Differenz zwischen dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und dem Fordismus nach 1945 folgendermaßen: »Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen Akkumulation „die Nationalökonomie den Proletarier nur als Arbeiter betrachtet“, der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unentbehrliche Minimum bekommen muß, ohne ihn jemals „in seiner ar beitslosen Zeit, als Mensch“ zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise der herrschenden Klasse um, sobald der in der Warenproduktion erreichte Überflußgrad vom Arbeiter einen Überschuß an Kollaboration erfordert. Urplötzlich von der vollständigen Verachtung reingewaschen, die ihm alle Organisations- und Überwachungsbedingungen der Produktion deutlich beweisen, findet dieser Arbeiter sich jeden Tag außerhalb dieser Produktion, in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus zuvorkommender Höflichkeit scheinbar wie ein Erwachsener behandelt.« 16 Dieser Scheinstatus des Erwachsenseins wird jedoch laut Debord sofort wieder durch den infantilisierenden Charakter der Konsumwaren negiert, die den Arbeitenden für ihre arbeitslose Zeit zur Verfügung gestellt werden. Vor allem die neuen Medien, Radio, Film und Fernsehen werden als Träger einer autoritären, weil einseitigen Pseudokommunikation denunziert. Die Folge sei eine kontemplative Passivität. Die Menschen konsumierten nur noch ein Bild ihres Lebens, anstatt es aktiv umzugestalten. Debord geht so weit zu behaupten, das Spektakel sei das Resultat der » Schwäche des abendländischen philosophischen Projekts (...), das in einem von den Kategorien des Sehens be14 15 16
Guy Debord: Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktions bedingungen der internationalen situationistischen Tendenz (1957), in: Der Beginn einer Epoche, a.a.O., S.31. GdS, § 221. GdS, § 43.
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herrschten Begreifen der Tätigkeit bestand«. 17 Die Entfremdung sei nicht mehr auf den kapitalistischen Arbeitsprozeß beschränkt; auch in ihrer Freizeit seien die Lohnarbeitenden nicht „bei sich“. Zahlreiche Passagen der „Gesellschaft des Spektakels“ erinnern an die zwanzig Jahre früher verfaßten Thesen von Horkheimer und Adorno zur Kulturindustrie. Die Situationisten waren jedoch optimistischer als die Kritischen Theoretiker. Für Debord war es ausgemacht, daß die Pazifizierung des Klassenwiderspruchs via „Amusement“ nicht von Dauer sein könne. Die kulturindustriell produzierte Langeweile und die kümmerliche kapitalistische Nutzung der Freizeit müßten letztendlich einen revolutionären Umsturz auslösen. Außerdem repräsentierte das Spektakel für die S.I. eine neue gesellschaftliche Totalität, die sich nicht wie Horkheimer/Adornos Kulturindustrie auf einen klar umrissenen audio-visuellen Produktions- und Distributionssektor, einen manipulativen Filter im Dienste des Monopolkapitals reduzieren ließ. Das Spektakel wird von Debord gar nicht erst als separater ideologischer Staatsapparat eingeführt. Er beschreibt das Spektakel analog der von Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ formulierten These, in der Warenstruktur könne das »Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft aufgefunden« 18 werden: »In seiner Totalität begriffen ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. (...) In allen seinen besonderen Formen - Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen - ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens.« Es ist »der Moment, worin die Ware zur völli gen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist.« 19 Die Differenz von Debords Spektakeltheorem zum Kulturindustriekapitel von Horkheimer und Adorno zeigt sich nicht zuletzt am völlig unterschiedlichen Gebrauch von Begriffen wie „Monopol“ und „Staatskapitalismus“. Sie repräsentieren für Horkheimer und Adorno eine Rationalisierung bürgerlicher Herrschaft im „integralen Etatismus“, in dem die liberalistische „Empfehlung“ freier Wahl im Warenangebot in den „Befehl“ zum Zwangskonsum umschlägt. Debord definierte solche autoritären Formen kapitalistischer Vergesellschaftung dagegen als unflexibel und instabil und verortete sie im historischen Faschismus und in den unterentwickelten Zonen des Weltmarkts, den realsozialistischen und TrikontStaaten. In seinem Versuch, den Rückstand gegenüber der entfalteten Warenproduktion in den westlichen Metropolen aufzuholen, muß dieses „konzentrierte Spektakel“ die Formen des materiellen und kulturellen Konsums beschränken und den jeweiligen autoritären Herrscher zum unhinterfragbaren absoluten Star machen, der den prekären gesellschaftlichen Zusammenhang garantiert. Darum mangelte es diesem unterentwickelten Spektakel an Attraktivität gegenüber den fordistischen Konsumgesellschaften, in denen sich kapitalistische Ökonomie und staatliche Herrschaft durch die freie, demokratische aber passive Wahl von Waren, Führern und Parteien hindurch realisierten. Nicht die von Horkheimer und Adorno konstatierte staatliche Abschaffung der Zirkulationssphäre, sondern deren Totalisierung ist das Medium des modernen Spektakels.
17 GdS, § 19. 18 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), Darmstadt 1986, S.170 . 19 GdS, §§ 6 u. 42.
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Das Verhältnis der Theorie des Spektakels zu neueren Medientheorien kann hier nur angedeutet werden. Debord hatte wohl geahnt, daß seine Theorie der Produktion von Zeichen zur Zeichentheorie entwendet werden könnte und schrieb deshalb: »Das Spektakel kann nicht als Übertreibung einer Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverbreitung von Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung . (...) Der fetischistische Schein reiner Objektivität in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehung zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zweite Natur scheint unsere Umwelt mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherschen. Aber das Spektakel ist nicht dieses notwendige Produkt der als eine natürliche Entwicklung betrachteten technischen Entwicklung. Die Gesellschaft des Spektakels ist im Gegenteil die Form, die ihren eigenen technischen Inhalt wählt.« Konsequenterweise sieht Debord im »engeren Gesichtspunkt der „Massenkommunikationsmittel“« lediglich die »erdrückenste Oberflächenerscheinung« des Spektakels. 20 Jean Baudrillard bezieht sich explizit auf den Begriff des Spektakels, lehnt aber erstens die Annahme ab, jenseits davon könne sich so etwas wie ein wahres Leben verbergen. Zweitens werden Zeichen und Wertform tendenziell selbstreferentiell, sie emanzi pieren sich von dem, was sie einst bezeichneten. Wurde der Wert bei Horkheimer/Adorno unter staatliche Kontrolle genommen, so wird er bei Baudrillard nur noch elektronisch simuliert. Paul Virilio beantwortet die Fragezeichen, die Rezession und Kursstürze hinter solche postökonomischen Theorien setzen mit der nicht gerade überzeugenden Behauptung, Börsencrashs seien lediglich ein Symptom der Abschaffung der Geographie durch die Telekommunikation. Die z.T. naive situationistische Einforderung einer „authentischen“ Kommunikation gegen die verfälschte des Spektakels weicht bei Virilio einem polizeilich-paranoiden Blick auf unkontrollierbare Datenfluten: »Seitdem die Zahl der Benutzer von Mobiltelefonen sprunghaft angestiegen ist, sieht sich die Polizei im Bezirk von Los Angeles mit einer neuen Art von Schwierigkeit konfrontiert. Während bisher der Drogenhandel in einigen ganz bestimmten Vierteln abgewickelt wurde, die für die Anti-Drogen-Einheiten leicht zu kontrollieren waren, wurden letztere durch die unerwarteten und überhaupt nicht mehr an einen bestimmten Umschlagplatz gebundenen Treffen von Dealern und Drogenkonsumenten, die per Handy telefonisch miteinander in Verbindung treten und sich an jedem beliebigen Ort, irgendwo, verabreden, fast völlig hilflos.« 21 Zumindest bei den frühen Situationisten hätte eine derartige Zwangsvorstellung wahrscheinlich nur belustigtes Achselzucken hervorgerufen. Vielleicht hätten sie bedauernd festgestellt, daß die angeblich völlig unkontrollierbaren Treffen an geheimen Orten auch nur einem prekären Warentausch gälten, anstatt dem Umherschweifen im Dienste des Kommunismus. Daß dagegen dort, wo der Terror der Ökonomie der technischen Entwicklung angelastet wird, Kulturpessimismus und die Technikkritik eines Ernst Jünger wieder salonfähig werden, ist vielleicht kein Zufall. Ein praktisches Beispiel, das gegen die Auflösung von Staats- und Ökonomiekritik in Medientheorie spricht, ist der Fall Berlusconi. Der vermeintliche Prototyp eines spektakulären Politstars zeigte sich den Ansprüchen an eine moderne autoritäre Herrschaft nicht gewachsen und mußte ausgerechnet einer postkommunistischen Sozialdemokratie weichen. Der Besitz von Fernsehkanälen und Fußballclubs reichte offensichtlich nicht 20 GdS, §§ 5 u. 24. 21 Paul Virilio: Eine überbelichtete Welt, in: Le Monde Diplomatique, August 1997, S.9.
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aus. Aber auch von den Untertanen eines neo-autoritären Staats würde wohl größerer Einsatz verlangt werden als der Konsum des Bildes der Macht im Fernsehen. Die »Unvermeidbarkeit des Sieges der Revolution« Unter dem Eindruck des Mai 1968 in Frankreich revidierte die S.I. tendenziell ihren eigenwilligen Proletariatsbegriff und näherte sich immer mehr einem traditionellen Klassenstandpunkt (abzüglich parteimarxistischer Vereinnahmungen) an. Der Situationist René Viénet schrieb rückblickend: »Wenn die revolutionäre Krise des Mai wirklich etwas verdeutlicht hat, dann das Gegenteil der Thesen Marcuses: eben daß das Proletariat nicht integriert ist, und die entscheidende revolutionäre Kraft der modernen Gesellschaft darstellt. Pessimisten und Soziologen müssen ihre Rechnungen neu aufstellen. Die „Unterentwickelten“, die Black-Power-Bewegung und die Dutschkisten ebenfalls.« 22 Für die kritische Theorie bezeichnet der Begriff der Totalität das radikal Negative, die totale kapitalistische Vergesellschaftung, die in Auschwitz kulminierte. »System ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt.« 23 In den Schriften der S.I. behält die Totalität dagegen jene Ambivalenz, die sie im Marxismus immer hatte. Negativ ist sie das Ensemble der repressiven Trennungen der bürgerlichen Gesellschaft. Also vor allem die Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und die kapitalistische Arbeitsteilung, die Trennung von Kopf- und Handarbeit. Das Spektakel vollendete das Universum der Trennungen, indem es die gesellschaftliche Praxis »in Realität und Bild aufgespalten hat. (...) Die Sprache des Spektakels besteht aus Zeichen der herrschenden Produktion, die zugleich der letzte Endzweck dieser Produktion sind.« 24 Die situationistische Analyse der negativen Aufhebung der Trennungen in der »re pressiven Egalität« (Horkheimer/Adorno) der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft blieb marginal. Ihre Kehrseite, die Shoah als nationales Projekt der Deutschen wurde gänzlich ausgeblendet oder diente als beliebige Metapher für alle möglichen Verbrechen des modernen Kapitalismus. Dieser blinde Fleck läßt sich nicht ausschließlich auf die unterschiedliche gesellschaftspolitische Situation in Frankreich zurückführen. Für Debord ist „der Faschismus“ ein » technisch ausgerüsteter Archaismus«, der, obwohl eine der »Gründermächte der gegenwärtigen Gesellschaft«, keiner besonderen Untersuchung bedarf. Nachdem die faschistischen Bewegungen das ihre zur Zerstörung der alten Arbeiterbewegung beitrugen, habe der Siegeszug der westlichen Demokratien jene Herrschaftsform überflüssig gemacht. Denn »da der Faschismus auch die kostspieligste Form der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung ist, war es normal, daß er vom Vordergrund der Bühne abtreten mußte (...) und durch rationellere und stärkere Formen dieser Ordnung beseitigt wurde.« 25 Ein schärferer Blick auf die Ursachen und Folgen der faschistischen Formierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätte aber auch die Selbstverständlichkeit infrage gestellt, mit der die S.I. auf eine radikale Arbeiterbewegung abseits des Parteikommunismus setzte. Ganz im Sinne des traditionellen Marxismus wird statt dessen in der 22 23 24 25
René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen (1968), Hamburg 1977, S.115f. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), Frankfurt/M. 1992, S.31. GdS, § 7. GdS, § 109.
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(späten) situationistischen Theorie der Totalität der Trennungen die herzustellende revolutionäre Einheit des Proletariats entgegengesetzt, die in den Schriften der S.I. bereits antizipiert wird. Salopp gesagt, überführt die proletarische Revolution die negative Totalität der kapitalistischen Gesellschaft in die positive des antiautoritären Rätekommunismus, der antistaatlichen Diktatur des Proletariats. Noch 1972, anläßlich der Auflösung der Situationistischen Internationalen, schrieben Guy Debord und Gianfranco Sanguinetti von der » Unvermeidbarkeit des Sieges der Revolution«: »Mit der neuen Epoche erscheint dieses bewundernswerte Zusammentreffen: die Revolution wird in einer totalen Form gewollt, gerade in dem Moment, wo sie nur in einer totalen Form durchgeführt werden kann, und wo die Totalität des Funktionierens der Gesellschaft absurd und außerhalb dieser Durchführung unmöglich wird.« 26 Eine solche Sicherheit setzt sich derselben Kritik aus, die Adorno gegen Hegel formulierte: sie sei im Widerspruch zur eigenen dialektischen Intention vorgedacht. 27 De bord hätte wahrscheinlich erwidert, daß die Absage an die revolutionäre Einheit von Theorie und Praxis abstrakt bleibt und damit falsch wird. 1967 schrieb er: »Die kritische Theorie des Spektakels ist nur wahr, wenn sie sich mit der praktischen Strömung zur Negation vereinigt, und diese Negation, die Wiederaufnahme des revolutionären Klassenkampfes, wird sich ihrer selbst bewußt werden, indem sie die Kritik des Spektakels (...) entwickelt und umgekehrt das Geheimnis dessen enthüllt, was sie zu sein vermag.« 28 Georg Lukács wurde zum Leninisten, als sich die Differenz zwischen seiner Theorie des Proletariats und dessen empririscher Praxis herausstellte. Die kommunistische Kaderpartei wurde für ihn zur Stellvertreterin von Geschichte und Klassenbewußtsein. Am Ende nahm er alle kritischen Erkenntnisse über die sozialdemokratische „Weltanschaung“ der Arbeiterbewegung zugunsten einer naturdialektisch fundierten „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ zurück, die Adornos „Ontologie des falschen Zustands“ diametral entgegengesetzt ist. Debord hat Lukács für seinen Leninismus verhöhnt, verabschiedete sich aber nicht von dessen revolutionstheoretischen Prämissen. Zwanzig Jahre nach 1968, als sich dieses Ereignis post festum lediglich als Modernisierungsfaktor der Demokratie erwiesen hatte, reagierte Debord darauf mit den „Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels“, mit denen er hinter seine eigenen theoretischen Einsichten zurückfällt. 29 Die spektakuläre Verlagerung der gesellschaflichen Selbstwahrnehmungen und Konflikte von der Produktions- in die Zirkulationssphäre negiert Lukács“ Privilegierung des proletarischen Klassenbewußtseins als revolutionstheoretischen Hebel. Unter den Bedingungen der spektakulären Konsumenten- und Mediendemokratie läßt sich die Annahme nicht mehr halten, die körperliche Arbeit befähige das Proletariat zur revolutionären Selbsterkenntnis, da sie sein Bewußtsein (anders als bei Intellektuellen und Klein bürgern) unangetastet lasse, »sein menschlich-seelisches Wesen nicht zur Ware ver-
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Guy Debord, Gianfranco Sanguinetti: Die wirkliche Spaltung in der Internationalen. Öffentliches Zirkular der Situationistischen Internationalen (1972), Düsseldorf 1973, § 20 u. 18 (Hervorhebungen von mir, AB). Vgl. Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., S.38. GdS, § 203. Vgl. Guy Debord: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, in: Ders.: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996.
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wandelt.« 30 Die Situationisten umgingen diese bittere Wahrheit, indem sie die kulturindustriell-spektakuläre „Banalisierung“ der Welt gleichzeitig als eine universelle „Proletarisierung“ faßten, die eine allgemeine Empörung gegen den tendenziellen Fall des Gebrauchswerts hervorrufe und damit die Revolution unumgänglich mache. Daß diese Annahme heute utopischer denn je wirkt, erklärt Debord in den „Kommentaren“ verschwörungstheoretisch. Geheimlogen und die Mafia seien das Modell des Kapitalismus im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, und der Niedergang der Subversion sei durch die Ausweitung staatlicher Manipulationstechniken verursacht . Ende der 80er Jahre kündigte sich bereits der Zusammenbruch des realsozialistischen Staatskapitalismus an. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt will Debord im Westen eine neue Herrschaftsform entdeckt haben, das integrierte Spektakuläre, dessen Name nicht umsonst an Horkheimers „integralen Etatismus“ erinnert. All die autoritären Herrschaftstechniken, die Debord 1967 zurecht als gegenüber der freiwilligen Unterwerfung unter die Sachzwanglogik der Ware als zurückgeblieben bezeichnete, sind angeblich wieder aktuell: Zensur, Fälschung und Desinformation, die Abschaffung der Demokratie und die Fusion von Staat und Ökonomie. Die Kritik der gesellschaftlichen Totalität des modernen Kapitalismus tritt zugunsten einer traditionellen Manipulationstheorie in den Hintergrund. Der Grund dafür liegt in Debords Ontologie des proletarischrevolutionären Subjekts. Da diese nicht infrage gestellt werden darf, muß das Scheitern der Revolte von 1968 a ls Resultat einer von außen an dieses Subjekt herangetragenen Re pression erscheinen. Es war nicht zuletzt diese Selbstbeschränkung und „Immobilisierung“ der Marxschen Theorie nach 1968, die in den 70er und 80er Jahren die „mikrologischen“ Fragestellungen des Poststrukturalismus auch für Linksradikale plausibel machte, ohne da ß sich damit das Problem einer adäquaten Kritik kapitalistischer Totalität erledigt hätte. R esümée Die Situationisten setzten ihre Hoffnungen nicht in eine traditionelle revolutionäre Organisation, sondern in alltägliche Gesten der Unzufriedenheit und des spontanen Protests, in denen bereits die Wahrheit der kapitalistischen Gesellschaft als ihre revolutionäre Negation aufscheine. Das Spektakel der Ware gleicht einer Kuppel aus Glas, die über den durch den prosperierenden Nachkriegskapitalismus produzierten Reichtümern liegt und die Individuen an deren sinnvollem Gebrauch hindert. Doch »sogar die Wirklichkeit der Glaswände kann die unwirkliche Kommunikation nicht verdecken, sogar die Stimmung der öffentlichen Plätze entlarvt die Verzweiflung und Isolierung des einzelnen Gewissens, sogar die geschäftige Anfüllung des Raumes läßt sich durch Leerlauf ermessen.« 31 Die freie und selbstbestimmte Konstruktion sämtlicher Aspekte des modernen Lebens scheint zum Greifen nah. Aufgabe der S.I. sei es lediglich, die uneingestandenen Ziele der Kämpfenden zu entlarven: »Wenn die antigewerkschaftlichen Kämpfe der Arbeiter im Westen zunächst von den Gewerkschaften unterdrückt werden und die aufständischen Strömungen der Jugend einen ersten formlosen Protest erheben, in dem jedoch die Verweigerung der alten spezialisierten Politik, der Kunst und des Alltagslebens unmittelbar eingeschlossen ist, sind das schon die beiden Gesichter eines 30 31
Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, a.a.O., S.300. Raoul Vaneigem: Anmerkungen gegen den Urbanismus (1961), in: Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 1, Berlin 1976, S.244.
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neuen spontanen Kampfes, der als krimineller beginnt. Es sind die ersten Vorzeichen des zweiten proletarischen Ansturms gegen die Klassengesellschaft.« 32 Die S.I. agierte in einer Zeit, in der sich der fordistische Kapitalismus in den westlichen Metropolen auf dem Höhepunkt seines ökonomischen Erfolgs befand. Es ist ihr Verdienst, daß sie sich nicht mit der traditionslinken Kritik sozialen Elends begnügte, sondern ihre Kritik gegen den gesellschaftlichen Glücksbegriff richtete. In den 50er und 60er Jahren lag es nahe, nicht mehr die Arbeit, sondern die Freizeit als das Hauptproblem und den Ausgangsunkt einer revolutionären Umwälzung anzusehen. Die situationistische Praxis der Entwendung populärkultureller Erscheinungen machte es den Mitgliedern der S.I. möglich, eine aktuellere und dichtere Kritik des Alltagslebens zu formulieren, als die auf diesem Gebiet z.T. in abstrakter Negation verharrende kritische Theorie Horkheimers und Adornos. Was die Situationisten der kritischen Theorie in der Analyse der Funktionsweise der spektakulären Nachkriegsgesellschaften voraus hatten, nahmen sie jedoch Schritt für Schritt zurück, um den Fetisch des apriori gesetzten revolutionären Subjekts, des Proletariats; nicht zu gefährden. Das Paradox der Geschichtsphilosophie der S.I. besteht darin, daß sie einerseits so scharf wie kaum eine andere linksradikale Organisation die vulgärmaterialistischen „Gesetze der Geschichte“ des Stalinismus kritisierte. Darin waren sich die Situationisten mit Benjamin und Horkheimer einig, die das Ende der Ausbeutung nicht als Beschleunigung des kapitalistischen Fortschritts sondern als »Sprung aus dem Fortschritt heraus« 33 definierten. Andererseits ist die historische Notwendigkeit dieses Sprungs (im Sinne eines deterministischen historischen Materialismus) die zentrale Voraussetzung situationistischer Theorie und Praxis. Das situationistische Projekt zielte als revolutionäre Verwirklichung der Psychoanalyse auf die Freisetzung der durch die Tyrannei der Ware gefesselten Wunschenergien. Daß diese Energien auch eine andere, antiemanzipatorische Richtung nehmen könnten war für die Situationisten unvorstellbar. Die Kritik der Trennungen wird deshalb nicht durch eine der „repressiven Egalität“ nationalistischer Staatsbürger ergänzt. Die Differenz im analytischen Interesse der negativen Dialektiker aus Frankfurt und der situationistischen Revolutionstheoretiker hat jedoch ihr fundamentum in re. Während die spektakuläre Gesellschaft in den westlichen Industrieländern die Reaktion auf eine mehr oder weniger revolutionäre Geschichte war, baute sie in der Bundesrepublik positiv auf den Resultaten der nationalsozialistisch formierten Gesellschaft auf. Auch die Situationisten konnten die Unvermeidbarkeit des Umsturzes der spektakulären Gesellschaft nicht praktisch unter Beweis stellen. Sie haben jedoch einen der anspruchsvollsten Versuche unternommen, »Geschichte mit der Möglichkeit, die stets konkret in ihr sichtbar wird« 34 , zu konfrontieren.
32 33 34
GdS, § 115. Max Horkheimer: Autoritärer Staat, in: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Hg. v. H.Dubiel / A.Söllner, Frankfurt/M. 1984, S.67. Horkheimer, a.a.O., S.66.
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II. Teil
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Katja Diefenbach
[The crack up:] Kapitalismus verstehen Poststrukturalistische Mikropolitiken bei Guattari, Deleuze und Foucault Kontingenz, Begehren, Gefüge Etwas passiert. Ein Verwaltungsbeamter stellt eine Verordnung aus. Er streichelt die Formulare. Aber was ist das eigentlich, was passiert? Geht es um die Verordnung, den bürokratischen Akt, die Machtausübung? Oder geschieht mehr? Gesten, Wünsche, die nicht den Charakter eines kleinen persönlichen Geheimnisses tragen, eines psychologischen Restes oder Überschusses innerhalb der grossen institutionellen Verläufe, sondern Teil ihres Funktionierens sind. Eine mögliche Version, darüber zu schreiben, wie die Dinge sich zutragen, ist, über ihre ganze Fülle zu schreiben, über die Weitläufigkeit ihrer Verbindungen und über ihre stillen Reserven, ihre versteckten Serien, die nicht auf den Tisch geblättert werden, es aber könnten — nur eine kleine Begebenheit und schon wäre man woanders, eine kleine Verschiebung, ein Knacks, nichts Grosses, aber manchmal grosse Veränderungen auslösend. Félix Guattari und Gilles Deleuze gehen viele Umwege, um den Lauf dessen, was passiert, anders zu denken, nicht als Philosophie eines erkennenden Subjekts, keine Story von Ich und Nicht-Ich, nicht als Dialektik, keine schöpferische Kraft der Negation bemühen, die noch das Nicht-Identische einer höheren Identität zuschlägt. Sie gehen nicht vom Gesetz der Struktur oder des Systems aus. Sie glauben an keine kommunikative Vernunft und schreiben keine Psychoanalyse. Es geht um mehr als um SexPol und Freudomarxismus, die kritischen Theorieerweiterungsprojekte ihrer Zeit, die noch jeweils getrennte Bereiche führen wie Politik + Sexualität oder Ökonomie + Psychologie + Semiologie und die die Prozesse dieser Bereiche analogisieren: Geld-PhallusSignifikant usw. Hinter diesen Analogiebildungen erkennen Deleuze und Guattari eine Aufspaltung in Ökonomie auf der einen Seite, die den alleinigen Ort der Produktivität darstellen soll und in Fragen des Geschlechts, des Aussagens, der Repräsentation und Reproduktion auf der anderen Seite. Also gaben sie sich nicht damit zufrieden, »einen freudianischen Wagen an den Marxismus-Leninismus zu hängen« 1 : »Im groben und ganzen ist ein Marxist an dem Argument zu erkennen, eine Gesellschaft sei widersprüchlich, bestimmt durch ihre Widersprüche, vornehmlich der Klassenwidersprüche. Wir dagegen, sagen, dass innerhalb einer Gesellschaft alles flieht, dass eine Gesellschaft sich anhand ihrer Fluchtlinien bestimmt, von denen alle Massen, unabhängig von ihrer Beschaffenheit, ergriffen werden [...].« 2 Deleuze und Guattari gehen davon aus, dass es eine positive Beweglichkeit des Begehrens gibt, die ein Feld öffnet, auf dem sich die Verhältnisse ineinander fügen. Auf diesem Feld schichtet sich das Gesellschaftliche, richten sich Institutionen, Subjektivitäten, Herrschaftspraktiken ineinander auf, beschleunigen oder verlangsamen sich. Damit ist eine abstrakte theoretische Figur ins Spiel gebracht, die den Vorschlag macht, inner1 2
Félix Guattari in: Deleuze und Guattari erklären sich, Eine Diskussion mit Maurice Nadeau, Francois Chatelet, Roger Dadoun, Raphael Pividal, Henri Torrubia, Pierre Clastres, Pierre Rose und Serge Leclaire, in: Ders., Mikro-Politik des Wunsches, Berlin 1977, S. 41. Gilles Deleuze/ Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/ Main 1980, S. 146.
