Schriften zum Internationalen Recht Band
176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU
Von
Karl -Theodor Frhr. zu Guttenberg
Duncker & Ilumblot * Berlin
KARL-THEODOR FRHR. ZU GUTTENBERG
Verfassung und Verfassungsvertrag
Schriften zum Internationalen Recht Band 176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU
Von
Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg
D u n c k e r & H u m b l o t • B e r li n
Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2009 Duncker & Humblot CmbH. Berlin Satz: werksatz • Büro für Typografie und Buchgestaltung. Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-12534-0 Ccdruckt auf altcrungsbcständigcm (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 970G®
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Vorwort Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in sich. Manche kleine wie epochale Erschütterung führt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht der Nostalgie. Scheinbar unberührt von alledem wähnte man bis zuletzt konstitutionelle Prozesse. Trotz gelegent lich zweifelha fter Verfassung unserer Gesellschaften g selten einen Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Verfassung.
ab es
So pionierhaft sich diesbezüglich der amerikanische Pfad zu gestalten wusste, so eklektisch eigen wurde der europäische beschritten. Letzterer befindet sich wiederkehrend am Scheideweg. Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch erleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich keuchendes historisches Durchatmen? Zumindest verpasste Europa in den Jahren 2007 und 2008 zum wiederholten Male den icaipöq (Kairos) und ließ die notwendige Unbedingtheit des Gestaltungswillen nur schemenhaft erkennen. Es ist indes müßig zu debattieren, ob es die - letztlich nie eingeräumte - Furcht vor der eigenen Courage oder lähmender Pragmatismus war, der aus einem hart erkämpften Verfassungsvertrag schließlich einen .Vertrag von Lissabon" werden ließ und selbst diesen in vermeidbare Warteschleifen drängte. Gleichwohl bildet auch diese Zäsur ein lebendiges wie traditionell paradoxes Beispiel europäischer Verfassungsgeschichte, wonach in jeder noch so brachialen Ablehnung immanent der Fortgang angelegt ist. Demzufolge hätte die vergleichende Beurteilung zweier Verfassungsprozesse mit einem gewissen Optimismus bei jeder „europäischen Krise" enden können. Die Betracht ungen und Bezugna hmen dieser ( 2006 eingerei chten) Monog raphie gehen nunmehr bis in das Jahr 2007 - abgesehen von einigen punktuell aktualisierten Gedanken. ** *
Diese Arbeit entspringt einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfällen. Oder nach anderem - im obigen Sinne untypischem - Verständnis der vereinzelten Wahrnehmung eines ..Kairos".
6
Vorwort
Augenblicken kann man schwer zu Dank verpflichtet sein, den sie gestaltenden Persönlichkeiten jedoch umso mehr. Insbesondere wenn der be- und ergriffene Moment dauerhafte Kräfte zu entfalten wusste. Ein unerreichtes (nicht lediglich) wissenschaftliches Kraftfeld und die Teilnehmer verpflichtendes Erbe war und ist das nunmehr zu Recht „legendär" zu nennende „Häberle-Seminar", das dem von Konrad Hesse geprägtem Vorbild längst weit enteilt ist - ohne den „akademischen Enkeln" Erinnerungen und Berufungen auf eine Leitfigur der Verfassungslehre zu entwinden. Der Gedanke an die Teilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft - und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qualität eigenen Gemurmels. Von Herzen Danke meinem großen Lehrer Prof. Dr. Dies. mult. h.c. Peter Häberle für Unzähliges, das kein Vorwort angemessen abbilden könnte. In besonderer Verbundenheit danke ich einem weiteren tatsächlich bedeutenden Europäer, Prof. Dr. Rudolf Streinz. Wie oft wurde der Kairos der Fertigstellung durch freiberufliche wie später parlamentarische „Ablenkung" versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen Faktums einer bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte. Allzu viele mussten meine verwegene Charakter- und Lebensmelange ertragen und ich bin allen überaus dankbar für unbeugsame Gelassenheit. Gleichwohl: Wirkliche Besserung ist kaum absehbar. Meiner Frau und meinen Töchtern sei diese familienunfreundliche Lektüre in tiefer Dankbarkeit zugedacht. Sie sind der unerreichte wie dauerhafte ,/echte Augenblick" meines Lebens. Berlin, im Winter 2008
Karl-Theodor Frhr.
zu Guttenberg
Inhaltsverzeichnis A. Einleit ung
15
B. Verfa ssungse rwecku ng und Verfassungsb
estätigu ng - konstitutionelle Ent-
wicklung slinien in den USA und der Europäi schen Union
19
I.
20
Eckpunkte der US-ame rikanisc hen Verfassu ngsentwic klung 1. Augenblicke
und Marksteine des europäischen
kulturellen Einflusses
.. 20
2. Die ..Declaration of Indep endenc e" - eine Abkehr von Europa ?
22
3.
Der Modellchar akter einzel- wie bundesstaatlicher
23
4.
Die Entstehung des
Verfassungen
Verfassungsstaa tes - der .. Vorabend" der Bundesver-
fassung a) Wege zur Emanzipation - von den „Fundamental Orders of Connecticut" zur Unabhängi gkeitserk lärung
24 24
b) Wege zum K onse ns - von den ..Articles of Con fed er ati on" zum ..Great Compromise" c) Der Verfassungskonvent d) Ratifizierung
und ..Federalists"
29 gegen „Antifed eralists"
33
e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Menschenrechte: konstitutionelle ..Morgendämmerung" - die Bill of Rights
35
5.
..We, the Pe opl e" - Souve ränitä t (in) der US- Ver fass ung
38
6.
Eine (ge)zeitenfeste
40
7.
Wendep unkte amerik anische r Verfassungsg eschichte - Struktur ierungsansätze
8.
Konstitutionelle
9.
Der Komprom iss als Anker punkt amerika nischen Verfassungsverständnisses
Verfass ung
Selbstfind ung und kulturelle Selbstverwirk lichung
41
. . . . 45
10. Eine dyna misc he Ver fass ung - „livin g Constitution" 11. Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates II.
27
47 48 49
Eckpunkte und Grundla gen der europäisch en Verfass ungsentwic klung sowie des Verfassungs verständnisse s
51
1. Eingre nzung eines vielschichtigen
52
Prozesse s
2. Stationen eines Konstitutionalisierungsp
rozesses
53
a) Von Paneuropa zur Europa- Union (1 92 3- 19 44 )
53
b) Verfass ungsentwü rfe nach 1945 aa) Hertensteiner Progr amm (1946)
59 59
8
Inhaltsverzeichnis bb)
cc) dd)
Entw urf einer föder alen Verf assu ng der Vereinig ten Staat en von Euro pa (1948)
59
Vorentwurf einer europäisch en Verfassung (1948) Entwurf einer europäischen Bundesve rfassu ng (1951)
60 61
c) Wege zum Europa rat
61
d) „Verf assungse ntwürf e" ab 1952
64
aa)
Die Euro päis che Ge mei nsc haf t für Kohle und Stahl (19 52)
bb)
Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Geme insch aft - Entwurf der ad-hoc Vers ammlung der EG KS (1953)
...
cc)
Römis che Verträ ge (1957)
64
65 67
e) Myt hos und Ergeb nis der 1950er Jahre
68
f) Stat ionen zur Europ äisc hen Verf assu ng - eine Aus wah l aus 40 Jahre n
69
aa)
Der Entw urf von Max Imbo dcn (1963 )
bb)
DieAkteu Verfass als r ungsdiskussion 1984
- Das Europäische
69 Parlament
(1) Ausga ngspunkt e der Debatte (2) Grun dgedan ken des Verfas schen Parlament s
70 70
sungsent wurfs des Europäi71
(3) Verlauf und Ergeb nisse der Disku ssion
74
cc)
Die Einheit liche Europä ische Akte (19 86)
75
dd)
Der Verfassun gsvertrag der Geme insc haft der Vereinigten ropäischen Staaten von F. Cro mme (1987)
ee)
Der Vertrag von Maast rich t (199 2)
77
ff)
Die Verfassun gsdiskussion
79
Eu-
1994 - der Herma n-Beri cht
(1) Ausga ngspunkt e der Debatte (2) Grun dgedan ken des Verfas
76
79 sungsent wurfs des Europäi-
schen Parlamen ts (3) Verlauf und Erge bnisse der Disk ussio n
80 82
gg)
Der Vertrag von Ams ter dam (199 7)
84
hh)
Verfa ssungsbe mühunge n um die Jahrt ause ndwen de
84
ii)
Konstitutionelle rechtecharta
jj)
„Mo rge ndäm mer ung" in Europa - die Grun d87
(1) Die Sachla ge vor dem Herz og-K onven t
88
(2) Ges talt ung und Erfol g des ersten Konvents
90
Mit „Hu mbol dt" nach Nizza?
94
(1) Grün de für ein Debatt en-Cre scendo
97
(2) Die politisch e Dimensi on der Verfassun gsdebatte
100
(3) Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Auseinandersetzung (a) Das Ideal einer ..Föderation
von Nat iona lsta aten " . . .
102 103
9Inhaltsverzeichnis
(b) Das Ideal eine s „Eur opas der Nat ion en"
106
(c) Das Ideal eine s „Eur opas der Reg ion en"
108
(d) Ein offe nes Leitbild mit Gemei nschaf tsans atz
109
(e) Zwische nfazit
110
(4) Das Wechselspiel zwischen Verfass litischer Disk ussio n
ungsfunk tionen und po111
(a) Die Legitimationsfu nktion als Grad messe r der (politischen) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vorbild?
III
(b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Verfassungsdebatte
114
(c) Integrations- und Identifikati onsfunktion: Transpar enz und Bürgernä he. EU-Skep siskultivi erung kk)
Folgerungen
aus vier Jahrzehnt en Verfa ssungsentw icklung
II)
Die Verfassungsqualit
..
116 118
ät der Gemeins chaftsv erträg e
120
(1) Ausgewählte Verfassungsa ttribute (2) Die Qualifikation der Verträge durch den EuGH - ein „europäisches Marb ury vs. Mad ison " (3) Völkerrechtlic
he Qualifikation
122 124
en
129
(4) Konsti tutione lle Defiz ite der Verträ ge
131
mm ) Aus der Nizz astar re zum Konvent
135
(1) Der Post-Nizza-Prozess - parlamentarische Einfiusssphären
135
(2) Die Erklärung von Laeken - eine „stille Revolution" der Integrationsgeschichte nn)
Inkurs: Verfas sungsbegri ff und Verfassungsver (1) Das Verfassun gsverständnis
139
ständnis
140
- allgemein e Überlegunge n .
(2) Der „europä ische" Verfas sungsbegri ff
142
(a) Zwei Vorf rage n (b) Allgemeine Eingrenz ungsversu che des Verfassu ngsbegriffes (c) Ver fass ungsf ähig keit und deren Vorau ssetz ungen
141
143 145
...
147
(d) S taat und Ver fass ung im „wech selsei tigen Kors ett" ? .
149
(e) Fazit
153
(3) Das Verfassungs-V (a) Nationale
orverständnis
in anderen EU-Lä ndern
Erfah rungsw erte in der Verfa ssunggebu ng
(b) Das Vorverständnis von Demokratie. Gewaltenteilung und Kompetenzve rteilung oo)
Begleitend würfe
zum Verfassungskonvent
pp)
Der Europ äisc he Konvent
154 159 160
vorgest ellte (Privat-)Ent-
(1) Auftr ag und Zusa mmens etzu ng - das inno vative Konventsmoment
164 166 166
10
Inhaltsverzeichnis (2) Die Gest altu ng der Konvent sarbe it (3) Inkurs: Der
167
Konvent als Zentra lisier ungspla ttfor m'?
....
169
(4) Zeitgem äße Aspekte der Öffentlic hkeitsarbeit ? (5) Bera tung der Verf assung stexte , die Rolle des einz elne n Mitglieds
172 174
(6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abstimmung(sprobleme) im Euro päisc hen Rat qq)
175
Einige Ged ank en zum Ergebni s des Verf assu ngskon vent s
...
(1) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder Verfassungsvertrag?
rr) 3.
180 180
(2) Inhaltliche Anmerkungen. Präambel und „Leitmotto". Plädoyer für eine „Europäische Gespr ächsk ultur"
185
Elemen te einer Ratifikationskrise
188
Drei Folge runge n
192
III. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständnisses auf europäische Rechtskultur(en), Rechtskultu rzusa mmenhä nge . . . 194 1. Die Vereinigten Staaten von Amer ika - ein Faktor des europ äisc hen Einigungsprozesses 197 2. Die konkret e Rolle der USA im eur opäi sche n Eini gungs proz ess
199
a) E ine neue amer ika nisc he Europa politi k nach dem zwei ten Welt krie g?
199
b) Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Spannungsfeld zwischen Kooperation und Ambiva lenz
204
c) Die 70er Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern
3.
207
d) Die 80er Jahre : Konflikt und Kooper ation
210
e) Die Folge jahre nach 198 9/9 0 sowie ein Ausblic k
213
Europäische Einflusssphären lichter
im amerikani schen Rechtsdenken
- Schlag215
4.
Inkurs: Teilaspekte
5.
Ein historisch gewach senes „transatlantisches
einer Europäischen
Rechtskultur.
Europaverständnis
217
Verf assun gsfu ndame nt"
219
IV. Die Bestät igung und Festi gung des Ver fass ungss taat es (U SA ) bzw. der Verfassungsgemeinschaft (EU) durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassung sprinzipien I.
Gebu ndene Verfassungg Verfassungsänderung
221
ebung - Wege zur Verfass ungsergänz ung und 222
a) USA: Die Ame ndme nts als Abbilder einer Verfassungsergä zung - Spiegelung ameri kanisch er Kulturgeschichte aa)
Artikel V der Bund esv erf assu ng - ein Faktor der Stabilität Flexibilität
bb)
„Self-R estraint"
cc )
Initiative und Ratifi kation - das Verfa hren
n222 und 223
in der Verfas sunggebung
(1) Das Model l „cong ress ional pro posa P' - der Regelfall (2) Das Modell „constitutional Convention" - Option zur Totalrevision?
226 229 ...
229 231
12Inhaltsverzeichnis
(3) Versuche zur Begren zung von „amen ding power"
235
(4) Ratifikationserfordernisse und Problemlagen - das Kuriosum 27. Ame ndme nt (5) Beendi gung des Amend ment- Verf ahre ns
236 242
dd)
Möglichkeit
243
ee)
Die generellen
der Interpretation
von Ame ndme nts
Wirk kräf te des Amendm ent- Verf ahren s
245
b) Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs(vertrags)änderung
248
aa)
Verfa ssunggebu ng in der Supranationalen
Union
bb)
Europäische Rechtsetzung
cc )
Die Abänderbar keit der Europäischen
dd)
Verfa ssungsä nderung nach dem Verfassu ngsvertrag - die neuen Verfahren
als Spiegelbild
Ordnun g, der dynamis che Charakter
249
der institution ellen
des Unionsrecht s
251
Verträge
(1) Das Fünfstuf enmodell des Verfassungsve
252
rtrages
256
(2) Gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung betreffend einen Übergan g in die Mehrheit sentsche idung 2.
Kreative
Verfa ssunggebu ng - Verfassungsi
nterpretation
260
, insbesondere
die Rolle der Obersten Gerich te
260
a) Allgem eine Erwäg ungen zur Verfassungsinter b) Der US- Supr eme Court als ständiger der Verfassungsgerichtsbarkei t aa)
pretation
Verfassungskonve
Die Geburt sstunde der Verfassungsgeric
262 nt - die Wiege 271
htsbarkeit
- Marbu ry
vs. Madi son
271
bb)
Anme rkun gen zum Wesen des ..judi cial review"
cc)
Der Suprem e Court als erhebliche r Bestandteil und Bestätigung gesellschaftliche n Wandels (1) Moment auf nahm en einer Verfassungsgeric
277 von Rezeption 279 htshistorie
...
bb)
279
(2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik - Anmerkun gen zur ..pol itica l question doctr ine"
285
(3) Inkurs: ..coun ter-ma jorita rianis m"
289
c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit - Richtwerte für den EuG H? aa)
256
290
Verfassungsgeric htliche Interpretationspotentiale im Verfassungsstaat - Entwicklung sstufen und Komponente n Charakteristika selbständiger Verfassungsgericht sbarkeit . . . .
d) Der EuGH als Verfassungsgeri
cht. Verfassu ngsrechtspr echung
aa)
Das Rollengeflecht
bb)
Der EuGH als „Motor der europäisc hen Integrati on"?
cc)
Europäische sellschaft
...
des EuGH
Rechtspre chung als Spiegelbild
e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgericht Verfassung
291 297 301 303 308
einer offen en Ge311 sbarkeit und 312
12
Inhaltsverzeichnis f)
3.
Vergleichende der Aufgabe n
Aspekt e der Verfassungsgerichtsbarke
it - Kongruenz 313
Grun dgeda nken und Strukture lemente eines Verfassungsstaa und einer Verfa ssungsge meinsch aft (Europäische Union)
tes (USA )
a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten b) Die Kompetenzve aa)
rteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten
317 318 318
Grundl agen des amerik anische n Föderali smus
318
(1) Charakte r eines Bundesstaates
321
(2) Funktionswe ise des US-Föd erali smus
322
(3) Inkurs: D er institution elle Aspekt auf einze lstaat licher Ebene
323
bb)
Europäischer
Föderalismus
324
cc)
Ergänzungen
aus vergleichender
: Einzelaspekt
e
Sicht
329
c) Das Prinzip der Gewaltente ilung
331
aa)
Vorbe merk ung
331
bb)
Die Ausge stalt ung in den USA
332
cc )
Die Ausge stalt ung in der Europ äisc hen Unio n
335
d) Identität und der Begri ff der Nation
338
e) Das Demokra tieprin zip - Anmer kungen
343
f) Inkurs: Verbreitung
direktdem okratisc her Element e
349
g) Das Verhältnis zwischen Recht und „Mor al". Souveränitätsverzicht
350
h) Finalität - die Bed eutu ng von Gre nzen und Erwe ite rung
353
i) Ausgewählt e institution elle Aspekt e
354
j) Europäische
356
Grundr echtec harta - Bil l of Rights
k) Wert egeme inscha ft Europa un d USA - „ev er closer union" und „ever strenger union" V.
Zwei Verfas sunggebungsp rozesse: ein Resüm ee 1. Vergleichende Anme rkung en zum Konventsverfahre 2. 3.
C.
357
Vergleichende Anme rkun gen zu den Konventsergebnissen 364 Lehr en für die Europ äisc he Union aus de m Vergleich der Verf assu nggebungsprozesse 369
Der Gotte sbez ug in den Verfass ungen Kuropas
I.
Einle itung
II.
Der Gottesbe zug in den Verfassungen
3.
Die Europäische
37 3
und der USA
373
1. Bisherige Regelungen 2.
358 359
n
Europa s
im Primärr echt der Europäischen
Grundre chtecha rta
374 Geme insch aft
374 375
a) Gottes bezug
375
b) Kirchen und Relig ionen
376
Der Entw urf des Europ äisc hen Konvent s a) Änder ungsant räge
377 379
13
Inhaltsverzeichnis b) Die Beratungen der Regier ungskonfe renz
381
c) Bewer tung 4.
381
Der Gottesbe zug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittskandidaten) Europäischen Union sowie in den deutschen Bundeslän dern
der 382
a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäisc hen Union
383
b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union
388
c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland
388
III. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung des US-Supreme Cou rt zur Tre nnu ng von Staat und Religi on
391
1. Die Frage nach ein em „Go tte sbe zug " in der Verf assu ng der Vereinig ten Staaten von Amer ika a) Entstehung
393
und Entwick lung der „Establishme nt Cla use "
393
b) Inhalt und Reichweite der „Establishment Clause" nach der Rechtsprech ung des Supre me Court
395
aa)
Die Vertreter einer Trennung und einer Zusa mmena rbei t zwischen Staat und Religions gemeinscha ften
bb)
Zusa mmen fass ende r Überblick
395
über die Rechtspre chung des
Supre me Court 2. Gottes bezug in den bundesstaatlichen
396 Verfassungen
399
IV. Das US- Mode ll ein Vorbild für Eur opa ? Nachwort Zusammenfassung Anhänge Literaturverzeichnis Sachwortverzeichnis
402 403 405 408 416 465
.£s wird ein Tag kommen, wo man jene beiden ungeheuren Gruppen: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Vereinigten Staaten von Europa einander gegenüberstellt. sich die Hände über den Ozean hinüber reichen wird [...) jene beiden unendlichen Gewalten: die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes, 1 miteinander verbinden wird sehen." Victor
A.
Hugo
Einleitung
„E pluribus unum", „Aus vielem eines" - so lautete das Motto, unter dem vor 2 Staaten zur Union zusammenfanden. Ein über 215 Jahren die amerikanischen Motto, das programmatisch zu verstehen ist. Das Land, das wie kein anderes den Pluralismus auf seine Fahnen geschrieben hat, eröffnet erst auf dieser einheitlichen. gemeinsamen Basis den Spielraum für die Entfaltung von Vielheit. Sich zu einer Nation zu vereinigen, die ursprüngliche autonome Vielfalt gegen einen von einer Zentralregierung gewährten Pluralismus einzutauschen bedeutete indes Verzicht; die bisher unter losem Konföderationsdach weitgehend selbständigen Einzelstaaten mussten um des Gemeinsamen willen den Anspruch auf das Eigene zurückschrauben und Souveränitätsrechte abgeben.
1 V. Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Pariser Friedenskongresses (nach der Proklamation der Zweiten Französischen Republik, wurde er 1849 in die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt), im Internet abrufbar unter http://www.e\amen-
europaeum.com/EEE/ EEE2003/24Ideen.htm. 2 „Amerika" und ..amerikanisch" beziehen sich nach allgemeinem Sprachgebrauch im Folgenden auf die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Die Herkunft der Kontinentsbezeichnung war lange Zeit umstritten. Mittlerweile ist jedoch geklärt, dass die Namensgebung auf zwei Deutsche zurückzuführen ist. Der deutsche Humanist M. Ringmann begeisterte sich für den Entdecker und Seefahrer Vespucci. Der mit Ringmann befreundete Kosmograph M. Waldseemiiller nahm dessen Vorschlag auf, Vespuccis Namen auf der seiner ..Cosmographiae Introductio" beigegebenen Weltkarte von 1507 für den neuen und erst vage umrissenen Erdteil zu verwenden. Ringmann hatte vorgeschlagen. Vespuccis Vornamen Amerigo (der sich von Imre oder Emerich, dem zusammen mit dem Vater heiliggesprochenen Sohn des Ungarnkönigs Stephan I herleitet) entsprechend den Namen der Kontinente der ..Alten Welt". Europa. Afrika, zu feminisieren und in dieser Form als „America" zu übernehmen. Andere Versionen, denen zufolge der Kontinent nach Amalrich, de m Namen zweier Könige von Jerusalem im 12. Jahrhundert, oder nach der 1529 gegründeten Stadt Maracaibo benannt worden sei. sind einwandfrei widerlegt. Vgl. F. Luubenberger, Ringmann oder Waldseemüller? Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Namens Amerika, in: Archiv für Wiss. Geographie, Bd. XIII. H. 3; bapteme de V Amerique, 2. Aufl. 1992.
A. Ronsin, Dicouverte et
16
A. Einle itung
Wie schwer ein solcher Verzicht fällt, wie nahe das Eigene und wie fern das Gemeinsame erscheint, wenn man beides gegeneinander abzuwägen beginnt, zeigt sich in aller Deutlichkeit in dem schwierigen Prozess der europäischen Einigung, der so mühsam und zäh vonstatten geht und daher auch weiterhin so wenig Begeisterung zu erwecken vermag. Gerade angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint es angebracht, sich mit einigen Argumenten und Grundfragen zu beschäftigen, mit denen man damals, als es um die amerikanische Einigung ging, für und wider die bundesstaatliche Lösung focht und zu ermitteln, welches Modell der Vermittlung von Einheit und Vielfalt schließlich die Mehrheit überzeugte. Szenenwechsel: Am 18. Juni 2004 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein Rückblick darf sich keineswegs auf Dezember 2001 beschränken, in dem sich ein pluralistisch zusammengesetztes 105-köpfiges Gremium an die Ausarbeitung einer „Verfassung für Europa" machte. Am 28. Februar2002 versammelten sich in Brüssel die Vertreter von Regierungen und Parlamenten aus ganz Europa zu der ersten Sitzung des EU-Konvents. Einheit in der Vielfalt: Die Verfassung einer freiheitlichen Gemeinschaft gab Anlass zu intensiven Debatten innerhalb des Konvents. Als der europäische Verfassungskonvent seine Beratungen aufnahm, war dies von allgemein verbreiteter Skepsis begleitet. Die Erwartungen wurden von allen Beteiligten heruntergespielt. Bezeichnenderweise schien (zumindest in der Anfangsphase des Konvents) nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia verglichen. 3 Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als „Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das Ergebnis der europäischen Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung" bezeichnet wurde, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen. Bereits seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) haben die USA ein lebhaftes Interesse am europäischen Integrationsprozess gezeigt. Es ist für Europa auch heute bedeutsam zu wissen, welche Perzeption die fortschreitende europäische Integration und das Projekt „europäische Verfas-
3 Vgl. M. Rosenfeld. The European Convention and Constitution Making in Philadelphia, in: International Journal of Constitutional Law 1/2003, S. 373 ff.
17 A. Einl eitun g
sung" in den USA erfährt, um im sich wandelnden transatlantischen Verhältnis für Verständnis zu werben und um erneute Missverständnisse zu vermeiden. Die konstitutionelle Fortentwicklung Europas betrifft die USA als wichtigsten Partner der Europäischen Union unmittelbarer als dies in manchen Kreisen der amerikanischen Administration und einzelner Think Tanks wahrgenommen werden will. Die Annahme, die USA würden das europäische Interesse teilen, den Prozess der europäischen Integration dauerhaft in eine „transatlantische Partnerschaft der 5 Gleichen" einzubetten, führt (mittlerweile) allerdings zu weit. Allerdings gibt es zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiterhin eine Vielzahl verknüpfender Aspekte, die freilich einer ständigen Neudefinition unterworfen sind. Eindrucksvoll waren in diesem Kontext die Worte von Präsident J. F. Kennedy, der am amerikan ische n Unabh ängigk eitstag, d em 4. Juli 1962 i n der Hall of Independence in Philadelphia seine transatlantische Rede mit dem Wunsch beendete, das sich einigende Europa und die Vereinigten Staaten dereinst in einer „Declaration of Interdependence" verbunden zu sehen. Selbst wenn die transatlantische Atmosphäre wiederkehrend einigen Turbulenzen unterworfen ist, sollte das feinsinnige Wortspiel mit der amerikanischen „Declaration of Independence" vom 4. Juli 1776 nicht in Vergessenheit geraten. Nicht selten werden die Vorstellungen über Europas z ukün ftig e Rolle in der Wel t mit historischen Argumenten unterfüttert, etwa wenn auf die säkulare Tendenz zu einer immer eigenständigeren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik oder - im Gegenteil - auf die dauerhafte sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA verwiesen wird. Unabhängig davon, wie berechtigt oder abwegig historische Rekurse dieser Art tatsächlich sind, dürfte sich ein kurzer Rückblick auf die jeweiligen Verfassunggebungsprozes.se und demzufolge auf einige Kapitel aus dem Geschichtsbuch der amerikanisch-europäischen Beziehungen bei der Erörterung von Grenzen und Möglichkeit der internationalen Rolle eines stärker integrierten Europa als überaus hilfreich erweisen. Wie auch in anderen Politikfeldern. kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen, die Risiken und Chancen bestimmter politischer Maßnahmen realitätsgerechter zu beurteilen, Fehlperzeptionen zu erkennen und somit die verantwortlichen Akteure in die Lage zu versetzen, angemessen auf neue Herausforderungen zu reagieren. Gleichwohl wird dieser historische Brückenschlag im einschlägigen wissenschaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, nur ganz vereinzelt und kursorisch
4
Mit ..transatlantisch" ist ausschließlich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten jenseits und diesseits des Atlantiks. ?
So aber G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. im Internet unter www.rewi.hu-berIin.deAVHI/deutsch/fce/fce402/burghardt.htm. S. 1.
4
18
A. Einle itung
vorgenommen schränkt bejaht
6
und zum Teil in seiner Berechtigung verneint 8
7
, zum Teil einge-
.
Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die amerikanische Verfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat der Erfahrung gefolgt ist, statt sie zum 9
Ausfiuss einer Idee zu machen, die die Wirklichkeit umgestalten sollte. In Kraft gesetzt nämlich wurde das amerikanische Verfassungssystem buchstäblich ohne wi rklic he Vorstellung von ei ne m Staat. Überspi tzt ließe sich
der Ge da nk e
anschließen, das revolutionäre Amerika kam erst über den Umweg der praktischen 10 Erfahrung zu seinen Verfassungsprinzipien. Europa musste, vielleicht durfte einen anderen Weg beschreiten, bediente sich allerdings ähnlicher Mittel und fand viele inhaltliche Bezugspunkte im amerikanischen Verfassungsstaat.
6 Siehe allerdings aus jüngerer Zeit T. Herbst , Legitimation durch Verfassunggebung. Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003. der allerdings zum einen den Ausgang des europäischen Verfassungskonvents noch nicht berücksichtigen konnte, zum anderen eine weitgehende Beschränkung auf (wiewohl rechtsvergleichende) Legitimationsaspekte vornehmen musste. Vgl. auch S. Hülscheid /. Europäischer Konvent. Europäische Verfassung, nationale Parlamente, in: JöR 53 (2005). S. 429 ff. 7
Vgl. etwa S. Hobe . Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1. 2003. S. I ff.. 12 . 8 W. Wessels , Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, in: Integration. 2/2002. S. 83 ff.. 93. 9 Ähnlich auch D. Howard . Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie. Frankfurt a. M. 2001. 10 Hierin ist einer der wesentlichen Unterschiede zur französischen Revolution zu erkennen, die mit der klaren Vorstellung angetreten war. wie der Staat zu gestalten sei. um
das Ziel der bürgerlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Der Anspruch der amerikanischen Revolution gestaltete sich da vergleichsweise gering.
B. Verfass ungserw eckung und Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union Zahlreichen Verfassungsbemühung en anderer Staa ten diente die US-amerikani1 sche Verfassung als Vorbild. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der Ähnlichkeit pluralistischer Beeinflussung fast geboten.
2
Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zurückblicken. die andere fertigt sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen noch ihre Kinderschuhe ohne dabei modische Entwicklungen außer Acht zu lassen. Europa steht in vielerlei Hinsicht bereits auf festen Füßen, die jedoch einer dauerhaften, resistenten Ummantelung bedürfen. Diese Voraussetzungen zu Grunde gelegt soll ein Begriffspaar gebildet werden, das den unterschiedlichen Status der Verfassungsentwicklung widerspiegelt, die kulturelle Basis jenseits der Verfassungskultur allerdings fast umkehrt: Verfassungsbestätigung un d Verfassungserweckung. Die Kultur ist für beides Impulsgeber, kontrastiert jedoch in ihrer Ursprünglichkeit. Während in den Vereinigten Staaten der Einfluss und die Kombination eigentlich fremder Kulturen der Verfassung erst zu ihrer Genese verhalfen, kann Europa auf ein jahrhundertelanges Nebeneinander, und - aus gewissen Blickwinkeln, etwa dem des christlichen Abendlandes - auf Verschmelzungen zurückblicken, die Grundlage aller Verfassungsbildung und damit auch ihrer Erstarkung sind.' Gewiss, auch die Einflüsse auf die erste Fassung der amerikanischen Verfassung waren europäische, jedoch 1
Vgl. unten III. und IV. sowie II.2.f)jj)(4)(a). Auch im Sinne einer ..kulturellen Verfassungsvergleichung*', vgl. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 252 ff. unter Bezugnahme auf die ..Verfassungsvergleichung als ,fünfte 1 Auslegungsmethode" (vgl. dazu ders.. Grundrcchtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ 1989. S. 913 ff.). :
Im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang könnte man nun versucht sein - auch angesichts der bislang zu konstatierenden Verf assungsfortschritte - von „Verfassungserstarkung" zu sprechen. Eine erstarkende Verfassung wächst jedoch begrifflich zunächst aus sich selbst. Dem Wort ..Erweckung" ist hingegen die äußere sanfte, zuweilen rüttelnde Hand wesenseigen, weshalb dieser Begriff auch im Hinblick auf die schöpferischen Gedanken, die die „Gründungsväter" und bis heute große Denker (aber auch gelegentlich allein die Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile) dem Gebilde „Europa" zuteil werden lassen.