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halb einer immanenten Ökonomie zu denken: »Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, sonst nichts.« 3 In dieser positiven Ökonomie ist alles von gleicher Realitätsmächtigkeit, ein Gedanke, ein Traum, ein Arbeitstag, die heimliche Phantasie eines Verwaltungsbeamten genauso wie die Akten, die er währenddessen ausstellt. Geschichtliches und Soziales werden dabei kontingent gedacht. Kontingent meint nicht zufällig , sondern auch anders möglich, nicht von einer höheren historischen Notwendigkeit diktiert, sondern durch das Zusammenkommen unterschiedlicher Entwicklungen hervorgebracht. Es ist, was klappt. Kapitalismus verstehen 1 Diese Überlegungen verbinden Deleuze und Guattari in fast allen Texten mit der Frage, was ist Kapitalismus? Kapitalismus verstehen, heisst für sie, u.a. den Moment zu verstehen, an dem er auftaucht und den Feudalismus ablöst. Warum zu diesem Zeitpunkt? Warum nicht im antiken Rom? Warum nicht im China des 3. oder 9. Jahrhunderts, in dem die technischen Ausgangsbedingungen vorhanden gewesen wären? Warum nicht Sindbad, der Seefahrer, als erster Handelskapitalist? 4 Kapitalismus entstand, als keine zentrale Regulierung mehr von dem, was Deleuze und Guattari Begehren nennen, voll funktionierte. Im Unterschied zu den vorangegangenen Gesellschaften stellt der Kapitalismus keinen Code mehr zur Verfügung, der die gesamte Gesellschaft umfasst, sondern eine leere, abstrakte Regulierung: Geld. Ein Code würde dagegen eine verpflichtende Verbindung darstellen wie man sie z.B. bei einer Zunft finden konnte, die nicht einfach die Interessen ihrer Mitglieder vertrat, sondern feste soziale, religiöse und alltagspraktische Verbindlichkeiten pflegte. Die Zunft hielt so etwas wie eine Lebensgemeinschaft zusammen. Der Kapitalismus ist Produkt einer Begegnung: erstens das Auftauchen eines Arbeiters, der frei von Leibeigenschaft und Schollengebundenheit war und nur noch seine Arbeitskraft zu verkaufen hatte; zweitens das Auftauchen des Handelskapitals, mit dem sich Reichtum allmählich von Abgabenwirtschaft, Grund- und Bodenbesitz usw. ablöste: »Das Aufeinandertreffen hätte auch nicht stattfinden können, die freien Arbeiter und das Geldkapital hätten beiderseits ‘virtuell’ existieren können. [...] Kontingente Faktoren aller Art begünstigen die Vereinigungen. Welche Zusammentreffen für die Bildung der einen Sache, der Namenlosen!« 5 Guattari und Deleuze vermeiden Reduktionismen und erkennen so im Kapitalismus ein Fest der Fügungen. Sein ‘namenloses’ Funktionieren entsteht aus der Vielfalt der Entwicklungen, die sich mit dem Kapitalismus miteinander verbunden haben, wobei eine Entwicklung weder blosse Folge einer anderen noch Ausdruck einer übergeordneten Notwendigkeit ist. Diese nicht-reduktive Sicht auf die Geschichte ist mit Foucaults Versuch verwandt, historisch von den untersten Ebenen der Analyse auszugehen und aufsteigend von den einzelnen kleinen Ereignissen her zu zeigen, was passiert. Nehmen wir ein Beispiel: Würde man deduktiv vorgehen, könnte man z.B. die Internierung von ‘Irren’ im 16. und 17. Jahrhundert daraus ableiten, dass sie für die Bourgeoisie ökonomisch unnütz waren. Aber: »...vom allgemeinen Phänomen der Herrschaft der Bourgeoisie [lässt sich] jedwede Sache ableiten. Mir scheint, dass das Gegenteil getan werden muss; [...] so gilt es herauszufinden, wie auf der konkreten Ebene der Familie, der unmittelbaren Umgebung, der untersten Zellen 3 4 5
Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, Berlin 1977, S. 39. Ebenda, S. 287. Ebenda, S. 289f.
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oder Ebenen der Gesellschaft diese Unterdrückungs- oder Ausschlussphänomene ihre Werkzeuge und ihre eigene Logik hatten, wie sie einer gewissen Anzahl von Bedürfnissen entsprachen [...].« 6 Guattari und Deleuze verstehen Gesellschaft als Verknüpfung von heterogenen Verhältnissen. Das Besondere ist dabei, dass ihr Blick auf die Stellung des Wunsches in diesen Verhältnissen fällt. Kennt der Wunsch eine feste, zentrale Repräsentation in einer Religion, einem Gott, einem grossen Zeichen? Kennt er eine grosse Zeremonie wie den feudalen Hof? Oder rennt der Wunsch relativ frei umher, von einer Sache zur nächsten stolpernd, ist mal im Supermarkt anzutreffen, aber genauso auch wieder rückwärts gewandt in Kirche, Sekte, Nationalismus? »Das Begehren ist nichts anderes als ein bestimmtes Gefüge, ein gemeinsames Funktionieren. Natürlich wird ein Gefüge des Begehrens auch Dispositive der Macht umfassen. [...] Kurzum, nicht die Dispositive der Macht würden etwas zusammenfügen oder etwas konstituieren, sondern die Gefüge des Begehrens würden die Machtformationen innerhalb einer ihrer Dimensionen ausbreiten. Was mir ermöglichen würde, auf die (für mich, nicht für Michel 7 notwendige) Frage zu antworten: Wie kann die Macht begehrt werden? Die erste Differenz wäre also, dass die Macht für mich eine Affektion des Begehrens ist.« 8 Deleuze und Guattari kommen damit bei einem theoretischen Rigorismus an, der Begehren an die erste Stelle setzt. Das ist es, was die Dinge in Bewegung hält. Das ist es, was dazu führt, dass überhaupt etwas passiert. Gesellschaft ist die Art und Weise, wie Begehren reguliert wird. Diese Theorie versucht, in hohem Masse nichtdeterministisch und variabel zu denken. Deshalb gibt es keine Teleologien und Notwendigkeiten. Dieses »Eine Gesellschaft widerspricht sich nicht« 9 , oder: »Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, sonst nichts« spannt ein Diagramm auf, das die Veränderungen des Spätkapitalismus genauso umfasst wie winzige Momente des Alltags, die die tyrannische Bitterkeit eines Lebens ausmachen können oder eben die glückliche Intensität eines Augenblicks, auch wenn die grossen subjektiven Sinn- und Bedeutungsregler wie Erfolg, Verwirklichung, Anerkennung nach unten zeigen. Das lässt sich für eine Analyse des Kapitalismus in Gebrauch nehmen, bei der ein anderer Blick auf Subjektivität, Macht, Ideologie und Kontrolle fällt; und vor allem ein anderer Blick auf die Frage nach Emanzipation und warum die Leute »für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil« 10 , was in einer Reihe unterschiedlicher linker Praktiken zuwenig bedacht wird, sei es in der der moralischen Empörung, sei es in der des frontalen Angriffs oder radikalen Bruchs. Kombination/ Rekombination von Begriffen Die fragmentarische Ingebrauchnahme von Theorie war Guattari und Deleuze explizit wichtig und als sie bei ihren eigenen Texten kurzfristig funktionierte, entstand in den 70er und 80er Jahren in subkulturellen und politischen Zusammenhängen eine Begeisterung, die sich u.a. im Auftauchen von Leuten äusserte, die mit kleinen verknitterten 6 7 8 9 10
Michel Foucault, Recht der Souveränität, Mechanismus der Disziplin, in: Ders., Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 85. Gemeint ist Foucault. Gilles Deleuze, Lust und Begehren, Berlin 1996, S. 21 Ebenda, S. 25. Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Hamburg 1976, S. 6.
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Büchern in ihren Jackentaschen auf Plenen sassen. Mit den mikropolitischen Selbstermächtigungen der sozialen Bewegungen, die die Welt repräsentativer Politik-Politik verlassen wollten, das Sprechen-für-andere, das Funktionärswesen des Politischen genauso wie den Eifer des Lehrens und Lernens, verknüpfte sich gut, was Deleuze in einer selbstkritischen Bemerkung über den Anti-Ödipus als ein noch Zuwenig beschrieb: »Er ist noch recht akademisch, recht vernünftig und ist nicht die erträumte Pop-Philosophie oder Pop-Analyse.« 11 Es ging darum, Theorie jenseits universitärer Regeln zu formulieren; eine Philosophie zu machen, deren Subtext nicht Gelehrsamkeit, philosophische Tradition und akademischer Erfolg sind: »Ein erfolgreiches Leben ist kein bessres.« 12 Der Ratschlag, mit einem Buch nicht anders umzugehen, als mit einer Schallplatte, war ein schöner Satz, um der Disziplinierung und Unterwerfung unter Text und Wissen auszuweichen und das zu verlassen, was Foucault die Wahrheitsproduktion der Wissenschaften genannt hat. Wahrheit und richtige Aussagen zu produzieren, sind nicht Lohn eines freizügigen Geistes, kein Kind grosser, einsamer Reflexionen, sondern eine moderne mythologische Konstruktion, mit der bestimmte Ausschlüsse im Denken vorgenommen werden. Deleuze hat in den 70er Jahren in einem Brief an Michel Cressole geschrieben: »Ich gehöre zu [...] einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine offenkundig repressive Funktion aus, sie ist der eigentliche philosophische Ödipus: ‘Du wirst doch wohl nicht wagen, in deinem Namen zu sprechen, bevor du nicht dieses und jenes gelesen hast’.« 13 Mit der Zeit fiel der anti-ödipale Theoriebaukasten, das Buch als »kleines Werkzeug für ein Aussen« 14 , das sich keiner Repräsentation einer philosophischen Tradition oder einer geschlossenen Bedeutung mehr verpflichten wollte, in einen anderen Kontext. Vor allem Medientheorie und -kunst, die seit Ende der 80er Jahre mit einer Inflation neuester Neuigkeiten über eine herannahende Epoche der Netzwerke und der technisch induzierten Enthierarchisierung der Gesellschaft aufwarten, importierten eine ganze Reihe poststrukturalistischer Begriffe, hauptsächlich aus den Texten von Guattari und Deleuze 15 . Bei diesem Transfer wurden Begriffe wie Rhizom, Plateau, organloser Körper auf die Beschreibung rein technischer Strukturen herunterdefiniert, obwohl Deleuze und Guattari betont haben, dass Wunschmaschine und technische Maschine nicht miteinander identisch sind. Das störte die Medientheorie wenig, dem www Vielheit und différance als strahlende Substantive zur Seite zu stellen: »Mittlerweile genügt die tägliche Dosis Surfen auf dem Internet, um ihre Gleichung 16 von Rhizomatik und Nomadologie zu verifizieren.« 17 In Tausend Plateaus schreiben Guattari und Deleuze im Kapitel Postulate der Linguistik über die Verschränkung von Sprache, Macht/ Begehren und Gebrauch. Die Anordnungen von LehrerInnen sind z.B. dem, was sie lehren, nicht äußerlich. Das Anordnende wird nicht einem unschuldigen Material der Sprache hinzugefügt, sondern ist im je11 12 13 14 15 16 17
Gilles Deleuze, Brief an einen strengen Kritiker, in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/ Main 1993, S. 17. Gilles Deleuze/ Claire Parnet, Dialoge, S. 137. Gilles Deleuze, Brief an einen strengen Kritiker, S. 14. Gilles Deleuze /Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 40. vgl. z.B. Sadie Plant, Nullen und Einsen, Berlin 1998; Sherry Turkle, Leben im Netz, Reinbek 1998; Pierre Lévy, Cyberculture, Mannheim 1996. Gemeint ist die von Deleuze und Guattari. Stefan Bollmann/ Christiane Heibach, Sucht keine Wurzeln, folgt dem Kanal, in: Kursbuch Internet, Mannheim 1996, S. 476.
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weiligen Setting schon vorhanden, hier: dem Bildungshumanismus-Setting von Lehrer, Schule, Tisch, Kind, Angst, Neugier, Strebsamkeit, Zuhören: »Eine Lehrerin, die einen Schüler abfragt, informiert sich nicht.« 18 Das Gleiche kann man über die Rekombination poststrukturalistischer Begriffe in Medien- und Poptheorie sagen. Das »Ja, nehmt was ihr wollt!« von Deleuze und Guattari 19 , ihre Aufforderung »Schlagworte schrei ben« 20 , ihre Rede von »Büchern als Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt« 21 sind in eine andere Anordnung geraten. Sie wurden mit dem repräsentativen Interesse der Kulturwissenschaften für Nicht-Repräsentation und Dekonstruktion verkoppelt, das in das unangenehme Dilemma führt, über queer zu schreiben statt queer zu werden. Zudem gerieten diese Begriffe in die noch unangenehmere, sich selbst verstärkende Anordnung von Medientheorie-Schick plus Pop-Beflissenheit plus massiver kapitalistischer Investitionen in die Informationstechnologien. Anfang der 70er Jahre hingegen war der Anti-Ödipus im Sinne des 68er Aufstands geschrieben worden, als Teilstück einer Absetzbewegung vom Geiste der Beamten der Wahrheit, auch von dem der damaligen strukturalistischen NachfolgerInnen, die mit Marx, Freud und Saussure einen neuen dreiköpfigen Konzern des Denkens geschaffen hatten, eine neue herrschende Grosssprache: Freudo-Marxismus-Linguistik. Der Ab bruch der 68er Revolte führte für Deleuze und Guattari zur Überlegung, »dass sich während dieser entscheidenden Zeitabschnitte etwas von der Ordnung des Wunsches im Massstab des Ganzen der Gesellschaft gezeigt hat, dass es dann unterdrückt wurde, liquidiert und zwar ebensowohl von den Kräften der Macht, wie von den sogenannten Arbeiterparteien und -gewerkschaften und, bis zu einem gewissen Grade, von den linksradikalen Organisationen selbst.« 22 Und zehn, fünfzehn Jahre später nun diese Rekom bination von Begriffen eines nicht-repräsentativen Denkens mit einer diffusen Repräsentation von Hipness, die Rekombination von Begriffen einer anti-kapitalistischen Theorie mit Kapitalismus-affirmativen Theorie- und Kunstpraktiken des Medienbusiness. Das führt in die trickreichen Ebenen des Kapitalismus, deren Wahrheit, »die im Delirium aufbrechende dunkle Wahrheit« 23 , Deleuze und Guattari in ihren Texten zeigen wollen, indem sie den Kapitalismus als System beschreiben, der noch das zu integrieren versucht, was ihn negiert, der Differenzen als Innovationen bejahen kann, der Begehren nicht schlicht unterdrückt, zensiert, verbietet, sondern aus moralischen, religiösen und konservativen Beschränkungen freizusetzen in der Lage ist - und in der Folge ständig bemüht bleibt, dieses freigesetzte Begehren innerhalb der Logik von Markt und Geld zu halten: »Welche Geschmeidigkeit in der Axiomatik des Kapitalismus, immer bereit, seine eigenen Grenzen zu erweitern, um ein neues Axiom dem eben noch saturierten System anzufügen! Sie möchten ein Axiom für die Lohnabhängigen, die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften, wird gemacht, und von nun an wird der Profit auf die Seite des Lohns fliessen, beide, Rückstrom und Ansammlung, Seite an Seite. [...] Denn alles beruht auf der Disparität zweier Arten von Strömen [...]: der Strom der ökonomischen Macht des Warenkapitals und der so höhnisch mit der Bezeichnung ‘Kaufkraft’ bedachte Strom, [...] der die absolute Ohnmacht der Lohnabhängigen wie die relative 18 19 20 21 22 23
Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 106. Dies., Rhizom, Berlin 1977, S. 40f. Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 40. Félix Guattari in: Deleuze und Guattari erklären sich, S. 39. Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 9.
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Abhängigkeit des Industriekapitalisten offenkundig werden lässt. Geld und Markt sind die wirklichen Polizisten des Kapitalismus.« 24 Deleuze’ und Guattaris Versuch, den Kapitalismus zu verstehen, führt in ein Feld interessanter theoretischer Einsätze, darunter ein Denken ohne Subjekt, ein Primat des Begehrens vor der Macht, eine relative Unwichtigkeit von Ideologie und die Veränderung des kapitalistischen Kontrollregimes. Nicht-subjektives Denken, Grinsen ohne Katze Zuerst einmal muss betont werden, dass Guattari und Deleuze nicht deshalb an einem Denken-ohne-Subjekt-im-Zentrum gearbeitet haben, weil sie das Subjekt verachteten. Manchmal legt die Rede vom Tod des Subjekts das nahe, die vor allem Kulturkonservative dann missbilligend ins Feld führen, wenn sie post/strukturalistisches Denken kritisieren wollen. Aber es geht darum, dass Guattari und Deleuze die Welt eines Ichs für nicht individuell genug halten. Ihr Denken ohne Subjekt handelt also nicht von der spektakulären Vernichtung grosser abendländischer Selbstgewissheiten wie Ich und Du und Müllers Kuh. Es lässt sie einfach hinter sich. Nur wer an der Unhintergehbarkeit von Subjektivität festhält, erkennt zwanghaft immer dasselbe Schauspiel wieder: das gleissende Licht eines sterbenden Subjekts. Deleuze und Guattari haben das Subjekt-Objekt-Universum einfach in ein Gefüge unterschiedlicher Situationen und Verhältnisse zerfallen lassen, die von einem Subjekt durchquert werden. Es konsumiert sie; und immer nur ein Teil eines Subjekts konsumiert Teile von Situationen. Dagegen erscheint die Vorstellung eines geschlossenen Ichs als idealistische Illusion. Und selbst die analytische Vorstellung eines durchgestrichenen Subjekts konzentriert sich noch auf ein Universum, in dem ein Es seine Witze über ein Ich macht. Statt dessen geht es bei Guattari und Deleuze weg vom Ich: »Was ich als Verkettung definiere, ist weder Subjekt noch Objekt, sondern - man braucht einen Begriff für ‘mitten durchgehen’ - eine Maschine in beiden, [...] in der Montageanordnung der materiellen und sozialen Flüsse, der ökonomischen Flüsse usw. In den Verkettungen gibt es Wort, Augen, Mund, Geld, Elektrizität, Körper, Autos und andere Sachen.« 25 Diese theoretische Konstruktion, in Strömen zu denken, in Feldern, Schichten, Plateaus, Linien und verschiedenen Geschwindigkeiten, ist der Versuch aus der Sonne der Subjektivität zu treten, die immer ihren Schatten des Nicht-Ichs schlägt, aus der Sonne des Zentrums, das immer seine Peripherie produziert, das Differenzen als Negativität, als Nicht-Ich, als Gegensatz zu etwas anderem fasst. Hier kommen viele Dinge zusammen: das Interesse für Nietzsche, die Kritik an Hegel, die Nähe zu Foucault, die Liebe zu Differenz und Mikropolitik. Nietzsche hat darauf hingewiesen, dass der »Tod Gottes zwar ein ohrenbetäubendes Ereignis ist, aber nicht ausreicht. [...] Nihilismus bedeutete bis eben: Entwertung und Negation im Namen höherer Werte. Und jetzt: Negation dieser höheren Werte, ein Austausch durch die menschlichen-allzumenschlichen Werte (die Moral ersetzt die Religion, die reine Nützlichkeit, der Fortschritt und die Geschichte selber ersetzen die göttlichen Werte). Nichts ist verändert, denn es sind dieselbe Sklaverei und dasselbe reaktive 24 25
Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 306f. Félix Guattari, Wunsch und Revolution, Ein Gespräch mit Franco Berardi und Paolo Bertetto, Heidelberg 1978, S. 61f.
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Leben, die im Schatten göttlicher Werte triumphierten und die jetzt mit Hilfe der menschlichen Werte triumphieren« 26 . Wenn das Subjekt an die Stelle Gottes rückt, bleibt die Stelle erhalten, die Struktur der Stelle. Nun ist es der Mensch, der sich selbst verbietet, was gesellschaftlich untersagt ist, der sich selbst zum Notwendigen ermahnt. So ist sich das Subjekt nach dem Tod Gottes zur eigenen Polizei geworden. Deleuze und Guattari wollen sowohl das cogito-ergo-sum-Subjekt der Philosophie umgehen als auch dieses modern formierte Sub jekt, das uns auf der Strasse begegnet in seiner unauffälligen Selbstdisziplinierung und das so gerne stehenbleibt, den Kopf gewendet, wenn ein Polizist Hey, Sie da! ruft. Für Deleuze und Guattari ist das Ich-sagende-Ich-Subjekt ein nachträglicher Effekt, der darin besteht, staunend zu sich selber zu sagen oder von sich sagen zu hören: Das also bin ich! Das also bist du!, nachdem es Teil einer Situation gewesen ist. Wer diese Nachträglichkeit zu einem gesicherten Ich des Ichs festzurren will, übersieht die Differenzen, an denen ein Subjekt teilhat, die vielfältiger und individueller als es selber sind: »Ein Leben ist überall, in allen Augenblicken, die von diesem oder jenem lebenden Subjekt durchlaufen und von diesen oder jenen erlebten Objekten gemessen werden: ein immanentes Leben, das die Ereignisse oder Singularitäten mit sich reisst, welche sich in den Subjekten und Objekten nur aktualisieren.« 27 Es gibt also einen Modus der Individuation, der sich von dem einer Person, eines Dings unterscheidet. Deleuze und Guattari ha ben diesen Modus »Diesheit« genannt: »Eine Jahreszeit, ein Winter, ein Sommer, eine Stunde oder ein Datum haben eine vollkommene Individualität, der es an nichts fehlt, auch wenn sie nicht mit der eines Dings oder Subjekts zu verwechseln ist.« 28 Ein Grinsen ohne Katze 29 . Flucht, Linien Stellen wir uns zum Beispiel die Sekunde vor, in der ein Richter seine Akten streichelt und dabei für einen kurzen Moment einen leisen, stillen Genuss empfindet. Es gibt dafür die Erklärungsweise des analen Charakters, bei der die Dinge noch alle getrennt voneinander gehalten werden: hier die Arbeitswelt, dort das Subjekt, dort seine Triebstruktur; eine Erklärungsweise die Gleichungen und Analogien bildet: Scheisse-GeldBürokratie etc. Das tut aber noch so, als ob es auf der einen Seite gesellschaftliche Produktionen von Realität gäbe und auf der anderen Wunschproduktionen von Phantasie. Zwischen Realität und Phantasie würden dabei nur zweitrangige Verbindungen von Projektion oder Verinnerlichung bestehen, so als gäbe es hinter der Anfass-Welt der Realität noch eine zweite schemenhafte Schattenwelt der Phantasmen. Guattari und Deleuze folgen einer anderen Vorstellung: alles ist real und passiert in einem sozio politischen Raum, in dem Unterschiedliches ineinandergreift, sich überlagert, blockiert, katalysiert, sich unterbricht oder unterläuft, in dem eine Serie in die nächste explodiert oder implodiert, das Mikro im Makro steckt und umgekehrt.
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Gilles Deleuze, Nietzsche, Ein Lesebuch, Berlin 1979, S. 32. Gilles Deleuze, Die Immanenz: ein Leben..., in: Friedrich Balke/ Joseph Vogl, Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 31. Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Tausend Plateaus, S. 354. Vgl. Gilles Deleuze über Lewis Carrolls Paradox eines Grinsens ohne Katze in: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 202
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Guattari und Deleuze haben versucht, diese Vorstellung mit unterschiedlichen Linien zu erklären. Die Erfindung von Begriffen wie molare Linie, molekulare Linie, Fluchtlinie zählt zu den theoretischen Lieblingsoperationen von Guattari und Deleuze, um das Denken mit etwas Unwillkürlichem zu konfrontieren, etwas Unbekanntem, einer Überraschung, die die Theorie aus verschulter Terminologie herausstösst und aus dem Gefilde dessen, was schon gedacht worden ist, dem Bannkreis des allgemeinverständlichen common sense, der meist beim Konservativen verweilt und das Besondere als Ausdruck des Allgemeinen fasst: »Wir haben mit den globalisierenden Begriffen Schluss gemacht. Auch die Begriffe sind ‘Diesheiten’, Ereignisse. Interessant an derartigen Begriffen wie ‘Begehren’, ‘Maschine’ oder ‘Verkettung’ erscheint, dass sie nur aufgrund ihrer Variablen, des Höchstmasses an Variablen, das sie gestatten, von Wert und Geltung sind. Wir sind nicht für ebenso dicke wie hohle Begriffe: DAS Gesetz, DER Meister und Gebieter, DER Rebell.« 30 Der Richter, von dem die Rede ist, wird von mehreren Linien durchzogen. Die erste ist die molare Linie; eine Linie, die harte Segmente absteckt. Hier grenzt ein Bereich direkt an den nächsten: Arbeit-Urlaub, Familie-Beruf, Geld verdienen-Einkaufen gehen. Die Bereiche sind gegensätzlich oder in aufsteigender Reihenfolge definiert: erst Familie, dann Schule, dann Lehre, dann Beruf oder Militär, dann wieder Familie, Ehe: »Kurzum, mannigfache, säuberlich gegliederte, in alle Richtungen sich erstreckende Segmente, uns an allen Ecken und Enden zerschneidend [...].« 31 So zerfällt der Richter in den Richter-Richter, der das Berufssegment bewohnt, den Gatten-Papa-Richter der Familie, den Tennispartner-Richter des Freizeitclubs usw. Jedes Segment hat sein eigenes Territorium, seine eigenen Regeln, sein eigenes Machtwissen. Ohne Anstrengung weiss der Richter, wie er sich verhalten soll, wenn er von einem Segment ins nächste wechselt. Die molare Linie ist hart, langweilig, konventionell, traditionsreich. Nun kommt aber noch eine weitere Linie zum Tragen, die Deleuze und Guattari molekular nennen und die die molare Linie in vielen Richtungen über- und unterkreuzt. Hier passiert der Knacks, ein crack-up. Eine kleine Schwelle wird überschritten. Hier streichelt der Richter seine Akten und geniesst es. Dabei handelt es sich nicht um das perverse Geheimnis seines analen Charakters, sondern darum, wie in einer bizarren Abdriftbewegung das Begehren alltäglich und massenhaft den Bereich der Bürokratie kreuzt und sich plötzlich in einer subjektiven Geste aktualisiert. Das Lustige ist, dass das permanent passiert, dass es das ist, was passiert, und dass es allen passiert, auch wenn sie es nicht repräsentieren, wenn sie sich immer nur als molares Subjekt sehen, als Richter, Studentin, Aktivist: »welche geheimen Verrücktheiten und Manien, und doch verknüpft mit den öffentlichen Mächten — etwa Professor sein oder Richter, Rechtsanwalt, Buchhalter, Hausfrau!?« 32 . Man kann die Texte von Deleuze und Guattari nicht als blinde Herausforderung eines Jetzt mal los mit den Begehrensströmen! missverstehen. An vielen Stellen weisen sie darauf hin, dass Vorsicht geboten ist, politisch, sozial, subjektiv; Vorsicht zum Beispiel mit dem politischen Rigorismus des radikalen Bruchs, der in einer zu schnellen Bewegung blind dafür machen kann, wie hartnäckig sich die Macht auch im Wunsch nach Emanzipation aufrichtet: »Und du solltest wissen, dass es nicht genügt, Junggeselle zu sein, kinderlos, schwul, Gruppenmitglied, um Ödipus zu entkommen, solange es Gruppen-Ödipusse, ödipale Homosexuelle, ödipalisierten Feminismus etc. gibt. [...] Es 30 31 32
Gilles Deleuze/ Claire Parnet, Dialoge, S. 155. Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 135.