20
B. Verf assungse rwec kung und Verfass ungsbestät igung
solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bestätigt wurde sie mittels eines mehr und mehr autarken amerikanische n Selbstbewusstseins. Ein Befinden, vor dem Euro pa noch steht : Verfassun gsbewusstsein und übergreifend europäisches Selbstbewusstsein. Was hierbei nun in welcher Reihenfolge einander bedingt, wird auch von der Außendarstellung gegenüber den europäischen Bürgern abhängen. Eine der Demokratie verpflichtete Verfassung entwickelt und bestätigt sich nicht zuletzt durch die Bevölkerung.
I. Eckpun kte der US-amerikanische n Verfassung sentwicklu ng 1. Augenblicke und Markste ine des europäischen kulturellen Einflusses
Europa und die Vereinigten Staaten einem Vergleich zu unterziehen bedeutet auch immer, die wechselseitigen kulturellen Impulse mit einzubeziehen. Die Vereinigten Staaten, ihr Selbstverständnis, die heutigen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fundamente wären ohne die englische Prägung, begonnen 4 durch die Gründung von Kolonien Anfang des 17. Jahrhunderts (Jamestown und 5 die Kolonie Virginia 1607 ) an der nordamerikanischen Ostküste, nicht denkbar. Insbesondere brachten viele dieser Siedler ein in England ausgebildetes Grundverständnis der Möglichkeiten und Errungenschaften eines Rechtsstaats mit auf den neuen Kontinent. Die tiefe Verwurzelung der Freiheit in ihren „status negativus, activus und positivus" 6 rührt bereits aus dieser Zeit. Einen hohen Stellenwert nahmen alsbald die Menschenrechte nach der Bill of Rights von 1689, die Beteiligung der wohlhabenden Bürger an Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Traditionen
Anwendung finden soll. Dies impliziert freilich, dass der Status der Erweckung nach Ansicht des Verf. noch fortdauert. 4 Es würde freilich zu weit fuhren, spanische oder auch portugiesische Einflüsse auf die großen Entdecker wie C. Columbus oder A. Vespucci zurückzuführen. Beide sahen nie das heutige Gebie t der Vereinig ten Staaten von Amer ika : dies gel ang wohl erst 1512 de m spanischen Governeur von Puerto Rico J. P. de Leon mit dem Betreten des heutigen Floridas. Gleichwohl sind gegenwärtig durchaus spanische Wurzeln in den südlichen Staaten wie Kalifornien, New Mexico. Texas oder Florida durch einen hohen hispanischen, lateinamerikanisch geprägten Bevölkerungsanteil spürbar, was kaum verwundert, nachdem Florida erst 1819 von Spanien erworben. Texas und andere ehemals spanische oder mexikanische Gebiete wie Kalifornien 1845 „einverleibt" wurden. ? Die erste englische Niederlassung befand sich bemerkenswerterweise, 1577 von F. Drake begründet, in Kalifornien (New Albion). 6
In Anlehnung an G. Jellinek, Syste m der subjekt iven öffe ntlic hen Rechte. 2. Aufl. 1905. S. 81 ff.; siehe auch ders.. All gem ein e Staa tsleh re. 3. Aufl. 1914 (Neudr . 1960). S. 418 ff.: D.P.Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR III (1986), S.230ff.; G. Radbruch. Rech tsphi losop hie. 3. Aufl. 1932 (Studie nausg. 1999). S. 67 ff.: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. 1999, S. 344 ff.
1. Eckpunkte
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
21
der lokalen Selbstverwaltung, das Recht auf ein Geschworenengericht und auf 7 „habeas corpus" bei Inhaftierung ein. Die Rechtsordnungen begründeten sich zum einen auf dem tradierten englischen gemeinen Recht (Common Law), auf den von der Krone gewährten verfassungs8 ähnlichen Kolonialcharten , auf Gesetzgebungsakten der kolonialen Vertretungskörperschaften sowie den übergeordneten Gesetzen des Parlaments in London. Ungeachtet dieses zweifellos vorherrschenden englischen Potentials, das sich weiterhin durch die (Amts-)Sprache äußert, sollten aber auch weitere kulturelle Wurzeln nicht außer Acht gelassen werden. Die Erschließung Nordamerikas stand im Zeichen europäischer Großmachtrivalitäten, die sich durch die Bemühungen der englischen Krone, den Vormachtanspruch gegen Spanien, die Niederlande und bis 1763 gegen Frankreich zu behaupten, manifestieren lassen. Insbesondere wird der französischen Gestaltungskraft oftmals ein allzu geringer Stellenwert eingeräumt. 10 Frankreichs Einfluss, der freilich mit dem Pariser Frieden von 1763 spürbar geringer wurde, zeigt sich wie der weiterer europäischer Staaten (beispielsweise wird die Zahl der Deutsc hen 1775 auf 200 000 geschätzt) durch ku lturelle Grundsteine anderer Art: Neben ökonomischen Verlockungen bot Nordamerika zahlreichen religiösen Dissidenten Zuflucht - Puritaner, Quäker. Hugenotten, englische Katholiken. Eine auf der abendländischen Kultur basierende „Western Civilization", die sich über den Atlantik spannt, findet ihren Ursprung im Wesentlichen in europäischen Wurzeln, deren Hauptstämme von der griechischen Philosophie und dem Christentum geformt wurden. Auch bedeutende Entfaltungen
Vgl. auch M. Berg. Die Vereinigten Staaten von Amerika - Teil II. Historische und Politische E ntwi ckl ung, in: Sta atsle xikon. S echst er Band. 7. Aull 1992. S. 373 ff.: K. Loewenstein, Verfassungsr echt und Verfassungsp raxis der Vereinigten Staaten. 1959. S.3. h
Es gab Bundesstaaten drei Rechtstypen der ist: Besiedlung, deren ursprüngliches System bis heute in den einzelnen spürbar die Kronkolonie (z. B. Virginia), Eigentümerkolonie (Maryland) und Freibriefkolonie (New Plymouth in Massachusetts, New Häven in Connecticut): hierzu ausführlich K. Loewenstein (1959). S. 2 f.; W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001. S. 1. 9
Die Holländer kauften 1626 die Insel Manhattan für 24 Dollar den Indianern ab und gründeten dort New Amsterdam. Nachdem 1655 ein Versuch der Schweden, sich in der Delaware-Bucht niederzulassen, abgewehrt werden konnte, musste sich freilich die holländische Siedlung 1664 den Engländern ergeben. Die Siedlung erhielt den Namen New York. 10 Während des 16. Jahrhunderts war die Erforschung des nordamerikanischen Kontinents überwiegend den Franzosen vorbehalten, die sich im frühen 17. Jahrhundert schließlich im Osten Kanadas niederließen und bis in den heutigen Mittleren Westen gelangten (beispielhaft der französische Entdecker R.R.C. de La Salle 1643-1687. der „patron saint" von Chicago); erst 1699 wurde die französische Kolonie von Louisiana an der Mündung des Mississippi gegründet. Siehe auch zur Kolonialperiode in der US-amerikanischen Geschichte K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. I ff.
9
22
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
der Musik und bildenden Kunst, der Philosophie, Literatur und der Wissenschaft tragen eine unverkennbar europäische Kennzeichnung." T. Jeffersons11 Zeit von 1784 bi s 1789 als Gesand ter in Paris darf zu den Marksteinen politischer Entwicklung in Amerika gezählt werden. Sein grundsätzlich am englischen Recht, am antiken Republikanismus und am Individualismus der Aufklärung ausgerichtetes Staatsdenken erfuhr durch den französischen Einfluss und die geistige Unterstützung der französischen Revolution den Feinschliff. In seine Präsidentschaft fällt schließlich auch der Louisiana Purchase, der Kauf des ausgedehnten Louisiana-Gebiets von Frankreich (1803). Die Vertreter „seiner" politischen Richtung vereinigten sich schließlich unter Jeffersons Führung zur Republikanischen Partei (die spätere Demokratische Partei). Eine weitere kulturelle Einfiussnahme von Jefferson sollte nicht vorenthalten werden: Bekanntlich betätigte er sich auch als Architekt und orientierte sich bei seinen für die amerikanische Architektur impulsgebenden Entwürfen an der Baukunst der spätrömischen Antike sowie den Werken A. Palladios. Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits die Vielfalt des europäischen kulturellen Erbes in den Vereinigten Staaten. 2.
Die „Declar ation of Indep enden ce" - eine Abkehr von Europ a?
Dahingegen die berühmte Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als Abkehr von Europa zu bezeichnen wäre unzutreffend. Unabhängigkeitserklärungen können Wirkungen in zwei Richtungen entfalten: einerseits wird dem Neuen, Innovativen ein hohes Gewicht eingeräumt, andererseits bilden traditionelle Elemente 3 den notwendigen, kontrollierenden Gegenpol. Konservative und moderne Gedankengänge, mit einer vordergründigen Betonung des Fortschrittlichen, treffen " So gibt es ein schöpfer ische s Musikl eben nach europ äisch em Vorbild seit etwa 1800 . Als sog. frühester Komponist gilt der Mähren stammende A. P. Heinrich. J.K. Die Paine!H. Komponisten der „Neuenglandschule" (2. aus Hälfte des 19. Jahrhunderts) wie Parker
und E. McDowell sahen ihre Vorbilder in J. Brahms und E. Grieg. Andere, wie D. G. Mason und CA/. Loefßer, griffen später auf C. Debtissy un d M. Ravel zurück: vgl. zur amerikanischen Musikgeschichte H.W. Hitcheock. Mus ic in the United States, 2. Auf lag e 1974. Die amerikanische Kunst wurde stets von Emigranten mitgeprägt - beispielhaft in der Architektur W. Gropius/L Mies van der Rohe, in Malerei und Skulptur der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts M. Ernst IL. Moholy-Nagy oder N. Gabo. siehe umfassend M. Baigell, A History in American Painting, 1971. 12 Siehe zu T. Jefferson das große Werk von D. Malone , Jefferson and his Time. 6 Bde. 1948 -1 981 sowie R.M. Johnstone, Jef fer son and the Presidency, 1978. n Dies offenbart sich in jüngster Zeit beispielsweise in Kroatien. Slowenien oder in den baltischen Ländern, die nach dem Bruch mit Jugoslawien bzw. der Sowjetunion zum einen den mutigen Schritt zu einer neuen Verfassung wagten, dieser „westliche" Maßstäbe verliehen, zum anderen aber einer verstärkten Brauchtumpflege nachgehen, die sich gerade ihren Ursprüngen besinnt, vgl. zur neueren Verfassungsentwicklung in Osteuropa T. Schweisfurth/R.AIIeweldt, Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteuropa. in: G. Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa.
1. Eckpunk te der US-am erikan ischen Verfass ungsentwic klung
23
sich auch im Streben nach Souveränität. Ein veränderten Umständen angepasstes Staatswesen würde ohne die Rückbesinnung auf grundsätzlich staatstragende Elemente in Kürze zusammenbrechen. Der Text der von Jefferson verfassten Unabhängigkeitserklärung ist Spiegelbild dieses Phänomens. Er besteht aus drei Teilen, wobei einer Auflistung der Demütigungen und Ungerechtigkeiten Englands eine Rechtfertigung der Revolution und schließlich eine Darstellung der Grundlagen des neuen amerikanischen Gemeinwesens folgt. Und selbst dieses „neue" Gemeinwesen folgt tief ausgetretenen europäischen Spuren. Da eine Bezugnahme der Kolonien auf das englische Recht über Jahre fruchtlos blieb, greift man auf die Gedanken der Aufklärung und damit auf Elemente das Natur- und Vernunftrechts zurück. So wurde unter anderem wie folgt formuliert: „We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among Men. deriving their just powers from the consent of the governed, - Thal whenever any Form of Government becomes destruetive of these ends. it is the Right of the People to alter or to abolish it. and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most 14 likely to effect their Safety and Happiness."
3.
Der Modell charak ter einzel- wie bundess taatlich er Verfassungen
15 Auch die Verfassungen der Einzelstaaten , die teilweise den Anregungen des 16 2. Kontinentalkongresses 1775/76 folgten, umfassten indes Grundrechtserklärungen. die sich nicht nur an der Hinterlassenschaft Englands, sondern auch an den damals aktuellen Leitlinien des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts ausrichteten. Die europäische Aufklärung fand also in einigen ihrer Basis- und
2. Aufl. 1997, S.45ff.: H. Roggeniann. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in Oste uropa , in: Recht in Ost und West 1996. S. 177 ff.; re chtsverg leichend H. Roggeniann (Hrsg.). Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999: G. Brunnen Verfassunggebung in Osteuro pa, in: Ost euro pa Recht 1995 , S. 258 ff.; R. Steinberg, Die neuen Verfassungen der baltischen Staaten, in: JöR 43 (1995), S. 258 ff. u Zitiert nach P. Kurland/R. Urtier, Th e Foun der s' Cons titu tion , Vol I. 1987. S. 9 ff.; tr komplett abgedruckt bei R. D. Rotunda. Modern Constitutional Law. 6 ed. 2000. Appendix A. S. 524 ff.; siehe zum Inhalt der Unabhängigkeitserklärung auch W. Brugger, Einführung in das öffentlic he Recht der USA, 2. Aufl. 2001. S. 2f ., ausführl ich J. Heideking, Di e Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizier ung der ameri kanische n Verfassung: 1787-1791. 1988: K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 5 ff. 15 1780 hatten sich bereits elf von 13 Staaten eine Verfassung gegeben. South Carolina und New Hampshire griffen dabei als erste noch nicht einmal auf die Anregungen des
Kontinentalkongresses zurück. 16 Dazu K. Loewenstein (1959). S. 6.
24
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Programmideen 17 ihre ersten kodifizierten, staatstragenden Bewährungsproben auf dem nordamerikanischen Kontinent. Die nachfolgende Bundesverfassung erfuhr eine nachhaltige Prägung durch die Neuerungen in den Einzelverfassungen, die neben der umfassenden Betonung der Gewaltenteilung von einer Stärkung der gesetzgebenden Körperschaften als Mittelpunkt der Staatsgewalt über die eingeschränkteren Rechte der gewählten Gouverneure als Inhaber der ausführenden Gewalt bis zu einer gesteigerten religiösen Toleranz und einer Intensivierung der demokratischen Grundsätze der Volkssouveränität reichten. Sogar im Hinblick auf den momentanen Zustand der Entwicklung Europas erweist sich die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten zwischen 1774 und 1788 als aufschlussr eich. Das Ergebnis der Kontinentalkongre sse waren die 1777 beschlossenen und 1781 ratifizierten Articles of Confederation, die erste Verfassung der Vereinigten Staaten. Diese Konföderationsartikel etablierten einen Staatenbund, den K. Loewenstein „als historisch übliche und wohl auch zweckmäßige Übergangsstufe [...] von gesonderten Einzelstaaten zum echten Bundesstaat" 18 qualifizierte. Inwieweit diese Erscheinungsform mit 1der europäischen Wirklichkeit vergleichbar ist, wird noch zu zeigen sein. '' An dieser Stelle nur so viel zur Ausgangslage: In Europa wie in den Vereinigten Staaten existierten Einzelstaaten beziehungsweise wie in Deutschland Länder vor der Schaffung eines übergeordneten „Bundes". Gemeinsam ist beiden Entwicklungen die Urheberschaft der Gründungsinitiative, die nicht „dem Volk", sondern den Vertretern der Einzelstaaten zuzubilligen ist. 4.
Die Entste hung des Verfassun gsstaate s - der „Vorabend" der Bundesverfassung
a) Wege zur Emanzipation - von den „ Fundamental Orders of Connecticut" zur Unabhängigkeitserklärung Knüpfte man die amerikanische Verfassungsgeschichte an das Vorhandensein eines Text es, der zumindest einige der heute allgemein angelegten verfassun gstheoretischen Kriterien erfüllt, so ließen sich bereits die 1638 in Hartford erlassenen Fundamental Orders of Connecticut heranziehen, um das frühe Aufkeimen kon20 stitutioneller Strukturen abzubilden. Tatsäch lich sollte es aber fast 140 Jahr e 17 N. Hinske , Aufklärung, in: Staatslexikon. Bd. 1,7. Aufl. 1992. S. 391 ff. klassifiziert die tragenden Ideen der Aufklärung in ..Programm-. Kampf- und Basisideen". 18 K. Loewenstein (1959), S. 7. In Art. II der Konföderationsartikel heißt es: ..Each State retains its sovereignty, freedom. and independence, and every Power. Jurisdiction and right. which is not by this Confederation expressly delegated to the United States, in Congress assembled." 19
Siehe unten IV. 3. b).
Sie gehen damit sogar dem englichen „Instrument of Government" von aus dem Jahr 1653 vor. 20
O. Cromwell
1. Eckpunkte
25
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
dauern, bis ein Dokument einer Bewegung entsprang, die allgemein unter dem Begrif f „Am er ica n Revoluti on" resüm iert wird. 2 1 Vorangegangene Einigungsbemühungen unter den Kolonien wie etwa B. Franklins Plan eines Bundes aus dem Jahre 1754 oder die bereits 1743 geschlossene „New England Confederation" konnten keine stabile, gemeinhin akzeptierte Ordnung etablieren. Auf die Einzelhe iten der ame rik ani sch en Revolut ion ist an dieser Stelle nicht 22 schweifend einzugehen. Beweggründe und Resultat sollen jedoch nicht gänzlich verschwiegen werden, nachdem auch sie geistiger Ausgangspunkt der folgenden 23 Verfassungsbewegung waren. Ein vergleichsweise trivialer Auslöser, der Versuch des britischen Parlaments, die Kolonien durch Zölle und Besteuerung an den Kosten des Siebenjährigen Krieges zu beteiligen, entflammte ab 1763 eine
aus-
21
Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung wird - in Analogie zur Französischen Revolution - tatsächlich überwiegend als ..Amerikanische Revolution" bezeichnet. Zumindest das Selbstverständnis der Gründungsväter der Vereinigten Staaten ist damit aber keineswegs getroffen. Ihnen ging es nicht um den Bau einer neuen Gesellschaft, nicht um die Umwälzung bestehender Staats- und Machtverhältnisse, sondern - wie bereits anlässlich des ersten Kontinentalkongresses 1774 in Philadelphia zum Ausdruck gebracht - um die Wiedereinsetzung in ihre alten Rechte vor 1763. um die Restauration der durch die englische Krone unterbrochenen und missbrauchten Rechtstradition, vgl. auch U. Opolka, Politische Erklärungen: Die Verfassungen der nordamerikanischen Staaten und der Französischen Revolution, in: E. Braun/F. Heine/U. Opolka (Hrsg.). Politische Philosophie, 6. Aufl. 1998. S. 183 f. Insbesondere hat aber bereits T. Paine . einer der publizistischen Wegbereiter sowohl der amerikanischen Unabhängigkeit wie dann später der Französischen Revolution, in seinem Werk diesen restaurativen Aspekt deutlich betont, auch wenn er einer der ersten war. die das damalige amerikanische Geschehen als Revolution bezeichneten. So heißt es in Paines ber ühmt er Schrift ..Die Recht e des Mens che n" aus den Jahren 1791/ 92. die Revolution in Amerika sei ..eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die Wahrheit und die Existenz des Menschen und die Moral mit politischer Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbindet", zitiert nach einer Übersetzung von D.M. Forkel, hrsg. von T. Stemmler, 1973. S. 173. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch eine rückblickende Äußerung von J. Adams in einem Brief an T.Jefferson vom 24. Augus t 1815: ..Die Revoluti on fand im H erze n des Volkes statt, und diese wurde bewirkt von 1760 bis 1775 im Verlauf von 15 Jahren, bevor ein Tropfen Blut in Lexington vergossen wurde", vgl. J.Adams, in: L.J.Cappon (Hrsg.). The AdamsJefferson Letters. The Complete Corr esponde nce between T. Jefferson and A. and J. Adams, 11. 1959. S.455. Speziell zum historisch-sozalwissenschaftlichen Aspekt der ..Revolution" der Klassiker von H. Arendt. Über die Revolution. 1965 (engl. Originalausgabe 1963) sowie K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. 3. Auflage 1973: C. Lindner, Theorie der Revolution. 1972: H. Wassmund. Revolutionstheorien. 1978: K. Lenk. Theorien der Revolution, 2. Auflage 1982. 22 Detaillierte Darstellungen der .American Revolution" finden sich bei C. Bonwick, The American Revolution. 1991: D. Higginbotham, The War of American Independence. 1977: H.-C. Schröder. Die amerikanische Revolution. 1982: H. Dippel. Die amerikanische Revolution 1763-1787, 1985: S.E. Morison it. a.. The Growth of the American Republic, 2 Bde.. 7. Auf lage . 1980: F. Freidel (Hrsg.), Harvard Guide to American History, 2 Bde.. Cambridge (Mass) 1974: A.M. Schlesinger, The Cycles of American History, Boston 1986. Siehe auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 4 ff.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Kontroverse zwischen den Kolonisten und der britischen Krone und führte - nach der Eskalation in einen bewaffneten Konflikt - schließlich zur bereits erwähnten Erklärung der Unabhängigkeit durch die ..dreizehn vereinigten Staaten von Amerika'" am 4. Juli 1776. 24 In der Präambel wird unter Berufung auf das Naturrecht die Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie das Prinzip der Volkssouveränität postuliert. Textlich kulminiert die Erklärung in der Verkündigung neuer staatlicher Souveränität. Angesichts der Form und inhaltlichen Gewichtung könnte beinahe von einer „Postambel" gesprochen werden, wenn es am Schluss heißt: „We, THEREFORE. the Representatives of the UNITED STATES OF AMERICA [...], do. in the Name, and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly publish and declare. That these United Colonies are. and of Right ought to be FREE 25 AND INDEPENDENT STATES [...I" .
Die Erklärung ermöglichte den Amerikanern die völkerrechtliche Anerkennung als Krieg führende Partei und punktuelle Hilfe durch andere Mächte. Erst im Pariser von 1783 fand dieSpaniens Unabhängigkeit einem wechselvollen Krieg unter Frieden Beteiligung Frankreichs, und der nach Niederlande ihre tatsächliche Anerkennung durch das englische Mutterland. Die Declaration of Independence wurde zu einem der bedeutenden Dokumente der Menschheitsgeschichte, in Sprache und Anspruch gelegentlich (allzu pathetisch) mit den Geboten der großen abendländischen Religionen verglichen. Ihr Gedankengerüst formte das Funda26 ment der folgenden Verfassungsentwürfe. Inhaltlich bildet sie die communis J. Lockes ist überall dort opinio der aufgeklärten Naturrechtslehre. Der Einfluss spürbar, wo von Konsens und Widerstand die Rede ist."
2? Im transatlantischen Kontext bedeutsam die Dissertation von O. Vossler, Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an Thomas Jefferson. 1929. 2 ~ An der Erklär ung waren folgende bisherigen Kolonien beteil igt: Connecticut . Delaware. Georgia. Maryland, Massachusetts, New Hampshire, New Jersey, New York. North Carolina. Pennsylvania. Rhode Island. South Carolina und Virginia. Umfassend zur Unabhängigkeitserklärung, ihrer Vorgeschichte und Tragweite J. R. Pole . The Decision of American Independence. 1975. Eine heute ..klassisch" zu nennende Analyse der Erklärung liefert C.L Becker; The Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. i960). 25 Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictiona ry o f Amer ican History. 1983 , S. 280 f. 26 Hierzu W. P Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassung und politische Ideen der amerikanischen Revolution. 1973: B. Bailyn , The Ideological Origins of the Americ an Revolution. Neuausg. 1992. 2
Der theoretische Abschnitt der Unabhängigkeitserklärung wird emotional von der Abrechnung mit dem englischen König George ///. überlagert. Dort wird das archaische Motiv des Widerstands gegen einen Tyrannen aufgegriffen. Insoweit steht die Erklärung durchaus in gewisser Rechtstradition der Monarchomachen. der Absetzung Philipps 11.1581. der Hinrichtung Karls I. und der Bill of Right s von 1689. Diesen As pek t heben auch
1. Eckpunkte
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der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
Die vielfältigen europäischen Einflüsse auf Staatsphilosophie und verfassungspolitisches Ideengut, der spürbare Impuls der großen englischen Juristen
Cocke
Blackstone 28
und sowie nicht zuletzt das gestärkte Selbstbewusstsein nach über 20 Jahren erbittertem Ringen aus dem als Klammergriff empfundenen Beharren der englischen Krone verdichteten sich schließlich zu dem, was man den „amerikanischen Konsensus am Vorabend der Bundesverfassung" genannt hat.
29
Wie auch J. Ellis in seinem Werk „Founding Brothers" in sechs Episoden über die ersten Jahrzehnte des neuen Gemeinwesens beschreibt, reichte die Einigkeit über Jeffersons Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zunächst nicht über den Willen, das Joch der englischen Krone loszuwerden, hinaus. „The first founding (1776) declared American independence; the second (1787), American statehood". 3 0 In Bezug auf den ersten Schritt bestand Einigkeit; der zweite war zwischen „Föderalisten" und Anhängern eines losen Staatenbundes höchst umstritten. Noch heute besteht bis in die Tätigkeitsfelder der Tagespolitik eine Spannung zwischen den damals von Hamilton und Jefferson verkörperten Denkschulen. Der Einfluss derjenigen, die in den USA auf den „State rights" bestehen, nimmt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu. b) Wege zum Konsens - von den „Articles of Confederation" zum „Great Compromise" Der Vorabend nahm freilich einige Jahre in Anspruch . Er umfasste neben de r Unabhängigkeitserklärung auch einzelstaatliche Verfassungsbemühungen, die teils den Anregungen der Kontinentalkongresse folgten, sowie verschiedene Grundrechtserklärungen und die 1781 in Kraft getretenen (1777 formulierten) Articles of Confederation als erste bedeutende Marksteine auf dem Wege zu einer dauer-
W. Reinhard. Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution. in: H. Frenske/D. Mertens/W. Reinhard/K. Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausgabe 1996. S. 241 ff., 369. sowie E. Angermann. Ständische Rechtstradition in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in: Historische Zeitschrift 200 (1965). S. 61 ff. hervor. Der Rückschluss Reinhards (1996). die Unabhängigkeitserklärung sei damit nicht von Rousseau abhängig, geht allerdings fehl, da mit Rousseaus Idee des ..volonte generale" gerade die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht gegenüber Spanien und Großbritannien begründet wurde. :s Siehe umfassend mit Blick auf das englische ..Erbe" das klassische Werk von C. E. Stevens. Sources of the Constitution of the United States - Considered in Relatind on to Colonial and English History. 2 ed. 1894. reprint 1987. 29 Vgl. auch H. Steinherger. 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung: Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung; Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 4. Juni 1986. 1987. S.6: umfänglich C. Rossiter. The Political Tho ugh t of the Amer ica n Revolutio n, 1963; C.L Becker. T h e
Decla ration of Inde pend ence . A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. J. Ellis, The Founding Brothers. The Revolutionär)- Generation, 2002. S. 27.
i960).
28
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
haften Verfassung. Beachtenswert sind in diesem Bezugsrahmen Connecticut und Rhode Island, deren Verfassungen erst 1819 bzw. 1842 folgten, nachdem sich ihre bisherigen königlichen Charters nach leichten Modifizierungen längerfristig als zweckdienlich erwiesen hatten. Die Einzelstaatsverfassungen waren sogleich Experiment und Impulsgeber für die nachmalige Bundesverfassung. Von einem sanften Anstoßen späterer Verfassungsprinzipien kann hingegen nicht gesprochen werden. Gegenüber den ursprünglichen königlichen Charters erhielt die Legislative einen höheren Stellenwert, unter anderem durch möglichst gleichmäßige Repräsentation. Der Gedanke 11 der Volkssouveränität erfuhr stabile Grundlegungen. Die Repräsentanten der Exekutive - von Versammlungen gewählte Gouverneure - mussten beschränkte Rechte hinnehmen. Von überragender Tragweite war schließlich die nachhaltige Etablierung der Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Gewalten. Ferner galt das Zweikammersystem (mit der Ausnahme Pennsylvanias) als unentbehrliches Instrument zur Balancierung und Entschärfung unvermeidlicher
32
Konflikte zwischen Exekutive und Legislative. Die Brückenfunktion vom ungeordneten Nebeneinander der Einzelstaaten zum letztlich errichteten Bundesstaat nahmen die Anicles of Confederation ein. die einen Staatenbund zu begründen wussten, der aus de facto souveränen Staaten bestand, deren verbindendes Element ein Kongress sein sollte, in dem jeder Staat eine Stimme besaß. Die Begriffe Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit fanden erstmals zusammengehörig im Hinblick auf Einzel- oder Mitgliedsstaaten Berücksichtigung: „Each State retains its souvereignty, freedom. and independence, and every Power. Jurisdiction and right. which is not by this confederation expressiv delegated to the United States, in Congress assembled.*'"
Inhaltlich wurde für Verfassungsänderungen Einstimmigkeit gefordert. Der Kongress, Zuständigkeiten der ursprünglichvereinnahmte nicht als Zentralregierung war undin lediglich u marginale , dehntegedacht seine Rechte der Folgezeit sukzessiv aus. Eine permanente zentrale Exekutivgewalt fehlte in den Anicles aber ebenso wie eine Regelung der Gerichtsbarkeit, des zwischenstaatlichen Handels und der Steuererhebung." Das Fehlen einer Finanzhoheit und von Zwangsbe31 Jedoch wurde keineswegs überall der Anspruch auf Volkssouveränität festgehalten und lediglich in Massachusetts erfolgte eine Befragung des Souveräns zur Verfassung. 32 Zum Verfassungsprinzip Gewaltenteilung siehe unten IV.3.c). 33 Art. II. Zitiert nach Appendix B.
R.D.Rotunda u.a.. Mod ern Consti tutio nal Law, 6* ed.
2000 .
34 Dazu zählten die Hoheitsrechte im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigung im Namen der souveränen Einzelstaaten. 35
Vgl. zu Einzelheiten K. Loe wen stein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Verei nigten Staa ten. 1959. S. 7 f. Siehe auch W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001, S. 2 f.
1. Eckpunkte
29
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
fugnissen ließ nach dem Wegfall der äußeren Bedrohung das Unvermögen zur einheitlichen Willensbildung klar zu Tage treten, was sich äußerst negativ auf die Handels- und Finanzpolitik niederschlug. Letztere musste nach der Einbuße der durch das britische Merkantilsystem gesicherten Handelsbeziehungen neue Verbindungen gewinnen, in der auswärtigen Politik galt es Verstimmungen mit 36 England und Spanien geschlossen zu begegnen und zwischen den Staaten kam es zu förmlichen Handel Zusammenarbeit.
skrie gen auf grun d rigider
c) Den Schwächen der
Der
Zollsc hrank en und mang elha fte r
Verfassungskonvent37
Articles of Confederation
sollten schließlich die ab Mai
1787 in Philadelphia versammelten 55 Delegierten der Einzelstaaten
38
- aus-
36 Gerade der Kongress bewies seine gravierendsten Schwächen auf außenpolitischem Gebiet. Großbritannien kam der im Frieden von Paris genannten Verpflichtung nicht nach, seine Truppen aus dem Staatsgebiet der USA abzuziehen. Als J. Adams 1784 nach London reiste, um der Großbrita nnien einen Ha ndelsvertrag vorzuschlagen, musste er unverrichteter Dinge zurückkehren, nachdem die Briten ihn mit der heiklen Frage konfrontiert hatten, ob er eine Nation oder einen der 13 Staaten vertrete. Bei dem Versuch, mit Spanien eine Klärung der Grenze zu Florida zu erzielen, war der Kongress ebenso erfolglos wie bei der angemessenen Begleichung der enormen Kriegsschulden. Vgl. zu alledem auch K. Loewenstein (1959), S. 7 f.