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geht nicht um die Natur dieser oder jener exklusiven Gruppe, sondern um Querverbindungen, um transversale Beziehungen.« 33 Einsätze in den mikropolitischen Kämpfen Die neuen sozialen Bewegungen haben an den Schwellen des Politischen Politik gemacht. So bekam im Laufe der 60er Jahre das marxistische Theoriemodell Konkurrenz durch ein Denken und durch Praktiken, die die Macht nicht einfach auf den Staatsapparat oder die ökonomische Verfügungsgewalt des Kapitals zurückführten, sondern die Orte beschrieben und politisierten, an denen Machtmechanismen in den Alltag eingreifen: Ehe und Beziehung, der Rhythmus von Schule und Fabrik, Lernen und Malochen, Krankenhaus, Gefängnis, Familie usw. Die Untersuchung der Kräfteverhältnisse, die den sozialen Raum ordnen, traf sich mit Praktiken wie Kommune gründen, Ausschlafen, Abhauen, homosexuell Werden usw. So führte die mikropolitische Perspektive zu einer Kette subkultureller, alternativer und politischer Lebensstile, die erst einmal durch nichts miteinander verbunden sind, als auf irgendeine Art nicht mit dem gesellschaftlich dominanten Normsubjekt übereinzustimmen. Vor allem Félix Guattari, von der voie communiste kommend, in den 60ern Teil der linken Opposition, auch gegen die KPF, in den 70ern in der Nähe zur italienischen autonomia operaia stehend, machte eine Reihe von Einsätzen in den mikropolitischen Kämpfen. 1977, als der italienische Sender Radio Alice kriminalisiert wurde, schrieb er zusammen mit Danièle Guiellerme und Mario Montessano: »Alle Schaufenster des Kommunismus ‘New Look’ sind zersplittert. [...] Wir geben uns nicht damit zufrieden, die Verhältnisse zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten anzuklagen, wir greifen die Wurzel an, die Substanz der kapitalistisch-bürokratischen Ausbeutung, d.h. die Lohnarbeit, die passive Hinnahme einer Trennung zwischen Arbeit und Begehren, die emotionale Besetzung der Arbeit, die zur Droge wird zur Abschaffung aller Wünsche, die zur Welt öffnen.« 34 Eine Zeit lang ver banden sich so Praktiken und Theorien, die von Minorität und Begehren ausgingen und sich Realsozialismus-kritisch und links von den kommunistischen Parteien verorteten. Und es wurde klar, dass das Enteignet-die-Kapitalistenschweine, das Wir-besetzen Rathaus-Postamt-Polizeistation-Modell nicht ausreicht. Das Politische muss versuchen, massenhaft neue Verbindungen zu konstruieren, in denen Ausbeutung und Unterdrückung nicht mehr begehrt werden und die kleinen molekularen crack ups, die täglich regressiv statthaben, aus ihrem stillen Dasein heraustreten. Diese Politik verabschiedet sich von jedem für andere sprechen: »Sieh dir zum Beispiel die Frage nach der Beziehung zwischen Eros und Geld an. Diese ganzen Dussel die sagen: ‘Die Prostituierten, bravo, aber die Zuhälter, auf keinen Fall’... Was wissen die davon? Was begreifen die denn dabei? Ich jedenfalls glaube, dass das sehr kompliziert ist, dieses Triangel: Prostituierte-Lude-Geld. Jedenfalls habe ich nichts dazu zu sagen. Sie, die Prostituierten, können uns sicherlich eine Menge Dinge beibringen.« 35 Für eine linke Diskussion, die sehr schnell eine Front zwischen sich und den anderen aufmacht, zwischen Radikalität und Macht, Revolution und falschem Reformismus, die immer wieder einmal versucht, 33 34 35
Gilles Deleuze, Brief an einen strengen Kritiker, S. 22f. Félix Guattari et.al., Millionen und Abermillionen potentieller Alices, in: Colletivo A/traverso, Alice ist der Teufel, Berlin 1977, S. 9; 11f. Félix Guattari, Sexualisierung im Umbruch, Ein Gespräch mit Christian Descamps, in: Ders., Mikro-Politik des Wunsches, S. 80.
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einen jeweils guten Gesamtzusammenhang von Linksradikalismus, Feminismus oder Autonomie zu repräsentieren, bedeutet das, zu wissen, dass »die Mächte, die das Begehren vernichten oder unterjochen, [...] bereits selbst Teil der Begehrensverkettungen [sind]. Das Begehren muss bloss dieser Linie da folgen, und schon ist es, wie ein Segel boot, von diesem Wind gepackt, ihm ausgeliefert. Ein Begehren nach Macht, nach Selbstunterdrückung oder Unterdrückung der anderen existiert ebensowenig wie das Begehren nach Revolution. Vielmehr bilden Revolution, Unterdrückung, Macht etc. aktuelle Linien einer gegebenen Verkettung.« 36 Das argumentiert sehr nah an der Perspektive, mit der Foucault, Macht als Kräfteund nicht als Besitzverhältnis analysiert hat. Foucault geht davon aus, dass die Macht zirkuliert. Sie ist weniger ein massives und homogenes Phänomen der Herrschaft eines Individuums über das andere, einer Klasse über die andere, sondern eher eine netzförmige Organisation. Sie ist eine Praxis: »Und die Individuen zirkulieren nicht nur in ihren Maschen, sondern sind auch stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich ausüben und erfahren. Sie sind niemals unbewegliche und bewusste Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. Mit anderen Worten: Die Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch.« 37 Das gleiche Modell, in Verhältnissen und Prozessen und nicht in Subjektivitäten und Repräsentationen zu denken, wie bei Deleuze und Guattari. Man kann Macht nicht besitzen. Man kann sie auch nicht zerschlagen. Weniger pathetisch, als sich das anhört, zerschlägt man sich selbst dabei. Und so muss es möglich sein, das anzusprechen, was Guattari die eigenen Mikrofaschismen genannt hat, um an die Verteilungsweisen von Macht heranzukommen, die Mischungsverhältnisse, ohne etwas zu gestehen, ohne sich schuldig zu bekennen und damit in das Hin und her von Angst und Angriff zu geraten oder in eine analytische Inspektion des eigenen Ichs. Denn das, was sich ändern lässt, ist die Verteilung, die Zirkulationsweise von Macht. Genauso ist es mit dem Begehren. Man besitzt es nicht. Man ist mit ihm verbunden. Das heisst, dass es im Politischen nicht allein darum geht, das Elend aufzudecken, die Lügen, die Repressionen und Verbote, sondern positive Praktiken zu entwickeln: »Solange man nur ad infinitum das immergleiche AntiRepressionslied singt, bleiben die Dinge unverrückt, und es ist ganz gleich, wer den Gesang anstimmt, es hört ihm doch keiner zu.« 38 Was die Entwicklung der neuen sozialen Bewegungen und linksradikaler Gruppen anbelangt, so ist für Guattari und Deleuze gerade der Moment der Nicht-Repräsentation und der Verkettung von Macht und Begehren nicht stark genug gesehen worden. Dabei geht es auf keinen Fall um eine grössere Anstrengung, sondern um weniger Anstrengung. Zum Teil kann sie darin liegen, politischen Moralismus, mit dem AktivistInnen sich und andere unter Druck setzen, und der immer dann in Ignoranz oder in ein Mitallem-Aufhören umschlägt, wenn der Druck nicht mehr ausgehalten oder durch Überdosierung wirkungslos geworden ist, gegen eine Art Ent-Individualisierung einzutauschen. Es liegt nicht an dir in einem grossen, schuldig machenden Sinne: »Denke nicht, dass man traurig sein muss, um militant sein zu können.« 39 Es wäre falsch verstanden, nun eine Politik der Sparsamkeit und der kleinen Brötchen zu beginnen. Vielmehr geht es um die Frage, wie sich Verbindungen herstellen 36 37 38 39
Gilles Deleuze/ Claire Parnet, Dialoge, S. 143f. Michel Foucault, Recht der Souveränität/ Mechanismus der Disziplin, S. 82. Ders., Dispositive der Macht, S. 234. Michel Foucault, Der Anti-Ödipus - Eine Einführung in eine neue Lebenskunst, in: Dispositive der Macht, S. 229.
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lassen zwischen den vielen Situationen, in denen wer dem Chef widerspricht, zu spät kommt, sich zu blöd ist, »‘alles das’ nicht mehr ertragen kann, das Geld, die Börse, die Todesmächte, sagte Nijinskij - Werte, Moralen, Vaterländer, Religionen und private Gewissheiten« 40 . Plötzlich merkt eine, wie komisch die Sinn- und Sexgeschäfte von Beziehungen sind und tut etwas anderes, spürt den Spass- und Freizeitterrorismus des Kapitalismus und schlägt ausweichend eine andere Richtung ein. So entweicht in der Gesellschaft immer etwas. Sie ist keine Totalität, nicht das ganze Falsche, in der die Arbeit des Widerspruchs am Werke ist. Die »Gesellschaft ist etwas, das leckt, finanziell, ideologisch, es gibt überall Leckstellen« 41 . Das ermöglicht das, was Guattari und Deleuze Werden nennen. Selbst wenn man sich für sein eigenes Leben vorgenommen hat, bei Stillstand und Reaktion zu verharren, geht das Begehren seine Wege und koppelt sich mit einer Fülle von Ticks an die Prozeduren der Macht an. Wobei sich die Dinge des Begehrens nicht alle im Kleinen abspielen. Dort werden sie zwar manchmal als Gesten sichtbar, vorhanden sind sie aber überall. Sie besetzen das ganze gesellschaftliche Feld. Deleuze und Guattari haben deshalb die Frage nach dem Vernichtungswillen des Faschismus damit beantwortet, dass die Deutschen massenhafte Vernichtung gewünscht haben, eine paranoische Gegen-Flucht vor den Möglichkeiten der Veränderung: »Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht.« 42 Der Mai 68 und die italienische autonomia der 70er Jahre waren für Deleuze und Guattari dagegen der andere Horizont; die Aktualisierung der Möglichkeit, dass sich eine Politik des Wunsches auf dem ganzen gesellschaftlichen Feld artikulieren kann und nicht nur als Randgruppen-Politik und Nischen-Praxis. Differenz der Differenz Theoretisch geht es darum, Differenz nicht zu repräsentieren, sondern zu produzieren und damit, wie Deleuze im Vorwort zu Differenz und Wiederholung geschrieben hat, um einen »verallgemeinerten Antihegelianismus« 43 . Für Deleuze denkt Hegel im Kreis. Dessen Anfangspunkt war ein konkretes Sein, die Dinge an sich, die nichts übergreifend allgemeines ausdrücken. Ein Sein aber, das jeder Bestimmung entkleidet ist, denkt sich Hegel, ist eigentlich Nichts. Da für ihn aber das Grosse nicht aus dem Niederen kommen kann, musste das Ende der Entwicklung, der absolute Geist, schon retroaktiv in seinem unbestimmten, leeren Anfang miteingeschlossen sein, »ein abgekartetes Spiel des Anfangs, der immer schon mit dem Ende konspiriert«44 . Wie geht das? Das geht dialektisch durch die selbsttätige Bewegung der Negativität, die dem Sein das Anders-Sein entgegensetzt und — von dieser Kraft weiter getrieben einer höheren Synthese zusteuert: »Das Negative ist nun das Werden des Positiven [...]. Die Differenz erfährt im gesetzten Widerspruch ihren eigenen Begriff, wird in ihm als Negativität bestimmt, wird in ihm rein, innerlich, wesentlich, qualitativ, synthetisch, 40 41 42 43 44
Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 441. Gilles Deleuze, Sehen und Sprechen, Erfahrungen, Aussagen - Erinnerung an ein Denkexperiment, in: Lettre International, Berlin 1996, S. 17. Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 39. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 11. Friedrich Balke, Gilles Deleuze, Frankfurt/ Main 1998, S. 29.
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produktiv und lässt keine Indifferenz fortbestehen. [...] Auf diese Weise wird die Differenz bis zum Ende getrieben, d.h. bis zum Grund, der ihre Wiederkunft oder Reproduktion ebenso wie ihre Vernichtung ist.« 45 Hegel und die Dialektik sind für Deleuze ein grosses Ärgernis. Er denkt alles gerade anders herum. Die Differenz ist bei ihm positiv und primär. Sie verortet sich nicht im Begriff und der Negativität des Widerspruchs, sondern in der unglaublichen Fülle, dessen was passiert, im Empirischen also, im Sinnlichen, in den Ereignissen selbst. Differenz ist nicht das Andere des Eigenen, das vom Eigenen aus sich herausgestellt wurde. Bei Deleuze ist Differenz Mannigfaltigkeit, Differenz der Differenz, nicht-repräsentierte differentielle Differenz. Beim Versuch, sie zu repräsentieren, wird das Unterschiedene umzäunt, gegeneinander gesetzt, zurechtdefiniert, auf Begriffe gebracht. So ist das Negative zwar das Bild von der Differenz, »allerdings ihr flachgedrücktes und verkehrtes Bild, wie die Kerze im Ochsenauge - im Auge des Dialektikers, der von einem nichtigen Kampf träumt« 46 . Differenzen sollen nicht zum Zwecke der Repräsentation dem Identischen untergeordnet werden. Damit beinhalten sie nicht mehr das Negative und den Widerspruch. Diese Überlegungen finden sich auch in feministischen Diskussionen oder in Kritiken des Multikulturalismus. Wenn das andere immer noch das andere des Eigenen ist, ver bleibt alles in einer Logik von Identität und Repräsentation, auch wenn das andere z.B. multikulturalistisch positiv bewertet wird. Kapitalismus verstehen 2 Im Kommunistischen Manifest schreiben Marx und Engels, wie der Kapitalismus selbst Differenzen produziert, indem er vorangegangene Codes der Moral, Religion, Sittlichkeit modernisiert, aufbricht, deterritorialisiert , wie Guattari und Deleuze sagen würden: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende wird entweiht.« 47 Für Guattari und Deleuze besteht die Wahrheit des Kapitalismus darin, dass er sich von Widersprüchen ernährt. Sie bedrohen ihn nicht. Er bejaht ihre Verwertung als Innovation. Der Kapitalismus ist in diesem Sinne ein positives Regime: »Darin offenbart sich die Identität von Gesellschafts- und Wunschmaschine: nicht Abnutzung macht ihre Grenze aus, sondern die Fehlzündung, sie funktioniert, wenn sie knirscht, wenn sie kaputtgeht, in kleinen Explosionen birst — die Dysfunktionen sind Teil ihres Funktionierens.« 48 Das verweist auf die Schwierigkeiten, den Kapitalismus zu unterlaufen und damit auch auf die zweite Schwierigkeit, der die Mikropolitik neben der Gefahr, in Identitäts- und Repräsentationspolitik zurückzufallen, begegnet ist: minoritärer Motor eines Differenzkapitalismus zu werden. In der Hochkonjunktur von Pop zeigt sich, wie einfach das funktioniert. Den Prozess, in dem die Langeweile des Kulturmanagements sich dem Populären zuwendet, als Geschichte von Verrat und Sellout 45 46 47 48
Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 70. Ebenda, S. 77. Karl Marx/ Friedrich Engels, Das kommunistische Manifest, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1980, S. 465. Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 193.
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zum Skandal zu machen, wäre ganz falsch, weil es eher um einen Grenzverlauf geht, an dem Kapitalismus Dissidenz ermöglicht und dann versucht, funktionabel zu halten. Gerade die Deterritorialisierungsbewegung des Kapitalismus bedeutet aber auch, dass dieses System kein Gesamtintegrationsmonster darstellt, dass immer etwas entkommt, was vielleicht nur zu vereinzelt und unverbunden bleibt, um das System in Frage zu stellen. Die Vorstellung von einer »erweiterten Immanenz des Systems [...] [, das] die Grenze durch ihre Verschiebung zu rekonstituieren [sucht]« 49 , führt zu einer Abwertung von Ideologie. Die Subjekte erliegen keinem falschen Schein, der wie ein Schleier über den Verhältnissen liegt. Ihre Wünsche sind real und materiell mit dem verbunden, was passiert. Ideologie verweist noch auf die Weltanschauung eines Individuums, auf falsches Bewusstsein, auf irre geleiteten Glaube an etwas. Deleuze und Guattari versuchen aber den Kapitalismus als etwas zu beschreiben, das auf verwertbares Funktionieren setzt. Der Gegenstand der Verwertung ist dabei tendenziell relativ egal. In gewisser Weise geht es um eine Radikalisierung der These Althussers, dass das Subjekt nicht anders kann, als ein ideologisches, nämlich imaginäres Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen aufzunehmen. Schon bei Althusser handelt es sich dabei nicht um falsches Bewusstsein, über das man ein Subjekt aufklären kann. Das Imaginäre ist für Althusser eine ganz und gar unabdingbare Dimension sozialer Existenz, genauso essentiell wie Politik und Ökonomie. Guattari und Deleuze gehen einen Schritt weiter. Sie sagen, das Imaginäre ist real. Sie kennen keine Trennung zwischen sogenannter objektiver Realität der Dinge und Verhältnisse und sogenannten subjektiven Imaginationen und Phantasmen. Sie denken in Gefügen, in denen Teile von Subjekten, Objekten, von Machtformationen, Stimmungen und Verhältnissen, Wünschen und Verwertungen zusammen funktionieren. Und deshalb gibt es keine Ideologie als grosses Wahrheitsverschleierungsinstrument, um die Einzelnen auf der Ebene ihres Bewusstseins zu verwirren: »Die Gesellschaft erstellt ihr eigenes Delirium im Akt der Aufzeichnung des Produktionsprozesses; doch dieses Delirium ist keines des Bewusstseins, oder das falsche Bewusstsein ist vielmehr wahres Bewusstsein einer falschen Bewegung, wirkliche Wahrnehmung einer objektiv-scheinhaften Bewegung.« 50 Man darf sich die Deterritorialisierungsbewegung des Kapitalismus nicht als einsinnige, vorwärtsstürmende Tendenz vorstellen. Was den Kapitalismus charakterisiert, ist gerade seine Geschmeidigkeit, seine Anschlussfähigkeit, seine Gleichzeitigkeiten und Diskontinuitäten. Vor allem die Entwicklung der 80er und 90er Jahre zeigt, wie der Ka pitalismus an beiden Horizonten, De- und Reterritorialisierung, fortschreitet: das Wiederauftauchen reaktionärer Weltanschauungen, Nationalismen und Rassismen verbindet sich mit weiteren kulturellen Freisetzungsprozessen, vor allem in den medialen Repräsentationen, zum Teil aber auch in den Lebensstilen. 1990 hat Deleuze einen kleinen Artikel in L’ autre journal veröffentlicht, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in dem er darüber schreibt, dass der Spätkapitalismus allmählich von der Disziplinierung zur Kontrolle überwechselt. Nicht mehr geschlossene Einschliessungsmilieus wie Gefängnis, Fabrik, Schule oder Krankenhaus produzieren und formieren die Subjekte. Diese Milieus sind in einer mehrfachen Bewegung reformiert und geöffnet worden. Sie haben sich durch den Druck sozialer Auseinandersetzungen und Kämpfe verändert, sie sind sozialdemokratisch modernisiert und angepasst worden, Ausdruck verfeinerter Kontrollen, Rafinessen der Macht. Gleichzeitig sind sie unter dem Druck einer neoliberalen Sparpolitik von oben schlank reformiert 49 50
Ebenda, S. 297. Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus, S. 17.
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worden. So ergibt sich eine Mischlage aus Fortschritt, Flexibilisierung und Kapitalisierung: »In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.« 51 Die grossen molaren Institutionen sind in eine krisenhafte Bewegung gekommen, Familie, Ehe, Heterosexualität, Krankenhaus, Gefängnis, Beruf, Freizeit usw. Wobei sich wiederum die Frage stellt, ob die momentanen Abweichungen von der Norm dazu beitragen, das Normale zu erhalten und zu stabilisieren oder ob sich in ihnen etwas anderes zeigt, anders gelebte Leben. Im Sinne einer nicht-reduktionistischen Theorie werden sie beides sein. Sie markieren jenen ambivalenten kapitalistischen Grenzverlauf, der ein Kräfteverhältnis beinhaltet — und eine Aufforderung: »In der Krise des Krankenhauses als geschlossenem Milieu konnten zum Beispiel Sektorisierung, Tageskliniken oder häusliche Krankenpflege zunächst neue Freiheiten markieren, wurden dann aber Bestandteil neuer Kontrollmechanismen, die den härtesten Einschliessungen in nichts nachstehen. Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.« 52
51 52
Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Ders., Unterhandlungen, S. 257. Ebenda, S. 255f.
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Elfriede Müller
Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze
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Die Verabschiedung vieler der Postmoderne zugeordneter Denker vom abendländischen Vernunftbegriff und der Bewußtseinsphilosophie von Descartes bis Hegel geschah aus den selben Beweggründen, aus denen Adorno und Horkheimer die Dialektik der Aufklärung verfaßten. Adorno und Horkheimer zogen in der Dialektik der Aufklärung 1944 die Konsequenz aus den Massakern dieses Jahrhunderts und überführten das Ganze als solches der Unwahrheit. Eine revolutionäre Umwälzung konnten sie sich im Spätkapitalismus weder als Umkehrung noch als Praxis vorstellen. Gleichwohl insistierten sie auf ihrer Notwendigkeit. Die Revolutionsvorstellung der Kritischen Theorie war noch durch die Einzigkeit eines Ereignisses und die subjektive Handlung geprägt. Der Optimismus der Aufklärung war nicht mehr aufrechtzuerhalten, er »blieb in den Knochenhaufen von Auschwitz« (Emmanuel Terray). Das Unbewußte der kollektiven Praktiken nach dem Nationalsozialismus zu verstehen, beschäftigte die französische Philosophie der Nachkriegszeit wie die Kritische Theorie in der Bundesrepublik. Der Widerstand gegen die Gegenwart, dem die Idee einer Revolution zugrunde liegt, kann sich auch anders Ausdruck verschaffen als durch die Einzigkeit eines Ereignisses, nämlich in jeder beliebigen Situation, an jedem Punkt der sich permanent auflösenden und sich wieder neu zusammenschließenden Gesellschaft, behauptet Gilles Deleuze. Statt dem Universellen sucht Deleuze eine nicht lokalisierbare Flucht- oder Widerstandslinie. Das strukturalistische Denken, das von den fünfziger Jahren bis Ende der siebziger Jahre den kritischen philosophischen Diskurs in Frankreich bestimmte, wurde durch die Ereignisse von 1968, die größte gesellschaftliche Bewegung, die Frankreich je erlebte, heftig in Frage gestellt. Mit der Theorie vom unterworfenen Subjekt und seiner Selbstregulierung hatten die 10 Millionen Streikenden wenig am Hut. Aus der strukturalistischen Schule entstand nicht zuletzt deshalb 1972 eine radikale Kritik, die als erste die Ereignisse des Mai philosophisch interpretierte. Die Kritiker Gilles Deleuze und Felix Guattari werfen dem Strukturalismus sein Verharren in der bürgerlichen Philoso phiegeschichte und der Psychoanalyse vor. Diese Vorwürfe könnten leichterhand auch auf die Kritische Theorie ausgeweitet werden. Gleichviel sind die Elemente der Deleuzschen Kritik der Kritischen Theorie verwandter als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ich stelle mit dem folgenden eine bestimmte Lesart des philosophischen Denkens von Deleuze vor, die zentrale Elemente seiner Philosophie in die Nähe von Theoremen und Einsichten der Kritischen Theorie rückt. Die Frage nach den Ursachen des Aus bleibens der sozialen Revolution, die auch in der Phase der Herausbildung der Kritischen Theorie der Gesellschaft in den späten dreißiger Jahren gestellt wurde, interessiert auch Gilles Deleuze bei seiner Analyse von modernen Subjektivierungsmechanismen. Mit der Erörterung der folgenden drei Themenblöcke werde ich versuchen, dem Deleuzschen Denken auf die Spur zu kommen: Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? Das Verhältnis von Staatsapparaten und Kriegsmaschinen Werden und Ereignis. Fluchtlinien statt Utopie Mir ist klar, daß dies ein sehr waghalsiges Unterfangen ist und dem komplexen Theoriegebäude von Deleuze kaum gerecht werden kann. Gleichwohl fordern seine Arbeiten dazu auf, von ihnen ausgehend zu denken und zu schreiben. Das Folgende will so-
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wohl ein Einstieg in dieses Denken sein, als auch eine Aufforderung, mit der Philoso phie von Gilles Deleuze zu experimentieren. Der Begriff der Revolution dürfte außer bei Karl Marx bei keinem Philosophen eine so bedeutende Rolle spielen wie bei Gilles Deleuze. Deleuze schreibt über die soziale Revolution als grundlegender Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne von Karl Marx, ohne dessen Klassen- und Interessenbegriff zu verwenden. Deleuze betreibt eine Revolution des traditionellen philosophischen Denkens, dessen Verstricktheit in das Bestehende er erkennt und gedanklich systematisch bekämpft. In gewisser Weise führt Deleuze die Negative Dialektik von T.W. Adorno fort, auf die er sich vor allem in seinen letzten veröffentlichten Texten mehrfach bezieht. Die Negative Dialektik war ein Versuch, die Möglichkeit philosophischer Erfahrung zu retten und zu exponieren. Einige der Arbeiten von Deleuze versuchen diese Möglichkeit zu nutzen. Die übliche Lesart von Deleuze sieht den Philosophen als Gegner der Aufklärung, des Marxismus und der Kritischen Theorie. 1 Daß das genaue Gegenteil zutrifft, möchte ich am folgenden nachweisen. Die Sperrigkeit der Texte von Deleuze und ihre fragmentarische Rezeption stempeln ihn zu leichtfertig vom Antihegelianer zum Antimarxisten. Die Philosophie von Deleuze ist einer Guerilla vergleichbar. Sie beansprucht, mit den herrschenden Verhältnissen in einen Krieg zu treten, aber sie weigert sich, deren Mittel zu benutzen. Deleuze, der die Möglichkeit von Erkenntnis auf Bewußtsein und Erfahrung beschränkt, stellt eine theoretische Immanenzebene her, in der es um das Hier und Jetzt der Revolution geht. Zu sagen, die Revolution selbst sei eine Utopie der Immanenz, heißt nun aber nicht, sie sei damit ein Traum, etwas, das sich nicht verwirklicht oder nur verwirklicht, indem es Verrat an sich selbst begeht. Im Gegenteil, es bedeutet, die Revolution als Immanenzebene zu setzen, als unendliche Bewegung, absolutes Überfliegen, allerdings insofern diese Merkmale sich mit dem verbinden, was es hier und jetzt im Kampf gegen den Ka pitalismus an Realem gibt, und immer wieder neue Kämpfe entfalten, sobald der vorhergehende verraten ist. »Das Wort Utopie bezeichnet folglich diese Verbindung der Philosophie oder des Begriffs mit dem vorhandenen Milieu: politische Philosophie.« 2 Deleuze nimmt diese Philosophie als bedroht wahr. Deshalb unternimmt er den Versuch, sie neu zu bestimmen. Seine Neubestimmung schafft neue Begrifflichkeiten und bewahrt, was ihm an den Ereignissen des Mai 1968, am Marxismus und der klassischen Philosophie bewahrenswert erscheint. Wie die Kritische Theorie hält Deleuze nichts von der Trennung von Theorie und Praxis. In Bezug auf Nietzsche setzt er die Idee der Kritik in eins mit der Philosophie. Seine philosophischen Quellen sind zahlreich: Spinoza, Leibniz, Hume, Newton, Nietzsche, Kant, Hegel, Bergson und Marx. Das selbstdefinierte Ziel in seinem Denken ist, die Bewegung individueller Kräfte zu erhalten und zu ermöglichen. Deshalb ist es falsch, Deleuze die Negation des Subjektes unterstellen zu wollen. Das Subjekt existiert in seinem Denken, aber als ein singuläres und serielles. Deleuze negiert das Subjekt daher keinesfalls, er wertet es eher auf. Es wäre sogar leicht möglich, ihm eine neue Subjekt- oder Revolutionstheorie zu unterstellen. Deleuzes Sub1
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Luc Ferry und Alain Renaut: Antihumanistisches Denken. München u.a. 1992. Zourabichvili, Francois: Deleuze. Une philosophie de l’événement. Paris 1994. Vgl. auch die Schlammschlacht in der Berliner Wochenzeitung Jungle World, die alle dem Strukturalismus verwandten Denker als anti-emanzipatorisch diffamiert: Nr. 46/97, S. 18, C. Nachtmann: O Herr, deleuze uns von diesem Übel. Nr. 7/98: S. 15-18. ISF: Heideggerisierung der Linken. Deleuze, Gilles, Was ist Philosophie?, Frankfurt 1991, S. 115.