Auf die Details des Konvents. Verfahrensbesonderheiten, dessen Zusammensetzung und Beratungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf grundlegende Betrachtungen verwiesen. Aus der deutschsprachigen Lit. ausführlich insbesondere J. Heideking. Di e Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung: 1787-1791, 1988: A. Adams fW. P. Adams (Hrsg.). Die Amerikanische Revolution und die Verfassung: 1754-1791. 1987. Zudem die historischen Darstellungen von D.J. Haupt ly. A Convent ion of Del egat es - the Crea tion of the Const itut ion. 1987: D. G. Smith. The Convention and the Constitution. The Political Ideas of the Founding Fathers. 1987; L W. Levy (Hrsg.). The Fra ming and Ratification of the Constitution. 1987 ; J.D. Elazar. The Amer ican Constitutional Tradition. 1988 . Siehe auch C. Wolfe. On Understanding the Constitutional Convention of 1787. in: The Journal of Politics. 39 (1977). S.97ff.; C.C. Jillson. Constitution-Making: Alignment and Realignment in the Federal Conv enti on of 1787 , in: The Amer ica n Political Scien ce Review, 75 (1981) , S. 598 ff.; A.H. Kelly/W.A. Harbison/H. Beiz (Hrsg.), The American Constitution - its Origins and Develo pment, 7th ed. 1991 . Klassische Standardwer ke sin d weiterhin: N.C. Towle. History and anal ysis of the Constitution of the Unit ed State s, 3^ ed. 1871. repri nt 1987; C. van Dören, The Great Rehearsel. The Story of the Making and Ratifying of the Constitution of the United States, 1948. 38 Rhode Island war nicht vertreten. Einige radikale Republikaner wie P. Henry un d S. Adams waren freiwillig ferngeblieben. Das erleichterte es den ..Nationalists", sich gegen die Befürworter einzelstaatlicher Souveränität durchzusetzen. Die größten Differenzen in den Beratungen, die unter Vorsitz von G. Washington bis Mitte September andauerten, waren das Verhältnis von Bundesregierung und Einzelstaaten, die Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung sowie die Interessenkonflikte zwischen Nord- und Südstaaten auf
30
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
nahmslos Vertreter der bürgerlichen und landbesitzenden Schicht - durch die Schaffung eines zentralen Regierungssystems entgegenwirken. Die genannten Delegierten werden verbreitet als „Verfassungs- oder Gründerväter" („founders") bezeichnet. Tatsächlich ist hierbei aber ein differenzierterer Blick angebracht. Der Historiker / Ellis hat die amerikanischen „Verfassungsväter" im Anschluss an die „Gründerväter" der Unabhängigen Vereinigten Staaten „founding brother s" und die Verfass unggebung elf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärun g 39 „the second founding" genannt. Neben den klangvollen Namen der Konventsmitglieder rückten in jüngerer Vergangenheit weitere Verfassungsväter ins Blickfeld der Verfassungshistoriker. Dies ist insbesondere auf die erneut aufgeflammte Debatte um die Bedeutung der „srcinal meaning" in der Verfassungsinterpretation zurückzuführen. Im Zuge dieser Diskussion erscheinen eigentliches Konzept und Zusammensetzung der Gründer immer weniger fassbar. Das Spektrum der „Founders" schließt im englischen Sprachgebrauch „drafters", „framers", „ratifiers", „adopters" und selbst „we the people" ein. Neben den Konventsdelegierten selbst werden verbreitet auch die zahlreichen Teilnehmer an den einzelstaatlichen Ratifizierungskonventen genannt. Einige erweitern diesen Ansatz um die Zahl all derer, die die öffentliche Debatte um die Verfassung zu prägen verstanden. Allerdings ist die Kategorie „public debate" selten zitierfähig und kaum konkret genug, um den Vorwurf einer 40 gewissen Willkür in der Auswahl zu entkräften. Die damalige Entscheidung zu einem völligen verfassungstheoretischen Neubeginn markierte den entscheidenden Wendepunkt zur konstitutionellen Moderne. Federführend für diese Entwicklung war ein damals 36-jähriger Delegierter aus Virginia, J. Madison 41. Er schlug eine radikale Abweichung vom ursprünglichen der einen, kleinen und großen Einzelstaaten auf der anderen Seite, vgl. dazu J. Heideking, Revolution. Verfassung und Nationalstaatsgründung, in: W.P.Adams u.a. (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika. Bd. 1. S. 32 ff.. 43. Weitere bekannte Delegierte waren A. Hamilton (New York), der 81-jährige B. Franklin un d J. Wilson (beide Pennsylvania). G. Mason (Virginia, den Jefferson, der selbst zu der Zeit als Gesandter in Paris weilte, später ..the Cato of his country without the avarice of the Roman" nennen sollte) sowie
J. Dickinson (Delaware). 39
Vgl. J. Ellis . The Founding Brothers. The Revolutionary Generation. 2002.
4
" Vgl. zu der Disk ussio n um die Aus wah l der ..Fo unde rs" neuer dings S. Cornell, T he Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1788-1828, 1999: zu den unterschiedlichen Aspekten der Meinungsbildung in der einzelstaatlichen ..public debate": B. McConville, These Daring Disturbers of the Public Peace: The Struggle for Pro pert y and Power in Early Ne w Jersey , 1999 sowie W. Holton, Forced Founders: India ns. Debtor s. Slaves, and the Makin g of the Amer ica n Revolution in Virginia. 1999. 41 Zur Person J. Madison und dessen Einfluss auf die Verfassungswerdung siehe die bemerkenswerte Studie von J.N. Rakove. James Madison and the Creation of the American Rcpublic, 1990: zu dessen späterer Presi dency of Jam es Madison , 1990.
Präside ntschaft
(1 80 9- 18 17 ) R.A. Rutland. T h e
1. Eckpunk te der US-am erikan ischen Verfas sungsentwi cklung
31
Auftrag des Konvents vor: die Konföderationsartikel sollten nicht revidiert, sondern durch den Beschluss einer neuen, nationalen Regierungsform ersetzt werden. Madisons Vorstellungen basierten auf einem eigenen Entwurf, der als „Virginia42 Plan" bekannt werden sollte. Er sah im Kern eine präsidiale Republik vor, die auf einer strengen Gewaltenteilung durch ein Zweikammerparlament beruhte. Anstoß an dem Entwurf nahmen allerdings die kleinen Staaten, da sich die Sitzverteilung im Kongress nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundesstaates richten sollte. Virginia hätte damit ein erhebliches Gewicht im Kongress gehabt. An den Rand des Scheiterns brachte die Beratungen überdies der Interessenkonflikt zwischen dem kommerziell ausgerichteten Norden und dem auf Sklavenarbeit angewiesenen, Agrarprodukte exportierenden Süden. Politische Protagonisten und Gegenpole dieser Auseinandersetzung waren einerseits die „Nationalisten" - Befürworter einer starken Zentralregierung (die sich entgegen dem heutigen Sprachgebrauch Federalists nannten) - und auf der anderen Seite die Anhänger der Souveränität der Einzelstaaten sowie einer größtmöglichen Dezentralisierung der Macht. Letztere wurden von ihren Widersachern geschickterweise mit dem Name n Antifederalists belegt, um das Negative und im Zweifel Unpatriotische ihres Standpunktes hervorzuheben. Die Spannungen waren von einer Vermengung unauflöslich erscheinender materieller Interessen mit generellen Einwänden gegen jegliche Machtkonzentration gekennzeichnet. Schließlich konnte ein für die Konventsmitglieder akzeptabler Kompromiss (ehrfurchtsvoll „The Great Compromise" genannt) erzielt werden: im Repräsentantenhaus war nunmehr eine Vertretung nach der Bevölkerungszahl vorgesehen, der Senat bot hingegen ungeachtet der Größe jeweils zwei Sitze für die einzelnen Staaten. 43 Der Souveränität der Einzelstaaten wurde durch das innovative Prinzip 45 des Föderalismus 44 und durch die Entscheidung über ein neues Wahlrecht RechJ - Der Verf assun gsdeb atte lagen drei ..Plans" zug rund e. Der Vorschlag von New Jersey („New Jersey-Plan"), dereine Kollektivspitze vorsah, glich dabei in manchen Einzelheiten der späteren Schweizer Verfassung von 1848 (siehe i.Ü. auch P. Widmer. Der Einfluss der Schweiz auf die Amerikanische Verfassung von 1787, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. 38 (1988), S. 359 ff.), der von Virginia hatte Ähnlichkeiten mit der späteren Verfassung der dritten französischen Republik. Den dritten ..Plan" legte A. Hamilton vor; darin wurde ein System bevorzugt, das dem ..British Government" als laut Hamilton ..the best in the world". frappierend ähnelte. 43 Aktualität erlangten diese Frage und di e Argum ente der früheren Ausei nandersetzu ng bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 und der knappen (letztlich gerichtlichen) Entscheidung für den Wahlsieger G. W. Bush. 44 Dazu ausführlicher unten IV. 3.b). 45
Für die Wahl zum Repräsentantenhaus, dem einzigen Bundesorgan, das nach der ursprünglichen Verfassung direkt gewählt werden musste. galt die Bestimmung, dass die Qualifikationen für die Wähler nicht höher angesetzt werden dürften als für das ..populäre" Haus des jeweiligen Einzelstaates (Art. I §2 par 1 der Verfassung). Dem Kongress wurde lediglich das Recht eingeräumt, die von den Einzelstaaten geregelten ..Zeiten. Orte und
32
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
nung getragen. Der Bundesregierung wurde die Befugnis erteilt, Einfuhrzölle und Steuern zu erheben, eine Flotte und ein Heer zu unterhalten, die Milizen der Staaten zu beaufsichtigen (und nötigenfalls militärisch einzusetzen) sowie den Handel zwischen den Staaten und dem Ausland zu regulieren. Den Gipfel der Machtfülle bildete die berühmte Bestimmung, die es dem Kongress ermöglichte, alle Gesetze zu beschließen, die notwendig und angemessen („necessary and proper") seien, um die in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen wahrzunehmen (Art. I § 8 par. 18 der Verfa ssung ). Eine weitere Bes chrä nku ng der Einze lstaate n bildete das Verbot der Münzprägung und Papiergeldausgabe. Allerdings wurde damit erst ein gemeinsamer Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währungs-, Wirtschafts- und Außenhandelspolitik ermöglicht. Kompensation für den Verlust der einzelstaatlichen Souveränität sollte der Senat bieten, über den die Staaten Einfiuss auf die Gesetzgebung, den Abschluss von Verträgen und die Ernennung hoher Amtsinhaber nehmen konnten. Nicht mehrheitsfähig waren Anregungen, ein Organ („Council of Revision") zu schaffen, das Gesetze der Einzelstaaten und/oder des Kongresses auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen würde. Auch die Zuweisung dieser Funktion an den in der Verfassung vorgesehenen Obersten Gerichtshof fand keine Zustimmung. Essentiell für die Zustimmung der Südstaaten zur Verfassung war die Anerkennung der Institution der Sklaverei. Diese Akzeptanz wurde letztlich konkludent in drei Klauseln deutlich. Nach Art. I § 2 par. 3 der Verfassung sollten bei der Berechnung der Bevölkerungszahl im Hinblick auf die Zuteilung von Sitzen im Repräsentantenhaus „other persons" (womit Sklaven gemeint waren) als DreiFünftel-Personen gewertet werden. Weiterhin musste gemäß Art. IV § 2 par. 3 der Verfassung ein flüchtiger Sklave von den Behörden des Staates, in den er geflüchtet war, an seinen Herrn ausgeliefert werden. Zudem durfte der Import von Sklaven vom Kongress bis zum Jahre 1808 nicht verboten, jedoch ein Steuer von nicht mehr als 10 Dollar auf jede n impo rtierte n Sklaven erhoben werden (Art. I § 9 par. 1 der Verfassung). Die einzelstaatlichen Verfassungen dienten, wie bereits erwähnt, als wegweisender Erfahrungsschatz für die Inhalte der Bundesverfassung. Vorbilder etwa für die Gestaltung der Bundesgewalt mit einer Zweikammerlegislative, einer Einmannexekutive und einem obersten Gerichtshof waren insbesondere die Verfassungen 6 von New York und Massachusetts." Ar t" der Wahl en zu änder n (Art. I §4 par. 1 der Verfa ssung ). Vgl. auch K.L. Shell. Di e Verfassung von 1787. in: W.P Adams u.a. (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika. Bd. 1. 1990. S. 277 ff., 280 f. 46
Zum Ideengehalt der Einzelstaatsverfassungen: W. P. Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution. 1973. Siehe zu deren Einfiuss auf die Bundesverfassung auch H.G. Keller. Di e Quellen der amerikan ischen Verfass ung, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 16 (1953), S. 107 ff.
1. Eckpunkte
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
33
Die am 17 . Sept. 1787 verabsc hiedet e Verf assun g spiegelte letztlich den mühse lig errungenen Kompromiss zwischen Interessenlagen wider, die sich in einem materiell ausgerichteten Nord-Süd-Konflikt und einem grundsätzlichen, weitgehend ideellen Streit um etwaige Segnungen des Föderalismus oder eines ausgeprägten Zentralismus offenbarten. d)
Ratifizierung
und „Federalists" gegen
„Antifederalists"
Der Verabschiedung sollte nach dem Willen der Delegierten die baldige Ratifizierung folgen. Diese hätte sich bei Berücksichtigung der damaligen Rechtslage schwierig gestaltet. Die Kongressordnung sah nämlich prinzipiell Einstimmigkeit vor. welche angesichts der zahlreichen Kompromisse kaum zu erreichen schien. So beschloss man. die Zustimmung zur Verfassung nicht dem Kongress in New York, sondern eigens zu berufenden verfassunggebenden Versammlungen in den 47 einzelnen Staaten zu überlassen. Überdies sollten nach Art. VII des Verfassungsentwurfs bereits neun von dreizehn Ja-Stimmen die übrigen Staaten binden. Diese Taktik zahlt e sich aus. denn am 2. Juli 1788 wur de durch die Zus ti mm ung d es zehnten der dreizehn Gründungsstaaten die Verfassung ratifiziert. North Carolina und Rhode Island zögerten mit der Ratifizierung noch bis zum 21. November 1789 beziehungsweise 29. Mai 1790. Auch in New York galt es Widerstände ge48 gen den Verfassungsentwurf zu brechen. Wie unter einem Brennglas prallten dort die herausragenden Vertreter von Federalists un d Antifederalists aufeinander, die in einer geistig-ideologischen Auseinandersetzung das gemeinsame Fundament der Revolution in zwei Varianten des Republikanismus zu spalten wußten. Beide Seiten versuchten mit einer Flut von Flugblättern, Zeitungsartikeln, Reden und Pamphleten die öffentliche Meinung zu indoktrinieren. Die Antifederalists befürworteten dabei die Idee einer überschaubaren Republik in einem lockeren Staatenbund, ähnlich der Struktur, wie sie in den „Articles of Confederation"" vorgesehen war.
49
47
Gleichzeitig wurde, dem Beispiel aus Massachusetts folgend, allmählich das Volk als eigentlicher Souverän ins Spiel gebracht. 4S Hierzu ausführlich L.G. de Pauw , The Eleventh Pillar: New York and the Federal Constitution. 1966: R. Brooks, Alexander Hamilton. Melanchton Smith and the Ratification of the Constitution in New York, in: William and Mary Quarterly 24 (1967), S. 339 ff. 49 Unter Berufung auf Montesquieu widersprachen die Antifederalists der Auffassung, ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten könne problemlos als freiheitliche Republik geführt werden. Die neu geschaffenen Verfassungsorgane und Institutionen betrachtete man als potentielle Gefahr für die Bedürfnisse der Einzelstaaten und ihrer Bürger. Überdies wurde der bis dahin fehlende Grundrechtekatalog beklagt. Vgl. zu den Argumenten und Vertretern dieser Bewegung insgesamt J. T. Main. The Antifederalists. Critics of the Constitution 1781 -1788, 1961; C.M. Kenyon. Men of Little Faith: The Antifederalists on the Nature of Representative Government, in: William and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3 ff. Neuerdings S. Cornell. The Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition
34
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Demgegenüber stand das Modell der Federalists, die für das Modell einer ..Bundesrepublik" mit einer effektiven Zentralgewalt sowie für eine Stärkung und Expansion der Wirtschaft eintraten. Den theoretischen und intellektuellen Unterbau hierzu lieferten A. Hamilton, J. Madison und J. Jay, die unter dem gemeinsamen Pseudonym ..Publius" 85 Essays veröffentlichten, in denen sie die Bedeutung und Vorteile der Verfassung hervorzuheben suchten. Diese heute unter dem Titel „Federalist Papers" versammelten Schriften gelten zu Recht als eines der wichtigsten Dokumente zur Staatstheorie und zählen zu den Klassikertexten 51 im Verfassungsleben 50 , vielleicht sogar in literarischer Hinsicht. In deren Plädoyer für einen amerikanischen Bundesstaat lebt die damals geführte Diskussion wieder auf und es sind prinzipielle Überlegungen über die Probleme zu finden, die Einigungsprozesse von solcher Größenordnung aufwerfen. Zudem ist eine Stringenz der Argumentation zu erkennen, die verwundern muss, wenn man die Entstehungsgeschichte der „Papers"bedenkt: Sie waren zunächst schlicht eine Serie von Zeitungsartikeln, die etwa ein Jahr lang, nämlich 1787/88. in mehrtägigem Abstand in drei New Yorker Zeitungen erschienen, bevor sie zusammengefaßt als Buch publiziert wurden. Der Anlass für diese eifrige Publikationstätigkeit war, für die Ratifizierung der neuen, nunmehr bundesstaatlichen Verfassung zu werben. Es war nicht vorgesehen, die Verfassung per Volksentscheid zu ratifizieren, vielmehr oblag diese Aufgabe gewählten Konventen. Dennoch richteten sich die Artikel der Autoren ebenso wie die Artikel und Pamphlete der Verfassungsgegner unmittelbar an die interessierten Bürger; es wurde argumentiert, polemisiert, mit zahlreichen Mitteln der politischen Rhetorik um Zustimmung gerungen. Offenbar fand diese öffentlich geführte Kontroverse um die künftige Gestalt der Union auch die erwünschte Resonanz; sie erweckte Leidenschaften. Gerade mit Blick auf
in America. 1788-1828. 1999. Siehe7 Bde. auch 1977. die Textsammlung von (Hrsg.). The Complete Anti-Federalist,
H.J.Storing!M. Dry
50
Die Begrifflichkeit ..Klassikertexte im Verfassungsleben" prägte P. Häberle. Siehe ders., Klassikertexte im Verfassungsleben. 1981 sowie ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S.481 ff. 51 J. Gebhardt spricht in diesem Zusammenhang von einem „Iivre de circonstance. das dank des Formats seiner Autoren und des Erfolgs der vertretenen politischen Position schließlich einen hervorragenden Platz einnehmen sollte im literarischen corpus der amerikanischen Ziviltheologie", vgl . ders.. The Federalist (1787/88). in: H. Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. II. 5. Aufl. 1987, S.58 ff., 58. Textausgaben wurden u. a. herausgegeben von J.E. Cooke ( Hrsg.), The Feder alist, 1961; C. Rossiter (Hrsg.), The Federalist, 1961: B. F. Wright . The Federalist, 1961 - mit oft zitierter Einleitung; /. Kramnick (Hrsg.). The Federalist Papers. 1987. Deutschsprachige Übersetzungen editierten u. a. A. und W. P. Adams (Hrsg), Hamilton/Madison/Jay: Die Federalist Artikel. 1994 sowie F. Ermacora (Hrsg.), Alexander Hamilton. James Madison, John Jay. Der Föderalist. 1958. Zur politischen Interpretation der Federalist Paper vgl. D. F. Epstein. The Political The ory of the Federalist, 1984. Siehe auch amerikanischen Verfassung im Federalist, 1970.
K. von Oppen-Rundstedt. Die Interpretation der
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der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
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den europäischen Einigungsprozess ist es erhellend, wie eine von Leidenschaft getragene Einigung andere Kräfte freisetzt als ein Zusammenfinden, das auf mühsamen, kleinteiligen Gewinn-und-Verlust-Rechnungen beruht. Gleichwohl: Über die unmittelbare Bedeutung der Federalist Papers in der Auseinandersetzung um die Verfassung sind die Meinungen geteilt; New York jedenfalls wählte einen anti-federalistischen Konvent. Nachdem jedoch mit Virginia als zehnter Staat nach Massachusetts ein anderer großer Schlüsselstaat die Verfassung ratifiziert hatte, stand der Staat New York vor der Wahl, der Union fernzubleiben und eine Sezession der Stadt New York zu riskieren oder sich dem Druck der Umstände zu beugen. Der Konvent entschloss sich schließlich mit knapper Mehrheit für die Ratifizierung. Obwohl die Anti-Federalisten unter dem Strich den Kampf um die Verfassung verloren hatten, ging im Rahmen des erzielten Kompromisses ihre Idee vom republikanischen Kleinstaat ebenso in das amerikanische Selbstverständnis ein wie die einzelnen Prinzipien ihrer federalistischen Widersacher. Der Verdi enst der Federalist Papers lag weniger in deren tage spolitischem Erfolg als in der ideenpolitischen Langzeitwirkung auf das politische Selbstverständnis der amerikanischen Republik. Der Schritt zu einer neuen, die nationale Willensbildung und Entscheidungsfindung vereinfachenden Fasson staatlichen Zusammenlebens hatte sich zuletzt trotz oder gerade aufgrund der langatm igen Ratifikationsauseinandersetzung vollzogen. Einige der Staatsversammlungen hatten die neue Verfassung allerdings nur unter der Prämisse ratifiziert, dass G. Washington als erster Präsident den Beschluß eines Grundrechtekatalogs im Kongress durchsetzen würde. e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Menschenrechte: konstitutionelle „Morgendämmerung" - die Bill of Rights In ihrer Tragweite ist dabei die Verfassung Virginias vom 12./29. Juni 1776 kaum zu unterschätzen. Sie sollte die erste Verfassung sein, die den Schritt von traditionellen konstitutionellen Denkmustern zur Verfassungs-Moderne insoweit zu meistern vermochte, als sie erstmals Regeln der Staatsorganisation („Constitution or Form of Government") mit einem Menschenrechtskatalog („Virginia Bill of Rights" 52 ) verband. Die naturrechtliche Lehre von den unveräußerlichen
52 In Art. I der Erklärung heißt es: ..Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte (...] und zwar auf Genuß des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit. Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."(zitiert nach der Über-
setzung von W. P Adams, im Internet unter http://chnm .gmu.edu/d eclaration/germ an.html) . Hinzu kam en unter anderem Gewährle istungen der Pressefreiheit ( Art. 12) und der freien
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Menschenrechten und die Rechtsentwicklungen in England bildeten den geistigen Unterbau, um die bedeutendsten Freiheiten als allgemeine Bürger- oder Menschenrechte in einem Grundrechtskatalog zu konzentrieren und als positives Gesetz zu verkünden. 53 Es mag der damaligen Mentalität der Siedler, ihrem ausgeprägten Unabhängigkeitssinn und deren gewachsenem Streben nach Glaubensfreiheit zuzuschreiben sein, dass sich eine beispiellose Offenheit für zeitgenössische Staatsphilosophie beobachten ließ, die schließlich in deren konkreter Umsetzung mündete. Laut O. Vossler sieht der Amerikaner „im Mayflower Compact, in den Covenants von Connecticut [... 1 wirklich durch Vertrag Staaten entstehen, ihm ist in allen diesen Punkten das Naturrecht gar nicht Theorie und Literatur, sondern 54 fassbare, sichtbare, lebendige Wirklichkeit." Zwar steht die Menschenrechtserklärung von Virginia noch außerhalb, also formal getrennt von der „Constitution or Form of Government". Jedoch sollte es nicht lange dauern, bis es zu der Verschmelzung beider Bestandteile kam. In der Verfassung Pennsylvanias vom 28.9. 1776 wurde erstmals diese für das spätere Verfassungsverständnis wesentliche Verbindung formuliert: „We [.. . ] do ordai n. declar e and estab lish the foll owin g Declara tion of Rights and 55 Frame of Government, to be the Constitution of this commonwealth."
Die Staaten Virginia, New York und Massachusetts waren es dann auch, die eine Annahme der Bundesverfassung von der Bedingung abhängig machten, dass 56 Grundrechte dauernde Berücksichtigung fänden. So kam es schließlich, dass
Religionsausübung (Art. 16). Siehe zu den ersten amerikanischen Entwürfen von Grundrechtskatalogen bereits H. Hägermann , Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den ersten amerika nisc hen Staats verf assun gen. 1910. Vgl. auch B. Schwanz. The Great Rights of Mankind. A History of the American Bill of Rights. 1977: R.A. Rutland. The Birth of the Bill of Rights . 1 77 6- 17 91 . 1955. 53
Bereits das Massachusetts Body ofGeneral Liberties von 1641vonenthielt ein detailliertes Bekenntnis zu Individualrechten. In den Fundamentals New Plymouth aus dem Jahre 1671 wurd e die Glei chhei t vor dem Gese tz und in der Rechtsp rech ung, die Achtung von Leib. Leben. Freiheit, gutem Namen und Besitztum sowie die Glaubens-, Gewissensund Kultusfrreiheit für unverletzlich erklärt, vgl. dazu R. Zippelius. Allgemeine Staatslehre. 13. Aufl. 1999. S. 329: J. Hatschek. Allgemeines Staatsrecht. Bd. II. 1909. S. 133 f. 5-1 O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrechte, in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschi chte der Erklärung Mens chenre chte und G rundf reihe iten. 1964 (2. Aufl. 1974). S. 166 ff. . 180 f. 55
Vgl. ..The Constitution of Pennsylvania", zitiert nach S.E. Morison (Hrsg.), Sources and Docume nts Illustrating the America n Revolution 17 64 -1 78 8, 2. Aufl. 1929 , Neudr. 1953, S. 162 f. 56 Bis 1780 schufen lediglich sechs Staaten Grundrechtserklärungen (Virginia. Delaware. Pennsylvania. Maryland. North Carolina, Massachusetts). Inhaltlich gab es hierbei erhebliche Differenzen. So war die Frage nach dem konkreten Inhalt von „Freiheit" nicht eindeutig im Sinne einer allgemeinen Übereinstimmung zu beantworten. Freiheit als politische Partizipation war nicht gleichmäßig verwirklicht; in fünf Staaten waren beispielsweise nur Protestanten amtsfähig. Das Gleichheitsprinzip der Unabhängigkeitserklärung war
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Herrschaftsordnung und Grundrechte in der westlichen Verfassungstradition seit der Einbeziehung der Ten Amendments als „Bill of Rights" in die amerikanische Verfassung im Jahre 1789 57 (ratifiziert 1791) eine untrennbare Einheit bilden und 58 nicht hinweg zu denkender Bestandteil moderner Verfassungen sind. Selten wird darauf verwiesen, dass im Prozess der amerikanischen Verfassunggebung 1787/88 die Föderalisten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte eintraten. 5 " Hamilton, Madison un d Jay, betonten in den gemeinsam von ihnen verfassten Federalist Papers, Gerechtigkeit und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche Abwehrrechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen. das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere: ..Hier müssen wir |... ] letzten 6 Endes das einzige solide Fundament für alle unsere Rechte suchen." " Bekanntlich konnten sich die Föderalisten mit diesem Ansatz nicht durchsetzen. Auf Druck der Anti-Föderalisten wurde bald nach Verfassungsannahme ein Grundrechtskatalog entworfen, die Bill of Rights, für die die amerikanische Verfassung berühmt geworden ist. Der „Vorabend" der Bundesverfassung nahm unter dem Gesichtspunkt der Verknüpfung dieser heute untrennbar erscheinenden Elemente also durchaus den Zeitraum bis 1789 in Anspruch. Das Jahr 1791 mag als die „Morgendämmerung" einer modernen Verfassung bezeichnet werden, die der englischen Tradition von der Magna Charta 1215 über die Petition of Right 1627, die Habeas Corpus Act 1679 und die Bill of Rights 1689 folgend strukturell und inhaltlich schon ein Stück in die Zukunft enteilt war. vordergründig gegen England gerichtet und zunächst nicht zur unbeschränkten inneren Umsetzung bestimmt. Überdies fand es nur in drei Grundrechtserklärungen Berücksichtigung. Vgl. hierzu W.P.Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der Amerikanischen Revolution. 1973. Der Kongress verabschiedete am 25. September zunächst zwölf Verfassungszusätze (.Amendments). von denen die Bundesstaaten letztlich zehn bestätigten. Einzelheiten zu den Amendments unten ausführlich IV. 1. a) Zur Geschichte der amerikanischen ..Bill of Rights" vgl. aus neuerer Zeit das sehr umstrittene Werk von L IV. Levy, Origins of the Bill of Rights. 1999. Die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Fortentwicklung bespricht A. ReedAmar. The Bill of Rights: Crea tion and Reconstr uction, 1998. Sie he auch C.R. Smith. To form a more perfect union. The ratification of the Constitution and the Bill of Rights, 178 7- 17 91 , 1993 . 58
Vgl. auch K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. 1984. S. 65: W. Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999. S. 26. Anders freilich
W. Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in:
Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg. Heft 3/1994. S. 22 ff. 60
Vgl. The Federalist No. 84 (Hamilton).
38
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Die Verfassung und die Bill of Rights erzeugten so eine Balance zwischen zwei gegensätzlichen, aber grundlegenden Aspekten der amerikanischen Politik - der Notwendigkeit einer starken, effizienten Zentralgewalt und der Maxime, die Rechte des Einzelnen zu schützen. Die beiden ersten politischen Parteien spalteten sich entlang dieser Linien. Die Föderalisten bevorzugten einen starken Präsidenten und eine Zentralregierung. Die Demokratischen Republikaner verteidigten die Rechte der einzelnen Staaten, denn dies schien mehr regionale Kontrolle und Verantwortung zu garantieren. Eine Auseinandersetzung, die der Konfliktsituation unter den Delegierten des Verfassungskonvents gewissermaßen konsequent nachfolgte. Der ents tand ene Verfassung sstaat auf der Grund lage des Dokume nts von 1787 war zunächst von Geburtswehen begleitet, die beschwerlicher zu sein schienen als die der abgelösten Konföderation. Insbesondere brach der reformierte Staat, der sich eigentlich erst jetzt als in sich geschlossene Nation betrachten konnte, weit deutlicher mit den politischen Strukturen der vorhergehenden Periode. Setzt man einen Vergleich mit 1776 an. so lässt sich feststellen, dass damals die Kolonien zwar den einschneidenden Schritt zur Unabhängigkeit getätigt hatten, allerdings Verwaltung und Staats Verständnis lediglich Modifiz ierun g erfa hren durft en. 1787 wurde hingegen ein erstes klares Bekenntnis zur Moderne des Staatswesens abgegeben, indem die durch Generationen hindurch bewahrte Tradition der relativen Selbständigkeit der Einzelterritorien durchbrochen und das Volk der Vereinigten Staaten zum tatsächlichen, obersten Souverän berufen wurde. 5.
„We, the People" - Souveränit ät (in ) der US-Verfassung
Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste noch gültige schriftliche 62 Verfassung der Welt. 61 Bereits in den ersten drei Worten der Präambel manifestiere n sich Herkunft, F undament und Auftrag dieses Werkes. „We the Peop le[. .. 1" ist mehramerikanischen als lediglich derVerfassungsdenkens Ausdruck des Demokratiegedankens, der63freilich zu denwird als Säulen zu zählen ist. Das Volk 61
Profunde Darstellungen der amerikanischen Verfassungsordnung bieten etwa R. IV. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change and Relevance of Supreme Court Decisions. 1992. S. 1 ff., 7 ff.: D.P. Currie, Die Verfassung der Verei nigten Staaten von Amer ika , 1988. S. II ff. ; J.E. Nowak! R.D. Rotunda, Constitutional Law. ö^ed. 2000. ch. 1,2,3.12.20: LH. Tribe, American Constitutional Law. 3* ed. 2000. 62 Die Präambel der amerikanischen Verfassung wird beispielsweise umfassend erläutert von M. Adler! W.Gortnan, The American Testament. 1975, S.63ff. Den Zweck. Inhalt und Sinn von Präambeln in ihrer Verbindung mit Verfassungen erläutert rechtsvergleichend P. Häberle, Verfassun gslehre als Kultur wisse nschaf t. 2. Aufl. 1998. S. 920 ff.; vgl. auch ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J.Listl/H. Schambeck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und Bewährung. Festschrift für J.Broermann. 1982, S. 211 ff. Siehe auch B.Ackerman, We the People I: Foundations. 1991. 63 Zum Demokratieprinzip ausführlicher unter IV.3.e).
1. Eckpunkte
39
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
Träger der verfassunggebenden Gewalt festgeschrieben. in dieser Form erstmalig Einzug in eine moderne Verfassung hielt"
64
Diese Bezugnahme, die 5 , impliziert
aber auch die Billigung und Prägung durch die Bürger eines Landes, in diesem Fall sogar den Hinweis auf die revolutionäre Vorgeschichte, und entfaltet schließlich identitätsstiftende Wirkung. Gleichzeitig wird der Schaffende zum Adressaten. Wobe i der Begri ff des „Sc haf fe nde n" weit zu verstehen is t: eine Legitim
ation
durch eine Volksabstimmung gab es nämlich ebensowenig wie zu den meisten 66 folgenden Verfassungsentwürfen anderer Länder. Die Volkssouveränität fand zw ar von Beginn an
in der ame rik ani sch en Ver fas sung ihre
theor etis che Veranke-
rung; 6 7 sie entfaltete sich hingegen inhaltlich und in der Wahrnehmung erst eine Generation später, da die Verfassungsväter keine Demokraten im eigentlichen Sinne waren. Sie zählten zu der konservativen Oberschicht, die von einem tiefen 68 Misstrauen gegen jegliche Volksherrschaft gekennzeichnet war. Dennoch stand
64
So hat auch der US-Supreme Court bereits früh festgestellt, dass die Verfassung ein Akt des Volkes und nicht von souveränen und unabhängigen Staaten geschaffen war, vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat.) 316. 403 (1819): Chisholm v. Georgia. 2 U.S. (2 Dali.) 419.471 (1793); Martin v. Hunters Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304. 324 (1816). 65 Schon seit der Antike wurden mit dem Begriff der ..Verfassung" die unterschiedlichsten Inhalte in Verbindung gebracht. Es herrschte insoweit Einigkeit als ein Staat, wolle er nicht in Anarchie verfallen, sich an bestimmte Ordnungsvorstellungen halten müsse. Freilich handelte es sich hierbei oftmals lediglich um die Fixierung real vorhandener Machtverhältnisse und obrigkeitlich gesetzter Ordnungen, die alleine auf dem Willen eines Herrschers oder vertraglichen Absprachen beruhten. Es konnte weder von einer Ordnung des gesamten Staatswesens noch von einer Einbeziehung übergeordneter, unabänderlicher Prinzipien die Rede sein. Diesbezüglich war Verfassung alleine „institutio" und nicht „constitutio", vgl. auch G. Jellinek . Allgem eine Staatslehre. 3. Aufla ge 1914 (Neudr. 1960). S. 505, 521; K. Stern. Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: G.Müller u.a. (Hrsg.). Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, Festschrift für Kurl Eichenberger zum 60. Geburtstag. 1982, S. 197 ff.. 200. Zum Verfassungsbegriff unten ausführlich unter B.II.2.f)nn). 66
Eine Ausnahme bildet freilich etwa die Schweiz. Zu Volksabstimmungen siehe allgemein aus dem deutschsprachigen Schrifttum H. Schneider. Volksabstimmung in der rechts staatl ichen Demokratie, in: O. Ba cho f/ M. Dra th/ O. Gönn enw ein/ E. Walz (Hrsg.), Ged äch tnis sch rif t für Walter Jell inek. 1955, S. 155 ff.; K. Hernekamp, Formen und Verfahren direkter Demokratie, 1979: J. Gebhardt. Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungssstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1991. B23. S. 16ff.; W.Schmitt Glaeser. Die Antwort gibt das Volk, in: P. Badura/R.Scholz (Hrsg.). Festschrift für Peter Lerche. 1993. S. 315 ff. Vgl. auch H. K. Heußner. Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland. 1994 sowie R. Grote. Direkte Demokratie in den Staaten der Europä isch en Uni on, in: Staat s Wissens chaft und Staatspr axis, 1996. S. 317 ff. 67
Zu den Inhalten und Elementen des damaligen Souveränitätsverständnisses C. Rossiter. Th e Political Thou ght of the Amer ica n Revol ution, 1963, S. 170 ff., 185 ff.; siehe auch J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat: Institutionen und Prozesse eliedstaatlicher Interessenwahrune in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1992. S. 26 m. w. N. 68 Vgl. K. Loewenstein (1959), S. 8 f.
40
B. Verfassungser weckung und Verfassungsbest ätigung
und steht die Souveränität des Volkes in der Folge im Mittelpunkt aller Betrachtung. Anwendung und Gestaltung der Verfassung. Bestätigt und gestärkt durch die amerikanische Verfassungsgeschichte, begrenzt durch das Bewußtsein, nicht der Mensch, sondern das Recht übe letztlich die Herrschaftsgewalt aus. 6.
Eine (ge)zeitenfeste
Verfass ung
Ursprünglich für einen Agrarstaat mit einer Gesamtbevölkerung von weniger als vier Millionen Menschen konzipiert, gilt die Verfassung mittlerweile in einem 6 Staat, dessen Bevölkerung sich seit 1789 mehr als versechzigfacht hat '' und der selbstbewußt für sich den Standort der Wiege des Fortschritts in Anspruch nimmt. Tatsächlich entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer hochindustrialisierten, beherrschenden Weltmacht - und dies mit einer in ihren Kerngehalten wenig revidierten Verfassung. Die Grundentscheidung der Verfassungsväter, nur 70 die fundamentalen Grundsätze durch die Verfassung selbst zu regeln , hat sich möglicherweise auch angesichts dieser Entwicklung bewährt. Menschen. Institutionen. Organe und Machthaber mussten - vielleicht durften - sich mehr als zwei Jahrhunderte an einem nahezu unveränderten Verfassungstex t orie nt ier en . Veränd erunge n des Wertebew ußtse ins, System Wechs el, außen und innenpolitische Neuordnungen fanden gerade nicht ihren Niederschlag in gänzlich neuen Verfassungsentwürfen. Die Flexibilität eines konzentrierten, gestrafften Werkes ist demzufolge Ursache und Messlatte der Dauerhaftigkeit dieser Verfassung, die lediglich 4400 Worte umfasst und damit die kürzeste aller geschriebenen Verfassungen ist. Im Zuge der Verfassungsbestätigung der vergangenen 200 Jahre hat sich in den Vereinigten Staaten von Amerika ein mitunter ritualisierter Verfassungspatriotismus ausgebildet. Neben idealisierten Darstellungen des Gru ndk ons ense s von 1787 und der darauf beru hen den verfassungsre chtlich en Grundentscheidungen des historischen Verfassungsgebers istCurrie wohl hat auchdiese dies Entscheidung auf die Knappheit des Textes zurückzuführen. Nach „erheblich zur gesunden und weit verbreiteten Auffassung beigetragen, dass die Verfassung ewige und heilige Vorschriften enthält, an denen man nicht ohne zwin71 genden Grund rütteln sollte. " Auch in England als Wunderwerk menschlichen
69 Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung im Jahr 1990 insgesamt 248.709.873 Einwohner. Alle neueren Daten sind ein Ergebnis der Fortschreibung der Statistik. Der Fortschreibung zufolge ist die Bevölkerung allein bis zum 1.7. 1998 auf 270 Mio. angestiegen. 70 So auch der Supreme Court in seinem berühmten Urteil McCulloch v. Maryland. 17 U.S. 316 (1819). 71 D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S.78. Vgl. auch J. Annaheim (1992). S. 24.
1. Eckpunk te der US-am erika nischen Verfas sungsentwic klung
Geistes gerühmt 72 , wurde die Verfassung in den Vereinigten Staaten laut 73 mehr und mehr zum „Objekt eines irrationalen Staatskults" . 7.
Wendepunkte
41
Fraenkel
amerikanischer
Verfassungsgeschichte - Strukturierungsansätze
Bei aller mythischen Verklärung darf jedoch nicht vergessen werden, wie erbittert sich das Ringen um die Unionsverfassung gestaltete. Im übrigen bis in die heutige Zeit: eine äußerlich überwiegend statisch anmutende Verfassung ist freilich auch stetem Wandel unterzogen, selbst wenn sich dies lediglich in veränderten Auslegungskriterien eines gewandelten gesellschaftlichen Umfelds und nicht oder nur selten in textlichen Modifikationen äußern sollte. Die heute so unverrückbar erscheinende amerikanische Verfassung war das Ergebnis zahlreicher Kompromisse, wobei der Gedanke des Kompromisses als konstitutives Strukturprinzip oder als politi sche Lebensfo rm 7 " das amerikani sche Verfassungsde nken in erheblichem Masse beeinflusst hat. 75 Insgesamt ist es kaum abwegig, der amerikanischen Verfassungsentwicklung bei aller scheinbaren Unbeweglichkeit der Verfassung gewisse Wendepunkte zuzuordnen, die ihrerseits Abbild einschneidender gesellschaftlicher, vielleicht kultureller Veränderungenwaren. Der Ve rsuch, die amerikanische Verfassungsgeschichte einer Strukturierung zu unterziehen wurde mehrmals unternommen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen, die freilich differierenden Grundausrichtungen der jeweiligen Forschungsvorhaben entspringen. 7 Der vergleichende Blick auf die Verfassungsentwicklung Europas soll eine Auseinandersetzung mit den verfassungsbezogenen Wendepunkten in den Vereinigten Staaten rechtfertigen. Verfassungsbestätigung erfährt damit 72
So bezeichnete
W.E. Gladstone, in: The North American Review. Sept. 1878. S. 179
die Verfassung als ,,[...]the most wonderful instrument ever Struck off at a given time by the brain and purpose of man." Vgl. auch E. S. Corwin. Sonic Lessons from the Constitution of 1787. in: R. Los s (ed. ). Cor wi n on the Con sti tut ion . Vol. I 1981, S. 15 7 ff., 164 f. 73
E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 3. Aufl. 1976, S. 21. Siehe auch C.M. Kiene. Zur Einführung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8. 74 Diesen Terminus gebraucht, auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten. R. Zippelius in seiner ..Allgeme inen Staats lehre ", 13. Auf lage 1999. S. 233 ff., 432. 75 Diese Vorstellung des Kompromisses bildet den Leitgedanken bei der Betrachtung des amerikanischen ..Verfassungscharakters", vgl. unten B.I.9. 76 In diesem Zusammenhang von ..kulturellen Veränderungen" zu sprechen ist mit der Gefahr der Widersprüchlichkeit verbunden. Eine Kultur schöpft ihre Wesensmerkmale aus der Kraft immanenter Veränderung. Die umfassendste Bibliographie der amerikanischen Verfassungsgeschichte stammt von K.LHall, A Comprehensive Bibliography of American Constitutional and Legal History. 18 96 -1 97 9, 5 Vol. 198 4. Siehe auch EM. McCarrick. U.S. Constitution: a Guide to Information Sources. 1980: A. T. Mason. American Constitutional Development. 1977; S.M. Millen. A Selec ted Biblio graphy of Ame ric an Constitution al History. 1975.
42
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
sowohl eine Begrenzung als auch eine Erklärung hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von „verfassungserstarkenden" Elementen. Letztere sind durchaus in einigen verfassungsgeschichtlichen Wendepunkten zu sehen. Ob sie letztlich ihre Entsprechung in der kürzeren gemeineuropäischen Verfassungsentwicklung finden, wird 78 am Beispiel der europäischen Wendemarken aufzuzeigen sein. Lassen sich nun allgemein verfassungsgeschichtliche Wenden konstruieren, die sich in allen rückblickenden Betrachtungen moderner Verfassungen zwangsläufig einstellen müssen, sobald eine gewisse gesellschaftspolitische, soziale oder kulturelle Veränderung Platz gegriffen hat? K. Loewenstein teilt die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten von der Gründung der Union bis zu den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in drei Abschnitte, wobei sich der erste von der Etablierung der Republik bis zur Rekonstruktionsperiode nach Abschluss des Sezessionskrieges erstrecken sollte, der zwei te von dies em Zeitpu nkt bis zur große n Depres sion 1929 reicht e und schließlich der dritte die Zeitspanne vom Roosevelt'sehen New Deal bis zur Gegenwart umfasse. 79 Eine andere Einteilung nimmt J. Annaheim unter dem Aspekt der Entwick80 lung des amerikanischen Föderalismus vor. Dieser Ansatz soll aufgrund der bestimmenden Rolle des Föderalismus im amerikanischen Verfassungsdenken Berücksichtigung finden. Demnach ist von der Gründungszeit bis zur Gegenwart eine grobe Dreigliederung vorzunehmen, die sich zunächst an den Begriffen „dual federalism" und .kooperative federalism" sowie abschließend etwas flach an der 81 „neueren Entwicklung" ausrichtet. Der „dual federalism" erfährt noch eine abgestufte Betrachtung, indem zwischen „Aufbau" (1789-1861) und „Bewährung" (1861-1933) unterschieden wird. Ähnlich wird der „cooperative federalism" in „Grundlegung" ( 1933-1941) und „Ausdifferenzierung" (1941-1960) sowie die „n euere Entwicklung" in „p räsid entie llen Reformföderalismus" ( 196 0-1 980 ) und „Aufgabenreform der achtziger Jahre" gestaffelt. Eine vergleichbare Aufgliederung nach Entwicklungsstadien des amerikanischen Föderalismus nimmt A. B. Gunlicks vor. 82 7S
Hier/u unten B. II. und zusammenfassend unter B.V. 1. K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 16. 80 Siehe J. Annaheim (1992), S. 38 ff. 79
81 Das neue Schlagwort in der amerikanischen Föderalismus-Debatte ist die sogenannte „devolution revolution"; vgl. hierzu A.B. Gunlicks. Föderative Systeme im Vergleich: Die USA und Deutschland, in: H.H. von Arnim (Hrsg.). Föderalismus - hält er noch, was er verspricht?: seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch im Lichte ausländischer Erfahrungen. 2000. S.41 ff.. 55 ff.. J. Kincaid. De Facto Devolution and Urban Defunding: The Priority of Persons over Places. in: 21 Journal of Urban Affairs (1999) no. 2. S. 135 ff. 82
Vgl. hierzu A.B. Gunlicks (2000), S.41 ff. und ders., Prinzipien des amerikanischen Föderalismus, in: P. Kirchhof/D. Kommers (Hrsg.). Deutschland und sein Grundgesetz: Themen einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993. S.99ff.
1. Eckpunkte
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
43
Der Nachteil einer lediglich an den Erscheinungsformen des Föderalismus orientierten, gegliederten Verfassungsgeschichte wird offensichtlich, wenn man eine Einbeziehung des ersten Adressaten der Verfassung in diese Konstellationen anstrebt. So gibt es verfassungsspezifisc he Wendema rken, welche die Bevölkerung, letztlich die Gesellschaft tatsächlich aufzuwühlen und zu prägen vermochten, die von anderer Qualität waren als solche, die sich nur am Zusammenspiel der Kräfte des Bundes und der Einzelstaaten ausrichteten. D. P. Currie wagt in diesem Sinne einen anderen Blickwinkel auf die EntwickS3 lung des amerikanischen Verfassungsrechts. Demnach soll es in der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten bislang sechs „große Wenden" gegeben haben: „die erste umfaßte die Unabhängigkeitserklärung, den Revolutionskrieg, und die erste Verfassung, die Articles of Confederation: die Gründung einer neuen Nation. Die zweite war die Vers tärku ng des Bun des durch die An na hm e der jetz igen Verfassung im Jahre 1788 und ihre weite Auslegung durch den Supreme Court während der Amtszeit des großen Chief Justice John Marshall. Die dritte war die Begrenzung der Macht der Einzelstaaten durch die ,Civil War Amendments' nach dem Bürgerkrieg, die vierte die richterliche Umwandlung des 14. Amendment von einer Vorschrift zur Gleichbehandlung der Schwarzen in eine Waffe gegen den Sozialstaat. Die fünfte war die Abschaffung der Schranken der Kompetenzen der Staaten und des Bundes im wirtschaftlichen und sozialen Bereich während der .New Deal" Revolution der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Seit der sechsten Wende hat sich der Supreme Court immer stärker für die Durchsetzung der Grundrechte, den Schutz der Minderheiten und die Integrität des demokratischen Proz esse s einges etzt - wie Chief Justic e H.F. Stone schon 1938 vorauss agte. " 84 Eine „siebte konservative Wende" erwägt Currie schließlich durch den Umstand, das s seit 1969 vier repub likan ische Prä side nten zehn neue Richter zu m Sup rem e Court teils mit dem ausdrücklichen Ziel ernannt haben, eine konservative Wende herbeizuführen.
85
Obgleich sich über die Auswahl der einzelnen „Wenden" trefflich streiten ließe, zeigt Curries Ansatz, dass der amerikanischen Verfassung auch, aber nicht ausschließlich durch die Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des Föderalismus Gestalt verliehen wurde. Vielmehr wird eines deutlich: die Verfassungsentwicklung wurde und wird im Wesentlichen durch die Entscheidungen des Supreme Court angestoßen, in ihrer Linie bestätigt und gelegentlich neu ausgerichtet. Jedoch nicht ausnahmslos - insbesondere die politische Praxis sowie der amerikanische Amendment-Process nach Art. V der Bundesverfassung darf 83
D.P. Currie. Neuere Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht, in: JÖR 46 (1998). S. 511 ff. 84
D.P. Currie (1998), S. 511 f.
Vgl. D.P Currie (1998), S. 512, 524.. der im Ergebnis eine siebte Wende lediglich angedeutet sehen will. 85
44
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
bei einer Bestandsaufnahme der Umbrüche einer Verfassung nicht außer Acht bleiben. Insofern soll Currie bereits an dieser Stelle leise widersprochen werden. B. Ackermann hat kürzlich die Diskussion bereichert, indem er drei „U.S. constitutional regimes" benannte, die in ihrer Abfolge bedeutende „transformations" hinzunehmen hatten. Sh Das erste „Regime" sei mit der Gründung der Union geschaffen worden, das zweite in der Phase der „Reconstruction" und das dritte während des „New Deal" entstanden. Diese Ansicht kann für sich beanspruchen, im internationalen Kontext zeitliche Parallelen zu finden. Das erste „Regime" ist Teil eine s Rahm ens, der sich Ende des 18. Jahr hun derts transa tlantisch um die Inhalte demokratischer Revolutionen und die Niederlegung von Menschen87 rechtskatalogen (Virginia 1776, Frankreich 1789) setzen lässt. Die Periode der „Reconstruction" (1865-77) wird gerne mit den Ereignissen in Europa im Jahre 1848 verglichen 88 , wobei diesbezüglich nicht der zeitgleiche Moment, sondern der Blick auf den Fortgang einer Generation ausschlaggebend sein soll. Für diesen gewagten Blickwinkel spricht immerhin, dass die geistigen Grundlagen beider Zeiträume unmittelbar nicht von Erfolg gekrönt waren, jedoch langfristig substantielle Auswirkungen auf die Ideologie demokratischer Staatsführung hatten. Zu der Verfassungskrise während der Zeit des „New Deal" lassen sich durchaus Analogien zu den Entwicklungen etwa in Australien und Kanada ziehen, wo die ökonomischen Auswirkungen der Depression ähnlich wie in den Vereinigten Staaten zu bemerkenswerten Innovationen in den Regierungs- und Verwaltungsorganisationen führten. Überdies offenbarten die höchsten Gerichte dieser Staaten ähnliche Argumentationsmuster in ihrem Widerstand gegen die Wirtschaftsmisere.Die Verfassungskrisen in Argentinien und Weimar führten freilich bekanntlich zu anderen Ergebnissen. Ein nüchterner Blick auf die historischen Grunddaten der amerikanischen Verfassungsentwicklung und ihrer Bestätigung kann vielleicht einen Beitrag zur Entwirrung des „Wendengeflechts" leisten. Die implizite Verknüpfung mit den kulturellen Spiegelungen und Wirkungen einer lebenden sowie sich bewährenden Verfassung soll den sich stets erneuernden Bedeutungszusammenhang von Tradition und Moderne auch in diesem Kontext sichtbar werden lassen.
86
B. Ackermann, We the People, Vol. *' Siehe dazu das klassische Werk 2 Bde. 1959.
2: Tran sfor mat ions , 1998. R. R. Palmers, Age of Democratic Revolutions,
Vgl. nur M. Tushnet. The Possibiliti es of Com par ati ve Const itut ional Law. in: 108 Yale Law Journal (1999). S. 1225 ff. 89 Vgl. M. Tushnet (1999), ebenda.
1. Eckpunkte 8.
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung Konstitutionell
45
e Selbstfin dung
und kulturelle Selbstverwirklichung
Die amerikanische Verfassung hat. neben der Unabhängigkeitserkläru ng als das wahrscheinlich wichtigste, definitorische Element der amerikanischen res publica, im Laufe der eigenen, amerikanischen Geschichte kontinuierlich als Bezugspunkt 1 gedient. Etwas Analoges hat es beispielsweise in Deutschland nicht gegeben." Greift man das oben angeführte Bild der verfassungshistorischen „Wenden" wieder auf, so lassen sich die beschriebenen Schritte von den einzelstaatlichen Verfassungen zu einer bundesstaatlich ausgerichteten, übergeordneten Verfassung in der Gestalt von 1787 sow ie die anschließe nd erfolgte Einb ettung der Grundrechte als erste Wendepunkte markieren. Dabei soll die Wegstrecke konstitutioneller Selbstfindung vom Mayflower Compact91 bis zur Verfassung Virginias als eigentlicher Ausgangspunkt dienen. Die kühne Feststellung der „konstitu tionellen Selbstfindung" geht Hand in Hand mit der kulturellen Selbstverwirklichung einer Bevölkerung, die sich die Unabhängigkeit 1776 nicht nur auf dem Papier, sondern im Herzen erstritten hatte. Amerikanische Kultur beginnt demzufolge nicht erst mit der Declaration of Independence oder den letztlich erfolgreichen Bemühungen um eine Verfassung. Sie findet vielmehr hierin ihre ersten Höhepunkte. Die Asomnie amerikanischen Verfassungsdenkens und -lebens über mehr als zweihundert Jahre ist ebenso Zeugni s positiven Auslegungsgeb arens wie gelegentliches Abbild eines herausgeforderten Aktionismus. Verfassungsgeschichte muss 92 in den Vereinigten Staaten als Verfassungsgegenwart angesehen werden. Die neue Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union bildeten das „supreme law of the land", das Vorrang vor den einzelstaatlichen Verfassungen 90
In den als zweihundert Jahren der amerikanischen V den erfassung, Deutschland das Ende des mehr Heiligen Römischen Reichs gesehen, den Rheinbund, Deutschen hat Bund. 1848. später den Nordd eutsc hen Bund, die Bisma rck 'sc he Reichsv erfa ssung v on 1871. die Weimarer Verfasssung. die Rechtlosigkeit und Willkürherrschaft des Dritten Reichs, die Besatzungszeit, zwei Verfassungen der DDR und das Grundgesetz. Vgl. auch zu dieser Gegenüberstellung G. Casper . Die Karlsruher Republik. Rede beim Staatsakt zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 28. September2001 in Karlsruhe. http://www.bverfg.d e/texte/deutsch/ak tuell/Casper.html . 91 Vor der Landung des berühmten Segelschiffs am 21. 11. 1620 bei Cape Cod schlössen 41 Män ner aus den Reihen der Pilge rväte r den Mayflower Compact, in dem sie sich zur Aufrichtumg einer gesetzlichen Ordnung in der zu gründenden Siedlung Plymouth verpflichteten. 92 Ähnlich K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staate n. 1959. S. VII. Frederick W. Turner III sagte 1971 in einem Vorwort zur Neuauflage von C.A. Eastman IE. Eastman. Indian Boyho od. 1902: „Di e Ges chic hte existiert fü r uns nicht bis und nur wenn wir sie ausgraben, interpretieren und zusammenstellen. Dann wird
die Vergangenheit lebendig, oder, akurater ausgedrückt, dann wird deutlich, was Geschichte schon immer gewesen ist - ein Teil der Gegenwart."
46
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
und Gesetzen hatte. Dies ermöglichte der Zentralregierung die nötige coercive power gegenüber den Einzelstaatsparlamenten, die Madison und Hamilton als unabdingbar für die innere Stabilität der Union erachteten. Auch P. Häberle 93 verdeutlichte, in einer Verfassung seien nicht lediglich blanker juristischer Text oder normatives „Regelwerk", „sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen" zu sehen. Die Väter der Verfassung orientierten sich aber nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der Zukunft ihrer Nation. Sie waren sich bewußt, dass die Regierungsstruktur auf die Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausgerichtet sein musste. Artikel V der US-Verfassung gibt hierfür beredtes Zeugnis. Trotzdem ist auch im Rahmen zeitgemäßer Interpretation darauf hinzuweisen, dass hinter der heutigen Verfassung eben auch die Begriffe, Denkweisen, Hoffnungen
94
und Ängste der ursprünglich verfassunggebenden Generation des 18. Jahrhunderts stehen. 95 Insoweit ist die Verfassung aber Mahner an die Tradition wie im ähnlichen Maße regulierende Barriere für allzu modernistische Bestrebungen. Zusammenfassend wäre es also verwegen zu behaupten, die amerikanischen Verfassungen nach 1776 faßten lediglich in Worte, wie man in Amerika glaubte, dass die britische Verfassung hätte geraten müssen. In fortwährendem Rückgriff auf ihre Wurzeln und Ursprünge erlangte die amerikanische Nation mit der Verfassung neben einem Instrument der Selbstinterpretation eines der (kulturellen) Selbstverwirklichung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit dem Inkraf ttreten der Verfa ssung von 1787 zunäc hst ein grundsätz lich neuer Verfas sungsbegriff am Ende einer Entwicklung und am Anfang eines Siegeszuges eines in sich wachsenden „Exportartikels" stand. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die amerikanische Verfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat der Erfahrung gefolgt ist, statt sie zum Ausfluss einer Idee zu machen, die die 96 Wirklichkeit umgestalten sollte. Die amerikanische Verfassung ist Ausdruck der Selbstbestimmung und nationalen Einheit des Landes und verobjektivierte den Willen ihrer „founding fathers". Sie kann in ihrer ursprünglichen Gestalt als Resultat einiger wesentlicher Einflussfaktoren betrachtet werden: als Erwiderung der vorhersehbaren Schwächen des amerikanischen Staatenbundes unter den Articles of Confederation; als An93
Siehe
P Häberle, Verfassu ngslehre als Kultur
wisse nschaf t. 2. Aufl. Berlin 1998.
S. 83. w
Hier/u ausführlich unter B.IV. l.a)aa).
95
Ähnlich P. Hay, US-Amerikanisches Recht. München 2000. S. 18 in Fn. 5.
Ähnlich auch furt a.M. 2001. 96
D. Howard. Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie. Frank-
1. Eckpunkte
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
47
passung von Institutionen und politischen Prinzipien, die den Amerikanern aus ihrer kolonialen Vergangenheit und den Verfassungen der neuestens unabhängigen Einzelstaaten vertraut waren 97 und als Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen und politischen Ideen. 9.
Der Kompro miss als Anker punkt
amerikanischen Verfassungsverständnisses
Die offensichtlichen Grundprobleme, etwa der Ausgleich zwischen Zentralgewalt und Einzelstaaten wurde durch Kompromisse gelöst. So erlangte die neue Bundesverfassung einen pragmatischen und vergleichsweise undoktrinären Charakter. Der philo sophi sche Schwun g der Unabh ängig keits erklä rung von 1776 mag verloren gegangen sein - die entsprechend nüchtern ausfallende VerfassungsPräambel legt hierfür bereits klares Zeugnis ab. Dennoch gewährt die Bundesverfassung erheblichen Spielraum zur Deutung und, im juristischen Sinne, zur Auslegung. Das nordamerikanische Verfassungsverständnis ist wesentlich durch die Vorstellung von Konsens geprägt. In der Praxis bewies sich diese Bewandtnis erstmals anlässlich des Verfassungskonvents von 1787 in der bereits geschilderten Einigung zwischen den kleineren Staaten und Madison hinsichtlich des Proporzes im Zweikammersystem. Gleichwohl war die Gesellschaft der Vereinigten Staaten bereits seit langem an die selbstverständliche Praxis einer bestimmten Art von Staatlichkeit und Konsensherstellung gewöhnt. Kein anderes postkoloniales Staatswesen sollte über diese Grundla ge einer politi sch geschulten Zivilgesellschaft verfüg en.
98
99 Insgesamt ist die Perzeption vom „Kompromiss als politischer Lebensform" ein Ankerpunk t des amerikanischen Verfassungsverständnisses. Individuelle Inte ressen sollen auf der Basis persönlicher Entfaltungsfreiheit, Meinungs- und Glau-
bensfreiheit organisiert und auf den unterschiedlichen Ebenen des Bundesstaates zur Durchsetzung ihrer Ziele in ein Konkurrenzverhältnis gebracht werden. Aufgrund einer ausgeprägten „Partikularisierung" der Politik ergibt es sich nicht selten, dass die Kompromisse kein ausbalanciertes Resultat berücksichtigenswerter Interessen sind, sondern unter erheblichem - zuweilen unverhältnismäßigem - Einfluss partikulärer Kräfte erwachsen oder scheitern. So auch K.L Shell, Die Verfassung von 1787. in: W.P.Adams u.a. (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika. Bd. 1, Frankfurt/New York 1990. S. 277ff, 277. 98 Derartige Erfahrungen fehlten entweder weitgehend wie in Lateinamerika und später in Afr ik a oder sie waren nur wenige Jahrz ehnt e alt wie etwa in Indien 1947. Siehe die Ansätze zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auch bezüglich des Staates in der außereuropäischen Welt in W. Reinhard. Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende Verf assun gsges chich te Europa s von den Anfä nge n bis zur Gege nwa rt. 1999. S. 48 0 ff. 99 Vgl. zu dieser Bezeichnung S. 233 ff. m.w. N.
R.Zippelius, All geme ine St aatsl ehre.
13. Aufl. 1999.
48
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Der dauernde Zwang zu Koordination und Kompromiss erzeugt allerdings auch Reibungsverluste und gefährdet nicht selten Klarheit und Kontinuität amerikanischer Politik. Die verfassungsrechtlich gewollte „Langsamkeit" der Politikprozesse in den USA ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig durch das Phänomen des „divided government" verstärkt worden. Der Umstand, dass häufig der Präsident und die Kongressmehrheit nicht derselben Partei angehören, hat zusätzlich Entscheidungsprozes.se gehemmt. In der zweiten Amtsperiode von G. W. Bush offenbarte sich jedoch auch ein umgekehrtes Phänomen immanenter Schwächung, nämlich bei klaren Mehrheiten der „Präsidentenpartei" in den beiden Häusern des Kongresses. Auch wenn es paradox klingen mag, führt dies umso eher zu Lähmungserscheinungen. Auf den zweiten Blick wird deutlich: das System der „checks und balances" wird hiermit unelegant, aber effektiv ausgehebelt. 10.
Eine dynamische
Verfassung -
„living Constitution'
4
Die amerikanische Verfassung wird weithin als „living Constitution" bezeichnet und begriffen. 1 ' 10 Zwar könnte sie für den kontinental-europäischen Juristen angesichts fehlender scharfer Kompetenzabgrenzungen sowie begrifflich schwammig umrissener Tatbestände, die demzufolge kaum als Obersatz eines Subsumtionsschlusses dienen können, als Aufruf zur Rechtsunsicherheit verstanden werden. Ihre Kürze und inhaltliche Unbestimmtheit gereicht ihr hingegen zur Stärke. Es liegt daher nahe, die Verfassung der Vereinigten Staaten eben nicht als dauerhaft unberührbaren. in einem Flechtwerk von Kompetenznormen fassbaren Zustand, sondern als dynamischen Evolutionsprozess zu begreifen. Letztere Annahme könnte die Schlußfolgerung nach sich ziehen, das amerikanische Verfassungsrecht habe 101 nie eine hohe Stufe dogmatischer Durchbildung erreicht. Diese Feststellung ist jedoch nur im Hinblick auf dogmatische Grundsätze nachzuvollziehen. die ihren Ursprung in zuweilen engen Maßstäben (kontinental-)europäischen Rechtsdenkens haben. Das amerikanische Faktum einer gewissen Scheu vor starren Begrifflichkeiten und abstrakten Systematisierungen bedeutet nicht die Abkehr von jeglicher Dogmatik. Im Gegenteil, der Charakterzug der amerikanischen Verfassung als „living Constitution" erfordert gerade eine dogmatische Einbettung, die in über 200 Jahren erprobt und bestätigt wurde. Die Notwendigkeit ergibt sich bereits aus der Gefahr der Konturlosigkeit höchsten, verbindlichen Rechts, verbunden mit einem allzu offenen Spielraum richterlicher Interpretationstätigkeit.