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jektkonzeption geht auf Nietzsche zurück. Bei Nietzsche wird die Freiheit mit dem Willen zur Freiheit erkämpft. Er beansprucht, daß seine Philosophie des Willens die Meta physik ersetze, sie zerstöre und überhole. Der Wille bedeutet bei Nietzsche, Umwertungen alter Werte vorzunehmen und neue Werte zu schaffen. Wie Adorno folgt Deleuze Nietzsche in der Ablehnung eines Bezugs auf eine ideale Welt neben der existierenden. Die Transzendenz ersetzt er durch die Genealogie. Deleuze interpretiert das Verhältnis von Nietzsche und Kant wie das von Marx zu Hegel: Nietzsche wolle die Kritik vom Kopf auf die Füße stellen. Deleuze schätzt an Nietzsches Werk die permanente Kritik aller gesellschaftlichen Mythen. Die Philosophie als Kritik sei ein Unternehmen zur Entmystifizierung von Gesellschaft. Deleuze hat in langwierigen theoretischen Prozessen die philosophischen Bedingungen einer kritischen Philosophie nach dem Strukturalismus geschaffen. Seine Bindung an das Marx’sche Werk hat seine akademische Rezeption erschwert, so wie seine Weiterentwicklung der Marxschen Gesellschaftstheorie seine Rezeption innerhalb der Linken bis heute schwierig gestaltet, die ihn diffus der Postmoderne zuordnet. Gerade weil Deleuze sich als ihr exquisiter Kenner erweist, konnte er zu ihrem gründlichsten Kritiker werden. Er warf den „Neuen Philosophen Frankreichs“ häufig vor, daß, wenn sie Marx anprangern, keinesfalls eine neue Analyse des Kapitals vornehmen würden. Statt dessen verliere das Kapital mysteriöserweise jede Existenz und die vermeintlichen Kritiker beschränkten sich auf die politischen und ethischen Konsequenzen des Stalinismus, die sie auf Marx zurückführen würden. 1988 in einem Gespräch mit dem Maga zine littéraire stellte Deleuze richtig, daß es zur Zeit bestimmt nicht an einer Kritik des Marxismus fehle, sondern an einer modernen Theorie des Geldes, die so gut wie die von Marx wäre und sie weiterführen würde. Deleuze und sein Freund Felix Guattari, mit dem zusammen er vier Bücher verfasste 3 , hielten an der immanenten Analyse und Kritik des Kapitalismus als System fest. Die Analyse der Fabrik und ihren Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft vagabundiert durch das Werk der beiden Philosophen. Die tiefgreifende Mutation des Kapitalismus im späten 20. Jahrhundert, der Wandel der Fa brik zu einem Unternehmen mit „Seele“, bewegte Deleuze zu einer Revolution der traditionellen Denkmuster, die dieser Mutation nichts mehr entgegenzusetzen haben und, um mit Deleuze selbst zu sprechen, daraus keine Fluchtlinien mehr entwickeln könnten. Die Krise der Institutionen als Dauerzustand, so prognostizierte Deleuze, sei der fortschreitende und gestreute Aufbau einer neuen Herrschaftsform. Die aufklärerische Position von Deleuze manifestiert sich zum ersten Mal deutlich in der Logik des Sinns. Diese Haltung verlangt es, mehr Wissen über das zu einem bestimmten Ereignis führende Handeln zu produzieren. Mit der Einführung des Begriffs des Ereignisses hat Deleuze bereits das strukturalistische Denken von Lacan und dessen statische Schematik überschritten. Zusammen mit Guattari wendet er sich im AntiÖdipus gegen die strukturalistische Lesart der Ethnologie und Linguistik und führt das Unbewußte »aus dem Labyrinth der Kellerräume der Psychoanalyse ans Licht«. 4 Deleuze nimmt das Unerträgliche der gesellschaftlichen Zustände im Detail wahr und entwickelt Fluchtlinien, wie dieser Unerträglichkeit noch zu entkommen sei. Die philoso phische Schaffung von Fluchtlinien aus dem Bestehenden hat bei Deleuze viel mit dem Begriff der Wahrheit zu tun. Wahrheit sei nichts, das schon da sei und nur zu entdecken 3 4
Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Anti-Ödipus, Frankfurt/M. 1974; dies., Tausend Plateaus, Berlin 1992; Deleuze, Gilles: Was ist Philosophie?, Berlin 1996 und ders., Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt/M. 1976. Jäger, Chr.: Gilles Deleuze. Eine Einführung. München 1997, S. 117.
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wäre, sondern Wahrheit müsse auf jedem Gebiet erst geschaffen werden. Wahrheit hänge immer von einem Gedanken ab, so lautet sein Grundaxiom, von der Kapazität dieses Gedankens, einem Außen, einem Anderen gegenüberzutreten und konsequenterweise ein neues Problem anzugehen. Der Umgang der traditionellen Philosophie mit der Wahrheit setze voraus, daß diese Welt, in der wir leben, die wahre, d.h. die richtige sei. Die bestimmten postmodernen Denkern zurecht unterstellte Beliebigkeit des Begriffes ist Deleuze völlig fremd. Mit der Genauigkeit seiner geschaffenen Begriffe will er das Denken daran hindern, zur bloßen Meinung, Ansicht, Diskussion, ja, zum reinen Geschwätz zu werden. Die Tätigkeit des Philosophen, Begriffe zu schaffen, bedeutet für Deleuze zu widerstehen. Indem er neue Begriffe bildet, will er die traditionelle Philoso phie einer überholten Welt überwinden und Erkenntnis ermöglichen. Statt der Identität von Subjekt und Objekt sucht Deleuze den Ausdruck einer möglichen anderen Welt. Statt von Subjektivierungsprozessen schreibt Deleuze von neuen Typen von Ereignissen. I. Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es dabei um ihr Heil? Anläßlich des Erscheinens von Tausend Plateaus im Jahre 1980 charakterisierten Deleuze und Guattari die aktuelle politische Situation als entmutigend. Der Vertrag, das Grundmodell der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, sei als Subjektivierungsprozeß durchgesetzt, das Ergebnis sei die freiwillige Unterwerfung der Individuen unter die gesellschaftliche Logik. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte der Frieden technisch den grenzenlosen materiellen totalen Krieg ausgelöst. Deshalb sei der Faschismus gar nicht mehr nötig, die Unter jochung sei durch die freiwillige Unterwerfung abgelöst worden. Die Kriegsmaschine des materiellen Krieges aller gegen alle brauche keinen bestimmten Feind mehr, sie wende sich gegen einen beliebigen Feind im In- oder Ausland. Unterwerfung definieren Deleuze und Guattari als Subjektkonstitution des Menschen durch eine höhere Einheit. Dieses Subjekt beziehe sich auf ein äußerlich gewordenes Objekt, ganz gleich was es ist. Im Spätkapitalismus werde man nicht mehr unterjocht, sondern unterworfen. Die maschinelle Unterjochung sei durch gesellschaftliche Unterwerfung ersetzt worden. Das Kapital wirke als Subjektivierungspunkt, der die Menschen als Subjekte konstituiere. Das Regime der Lohnarbeit habe die Unterwerfung der Menschen bis zu einem noch nie dagewesenen Punkt vorangetrieben. Der Kapitalismus sei ein weltweites Subjektivierungsunternehmen, dessen Machtausübung sich über Mikrogefüge erstrecke, d.h. die moderne Knechtschaft sei sowohl freiwillig als auch erzwungen. Die unterschiedlichen Formen von Erziehung und Normalisierung, die einem Individuum aufgezwungen werden, bestehen darin, es zum Wechsel der Subjektivierungspunkte zu veranlassen, die immer höher und erhabener, immer konformer mit einem angenommen Ideal sein sollen. Diese Welt ermögliche es einem nicht mehr, sich selbst oder gar eine andere mögliche Welt zu denken. Deshalb ist sie nicht zu tolerieren. Das nicht zu tolerierende sei nicht mehr eine große Ungerechtigkeit, sondern die ständige alltägliche Banalität. Die Ver bindung zwischen Mensch und Welt ist gerissen. 1969 haben Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus eine neue Bestimmung des Unbewußten vorgenommen. Das Unbewußte sei elternlos, es erzeuge sich selbst in der Einheit von Natur und Mensch. Das ödipale Dreieck existiere nicht, es sei schlicht eine
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ideologische Form. Der Vorwurf von Deleuze und Guattari an die Psychoanalyse lautet, daß diese die Gesellschaft durch die Familie ersetze. Ihr Anspruch ist es, diesen Kurzschluß aufzubrechen und klarzustellen, daß das Unbewußte einem viel bedeutenderen Einfluß unterliegt. Denn Ödipus sei stets offen in einem selbst offenen gesellschaftlichen Feld. »Niemals stellt die Familie einen Mikrokosmos im Sinne einer autonomen Figur dar. (...) die Commune, Dreyfus, Faschismus, Stalinismus etc. bilden die Komplexe des Unbewußten und sie sind wirksamer als der immerwährende Ödipus.« 5 Die ödipale Theorie wird als funktional für die kapitalistische Vergesellschaftung analysiert. »Als ein unübertreffliches Masseninstrument bildet Ödipus die letzte unterwürfige und private Territorialität des europäischen Menschen.« 6 Die erneute Begrenzung des Wunsches auf eine Familienszene bewirke, daß die Psychoanalyse die Psychose verkenne, sich nur mehr in der Neurose wiedererkenne und von der Neurose selbst eine Interpretation abgebe, die die Kräfte des Unbewußten entstelle. Der Ödipuskomplex sei grundsätzlich ein Unterdrückungsapparat der Wunschmaschinen und keineswegs eine Formation des Unbewußten. Eine materialistische Psychiatrie sei diejenige, die die Produktion in den Wunsch einführe und umgekehrt den Wunsch in die Produktion. Deleuze und Guattari halten der familialen Besetzung der Libido, wie sie in der Psychoanalyse behauptet wird, die gesellschaftliche Besetzung der Libido entgegen. Jedes Delirium besitze einen welthistorischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Hintergrund. Sie bescheinigen der Psychoanalyse eine tiefe Verbundenheit mit der kapitalistischen Gesellschaft und sprechen ihr deshalb einen emanzipatorischen Gehalt ab. Ihrer Argumentation zufolge existiert das Subjekt im Kapitalismus sowieso nur als Funktion im Warenverhältnis selbst. Auch Leute, deren Interesse eigentlich nicht darin liege, verbinden sich gleichwohl mit der Macht und betteln um ihre Brosamen, da das sogenannte Interesse immer dem Begehren folge. Es sind die libidinösen Besetzungen gesellschaftlicher Macht, die zu reformistischen oder gar reaktionären Haltungen führen können. Die Ökonomie setze die Mechanismen der Herrschaft bereits voraus. Die Herrschaft verfahre nicht ideologisch, sondern produktiv; Sie produziere Reales und operiere nur noch selten mit Gewalt oder Repression. Deleuze nennt die qualitativ neue, in ihren Auswirkungen erschreckende grundlegende Operation der modernen Gesellschaft die Normalisierung und sieht in ihr etwas grundlegend anderes als eine Ideologie oder Re pression. Die Herrschaft sei anonym und beruhe viel eher auf der Maschine als auf dem, der sie in Gang setze. Je anonymer und funktionaler die Herrschaft werde, desto mehr würden die ihr Unterworfenen individualisiert, d.h. ihres Potentials zur Subjektwerdung beraubt. Die Maschinen selbst seien die vom Kapitalismus konstruierte Realität. Sie seien die konkreten Formen, in denen sich das Leben organisiere, die Welt sich verändere und gleichzeitig die materialen Verknüpfungen, in denen sich die Subjektivität produziere. Dieses Subjekt produziere die Welt entlang des Gesamthorizontes seiner Projektionen und immer mehr auch sich selbst. Bereits die Marx’schen Grundrisse hatten das System der Maschine als allgemeine gesellschaftliche Tendenz vor Augen. Die produktive Verwertung, so Deleuze weiter, verlagere sich nun von der Sphäre der direkten materiellen Ausbeutung in die politische Herrschaft. In dem Maße, in dem die Herrschaft abstrakt und parasitär werde, werde das Kommando nutzlos und überflüssig, so daß der Antagonismus seiner äußersten Zuspit5 Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, a.a.O., S. 126. 6 ebenda, S. 132.
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zung gleichsam entleert sei. Die Gesellschaft habe sich dem Kapital vollständig unterworfen, im Spätkapitalismus falle die Macht mit dem Kapital zusammen. Diese spätka pitalistische Form der Macht vollführe einen permanenten Krieg gegen uns selbst. Ein individuelles Leben sei eine serialisierte, kapitalistische Mini-Krise, »ein Desaster, das Euren Namen trägt«. 7 Die gesellschaftliche Normalisierung ergreift Deleuze zufolge jeden einzelnen Bereich. So auch die Sprache, das Lieblingskind der postmodernen Philosophie. Die Einheit einer Sprache sei in erster Linie politisch. Die Bildung von grammatisch richtigen Sätzen sei für das durchschnittliche Individuum die Voraussetzung für jede Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Gesetze. Deleuze, ein entschiedener Gegner jeder Abstammungsbehauptung, der im Ursprungsdenken den Herrschaftsanspruch erkennt, erklärt, es gebe keine Muttersprache, sondern die Machtergreifung einer herrschenden Sprache in einer politischen Vielheit. Bereits das Denken als solches sei konform mit einem Modell, das vom Staatsapparat übernommen wurde und das Ziele, Wege, Leitungen und Kanäle vorschreibe. Von dem Augenblick an, als die Staatsform ein Denkmodell hervorgerufen habe, sei alles geregelt gewesen. Schon das rational vernünftige, das bereits im imperialen Staat vorhanden gewesen sei, wurde aus dem Staat selbst abgeleitet, so daß dieser zwangsläufig vernünftig sein müsse. Und je weniger die Menschen das Denken ernst nehmen würden, desto mehr denken sie in Übereinstimmung mit dem, was der Staat wolle. Die politischen Strukturen erstrecken sich so weit auf das Unbewußte, daß sie das Begehren wesentlich beeinflussen. »Warum begehrt das Begehren seine eigene Unterdrückung, wie kann es seine eigene Unterdrückung wünschen? Sicher, die Massen beugen sich der Macht nicht passiv; sie ‚wollen‘ auch nicht in einer Art von masochistischer Hysterie unterdrückt werden; vor allem aber, fallen sie nicht auf ein ideologisches Täuschungsmanöver herein. (...) Das Begehren ist nie eine undifferenzierte Triebenergie, sondern resultiert selbst aus einer komplizierten Montage, aus einem engineering mit lebhaften Interaktionen: eine ganz geschmeidige Segmentarität, die mit molekularen Energien umgeht und das Begehren eventuell schon dazu determiniert, faschistisch zu sein.« 8 Die dem traditionellen Marxismus zugrunde liegende Manipulationstheorie - die Massen würden von den herrschenden Eliten durch ideologische Manipulation an der Erkenntnis ihrer wahren Interessen gehindert und unterdrückt - weist Deleuze damit, ganz wie Michel Foucault, weit von sich. Der Faschismus beginne als Mikrofaschismus, komme von unten und sei keinerlei Manipulation geschuldet. II. Zum Verhältnis von Staatsapparaten und Kriegsmaschinen Fundamentale Staatskritik ist zentraler Bestandteil aller Arbeiten von Deleuze. Seine Kritik des traditionellen philosophischen Denkens ist eng damit verwoben. Tausend Plateaus, eine historisch-materialistische Geschichte der Wahrnehmung, stellt den Staat und die Kriegsmaschine in den Mittelpunkt. Auf dem Feld einer ideologisch strukturierten Wahrnehmung führen Deleuze und Guattari ihren Kampf gegen die Gesellschaft. Im Anti-Ödipus wurden Kriegsmaschinen gegen die Psychoanalyse errichtet. Tausend Plateaus zieht daraus die Konsequenzen und wagt neue Konstruktionen. Tausend Plateaus 7 Massumi, Brian: Everywhere you want to be. In: Karten zu 1000 Plateaus. Berlin 1993, S. 89. 8 Deleuze, Gilles, Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 293.
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wendet sich gegen die Postmoderne, die Deleuze und Guattari als Koexistenz von abrupten Veränderungen und extremen Formen des Konservatismus definieren. Sie kritisieren ebenso alle im Staat sublimierten Gestalten des objektiven Geistes. Der Plan von Tausend Plateaus besteht darin, das Geschaffene aus dem Blickwinkel seiner Erschaffung zu begreifen. Der Staat in jedweder Form könne weder reformiert noch destruiert werden: die einzig mögliche Zerstörung des Staates sei die Flucht. Es beginne bereits mit der Geschichtsschreibung : Man schreibe Geschichte immer aus der Sicht der Seßhaften im Namen eines einheitlichen Staatsapparates. Den Menschen zu verwurzeln und zu behaupten, das verinnerlichte Bild der Weltordnung zu sein, seien die ersten Anmaßungen des Staates gewesen. Im Laufe der Zeit habe sich der Staat zu einem Ver bindungseffekt einer Vielzahl von Räderwerken und Brennpunkten entwickelt. Der glo bale Kapitalismus habe Natur, Mensch, Technik, Staat, Herrschaft und Begehren miteinander verknüpft. Es gebe im Kapitalismus aber keinen universellen Staat, weil es einen universellen Markt gebe, dessen Zentren und Börsen die Staaten wären. Dieser Markt sei nicht universalisierend, sondern ein Produzent von Reichtum und Elend. Jeder Staat sei in diese Fabrikation des menschlichen Elends zutiefst involviert. Der Staatsapparat führe immer und überall den »gekerbten Raum« des Zwangs ein, während die Kriegsmaschine versuche, über Fluchtlinien einen glatten Raum zu bilden. Deleuze und Guattari definieren eine Kriegsmaschine als ein lineares Gefüge, das sich auf Fluchtlinien selbst konstruiert. Sie habe nicht den Krieg zum Ziel, wie der Begriff vermuten läßt, sondern einen glatten Raum, den sie bilde, besetze und ausbreite. Kriegsmaschinen brechen feste Strukturen auf, lösen Bindungen und Abkommen. Sie werden durch die Aktion definiert, d.h. sie führen Ereignisse herbei. 9 Eine Kriegsmaschine neigt viel eher dazu, revolutionär oder künstlerisch als kriegerisch zu sein. Falls jedoch die Staatsapparate sich die Kriegsmaschine aneignen, werden sich diese im Dienste des Staates den Krieg zum Ziel nehmen. Gleichwohl habe die Kriegsmaschine einen anderen Ursprung und ein anderes Wesen als der Staat. Der Staat werde durch das Fortbestehen und die Erhaltung von Machtorganen definiert, während der Krieg der Modus eines Gesellschaftszustandes sei, der sich gegen den Staat richte und ihn verhindern wolle. Disziplin werde erst dann zum Charakteristikum von Armeen, wenn der Staat sie sich aneigne. Das Wesen des Staates sei die Schwerkraft. Immer wenn gegen den Staat gekämpft werde (Undiszipliniertheit, Guerillakrieg oder Revolution), werde eine Kriegsmaschine wiederbelebt und ein neues nomadisches Potential tauche auf. Der Krieg bringe nur dann einen Staat hervor, wenn zumindest eine der beiden Parteien schon vorher ein Staat sei. Im vorherigen Abschnitt wurde behauptet, daß die maschinelle Unterjochung tendenziell durch ein Regime der gesellschaftlichen Unterwerfung ersetzt wurde. Im Prinzip hat der Kapitalismus eine gesellschaftliche Ordnung entwickelt, die ohne Staat auskommen könnte. Die überzeugende These von Deleuze und Guattari dazu lautet, daß mit dem Kapitalismus die Staaten nicht abgeschafft, sondern verändert werden, und eine neue Bedeutung erhalten haben. Die Nation sei das Ergebnis einer kollektiven Subjektivierung, dem der moderne Staat als Unterwerfungsprozeß entspreche. Deleuze und Guattari unterscheiden drei staatliche Hauptformen:
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Ein aktuelles Beispiel für eine Kriegsmaschine wären die Zapatisten in Mexico, ein historisches Beispiel die spanischen Anarchisten 1936.
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1. Die imperialen archaischen Staaten als Unterjochungsmaschinen. 2. Die untereinander sehr verschiedenen Staaten (entwickelte Reiche, Stadtstaaten, Feudalsysteme, Monarchien), die Subjektivierung und Unterwerfung hervorbringen. 3. Moderne Nationalstaaten. Zwischen den modernen und archaischen Staaten gebe es eine Art Raum und Zeit übergreifende Einheit. Der Kapitalismus habe den Urstaat wiederbelebt und ihm neue Kräfte verliehen. Prinzipiell seien alle Staaten Bereiche zur Realisierung des Kapitals in Abhängigkeit von einem einzigen und gleichen äußeren Weltmarkt. Der politische Staat der Französischen Revolution tendiere zur Auflösung, während die Kriegsmaschine möglichst viele zivile Aufgaben übernehme. Wenn der Staatsapparat die Kriegsmaschine übernehme, werde die Fluchtlinie, die sie verwirkliche, zu einer Todes- und Zerstörungslinie. III. Werden und Ereignis. Fluchtlinien statt Utopie Das Ereignis hat keinen Sinn, es ist der Sinn, erklärt Deleuze in der Logik des Sinns. Das Ereignis sei die Identität der Form und der Leere. Das Ereignis sei nicht das, was eintrete, es sei in dem, was eintritt, das ausgedrückte, das formulierte, das uns erwarte. Die Stoiker fanden Jahrhunderte vor unserer Zeit in den Gegenständen des Denkens selbst das, was die Sprache möglich macht. Leibniz war später der erste Theoretiker des Ereignisses. Nietzsche hat diesen Gedankengang fortgeführt. Die Ereignisse ermöglichen also die Sprache. Der Ausdruck basiert Deleuze zufolge auf dem Ereignis als Einheit des Ausgedrückten. Aber das Ereignis ist nicht der Begriff, es ist das Nichtbegriffliche. Das Ereignis resultiere aus den Körpern und ihrer Aktionen. Die Vernunft sei ein Ereignis und die Ereignisse seien Wirkungen. Das Ereignis ist nicht vorausbestimmt. Aufklärerisch gedeutet läßt sich das Ereignis als plötzliche Erhellung des vorher Undurchschaubaren begreifen. Ein Ereignis bedeutet nicht den Einbruch des Irrationalen, sondern dessen Zurückdrängung. Deleuze entwickelt einen Plan oder ein philosophischaufklärerisches Programm, das vom Chaos zum Hirn bzw. Verstand führen soll. Seine Absicht ist es, die Gleichförmigkeit von Denken und Sein zu unterbrechen. Ein Ereignis ereignet sich zwischen Dingen. Es ist einer unkörperlichen Aktion oder Reaktion vergleichbar. Sobald es sich körperlich manifestiert, ist das Ereignis beendet, die Produktion geht in ein Produkt über. Die Produktion von unkörperlichem Sinn läßt sich als Herstellung von Ereignissen begreifen. Sie ermöglicht das Werden, die menschliche Aktivität. Alles, was existiert, ist ein Werden, nichts ist gegeben. Das Werden entspringt bei Deleuze keinerlei Selbstzweck. Die Produktion von Sinn geht ihm zufolge vom Revolutionär aus, der »in jenem Abstand lebt, der den technischen Fortschritt und die gesellschaftliche Totalität trennt, in den er seinen Traum von der permanenten Revolution einschreibt. « 10 Das Werden bedeutet für Deleuze eine Gegengeschichte, die sich als Ereignis den Projektionen der Geschichte als linearer und verbundener entzieht. Werden ist keine Entwicklung, sondern aktive Gestaltung von etwas, das nicht angelegt oder determiniert gewesen ist und bloß zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich wurde. »Mai ’68 war die Manifestation, das Hereinbrechen eines Werdens im Reinzustand.« 11 Ein Ereignis muß 10 11
Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1993, S. 72. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M., S. 245.
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also durch permanente Neuereignisse im Zustand des Werden erhalten bleiben, sonst wird es wieder zu einer feststehenden Struktur, die erneut aufgebrochen werden müßte. Das Deleuzianische Werden bedarf einer Vermittlung. Es hat die Aufhebung des Ma jorität/Minorität -Gefälles zum Ziel. Weder Minorität noch Majorität zeichnen sich durch Quantität aus. Jede Minderheit wird durch die Mehrheit bezeichnet. Die Mehrheit entwickelt sich als eine Konstante aus einer Reihe von Variablen. Diese Konstante setzt sich, vermittelt durch Herrschaftsverhältnisse, durch. Auch die Philosophie, so kritisiert Deleuze, rekurriere auf diese Herrschaftsverhältnisse, wenn sie im Namen eines menschlichen Wesens oder einer reinen Vernunft gesprochen habe. Die Konstante wurde historisch immer mit Gewalt durchgesetzt. Die Spezifizierung von Subjekten führe in deren Minderheitlichkeit, wenn deren Bestimmungen von der Konstante abweichen. Diese Minderheiten bieten für Deleuze die Möglichkeit des Werdens, denn jede Abweichung von der Konstante zeige, daß diese keineswegs verbindlich im Sinne einer Determination sei und das Werden jedem offenstehe. Ein Werden entziehe sich immer der Mehrheit. Deleuze nimmt folgende Dreiteilung vor: »Das Mehrheitliche als homogenes und konstantes System, die Minderheiten als Subsysteme und das Minderheitliche als potentielles, erschaffenes und schöpferisches Werden.« 12 So paradox es klingen mag: heute könnten Universalisten und Kosmopoliten eine Minorität in bezug auf die Majorität der Völker, Regionen und Ethnien darstellen. Die Aufgabe der zeitgenössischen Revolutionäre besteht für Deleuze also darin, »den Sinn zu produzieren«. 13 Damit eine Praxis zustande kommen kann, müsse sich das Individuum des Ereignisses bemächtigen, indem es von seiner Subjektivität absehe und sich als Werden projiziere. Dadurch unterstelle es sich dem Ereignis. Politisch setzt Deleuze auf eine Fluchtlinie, auf eine Deterriorialisierung, die Entscheidungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten freisetzt. Eine Deterriorialisierung führe dazu, daß ein vermeintlicher Naturzustand an seine Grenzen stoße, an ein Ende geführt werden könne und somit erst einschätzbar werde. »Und die Fluchtlinien bestehen niemals darin, die Welt zu fliehen, sondern vielmehr darin, sie fliehen zu lassen, als wenn man ein Rohr zum Platzen bringt und es gibt kein Gesellschaftssystem, das nicht bei jeder Gelegenheit flieht.« 14
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Deleuze, Gilles: Philosophie und Minderheit, Frankfurt/M. 1978, S. 28. Deleuze, Logik des Sinns, a.a.O., S. 100. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 279.
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Monika Noll
»Radikalisierung des Marxismus« Zu Derridas dekonstruktiver Lektüre der Wertformanalyse Derrida, der poststrukturalistische Philosoph aus Frankreich, hat den Ruf eines Esoterikers. In den Interviews, die er gegeben hat, tut er das Seine, um diesen Ruf, den ihm schon die ersten Schriften einbrachten, noch zu bekräftigen. Dunkle Begriffe wie Dekonstruktion, Grammatologie oder Dissemination, Kunstworte wie différance oder destinerrance löst er nie in Definitionen auf (oder nur um diese sogleich zu widerrufen), sondern in eine Vielzahl nicht minder dunkler, undefinierter Wörter wie Spur, Stempel, Abstand, Aufschub, Rand, Gestade, Gastfreundschaft, Gabe, Zögern, Gespenst und viele andere mehr. Anders als Foucault, der sich gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern stets auf den Boden der Erfahrung stellt, läßt Derrida seinem Gegenüber keine andere Wahl, als ihm gehorsam durch seine verschlungenen Gedankengänge zu folgen und ihn als unersetzbaren Initiator in sein Denken anzuerkennen. Während Foucault die zuversichtliche Überzeugung verbreitet, daß seine Theorie gar nicht so schwer ist, wie sie erscheinen mag, verbreitet Derrida die resignierte Gewißheit, daß nur wenige seine von beständigen Wortkorrekturen und Formulierungsverboten begleiteten Reflexionen nachvollziehen können. Mehr als einmal hat er denn auch über Verflachung, Verwässerung und Entstellung seines Denkens und die große Zahl falscher Schüler geklagt, die sich der Anstrengung der Dekonstruktion letztlich entzögen. Dennoch ist Esoterik nur die halbe Wahrheit über diese Theorie. Tatsache ist nämlich, daß sie sich bestens verkauft und - ob es ihrem Urheber paßt oder nicht - in allen möglichen Varianten Verbreitung gefunden hat. Verkauf und Verbreitung sind das beste Indiz dafür, daß sie eine gesellschaftliche Funktion hat, daß ein gesellschaftlicher Bedarf an ihr besteht. Auch wenn Derrida beständig den Eindruck des Gegenteils erweckt: er wird verstanden. Daß ein Begriff wie "Dekonstruktion" nicht nur in akademische Literaturwissenschaft und feministische Theorie, sondern auch in Feuilleton und Kulturbetrieb überhaupt Eingang gefunden hat - und Derrida, wie er selbst einmal sagt, förmlich zum Reisenden in Sachen Dekonstruktion werden konnte -, zeigt, wie sehr er Bestandteil jener allgemeinen Reflexionstätigkeit ist, die der gesellschaftliche Realprozeß mitproduziert. Der Erfahrungszusammenhang, den Derrida zu fliehen bemüht ist, muß also das Fundament seines Denkens nicht minder sein als das der Foucaultschen Theorie, die sich beständig darauf bezieht. Allein dieses Fundament berechtigt zu der Annahme, daß das Esoterische sich übersetzen und aufschlüsseln läßt: aufschlüsseln freilich nicht so, wie es häufig in Poststrukturalismus-Studien geschieht, wo mit Kategorien wie "Vernunftkritik" und "Pluralität" ein Feld abgesteckt wird, auf dem Philosophie und Geistesgeschichte unangefochten ihren Sonderstatus, ihre uneinholbare Autonomie behaupten können; vielmehr in der Weise, daß die Gedanken des Intellektuellen von der Aura originärer Produktivität befreit und als reflektierender Nachvollzug gesellschaftlicher Veränderung erkennbar werden. *
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Derrida selber findet die Legitimation der esoterischen Begriffe im Novum seines philosophischen Unternehmens, mit dem er das jahrhundertealte Verfahren der Kritik, jenes urteilende, Entscheidungen treffende Denken, das mit dem Wahren gegen das Unwahre, mit dem Richtigen gegen das Falsche, mit dem Wirklichen gegen das Scheinhafte antritt, hinter sich lassen und statt kritisch vielmehr dekonstruktiv denken will. Die Dekonstruktion ist keine »Kritik der Kritik«; sie folgt vielmehr einer gänzlich »anderen Logik«, und eben deshalb bedarf es nach seinen Worten auch gänzlich »anderer Begriffe.« [Spectres de Marx/Marx' Gespenster S. 258/S. 256f.] 1 Wollte man die »andere Logik« erst einmal negativ fassen, so könnte man sagen: Das dekonstruktive Denken hat einfach den hinter der Kritik wirksamen Antrieb, das kritische Interesse oder Motiv aufgegeben, es hat sozusagen die Besetzung abgezogen. Ob eine Vorstellung falsch, ob sie etwa notwendig falsch, ob sie Ideologie im Sinne eines notwendig falschen Bewußtseins ist, kann dem dekonstruktiven Philosophen irgendwie gleichgültig sein - oder ist ihm doch wenigstens soweit gleichgültig, daß er nicht stante pede zur Beseitigung des Falschen schreitet. Gegen die Impulse der Kritik bleibt er einfach immun. Diese Immunität freilich zeitigt ein paradoxes Resultat: Keine Dekonstruktion ohne das Tun der Kritik. Wenn der dekonstruktive Denker nicht kritisiert, weil Kritisieren das Falsche ist, dann muß er das Falsche getrost falsch sein lassen können. Mehr noch, er muß es recht eigentlich konservieren, denn jede Auflösung oder Zerstörung des Falschen wäre Kritik. Ganz ungerührt stellt Derrida fest: Der von der Kritik gemachte »Fehler« - meist summarisch als Metaphysik oder Ontologie gefaßt - »wiederholt sich, per definitionem, man übernimmt ihn als Erbe«. Dekonstruktion ist nichts als der wachsame Blick, das »Achthaben« auf diesen unerbittlich sich wiederholenden Fehler (Spectres, 278/275f.). So hat sie immer ein Mehr gegenüber der Kritik und bleibt ihr, als Aufruf »zur unendlichen Selbstkritik« (ebd., 146/145), von vornherein entzogen; wie Derrida einem seiner Interviewer versichert, »ist in der Tat keine Kritik an dem, was ich mache, möglich«. 2 Nach diesen Bemerkungen verwundert es nicht, daß Derrida sich in einem seiner Bücher mit Schriften von Marx befaßt. In ihnen findet er nämlich nach eigenem Bekunden eine besonders »radikale Kritik« vor (145/143), die er seinerseits dekonstruktiv zu radikalisieren gedenkt (151/149-50). Das Kritische an der Marxschen Kritik sieht er zumal darin, daß sie sich auf einen vom Kritisierten ganz und gar unberührten Stand punkt stellt und den von ihr ins Visier genommenen gesellschaftlichen Schein einer Analyse unterzieht, die den Schein in Wirklichkeit, in das wirkliche Tun der wirklichen Menschen auflöst und dem »Unheimlichen« an ihm die Wirklichkeit aberkennt, es entmächtigt. Radikal aber scheint ihm diese Kritik deshalb, weil sie, selber noch »vordekonstruktiv« (269/267), erstmals den dekonstruktiven Spielraum eröffnet, weil sie dem kritischen Prozeß nicht bloß eine »Fragehaltung«, sondern auch eine »Erfahrung des Versprechens, der Verheißung« abtrotzt und nur »durch so viel Zögern, so viele Spannungen und Widersprüche hindurch« zur »marxistischen Ontologie« gelangt (146, 147, 146 / 145, 144, 145). 1
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Jacques Derrida, Spectres de Marx, Paris 1993; dt.: Marx' Gespenster, Frankfurt/M. 1995. Die im folgenden angeführten Zitate entstammen dem französischen Original und sind von mir übersetzt. Zur Erleichterung des Textvergleichs habe ich hinter dem Schrägstrich die entsprechende Seite der deutschen Übersetzung angegeben. Florian Rötzer (Hg.), Philosophen im Gespräch, München 1986, S. 86.
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Der »Fehler« selbst ist Derrida zufolge also unvermeidlich. Daß Marx »nicht dort begonnen hat, wo er hätte 'beginnen können' müssen«, nämlich »beim Spuk«, liegt nicht an persönlichem Versagen; er hat nur begonnen »wie jedermann« (278/275). Aus dem Problem gibt es kein Entkommen. Gesellschaftliches wird Geistererscheinung nur für den, der sich als Subjekt darin vermißt oder nicht wiedererkennt. Geschichte wird Anderes, Fremdes nur für den, der sie als Eigenes beansprucht. Nur in der Subjektperspektive, die das gesellschaftliche Leben der Menschen, ihre aus Gewolltem und Ungewolltem unlösbar gemischte Existenz, mit einem Willen ausstattet, treten die Gespenster auf den Plan. Nur in einer Geschichtsphilosophie, die den menschlichen Subjekten so etwas wie einen intentionalen Vorsprung vor dem Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen Reproduktion einräumt, kann diese Reproduktion überhaupt unheimliche, spukhafte Züge annehmen. Wie sollte die Dekonstruktion da auf das Falsche verzichten können. Liefert doch die falsche Subjektperspektive selber genau das, was zu ihrer Dekonstruktion erforderlich ist: das Unheimlichwerden der gesellschaftlichen Normalität. Gerade bei Marx - so interpretiert Derrida - wimmele es von »Gespenstern«, obgleich er mit nie dagewesener Konsequenz bei den »wirklichen Menschen« begonnen habe. Bereits in den frühen ideologiekritischen Werken entdecke Marx sie allenthalben in Gestalt religiöser und ideologischer Wahngebilde, deren Eigenleben er zu beenden suche, indem er die fetischisierende, abstrahierende Tätigkeit des Kopfes rekonstruiere, die sie hervorgebracht hat (z.B. 201-207 / 199-205). Mit besonders lebendigen Gespenstern aber befaßt er sich Derrida zufolge in der Fetischismus-Analyse des Kapital , wo er die konkrete Wirklichkeit der Menschen - den Warenaustausch, den Markt - als »Spuk und Zauber« thematisiere, der nicht bloß ihren Kopf heimsucht, sondern ihnen mit der Festigkeit von Dingen entgegentritt. Im Fetischismus-Abschnitt zeigt Marx, daß die Arbeitsprodukte, sobald sie Warenform annehmen, als Dinge erscheinen, die ein Eigenleben führen. Während sie als Träger von Gebrauchswert, als nützliche Gegenstände, schlicht und einfach die sinnlichkonkreten Eigenschaften besitzen, die für den Gebrauch erforderlich sind, nehmen sie als Träger von Tauschwert, als Wertverkörperungen, übersinnlich-abstrakte Qualitäten, eine »gespenstige Gegenständlichkeit« ( MEW 23, 52) an, mit der sie den Menschen, die sie produziert haben, wie selbständige Wesen gegenübertreten. Diese Verselbständigung findet Marx in einer Gesellschaft vor, in der die Warenproduktion zur allgemeinen gesellschaftlichen Produktionsform geworden ist. Und aus der Produktionsform sieht er sie entstanden. Die im Warenaustausch hergestellte Gleichheit von Wertkörpern, die als unmittelbarer Verkehr zwischen den Sachen erscheint, ist nur ein für die Menschen undurchschaubar gewordenes Resultat ihres eigenen Tuns, nichts als der »gegenständliche Schein der gesellschaftlichen Arbeitsbestimmungen« (ebd., 97); die Welt der Fetische »entspringt ... aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert« (87), aus dem gesellschaftlichen Verhältnis der privaten Warenproduzenten. Sie selbst setzen, wenn sie die zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse gedachten Gebrauchsdinge produzieren, ihre je besonderen, konkret-nützlichen Arbeiten einander gleich und machen damit deren Produkte austauschbar. »Sie wissen das nicht, aber sie tun es. « (88) Im gespensterhaften Treiben der Waren verselbständigt sich nur die »Gestalt des Produktionsprozesses« (94), die der Warenproduktion inhärente Realabstraktion, die Ungleiches, Unterschiedenes gleichmacht. Die Warenwelt, die den gesellschaftlichen Produzenten als Fremdes, als Natur
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erscheint, ist ihr eigenes Produkt, nämlich zweite Natur, die sie im Laufe ihrer Geschichte selbst hervorbringen. Aber weil Marx nicht, wie Derrida meint, mit der Wirklichkeit des Marktes, mit sinnlich unmittelbaren Dingen (oder Menschen) beginnt , sondern sie als vermittelt, als Resultat materieller Produktionstätigkeit begreift, ist er noch nicht am Ende. Daß Geschichte die Form von Natur annimmt, weil die Menschen den Zusammenhang der ar beitsteilig verrichteten gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht unmittelbar und bewußt herstellen, sondern nur nachträglich und bewußtlos, - dieser Befund gilt einzig und allein für die Produktion von Waren, nicht für die Produktion von Gebrauchsdingen überhaupt. Mit der Abschaffung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Arbeits produkte Waren sind, verschwindet Marx zufolge auch der ganze »Zauber und Spuk« (90) eines von den Produzenten unabhängigen gegenständlichen Zusammenhangs (92f.). Die in seiner Analyse der kapitalistischen Ökonomie diagnostizierte Realabstraktion, die für die Bildung der Wertgegenständlichkeit verantwortlich zeichnet, ist historisch entstanden und historisch aufhebbar; Geschichte hat unweigerlich das letzte Wort.3 * Diese Marxsche Kritik, in der der Fetischismus der Arbeitsprodukte ebenso kompromißlos herausgearbeitet wie auf die Warenproduktion beschränkt wird, "radikalisiert" Derrida, indem er sie enthistorisiert. Während Marx zeigen will, daß die Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen - unter der Bedingung nämlich, daß sie ihre gesellschaftliche Tätigkeit generell in der Form des Privaten, der Privatarbeit verrichten - dem gesellschaftlichen Zusammenhang ihrer Reproduktion auf dem Markt als Naturzusammenhang von Dingen begegnen, hat Derrida es darauf abgesehen, das historische Auseinandertreten von Privatheit und »Vergesellschaftung, GesellschaftlichWerden« (249/247) als die für die Existenz der Menschen überhaupt entscheidende Spaltung festzuschreiben. Legitimiert dazu sieht er sich durch Marx' Thematisierung des Unheimlichen, die der vertrauten, von den Menschen selber tagtäglich neu erzeugten Unmittelbarkeit der Warenwelt den Reiz des Fremden, Exotischen verleiht. Aus der strikt mit den Erfahrungen bürgerlicher Subjekte liierten Fremdheit und Gespenstigkeit der Gesellschaft macht Derrida eine generelle Einheit von »gesellschaftlich und gespenstig werden« (249/247). Aus dieser Sicht gerät nun Marx, der die Vorstellung von einem den einzelnen gespenstig entgegentretenden gesellschaftlichen Ganzen »auf die Warenproduktion« (263/261) beschränkt sehen will, auf eine bestimmte Produktionsweise, die einen wohldefinierbaren Anfang und ein ebenso definierbares Ende hat (259-61/259-61), in den Verdacht des willkürlichen Grenzenziehens. Mit diesem Grenzenziehen bleibt, so Derrida, die Analyse an den »Exorzismus« gebunden (263f./261f.); Zutritt gewährt sie den Gespenstern nur, um sie »allzu schnell verjagen, austreiben« zu können (277/274). Wenn Marx den Fetischismus der Arbeitsprodukte zielstrebig als Resultat besonderer gesellschaftlicher Verhältnisse aufklärt, macht er Derrida zufolge den Versuch, das mit der Warenproduktion auf der Bühne der Geschichte erscheinende Unheimliche zu entmächtigen. 3
Marx wird hier nur soweit dargestellt, wie es für eine Betrachtung von Derridas Lektüre erforderlich ist: also ausschnitthaft.
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Im Zentrum der Dekonstruktion steht deshalb die Marxsche Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert und die mit ihr gemeinte historische Reihenfolge: erst der Gebrauchswert, dann der Tauschwert, erst das »triviale« nützliche Ding, dann die »vertrackte« Ware ( MEW 23, 85). Nicht daß Derrida sich nun anheischig machte, diese Reihenfolge umzukehren und nachzuweisen, daß sich in der Geschichte eigentlich alles andersherum abgespielt hat. Die historische Entstehung der Warenform, des Fetischcharakters der Ware wird nicht einen Augenblick negiert. Auch der historische Auftritt, das gegenständliche Erscheinen des Fetischs wird nicht zeitlich vorverlegt, sondern bleibt an die Warenproduktion gebunden. Was Derrida vielmehr gegen das Marxsche Vorher Nachher, gegen den Gedanken, daß der Gebrauchswert vom Unheimlichen noch unberührt ist, von den Problemen der Warenform 'noch nicht' heimgesucht wird (253f./251f.), dekonstruktiv geltend macht, ist ein dem Spuk eigentümliches »Schon immer« oder »Von vornherein, Im vorhinein«, bei dem »alles anfängt, bevor es anfängt« (254, 255f. / 253). Vor seinem historischen Auftritt nämlich, das heißt »vor seinem ersten Erscheinen«, war der Warenfetisch, das Gespenst, Derrida zufolge »schon da« - im Modus der »Verheißung oder Erwartung« (oder, wie Marx mit seiner Analogie zwischen Waren- und Kultfetisch zeige, im Innern von Religion und Ideologie). Das »erste Erscheinen« ist nach dekonstruktiver Logik »schon beim ersten Mal ein zweites«. Aber, um die Verwirrung komplett zu machen, das zweite Mal ist ein zweites, zu dem es kein erstes gibt. Das »vor« kann also nur meinen, daß wir nichts anderes haben als Zweites, als Kopie und Wiederholung; alles erscheint »zweimal auf einmal«. (259/257) Das historisch Neue erweist sich in der Dekonstruktion als weder alt noch neu, sondern als etwas, das man nur jenseits der Geschichte findet. In diesem Jenseits ist Derrida zufolge die Warenform weder identisch mit dem Gebrauchswert noch von ihm ablösbar; sie »spukt« in ihm, ohne »gegenwärtig [zu] sein«, sie »affiziert [ihn] von vornherein« und erfüllt ihn mit dem möglichen Ende seiner konkreten, unmittelbaren Wirklichkeit (255/253). Nicht zufällig habe Marx das »triviale« Gebrauchsding im höchsten Maße gespenstig dargestellt, nämlich in der berühmten Beschreibung des Tisches, der »als Ware auftritt«, »sich in ein sinnlich übersinnliches Ding (verwandelt) «, »sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf (stellt) « und »aus seinem Holzkopf Grillen (entwickelt)« ( MEW 23, 85). Der konkrete, nützliche Tisch habe ja die Metaphysik der Warenwelt bereits im Kopf (255/253), aus dem sie, wie der Fetischismus aus der Religion, nur heraustreten, gegenständlich erscheinen müsse. »Vom Tisch«, so Derrida, »kann man dasselbe sagen, was Marx über die Ware sagt.« (257/253f.) Mit seinen für andere bestimmten nützlichen Eigenschaften (256/254), mit seinem Gebrauchswert , wie es Marx bezeichnenderweise genannt habe, gehöre er bereits auf die Seite einer von Grund auf fremden, gespenstigen Gesellschaftlichkeit. »Die Möglichkeit des Austauschs«, heißt es bei Derrida, »schreibt ihn von vornherein in ein Außer-Gebrauch ein«; und »der 'mystische Charakter' der Ware schreibt sich ein, bevor er sich einschreibt« (254, 255 / 252, 253). Noch ehe das Arbeitsprodukt als Ware produziert wird, verhält es sich wie die Ware: »die Warenform (hat) vor der Warenform begonnen« (254/252). Allein dadurch, daß der Tisch einen gesellschaftlichen Nutzen hat, »prostituiert [er] sich bereits« (258/256); bietet er sich doch anderen zum Gebrauch an und fungiert dergestalt - auch ohne Markt und Warenverkehr, einfach weil er, so Derrida, den gleichen Bedürfnissen unterschiedener einzelner dient - als per definitionem austauschbares, von Hand zu Hand gehendes Ding, als das Gespenst, das er einmal, als Ware, »werden wird« - und »von vornherein ist« (257/256).
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Keine Arbeit ohne diese »ursprüngliche Prostitution« (258/256), keine Produktion ohne den Fetischismus der Produkte (263/261). Die strikt historische, mit bürgerlicher Gesellschaft und allgemeiner Warenproduktion herausgebildete Perspektive eines Sub jekts, dem die eigene gesellschaftliche Tätigkeit, sein Leben, als fremder Prozeß entgegentritt, wird bei Derrida zum geschichtslos-transzendentalen Rahmen der »Vergesellschaftung ... via Vergespenstigung« (249/247). Derart enthistorisiert, dient die Marxsche Fetischismus-Analyse - die den bürgerlichen Gegensatz von Gesellschaft und Privatheit an der einzelnen Ware als Gegensatz von "Geist" und "Leib" darstellt - nur noch dazu, Vergesellschaftung als veritablen Akt der Selbstentleibung oder doch zumindest der Vergeistigung oder Entmaterialisierung plausibel zu machen. Aus der Realabstraktion der Warenproduzenten wird die Realabstraktion der ihre Lebensmittel herstellenden Gesellschaftswesen schlechthin: Gesellschaftliches Bedürfnis abstrahiert vom Bedürfnis und gesellschaftliches Leben vom Leben. »Genau dort beginnt der Spuk.« (255/253) * Um klarer zu fassen, worauf die dekonstruktive Lektüre eigentlich hinausläuft, möchte ich noch einmal zur Marxschen Analogie zwischen warenförmigem und religiösem Fetisch zurückkehren und mir anschauen, was Derrida damit macht. Marx zieht den Fetischglauben zum Vergleich heran, um die Verselbständigung der Waren am Beispiel des Kultobjekts in eine Distanz zu rücken, aus der man sie leichter wahrnehmen kann, und sie zugleich als Phantasmagorie zu kennzeichnen ( MEW 23, 86). Diese Analogie verselbständigt Derrida und liest sie als irreduziblen, unmittelbaren Zusammenhang, als Beleg für eine Sphäre reiner Beziehungen, in der sich der historisch neue, mit der Ware verknüpfte Fetischismus von seiner materiellen, sachlichen Grundlage lösen und frei durch die Zeiten und Gesellschaftsformationen geistern kann. Die Analogie dispensiert ihn mit einem Schlag von jedem Bezug auf realhistorische Entwicklung und materiellen gesellschaftlichen Prozeß überhaupt. Den Fetischismus trennt er nicht nur von allen außer ihm, nämlich in den jeweiligen Produktionsverhältnissen gelegenen gesellschaftlichen Zwecken. Er trennt ihn zugleich von einer Geschichte, in der alles Neue produziert, gemacht wird. In dekonstruktiver Lektüre erweist sich also das aus der bestimmten gesellschaftlichen Form der Arbeit Hervorgegangene als Nichtproduziertes, als »Vergegenwärtigung, Repräsentation« (268/266) von etwas, das nicht erst noch produziert werden muß, um zu erscheinen. Das darin enthaltene Dilemma, daß es nichts Neues gäbe, wenn alles schon da wäre, daß es aber unleugbar Neues gibt, löst Derrida, indem er sein »Immer schon« nicht als ein starres Immer-schon-da-Sein, sondern eher als Ersatz für die Produktion faßt: als »irreduzible Virtualität« (259/257). Virtualität ist nur ein anderer Name für den von der leiblichen, materiellen Existenz abstrahierenden Geist, in dem Derrida zufolge das Gesellschaftliche am Leben bestehen soll. Unterm Titel der Virtualität wird Gesellschaft zu einem vom materiellen Tun der Realsubjekte unabhängigen Prozeß sui generis, zum »Ereignis«, zum verselbständigten Es. Mit Formeln wie »Es gibt«, »Es kommt/Es geschieht/Es ereignet sich« oder »Es spukt/ Es gespenstert/Es geistert« verschafft Derrida dem entmaterialisierten Gesellschaftlichen ein Subjekt, nämlich das »Gespenstige, Geisterhafte« (14/10), und damit ein in seiner bloßen Möglichkeitsform irreduzibles Mehr gegenüber dem Zusammenhang der wirklichen Gesellschaft.
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Beim Blick auf Derridas dekonstruktive Anstrengungen hat man denn auch oftmals den Eindruck, daß er weniger dekonstruiert als konstruiert oder daß das, was er Dekonstruktion nennt, einen sehr konstruierenden Zug hat. Was macht er zum Beispiel aus der Koexistenz von Gebrauchswert und Tauschwert im »Doppelcharakter der Ware«? Bei Marx ist damit ein Verhältnis von Inhalt und Form gemeint, das auf die reale gesellschaftliche Praxis verweist, auf die Tatsache, daß die Menschen die Dinge des täglichen Gebrauchs in einer bestimmten gesellschaftlichen Form produzieren, daß sie nämlich ihre konkrete Arbeit in der Form abstrakter Arbeit leisten. Bei Derrida gibt es derlei realhistorische Verhältnisse nicht, weil er die Formelemente verselbständigt. In dieser Verselbständigung besteht sein Verfahren. Aus der schon genannten Analogie zwischen warenförmigem und religiösem Fetisch zum Beispiel, die bei Marx strikt metaphorische Funktion hat, das heißt aus der metaphorischen Form, in die Marx an einer bestimmten Stelle seinen Gedanken faßt, macht er ein Absolutum. Auch die bildhafte Form, in der Marx zu zeigen versucht, daß die Warenform eines Tisches, die für etwas Natürliches, und der Warenaustausch, der für das Simpelste von der Welt gehalten wird, in Wirklichkeit etwas Hochvermitteltes und schwer Durchschaubares sind, auch diese Form wird bei Derrida zu unmittelbarer, eigenständiger Realität. Mit Hilfe der Marxschen Metaphern entsteht bei ihm tatsächlich so etwas wie ein lebendiger Tisch, der nicht nur alles mögliche Konkrete tut (auf der Bühne auftreten, kopfstehen, tanzen), sondern in seinem Holzkopf sogar wahrhaftig denken kann. Derrida baut die vorgefundenen Metaphern zu einem Verweisungszusammenhang auf, aus dem es kein Herauskommen gibt, und schafft damit etwas, das sich in den mit dieser Redeform ausgedrückten Inhalt nicht zurückverwandeln läßt. Vielleicht aber täuscht der Eindruck, daß er recht eigentlich etwas zusammenbaut, schafft oder konstruiert, und erweist sich als Resultat der ungeheuren Geschäftigkeit, die er entfaltet. Derrida selbst hat die Dekonstruktion mehrfach mit dem Affirmieren, Bejahen und Jasagen in Verbindung gebracht. Wenn man ihm bei der Dekonstruktion der Marxschen Kritik über die Schulter schaut, erkennt man wieder, was er meint. Er bejaht die Meta phorik, das sprachliche Mittel der bildlichen Ausdrucksweise, als Konstrukt, als etwas, das selbstgenügsam für sich allein besteht und dessen unmittelbare Materialität sich nicht im funktionalen Zusammenhang verflüchtigt. So geht das in einem fort. Und nun erklären sich auch die Schwierigkeiten von Derridas Sprachduktus, der einen wahrhaft zur Verzweiflung bringen kann. Wer konsequent versucht, die Metaphorik, wo sie nur auftritt und bis in die einzelnen Wortteile hinein, als Unmittelbares zu affirmieren und gegen ihre Mitteilungsfunktion abzudichten, bekommt etwas vom Sisyphus. Wer etwa in einem Wort wie "Zukunft" durch die Trennung in »Zu-kunft« den selbständigen Zusammenhang eines Kommens findet, in dem dann neben vielem anderen auch das Wiederkommen der Gespenster Platz hat, der muß bei jedem Versuch, das Entdeckte mitzuteilen, diesen Zusammenhang aufs äußerste bedroht sehen. Die Mitteilung gehört in den gesellschaftlichen Normalprozeß und versperrt jene Realisierung des Mehr, auf die es die Dekonstruktion abgesehen hat. Kein Wunder also, daß Derrida alles, was er sagt und schreibt, mit ständigen Vorbehalten und Korrekturen versieht. Und kein Wunder, daß er bei allem, was er schreibt, immer den Eindruck hat, er werde nicht fertig, und jedes fertige Buch zur Täuschung darüber erklärt, daß der Text oder das Schreiben anfangs- und endlos darüber hinausgeht. Das dekonstruktive Unternehmen ist tatsächlich nicht abschließbar; wer mehr will als den Realprozeß, muß Wirkliches in Mögliches, Normales in unheimlich Fremdes
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verwandeln, er muß, wie Derrida selbst formuliert, »alles wieder-beginnen« (278/276), also wieder und wieder einen Anfang machen, der immer schon der zweite ist. * Und warum nun diese ganzen, immer wieder vergeblichen Mühen? Warum der beständig erneuerte Versuch, die Metapher vor dem normalsprachlichen Reduktionismus zu bewahren, in dem sie 'bloß' Metapher, Mittel für anderes ist und so sehr verschwindet, daß man sie in den allermeisten Fällen überhaupt nicht mehr wahrnimmt? Warum der obsessive Wunsch, das historisch Produzierte als »Artefakt« zu nehmen, an dem nur die »Maserung« interessiert? 4 Wenn Derrida die von Marx gebrauchten Metaphern in ihrer Unmittelbarkeit zu retten unternimmt, dann deshalb, weil er Marx' Gespenster vor ihm selbst, vor dem Reduktionismus seiner Kritik retten will. Für Marx ist es, wie sein dekonstruktiver Leser feststellt, eine Selbstverständlichkeit, daß Gespenster sich auflösen, sich verflüchtigen lassen (259-61, 269 / 257-59, 268). Für Derrida ist es eine Selbstverständlichkeit, daß Gespenster sich nicht auflösen, sich nicht verflüchtigen lassen, daß sie eine ganz eigene unauflösliche, materielle Festigkeit besitzen, obgleich sie 'nur' Erscheinungen sind. Der Unterschied muß also darin liegen, daß das Gespenstige sich geändert hat, daß die Marxschen Gespenster, die Derrida zu retten unternimmt, eher seine eigenen Gespenster sind. Denn was Marx nicht im Traum eingefallen wäre, formuliert Derrida fast nebenbei: daß alle Gesellschaftswesen per se zum Gespensterdasein verurteilt sind, einfach deswegen, weil sie mit ihresgleichen leben, weil die dem gesellschaftlichen Bedürfnis (und dem Gebrauch) immanente Äquivalenz aus den Lebewesen bloße Geister, Verkörperungen von Geist macht, die wie Bühnenfiguren erscheinen, auf- und abtreten, kommen und gehen, ohne ein eigenes körperliches Leben zu besitzen. Daher das Leitthema des Marx-Buches: Wer »endlich leben lernen (möchte) «, muß »lernen, mit den Gespenstern zu leben« (13, 15 / 9, 10f.), muß die »Vergespenstigung« als Form seiner gesellschaftlichen Existenz affirmieren. Ganz im Sinne des dekonstruktivistischen Projekts wirft dieses Leben mit der Unheimlichkeit des Lebens einen Gewinn ab, weil es mehr ist als leben. Die Affirmation einer von realer Existenz abstrahierenden gesellschaftlichen Existenz verspricht also einen subjektiven Spielraum neuer Art; Derrida nennt ihn Warten, Ankündigen, Begehren, Verheißen, Rufen, messianisches Zögern oder auch Überleben respektive Über-leben. Von Marx ist Derrida durch mehr als hundert Jahre und eine unübersehbare Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft getrennt. Wenn ihm, ganz anders als Marx, die Gespenster so lieb und teuer sind, daß er keine Anstrengung scheut, um sie immer wieder lebendig werden zu lassen, dann allein deshalb, weil er etwas anderes darunter versteht. Gespenstig sind bei Marx die »gesellschaftlichen Dinge«, die Waren; gespenstig sind bei Derrida die Gesellschaftswesen, die Menschen selber. Sie sind die abstrakten Schemen, die mit ihren abstrakt gleichen Bedürfnissen - mit ihrer Gebrauchsorientierung - wie Tote umherspuken und sich als sinnliche Erscheinungen des Übersinnlichen präsentieren. Freilich meint er, auch diese Gespenstigkeit schon im Marxschen Text zu finden. Wenn es dort nämlich heiße, daß die Warenform den Menschen die Gesellschaftlichkeit 4
Philosophien, Gespräche mit Foucault, Derrida, Lévinas, Lyotard u.a., Wien 1985, S. 60.