10 0 Vgl. statt vieler R. \V. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Chang e and Releva nce of Sup re me Court Deci sions, Revise d Edition , 1992. S. 7 f. und den Titel der Textsammlung von S. K. Padover, The Living U.S. Constitution. rev. ed. 1995. Vgl. auch die häufige Bezeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als „living instrument". 101 So C.M. Klette. Zur Einführung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8 ff.. 9.
1. Eckpunkte
der US-ame rikanis chen Verfass ungsentwic klung
49
Die amerikanische Verfassung soll die festen, abstrakten Grundbedin gungen des Staates festlegen und ist nicht - wie in der Schweiz über die Volksinitiative - auch eine stete „Plattform der politischen Auseinandersetzung". Sie ist der Zusammenhalt einer sonst sehr heterogenen Gesellschaft, und bildet so einen eigentlichen „dignified part" des amerikanischen Staatsrechts (Verfassungspatriotismus), ohne aber nur noch repräsentative Funktion zu haben. Die grundsätzliche Flexibilität der amerikanischen Verfassung, ihre Beständigkeit und Kürze können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechtsordnung der USA einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität aufzuweisen hat. Vielleicht sind es gerade die genannten Charakteristika der Verfassung, die zu diesem differenzierten Erscheinungsbild mit beizutragen wissen. Beispielsweise beinhaltet die Willensbildung zwischen Union und Bundesstaaten, zwischen den Bundesstaaten und innerhalb eines Bundesstaates sowie schließlich die Assoziation dieser einzelnen Umstände ein vergleichbares Maß an Problemstellungen wie die gegensätzlichen Interessen und weitgehend fehlende Homogenität zwischen den 0 Regionen und den Bundesstaaten." Die Schwierigkeiten, die sich aus dem steten, durch das Enteilen der Technik hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen Wandel ergeben haben und werden, seien an dieser Stelle nur angedeutet. 11.
Einige Grundgedan ken und Strukturelemente 10 3 des amerikanischen Verfassungsstaates
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine präsidialdemokratische Republik mit bundesstaatlicher Verfassung. Sie verzichtet auf die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der vom Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaft, um den ehernen Prinzipien Gewaltenteilung und gegenseitige Gewaltenhemmung stärkere Geltung zu verleihen. Die Furcht vor einer allzu starken Machtkonzentration ebneteMachtposition den Weg zu einer Bundesverfassung, deren gegen jegliche einseitige ein vielverzweigtes System der Handhabe Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung sowie föderativer Gewaltenbalance erfordert. Auch insofern ist das gesamte System, abgesehen von den auf Wettbewerb angelegten Wahlen, am Konfliktregelungsmodell der konsensorientierten Kooperation ausgerichtet. Zusammenarbeit, Verhandeln und Aushandeln bilden die Messlatte des Umgangs. Unter der Alleinherrs chaft eines von einer demokratischen Mehrheit gewählte n Parlaments und einer v on einem demokratischen Parlament abhängigen Regierung 102
Vgl. auch J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH. 1995, S.75; L L Joffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969. S. 69. 103 Vertiefend wird hierauf im Zuge des später folgenden ..transatlantischen Vergleichs" eingegangen (vgl. unter B.1V.3. und B. V.).
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
50
hielten die Väter der amerikanischen Verfassung auch die Rechte der Minderheiten für ständig bedroht und daher nicht nur die religiösen Freiheitsrechte der religiösen Sekten, sondern auch die Eigentumsrech te der (eine dünne Oberschicht bildenden) ökonomischen Elite für gefährdet. Nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der Schutz der Minderheiten war das primäre Anliegen der ursprünglichen Verfassung der USA. Der Rousseau sehe Gedanke eines a priori gültigen Gemeinwohls ist ihr ebenso fern wie die Vorstellung, dass die Herrschaft des Gemeinwillens die Unterdrückung der Privatinteressen erforderlich mache. Die Verfassung von 1787 geht vielmehr von der Annahme aus, dass dem Gemeinwohl dann am besten gedient sei, wenn allen Sonderinteressen der gleiche Schutz und die gleiche Chance gewährt und gleichzeitig ausreichend Vorsorge getroffen werde, dass kein Einzelinteresse einen dominierenden Einfiuss auszuüben in der Lage sei. Die Ablehnung einer „direkten" Demokratie und die Bejahung der repräsentativen „Republik" wird mit der Erwägung gerechtfertigt, dass mittels einer Repräsentativverfassung nicht nur der Schutz, sondern auch der Ausdruck der Minderheitsinteressen ermöglicht 10 4
werde. Bis in die Gegenwart hinein leben die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind: der Bereitschaft, den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen, aus denen die heterogene amerikanische Nation zusammengesetzt ist, eine freie Entfaltungsmöglichkeit und den Gruppen selber ein freies Betätigungsrecht zu gewähren. Nach E. Fraenkel garantiert das naturrechtlich legitimierte amerikanische Verfassungsrecht nicht nur die Existenz dieser Gruppen, sondern legt auch die Spielregeln fest, nach denen sie im Gesamtgefüge der nationalen Einheit zu operieren berufen sind und normiert zugleich die Beschränkungen, die einer jeden dieser 10 5 Gruppen und der Gesamtheit auferlegt sind. Beides sei zur Pflege des Gemeinwohls einer Nation unerläßlich, die sich gerade deshalb als politische Einheit fühle, weil die autonome Entwicklung der Partikulargruppen gewährleistet ist, aus der sie sich zusammensetzt.
'" 4 Siehe aber auch E. Fraenkel, Das ameri kanisch e Regierungssyste m. 1960. S. 39 f. : „Es wäre allzu einfach, den Drang und den Glauben nach einem einheitlichen .Gemeinwillen' lediglich als .falsches Bewußtsein' abzutun: und es wäre allzu bequem, die Existenz und die Betätigung der Gruppenwillen lediglich als soziale Verfallserscheinungen abzulehnen. Besteht doch die Gefahr, dass ohne den Glauben an das Vorhandensein eines Gemeinwillens das Gemeinwohl gefährdet, wenn nicht gar beeinträchtigt wird, weil sich sonst herausstellen mag. dass ein Gruppenkompromiss entweder unmöglich oder lediglich unter einseitiger Berücksichtigung der Interessen der stärksten dieser Gruppen zu erreichen ist. Wie denn andererseits die Gefahr besteht, dass ohne die Gewährung eines freien Betätigungsrechts die Minoritätsgruppen sich vernachlässigt, wenn nicht gar vergewaltigt fühlten, und der amerikanischen Nation niemals hätten eingegliedert werden können bzw. ihr wieder entfremdet worden wären." sowie ders., S. 343 ff. 105 E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S. 343 ff.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
51
Es ist richtig: Der stärkste Integrationsfaktorder Vereinigten Staaten von Amerika ist die Anerkennung des pluralistischen Charakters der amerikanischen Nation.
II. Eckpunkte und Grundlag en der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses Europa als Gedanke, Gewissheit und Realität könnte, am Ende dieser Stufenleiter angelangt und auf dem Wege zur Tradition, zum Scheitelpunkt zwischen Konservatismus 1(16 und M ode rn e werden , der weder die Op tion der Grad Wanderung noch die Gelegenheit der Verbindung jener Elemente auszuschließen vermag. Beides bedarf einer stützenden Konstante, einer organisierten „Seilschaft", die in Europäischen Institutionen wie in einer Europäischen Bevölkerung zu finden sein dürfte. Jedoch nicht getrennt voneinander, sondern ihrerseits im gegenseitigen Verständnis wie auch emotional verbunden. Gerade letzteres sollte vom Vorwurf romantischer Verklärung geschieden und der Erkenntnis eines tatsächlichen Integrationsdefizits zugeführt werden. Emotionale Bindungen sind der oftmals von einem Subordinationsverhältnis geprägten Rechtswirklichkeit nicht unbedingt wesenseigen. jedoch haben in verschiedensten Rechtskulturen nach einer gewissen Bewährungszeit Verfassungen wie auch Verfassungsorgane eine bedeutsamere 10 7 Position im Bewusstsein der jeweiligen Öffentlichkeit eingenommen.
10 6 Der Konservatismus ist angesichts seines modernen Ursprungs (er wurde zur Zeit der Französischen Revolution zum Sammelbegriff für politische Strömungen und Ideen: in England erscheint der Begriff erst 1830. als J. W. Croker die Tories als „conservative party" bezeichnet) vom Traditionalismus oder vom sog. ..natürlichen Konservatismus" zu unterscheiden (vgl. dazu ausführlich K. Mannheim. Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. 1927 ). Währe nd der Traditionalism us die ..allgemein-menschliche Eigenschaft" bezeichnet. ..dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf Neuerungen einge hen", ist der Konse rvatismus ein erst in der Moder ne möglich geworde nes Phänomen, das die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und die Spaltung der Ideenwelt in Gegner und Befürworter des ..Fortschritts" voraussetzt, vgl. Mannheim, ebenda. Hier soll der Konservatismus durch seine ambivalente Stellung zur Moderne bestimmt werden; ein lebensfähiger Konservatismus hat demzufolge sowohl die unversöhnliche Gegnerschaft zur Moderne als auch die kritiklose Anerkennung derselben zu meiden, vgl. auch H. Ottmann. Konservatismus, in: Staatslexikon. Bd. 3, 7. Aufl. 1985, S. 636 ff. 107 Vgl. im weiteren Sinne auch R. Streinz, Europäische Integration durch Verfassungsrecht. in: Villa Vigoni. Auf dem Weg zu einer europäischen Wissensgesellschaft, Heft VIII. April 2004, S. 20 ff. und ders., European integration trough constitutional law, in: H.J. Blanke/S. Mangiameli (Hrsg,). Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 1 ff.
52
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung 1.
Eingr enzun g eines vielschichtigen
Prozesse s
Die Debatte um die Verfasstheit der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union 10 8 ist so alt wie diese selbst. In ihr spiegelt sich von Anfang an die Intention der Europäischen Gründerväter, mehr als lediglich ein loser Zusammenschluss gleich gesinnter Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele und auch mehr als nur ein Binnenmarkt zu sein. Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der Frage der Einigung Europas verbunden ist, gab es Vorläu fereiner Verfassu ngsdiskussion schon seit dem ausgehenden Mittelalter. 10 9 Eine Verfassungsgeschichte Europas bedürfte freilich des Blickes bereits in die Antike. Allerdings würde selbst die Beschränkung auf einzelne Wegmarken europäischer Verfassungsgenese den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die Dezimierung auf Aspekte, die ihren Ursprung im 20. Jahrhundert finden, ist daher ein dürftiger Ansatz, jedoch gleichzeitig die Bändigung eines der Ausschweifung gefährdeten Blickwinkels, der seinen Ausgangspunkt aber im Versuch des Verständnisses einer Jahrtausende währenden Entwicklungslinie „europäischen Denkens" zu finden sucht. 11 0 Von daher fehlt an dieser Stelle eine eingehendere Betrachtung des Europamythos' der Antike, der Europakonzeptionen des Mittelalters wie die von P. Dubois und bildlicher Darstellungen wie Rembrandts „Raub der Europa". Gedanklich einzufügen sind die Europa- und Friedenspläne von Erasmus von Rotterdam, di e Erwägungen Sullys im 17., des Abbe de Saint-Pierre im 18. oder von Saint-Simon im frühen 19. Jahrhundert." 1 Auch würde „Die Christenheit und Europa" des l ! " ' Zu den Begrifflichkei ten „Europäi sche Gem ein scha fte n" und „Europäisc he Unio n" und deren substantieller Unterf ütterun g Li. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: C.D.Classen u.a. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ...". Liber amicorum Thomas Oppermann. 2001, S. 163 ff. 10 9 Ein guter Überblick findet sich bei R. Streinz!C. Ohler/C. Herrmann. Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse. 2005, S. 1 ff. Siehe auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000.2001. Vgl. auch R. Streinz, Der europäische Verfassungsprozess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidcl-Stiftung, 2008. S. 6 f. 11 0 Siehe aber ausführlich beispielsweise W. Schmale, Geschichte Europas, 2002 sowie M. Zuleeg. Ansätze zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, in: ZNR 1997. S. 27 0 ff. Vgl. auch U. Everling, Unterwegs zur Europäischen Union. 2001: R.Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; H. Hattenhauer. Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004: H. Wehberg. Ideen und Projekte betreffend die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten hundert Jahren. 1984. 111
Man müsste
Dantes Idee einer „Universalmonarchie" ebenso einbeziehen wie die
Gedanken von Podiebrad. Cruces, Comenius und W. Penn. Zu nennen wären freilich in
II. Eckpunkte Dichters C. F.
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
53
Novalis größere Beachtung verdienen, ebenso „Vordenker" Europas wie von Schm idt - Ph i sei deck. G. Mazzini oder
2.
Stationen
a)
Von
eines
V. Hugo.
Konstitutionali
Paneuropa
zur
sierungsprozess
Europa-Union
es
(1923 -1944)
Der „Verfassungsprozess" der Europäischen Gemeinschaften - bis hin zur Eu2 ropäischen Union - ist vielschichtiger als oftmals dargestellt" (- allein aus der Ze i t 1 9 3 9 - 1 9 8 4 ha t vorgelegt punkt in
W. Lipgens nahe zu
150 Texte
mit Verf assun gsvors chläg en
13
-) und soll in dieser (eingegrenzten) Untersuchung seinen Ausgangsder „Pa n-Eu ropa -Be wegu ng" des Grafen Coudenhove-Kalergi
finden,
die freilich bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre Geburtsstunde erlebte und damit erheblich früher als die Gründung der Europäischen Gemeinschaften anzusetzen ist. Bereits im November 1923 hatte
R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. geboren
1894
in Tokyo als Sohn eines k. u. k. Diplomaten und einer Japanerin, ein schmales Buch veröffentlicht
1 u
, in dem er seine Neigung, in Erdteilen zu denken und die Welt nach
seinem persönlichen Ermessen zu formen, erstmals einer größeren Öffentlichkeit
der Folge auch J. Bentheim, F. Gentz und selbst Napoleon Bonaparte (er schr eibt 1816 auf seiner Verbannungsinsel St. Helena in sein „Memorial de Sainte Helene": „Eine meiner Lieblingsideen war die Zusammenschmelzung, die Vereinigung der Völker, die durch Revolution und Politik getrennt worden waren." Es sei vor allem sein Wunsch gewesen, eine ..association europeenne" zu verwirklichen; sie hätte dem Kontinent Wohlstand und Glück gebracht, nicht zuletzt auch ein gleiches System in ganz Europa: ,.un code europeen. une cour de Cassation europeenne"). Vgl. auch die wichtigen Impulse von /. Kant (er betont in seiner Schrift .Zum ewigen Frieden" (1795) die Notwendigkeit, einen Bund der Nationen zu schaffen und entwirft ein ..Bundes-Europa"), G. F. Hegel un d F.W. Schelling. Weitergesponnen wurden diese Gedanken (von der Überlegenheit Europas) etwa von .4. Comte. Siehe sodann auch die Schriften von J.K. Bluntschli, K.Frantz, aber auch K.Marx (e r teilte etwa die Überzeugung Hegels, dass Westeuropa der fortgeschrittenste und begabteste Teil der Welt sei, also der einzige, der reif wäre, die Zukunft der Menschen zu formen. Marx begrüßte die freiheitlichen Bewegungen beispielsweise der durch das russische Joch unterdrückten Polen als ..dialektische" Etappe zur Einigung Europas in einer klassenlosen Gesellschaft. Freilich war er überzeugt, dass die europäische Einigung niemals vom liberalen Bürgertum oder von Idealisten von der Art Mazzinis herbeigeführt werden könnte, sondern nur durch das Proletariat). Schließlich sei noch auf J. Burckhardt un d B. von Suttner verwiesen. 112 Die „europäische" Verfassungsgeschichte mit zahlreichen Verfassungsentwürfen betrachtet vertiefend auch W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002. 113 W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des
Europäischen Parlaments, 1986. 114 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi.
Paneuropa.
1923.
54
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
verriet. Der Titel „Pan-Europa" stand für ein Programm mit weit reichenden Zielen: die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents, die Schaffung gemeinsamer Institutionen in einer gemeinsamen Kapitale, eine gemeinsame Währung und Armee, schließlich die Verabschiedung einer Verfassung für die Vereinigten Staaten von Europa. „Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in allen Völkern Europas schlummert", prophezeite Coudenhove-Kalergi im Vorwort 11 5 , und die europäische Integration wurde für den gerade 29-jährigen Aristokraten zur Lebensaufgabe: „Durch Agitation in Wort und Schrift soll die europäische Frage als die Lebensfrage von Millionen Menschen von der öffentlichen Meinung aller Völker aufgerollt werden, bis jeder Europäer sich gezwungen 1 16 sieht, zu ihr Stellung zu nehmen." 11 7 Im Frühjahr 1924 gründete er in Wien die Paneuropa-Union , eine - nach heutigem Sprachgebrauch - Nichtregierungsorganisation, welche zunächst die
Öffentlichkeit mobilisieren sollte. Unter maßgeblicher Beteiligung W. Heiles formierte sich indessen innerhalb der Friedens- und Völkerbundbewegung eine Gegenströmung. Als Antwort auf die Gründung der Paneuropa-Union hoben deutsche und französische Parlamentarier im Frühling 1924 ein „Komitee für die Interessengemeinschaft der europäischen Völker" aus der Taufe, später umbenannt in „Bund für Europäische Cooperation". Ähnlich wie die Paneuropa-Union verstand sich das Komitee als „pressure group" für Europa in den Parlamenten. Regierungskreisen und in der politischen Publizistik. Grundlegend war dabei die Orientierung am Völkerbund, der den institutionellen Rahmen für die europäische Integration darstellen sollte. Im Unterschied zur Paneuropa-Union betrachteten die Mitglieder des Komitees Großbritannien als einen Teil Europas, dessen Einbeziehung als elementar galt. Ähnlich waren dagegen die langfristigen Ziele: eine weit reichende politische und wirtschaftliche Integration der Staaten Europas, die ihren Abschluss in der Schaffung supranationaler Institutionen, eines Binnenmarktes und einer gemeinsamen Wä hr un g finden sollte. Damit stande n sich seit 1924 zwei politis che Organisa tionen gegenüber, die unterschiedliche Europa-Konzepte verfochten: europäische '15 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923. 116 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi, Paneuropa. 1923. 117 Umfassend zur Paneuropa-Union beispielsweise ihr langjähriger Präsident O. von Habsburg. Die Paneuropäische Idee. Eine Vision wird Wirklichkeit. 1999: vgl. auch jüngst A. Ziegerhofer-Prettenthaler. Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Pancuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren. 2(X)4. Als Gründer. Präsident und Chefprogrammatiker der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung entwickelte Graf Coudenhove-Kalergi eine Strategie persönlicher Lobbyarbeit - im Dialog mit Kanzlern und Königen. Unternehmern und Geistesgrößen. Formen der Kommunikation, die heute zum einen angesichts der ..europäischen Lähmung" weiter Kreise der europäischen Intellektualität (deren sporadisches und allzu spätes Eingreifen, wie etwa seitens
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
55
Integration innerhalb des Völkerbundes, unter Einbeziehung Großbritanniens und der UdSSR - oder Paneuropa als kontinentaleuropäisches Bündnis mit losen Verbindungen zur internationalen Staatengemeinschaft.
1 IS
Gemeinsam war bei-
J. Habermas, un d J. Derrida. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom 31. Mai 2003 , auch in: Blätter fü r deutsche und inter nation ale Pol itik. Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff. hi erüber nicht hinwegtäuschen kann), zu m anderen hinsichtlich des Inform ationsdefizits in der Bevölkerung nahezu aller Mitgliedsstaaten, insgesamt in wesentlichen Teilen der europäischen Öffentlichkeit aktueller denn je. wenigstens dringend geboten erscheinen. Im Lichte der aktuellen Zurückhaltung europäischer Intellektueller innerhalb der Verfassungsdebatte (ausgenommen juristischer Fachkreise) sowie in der Diskussion um Gestalt und Zuk unf t Euro pas schlec hthin, sei beispie lhaft - im Rahm en eines für je de Verfassungsentwicklung auch notwendigen geistesgeschichtlichen Rückblicks an einige Beiträge nach dem ersten Weltkrieg erinnert. Im Frühjahr des Jahres 1919 erscheinen in der renommierten Londoner Zeitschrift Athenäum zwei ..Letters from France", verfaßt von dem französischen Dichter P. Valery. Entscheidend geprägt sind diese beiden Briefe, die Valery noch im selben Jahr als Essay unter dem Titel ..La crise de 1'esprit" im französischen Original veröffentlicht.), von der Erfahrung des erst wenige Monate zuvor zu Ende gegangenen Weltkrieges und von dem klaren Bewußtsein, dass dieser Krieg einen epochalen Einschnitt in der Geschichte Europas markiert (die Schrift ist abgedruckt in: J. Hytie r (Hr sg.), P. Valery. OEuv res . 1957. T. I. S. 988 ff) . Valery begreift dabei die Krise Europas nicht nur in ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Dimension. Diese Krise Europas sei in erster Linie eine Krise des Geistes, jenes „esprit europeen", der die eigentliche Essenz Europas ausmache und seine Zivilisation von allen anderen unterscheide. Für den Cartesianer Valery ist dieser europäische Geist nichts anderes als der Geist der Wissenschaft, wie er sich auf dem Kontinent seit der griechischen Antike herausgebildet habe und wie er zu Beginn der Neuzeit von L da Vinci exemplarisch verkörpert wurde. Valery artikuliert in seiner Schrift in charakteristischer Weise ein ausgeprägtes Bewußtsein von der Dekadenz Europas, wie es in vielfältiger Form auch bei anderen europäischen Schriftstellern in den Jahren nach dem Ende des 1. Weltkrieges zu finden ist. Als ein Beispiel unter vielen anderen möglichen sei hier aus dem deutschen Sprachraum nur H. v. Hofmannsthal mit seinem Essay des Jahres 1922 mit dem Titel „Blick auf den geistigen Zustand Europas" angeführt (Der Text findet sich bei P.M. Lützeler (Hrsg.), ..H off nung Europa" . Deutsche Essays v on Novalis bis Enzens berge r, Frankf urt a. M. 1994. S. 258 ff.) Vergleichbare Belege für ein ausgeprägtes europäisches Krisenbewußtsein aber finden sich auch bei O. Spengler in seinem „Untergang des Abendlandes" (1918/22). bei S. Zweig, vor allem in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers." (postum 1944). in Spanien bei J. Ortega Y Gasset in seinem ..Aufstand der Massen" (1929) oder später in England bei -4. Toynbee in seiner Universalgeschichte „A Study of History" (1934-61). Valerys Schrift „La crise de 1'esprit" kann als der erste bedeutende Beitrag zu einer Debatte über Europa betrachtet werden, die in den zwanziger Jahren auf dem gesamten Kontinent, mit besonderer Intensität aber in Frankreich und Deutschland geführt worden ist. Europa wird in beiden Ländern zum Thema einer kaum zu zählenden Anzahl von Essays und Aufsätzen, ja sogar zum Gegenstand von zumeist allerdings eher zweitrangigen Romanen. Novellen und Gedichten (einen Überblick mit zahlreichen bibliographischen Angaben gibt P.M. Lützeler. Die Schriftsteller und Europa. Von der Romant ik bis zur Geg enw art . Mün ch en 1992. S. 272 ff. sowi e V. Steinkamp. Di e Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg. ZEI-Discussion paper. 1999. 118 Unterschiedlich sah man auch die Modalitäten der Finanzierung: Der Bund für Europäische Cooperation konnte auf Subventionen der deutschen und französischen Re-
56
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
den Organisationen die Überzeugung, dass Paris und Berlin Schrittmacher einer 9 europäischen Annäherung sein mussten." Wenig später glaubte sich Coudenhove-Kalergi indes am Ziel. Am 5. September 1929 schlug der französ ische Auß enminis ter (und zeitweilige Minist erpräsident) A. Briand der Völkerbund-Versammlung in Genf vor, die europäischen Staaten durch eine föderale Verbindung enger zusammenzuführen. Vorstellungen, die - auch hinsichtlich einer wirtschaftlichen Einigung - vieles von dem vorbereiteten, was nach 1945 geplant oder begonnen wurde. Sein deutscher Amtskollege G. Stresemann lobte in einer Antwortrede die wirtschaftliche Seite der Idee, doch er verhehlte nicht die Skepsis des Realpolitikers gegenüber der Aussicht auf eine 12 politische Integration Europas. " Dennoch - Briands Initiative setzte das Thema für einen Moment auf die Agenda der Weltpolitik. So geht aus einem Dossier der französischen Botschaft in Washington hervor, dass in der amerikanischen Öffentlichkeit der Europaplan Briands so ausführlich diskutiert wurde wie selten 12 1 ein Thema der europäischen Politik. Doch Briands Auftritt kam zu spät. Deutlich lassen sich aus einem wenige Mo1:2 nate später nachgelegten Europa-Memorandum die nationalen Interessen und Ängste Frankreichs herauslesen, insbesondere die Sorge um die securite - um die Sicherheit gegenüber einem inzwischen wieder unberechenbaren Nachbarn jenseits des R heins. Das Me mora ndum fordert, die Zusammena rbeit der europäischen gierungen zurückgreifen, die das Anliegen einer europäischen Verständigung unter dem Dach des Völkerbundes unterstützten. Dagegen suchte und fand Graf Coudenhove-Kalergi finanzielle Unterstützung in einem Kreis von Unternehmern und Bankiers, die sich unter der Leitung R. Boschs zu einem Paneuropa-Förderkreis zusammenschlössen. 11 9 Die deutsch-französische Europa-Debatte hat - und das verleiht ihr eine zusätzliche Dimension - ihren Ausgangspunkt in der nach dem ersten Weltkrieg zeitgleich in beiden Ländern einsetzenden Diskussion über die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen. Beide Themenkreise sind natürlich nicht identisch, aber auch schon deshalb nicht voneinander zu trennen, weil in der Wahrnehmung sowohl der Franzosen wie der Deutschen beide Länder aufgrund ihrer Größe, ihrer zentralen Lage, ihrer Vergangenheit sowie ihrer politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt ihrer kulturellen Bedeutung wegen den eigentlichen Kern Europas bilden - eine Konzeption, die sich im übrigen schon im frühen 19. Jahrhundert bei dem in Paris lebenden deutschen Schriftsteller L. Börne findet, der von einem „Nukleus-Europa" spricht, und wenig später auch in V. Hugos Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa" wieder auftaucht und die bis in die Gegenwart unter Berücksichtigung vielerlei berechtigter Kritik in der Vorstellung von einer ..deutschfranzösisch en Achse" oder dem Bild v on der deutsch-fr anzösische n Freundscha ft als Motor des europäischen Einigungsprozesses fortwirkt. Die Debatte mit den Reden Briands un d Stresemanns findet sich abgedruckt bei W. Lipgens , Europäische Einigungsidee 1923-1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: HZ 203 (1966). S. 46 ff., 78 f., 80 ff.: vgl. auch C. Navari. The Origins of the Briand Plan, in: Diplomacy and Statecraft 3,1 (1992). S.74ff. 121
Vgl. C. Navari (1992), S.99: vgl. im weiteren Kontext auch
S. Kneeshaw, In Pursuit
of Peace: the American reaction to the Kellogg-Briand Pact. 1928-29, 1991. 12 2 Vgl. ausführlich W. Lipgens (1966). S. 82 f.; C. Navari (1992), S. 99 ff.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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Staaten zu institutionalisieren, eine Europäische Konferenz auf Regierungsebene einzurichten sowie einen Ständigen Politischen Ausschuss als europäisches Exekutivinstrument. Überdies regt ein Zusatz an. die Grenzgarantien des LocarnoPaktes auf die osteuropäischen Staaten auszudehnen. Ein solches Ost-Locarno aber war der deutschen Außenpolitik nicht abzuringen, denn diese zielte trotz aller Verständigungsbereitschaft lan gfristig darauf an, das Reic h wieder als Großm acht zu etablieren. So zeugt das Mem oran dum der französischen Regierung gleicherm aßen von Briands Glauben an die Gemeinschaft Europas wie von der Hilflosigkeit einer Außenpolitik, die Deutschlands erneutem Griff nach der Weltmacht nur noch wenig entgegenzusetzen vermochte. Der Boden für außen- und europapolitische Bestrebungen der Vernunft wurde damals immer rascher unterspült durch das Anschwellen radikaler und nationalistischer Kräfte in Europa, begünstigt durch die unglücklichen politischen Verhältnisse jen er Jahre und die 1929 ausb rech ende Welt wirt schaf tskri se. Mit der Macht ergre ifun g der Nationalsozial isten in Deutschland 1933 war endgült ig der Weg zu einer nochmaligen gewaltsamen Explosion des Nationalismus beschritten. Gleichwohl gab es in der Folge und während des zweiten Weltkrieges eindrucksvolle sowie in vielen Bezügen zur Gegenwart immer noch - oder wieder - aktuelle, grundlegenden Ideen und Pläne für eine Neuordnung Europas vor allem in den Widerstandsbewegungen der von Hitlerdeutschland besetzten Länder (wie auch in Deutschland selbst). Weitgehende Übereinstimmung im breiten Spektrum demokratischer Richtungen des antifaschistischen Widerstandes bestand in der Forderung, dass der Aufbau Europas nach dem Kriege nicht die einfache Wiederherstellung der alten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Vorkriegszeit bedeuten dürfe. Hierbei war die Zahl maßgeblicher Stimmen des Widerstandes wie auch demokratischer Exilgruppen aus den von Deutschland besetzten Ländern besonders groß, die anstelle des Systems der souveränen Nationalstaaten, als dem institutionalisierten Egoismus und Gegeneinander der europäischen Völker, die Organisation einer Friedens- und Solidargemeinschaft Europas nach föderalistisch-bundesstaatlichen Prinzipien für notwendig hielt. Damit sollten zugleich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa gegenüber totalitären Kräften gesichert und die für Wiederaufbau und Wohlstand hinderlichen Zoll- und sonstigen Wirtschaftsschranken beseitigt werden.
12 3
So heißt es etwa in einer Erklärung von Vertretern wichtiger Widerstandsbewe gung en Frankrei chs, die im Juni 1944 ein Französisches Komitee für die europäische Föderation gründeten: 123
Hierzu ausführlich und mit umfassenden Quellenmaterial W. Lipgens . Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945. 1968. Die Europaideen des Widerstands waren in nicht unerheblichen Teilen wohl auch eine Antwort auf die gegensätzlichen, nämlich auf die Vorherrschaft Deutschlands gerichteten ..Europaideen*' des NationalsoziaIismus, die vom Typ bisweilen mit den Europaplänen Napoleons verglichen werden.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung „Es ist unmöglich, ein blühendes, demokratisches und friedliches Europa wieder aufzubauen. wenn es bei der zusammengewürfelten Existenz nationaler Staaten bleibt. [... ] Europa kann sich nur dann in Richtung auf wirtschaftlichen Fortschritt, Demokratie und Frieden entwickeln, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und einem europäischen Bundesstaat folgende Zuständigkeiten überantworten: die wirtschaftliche und handelspolitische Organisation Europas, das alleinige Recht zu bewaf fneten Streitkräften und zur Intervention gegen jeden Versuch der Wiederherstellung autoritärer Regime, die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, die Verwaltung der Kolonialgebiete, die noch nicht bis zur Unabhängigkeit herangereift sind, die Schaffung einer europäischen Staatsangehörigkeit, die neben die nationale Staatsangehörigkeit träte. Die europäische Bundesregierung muss das Ergebnis nicht einer Wahl durch die Nationalstaaten, sondern 12 4 einer demokratischen und direkten Bestimmung durch die Völker Europas sein." Die Sozialistische Partei Italiens veröffentlichte 1942 aus dem Untergrund
folgende Erklärung: „Die Grundforderung hinsichtlich der zukünftigen Ordnung in Europa 1... | muss darin gesehen werden, dass die bereits bestehende Einheit der europäischen Gesellschaft durch politische Zusammenfassung sichergestellt werden muss. [...] Die europäische Föderation darf keine in ihren Vollmachten eingeengte Union sein, der ständig von den 12 5 souveränen Staaten her Gefahr droht." Bem erk ens wer t neben allzu standskämpfer
vielen Unerw
ähnt en auch
H.J. Graf von Moltke, hinge richt et
1945
der deut sche Wider-
in Plöt zen see,
der 19 42
an einen Freund in England schrieb: „Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden?" 1 26 Unt er den wä hr en d de r K ri eg sja hre 1 9 3 9 - 1 9 4 5 fo rm ul ie rt en Stud ien und Ma nifesten befeinden sich auch einige Verfassungsentwürfe. Zu ihnen zählten beispielsweise A. Spinellis Flugschrift „Gli Stati Uniti d'Europa e le varie tendenze politiche" vom Oktober 1941 und der Ansatz der Sektion Basel der schweizerischen
Europa-Union, die
1942
unter
der na mh af te n Mit wi rku ng von
W. Hoegner
u n d H. G. Ritzel mit der Ausarbeitung einer „Verfassung für die Vereinigten Staaten von Europa" begonnen und bis 1944 zu diesem Zweck 80 Sitzungen abgehalten und, wie W. Lipgens feststel lt, ein en ausg ere ifte n Verf ass ung sen twu rf mit etwa 90 Artikeln nach dem bekannten Haager Kongress von 1948 veröffentlicht hatte.
124
Zitiert nach
127
W. Lipgens (1968). S. 244 ff.
12 5
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 56. Siehe aber auch das 1941 auf der italienischen Verbannungsinsel Ventotene von den beiden Italienern A. Spinelli un d E. Rossi berühmt gewordene Manifest von Ventotene. 126
S. 20 f.
H.J. Graf von Moltke, Letzte Brie fe aus dem Gef än gni s Tegel,
10. Auf lag e 1965.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
Erwähnenswert ist auch der Verfassungsentwurf für die „United States of Europe", der im Rahmen der Faneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde. b)
Verfassungsentwürfe nach
aa) Hertensteiner
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12 8
1945129
Programm (1946)
Zahlreiche dieser und ähnlicher Vorstellungen fanden einen ersten gemeinsamen Niederschlag nach dem Kriege im historischen Treffen von Persönlichkeiten des Wide rstan des und euro päisc her Föder alisten vom 14.-21. Sep temb er 1946 in :; i Bern und am Vierwaldstätter See. " Dabei einigten sich Vertreter aus zwölf euro13 1 päischen Ländern und den USA auf den Zusammensehluss aller europäischen 13 2 Einigungsbewegungen in einer „Aktion Europa-Union". Das Aktionsprogramm hatte zwölf Punkte, die sich zuvorderst mit dem Schutz der Menschenrechte befassten und eine klare Ablehnung der faschistischen Ideologien und des nationalen Protektionismus signalisierten. Sämtliche in diesem Dokument geforderten Punkte (u. a. föderativer Charakter der Union, keine neue Weltmacht, gemeinschaftliches Gericht zur Streitschlichtung, Anerkennung von Grund- und Freiheitsrechten, Wahrung der nationalen Eigenarten) fanden sich später in den Gemeinschaftsver13 3 trägen bzw. im Unionsvertrag wieder. bb) Entwu rf einer föderale n Verfa ssung der Vereinigten Staaten von Europa (1948) Wenige Tage zuvor hatte W. Churchill in einer Aufsehen erregenden Rede in Zürich dazu aufgerufen, einen „Europarat" als ersten Schritt zu den „Vereinigten
127 Der Entwurf fiel durchaus „schweizerisch" aus: er garantierte Gemeindeautonomie, sah neben den Wahlen auch Abstimmungen zu Sachfragen vor und ging selbstverständlich von einer föderalistischen Bundesstruktur aus. Zeittypisch erachtete man allerdings mehr ..Staat" für nötig, als manche das heute wünschen (vgl. IV. Lipgens (1968). Text 22). 128
Texte mit kurzer Einführung bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000.2001. 12 9 Vgl. vertiefend G. Brunn. Die europäische Einigung von 1945 bis heute. 2002; XI.-T. Bitsch. Histoire de la construction europeenne de 1945 ä nos jours, 1999. Siehe auch F. Knipping. Rom. 25. März 1957. Die Einigung Europas. 2004. 13 0 Das Treffen und den Text dokumentiert u.a. die Quelle unter http://www.jefniedersachsen.de/hertenstein.html. 131 Belgien. England. Frankreich. Griechenland. Holland. Italien. Liechtenstein. Polen. Österreich. Schweiz. Spanien. Ungarn. 132 Am 17. 12. 1946 erf olgt e dann der Zus amm ens chl uss zur ..Union Europe enn e des Federalistes". 133 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001, II. 14.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Staaten v on Europa" zu bilde n" 4 ; die Aussöhnung und Partnerschaft Deutschlands und Frankreichs müsse hierfür die Grundlage bilden. Im Mai 1948 erneuerten Politiker und Vertreter privater europäischer Verbände aus fast allen Staaten Westeuropas den Appell für eine Einigung Europas und die Errichtung eines „Europarates" auf ihrem Haager Kongress, aus dem einige Monate später die 13 5 Gründung der „Europäischen Bewegung" hervorging. Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis 10. Mai 1948 veranstalteten „Europa-Kongresses" erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der „Europäischen Parlamentarier-Union" F. de Menthon erarbeitete im Juni 1948 einen Entwurf für eine Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente in Interlaken (im Sep temb er 1948) , der erstma ls eindeutige Regeln fü r die doppelte 13 6 Konstituierung (Völker und Staaten) einer europäischen Föderation enthielt. Menthon umriss Organe der Föderation, wie z. B. ein Europäisches Parlament, das sich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Daneben würden ein Exekutivrat und ein Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus den Reihen des ersteren jeweils für ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt werden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat. Die Föderation sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NATO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets und der „Vereinheitlichung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten". Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föderation und Mitgliedstaaten. cc) Vorentwurf einer europ äisch en Verfass ung (194 8) Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die Union Europäischer Föderalisten einen Vorentwurf einer europäischen Ve rfassung, der am 1l. Nov em 134 Die Rede Churchills findet sich unter anderem bei W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Wider stand sbewe gung bis zum Vertragsen twurf des Europäischen Pa rlaments. 1986. S. 214 ff. 13 5 Es war die Zeit der großen Hoffnungen und entsprechenden Ambitionen, über einen Europäischen Verfassungsrat in einem Wurf und mit einem Vorgriff auf eine ohnehin in diese Richtung weisende Zukunft ein Vereinigtes Europa herzustellen. Im März 1948 wurde immerhin von 190 Abgeordn eten des britischen Unterha uses und vo n 169 Abgeordne ten der französischen Nationalversammlung die Einberufung einer Europäischen Verfassungsgebenden Versammlung gefordert. Diese Initiative entsprach indessen nicht den realen Möglichkeiten, die offensichtlich ein schrittweises Vorgehen in Etappen nötig machten. 13 6 Vgl. IV. Loth, Entwür fe einer europäischen Ver S. 49 ff. "
fassung. Eine historische Bilanz. 2002.
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11 7 ber 1948 verabschiedet wurde. Der Entwurf eines einheitlichen europäischen Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeits-
verlagerung. Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein Drei-Kammer-System aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (bestimmt durch nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte einen Kanzler ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwurf enthielt eine Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen. Gruppen von Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Zwar betonte der Entwurf das Subsidiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaaten. Vorgesehen war, dass sich einzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen konnten. dd) Entwurf einer europäischen Bund
esverfassung (1951)
72 Mitglieder der Beratenden Versammlung des Europarates fanden sich unter dem Vorsitz des bereits oben benannten Präsidenten der Paneuropa Bewegung Graf Coudenhove-Kalergi im Februar 1951 in Basel zusammen, um ein „Verfassungskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" ins Leben zu rufen. Diese Kommission formulierte im Mai desselben Jahres in Straßburg einen sehr knappen (18 Artikel) Vor- und Rahmenentwurf einer europäischen Bundesverfassung (Grundsätze, Befugnisse, Bundesbehörden. Verfassungsrevisionen). Hauptaugenmerk des Dokuments war der Bereich der Kompetenzen bzw. Kompetenzverteilung. Grundlage war das Subsidiaritätsprinzip. Die Mitgliedstaaten sollten genau festgelegte Kompetenzen an den Bund übertragen. Als Bundesorgane waren Bundesparlament und Senat (Legislative), Bundesregierung („Bundesrat") 13 8 und Bundesgericht vorgesehen. c)
Wege zum Europarat
Jenseits aller Kongresse und Manifeste war auch ein ansehnlicher Teil der politisch aktiven jüngeren Generation - vor allem in den früheren „Erbfeindländern" 137
Vgl. VV.Loth (2002). S. 55 ff.
13 8
Ein Abdruc k diese s Ver fas sun gse ntw urf es findet sich u. a. bei P. C. Mayer-Tasch/ I.Contiades (Hrsg.), Die Verfassung en Europas. 1966. S.6 3I ff.; vgl. auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001.11.20.
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Frankreich und Deutschland - in diesen Jahren von der Idee erfasst, die Europa trennenden Schranken zu beseitigen und eine gemeinsame europäische Zukunft aufzubauen. Gleichwohl artikulierten sich diesbezüglich Zurückhaltende und Gegenkräfte, die der Auffassung waren, das System der souveränen Nationalstaaten könne nicht (oder noch nicht) aufgegeben oder eingeschränkt werden. Zu ihren markantesten und einflussreichsten Vertretern zählte C. de Gaulle. 139 Eine zusammenfassende Gegenüberstellung der grundsätzlichen Auffassungen zur Zukunftsgestaltung Europas, wie sie die politischen Diskussionen und Entscheidungen der Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wesentlich bestimmten, ist hier nur stark vereinfacht möglich. Bemerkenswert ist allerdings die Ähnlichkeit mancher Argumentationslinien zur Verfassungsdiskussion der jüngsten, vergangenen Jahre. Die „Zeitlosigkeit" der „europäischen Debatte" ist folglich gleichermaßen Ausdruck von stabilisierender Stringenz und ermüdender Stagnation. Den damaligen Befürwortern einer „Neuordnung Europas" zufolge war das System der souveränen Nationalstaaten in Europa unfähig, zwischenstaatliche Konflikte gewaltlos zu lösen und damit implizit den Frieden zu sichern: auch wäre im „Schreberg artensystem" seiner Volkswi rtschaften eine optimale Entfaltung der Produktionsfaktoren und damit des Wohlstandes kaum zu ermöglichen gewesen: schließlich stellte sich nicht nur angesichts der Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte die Frage, wie die gemeinsamen Interessen Europas in der Weltpolitik einschließlich seiner Verteidigung angemessen zu vertreten wären. Konsequenterweise hätten diese Aufgaben in den Augen jener „Europäer" die Schaffung einer über den Nationen stehenden („supranationalen") gemeinsamen politischen Ordnung in Form eines föderalistischen Bundesstaates erfordert, zu dessen Gunsten die Einzelstaaten auf Teile ihrer Entscheidungsbefugnisse hätten verzichten müssen. Demgegenüber wurde vertreten, Grundlage der politischen Identität der europäischen Völker und des durch sie legitimierten staatlichen Handelns seien nach wie vor die Nationalstaaten. Die zur Lösung der gemeinsamen europäischen Probleme und Aufgaben erforderlichen Schritte könnten nur so weit reichen, wie jeder beteiligte Staat aus eigener Entscheidung zu gehen bereit sei. Europäische 13 9 Für Großbritannien hatte Churchill bereits in seiner Züricher Rede ein anderes Argument geltend gemacht: Es könne die europäische Einigung von außen fördern, aber selbst nicht daran teilnehmen, da es schon einer anderen Völkergemeinschaft angehöre, dem britischen Commonwealth of Nations (vgl. W. Churchill, a. a. O.). Mit der tatsächlichen Gestaltu ng Europas nach 1945 auf der Grundlage der alte n nationalstaatlichen Ordnu ng (die. zumindest äußerlich, auch von der Sowjetunion in ihrem Machtbereich nicht in Frage gestellt wurde), war schließlich ein Faktum von eigenem Gewicht geschaffen, das mit zunehmender Entfernung vom Kriege und wachsendem Selbstbewusstsein der Staaten nach dem Wiederaufbau noch an Bedeutung gewann.
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Zusammenarbeit sei somit - zumindest vorerst - nur möglich in den Formen herkömmlicher internationaler Zusammenarbeit oder eines Staatenbundes der unabhängigen („souveränen") Einzelstaaten, nicht aber durch deren Unterordnung unter Entscheidungen supranationaler Organe. Die unterschiedlichen Vorstellungen in Europa über die Zukunftsgestaltung, insbesondere den Grad der Einigung des Kontinents, waren mit Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch vielfältigen Einwirkungen der politischen Entwicklung unterworfen, in erster Linie dem beginnenden, bald alles überschattenden Ost-WestKonflikt. Nach 1945 sah es trotz aller Einigungspläne für Europa zunächst so aus, als werde sich am wiederhergestellten System der unabhängigen Nationalstaaten kaum etwas ändern. Mit der Teilung Europas, das heißt der Eingliederung der osteuropäischen Staaten und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Machtbereich der UdSSR, ergaben sich jedoch bald völlig neue Interessenkonstellationen und Impulse zur Einigung (nunmehr) Westeuropas. Sie waren bestimmt vom Bedürfnis der USA und Westeuropas nach Sicherheit, wirtschaftli1 ' 10 cher Stabilität und Eindämmung des Kommunismus. Vor dem Hintergrund des bestimmenden Einflusses der beiden Supermächte über Europa war der erste Schritt zu einer von den Europäern selbst ausgehenden organisierten Zusammenarbeit, zu der sich bald die Mehrzahl der westeuropäischen Staaten bereit fand, geprägt vom Kompromiss. Der am 5. Mai 1949 von zunächst zehn Staaten in Straßburg gegründete Europarat erhielt einerseits keine supranationalen Befugnisse, wie vor allem die Europäische Bewegung es forderte. Andererseits bedeutete er das Äußerste dessen, was die zurückhaltenderen Staaten an Einigung akzeptieren konnten. Der Kompromiss spiegelt sich auch in Gestaluo Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich nach ihrer Gründung 1949 unter ihrem ersten Bundeskanzler K. Adenauer ebenfalls für den Weg der Westintegration und der Beteiligung an der westlichen Verteidigung. Die sich damit bietende Chance zur gleichberechtigten Aufnahme in die europäische Staatengemeinschaft, zum wirtschaftlichen Wiede rauf bau und zur Sicher ung der junge n Demokra tie gegenüb er dem Ko mmu nism us wurde mehrheitlich auch als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands gesehen. Im GG wird neben dem Bekenntnis zur Einheit und Freiheit Deutschlands der Wille ausgedrückt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" ( Präambel); in Art. 24 Abs. 1 GG ist erstmals in einer deutschen Verfassung die Möglichkeit vorgesehen, dass der Bund ..du rch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischensta atliche Einr ichtungen übertragen" könne. ..Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen: er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern", Art. 24 Abs. 2 GG. Andere Staaten Westeuropas waren zu einer supranationalen Einigung zunächst nicht bereit oder in der Lage - sei es wegen auferlegter oder selbst gewählter Neutralität wie bei Finnland. Österreich. Schweden und der Schweiz, aufgrund autoritärer Regime wie in Spanien und Portugal oder aus einer historisch-politisch begründeten Zurückhaltung wie bei Großbritannien (insbesondere
durch seine Bindungen im weltweiten Commonwealth) und den skandinavischen Staaten, die im 1951 gegründeten Nordischen Rat eine engere Zusammenarbeit einleiteten.
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tung. Zusammensetzung und Wirkkraft der wichtigsten Organe des Europarates wider. 14 1 Auch wenn dem Europarat supranationale Entscheidungsbefugnisse fehlen, sind seiner freiwilligen Zusammenarbeit nicht unbedeutende Erfolge zu verdanken. Sie betreffen die Angleichung von Politik und Gesetzgebung der Mitgliedstaaten in Teilbereichen von Erziehung und Bildung. Rechtswesen. Sozialpolitik und Umweltschutz, kulturelle Initiativen sowie nicht zuletzt die Europäische 14 2 Menschenrechtskonvention (EMRK) ; sie bietet die Möglichkeit, wegen Menschenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Klage zu erheben. Eine verfassungsgeschichtliche Betrachtung Europas (wie der Europäischen Union) wäre ohne einen Blick auf die Errungenschaften des Europarates unvollständig. d)
„Verfassungsentwürfe " ab 1952
aa) Die Europäische Gemeinsc
haft für Ko hle un d Stahl (1952)
1952 erschien eine unmittelbare politische Integration aufgrund zu großer nationaler Gegensätze noch nicht möglich. Stattdessen unterzeichnete man am 18. April 1951 den - in erster Linie als enge wirtschaftliche Kooperation geschaffenen - EGKS-Vertrag 14 3 und hoffte, dass dies „automatisch" auch die engere politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit sich bringen würde. Dieser Gedanke war auch in der Organisation der EGKS enthalten, die eine Versammlung (d. h. ein Parlament), eine Hohe Behörde, den Gerichtshof und den Ministerrat vorsah. Bemerkenswert ist, dass Art. 21 EGKSV bereits eine Direktwahl der Delegierten zur Versammlung benannte. Die gegenseitige Abhängigkeit und Überwachung der Organe sollte eine rechtsstaatliche Legitimation gewährleisten. 141 Vgl. aus der umfangreichen Lit. zum Europarat K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956: J.-L Burban, Le Cons eil de l'E uro pe. 1985 (2e me ed. 1993); A. Gimbal, Europarat in Bedrängnis. Notwendige Reformen und Konsequenzen, in: Internationale Politik 12/1997. S. 45 ff.; R. Streinz, Einführung: 50 Jahre Europarat, in: ders. (Hrsg.), 50 Jahre Europarat. Der Beitrag des Europarates um Regionalismus, 2000. S. 17 ff.; M. Wittinger, Der Europarat. Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte", 2005. 142 Hierzu beispielsweise G.C. Rodriguez Iglesias, Die Stellung der EMRK im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewah rung. F estschrift für R.Be rnh ardt . 1995. S. 1269 ff.: M. Hilf. Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. S. 1193 ff.: C. Busse. Die Geltung der EMRK für Rechtsakte der EU, in: NJW 2000. S. 1074 ff.: H. Waldock. Die Wirksamkeit des Systems der EMRK. in: EuGRZ 1979. S. 599 ff. 143
Vgl. etwa bereits K. Carstens, Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Atomgemeinschaft und Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: ZaöRVR 18 (1958), S.459 ff.
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Der EGKS-Vertrag kann als erste „Vertragsverfassung" bezeichnet werden, die konkrete und wirksame Schritte in Richtung einer gemeinsamen politischen Union einleitete. Er lief am 23. Juli 2002 aus. bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäi schen Gemeinschaft - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EGKS (1953) Kontrastierend zur „pragmatischen Integrationsmethode" ist die Verfassungsidee Teil eines permanenten Diskussionsprozesses über Reform und Gestaltung der europäischen Einigung gewesen und rückte immer dann auf die Tagesordnung, 14 4 wenn die Integration in eine neue Phase trat oder in eine Krise geriet. De r erste politisch bedeutsame Entwurf für eine konstitutionelle Neugründung Europas entstand im Nachkriegseuropa 1953 im Zusammenhang mit den Plänen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Dieser Ansatz ist auch in klarer Abgrenzung zu den Verfassungsentwürfen der benannten Gruppen der Europabewegung während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, deren Pläne meist die Umwandlung Europas in einen föderalen Bundesstaat mit eigener Haushaltskompetenz, gemeinsamer Armee und weitreichenden legislativen und exekutiven Kompetenzen implizierten. 14 5 Währe nd sich 1950 die Erken ntnis durchgesetzt hatte, dass „Europa sich nicht mit einem Schlage" herstellen lassen könne, sondern mit der EGKS 14 6 nur eine „erste Etappe der europäischen Föderation" auf wirtschaftlichem Gebiet zu verwirklichen war, gewann die Gründung einer umfassenden politischen Gemeinschaft während des Koreakriegs und der damit verbundenen deutschen Wiederbewaffnung erneut an Bedeutung. Analog zum Modell des Schuman-Plans schlug Frankreich eine frühzeitige Einbindung Deutschlands in ein supranational organisiertes europäisches Sicherheitssystem vor. Letztlich beschlossen die sechs Außenminister der Montanunion auf Anregung von J.Monnet (Präsident der Hohen Behörde der Montanunion) und P.H. Spaak (Vorsitzender der europäischen Beratenden Versammlung des Europarates) eine aus den parlamentarischen Mitgliedern der EGKS und einigen Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates zusammengesetzte „ad hoc"-Versammlung zu beauftragen, einen Vertragsentwurf für eine Europäische Politische Gemeinschaft zu erarbeiten. Diese „verstärkte" Versammlung der 14 7 EGKS bildete einen Verfassungsausschuss, der einen Vertragsentwurf ausar-
144 Vgl. W. Weidenfeld. Wie Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union. 1991. S.76. 145 Hierzu die Dokumente in W. Lipgens. 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung. Bonn 1986. 14 6 ..Erklärung zur Montanunion", 9. Mai 1950. in: W. Lipgens, 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung. Bonn 1986. Dok. 67, S. 293 f.
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beitete. Diesen Entwurf legte die Versammlung am 9. März 1953 vor. Er wurde vo m Rat der sec hs Au ße nm in is te r de r E G K S am 10. Mä rz gebi lligt . Zwar war der „Ad-hoc-Entwurf" vorsichtiger formuliert als die Pläne der föderalistischen Bewegung („Verfassung" oder ..Bundesstaat" tauchten als Begriffe nicht auf), doch inhaltlich richtete sich der Plan weitgehend am Leitbild eines 148 europäischen Bundesstaates aus. Einige „Verfassungsfunktionen" , wie die Legi150 timations 1 4 9 - und Organisationsfunktion der vorgelegten Konzeption gestalteten sich ähnlich den Entwürfen der Europabewegung: eine demokratisch legitimierte,
föderale Organisationsstruktur mit einer weitgehend gleichberechtigten Völkerund Staatenkammer (Senat) nach amerikanischem Modell (Art. 11 und 16), welche auc h die Hohe it über den H aus hal t erh alte n sollte (Art. 75). Zu de m sollte das Parlament den „Europäischen Exekutivrat" mit Präsident und Ministern kontrollieren (Art. 31). Gemeinschaftsrecht sollte Verfassungsvorrang gegenüber den Mitglied sstaate n erhalten (Art. 4) und einkl agbar bei ei nem Ge richt shof sei n (Art. 3 8 - 4 9 ) . De r Ent wur f ver füg te ü ber k einen Men sch enr ech tsk ata log , sa h aber
14 7
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001,11.23.b). 148 Die Unterteilung in Funktionen der Verfassung als Analyseraster ist in ihren Grundzügen C. Walten Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVB1 2000. S. I ff.. 5 f. entlehnt. 14 9
Indem sie die Macht dem subjektiven Belieben ihrer Träger entzieht und sich auf den Willen eines souveränen Volkes stützt, hat die Verfassung zunächst die Funktion. Mach taus übung zu legitimieren. Indem sie sich auf die Volkssouveränität als constituant beruft, schafft sie die Grundlage für die Ausübung von Hoheitsgewalt überhaupt: Weil nur die Verfassung aus den vorrechtlichen Gegebenheiten der verfassungsgebenden Gewalt der Gemeinschaft abgeleitet ist, muss sich jedes Organ. Gesetz und jeder Rechtsakt auf die Verfassung zurückführen lassen. Sie ist damit der Maßstab allen rechtlichen und politischen Handelns. Weil die Verfassung in der Hierarchie der Normen an oberster Stelle
pouvoir
steht, muss sie gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht verbindlich durchsetzbar sein. Diese Durchsetzbarkeit kommt üblicherweise einem Verfassungsgericht zu. Es verfügt außerdem über die sogenannte Kompetenzkompetenz, im Namen der verfassungsgebenden Gewalt Unvollständigkeiten in der Verfassung durch neue Staatsaufgaben zu ergänzen, vgl. auch C. Koenig , Ist die euro päis che Union verf ass ungs fäh ig? , in: DÖ V 1998. S. 268 ff., 272. 15 0 Die Verfassung legt die Organisation- und Verfahrensregeln fest, die eine den Legitimationsprinzipien konforme Handhabung der öffentlichen Gewalt garantieren. Deshalb enthalten Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Hoheitsgewalt. die Missbräuche verhüten sollen und so meist nach dem Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Exekutive. Legislative und Judikative die Kompetenzen der einzelnen Organe verbindlich festlegen, vgl. D. Grimm . Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995 (12), S. 581 ff., 584. Der enge Zusammenhang von Organisations- und Legitimationsfunktion zeigt sich besonders an der verfassungsmäßigen Rolle des Parlaments. Dieses soll im Namen des souveränen Volkes die Regierung kontrollieren und ihr im äußersten Fall auch das Vertrauen entziehen, d. h. sie absetzen können. Gleichzeitig initiiert das Parlament als Repräsentant des Volkes die Gesetze und garantiert so die demokratische Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse. Damit wird das parlamentarische Gesetz das zentrale Instrument der Herrschaftsausübung.
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die Aufnahme der EMRK als „integrierten Bestandteil" vor (Art. 3). Die Kompetenzen der Gemei nscha ft waren allerdings begrenzter als in d en Verfassungsplänen der Europabewegung. Der ..Rat der nationalen Minister", der dem Ministerrat der Montanun ion und EVG entsprechen sollt e, konnte in zentrale Zuständigkeitsgebiete der Gemeinschaft eingreifen (Art. 104) Auch die Außenpolitik sollte lediglich von der Gemeinschaft koordiniert werden, aber „durch einstimmigen Beschluß" des Ministerrats (Art. 69). Diese zögerlichen Formulierungen lassen eine Deutung auf den Wandel der europapolitischen Interessen zu Ungunsten eines verfassungspolitischen Integrationssprungs zu, welcher letztlich zum Scheitern des Ad-hoc-Entwurfs führte. Das Ende der Koreakrise im Jahr 1953 nahm den Antrieb zur Gründung einer EVG und EPG. Vor allem Frankreich erschien der Preis eines nationalen Souveränitätsverlustes zugunsten einer europäischen Armee zu hoch. Der Verfassungsentwurf scheiterte zusamm en mit der EVG in der französischen Na tionalversamml ung (30. August 1954). Mit dem Entwurf wurde auch das Leitbild eines föderalen Bundesstaates ad acta gelegt, und die europäische Verfassungsdebatte ebbte zunächst ab. Die Integrationsbemühungen verlagerten sich auf den wirtschaftlichen Bereich, in dem sich die verschiedenen Motive und Interessen der Mitgliedsstaaten erfolgreicher bündeln ließen. Das Verfassungsmodell reduzierte sich auf eine rein 15 1 rhetorische Figur. Leitbilder wie „Vereinigte Staaten von Europa" wirkten „wie 15 2 der Aufputz von Sonntagsreden" . cc) Römische Verträge (1957) Die v on der Regier ungskon ferenz der sec hs Gründungsstaate n (Belgien. Deutschland. Frankreich. Italien. Luxemburg, Niederlande) unter dem Vorsitz von P.-H. Spaak verfassten Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) betrafen - anders als bei der EGKS - die gesamte Volkswirtschaft der Mitgliedstaaten. Die Römischen Verträge 15 3 übernahmen im Wesentlichen die institutionelle Gestaltung der EGKS und sahen einen Rat, eine Kommission und ein Parlament vor. Dabei war der Rat zunächst praktisch als alleiniger Gesetzgeber der Gemeinschaft konzipiert.
15 4
151 Siehe aber T.R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy. 2005. 152 H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfmalität: Föderation, Konföderation - oder was sonst?, in: Integration. 3/2000. S. 171 ff., 171; siehe auch W. Weidenfeld. Europäische Verfassung fiir Visionäre?, in: Integration. 1/1984. S. 33 ff.. S. 38. 153 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001, II.24.b). 154 Im Einzelnen z. B. sche Bilanz. 2002. 16 ff.
W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine histori-
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Schon damals wurde daher ein Defizit an Handlungsfähigkeit (Einstimmigkeit im Rat) und an parlamentarischer Kontrolle konstatiert. e)
Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre
Gerade angesichts der gelegentlich romantisierenden und den Vergleich zu den USA suchenden Bezeichnung „Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften" (bzw. überaus gewagt der „Europäischen Union") ist zu fragen, ob sich die Beteiligten in den 50er-Jahren des vsrcen Jahrhunderts auch über die Ausgestaltung der hoheitlichen öffentlichen Gewalt der Europäischen Gemeinschaften überhaupt Gedanken gemacht haben bzw. machen mussten. Aufgrund der Qualifizierung der Gemeinschaften als lediglich „funktionelle Zweckverbände wirtschaftlicher Integration" 15 5 . die vordergründig keine wie immer gearteten „verfassungsrechtlichen" Probleme aufwerfen konnten -soll auch im Hinblick auf die „Verfassungsdebatte" 15 6 im Rahmen des „Europäischen Konvents" dieser Fragestellung nachgegangen werden. Tatsächlich haben sich die „europäischen Gründungsväter" sehr intensiv mit der Thematik der Ausgestaltung und Strukturierung der hoheitlichen öffentlichen Verbandsgewalt beschäftigt, die sie den drei Europäischen Gemeinschaften mitzugeben beabsichtigten. Sie fanden hierbei auch umfassende Unterstützung durch die Lehre, wie die Fülle einschlägiger Gutachten belegt, die in der zweiten Jahreshälfte 1952 von führenden deutschen Staatsrechtslehrern verfasst wurden.
15 7
Auslöser war die vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepublik Deutschland auf die geplante EVG und Gegenstand der Auseinandersetzung war die von H. Kraus erhobene Forderung nach „struktureller Kongruenz und Homogenität" der hoheitlichen, öffentlichen Verbandsgewalt der EVG im Verhältnis zur Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten, im konkreten Fall jener der Bundesrepublik. 15 8
155 15 6
15
Vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 196. Hierzu unten B.IV.2.f)oo).
Gesammelt in den Veröffentlichungen des Institutsßir Staatslehre und Politik e. V. in
Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag. Bd. 2, 2. Halbband: Das Gutachtenverfahren (30.7.-15.12. 1952), 1953. 158 Nach der später ..Lehre" genannten These von der notwendigen ..strukturellen Kongruenz und Homogenität" durften gem. Art. 24 Abs. 1 GG deutsche Hoheitsrechte nur an solche zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden, deren Struktur dem staatsrechtlichen. rechtsstaatlichen Aufbau des nach dem GG verfassten bundesrepublikanischen Staatswe sens ..kongruent" ist. Die jüngste „Ver fassungsdebatte " in der Europäischen Union nahm dabei Überlegungen auf. die sich bereits 1952 im Zuge der Diskussion bezüglich der Übertragung von Hoheitsrechten Deutschlands auf die geplante EVG entspannen (vgl. dazu W. Hummer, Eine Verfassung für die Europäische Union - eine Sicht aus Österreich, in: H. Timmermann (Hrsg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer grundsätzlichen und aktuellen Diskussion. 2001).
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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Der Ansatz von der notwendigen „strukturellen Kongruenz und Homogenität" der Verbandsgewalt internationaler/supranationaler Organisationen im Allgemeinen und der EVG im Speziellen in B ezug auf die Staatsgewalt ihrer wusste sich - wie soeben beschrieben - aber nicht durchzusetzen.
Mitgliedsta aten
Im Ergebnis erscheint es nicht vermessen, die Europäischen Gemeinschaften konzeptionell als eine „inkongruente" und „inhomogene" Verbandsgewalt „sui generis" zu bezeichnen - und zwar nicht nur ohne Gewaltenteilung, sondern sogar „gewaltenfusionierend" (mit einem exekutiv rekrutierten Rat als Hauptlegislator), ohne Grundrechtskatalog, ohne vertikale Kompetenzverteilung, mit einem Europäischen Parlament ohne Legislativbefugnisse etc. -. die sich bewusst vom 1 staatsrechtlichen Modell ihrer Mitgliedstaaten abhob. -" Hervorzuheben ist, dass die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften in keiner der Ratifikationsdebatten in den sechs Gründungsstaaten verfassungsrechtlichen Bedenken begegneten, und die parlamentarischen Genehm igungsverfa hren mit großen Mehrheiten erfolgten. 16 0 f)
Stationen zur Europäischen
Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren
aa) Der Entwurf von Max Imbod en (1963) Unter den Ideen der 60er- und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts ist neben den Fouchet-Plänen (Februar 1961) 16 1 und dem Davignon-Bericht (1970) 16 2 sowie dem Tindemans-Bericht (1975) 16 1 insbesondere der Entwurf von M. Imboden 164 15 9 So auch W. Hummer. „Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent - Strat egien und Argu men te, Sond erh eft 1/20 03. S. 53 ff.. 55. 1611 Vgl. etwa H.-J. Küsters. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
1982. S. 472 ff.; S. Griller/F. MaislingerlA. Reindl (Hrsg.), Fundamentale Rechtsgrundlagen einer EG-Mitglied 161
schaft . 1991 , S. 236 ff.