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ihres eigenen Tuns als Naturform der Dinge »zurückspiegelt« (86), die Menschen aber ihr Spiegelbild in dieser »die Augen blendenden« 108), mit Blindheit schlagenden Form nicht sehen, so würden sie damit als Gespenster, das heißt als Wesen, die kein Spiegel bild haben, charakterisiert! Vielleicht ist es kein Zufall, daß Derrida hier, wo er den Abstand zwischen sich und Marx - wiederum durch Verselbständigung der Metapher - zum Verschwinden zu bringen sucht, besonders willkürlich mit dem Text umspringt und aus der Marxschen Feststellung, daß die Menschen in den Warencharakteren das Spiegelbild ihres Tuns nicht erkennen, die Aussage macht, die Waren seien Spiegel, in denen das leiblich sichtbare Bild der Menschen nicht erscheint (247f./245f.). Daß Derrida bei Marx die Menschen als Gespenster vorfinden kann, liegt also nicht daran, daß sie dort so dargestellt werden, sondern allein daran, daß Derrida sie so sieht. Und das tut er, weil er in seiner Gesellschaft eine andere oder doch veränderte Erscheinungssphäre vor Augen hat, die es zu Marx' Zeiten so noch gar nicht gab. Die Gespensterwelt, das ist für Marx noch das scheinbar unmittelbare gesellschaftliche Verhältnis der Arbeitsprodukte, für Derrida hingegen das scheinbar unmittelbare gesellschaftliche Verhältnis der die Produkte konsumierenden Menschen. Mag Marx daher vom möglichen Ende des Warenspuks überzeugt sein, Derridas Vertrauen in die Lebendigkeit der heutigen Gespenster kann er damit gar nicht erschüttern. Soll Marx doch fetischistische Natur in die Gesellschaftlichkeit der Arbeit auflösen, Derrida zweifelt keinen Augenblick, daß seine Gespenster gegen diesen Versuch der Reduktion gefeit sind. Er weiß schließlich mehr als Marx; er weiß, daß es eine Gesellschaftlichkeit gibt, in der seine Gespenster bestens aufgehoben sind. Diese Erfahrung macht er tagtäglich in einer Konsumtionssphäre, die nicht mehr das privatistische Anhängsel, sondern gesellschaftlich nützlicher Teil des Verwertungsprozesses geworden ist und eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Problems der Mehrwertrealisierung erhalten hat. Nur im Blick auf die vielen Konsumenten kann Derrida der Gedanke kommen, daß aus der Gebrauchsorientierung der Menschen eine abstrakt gleiche - also gespenstige gesellschaftliche Existenz und das heißt eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem einzelnen und dem Gesellschaftswesen, das er ist, erwachsen muß. Nur in der Gleichsetzung von Konsumtion und Gesellschaftlichkeit kann er Gesellschaft ohne die menschliche Reproduktionstätigkeit denken und gesellschaftliches Leben als etwas prinzipiell Fremdes, als das Andere des Lebens betrachten. Ist gesellschaftlicher Zusammenhang nämlich nichts als ein »Verkehr der Personen ohne Verkehr der Sachen (commerce sans commerce) «, als der bloß gesellige und nicht etwa geschäftliche Umgang der Konsumenten, dann läßt er sich problemlos als »Verkehr ... der Gespenster« beschreiben (15/11). Folgerichtig trägt auch das gesellschaftliche Leben, das Derrida der von ihm diagnostizierten gesellschaftlichen Abstraktion abzuringen sucht, den Stempel der Entmaterialisierung; fern aller Reproduktionstätigkeit besteht es in Freundschaft, Gastfreundschaft, zu essen geben, einladen, willkommen heißen oder Besuch empfangen. * Sobald wir Derrida, mitsamt allem, was ihn so esoterisch und auratisch macht, als unseren Zeitgenossen erkennen, rückt seine Philosophie uns verflixt nahe, und wir sind mit ihr plötzlich mitten in den Schwierigkeiten der heutigen Gesellschaftstheorie. Es zeigt sich nämlich, daß auch wir uns beim Nachdenken über die Gesellschaft mit einer Festigkeit der Erscheinungswelt herumschlagen müssen, mit der Marx auf dem damaligen
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Stand der kapitalistischen Entwicklung noch nicht zu tun hatte. Die heutige Konsumtionssphäre ist ein gegenüber der gesellschaftlichen Produktion verselbständigter Bereich sozialen Handelns, ein von den Problemen der Ökonomie scheinbar unabhängiges Soziales, das der Theorie neue Vermittlungsprobleme stellt. Derrida und die Dekonstruktivisten sind nicht die einzigen Theoretiker, die bei der Darstellung des gesellschaftlichen Zusammenhangs mit dieser Naturförmigkeit des Sozialen zu tun haben. Eine Anschauung von dem Problem bekommt man vielleicht in den vielen Werbespots, wo hochlebendige Menschen sich eine Weile gemeinsam irgendeiner Freizeitaktivität hingeben, bis endlich, ganz zum Schluß, die Zigarette gezückt oder die Bierpulle geöffnet oder das Parfümfläschchen vor die Augen des Zuschauers gerückt wird. Unweigerlich entsteht hier der Eindruck, als habe der Verkehr der Menschen nichts oder jedenfalls primär nichts mit den Sachen und den ökonomischen Zwecken zu tun, um die es eigentlich geht. Das »Come together« scheint Lichtjahre entfernt vom Verkaufstresen - ganz zu schweigen von der Werkbank -: Menschen unter sich, eine Gesellschaft von Menschen, die nichts sind als sie selbst. Auch wenn nachträglich die Ware gezeigt und damit deutlich wird, daß sie die Konsumenten zusammenführt und ihren sozialen Zusammenhang stiftet - der Eindruck einer unmittelbaren, nicht auf sachlich-ökonomische Zwecke bezogenen Gesellschaftlichkeit wird dadurch nicht wieder ausgelöscht. Dieses Soziale, in das alles, alles hineindarf, wenn nur eins draußen bleibt: die Ökonomie, ist in der Theorie allgegenwärtig. Im anthropologischen, ethnologischen oder psychologischen Interesse ebenso wie im Pluralismus der Klassen, Rassen, Geschlechter, Nationalitäten, Kulturen oder auch in der Diskurstheorie. Die in unserer Gesellschaft entstandene Sphäre, in der die sachliche Vermittlung der sozialen Beziehung unsichtbar wird und das funktionale Tun, das ganze Industrien am Leben erhält, hinter einer nur auf sich selbst bezogenen sozialen 'Aktivität' verschwindet, - diese Sphäre wird zum Paradigma des gesellschaftlichen Zusammenhangs überhaupt und zum Beweis dafür, daß die heutige Gesellschaftstheorie durchaus ohne die Ökonomie auskommt. Jede Kategorie, die die Selbständigkeit des Sozialen gegenüber dem Prozeß der gesellschaftlichen Produktion affirmiert, kommt dann gelegen. Aber sobald man nur den unmittelbaren Personenzusammenhang für lebendig und wirklich erklärt und den Sachzusammenhang der Ökonomie als schattenhafte und tote Struktur wegschlägt, zahlt man einen hohen Preis: Auf einmal ist die Gesellschaft weg, und das, was man zur Gesellschaft erklärt hat, erweist sich, wie bei Derrida, als geselliger Umgang und Verkehr der Gespenster oder, wie bei anderen, als bloßes Theater: als Masken, Rollen, Verkleidungen, Parodien - aber ohne was dahinter. Diese Entwirklichung der Gesellschaft ist nicht nur ein Problem der Dekonstruktion. Auch wenn ich nichts mit ihr am Hut habe und über handfeste gesellschaftliche Dinge wie Herrschafts-, Macht- oder Unterdrückungsverhältnisse nachdenke, kann ich allerhand Schwierigkeiten mit der Realität des Sozialen bekommen. Jeder, der etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, den Versuch gemacht hat, rassistische, antisemitische oder sexistische Gewalt als autonomes, von der Gesellschaftlichkeit der Arbeit unabhängiges soziales Handeln zu bestimmen, kann ein Lied davon singen. Dabei meint man doch sicher zu sein, daß das, was sich zwischen Tätern und Opfern abspielt, allemal Wirklichkeit und Gesellschaft genug ist. Aber je mehr man dieses ausdrücklich aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktion herauspräparierte soziale Handeln zu bestimmen versucht, desto mehr stößt man auf individuelles Handeln: individuelle Motive und Interessen, individuelle Verantwortlichkeit und Schuld; von der Gesellschaft
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aber (ob man sie nun Kapitalismus nennt oder nicht) weiß man eigentlich nur, daß sie irgendwie auch noch da ist. Das Gesellschaftliche, das man ausgeschlossen hat, weil man Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus von ihrer Funktion ablöst und auf unmittelbare soziale Beziehungen zwischen einzelnen reduziert, bleibt ausgeschlossen und läßt sich nicht nachträglich wieder integrieren. In einer Theorie des Rassismus zum Beispiel, die das rassistische Interesse nicht als gesellschaftliches faßt, wird man vor lauter Rassisten den Rassismus nicht sehen. Ausschließen und Vermittlung widersprechen einander. Deshalb ist auch die Dekonstruktion keine Vermittlung: Ihre Welt der Konstrukte, der irreduziblen Erscheinungen, verdankt sich allein dem permanenten Ausschluß des gesellschaftlichen Prozesses, der sie hervorbringt. Derridas Esoterik und Gespensterkult signalisieren freilich etwas, das der gängige, von aller Gespenstermetaphorik gereinigte und nüchtern mit »sozialen Konstrukten« befaßte Dekonstruktivismus nicht mehr zu erkennen gibt. Sie signalisieren, mit welchen Vermittlungsproblemen die Gesellschaftstheorie - angesichts einer verselbständigten Sphäre sozialen Handelns - konfrontiert ist und welchen Preis sie zahlt, wenn sie es unterläßt, den Prozeß der Verselbständigung zu thematisieren und die gesellschaftliche Natur in die Entwicklung des Kapitalismus zu integrieren, aus der sie entstanden ist.
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Kornelia Hafner
Liquidation der Ökonomie oder ihre Kritik? Der weite Mantel Versuche, geheime Verwandtschaften zwischen Kritischer Theorie und poststrukturalistischem Denken aufzuspüren, sind in jüngster Zeit von verschiedener Seite unternommen worden. Unter dem weiten Mantel der Kritik des identifizierenden Denkens 1 läßt sich Adorno gemeinsam mit Nietzsche, Heidegger, Foucault und Derrida anscheinend bequem unterbringen. Ausgeklammert, weil störend, bleibt der verschämte Bezug auf Marx, an dem Adorno, wie heimlich auch immer, festhält. Seit allerdings Derrida hier eine Transgression vorgenommen hat, scheint der allseitigen Vereinnahmung nichts mehr entgegenzustehen. Das Vorwort zur in diesem Band dokumentierten Vortragsreihe Kritische Theorie und Poststrukturalismus behauptet, die Kritische Theorie und der Poststrukturalismus hätten einen gemeinsamen Ausgangspunkt, nämlich die Kritik am traditionellen Marxismus. Dies mag auf den ersten Blick so scheinen. Ich werde versuchen zu zeigen, daß beide mit diesem Gegenstand ihrer Kritik mehr gemein haben, als ihnen lieb sein kann. Dies gilt für ihre Vorstellungen darüber, was Ökonomie sei; daher was Gesellschaft ausmache; daher auch für ihre Vorstellungen über das Politische, den Staat, und über Geschichte. Mit dem traditionellen Marxismus teilt der Poststrukturalismus den Umschlag von Kritik in Affirmation. Dessen methodische Schwäche, nämlich den naiven Glauben, Positivität qua normalwissenschaftlichem Zugriff auf Realität gewinnen zu können, konterkariert die poststrukturalistische Seite durch Erkenntnisverzicht. Den Widerspruch, daß der Anspruch auf Wissenschaft und Wahrheit nicht aufgegeben werden kann und ebensowenig die Einsicht, daß alles Wissen gesellschaftlich vermittelt und deshalb Moment verkehrter Verhältnisse ist, das heißt Ideologie, hält die Kritische Theorie Adornos fest. Deshalb wird sie hier als weiterreichende verteidigt. Daß ausgerechnet Derrida, der sich zu einem Denken bekennt, »das das Spiel bejaht« und »über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen« 2 will und mit Foucault, Deleuze, Lyotard u.a. als Vertreter einer »Philosophie der Differenz« gehandelt wird 3 , den Gegenstand Marx im Titel führt, hat für einiges Erstaunen gesorgt. Deshalb wird hier, gleichsam zur Einführung in »die Stile Derridas« 4 , mit seiner Beschwörung dieses Gegenstandes als Gespenst begonnen. In welcher Form Derridas Gespenst in die Kritische Theorie geraten ist, wird in der Folge untersucht: Nämlich zunächst gar nicht, wie sich zeigt. Marx, das ist die Ökomomie, das ist die bürgerliche Gesellschaft als freie Konkurrenz; und diese ist verschwunden. Gewaltverhältnisse stehen wie im Anfang also auch am Ende, dies lehrt die Dialektik der Aufklärung . Lehrmeister Nietzsche scheint hier Pate gestanden zu haben; der Philosoph, bei dem auch die Poststrukturalisten in die Schule gegangen sind. Habermas be1 2 3 4
Heinz Kimmerle, Jacques Derrida, Hamburg 1977, S. 17. Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt 1976, S. 441; Zit. nach Ernst Behler, Derrida - Nietzsche. Nietzsche - Derrida, München, Paderborn, Wien, Zürich 1988, S. 15. Vgl. Heinz Kimmerle, Jacques Derrida, Hamburg 1977, S. 17. Jacques Derrida, Esperons. Les styles de Nietzsche, in: Nietzsche aujourdhui?, 2 vol., Paris 1974.
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merkt solches, um mit dieser Position zugleich die beiden anderen Positionen abzuweisen, vorgeblich wegen „totalisierender“ Kritik, aber es ist eher die Kritik, nämlich die an kapitalistischer Vergesellschaftung, die ihn stört. Diese jedoch war Anliegen und Programm. Allerdings führte die Vorstellung von der »Liquidation der Ökonomie« in einen Zirkel, der die verkehrten Formen nurmehr als Reproduktion gereinigter Gewaltverhältnisse und ihrer geistigen Entsprechungen erscheinen ließ, reine Konkurrenz und reine Mechanik, so wie sich die bürgerliche Ökonomie auf der Ebene der einfachen Warenzirkulation darstellt, wenn die Kritik nicht weiterdringt. Daß Adorno die Warenform als zentrale Verkehrung festhält, kennzeichnet seine Position als eine bürgerlicher Ökonomie und zugleich als eine der Kritik. Derrida bleibt nicht bei der Warenanalyse stehen. Er läßt unbekümmert die Begriffe auf der Marxschen Gespensterbühne auftreten und wieder abtreten. Doch da er in der Nachfolge Nietzsches mit der wahren Welt auch die Scheinbare abgeschafft hat, sind ihm Wesen und Schein einerlei. So können sie ihr Wechselspiel unendlich weiter trei ben. Allerdings bleibt dabei das Motiv des geldheckenden Geldes oder, von der Ökonomie gereinigt, das der übermächtigenden Macht leitmotivisch. Adorno argumentiert gegn diese Position, wenn er die Leugnung des Unterschiedes von Wesen und Erscheinung (Nietzsche), die Liquidierung des Moments der Objektivität am Begriff (Husserl) und die Verabsolutierung dessen, was sich nicht denken läßt (Heidegger), der „totalen Ideologie“ zuschlägt. Der weite Mantel ist zerissen. Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen der Position der Ideologie und der der Ideologiekritik. Voraussetzung, die Differenz zwischen beiden zu erfassen, ist ein Begriff von Erkenntnis, nämlich Erkenntniskritik , nicht der Verzicht auf diese. Theorie in der Illegalität oder: »der unheimliche Marx« „Marx - der Unheimliche“ so hätte der Untertitel des Vortrags lauten können, den Jacques Derrida 1993 in Kalifornien gehalten hat, und der inzwischen zur launigen Unterhaltung aller Noch- und Antimarxisten unter dem Titel Marx’ Gespenster auf Deutsch erschienen ist. »Marx ist bei uns immer noch ein Einwanderer, ein ruhmreicher, geheiligter Einwanderer zwar, verflucht, aber immer noch illegal, wie er es sein ganzes Leben lang war (...) Man sollte sich nicht beeilen, den illegalen Einwanderer mit einem Aufenthaltsverbot zu belegen oder, was immer aufs selbe hinauszulaufen droht, ihn zu domestizieren. Ihn durch Einbürgerung neutralisieren. Ihn zu assimilieren, damit man aufhören kann, sich mit ihm angst zu machen. Er gehört nicht zur Familie, aber deswegen sollte man ihn nicht an die Grenze zurückbringen, nicht noch einmal, nicht auch ihn.« 5 Ich stimme Monika Noll zu, wenn sie schreibt, daß Derrida sehr wohl verstanden wird. 6 Wir verstehen, worüber er nicht sprechen will und wir haben vielleicht eine Ahnung davon, warum. Derrida möchte Marx integrieren in seine Galerie väterlicher Hausgespenster, von denen zwei, Freud und Heidegger, den Begriff des Unheimlichen explizit zum Thema 5 6
Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt 1995, S. 274 (Hervorh. i.O.). Kongenial zu Derrida argumentiert Hartmut Böhme in seinem Aufsatz Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext, in: Berliner Debatte INITIAL 8, 1977, 1/2, S. 8-23. Er glaubt, frei nach Blumenberg den „Fetisch“ bei Marx eine »absolute Metapher« nennen zu können. Er vergißt dabei, daß nicht alle Formen des Kapitalverhältnisses sich als Fetisch präsentieren, als Ding, von dem man glaubt, daß es magische Kräfte habe.
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gemacht haben. In beiden Diskursen ermögliche diese Bezugnahme grundlegende Entwürfe und Argumentationslinien, jedoch »in einer Art, daß sie die Ordnung der geltend gemachten begrifflichen Unterscheidungen dauerhaft und mehr oder weniger unterirdisch erschüttert. Ebenso müßte sie die Ethik und Politik erschüttern, die implizit oder explizit daran anschließt.« 7 Genau so, behauptet Derrida, verhalte es sich mit der »Marxschen Spektrologie«. Daß dieses »sich Einrichten im metaphorischen tête à tête mit Geistern« nur möglich ist, wenn man die Textintention für uninteressant erklärt, »gegen Impulse der Kritik einfach immun« bleibt und statt dessen Metaphern in ihrer Unmittelbarkeit zu selbständigem Leben erweckt, Theorien in »unauflöslicher Gleichzeitigkeit« miteinander verkuppelt, die »jeden Blick auf die Geschichte überflüssig« macht, hat Monika Noll in diesem Sammelband gezeigt. In der Tat kann man versucht sein zu glauben, in entsprechenden mitteilungsfeindlichen Strategien der Textproduktion lasse sich ein Zeitsym ptom erkennen. Derrida beschwört Marx als Geist von Hamlets Vater, der gegenüber dem Erben die Verfügung ausspricht, das zu tun, was ihm die Pflicht auferlegt, angesichts der aus den »Fugen (out of joint)« 8 geratenen Zeit, womit er ihn dann endgültig in der Falle des Messianischen einfangen zu können meint. Einen Zeugen findet er in Benjamins Rede von der »schwachen messianischen Kraft« als geheimer Verbindung zwischen den gewesenen Geschlechtern und den lebenden. 9 Er „verschwört“ sich mit diesem Gespenst (Spektre) gegen den Neoliberalismus und listet säuberlich die zehn großen Plagen der Menschheit auf, die diesen begleiten. 10 Derrida ruft den Beistand des Gespensts an gegen den evangelianischen Geist Fukuyamas und entsprechender „christlicher Apologeten“, die als den endgültigen Sieg über den ewigen Widersacher Gottes, das tausendjährige Reich des Kapitalismus als beste aller Welten ausgerufen haben. Die »scholars« sollen zu ihm reden, wie Marcello im Hamlet; es befragen, dieses Gespenst. »Vielleicht hat man keine Angst mehr vor den Marxisten, wohl aber hat man noch Angst vor gewissen Nicht-Marxisten, die auf das Marxsche Erbe nicht verzichtet haben, Krypto-marxisten, Pseudo- oder Para-’Marxisten’, die bereit wären, die Ablösung zu übernehmen, mit Bindestrichen oder in Anführungszeichen, die zu demaskieren die verängstigten Experten des Antikommunismus nicht geübt genug wären.« 11 Man bekommt Lust, die Geisterbeschwörung fortzusetzen. Was haben die „scholars“ Horkheimer und Adorno das Gespenst Marx gefragt, was hat es geantwortet? Haben sie es ü berhaupt befragt? Daß man Angst hatte vor diesen „Krypomarxisten“, daß man sie für Wiedergänger in der Maske hielt, ist bezeugt, daß man nach ihrem Tode heftige Exorzismen vorgenommen hat, ebenso. Berichtet wird, daß sie an dieser Angst Anteil hatten. Sie fürchteten in der Tat, jene Geister zu beschwören, mit denen im Bunde zu stehen sie sich von vorneherein für verdächtig hielten. Der Name durfte nicht ausgesprochen werden, nur sein Pseudonym: Kritische Theorie. 7 8
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Jacques Derrida, a.a.O., S. 274. Hier der Bezug auf Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, Frankfurt am Main 1950, S, 326-327, siehe Jacques Derrida: Marx’ Gespenster, Frankfurt 1995, S. 46ff. Der Satz des Hamlet findet sich auch schon bei Gilles Deleuze am Anfang seiner Arbeit über die kritische Philosophie Kants im Zusammenhang mit dem Problem des Zeitbegriffs. Gilles Deleuze, Kants kritische Philosophie (Paris 1963), Berlin 1990, S. 7ff. Jacques Derrida, a.a.O., S. 94ff. Jacques Derrida, a.a.O., S. 132ff. A.a.O., S. 86
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Der Weg der Wiedergänger, oder: vom Kampf für den Sozialismus zur Liquidation der Ökonomie Greifen wir aus der Vielzahl der zur Kritischen Theorie inzwischen veröffentlichten Sekundärliteratur eine schlichte Einführungsschrift heraus, von deren Autoren man annehmen könnte, daß sie eine relativ nahestehende Position vertreten, also weder zu jenen gehören, denen es um die Reintegration in die „Familie“ geht, noch um solche, die die endgültige Ausweisung betreiben. Christoph Türcke und Gerhard Bolte markieren als Ausgangspunkt Horkheimers Reflexionen zur Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse mit der Konsequenz doppelter Distanz: zum Kommunismus, dessen politische Praxis sich in vielfach »erfolglosen Befehlen und moralischer Zurechtweisung der Ungehorsamen und Treulosen« erschöpft habe, und zum sozialdemokratischen Reformismus, der »das Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren« habe. 12 Für den Horkheimer der Zeit vor der Emigration sei jedoch selbstverständlich gewesen: » daß man um den Sozialismus kämpfen muß.« 13 Dem Blick, der diesen Ausgangspunkt festhält, muß der Weg der Kritischen Theorie dann als einer erscheinen, der sich weit von diesem Punkt entfernt. Nun geht es darum zu erklären, warum dieser Weg beschritten wurde, und hier können inzwischen einige Erkenntnisse für gesichert gelten: Mit Hilferding und Lenin ging man davon aus, daß man sich im Monopolkapitalismus als höchstem und letztem Stadium des Kapitalismus befinde. Für die Ökonomie war Pollock zuständig. 14 Dieser glaubt zunächst, daß qua planstaatlicher Modelle eine sozialistische Ökonomie zu konzipieren sei. Nach der Enttäuschung angesichts der Nachrichten aus der Sowjetunion projiziert er ein verwandtes Konzept in umgekehrter Bewertung auf das nationalsozialistische Deutschland: „Staatskapitalismus“, Kommandowirtschaft und Zwangsarbeit seien hier erfolgreich implantiert worden, so daß Wertgesetz und Akkumulationsgesetz ausgehebelt seien. Staatliche Kontrolle habe die Eigendynamik der Wirtschaft abgelöst. »Die Kommando-Wirtschaft ist in der Lage, die ökonomischen Ursachen von Depressionen, kumulativen Zerstörungsprozessen und Brachlegung von Kapital und Arbeit auszuschalten. Ökonomische Probleme im herkömmlichen Sinne wird es nicht mehr geben (...).« 15 Entgegen den nicht nur empirisch genaueren und theoretisch stimmigeren Forschungen von Franz Neumann zum nationalsozialistischen Staat 16 insistiert Pollock und in 12 13 14 15 16
Christoph Türcke/Gerhard Bolte, Einführung in die KritischeTheorie, Darmstadt 1994, S. 17f. Zitate nach Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt am Main 1974, S. 281ff. Vgl. auch: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 373 ff. Christoph Türcke/Gerhard Bolte, a.a.O., S.18. Zitat nach Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt am Main 1974, S. 251ff. Vgl. auch: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 342 „Skepsis und Moral“. Vgl. Rolf Johannes, Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie, in: Soziologie im Spätkapitalismus: Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos. Hg. Gerhard Schweppenhäuser, Darmstadt 1995, S. 41-68; hier S. 52ff. F. Pollock, Is a National Socialism a new order? ZfS, Jg. 9, 1941, S. 440; zit. nach Christoph Türcke/Gerhard Bolte, a.a.O., S. 45. Neumann vertritt die Position, daß der „NS-Staat“ die Auflösung eines Staates im klassischen Sinne bedeutet, zugunsten eines unübersichtlichen, teilweise dysfunktionalen Oligopols konkurrierender Institutionen und Machtgruppen, bei gleichzeitig freier Entfaltung privatkapitalistischer Ökonomie, dank Ausschaltung der Gewerkschaften und Staatsaufträgen und gerade unter den Bedingungen der von den „Wirtschaftsführern“ schon vor der Implementierung der Regierung Hitler
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seinem Gefolge Horkheimer und auch Adorno auf der Vorstellung vom Sieg eines Primats der Politik, wie er von den Nationalsozialisten stets propagiert wurde. Christoph Türcke und Gerhard Bolte betonen daher zurecht, daß hier das Machtmotiv das Profitmotiv ersetzt habe. 17 Kritisch verfolgen sie, wie Horkheimer dieses „Machtmotiv“ in seiner Theorie der „Rackets“ weiterentwickelt 18 und sich dabei in die Nähe von Denkfiguren Friedrich Nietzsches und Carl Schmitts bewegt: „Gewalt setzt Recht“. Hier könnte man in der Tat versucht sein, mit einer Mikrophysik der Macht anzuknüpfen. Christoph Türcke und Gerhard Bolte sind vorsichtig mit ihrer Kritik. Ein Partialphänomen sei hier überbetont worden. 19 Jedoch weist uns diese Zentrierung geradewegs auf das, was nunmehr die Gesellschaftstheorie Horkheimers und Adornos kennzeichnen wird: die These vom Faschismus als Wahrheit der modernen Gesellschaft 20 und die These (Adornos) von der » Liquidation der Ökonomie« 21 . Beide sind insofern miteinander verknüpft, als gegen besseres Wissen 22 unterstellt wird, es habe eine Phase kapitalistischer Ökonomie gegeben, in der freie Konkurrenz einer Vielzahl individueller Wirtschaftssubjekte vorherrschte. Im Spätkapitalismus ü bernehme eine racketähnliche Machtclique die Kontrolle der Produktion und die Verteilung des Profits und lenke die Gesellschaft durch Terror und Gratifikationen. Hier gehen Christoph Türcke und Gerhard Bolte zurecht auf Distanz: »Wenn Adorno als ökonomisch nur noch gelten lassen will, was zum ‘ungestörten autonomen Ablauf des Wirtschaftsmechanismus’ 23 gehört, dann nimmt er den Schein einer geschlossenen, marktvermittelten Ökonomie für die Realität einer bestimmten historischen Phase. Diesen Schein hat die Marxsche Kritik aufgelöst.« 24 Rolf Johannes hat in seinem Aufsatz zum „ausgesparten Zentrum“ der Kritischen Theorie Adornos ähnlich argumentiert. 25 Verwiesen wird auf die Passagen im Einleitungsvortrag Adornos auf dem Soziologentag 1968, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft , in dem dieser die Frage wiederaufnimmt, ob das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate im Sinne seiner Deutung als Zusammenbruchsgesetz, wie sie Grossmann vertreten hat, noch Geltung haben könne. Wenn sich herausstelle, so referiert Johannes die Adornosche Position von 1968, daß sich das tendenzielle Verschwinden des Mehrwerts mit dem Fortbestand kapitalistischer Reproduktion vertrage, so sei die Mehrwerttheorie nicht nur affiziert, sondern schlicht hinfällig. 26
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initiierten „Zwangsverbänden“. Seine Thesen sind durch d ie neuere Forschung (Broszat) weitgehend bestätigt worden. Christoph Türcke/Gerhard Bolte, a.a.O., S. 46. Dabei nähert er sich Neumanns Position wieder von anderer Seite. Christoph Türcke/Gerhard Bolte, a.a.O., S. 51. »Nicht einbrechende Gangster haben in Deutschland die Herrschaft über die Gesellschaft sich angemaßt, sondern die gesellschaftliche Herrschaft geht aus ih rem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft über.« Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, zit. n. ders., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 332. Th. W. Adorno, Reflexionen zu Klassentheorie, in: Ders., Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 1997, S. 381. Vgl. Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Werke Band 8, Darmstadt 1998, S. 367f. Th. W. Adorno, Reflexionen zu Klassentheorie, a.a.O., S. 385. Christoph Türcke/Gerhard Bolte, A.a.O, S. 53. (Hervorhebung K.H.) Rolf Johannes, Das ausgesparte Zentrum ..., a.a.O., S. 57. A.a.O., S. 64, referiert nach Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, a.a.O., S. 359.