Hierzu u. a. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Eu-
ropäis che Union 2004 . Bilanz und Perspek tive. 2004 , S. 7. 1962 waren die so gena nnten Fouchet-Pläne grandios gescheitert, die gleichfalls eine engere politische Zusammenarbeit und sogar eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beabsichtigten. Trotz allem wurde bereits ein Jahr darauf der Dcutsch-Französische-Freundschaftsvertrag unterzeichnet. die Initialzündung für den so genannten (bis heute nicht unumstrittenen) ..Motor der Integration". 162 Vgl. etwa S. Petkovic, Geschichte der politischen Integration in Europa - Teil 2 (von der EPZ zum Vertrag von Nizza), 2003, S. 6 f. im Internet: cdl.niedersachsen.de/blob /images/C4786923_L20.pdf. Siehe übrigens aus den 70cr Jahren auch den Verfassungsentwurf von J. Dorren (1977). abrufbar unter http://www.u ni-trier.de/~iev r/eu_verfassun gen /dorren.htm. 16
' Vgl. W. Wessels, Europäische Union 1980. Fragen und Thesen im Hinblick auf den Tindema ns-Ber icht zur Europäisc hen Union. 1975 : Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2004), S.8. Tindemans ..Bericht über die Europäische
70
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
hervorzuheben. Er hielt den „funktionalen" Ansatz der EWG, bei dem die Einheit letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll, für unzulänglich. In Anlehnung an die Verfassungen der USA, der Schweiz und das deutsche Grundgesetz (GG) wollte Imboden versuchen, „den noch schwer fassbaren konkreten funktionellen Inhalten ein festes politisches Gefäß zu geben." Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft „über situationsbedingte Erfolge 16 5 und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit sichern." Er sah die Organe ..Rat"(als Regierung), „Europäische Versammlung"-bestehend aus Abgeordnetenhaus (Volkswahl) und Senat (Länderkammer) - sowie einen Gerichtshof vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 22-25 ist ausdrücklich eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten enthalten. 16 6 Seit Gründung der EWG (1958) standen Erfolge und Rückschläge im Einigung sproz ess in eine m dyna misc hen Wechselspiel. Bereits 1968 war die Zolluni on verwirklicht. Mit dem vertragswidrigen Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen wurde jedoch zwei Jahre vorher ein entscheidendes Instrument supranationaler Politik außer Kraft gesetzt. Entscheidungen waren demzufolge nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Einstimmigkeit möglich. bb) Die Verfassungsdiskussion 1984Das Europäische Parlament als Akteur <1)
Ausgangspunkte der Debatte
Es zählt zu den bemerkenswerten, wenngleich verfassungstheoretisch stringenten Begebenheiten, dass die ersten umfassenderen und inhaltlich kohärenteren Verfassungsentwürfe parlamentarischen Ursprungs sind. Das trifft sowohl auf den Verfassungsentwurf 1984 als auch auf den Verfassungsentwurf 1994 zu, die jeweils vom Europäischen Parlament vorgelegt worden sind. Aufgrund offensichtlicher Parallelen zum jüngsten Verfassungsvertrags-Entwurf soll die Darstellung der Ansätze von 1984 und 1994 entsprechend umfassender ausfallen. Union" empfahl eine durchaus föderale Gestaltung der Union, ein „Europa der Bürger", deren Grundrechte zu schützen seien, die Stärkung der Sozial- und der Regionalpolitik, erhöhten Verbraucher- und Umweltschutz. Die schrittweise Weiterentwicklung der Union könne, wenn einzelne Staaten noch nicht zu weiterer Integration bereit seien, auch mit verschiedenen Geschwindigkeiten verwirklicht werden. Die Vorschläge fanden Zustimmung, verschwanden aber in den Schubladen und wurden zum Teil erst viele Jahre später umgesetzt. 164 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001,11.26. 165 Zitat nach R. Streinz/C. Ohlerl C. Hertmann. Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse. 2005, S.4. 166 P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, 33 (Fn. 132) ordnet dens Entwurf als „Bauteil innerstaatliche[n) Europaverfassungsrecht[s]" ein.
Imbo-
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
71
Vergleichbare Initiativen innerhalb des Europäischen Parlaments gewannen bereits nach dessen erster Direktwahl im Jahre 1979 an Schubkraft. Einflussreiche Kreise hielten es nach der ersten Direktwahl für eine historische Pflicht, als erstes von den europäischen Bürgern direkt gewähltes Parlament einen Entwurf für eine Union vorzulegen, der anschließend den Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung vorgelegt werden sollte. Hervorzuheben ist vor allem der italienische Abgeordnete A. Spinelli, der vehement für diese Initiative kämpfte. Einen ersten Erfolg und Höhepunkt konnte Spinelli mit dem Beschluss des Plenums des Europäischen Parlaments vom 9. Juli 1981 erzielen, welcher vorsah, einen Institutionellen Ausschuss im Europäischen Parlament einzurichten, der Vorschläge für die Verwirklichung einer Europäischen Union erarbeiten sollte. Im September 1983 legte der Institutionelle Ausschuss den Vorentwurf eines Vertrages vor. Unter Mitwirkung der so genannten Juristenkommission (vertreten durch die Professoren Hilf, Jacobs, Jaque un d Capotori) entstand schließlich ein endgültiger Entwurf, den das Europäisc he Parlam ent am 14. Febr uar 1984 mit groß er Mehrh eit verabschie67
dete.' (2)
Grundgedanken des
Verfassungsentwurfs des Europäischen
Parlaments
Von anderen vorherigen und auch nachfolgenden Textentwürfen unterscheidet sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984 sowohl hinsichtlich seiner Legitimation als auch in Bezug auf seine inhaltliche Architektur und Geschlossenheit. Die Initiative des Europäischen Parlaments war als Akt echter Verfassunggebung intendiert, der sich mit anderen bisherigen Entwürfen nicht vergleichen ließ. Laut Spinelli verstand sich das erste direkt gewählte Europäische Parlament als „verfassungsgebende Versammlung", die den Unionsbürger legitim vertritt, gegenüber dem Ministerrat trotz zahlreicher 16 Initiativen aber weitgehend machtlos geblieben war. * A. Peters charakterisiert den Verfassungsentwurf 1984 (wie auch den aus dem Jahre 1994) al s „in de m Sinne revolut ionär" , als er sich als normati v diskontin u16 9 ierlich zum geltenden Verfassungsrecht auffasste. Festzuhalten ist, dass dieser Entwurf ausschließlich eine Initiative des Europäischen Parlaments darstellt. Die Regierungen hatten zur Ausarbeitung dieses Verfassungsentwurfs weder einen Auftrag erteilt noch waren sie an den Verhandlungen über die Formulierungen des Textes beteiligt. Das Europäische Parlament hat sich diesen Aufgaben vielmehr mit dem selbst gesetzten Anspruch eigener Legitimation und unter Inanspruch167 Vgl. ABl. Nr. C 77/1984. S. 33, abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe für die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002). S. 3 ff. 16!>
Vgl.
A. Spinelli.
Das
Verfassungsprojekt
des
Europäischen
Parlaments,
in:
J. Schwarze (Hrsg.). Eine Verfassung für Europa. Von der EG zur EU, 1984. S. 231 ff.. 242. 169 A. Peters. Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001. S.492f.
72
B. Verfassung
serweckung
und Verfassungsbestätigung
nähme eines konstitutionellen Initiativrechts unterzogen. Insgesamt ein Vorgang, der von einem beachtlichen parlamentarischen Selbstbewusstsein zeugte. Der Verfassungsentwurf ist in vielerlei Hinsicht als bemerkenswert zu bezeichnen. Er legt zwei Aktionsweisen der Union fest, die im weiteren Sinne auch noch heute deren Funktionieren zu bestimmen wissen: Einmal die vom Europäischen Parlament so genannte gemeinsame Aktion und zum anderen die Zusammenarbeit. Unter gemeinsamen Aktionen versteht der Verfassungsentwurf Rechtshandlungen, die von den Institutionen der Union ausgehen und sich entweder an diese selbst, an die Staaten oder an Einzelne richten, unter Zusammenarbeit werden die Verpflichtungen subsumiert, die die Mitgliedsstaaten im Rahmen des Europäischen Rates eingehen. Ausdrücklich vorgesehen ist, dass Gegenstände, die bisher der Zusammenarbeit zwischen den Staaten unterliegen. Gegenstand gemeinsamer Aktionen werden können, im Interesse der Erhaltung des europäischen Integrationsgrads jedoch nicht umgekehrt. Bezüglich der Politiken der Union wird in dem Verfassungsentwurf unter jeweils enumerativer Benennung zwischen „ausschließlicher, konkurrierender und potentieller Zuständigkeiten" unterschieden. Die Gewaltenteilung erscheint durch die Differenzierung in supranationale, „gemeinsame Aktionen" und bloße „Zusam men arb eit " gewährlei stet (Art. 10). Auch berief man sich bekrä ftigen d auf das Subsidiaritätsprinzip. In die ausschließliche Zuständigkeit sollten etwa Bestimmungen über den Binnenmarkt und die Freizügigkeit sowie den Wettbewerb, in die konkurrierende Zuständigkeit die Konjunktur- und Kreditpolitik, aber auch weite Bereiche der Gesellschaftspolitik lallen. Hinsichtlich der internationalen Beziehungen der Union sollte die Union teilweise durch gemeinsame Aktionen, teilweise im Wege der Zusammenarbeit agieren können. Zentral ist die ausdrückliche Festlegung, dass im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union allein die Institutionen der Union handlungsbefugt sein sollten. Im Falle der konkurrierenden die Mitgliedsstaaten nur insoweit zur Handlung befugt, als dieZuständigkeit Union nicht waren tätig geworden wäre. Einen gewissen Innovationsgrad besitzen in dem Verfassungsentwurf vor allen Dingen die Bestimmungen über die gesetzgebenden Organe und das Gesetzgebungsverfahren. Nach Art. 36 des Entwurfs sollten nämlich das Europäische Parlament und der Rat der Union gemeinsam unter aktiver Beteiligung der Kommissi on die Gesetzg ebungsbe fugnis ausübe n. Unter bestimmten Vorauss etzungen wurde auch dem Europäischen Parlament Gesetzesinitiativrecht eingeräumt. Die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Beschlüsse sollten von der Kommission erlassen werden, die sich dabei an die im Gesetz vorgesehenen Verfahren zu halten hatte. Neu war das Instrument der so genannten Organgesetze, die den organisatorischen Aufbau und die Funktionsweise der Institutionen regeln sollten (Art. 34 II). Dieses Verfahren würde es der Union erlauben, wichtige Modalitäten über das eigene Funktionieren selbst zu regeln, ohne auf die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente angewiesen zu sein. Bezüglich
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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der Mehrheitserfordernisse ist festzuhalten, dass für Abstimmungen im Rat die Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit, das heißt mit der Mehrheit der abgegebenen gewogenen Stimmen ohne Berücksichtigung der Enthaltungen, die Regel sein sollte. Beachtlich ist, wie sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments zu den Grundrechten verhielt. So sollte auch die Begrenzungsfunktion 1" europäischer Hoheitsgewalt gegenüber dem Unionsbürger mittels einer Verfassung erweitert werden. Ausdrücklich erwähnt wurde in Art. 41 nur die Menschenwürde. Ansonsten verwies der Verfassungsentwurf auf die Grundrechte und Grundfreiheiten, „die sich insbesondere aus den gemeinsamen Grundsätzen der Verfassungen der Mitgliedsstaaten und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben". Der Entwurf sah jedoch neben dem Beitritt der Union zur EMRK vor, dass innerhalb einer Frist von fünf Jahren die Union nach dem in dem Entwurf vorgesehenen Vertragsänderungsverfahren „ihre eigene 17 1 Grundrechtserklärung" verabschieden solle. Allerdings hatte der Entwurf angesichts der Organisationsfunktion auch Defizite. Gerade die Kompetenzabgrenzung wurde als unzureichend kritisiert. Weder war der rechtliche Status der Begriffe „Zusammenarbeit" noch der „gemeinsamen Aktion" genau definiert, noch das Verfahren der „Europäisierung" einzelner Bereiche eindeutig festgelegt. Diese Fülle unscharfer Festlegungen schien so kaum praktikabel. Kritiker vermuteten, Spinelli habe eine außerordentliche Ausweitung der Kompetenzen auf die supranationale Ebene vorzunehmen gewollt, so dass
17 0
Unter Begrenzungsfunktion ist in diesem Kontext (vgl. auch C. Walter, Die Folgen der Glob alis ieru ng für die europäisc he Verf assu ngsdi skuss ion, in: D VB1.2( XX) . S. 1 ff. 5) zu verstehen, dass die Verfassung neben ihrer Aufgabe. Herrschaft zu legitimieren und zu organisieren. die Rechte des Einzelnen vor der von der Mehrheit errichteten Herrschaft schützt. Sie schreibt verbindliche Grund- und Bürgerrechte fest, die die Freiheit des Einzelnen garantieren und bewahren sollen und die zu diesem Zweck nicht von einer Mehrheit widerrufbar sind. Dabei ist essentiell, dass wesentliche Grundrechte wie etwa die im Grundgesetz festgelegte Menschenwürde, Art. 1 1 GG. ein „unaufgebbares Naturrecht" (vgl. IV. Rudzio. Das politische System der Bundesrepub lik Deut schland. 4. Aufl. 1996. S. 44) darst ellen. Diese von der Gesellschaft wechselseitig zuerkannten Rechte schützen somit die Minderheit vorder ..Tyrannei der Mehrheit" und begrenzen andererseits die Freiheit des Einzelnen, wenn er den in der Verfassung festgelegten Grundkonsens der Gesellschaft gefährdet. Die jeweilige Ausgestaltung der Grundrechte hängt stark von den Entstehungsbedingungen der Verfassung selbs t ab. Beispiels weise bekennen sich jen e Verfassunge n, welche nach Diktaturen entstanden sind, ausführlicher zum Demokratieprinzip und den Menschenrechten (wie die deutsche, italienische, spanische und portugiesische) als andere (wie etwa die französische). s. dazu A. Kimmel, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechte, Staatszielbestimmungen und Verfassungsst rukturen, in: O. W.G abr iel /F. Brettsch ncider. (Hrsg.). Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen. Prozesse. Inhalte. 1994. S.23ff.. 24. 1
1
Nahezu 20 Jahre später sollte der umgekehrte Weg beschritten werden, indem man zuerst eine Grundrechte-Charta erarbeitete, um sich erst anschließend mit deren Einfügung in eine Verfassung auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu unten B.II.2.f)ii)-
74
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
den ..Mitgliedsstaaten kaum noch Hoheitsgewalt bleibt". Hinter der Fassade der gemäßigten Formulierungen, mit der nationale Empfindlichkeiten geschont werden sollten, verbarg sich also nicht die Fortsetzung der alten Gemeinschaft, denn 17 2 organisatorisch wurde beim Nullpunkt angefangen. Insgesamt tritt in dem Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1984jedoch der Verfassungscharakter des Vertrages sehr stark hervor. Er ist als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens konstituiert, als Rahmenordnung politischer Einheitsbildung der Union, einer Ordnung, in der Hoheitsgewalt begründet, begrenzt und zugeordnet, ihre Ausübung legitimiert und organisiert wird. Der Vertrag beinhaltet schließlich einen umfassenden „Zielekatalog", unterstreicht aber eben auch gleichzeitig den Grundsatz der Subsidiarität. Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984 wurde vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen. (3)
Verlauf und Ergebnisse der Diskussion
Das am 17. Juni 1984 neu gewählte Europäische Parlament wurde in der dem Verfassungsentwurf beigefügten Entschließung aufgefordert, alle geeigneten Kontakte und Treffen mit den nationalen Parlamenten zu organisieren und jede andere dienliche Initiative zu ergreifen, um die Haltungen und Standpunkte der nationalen Parlamente zu berücksichtigen. Dieses Verfahren war erforderlich, weil es sich bei dem Vert rags ent wurf ja gera de nicht um einen nach völkerre chtli chen Grundsätzen von den Regierungen erarbeiteten Text handelte, der den Parlamenten 17 3 automatisch und zwingend zur Ratifizierung zugeleitet werden musste. Offensichtlich hatte Spinelli die Strategie verfolgt, von der traditionellen Methode des Völkerrechts abzuweichen. Bereits eine Zwei-Drittel-Mehrheit der EGBevölkerung sollte den Vertrag ratifizieren können, während die Regierungen lediglich das Datum des Inkrafttretens beschließen sollten (Art. 82). Dementsprechend befürchteten die Regierungen eine „natürliche Koalition der Parlamente 74 gegen die Exekutiven" . Letztlich waren jedoch die zentralistischen Tendenzen ausschlaggebend für das Scheitern der Entwurfes. Sobald die Beteiligten nämlich den „Unterwerfungscharakter der supranationalen Beschlüsse" erkannten hatten, rückte der erforderliche 172 Vgl. nur U. Everling. Zur Rechtsstruktur einer Europäischen Verfassung, in: Integration, 1/1984, S. 12 ff.. 13 sowie 23. 173 Die Diskussion, die zum Verfassungsentwurf geführt hatte, hat wesentlich dazu beigetragen. die Fronten zwischen denjenigen, die vertragsimmanente Reformen für vordringlich hielten und denjenigen, die auf einen vollständigen Neuansatz für die Fortentwicklung der Integrationen eintraten, zu klären. 174 M. Garthe. Weichenstellung zur Europäischen Union? Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments und sein Beitrag zur Überwindung der EG-Krise. 1989. S. 87.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
75
17 europäische Konsens in unerreichbare Ferne. ' So lehnte etwa das dänische Parlament die Spinelli-Initiative mit der Begründung ab. das Vetorecht und die
bisherige Kompetenzverteilung müsse erhalten bleiben. Ein wesentlicher Grund für die Ableh nung wa r die Absicht, die Union mit einem eigenen Haushaltsre cht zu versehen. Der deutsche Bundestag kritisierte den Entwurf wegen der „Tendenzen zur Au szehrung national staatli cher Finanzau tonomie". 17 6 Zudem: Das Ziel, staatliche Verfassungsstrukturen auf die europäische Ebene zu übertragen, musste auch an der damals unüberbrückbar - heute banal - scheinenden Beobachtung scheitern, dass die Union bereits aus Staaten mit eigenen Verfassungen besteht. So wurden die Verfassungsbestrebungen des Europäischen Parlaments dem apostrophierten dualen Charakter der Gemeinschaft - supranational und intergouvernemental - nicht gerecht. Besonders deutlich wird dieses Realisierungsdefizit eben an der (gescheiterten) Strategie des Europäischen Parlaments, die Exekutiven der Mitgliedsstaaten möglichst wenig mit einzubeziehen.
cc) Die Einheitliche Europäis
77
che Akte (1986 )
Trotz der letztlich fehlenden Umsetzung wirkt der Spinelli-Entwurf bis in die heutige Zeit nach. 17 * Selbst wenn im Jahre 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 wichtige
175
G. Zellentin. Überstaatlichkeit statt Bürgernähe. in: Integration. 1/1984. S.45ff..
S. 47. 17 6 Vgl. W. Wessels. Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundlinien und Optionen, in: W. Weidenfeld/W. Wessels (Hrsg.), Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?, 1986. S. 37 ff.. 50. 1 IV. Weidenfeld. Die Reformbilanz der Europäischen Gemeinschaft: Bundesrepublik Europa" als Perspektive?, in: W. Weidenfeld/W. Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?. Bonn. 1986. S. 28 ff.. 29. 178 Vgl. auch M. Fuchs/S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent, 2002. S. 21 ff.. 32: „Noch heute ist der Enthusiasmus und die Aufbruchstimmung der Verfassungsväter für denjenigen spürbar, der sich der Lektüre des Verfassungsentwurfs unterzieht. Der Entwurf verfügt über den großen Vorteil, dass er aus einem Guss und ohne Scheuklappen formuliert ist. Schon daraus, aber auch aus dem Entwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1994. konnte entnommen werden, zu welchen integrationspolitischen Leistungen und zu welchen konstitutionellen Taten parlamentarisch zusammengesetzte Gremien im Vergleich zu exekutiv zusammengesetzten Organen in der Lage sind." Diese Erkenntnis sollte bei der 20 Jahre später stattfindenden Verfassungsdiskussion noch eine wesentliche Rolle spielen. Denn die Erarbeitung der Grundrechte-Charta und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 durch einen mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent ist auch aus der Einsicht entstanden, ein europäischeres, demokratischer es, transparenteres
und nicht zuletzt effizienteres Verfahren der Vertragsänderung bzw. -fortentwicklung zu etablieren.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Vertragsfortentwicklungen, die immerhin zur Gründung der Europäischen Union führten, im Wege der herkömmlichen, schrittweisen und regierungsseitig zu Stande gekommenen Vertragsergänzung erfolgt sind, kann doch nicht übersehen werden, dass der Verfassungsentwurf den Prozess, der zur Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte geführt hatte, ins Rollen gebracht hat. Die Einheitliche Europäische Akte hatte bekanntlich eine nennenswerte Anzahl von Vorschlägen aus dem Spinelli-Entwurf übernommen (und etwa die Stellung des Europäischen Parlaments durch die Einführung des Verfahrens der 17 9 Zusammenarbeit bei der Rechtsetzung deutlich verbessert). Zudem hat der Verfas sungse ntwurf - wie der Entwurf aus dem Jahre 1994 - die trivialen, aber nicht minder bedeutsamen Funktionen erfüllt, den Staats- und Regierungschefs wiederkehrend konstitutionelle Desiderata vor Augen zu führen und den Unionsbürgern deutlich zu machen, dass die Konstitutionalisierung der Europäischen Union und damit ihre zunehmende Demokratisierung und die Erhöhung ihrer Legitimation und Transparenz grundsätzlich nicht am Parlament und seinen Mit18 0
gliedern scheitert und auf keinen Fall an den Parlamenten vorbei erfolgen kann. Bis zur Umsetzung dieses ehrgeizigen Anspruches in die Wirklichkeit sollte es jedoch noch ein langer und steiniger Weg sein - auch des Interessenabgleichs zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Eine bedeutungsvolle Etappe auf diesem Weg bildete die Verfassungsdiskussion des Jahres 1994. dd) Der Verfassungsvert rag der Gemei nschaf t der Vereinigten Europäischen Staaten von F. Cramme (1987) Bevor die Debatte von 1994 ins Blickfeld rückt, verdient allerdings der auf Eigeninitiative von F. Cromme entstandene Entwurf eines „Verfassungsvertrages 18 1 der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten" Aufmerksamkeit. Er 17 9
Die EEA bereitete letztlich die Europäische Union vor. Eine Union wird bereits als Ziel in der Präambel genannt. Einige wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge bestanden in einer Verankerung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und des Europäischen Rates, einer Änderung des Beschlussverfahrens des Rates für den Binnenmarkt. der Einführung neue Aufgaben in den Bereichen Umweltschutz. Forschung und Technol ogie. Al lerding s wurden andere Ziele noch nicht erreic ht: Auf das Einsti mmigk eits prinzip wurde noch nicht vollständig verzichtet und die erweiterten Rechte des EP machten dieses noch nicht zu einem ..klassischen" Parlament. Die zwölf damaligen Mitgliedstaaten unterzeichneten die EEA 1986; am I.Juli 1987 trat sie in Kraft. (Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 200.11.30). 18 0 Eine eingehende und umfangreiche - auch empirische - Analyse liefert auch A.Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union. Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, 2002. 181 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 2001. 11.31. Vgl. für die
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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basierte auf den bestehenden Gemeinschaftsverträgen, auf dem eben beschriebenen Spinelli-Eniwuri (1984) und der Einheitlichen Europäischen Akte und legte Schwerpunkte auf die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie auf eine präzise Festlegung der Kompetenzen der Organe. Er erweiterte zwar die Befugnisse des Europäischen Parlaments (im Vergleich zum Stand der Gem ein sch af ts Vert räge v on 1987) wesentlic h, normie rte aber trotzdem den Rat als zentrales und entscheidungswesentliches Gemeinschaftsorgan. Die systematische Gliederung wurde für eine zukünftige Europäische Verfassung als vorbildlich gewertet. ee) Der Vertrag v on Maast richt (1992) Am I.November 1993 ist schließlich der in Maastricht geschlossene Vertrag über die Europäische Union (vom 7. 2. 19 92 ) in Kraft getreten. Über d ie ursprüngliche Wirtschaftsgemeinschaft hinaus wollten die Mitgliedstaaten mit dieser neuen Reformübereinkunft die Integration weiter vorantreiben. Kernpunkte sind die angestrebte Währungsunion, der Einstieg in eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die engere Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der Innenpolitik. Die vorhergehenden Debatten lieferten ein Musterbeispiel „europäischer Polyphonie", eine den „Federalist Papers" wenigstens nahe kommende intellektuelle Begleitung war in der sich weitgehend spiegelbildlich erweisenden 1 wissenschaftlichen Diskussion nicht erkennbar. " 80er Jahre auch den Verfassungsentwurf von R. LusterlG. PfennigIF. Fugmann. Bundesstaat Europäische Union. Ein Verfassungsentwurf. 1988. 182 Die zuweilen gezielte Instrumentalisierung von Hoffnungen und Befürchtungen spaltete die öffentliche Meinung. Frankreich befürchtete eine Übermacht des größeren Deutschland, die Deutschen lehnten den drohenden Verlust der DM zugunsten eines ECU ab, Großbritannien sträubte sich gegen eine gemeinsame Sozialpolitik. Spanien. Portugal und Griechenland erwarteten mehr Geld aus dem Kohäsionsfonds, Dänemark plante sich von der gemeinsamen Außenpolitik fernzuhalten. Deutschland und die Benelux-Staaten begrüßten allerdings den weiteren Schritt hin zu engerer Zusammenarbeit. Die Kontroversen spiegelten sich in drei Volksbefragungen wider. Während die Dänen erst nach einigen Kompromissen in einer zweiten Abstimmung knapp mehrheitlich zustimmten und auch Frankreichs Referendum mit hauchdünner Mehrheit positiv ausfiel, erreichte die Mehrheit in Irland 69 Prozent. Vgl. insgesamt zum Maastrichter Vertrag aus der ausufernden Literatur: P.M. Huber. Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993; I. Pernice, Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993). S.449ff: P. Lerche. Die Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, 1993. S. 131 ff.; H.-J. Blanke. Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat, in: DOV 1993. S. 412 ff.; Zum ..Maastricht Urteil" des BVerfG: R. Steinberger. Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.Oktober 1993, in: U.Beyerlin u.a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt. 1995. S. 1313 ff.; R. Streinz , Das Maastricht-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: EuZW 1994. S. 329 ff.; Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S. 1081 ff.
V. Götz, Das Maastricht-
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Die Gründe für einen neuen Vertrag waren offensichtlich: Bereits in der Präambe l des EGV von 1957 i st als Ziel angeg eben , eine n immer engere n Zu sam menschluss der europäischen Völker zu schaffen. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) und der weitgehenden Vollendung des Binnenmarktes (1993) waren erhebliche Fortschritte erreicht. Mit dem Zerfall des Ostblocks und der Öffnung der Grenzen in Europa stellten sich neue Anforderungen an die Zwölfergemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewann die Gipfelkonferenz im Dezember 1991 in Maastricht entscheidende Bedeutung. Der nun gültige Vertragstext auf drei „Säulen", die hier nur kursorisch wiedergegeben werden sollen:
Is
' ruht
Die erste Säule umfasst den alten EGV und entwickelt ihn weiter. Statt von „Wirtschaftsgemeinschaft" sollte nunmehr von einer „Europäischen Union" die Rede sein. Zu den alten Bereichen Zollunion, Binnenmarkt, Agrarmarkt und Handelspolitik traten neue Felder der Integration: eine Währungsunion, Verbraucher- und Umweltschutz, Gesundheitswesen, Bildung und Sozialpolitik, wobei die Zuständigkeiten der Europäischen Union in den einzelnen Politikbereichen sehr unterschiedlich ausgestaltet waren. Dazu wurde eine „Unionsbürgerschaft" eingeführt. Neu aufgenommen wurden die Verpflichtungen zu größerer Bürgernähe, zur Bildung eines Regionalausschusses sowie zur beschränkten Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments.
18 4
Die zweite Säule bezieht sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier lagen bereits Erfahrungen aus der Zusammenarbeit im Rahmen der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) vor. Der Vertragstext spricht zurückhaltend davon, in Zukunft eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu erarbeiten und zu entwickeln. Dabei sollten auch die vorhandenen Strukturen der Westeuropäischen Union (WEU) genutzt werden. Entscheidungen sollten einstimmig getroffen werden. Die dritte Säule sieht eine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik vor. nennt Stichworte wie Asyl- und Einwanderungsfragen, Kampf gegen Drogen und Kriminalität und empfiehlt engere polizeiliche Zusammenarbeit. Dabei bleibt der Einfiuss bei den Mitgliedstaaten. Die Regierungen erklärten sich aber dazu bereit, sich gegenseitig abzusprechen und gemeinsame Regelungen zu suchen. Diese stark 183
Abdruck BGBl. Nr. 47 v.30. 12. 1992. S. 1254 ff. Vgl. aus dem Schrifttum P. Hiiberie. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem Europa der Bürger?, in: DÖV 1987. S. 221 ff; später ders., Der Rechtsstatus der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück. 2005, S. 429 ff.; vgl. auch M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Euro päis che Union, in: DÖ V 1993. S. 749 f f : .4. Randelzhofer. Marktbürgerschaft - Unionsbürgerschaft Staatsbürge rschaft, in: A. Rande lzhof er/R . Sch olz /D. Wilke (Hrsg.), 184
Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995. S. 581 ff.; Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, 2000.
N. Kotalakidis, Von der nationalen
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
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geraffte, aber für den gesamten - auch rechtsvergleichenden - Kontext notwendige Zusammenfassung lässt kaum etwas ahnen von den überaus komplexen und (nicht nur) für den Laien schwer verständlichen Vertragsformulierungen. Der Vertrag brachte die Gründung der Europäischen Union - nicht als supranationale Konstruktion mit eigener Rechtspersönlichkeit, sondern als völkerrechtliche Einrichtung, der die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften angehören. Er wird durch das „Säulenmodeir veranschaulicht: Die erste, supranational geprägte Säule beinhaltet die Gemeinschaftsverträge, während die zweite und dritte Säule völkerrechtlich ausgerichtet sind. ff) Die Verfassungs diskussio n 199 4 - der Herman- Bericht (I)
Ausgangspunkte der Debatte
Bereits im Hinblick auf die Regierungskonferenz zum Maastricht-Vertrag hatte das Europäische Parlament mit den Entschließungen vom I I.Juli 1990 und vom 12. Deze mber 1990 Leitlinien fü r einen Ver fassun gsentwur f vo rgelegt. Dieser wurde im federführenden institutionellen Ausschuss fortentwickelt, im Februar 18 5 1994 finalisiert und anschließend dem Plenum vorgelegt. Dieser neuerliche Entwurf einer europäischen Verfassung - benannt nach dem Berichterstatter des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, F. Hennan - war gewissermaßen eine von vielen Antworten auf die Erkenntnis neuer Strukturen und einer etwaigen Modernisi erung Europas, die nach den Umbrüchen von 1989/1990, den wahrhaft „europäischen Momenten", deutlich geworden war. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Wiedervereinigung Deutschlands hatten innerhalb der EG die gelegentlich im Stolpern begriffenen Schritte in Richtung auf eine politische Union beschleunigt, jedoch noch nicht unbedingt stabilisiert. Bereits zu dieser Zeit waren Wirtschaft und Politik in Europa immer stärker von der Globali11 6 sierung geprägt, gleichzeitig aber gewannen die Regionen Europas " zunehmend an Bedeutung. Während nationalistische Kämpfe den Balkan erschütterten, griffen im Westen Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft um sich. Die Erweiterungspläne der Union auf 16 oder mehr Mitgliedsstaaten und die damit verbundenen Ängste offenbarten die Notwendigkeit eines institutionellen Umbaus der Union im Hinblick auf ihre Organisation und ihre Entscheidungsverfahren. Auch der offensichtliche Krisenzustand, in dem sich die europäische Wirtschaft, vor allem nach dem Zusammenbruch des EWS, befand, zeigte, dass der Zeitpunkt gekommen war, das europäische Aufbauwerk erneut mit „Schwung" zu versehen. Doch der Weg, der mit Maastricht beschritten wurde, stieß insbesondere in den Parla185 Vgl. ABl. Nr. C 61/1994. S. 155. abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe für die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002), S. 26 ff. 18 6 Zum Regionalismus in Europa vgl. insbesondere sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen.