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Weil Adorno seine Position zum ausgesparten Zentrum Ökonomie hier sehr deutlich werden läßt und damit die Möglichkeit gibt, sein Verständnis von Marxscher Theorie und Ökonomie überhaupt zu durchleuchten, soll besagte Textstelle aus dem Aufsatz Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft genauer betrachtet werden: »Sinkt aber, durch den Umfang des technischen Fortschritts, tatsächlich durch Industrialisierung, der Anteil der lebendigen Arbeit, aus der seinem Begriff nach allein der Mehrwert fließt, tendenziell bis zu seinem Grenzwert, so wird davon das Kernstück (der marxistischen Lehre, Anm. K.H.), die Mehrwerttheorie affiziert. Der gegenwärtige Mangel an einer objektiven Werttheorie ist nicht nur vom Ansatz der akademisch heute fast allein akzeptierten Schulökonomie bedingt. Er weist zurück auf die prohibitive Schwierigkeit, die Bildung von Klassen ohne Mehrwerttheorie objektiv zu begründen. Den Nichtökonomen will es bedünken, daß auch die sogenannten neomarxistischen Theorien ihre Lücken in der Behandlung der konstitutiven Probleme mit Brocken aus der subjektiven Ökonomie zuzustopfen versuchen . Verantwortlich dafür ist gewiß nicht allein die Schwächung des theoretischen Vermögens. Denkbar, daß die gegenwärtige Gesellschaft sich einer kohärenten Theorie entwindet. Marx hatte es insofern leichter, als ihm in der Wissenschaft das durchgebildete System des Liberalismus vorlag . Er brauchte nur zu fragen, ob der Kapitalismus in seinen eigenen dynamischen Kategorien diesem Modell entspricht, um in bestimmter Negation des ihm vorgegebenen theoreti schen Systems eine ihrerseits systemähnliche Theorie hervorzubringen. Unterdessen ist die Marktökonomie so durchlöchert, daß sie jeglicher solcher Konfrontation spottet. Die Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur verhindert ihre rationale Entfaltung in der Theorie. Die Perspektive, daß die Lenkung der ökonomischen Prozesse an die politische Macht übergeht, folgt zwar aus der deduziblen Dynamik des Systems ist aber zugleich eine zu objektiver Irrationalität hin. Das, nicht allein der sterile Dogmatismus ihrer Anhänger, dürfte erklären helfen, warum es längst zu keiner überzeugenden objektiven Gesellschaftstheorie mehr kam. Unter diesem Aspekt wäre der Verzicht auf jene kein kritischer Fortschritt wissenschaftlichen Geistes, sondern Ausdruck zwangshafter Resignation. Parallel zur Rückbildung der Gesellschaft läuft eine des Denkens über sie.« 27 Adorno geht hier vom Desiderat einer objektiven Werttheorie aus und unterstellt, daß diese in der Marxschen Mehrwerttheorie vorgelegen habe und der gesellschaftlichen Realität des 19. Jhs. entsprochen habe. Er kritisiert zurecht die Anleihen des Neomarxismus (Baran/Sweezy, Gillman, Mandel u.a.) an der „subjektiven Ökonomie“ und behauptet, Marx habe es leichter gehabt, da in der Wissenschaft das durchgebildete System des Liberalismus vorgelegen habe. Adorno behauptet auch, diesem habe er „nur“ seine eigenen dynamischen Kategorien gegenüberstellen müssen, um in »bestimmter Negation des ihm vorgegebenen theoretischen Systems eine ihrerseits systemähnliche Theorie hervorzubringen«. Er hält fest an seiner These von der Liquidierung der Ökonomie und verbindet diese mit der Behauptung, mit ihr ginge eine Rückbildung der Gesellschaft und des Denkens über sie einher. Entscheidend dafür, als was für eine Art kritischer Theorie die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie gedacht ist, ist hier die Frage, wie das Verhältnis von „objektiver Werttheorie“ zu den Marxschen „dynamischen Kategorien“ und „bestimmter Negation“ zu verstehen ist. In der Tat finden sich Aussagen, die zweifeln lassen, ob hier die Position der Dogmatik nur präsentiert oder geteilt wird: »Eine dialektische Theorie der Ge27
A.a.O., S.359f. (Hervorhebungen K.H.)
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sellschaft geht auf Strukturgesetze, welche die Fakten bedingen, die sich in ihnen manifestieren und von ihnen modifiziert werden. Unter Strukturgesetzen versteht sie Tendenzen, die mehr oder minder stringent aus historischen Konstituentien des Gesamtsystems folgen. Marxistische Modelle dafür waren Wertgesetz, Gesetz der Akkumulation, Zusammenbruchsgesetz.« 28 Darauf ist weiter unten noch einzugehen. Festzuhalten ist hier, daß Adorno den Theorietypus, den er mit der Marxschen Theorie assoziiert, jetzt nicht mehr für möglich hält. Er hat sich offenbar mit Gründen entschieden, das, was ihm als Spätkapitalismus gilt, als »Prozeß der Liquidation der Ökonomie« zu kennzeichnen, in dem die „alte Herrschaft“ ihre bürgerliche Form in sich zurücknimmt. Dies hat Konsequenzen für die nur mehr möglichen Formen von Kritik. Machtontologie und »hemmungslose Vernunftskepsis« Michael Koltan 29 präsentiert eine spezifische Lesart der Dialektik der Aufklärung . Er will zeigen, daß die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie überhaupt nicht konstitutiv in den Begriff des Tausches eingehe, der dort im Unterschied zu Marx als grundlegendes Prinzip im aristotelischen Sinne gebraucht sei. Tatsächlich werde der Begriff des Tauschs aus dem Begriff des Opfers entfaltet. 30 Die Dialektik der Aufklärung begreife den Tausch als rationalisierte Form des Opfers, welche in Tauschhandlungen umschlage, in denen dieses aufgehoben sei. Das Opfer jedoch impliziere bedingungslose »Kommunikation mit dem Absoluten«, Einheit in der Form bedingungsloser Unterwerfung und gleichzeitige Heiligung dieses Aktes. Horkheimer und Adorno lokalisierten in jenem vielrezitierten Exemplum vom Odysseus die Konstitution des bürgerlichen Sub jektes im Übergang vom Opfer zum Tausch. 31 Resümieren wir zunächst den Stand der Erkenntnis und der Verwirrung. Grundlage scheint eine Freudrezeption, welche die Libidotheorie und die psychoanalytische Methode im Sinne angeleiteter Selbstreflexion individuellen (bürgerlichen) Bewußtseins als Folie nimmt. Die traditionelle Vorstellung, daß nur das von den Trübungen der Leidenschaften gereinigte Bewußtsein die VIA ABSTRACTIONIS der Erkenntnis beschreiten könne, wird über Neukantianismus und Weber säkularisiert und Freuds Unbehagen in der Kultur entsprechend zum Lohn des Opfers stilisiert. Es empfiehlt sich, die Glieder der Kette von Ineinssetzungen zu betrachten: Das Opfer als Vorform »rationalen Tauschs«, der Triebaufschub als »Opfer«, Odysseus als Beispiel für »Selbstbeherrschung«, »Selbstbeherr-schung« als Reinigung von den Trie ben, Gewinn von Rationalität als Technik des Verzichts, Rationalität als Machtgewinn über andere, denen der Verzicht technisch aufgeherrscht wird und zuletzt die Behauptung einer paradigmatischen Bedeutung der gesamten Konstruktion für das »bürgerliche Subjekt«. Faßt man die Argumentation, gegen Sprachduktus und Intention der Autoren, definitorisch gleichsetzend zusammen, dann gelangt man in der Tat mit Koltan zu der Gleichung: Triebverzicht = Opfer = Tausch = Technik = Erkenntnis = Macht. Oder umgekehrt: Denn die Macht, den Gefährten die Ohren zu verschließen und ihnen zu befehlen, 28 29 30 31
A.a.O., S. 356 (Hervorhebungen K.H.) Michael Koltan, Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt, in diesem Band. Dies erinnert an die Studien von Marcel Mauss und Georges Bataille. Es geht aber gar nicht primär um den „Tausch“ im Odysseus-Kapitel.
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den Herrn zu fesseln, steht am Anfang. Dann allerdings verliert der Tausch seinen Platz, ebenso wie die Erkenntnis: Macht und List (Betrug) verfügen über die Technik, die Gefährten, die in Wirklichkeit die Untergebenen sind, den Stimmen der Verführung gar nicht erst auszusetzen und den Herren davor zu bewahren, daß er ihnen folgt: »Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr über den Beherrschten gewinnt.« 32 Die Dialektik der Aufklärung stellt für die habermasianisierende ebenso wie für die linke Rezeption der Kritischen Theorie als der problematischste Text dar. Letzere kritisiert zurecht den »überhistorischen Zugriff«, der im antiken Mythos die Wahrheit der Konstitution bürgerlicher Individualität und Rationalität ausgesprochen wähnt. Bezweifelt wird die Aussagekraft des Exempels für die Herausbildung bürgerlicher Individualität, die Ineinssetzung dieser mit instrumenteller Rationalität, die Reduktion bürgerlicher Verhältnisse auf Herrschaftsverhältnisse im antiken Sinne - soweit diese im Mythos überhaupt erscheinen - und damit die Rücknahme einer Perspektive, die auf historische Differenz zielte, zugunsten einer, die dem Schein des Immergleichen aufsitze. * Jürgen Habermas widmet unter dem Titel »Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung« der Kritik an Horkheimer und Adorno ein Kapitel in seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (1985). 33 Er plaziert die Dialektik der Aufklärung in einem Argumentationszusammenhang, der, ausgehend von einem »Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas«, Nietzsche als Drehscheibe zum Eintritt in die Postmoderne figurieren läßt, um uns in der Folge über die Dialektik der Aufklärung zu Heidegger, Derrida, Bataille, Foucault zu führen und zu den Aporien einer Machttheorie. Dies gibt Anlaß, hier auf Habermas zu rekurrieren. Für Nietzsche, so Habermas, sei die Moderne nur noch eine Epoche in einer weit ausgreifenden Geschichte der Rationalisierung. Dennoch negiere er nicht das moderne Zeitbewußtsein, sondern spitze es zu. 34 Er verdanke seinen machttheoretisch entwickelten Begriff der Moderne einer demaskierenden Vernunftkritik, die sich selbst außerhalb des Horizontes der Vernunft stelle. Das Ästhetische als Tor zum Dionysischen werde zum »Anderen der Vernunft« hypostasiert. Nietzsche betreibe eine Ideologiekritik, die ihre eigenen Grundlagen angreife. Einerseits suggeriere er die Möglichkeit einer artistischen Weltbetrachtung, die mit wissenschaftlichen Mitteln, aber in antimetaphysischer, skeptischer Einstellung durchgeführt werde. Andererseits behaupte er die Möglichkeit einer Kritik der Metaphysik, die die »Wurzeln des metaphysischen Denkens« ausgrabe, »ohne sich selbst als Philosophie aufzugeben«. 35 Auf beiden Pfaden sei Nietzsches Kritik der Moderne fortgesetzt worden. »Der skeptische Wissenschaftler, der die Pervertierung des Willens zur Macht, den Aufstand der reaktiven Kräfte und die Entstehung der subjektzentrierten Vernunft mit anthropologischen, psychologischen und historischen Methoden enthüllen möchte, findet Nachfolger in Bataille, Lacan und Foucault; der 32 33 34 35
Max Horkheimer und Theordor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Werke, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 36. Jürgen Habermas, Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Horkheimer und Adorno, in: Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main, 3. Aufl., S. 130-158. Jürgen Habermas, a.a.O., S. 108. A.a.O., S. 119.
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eingeweihte Kritiker der Metaphysik, der ein Sonderwissen in Anspruch nimmt und die Entstehung der Subjektphilosophie bis in die vorsokratischen Anfänge hinein verfolgt, in Heidegger und Derrida.« 36 Die Plazierung von Adorno/Horkheimer zwischen Nietzsche und Heidegger ordnet diese in den Kontext einer Theorieentwicklung, die zu anderer Zeit und mit anderer Intention, nämlich von Georg Lukács, als Prozeß der Zerstörung der Vernunft 37 gefaßt wurde. Berühmt ist das Diktum Horkheimers und Adornos über die dunklen Schriftsteller des Bürgertums (Machiavelli, Hobbes, Mandeville, hier: de Sade und Nietzsche), die nicht wie seine Apologeten die Konsequenzen der Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet hätten. 38 Nietzsche wird hier ins Zentrum der Wahrheit gerückt. Habermas konstatiert, Nietzsches Kritik der Erkenntnis und der Moral ha be einen Gedanken vorweggenommen, den Horkheimer und Adorno in ihrer Kritik der instrumentellen Vernunft 39 entwickelt hätten: »Hinter den Objektivitätsidealen und den Wahrheitsansprüchen des Positivismus, hinter den asketischen Idealen und den Richtigkeitsansprüchen der universalistischen Moral verbergen sich Selbsterhaltungs- und Herrschaftsimperative«.40 Verblüffend seien die Übereinstimmungen. Zur Konstruktion der Dialektik der Aufklärung fänden sich Punkt für Punkt Entsprechungen bei Nietzsche: Ihrer Instinkte beraubt, benutzten die Menschen ihr Bewußtsein als Apparat der Vergegenständlichung und Verfügbarmachung der äußeren Natur. Dies gehe einher mit einem Prozeß der Zähmung der alten Instinkte qua »Verinnerlichung« von Herrschaft. 41 Die Gemeinsamkeit geht Habermas zufolge noch über diese »Strukturanalogie« hinaus: » Nietzsche hatte vorgemacht, wie man Kritik totalisiert.« 42 Habermas faßt den Prozeß der Aufklärung mit Piaget als Dezentrierung des Weltbildes, d.h. Desozialisierung der Natur und Denaturalisierung der Menschenwelt. Mit We ber denkt er ihn als Rationalisierung von Weltbildern, die dazu führe, daß die Sphäre der Geltungszusammenhänge intern differenziert werde unter den Gesichtspunkten von Wahrheit, normativer Richtigkeit und subjektiver Wahrhaftigkeit. 43 Vor diesem Hintergrund will er den Marxschen Ideologiebegriff plazieren. Erst wenn Wissenschaft, Moral und Kunst jeweils ihrer eigenen Logik folgten und von kosmologischen, theologischen und kultischen Schlacken gereinigt seien, könne der Verdacht entstehen, die Geltung einer Theorie sei Schein, da sich in ihre Poren verschwiegene Interessen und Machtansprüche eingeschlichen hätten. Den Versuch des Aufweisens einer solchen unzulässigen Vermischung von Macht und Geltung mißversteht Habermas als das Anliegen der Marxschen Ideologiekritik. 44 Mit dieser Art Kritik werde Aufklärung zum ersten Mal reflexiv. Der Rückgriff auf die Nietzscheanische Formel der „zweiten Aufklärung“ also das Doppelt-reflexiv-werden - allerdings mache erst dann einen Sinn, wenn die
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A.a.O., S. 120. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S.141f. Gemeint ist hier nicht nur die Schrift Horkheimers von 1947 (Eclipse of Reason), sondern die Kritikposition, die Adorno teilt. Jürgen Habermas, a.a.O., S. 147. A.a.O., S. 146f. A.a.O., S. 145. (Hervorhebung K.H.) A.a.O., S. 140. Deutlich wird, wie sehr Habermas’ Verständnis der Ideologiekritik als Aufzeigen einer Verunreinigung der Geltung durch Herrschaft sich von dem Verständnis Adornos und Marx' unterscheidet.
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Ideologiekritik selbst in den Verdacht gerate, keine Wahrheiten mehr zu produzieren. Dies sei bei Horkheimer und Adorno der Fall gewesen. Für Habermas markiert die Dialektik der Aufklärung , neben der Nietzscheanischen Philosophie, eine zweite Variante der »auf sich selbst bezogenen totalisierenden Kritik«. Jener habe Zuflucht gesucht bei einer Theorie der Macht, was konsequent sei, weil »jene Fusion von Vernunft und Macht«, die die Kritik enthülle, die Welt, als sei es die mythische, dem »unversöhnlichen Kampf der Mächte« überlasse. 45 Einen Ausweg aus der Verlegenheit einer Kritik, die die Voraussetzungen ihrer eigenen Geltung angreife, brächten auch jene Theorien nicht, die im Anschluß an Nietzsche das, wie Habermas meint, in der Tradition der Aufklärung entwickelte Repressionsmodell der Herrschaft von Marx und Freud »durch einen Pluralismus von Machtstrategien« ersetzen, die »einander durchkreuzten, aufeinander folgten«, die sich aber »nicht unter Geltungsaspekten beurteilen« ließen. 46 Diese regressive Wendung stelle noch die Kräfte der Emanzipation in den Dienst der Gegenaufklärung. Horkheimer und Adorno träfen eine andere Option, indem sie den »performativen Widerspruch« einer totalisierenden Kritik, die sich gegen ihre eigenen Grundlagen wende, offenhielten. Habermas zitiert hier Adorno zum Begriff der bestimmten Negation 47 und kommentiert, wer an einem Ort, den die Philosophie einst mit ihren Letztbegründungen besetzt gehalten habe, in einer Paradoxie verharre, nehme nicht nur einen unbequeme Stellung ein, er könne diese auch nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen sei, daß es » keinen Ausweg « 48 gebe. Diese Auffassung vertritt Habermas nicht. Vielmehr wirft er Horkheimer und Adorno vor, sich einer hemmungslosen Vernunftskepsis überlassen zu haben. 49 Habermas schneidet sich für seine Argumentation die Positionen so zurecht, daß er mit dem Pauschalurteil einer totalisierenden Selbstkritik der Vernunft Nietzsche, Adorno/Horkheimer und Derrida in einem treffen zu können glaubt. Demgegenüber soll der Rekurs auf Habermas hier verdeutlichen, daß die Differenzen zwischen allen an dieser Stelle verhandelten Autoren vor allem deren jeweiligem Begriff der Kritik geschuldet ist. Nietzsches „zweite Aufklärung“ mündete bekanntlich in die Figur der »großen Be jahung«. Derridas dekonstruktives Vorgehen soll Kritik radikalisieren 50 und dadurch »den Zugang zu einem affirmativen Denken des messianischen Versprechens eröff-
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Jürgen Habermas, a.a.O., S. 153. A.a.O., S. 154 »Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet. Damit wird die Sprache mehr als bloßes Zeichensystem. Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklärung von dem positivistischen Zufall unterscheidet, dem er sie zurechnet.« DA 36, zit. nach Jürgen Habermas, a.a.O., S. 154f. A.a.O., S. 155. A.a.O., S. 156. »Sich weiter von einem gewissen Geist des Marxismus inspirieren zu lassen, das würde heißen, dem treu zu bleiben, was aus dem Marxismus im Prinzip immer zuerst eine radikale Kritik gemacht hat, das heißt ein Vorgehen, das bereit ist sich selbst zu kritisieren.« Jacques Derrida, a.a.O., S. 143 Dieser Geist des Marxismus, der einen Geist der Aufklärung beerbe, wird von anderen unterschieden, denen einer »marxistischen Ontologie«, verknüpft mit der Geschichte der Apparate und der Strategien der Arbeiterbewegung, die es zu dekonstruieren gilt.
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nen.«51 Die Kritische Theorie, so attestiert ihr Habermas, gerät in eine »unbequeme Stellung«. Habermas selbst benutzt die Rede von Kritik im oberflächlichen Sinne der Normalwissenschaft, die sich Wissenschaft jenseits von Traditioneller Theorie nicht denken kann. Dies zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn er die Marxsche Kritikstrategie als Versuch einer unzulässigen Vermischung von Macht und Geltung darzustellen versucht. Normgeltung ist ihm Voraussetzung des Urteils. Habermas verteidigt gegen Adorno und Horkheimer jene Einheit von bürgerlicher Kultur, universalistischer Moral und wissenschaftlichem Fortschritt, die diesen aus guten Gründen unheimlich war. Die Flaschen-post diesbezüglich, nämlich die von Adorno im Exil so apostrohierte Dokumentation und Tradition der Gesellschaftskritik für spätere Generationen, die vielleicht mit ihr etwas anzufangen wüßten, sei mit einem Knall entkorkt worden, berichtet Leo Löwental. 52 In der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung wurde deutlich, daß deren Revolutionarismus die Frankfurter Professoren zutiefste erschreckte, obwohl sie doch behauptete, genau gegen das zu kämpfen, was von den akademischen Lehrern der Kritik preisgegeben worden war. Christoph Türcke und Gerhard Bolte urteilen folgendermaßen: »Hier stieß nicht nur höchste Reflexion mit blinden Aktionismus zusammen, sondern auch die kritische Theorie mit sich selbst ; ihren eigenen Einsichten und Impulsen.« 53 Das ist jedoch nur zum Teil zutreffend. Interessanter ist es, aus der inzwischen gewonnenen kleinen historischen Distanz die Theoriestränge zu verfolgen, die hier aufeinandertrafen und weiterwirkten. Deutlich ist, daß das Gespenst Marx gründlich vertrieben war. Die ersten Beschwörungsversuche förderten dann auch wieder Lenin und Hilferding zutage, Großmann, zuletzt Luxemburg, Lukács und Korsch. Dies entspricht dem weitgehendsten Stand der Marx-Rezeption der Kritischen Theorie. Gleichzeitig trug die Dialektik der Aufklärung ihre Früchte, indem sie das Zwitterwesen der »Realabstraktion« in die Öffentlichkeit brachte, in neukantianisch-Sohn-Rethelianischer Gestalt, das dann zum Gegenstand ernster Bemühungen um Denkformtheorien 54 wurde. Was im Rückblick deutlich zu sein scheint ist, daß bei aller Kritik an den LeninHilferdingschen Positionen die streitenden Parteien 55 Marx mehr oder weniger aus der Perspektive dieser Tradition 56 rezipiert hatten und deren Grundpositionen übernommen hatten: Marx wird primär als Ökonom verstanden. Ökonomiekritik bei Marx wird so gedacht, daß sie dem Zweck der Erarbeitung einer neuen „positiven“ Theorie kapitalistischer Gesellschaft diene. Von ihr erwartet wird der Nachweis, daß der Kapitalismus die Tendenz zu seiner eigenen Aufhebung beinhalte. Diese Vorstellungen von der Marxschen Theorie teilen Kommunisten, Anarchisten, Sozialdemokraten, Anhänger der Kritischen Theorie, Studentenbewegte, Strukturalisten und Poststrukturalisten mit den 51 52 53 54 55 56
Jacques Derrida, a.a.O., S. 124ff. Derrida bezieht in diesem Sinne auch Position gegen den AntiMessianismus der Althusserianer wie gegen den Messianismus der Antimarxisten. Vgl. S . 145. Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, Frankfurt am Main 1980, S. 88; nach Christoph Türcke/Gerhard Bolte, a.a.O., S.76. A.a.O., S. 86. Bahr und Bulthaup verfolgten in der Tradition der Kritischen Theorie die Wissenschaftskritik weiter. Vgl. auch Rudolf W. Müller, Geld und Geist, Frankfurt-New York 1977. Für Nicht-Frankfurter: Die Marxisten-Leninisten inclusive dem Trotzkismus und den linken Sozialdemokraten auf der einen Seite und der Kritischen Theorie und den „Undogmatischen“ auf der anderen. Eben der Kautsky-Hilferdingschen-Lenin-Lukàcsschen Tradition ist der Ansatz der Ineinsziehung von Ökonomietheorie des Kapitalismus als Tauschtheorie und Sozialismuskonzeption als „Überwindung der Anarchie des Marktes“ geschuldet.
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bürgerlichen Ökonomen. Uneins waren sich diese Parteien jedoch stets in der Frage des Sozialismus, was dieser sei, ob man ihn zu fürchten, auf ihn zu hoffen oder ihn zu bewerkstelligen habe und wenn ja, wie. Dabei gibt es allerdings wieder die merkwürdigsten Gemeinsamkeiten in bezug auf Begrifflichkeiten, die vorausgesetzt werden müssen, will man sich auf solche Fragen einlassen: Geschichte erscheint in der Regel als Eschatologie, Apokalyptik oder gar nicht, d.h. in den gängigen Varianten linearen Fortschritts, Rückschritts, kreislauf- oder spriralförmig oder postmodern bruchstückhaft, kontingent. Gesellschaft erscheint per se als Zusammenschluß von Individuen. Staat erscheint per se als diesen Individuen aufgeherrschter Zwangsapparat. Das Verhältnis von Gesellschaft und Staat bleibt undurchsichtig. Ökonomie, als Produktion und Distri bution, wird technisch begriffen oder überhaupt nicht analysiert. Evident ist, daß alle Positionen, auch die kritischsten, am Individualismus-Modell hängen. Die Hobbes’sche Konstruktion bleibt, ob schwarz oder weiß gezeichnet, scheinbar unhintergehbar. Es ist, als ob der Gesellschaftsvertrag darin bestanden habe, nicht nur dem Souverän die Gewalt über die Leiber zu übertragen, sondern auch - soweit geht Hobbes nicht ganz - über die Köpfe und damit endgültig die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, qua Subsumtion, zu etablieren. Daß die Vorstellung vom einzelnen Einzelnen ein historisches Produkt ist, ist als bekannt vorauszusetzen. Daß sie notwendiger Schein, Ideologie im Marxschen Sinne ist, wissen Horkheimer und Adorno. Ist es möglich, daß die »unhaltbare Stellung« der Kritischen Theorie nicht zuletzt darin begründet liegt, daß sie das ökonomische Zentrum ausspart, sondern daß, will sie sich als kritische Theorie verstehen, es aussparen muß, weil ihre Vorstellungen von dem, was dieses ausmache, nur wenig von dem entfernt sind, was sie selbst als „traditionelle Theorie“ kritisiert? Kritische Theorie, sofern sie wirklich ihr Programm der immanenten Kritik qua bestimmter Negation angeht, meint das, was ihr als ökonomische Theorie Garant des „Materiellen“ zu sein scheint, vorschnell retten zu können. Sie läßt die Kritik schon bei der vermeintlichen Einsicht in die Charaktere des Warenfetischs abbrechen und nimmt damit das Moment, hier die Ware, den Tausch, für das Ganze, zumindest in der Tendenz. Sie kritisiert also nicht, wie ihr Habermas vorwirft, zu viel, nämlich auch die eigenen Grundlagen, sondern sie kritisiert zu wenig und ohne Schärfe, wenn sie in bestimmten Momenten negativistisch pauschalisierend argumentiert. Die Beschwörung des Warenfetischs Die Behauptung des Zu - kurz - Greifens der Kritik bei Horkheimer und Adorno werde ich an ihrer Vorstellung vom Kapitalismus als Tauschgesellschaft erläutern.57 Mit der 57
Adorno stellt in seinem grundlegenden Artikel Gesellschaft von 1965 seinen kritischen Gesellschaftsbegriff folgendermaßen dar: »Die Abstraktheit des Tauschwerts geht vor aller besondren sozialen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen. Sie ist nicht, wie die Logizität des Reduktionsvorgangs auf Einheiten wie die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit vortäuscht, gesellschaftlich neutral. In der Reduktion des Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Das bleibt wahr trotz all der Schwierigkeiten, mit denen mittlerweile manche Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie konfrontiert sind. Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrundegehen wollen, gleichgültig ob sie subjektiv von einem Profitmotiv geleitet werden
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Herrschaft des Tauschwerts geht die des Allgemeinen über das Besondere einher und zugleich die von Menschen über Men-schen. Der Tauschvorgang gilt als gesellschaftliches Apriori , als Bedin-gung der Möglichkeit der Vergesellschaftung. 58 Wer nicht zugrundegehen will, muß sich dem Tauschgesetz unterwerfen, sich vom Prinzip des Warencharakters unterjochen lassen. 59 Am Tausch hängt das Versprechen der Freiheit und Gleichheit, der gegenseitigen Anerkennung der Tauschenden als Rechtssubjekte und ebenso der Betrug; die geleugnete Ungleichheit zwischen dem, der die Ware Arbeitskraft zu Markte trägt, und dem, der sie kauft. Auch deswegen ist von Herrschaft des Menschen über den Menschen und von fixierter Unmündigkeit die Rede. Am Tausch hängen aber auch Verdinglichung im Sinne von Lukács und quantifizierendes Denken, Rechenhaftigkeit, und in der Folge eine Wissenschaft, die sich nur noch als Systematisierung von Meßoperationen präsentiert. Kritische Theorie versteht sich hier insofern als kritische, als sie, um einen Slogan zu gebrauchen, hier das Ganze als das Unwahre präsentiert, unwahr, weil den im Begriff des Äquivalententauschs selbst enthaltenen Ideen von Gleichheit, Freiheit, Anerkennung widersprechend. Entsprechende Verkehrungsfiguren finden sich bei Marx von Anfang an. Insofern seine Kritik, jedoch nicht zuletzt Kritik der politischen Ökonomie ist, macht er den Anfang mit deren »Elementarform« und zwar so, wie er sie in dieser Wissenschaft begrifflich bestimmt vorfindet: als Gebrauchswert und Tauschwert. Es ist nicht so, wie Derrida meint, daß Marx erst den Gebrauchswert und dann den Tauschwert auftreten ließe, in historischer Reihenfolge, er findet sie gleichursprünglich vor bei Smith und Ricardo und bei diesen in der Tat als »geschichtsloses ‘Schon immer’, bei dem ‘alles anfängt, bevor es anfängt’« 60 , denn die bürgerliche Ökonomie kennt keine Geschichte. Gebrauchswert und Tauschwert kommen, wie Derridas Gespenster, an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Masken vor, z.B. als Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft und als deren Tauschwert. Derrida weiß darum. Das Spiel mit Marxens Gespensterbühne, auf der Begriffe nacheinander auf- und abtreten, verkennt absichtlich den Kontext der Argumentation oder will ihn nicht kennen, damit als eigene Wahrheit ausposaunt werden kann, daß das Gespenst schon da war vor dem Theaterstreich des Augenblicks, vor dem »sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding«. Derrida dagegen: »Die Erscheinung hat sich immer schon angekündigt, sie wird vom ersten Mal an sekundär gewesen sein (...). So gäbe es also Exorzismus schon in der Ouverture des Kapitals? (...) Sollte eine Beschwörungs-Zeremonie den Verlauf eines immensen kritischen Diskurses skandiert haben? Sollte sie ihn wie sein Schatten begleitet, ihm im geheimen gefolgt oder vorangegangen sein als ein im vorhinein erfordertes, unerläßliches und, wenn sich das noch sagen läßt, lebendiges Fortleben? Und ist dieses
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oder nicht.« Theodor W. Adorno, Gesellschaft, zit. nach: Ders., Gesammelte Werke Bd. 8, Darmstadt 1998, S. 13f. Adorno lobt in der Negativen Dialektik das Marxsche Fetischkapitel als ein »Stück Erbe der klassischen deutschen Philosophie«. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, zit. nach: Ders., Gesammelte Werke Bd. 8, Darmstadt 1998, S. 190. - Die hierbei von Adorno pr äsentierte Vorstellung vom Tausch als gesellschaftlichem Apriori wird von Alfred Sohn-Rethel weiterentwickelt. In derselben Schrift redet Adorno im Zusammenhang der Kritik des ontologischen Bedürfnisses vom Warencharakter als reinem Prinzip des Füreinanderseins, das die Individuen unterjoche. A.a.O., S. 101. Monika Noll, Dekonstruktion und Vermittlung, in diesem Band.
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verschwörerische Fortleben nicht ein unauslöschlicher Bestandteil des revolutionären Versprechens? Der Verfügung oder des Schwurs, der Das Kapital in Gang bringt?« 61 Um den Kontrast zum Denken der Kritischen Theorie deutlich zu machen, stelle ich diesem Textauszug ein Adorno-Zitat gegenüber: »(...) Verdinglichung selbst ist die Reflexionsform der falschen Objektivität; die Theorie um sie, eine Gestalt des Bewußtseins, zu zentrieren, macht dem herrschenden Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten die kritische Theorie idealistisch akzeptabel. Dem verdanken die frühen Schriften von Marx ihre gegenwärtige Beliebtheit, zumal unter Theologen.« 62 Die Sprache der Be- und Verschwörung meint qua Radikalisierung des kritischen Stils die Frage der Objektivität hinter sich lassen zu können. Kritische Theorie aber wäre gegenstandslos, zielte sie nicht auf diese als Falsche. Die Betonung auf die Reflexionsformen zu legen und dort falsches Spiel zu treiben wird zurecht als Pfaffenhandwerk denunziert. Die ewige Wiederkehr des Gleichen Man mag in der Tat Derridas Metapher enteignen und das Spiel weitertreiben. Marx beschwört Gespenster. Das Wesen erscheint, aber wie? Die Arbeit, als gesellschaftlich durchschnittliche vorausgesetzt im Wert, wie auch Adorno bezeugt, erscheint aber dort nicht. Zunächst glaubt man sie in Gestalt zweier Inkarnationen zu haben, von denen angenommen wird, sie könnten einfach die Plätze tauschen: Eine nach wie vor in der Ökonomie stets aufs neue beschworene Geistererscheinung. Es gibt jedoch Schwierigkeiten, die beiden Inkarnationen wechseln zwar die Plätze, verwandeln und vervielfältigen sich jedoch dabei. Am Ende glaubt man den Arbeitswert in glänzender Fetischgestalt zu haben, als Geld. Derrida ist fasziniert von dem, was Marx mit Shakespeare für Wunderdinge über dessen magische Kraft zu berichten weiß. In der Kritischen Theorie ist vom Geld bezeichnenderweise in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Es wird weiterhin getauscht, obwohl doch jeder weiß, daß in Wirklichkeit überhaupt nicht getauscht, sondern verkauft und gekauft wird und dies ist beileibe nicht dasselbe. Das Geld, glaubt man Marx, ist nämlich kein »listig erdachtes Auskunftsmittel«. Die Diskussion im Anschluß an Hans-Georg Backhaus 63 hat deutlich gemacht, daß es bei den Exorzismen in den Anfangskapiteln des Kapital um Kritik prämonetärer Werttheorie geht, also um Kritik des Wertbegriffs, wie er zunächst vorliegt: als Wertsubstanz Arbeit in Form aliquoter Quanten gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit und als Wertrelation in Gestalt der Tauschgleichung. Der nächste Exorzismus trifft den Geldbegriff, in Gestalt seiner Funktionen als Maß, Zirkulationsmittel, als Wertaufbewahrungsmittel und Zahlungsmittel. Die Beschwörung des Geldfetischs wird in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie am deutlichsten vorgeführt. Die »Geister des Geldes« verschwinden dabei ebenso wie die Bühne, auf der sie ihr Wesen getrieben haben: die einfache Zirkulation. Aber man weiß doch, daß dieses Geisterreich stets gegenwärtig bleibt. Es tritt auf: das Kapital. Da die Formen, die hier im Gang der Argumentation aufeinanderfolgen, dies nicht beliebig tun, 61 62 63
Jacques Derrida, Marx’ Gespenster ..., a.a.O., S. 257. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 191. Diethard Behrens, Der kritische Gehalt der Marxschen Wertformanalyse, in: Gesellschaft und Erkenntnis. Zur Materialistischen Erkenntnis- und Ökonomiekritik, hg. von Diethard Behrens, Freiburg 1993, S. 165-191.
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sondern, das ist der Anspruch der Theorie als Kritik, mit Notwendigkeit , sehen wir uns genötigt, hier die Gespensterbühne wieder zu verlassen. Die »Tauschgesellschaft« Adornos entspricht bei Marx noch am ehesten dem, was dort »einfache Zirkulation« heißt. Marx zeigt, daß diese Form, die er in den Grundris sen eine erste Totalität nennt, in sich selbst keinen Bestand hat, leere Zirkularität repräsentiert, keinen Antrieb in sich hat. Die Waren müssen in den Kreislauf von außen hineingebracht werden. Von wo? warum? Die Form der einfachen Zirkulation liegt den gängigen makroökonomischen Modellen zugrunde. 64 Die Rede vom Äquivalententausch bleibt an diese Form fixiert. Deshalb erscheint der Kritischen Theorie der Tausch zwischen Arbeit und Kapital als Betrug; beides zusammen, der Schein der Wertgleichung und das Wissen um die Ausbeutung, erscheinen ihr als Merkmale bürgerlicher Herrschaft. Diese fällt zurück in archaische Formen, wenn es nicht gelingt, am Moment des Äquivalententauschs festzuhalten als dem liberalen Modell einfacher Zirkulation. 65 Der Gang der Argumentation, der die einfache Zirkulation als Sphäre des Scheins hinter sich läßt, wird von Adorno nicht wirklich zur Kenntnis genommen: »Das Kapitalismusmodell selbst hat nie so rein gegolten. wie die liberale Apologie es unterstellt. Es war bereits bei Marx Ideologiekritik, sollte dartun, wie weit der Begriff, den die bürgerliche Gesellschaft von sich selbst hegte, mit der Realität sich deckte.« 66 Jedoch hält er fest, die kapitalistische Realität habe die Ökonomie - sprich, die freie Konkurrenz - tendenziell zum Verschwinden gebracht und das »Systemfremde« archaisch als Herrschaft, als »Konstituens des Systems«, erwiesen. Der Kapitalismus erscheint als »enthistorisierendes« Verhältnis - statt ökonomischer Kreisläufe die Wiederkehr des Gleichen. 67 Kann es sein, daß die Fixierung auf die Zirkulationssphäre mehr ist als nur Moment bürgerlicher Kultur und daß damit einhergeht, daß sie die Vorstellungen vom Arbeitswert der klassischen und marxistischen Tradition teilt. Es ist wenig wahrscheinlich, daß ernsthaft wahrgenommen wurde, inwieweit die Momente, die die Kritische Theorie in ihrer Kritik der Arbeitsteilung und der instrumentellen Vernunft im Auge hatte, in der Marxschen Kritik bereits impliziert, nicht nur in der Kritik der bürgerlichen und frühsozialistischen Arbeitsethiker, sondern in der Argumentation zu Arbeits- und Verwertungsprozeß, Kooperation, Maschinerie, in der Darlegung, warum die Fähigkeiten der 64 65 66
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Die Ökologie hat es inzwischen erfolgreich verstanden, die Ideologisierung so weit zu treiben, daß alle Welt von den existenten Naturkreisläufen überzeugt ist, denen man mit einer ökologischen Kreislaufwirtschaft entsprechen zu müssen glaubt. Die Rede von der freien Konkurrenz überträgt dieses nur auf die Ebene des Austauschs der Kapitale, von denen man aber keinen Begriff gewonnen hat. Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Werke Band 8, Darmstadt 1998, S. 367f. Dort heißt es weiter: »Nicht enträt es der Ironie, daß gerade dies kritische Motiv: daß der Liberalismus in seinen besten Zeiten keiner war, heute umfunktioniert wird zugunsten der These, der Kapitalismus sei eigentlich keiner mehr.« »(...) Sondern Ahistorizität des Bewußtseins ist als Bote eines statischen Zustandes der Realität mit ratio notwendig verknüpft, mit der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips und seiner eigenen Dynamik. Es ist das des universalen Tauschs, des Gleich und Gleich von Rechnungen, die aufgehen, bei denen eigentlich nichts zurückbleibt: alles Historische aber wäre ein Rest. Tausch ist, als Revokation eines Aktes durch einen anderen, dem Sinn seines Vollzugs nach selber zeitlos, mag er auch in der Zeit stattfinden: sowie ratio in den Operationen der Mathematik ihrer reinen Form nach Zeit aus sich ausscheidet. Aus der industriellen Produktion verschwindet dann auch die konkrete Zeit. Mehr stets verläuft sie in identischen und stoßweisen, potentiell gleichzeitigen Zyklen.« Theodor W Adorno: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: Max Horkheimer/Theodor W.Adorno, Soziologica II, Frankfurt 1962, S. 223ff.hier: S. 234.
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Arbeit als solche des Kapitals erscheinen, in der Kritik des Technikfetisch und in der Darstellung des Übergangs von der formellen zur reellen Subsumtion. Die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung der Kritik bei Marx verbieten es, die Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine als generalisiertes Verhältnis des Bewußtseins und der sozialen Wirklichkeit in einem zu denken. Entsprechende Formulierungen bei Horkheimer und Adorno mögen den Anschein erweckt haben, als seien sie mit Habermas einig im Kampf gegen das veraltete Produktivitätsparadigma und dieser gebe hiermit den 68er Verfallserscheinungen von André Gorz bis zu Robert Kurz seinen Segen. Die Beschwörung des Kapitalfetischs Das Kapital erscheint als klassisches Gespenst des christlichen Abendlandes, nämlich in trinitarischer Gestalt. So haben wir es in der Form, die Marx als die des Kapitals als automatisches Subjekt kennzeichet: G - W - G’. Auch sie erweist sich als unhaltbar. Man könnte versucht sein anzunehmen, gerade diese Form hätte ins Auge fallen müssen bei den Versuchen, Hegel und Marx aufeinander zu beziehen. Dem ist aber nicht so. In der Tradition der Kritischen Theorie geht man über zur Diskussion der Ware und des Tauschwerts, nur um gleich zu allgemeinen Aussagen über den industriellen Produktionsprozeß und die kapitalistische Gesellschaft überhaupt zu gelangen. Mehr Aufmerksamkeit findet die Form G-G’, die den Übergang zum Kapital markiert, Geld als Kapital präsentiert und dann, nachdem die Ebenen der Produktion, der Zirkulation zur Darstellung gekommen sind, auf der Ebene des kapitalistischen Gesamtprozesses beim Zins wieder auftaucht. Sie ist, von Marx als »begriffloseste Form des Kapitals«, als Verkehrung und Versachlichung des Produktionsverhältnisses in höchster Potenz, als »Kapitalmystifikation in der grellsten Form«, bezeichntet worden. 68 Hans-Jürgen Krahl hat vor allem diese Form als Wahrheit der Hegelschen Wesenslogik festzuhalten gesucht. 69 Sie spukt jedoch auch anders: » Macht ist der Befehl zu mehr Macht . Damit aber der Wille zur Macht als Übermächtigung eine Stufe übersteigen kann, muß diese Stufe nicht nur erreicht, sondern festgehalten und gesichert werden. Nur aus solcher Machtsicherheit läßt sich die erreichte Macht erhöhen. Die Macht kann sich selbst zu einer Übermächtigung nur ermächtigen, indem sie Steigerung und Erhaltung zumal befiehlt. Dazu gehört, daß die Macht und nur sie die Bedingungen der Steigerung und Erhaltung setzt.« 70 Dieses automatische Subjekt gehört Martin Heidegger an, der es Nietzsche enteignet hat, angeblich in metaphysikkritischer Absicht. So wird ihm der Wille zur Macht zum Willen zum Wert, der »zuletzt und ausdrücklich jenes werden und bleiben« müsse, von wo alle Wertsetzung ausgehe und was alle Wertschätzung beherrsche, das
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Vgl. MEW 25, S. 405 »Die Hegelsche Logik ist nach Marx die metaphysische Verkleidung der Selbstbewegung des Kapitals.« Hans-Jürgen Krahl, Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik, a.a.O., hier: S. 137. »Das Wesen ist die Reflexion des Seins in sich selber. Diese Reflexion nennt Marx Verdinglichung, Geld heckendes Geld.« A.a.O., S. 141. Vgl. auch ders., Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, in: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Frankfurt 1971, S. 31-82, hier: S. 44. Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, S. 268 (Hervorhebung K.H.)
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»Prinzip der Wertsetzung«. So werde »die Wahrheit als Denken des Willens zur Macht unweigerlich zu einem Denken nach Werten.« 71 »Die Metaphysik des Willens zur Macht - und nur sie - ist mit Recht notwendig ein Wertdenken. Im Rechnen mit Werten und im Schätzen nach Wertverhältnissen rechnet der Wille zur Macht mit sich selbst. Im Wertdenken besteht das Selbstbewußtsein des Willens zur Macht, wobei der Name Bewußtsein nicht mehr ein gleichgültiges Vorstellen bedeutet, sondern das machtende und ermächtigende Rechnen mit sich selbst .« 72 Die Umwertung aller Werte hat ein Abbild des Kapitalfetischs zutage gebracht, mit regressiven Tendenzen hin zum Wert und seiner Setzung. .Das Schema der Wertsetzung gemahnt an das Stirnersche Postulat: »Verwerte Dich selbst.« Hier fangen die Differenzen an. Wenn Derrida der Überzeugung ist, Marx betreibe deshalb seine Exorzismen gegenüber Stirner besonders heftig, weil er im Grunde dessen Intentionen teile, nur als der bessere Hegelschüler dastehen wolle 73 , dann dokumentiert er deutlich, daß ihm der eine so gut wie der andere ist, was ja auch Derridas Programm darstellt. Wie aber soll dann die vielgerühmte Genauigkeit und das Sensorium für die Differenz mit „ä“ gewonnen werden? 74 Aber - nehmen wir Derrida beim Wort: Seine Aufforderung, die Gespenster zu befragen, muß ernst genommen werden. Es scheint also doch in der Tat darauf anzukommen, wie man zu den „Gespenstern“ spricht oder wie man versteht, das Eingeschriebene zu lesen, die Logik nachzuvollziehen, die Semantik zu deuten, die Sprache der Alten zu übersetzen. Enteignung ist schnell getan, das Erbe anzutreten, behauptet Derrida, sei ein komplizierter Prozeß. Die Toten kommen solange nicht zur Ruhe, bis ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Die Idee der Gerechtigkeit als »irreduzible« bleibt solange ein bloßes Phantom, solange sie an die Utopie der Gabe à la Marcel Mauss und Georges Bataille gebunden bleibt, an ein Schema, das den Mechanismus des geldheckenden Geldes auf den Austausch unter Freunden projiziert oder auf die Lust an der Selbstverschwendung.75 Der Anarchismus hat seinen Enkeln noch immer Geistfeindschaft und Kapitalismusapologie hinterlassen, die spätsurrealistische Vernunftkritik den Hang zum gepflegten Sadomasochismus. Das Stirner-Nietzscheanische Schema, das ausgeht vom Konstrukt „Ich als G-G’ und alle Iche ebenso“ um auf diesem Wege zum »Verein der Freien« zu gelangen, folgt seiner eigenen Logik, auch wenn man es in eine Foucaultsche Mikro physik der Macht oder in eine Deleuze-Guattarische Wunschmaschine umdeutet. Daß man es affirmiert und behauptet, die Welt von heute sei eben so, hilft nicht weiter. Man erfährt eben nichts, solange man mit Fetischen handelt, auch wenn man sich darüber hinwegtröstet, indem man die begriffliche Vermittlung aller Erkenntnis in ein Meta phernspiel aufweicht 76 . 71 72 73 74 75
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A.a.O., S. 272 Ebd. Jacques Derrida, Marx`Gespenster, a.a.O., S. 206ff. Wie die Derridasche Rede von der „différance“ im Deutschen sinnig übersetzt wird. Marcel Mauss (essai sur le don) hatte als Ethnologe die Kwaikutl-Indiander im Nordwesten Kanadas erforscht und dabei das System des „Potlatch“ beschrieben, eines Geschenkeaustausches zwischen Häuptlingen, der dazu führte, daß die jeweiligen Gemeinwesen zunehmend Arbeit darauf verwandten, ein Geschenk mit einem größeren zu erwidern. Georges Bataille macht dies zu einem Leitmotiv in seiner Theorie der Verschwendung. Vgl. Georges Bataille, Das theoretische Werk. Die Aufhebung der Ökonomie, hg. von Gerd Bergfleth, München 1975, S. 289-407. Vgl. Monika Noll, a.a.O: »Wer konsequent versucht, die Metaphorik, wo sie nur auftritt und bis in die einzelen Wortteile hinein als Unmittelbares zu affirmieren, bekommt etwas von Sysiphos.«
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Die Behauptung der Dekonstruktion als Erbe und Radikalisierung »eines gewissen Marxismus«, welche die Bezugnahme auf Marx nur scheute, weil dieser durch die Orthodoxie einvernahmt, 77 erweist sich als Erbschleicherei. 78 Wenn Stirner und Marx gleich-gültig nebeneinandergestellt werden können, wenn Marx gemeinsam mit Hegel (und Heidegger) ein onto-theologischer aber auch archäo-teleologischer Begriff der Geschichte unterstellt werden, um diesem ein messianisches Versprechen entgegenzusetzen als Bedingung von Repolitisierung 79 , dann wird deutlich, daß das Erbe kritischen Denkens seit Kant von vorneherein ausgeschlagen ist, daß kritischer Geist im Sinne von Unterscheidungsvermögen durch pseudoreligiöse Stilübungen ersetzt wird, die ein permanentes Allerheiligen feiern. Exorzismus Obwohl, wie dargelegt wurde, die bürgerliche Gesellschaft, der Kapitalismus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, im Denken von Adorno den Kategorien der Ware und des Tauschwerts verhaftet bleibt, die gleichsam als Zentrum falscher Vergesellschaftung figurieren und obwohl Vorstellungen, wie sie mit der Rede von der Tauschgesellschaft einhergehen, systematisch verhindern, die Kritik so weiterzutreiben, daß überhaupt ein Begriff vom Kapitalverhältnis gewonnen werden könnte, der nicht Gefahr läuft, im nietzscheanisierenden Einerlei machtontologischer Figuren unterzugehen, hatte die Kritische Theorie von dessen Problematik einen elaborierteren Begriff. Adorno rezipiert die Marxsche Theorie über die marxistische Tradition weitgehend als ökonomische Theorie. Auf dieser Grundlage kommt er zu einem unzureichenden Verständnis der Methode der Darstellung. Gekappt wird der Gang der Darstellung, über den allein Kritik als die wissenschaftlicher Begrifflichkeit zu ihrem Gegenstand gelangt. Insofern Adorno auf dem Äquivalenzprinzip als dem Kern bürgerlicher Gesellschaft beharrt und ihm das Lohnarbeitsverhältnis nur als dessen einfache Negation und Vehikel der Reproduktion beider erscheint, das Produktionsverhältnis, auf instrumentelle Vernunft reduziert, ganz dem Kapital anzugehören scheint, verschwindet Dialektik. Adorno bleibt stehen bei einem unzureichenden Kapitalbegriff und daher einer verkürzten Gesellschaftskritik, wie sie in der Rede von der Rückkehr der alten Herrschaft vorliegt. Er verharrt im »unbequemen Spagat«, indem er dennoch an einem Verständnis von Theorie als Kritik im Sinne negativer Dialektik festhält, dem als eine Art kategorischer Imperativ die Forderung nach Aufhebung des Kapitalverhältnisses vorausgesetzt ist. Nicht, um mit Penelope Odysseus die Treue zu halten, sondern aus der Überzeugung heraus, daß sein Bogen tatsächlich weiter reicht als die der Freier, möchte ich Adornos Ansatz gegen die vorgeblich metaphysikkritischen Positionen in der Nachfolge Nietzsches, Husserls und Heideggers verteidigen. Beschwören wir Adorno als Geist des Odysseus. Wird er Foucault, Deleuze, Derrida als Erben anerkennen, oder wird er den Bogen ergreifen gegen die Erbschleicher, die illegitimen Freier der Penelope? Die Pfeile, mit denen der Bogen zu bestücken wäre, hat Adorno jedenfalls selbst geschmiedet: 77 78 79
Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, a.a.O., S. 149f. Entsprechend zeigt sich bei Monika Noll, a.a.O., »daß die Marxschen Gespenster, die Derrida zu retten unternimmt«, seine eigenen sind. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, a.a.O., S. 124.
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