P. Häberle , Europäische Verfas-
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
menten nicht zuletzt aufgrund der übermäßigen Komplexität des Vertragswerkes auf unverhohlene Skepsis. 18 7 Nach Maastricht sollte sich auch das Legitimationsproblem intensivieren. Die Politik der Union betraf immer mehr Lebensbereiche unmittelbar, entzog sich aber zunehmend der demokratischen Kontrolle, da Kompetenzen sich von den nationalen Parlamenten zur Kommission, Ausschüssen und den Exekutiven verlagerten. Obgleich das Europäische Parlament mit dem Mitentscheidungsrecht in einigen Bereichen gestärkt und bei der Einsetzung der Kommission ein Bestätigungsrecht erhielt, blieben seine gestalterischen und kontrollierenden Kompetenzen eher gering. Die Angst vor einem Souveränitätsverlust spiegelte sich in den knappen Referenden zur Ratifikation des Maastrichter Vertrages wider. Als weitere Argumente für den Verfassungsbedarf der Union galten die durch den Maastricht-Vertrag eingeführte Unionsbürgerschaft und die erforderliche Stärkung gemeinsamer Werte sowie die Bildung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins. Schließlich strebte man an, bis Ende der 90er-Jahre endlich Aufschluss über die Finalität der Europäischen Union und ihren Teilnehmerkreis zu erhalten. Die Verfassungsinitiative vom Februar 1994 hatte daher zum Ziel, die zunehmend komplexen EG-Strukturen zu systematisieren, damit neue Impulse für den Fortgang der europäischen Integration gesetzt und ein einheitlicher 18 8 verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen werden konnten. (2)
Grundgedanken des Verfassungsentw urfs des Europäischen Parlaments
Im Wesentlichen sollte die „Verfassung" von 1994 die Ziele der Europäischen Union präzisieren, die Effizienz. Transparenz und demokratische Ausrichtung der Organe verbessern, die Entscheidungsverfahren vereinfachen und veranschaulichen bzw. eine stärkere demokratische Legitimierung des Entscheidungsverlahrens gewährleisten sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantieren. Zu den wichtigsten Axiomen des Verfassungsentwurfs zählten demzufolge u.a. die Einführung eines Zwei-Kammer-Systems (Parlament und Rat), eines Gesetzgebungsverfahrens sowie die transparente Definition einer Rechtshierarchie. Darüber hinaus die Abschaffung von Einstimmigkeitsentscheidungen. Im Hinblick auf die Begrenzungsfunktion hatte das Europäische Parlament bis 1994 auf dem Gebiet der Grund- bzw. Menschenrechte bereits so viele Vorarbeiten geleistet, dass im Herman-Entwurf ein separater Menschenrechtekatalog etabliert werden konnte. Weiter versah der Textentwurf den Unionsbürger mit 187
Vgl. nur die Beschlussempfehlung des Sonderausschusses ..Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", BT-Drucks. 12/3895. Der verwirrende und unverständliche Vertragstext hatte nur mit Mühe die Nagelprobe der Referenden in Dänemark und Frankreich bestanden. 188 Vgl. auch T. Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union, in: Integration. 2/1994. S. 204 ff., 205.
II. Eckp unkte und Grun dlag en der europäis chen Verf assu ngsen twick lung
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einer direkten Klagemöglichkeit vor dem EuGH (Art. 38). und der Verstoß eines Mitgliedsstaates gegen Menschenrechte sollte von Rat und Parlament sanktionierbar sein (Art. 44). Wie im Entwur f von 1984 nahm die Legitimationsfunktion eine zentrale Stellung ein. Die Legitimität der Legislative sollte durch eine echte Beteiligung der gewählten Volksvertreter gewährleistet sein, und das Europäische Parlament als Zweite Kammer eine gleichberechtigte Rolle neben dem Ministerrat erhalten bzw. das Mitentscheidungsrecht auf alle Verfahren ausgeweitet werden (1984: Art. 37; 1994: Art. 17-24). Das Europäische Parlament sollte das Programm des Kommissionspräsidenten billigen, sowie - ähnlich wie im Ad-hoc-Entwurf - ein Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidenten aussprechen können (1984: Art. 29: 1994: Art. 22 III). Auch die J udikat ive sollte stärke r demok ratis ch legitimiert werden, indem die Richter des EuGH zur Hälfte vom Europäischen Parlament ernan nt werden sollten (198 4: Art. 30, 1994: Art. 25). Im Gege nsat z zu 1984 verstand sich das Europäische Parlament 1994 aber nicht als alleinige verfassungsgebende Versammlung, sondern betonte stärker die doppelte Legitimitätsgrundlage der Europäischen Union: laut der Entschließung zur Verfassung sollte ein „Verfassungskonvent" aus nationalen und europäischen Parlamentsabgeordneten, der Zivilgesellschaft und den Regierungsvertretern auf Grundlage des Entwurfs eine endgültige Version ausarbeiten (Art. 2). Der Verfassungse ntwurf verm ochte einerseits das bisherige EG -System mit einer ganzen Reihe von Elementen anzureichern, die auf eine künftige Staatlichkeit der Union wenigstens hinzudeuten wussten. Gleichzeitig sollte aber das politische System der Union weiterhin auf der Grundlage föderaler Strukturen ausgebaut werden, wie es in der Etablierung des Zwei-Kammer-Systems zum Ausdruck kam. Allerdings wies der Verfassungsentwurf nicht unerhebliche Defizite auf. Beispielhaft seien etwa das Fehlen einer klaren Aufteilung und Benennung der Zuständigkeiten unklare Integrationsziele genannt. Zu erheblichen Diskussionen führte diesowie geplante Aufnahme eines Rechts auf Arbeit oder auf Gründung einer Familie in den Grundrechtekatalog. Ebenso das damals bereits erwogene Prinzip der doppelten Mehrheit bei Abstimmungen im Ministerrat. Wie im Spinelli-Entwurf fehlte auch 1994 eine genauere Festlegung des Subsidiaritätsprinzips. Die bisherige Aufteilung der Kompetenzen in gemeinschaftliche und intergouvernementale Bereiche blieb zwar bestehen, konnte aber durch das Verfahren der Verfassungsänderung überwunden werden. Unklar blieb, wie eine Verfassungsänderung vor sich gehen sollte. Es erschien denkbar, dass gemäß Art. 31 ein „Verfassungsgesetz" gemeint war, wonach lediglich eine Zweidrittelmehrheit im Europäischen Parlament nötig wäre. Über die Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik sollte zudem schon nach fünf Jahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat entschieden werden (Art. 42). Mit seinen nur 47 Artikeln erweckte der Entwurf den Eindruck, wesentlich gestrafft zu sein und damit allen Anforderungen an Transparenz und Klarheit
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gerecht zu werden. In dieser Hinsicht stand der Verfassungsentwurf von 1994 der Verfassung der Vereinigten Staaten am nächsten. Allerdings konnte die geringe Anzahl von Artikeln nur durch den fast vollständigen Verzicht auf eine nähere Kompetenzbeschreibung der Union sowie durch die Verschiebung des Katalogs der Menschenrechte in den abschließenden Schlusstitel VIII erreicht werden. Die Verweise auf den „gemeinsamen Besitzstand" der bisherigen Verträge standen mit dem Gebot der Transparenz nur bedingt im Einklang. (3)
Verlauf und Ergebnisse der Diskussion
Anders als 1984 verfügte das Europäische Parlament 1994 über keine eindeutige Strategie zur Durchsetzung des Verfassungsentwurfs. Dies lag unter anderem daran, dass der Entwurf auch in den eigenen Reihen umstritten war. Am 10. Feb rua r 1994 wie s das Eu ropäi sche Parl amen t mit einer Mehrhe it von 155 Stimmen für die Entschließung bei 46 Stimmenthaltungen und 87 Gegenstimmen (von insgesamt 518 Mitgliedern des Europäischen Parlaments) den bereits zweiten Entwurf an den Institutionellen Ausschuss zurück, u. a. mit der Begründung. dass es kurz vor der Europawahl und der Auflösung des Parlaments nicht ausreichend Zeit gebe, zu einer mehrheitsfähigen Fassung des Verfassungsentwurfs zu kommen. I S 9 Dabei enthielt der zweite Entwurf bereits weniger ehrgeizige Ziele als ursprünglich festgelegt. Mit der Entschließung erging jedoch die Forderung an das aus der vierten Direktwahl hervorgehende Parlament, diese Arbeiten
189
Zum Verlauf der Diskussion vgl. ausführlich:
M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic, Ein-
leitung. in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EUVerfassungskonvent. 2002. S.21 ff.. 36ff. In seiner Sitzung am 2./3. Dezemberl993 hatte der Institutionelle Ausschuss den ersten, so genannten Herntan-Entnurf einer Verfassung ange nomm en. Die B ehandlun g des Dokume nts erfolgte in der Plenarsit zung vom 9. Februar 1994 und wurde angesichts der fehlenden Sachdebatte von einigen Abgeordneten als Farce bezeichnet. Auch wenn sich die wichtigsten politischen Akteure im Europäischen Parlament an der Debatte beteiligten, so beschränkte sie sich dennoch (anders als die Debatte um den Maastricht-Vertrag) auf einen relativ kleinen Zirkel von Fachleuten und Politikern. In der kontrovers geführten Aussprache wurde zwar das Ziel, die Verfassungsgrundlagen der Europäischen Union zu verdeutlichen, generell akzeptiert. Dennoch standen viele dem Text eher skeptisch gegenüber. Die spürbare Zurückhaltung lag wohl vor allem daran, dass der Entwurf weder dem neuen Erwartungshorizont an die Wertentscheidungs- und Regelungskraft einer europäischen Verfassung entgegenkam noch inhaltlich den aktuellen Stand der politischen Diskussion widerspiegelte. Teilweise wurde bemängelt, dem Entwurf fehle es an einer schlüssigen Vision, die über die bestehenden Vertragsgrundlagen hinaus reiche. Die Diskussion konzentrierte sich zu stark auf institutionelle Reformen und schwierig zu löse nde Legiti mation sfrage n. Der Entwurf wurde am 9. Februar gemä ß Art. 12 9 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments an den Institutionellen Ausschuss zurück überwiesen. Der Institutionelle Ausschuss prüfte seinen Entwurf erneut in seiner Sitzung vom 9. Februar und beschloss, einen zweiten Entwurf vorzulegen. In der gleichen Sitzung nahm er den entsprechenden Entschließungsantrag an und reichte den Text dem Plenum ein.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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zu einem Entwurf der Verfassung der Europäischen Union unter Berücksichtigung der Beiträge der nationalen Parlamente und der Öffentlichkeit fortzusetzen. So sollte eine breitere Basis für die Ausarbeit ung einer Verfassun g für die Europäisch e Union vorgefunden werden, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Zugleich beauftragte das Europäische Parlament seinen Präsidenten, für die breitestmögliche Verbreitung des Entwurfs zu sorgen. Damit war die öffentliche Auseinandersetzung angestoßen und ein Signal vom Europäischen Parlament gesetzt, auch wenn es sich selbst noch nicht auf eine konkrete Verfassungsperspektive festgelegt hatte. Es wird gelegent lich übe rseh en, dass der Ent wurf von 1994 nicht das Ziel hatte, an die Stelle der bestehenden Verträge zu treten, sondern diesen einen Verfassungsrahmen zu geben, der über seine Symbolkraft hinaus auch Erneuerungen 19 0 von großer Tragweite bringen sollte. Mit seinem Text ist es dem Institutionellen Ausschuss gelungen, klar, kurz und prägnant darzulegen, wie die Befugnisse der Europäischen Union aufgebaut und verteilt werden könnten, aber auch zu beweisen, dass sich die Europäische Union in allgemein verständlicher Form organisieren ließe. Insgesamt stellte der noch nicht ausgereifte Entwurf durchaus eine solide Ausgangsbasis für die Diskussion dar, die in den darauf folgenden Jahren, insbesondere bei der Regierungskonferenz 1996, geführt werden sollte. Dennoch zeigt das Schicksal des Entwurfs, dass die Mitgliedsstaaten noch nicht bereit waren, sich auch nur ansatzweise die Verfassunggebung aus der Hand nehmen zu lassen. Bemerkenswert ist allerdings, dass bereits in der Entschließung des Europäischen Parlam ents vom 10. Februar 1994 vorgeschlagen wurde, dass „vor der für 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz ein europäischer Verfassungskonvent aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitgliedsstaaten der Union zusammentritt, der auf der Grundlage eines im Europäischen Parlament vorzulegenden Verfassungsentwurfs Leitlinien für die Verfassung der Europäischen Union verabschiedet und dem Europäischen Parlament den Auftrag 19 1 zur Ausarbeitung eines endgültigen Entwurfs erteilt." Es bleibt festzuhalten, dass die Verfassungsentwürfe von 1984 und 1994 nicht folgenlos blieben, sondern im positiven, inspirierenden Sinne die Funktion „symbolischer Politik" 19 2 erfüllten. R. Bieber bezeichnete die Verfassungsdebatte als „integralen Bestandteil der institutionellen Dynamik" der europäischen Einigung: 19 0 Die beiden Entwürfe von 1984 und 1994 sahen explizit keine völlige Neugründung der EG bzw. EU vor. Die 1984 zu gründende ..Europäische Union" sollte lediglich als Dach für die EG. das Europäisches Wirtschaftssystem und EPZ gebildet werden. 1994 rückte das Ziel in den Vordergrund, dem technokratischen Geflecht der weiter geltenden Verträge einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, deren Ziele zu präzisieren und „Effizienz. Transparenz und demokratische Ausrichtung zu verdeutlichen", sowie Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten, vgl. F. Cramme. Der Verf assungsentwu rf des Insti tutionellen Ausschusses des europäischen Parlaments von 1994, in: ZfG 1995 (3), S. 256 ff.,
257.
191
Vgl. F. Cramme (1995). ebenda.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
als Gegengewichte zur Politik der kleinen, pragmatischen Schritte dienten sie als Orientierungs- und Kristallisationspunkt, an denen „die politischen und gesellschaftlichen Kräfte ihre Erwartungen und Befürchtungen ausrichten konnten".
19 3
gg) Der Vertrag von Ams ter dam (199 7) Eine weitere Revision der Gemeinschaftsverträge führte die stufenweise Inte19 4 gration der Unionsbürger nochmals voran. Der Amsterdamer Vertrag wurde am 2. Oktober 1997 unterzeichnet und trat nach Abschluss der Ratifizierungsverfahren in den Mitgliedstaaten am 1. Mai 1999 in Kraft. Eine wesentliche Neuerung war die Verankerung des „Europas der mehreren Geschwindigkeiten", d. h. eine Regelung über die Flexibilität der Union. Sie ermöglicht eine individuelle engere Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten unter genannten Voraussetzungen und 19 5 unter Nutzung der gemeinschaftlichen Organe und Verfahren. hh) Verfas sungsb emühun gen um die Jahrt ausendw ende In der Konstitutionalisierungsdebatte um die Jahrtausendwende finden sich viele der den bisherigen Entwürfen innewohnenden Argumentationslinien wieder. Erneut versprach man sich von einer europäischen Verfassung die Lösung struktureller und substanzieller Probleme wie die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU-Organe (insbesondere nach der Osterweiterung), die Kompetenzverteilung zwischen EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten, das demokratische Defizit und die fehlende Identifizierung des Bürgers mit Brüssel. Eine konstitutionelle Neugründung wurde darüber hinaus als Antwort auf die Frage „quo vadis Europa?" 192 Zu dieser Bezeichnung siehe auch G. Zellentin. Staatswerdung Europas? Politikwissenschaftliche Überlegungen nach Maastricht, in: R. Hrbek (Hrsg.). Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse. Baden-Baden, 1993. S.41 ff.. 48. 193 Vgl. bereits 1991 R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der Europäischen Gemeinschaft, in: R. Wildenmann, (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäi sche Unio n. Bade n-B ade n 1991. S. 393 f f . 403 ; vgl . auch W. Wessels. Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundlinien und Optionen, in: W. Wei den fel d/W . Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?, Bonn, 1986. S. 37 ff.. 66. 194 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001,11.37. 195 Ausfü hrt ich zum Ver trag von Amste rda m: M. Hilf IE. Packe, Der Vertrag von Amsterdam. in: NJW 1998. S. 705 ff.; U. Karpenstein. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der Maastricht-Entscheidung des BVerfG. in: DVB1. 1998. S. 942 ff.; N.K. Riedel. Der Vertrag von Amsterdam und die institutionelle Reform der Europäischen Union, in: BayVBl 1998. S. 545 ff ,:J. Hecker. Souveränitä tswahrung durch Einstimmigkeit im Rat: Der Conseil Constitutionnel zum Vertrag von Amsterdam, in: JZ 1998. S.938 ff.: H.H. Ritpp. Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JZ 1998. S. 213 ff.; R. Streinz. Der Vertrag von Amsterdam, in: EuZW 1998. S. 137 ff.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
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gesehen, als Mittel, der europäischen Einigung eine neue Vision zu geben und damit auch die - damals von vielen bereits als erschöpft bezeichnete - Erörterung der Ungewissheit ihrer Finalität zu beantworten
19 6 .
Schon nach dem Beschluss über die Währungsunion im Jahr 1998 hatten Juristen und einzelne Politiker den Gedanke einer europäischen Verfassung verstärkt aufgegriffen. 19 7 Mit der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union bestätigte nun erstmals die Regierung eines Mitgliedsstaates diesen Gedanken. Außenminister J. Fischer konsta tiert e am 12. Janu ar 1999 vor de m Europäi sche n Parlament, dass sich nach Maastricht und Amsterdam die Frage nach einer europäischen Verfassung viel eher stellen würde. Eine Diskussion über die Verfasstheit Europas werde neue Impulse für die Integration bringen und wichtige Zukunftsfragen klären. 19 * Auf ihrem Parteitag in Erfurt im April 1999 forderte die CDU einen europäischen „Verfassungsvertrag" für ein „werteorientiertes, bürgernahes Europa". Am 3. Mai 1999 stellten der damalige CDU-Vorsitzende W. Schäuble und der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion K. Lamers in Anknüpfung an ihr Papier von 1994 ein Strategiepapier zu einem „europäisch en Verfas sungsvertrag" vor. 19 9 Auf Länderebene forderte der Ministerpräsident Baden-W r ürttembergs 20 0 E. Teufel eine „europäische Charta, einen europäischen Verfassungsvertrag". Am 18. Oktober 1999 schlug ein Expertenkomitee unter der Ägide von R. von Weizsäcker , dem ehemaligen belgischen Premierminister J.-L. Dehaene und dem früheren britischen Minister Lord Simon of Highbury vor, die europäischen Verträge zu teilen. Im ersten Teil würde der konstitutionelle Gehalt dargestellt, im 20 1 zweiten die detaillierten Bestimmungen aufgelistet. 19 6 Die wiederkehrende Diskussion um die Finalität Europas widerspiegeln exemplarisch die Beiträge im Sammelband von H. Marhold (Hrsg.), Die neue Europadebatte. Leitbilder für das Europa der Zukunft. 2001; vgl. aber auch H.M. Enzensberger. Ach. Europa!. 1990: E. Morin, Penser l'Eu rope . 1990 : T.R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy, 2005; J. Rißein. The European Dream. 2004: A. Szczypiorski, Europa ist unterwegs. Essays und Reden. 1996. 197
Vgl. nur den weni g beka nnte n Vorsc hlag der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen. vgl. dazu Süddeu tsche Zei tung. 10. August 1998. S. 4: „Wie wär' s mit ein em Brüsseler Grundgesetz?". 198 Vgl. J. Fischer , Die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft. Rede vor dem EP in Straßburg. 1999. abrufbar unter www2.hu-berlin.de/linguapolis/ConsIV98-99 /Cons98-99.htm. Bevor Fischer zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft erneut vor dem Europäischen Parlament am 21. Juli 1999 an diese Formulierungen anknüpfte, hatte das Thema bereits zunehmende Bedeutung erlangt. 19 9 Vgl. den Beschluss des 12. Parteitages 1999 in Erfurt: „Europa muss man richtig machen" sowie H'. Schäuble. K. Lamers. Europa braucht einen Verfassungsvertrag, in FAZ vom 4.5. 1999. 200 Ygj £ Teufel. Regierungserklärung: Die Einheit Europas - Chance und Aufgabe für Baden-Württemberg und Deutschland. 28. April 1999 (dazu auch J. Schwarze , Auf dem
Wege zu einer europäischen Verfassung - Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, in: DVB1 1999. S. 1677 ff.. 1679).
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Im Vorfeld von Nizza ist die Diskussion über eine europäische Verfassung durch verschiedene Diskussionsbeiträge und vorgelegte Verfassungsentwürfe erneut angereichert worden. Hervorzuheben sind im Wesentlichen die verschiedenen Beiträge von Bundespräsident J. Ran, 102 ferner die Reden von J. Fischer vor der Humboldt-Universität T. Blair in Warschau
203 205
, von J. Chirac vor dem Deutschen Bundestag Ebenso zu nennen sind der Beitrag von
2 ;4
und von A. Kwasniewski206
und schließlich der gemeinsame Artikel von G. Schröder u n d G. Amato 207. Ferner 208 haben bis Ende 2000 verschiedene europäische Parteien Verfassungsentwürfe
201 R.v. Weizsäcker!J.-L. Dehaene/L. Simon of Highbury, The Institutional Implications of Enlargem ent. Report to the Europe an Comm issi on, 18. Oktobe r 1999 . Dieser Vorschlag löste eine Reihe von neuen Forderungen aus. Bundespräsident J. Ran sprach sich für eine „föderale Verfassung Europas" („Die Quelle der Legitimität deutlich machen", in: FAZ vom 4. 11 . 1999. S. 4) aus. Kommission spräsi dent R. Prodi debattierte die Zwei teil ung der Verträge am 10. Novemb er 1999 mit de m Europäis chen Pa rlament , das der
Idee zustimmte. sichein imAusschuss Europäischen ParlamentVerfassung" unter dem Vorsitz deutsche n MdEInzwischen P J. Leinenhatte (SPD) „Europäische gebildet,des der an der Konstitutionalisierung der EU mitwirken und eine groß angelegte Verfassungsdebatte in Gang bringen sollte, vgl. European Parliament, Press Release: Founding of an Intergroup „European Constitution". Straßburg. 16. September 1999. 202 J.Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: FAZ vom 4.11. 1999: der.v..Une Constitition pour l'Europe. in: Le Monde vom 4. 11. 1999: ders., Wir brauchen eine europäische Verfassung, in: Die Welt vom 15.9.2000. 203 J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede vorder Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt u. a. in: integration 2000. S. 149 ff. 20 4
Abgedruckt in: IP. 8/2000. S. 126 ff. T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. abrufbar unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.htmI. 206 A. Kwasniewski, Der Weg zur Politischen Union, in: FAZ vom 2. 12. 2000. 205
207 G. Schröder! G. Amato. Weil es uns Ernst ist mit der Zukunft Europas, in: FAZ. 21.9.2000. 20 8
Lediglich beispielhaft und auf die ergänzende Darstellung P Häberles (Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 600 ff.: vgl. auch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüf stand, in: D ÖV 11/2003 . S. 429 ff.) verweis end: Entwu rf der französische n Neogaullisten (RPR) J. Toubon/A. Juppe. Constitution de l'Union Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l'Europe. vom 28.6.2000 (abrufbar u.a. unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf) : Entwurf der französischen b'DF: „Projet pour une Constitution de l'Union Europeenne", Oktober 2000 (vgl. www.udf-europe .net/main/visu_doc.jsp?path=/notreprojet/projet_constitution..\html): Positionspapier der CDU l CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag: „Europa vereinigen. Chancen und Herausforderungen der EU-Erweiterung"; Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik vom 13. 11.2000, Nr. 39, sowie W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8.6.2000. Zu den Gründen, warum von sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Seite bis dahin keine Entwürfe vorlagen, vgl. H. de Bresson, France-AIlemagne: difficiles relations entre PS et SPD. in: Le Monde vom 7.12.2000. Allenfalls kann^bis zu diesem Zeitpunkt auf den Antwortbrief von H. Vedrine auf die Rede von
J. Fischer
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfa ssungsent wicklung
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oder zumindest Positionspapiere zur künftigen Entwicklung Europas vorgelegt. Und auf einer Konferenz in Berlin im Januar 2001 hat Schröder den Appell für eine europäische Verfassung prononciert wiederholt.
20 9
21 Auch die Kommission hatte eine europäische Forschungsgruppe " mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt, dessen Inhalte schließlich den Vertrag über die Gründung der Europäischen Union ersetzen sollten. Der im Mai 2000 vorgelegte Entwurf sah vor. die Substanz der bestehenden Verträge weitgehend zu erhalten und nur zusammenzufassen bzw. neu zu gruppieren. Den Unionsbürgern sollte das Primärrecht in vereinfachter und gestraffter Form zugänglich gemacht werden. Der Vorschlag sah eine Zweiteilung vor, wobei der erste Teil grundsätzliche Bestimmungen (d. h. eine „Staatsverfassung") und der zweite Teil die Ausführungsregelungen enthielt. Die Kommission beabsichtigte, mit dem vorgelegten Basisvertrag 21 1 ein Symbol für die Einheit Europas und die Integration zu schaffen, das - im Sinne einer „Verfassung" - mit einer noch auszuarbeitenden Grundrechtecharta eine Einheit bilden sollte. Diesem Vorschlag zum Teil frappierend ähnlich kürzte und vereinfachte die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik den Basisvertrag und veröffentlichte (ebenfalls) im Mai 2000 ihren Entwurf eines 21 2 Grundvertrages für die Europäische Union. Der Text entspricht in seinem einfachen Aufbau eher der Forderung nach einem übersichtlichen und für den Bürger verständlichen Grundsatzvertrag.
ii) Konstitutionelle
„Mo rge ndä mme run g" in Europa - die Grundre chtech arta
Insgesamt verstand man es. mit kleinen, gleichwohl ausdruckstarken Schritten aus dem Schatten inhaltsleerer Rhetorik herauszutreten. Die auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 proklamierte Grundrechtecharta bezeichnete der Vorsitzende des Grundrechtskonvents R. Herzog als „einen Teil einer Verfassung von 21 3
morgen" . Nichteuropäischer nur deshalbKonstitutionalisierung bedarf es im Rahmeneiner einerkurzen entstehungsgeschichtlichen Betrachtung Betrachtung jener Grundrechtecharta. Auf die vorangegangene Betrachtung der amerikanischen Verfassungsgeschichte und die Bedeutung der ..Bill of Rights" sei an dieser Stelle erinnert. verwiesen werden, vgl. IP. 8/2000. S. 108 ff., bzw. auf das Streitgespräch zwischen un d J.-P. Chevenement, in: Die Zeit vom 21.6.2000. S. 13. 20 9 Vgl. dazu etwa Financial Times vom 20./2I. I. 2001. 21 " Vorgelegt vom Europä ische n Hochschulinst itut. Robert ced Studies. Mai 2000.
211
Sch uma n Centre for Advan-
Abgedruckt in Ausschuss fiir die Angelegenheiten der Europäischen Union ( Hrsg.),
Verfassungsentwürfe für die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002). 21 2
Abgedruckt ebenda.
Zitiert nach Die Welt. Herzog schlägt Volksabstimmung über EU-Verfassung vor. in: Die Welt, 14. Septem ber 2000 . S. 5. 21 3
Fischer
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft beschloss der Europäische Rat am 4. Juni 1999 in Köln, dass „im gegenwärtigen Entwicklungszustand der Europäischen Union die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte in ei21 4 ner Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht werden sollten" . Der Beschluss sah vor, „auf der Grundlage der zahlreichen Vorarbeiten |... 1 der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments, sowie vieler f...] wissenschaftlicher und politischer Arbeitsgruppen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten |...] die heute schon geltenden Grundrechte |zu] systematisieren, in einem Dokument 21 5 zusammenzufassen und inhaltlich [zu] erweitern" . Die Entscheidung zur Grundrechtscharta fiel unter dem Eindruck des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags im Mai 1999: Der Vertrag insti tution alisi erte zwar neue Gru ndre cht e und intensivierte den Grundrechtsschutz, blieb aber ohne Systematisierung dieser Rechte. Während der folgenden finnischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahre s blieb die Grun drec htec hart a auf der Agenda. Am 15. und 16. Okto ber 1999 beschloss der Europäische Rat von Tampere die Zusammensetzung eines „Konvents" 21 6 , welcher die Charta ausarbeiten sollte, und am 17. Dezember 1999 nahm dieses Gremium aus Vertretern der nationalen Regierungen, der nationalen Parlamente, des Europäische Parlament und der Zivilgesellschaft unter Vorsitz von R. Herzog seine Arbeit auf. 2 7 (1)
Die Sachlage vordem Herzog-Konvent
Zum Zeitpunkt der Einsetzung des „Konvents" existierte noch kein eigener Grundrechtskatalog der Europäischen Union bzw. der drei Gemeinschaften. Es gab zwar Bestrebungen in dieser Hinsicht, etwa die gemeinsame Erklärung der 218 EG-Organe vom 05.04. 1977 , die Erklärung des Europäischen Parlaments über 21 Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.04.1989 '' und den Grundrechtsteil im 214
Europäischer Rat in Köln. 3. und 4 . Juni 1999. Schlus
sfol ger unge n des Vorsitzes,
vg l. europa.eu.int/council/off/conclu/june99/june99_de.htm.
Siehe Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, ebenda. Vgl. auch H. Däuhler-Gmelin, Schwerpunkte der Rechtspolitik in der neuen Legislaturperiode, in: ZfR 3/1999. S. 79 ff.. 84. 21 6
Freilich gab es bereits verschiedene Expertengremien zur Ausarbeitung von Vertragstexten. Neu war die gleichberechtigte Teilnahme von gewählten Volksvertretern, die bis dato auf Beratung und auf nachträgliche Zustimmung beschränkt waren. Erstmalig sollten die Parlamente schon bei der Entstehung einer Vertragsänderung als Vermittler demokratischer Legitimation und Multiplikatoren in die politische Mitverantwortung genommen werden. Vgl. auch W. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001, S. 34 ff. 21 7 Zudem beauftragte der neue Kommissionspräsident R. Prodi am I. September 1999 eine Reflexionsgruppe, ein Gutachten über die institutionellen Auswirkungen der EUOsterweiterung zu erstellen, deren Verhandlungen nach dem Entschluss des Kölner Rates bereits mit Beginn der Regierungskon ferenz im Fe bruar 2000 aufg enomm en werden sollten . 21 8 21 9
ABl. 1977 C 103/1 Abgedruckt in EuGRZ 1989. 205.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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bereits oben bena nnten Ver fassu ngsen twur f des Europ äisch en Parlament es vom 14. 02. 199 4. "° Au ße rd em is t auf Ar t. I A b s . 2 E U V hin zuw eis en, wo na ch „die Un ion die G ru nd re ch te , w ie sie in de r E M R K gewä hrle iste t sind un d wi e sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze ergeben", achtet. Vor der Europäischen Grundrechtecharta wurden europäische Grundrechte deshalb hauptsächlich aus den Rechten der E M RK " geleitet.
1
222
sowie aus den so genannten „Gemeinschaftsgrundrechten"
ab-
22 0 Vgl. auch C.O. Lenz, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, in: NJW 1997. S. 3289 f. m.w.N. 22 1 Die EMRK (mit Zusatzprotokollen) ist im Wesentlichen von allen Mitgliedstaaten
der EU ratifiziert worden und damit verbindlich: in Deutschland hat die EMRK wegen Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rang eines einfache n Bundesg esetzes (zur „Ges etze skraf t" vgl. Gesetze über die Konvention (BGBl. 1952 II 685. 953)). Trotz des formell niederen Rangs der EMRK im Vergleich zum Grundgesetz ist heute in Rspr. und Lehre anerkannt, dass bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK zu berücksichtigen sind. vgl. nur H. Dreier . vor Art. 1. in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar. Bd. I (Art. I -19), 2. Aufl. 2004. Rdn. 22 m.w. N. auf die Rspr. des BVetfG: P Kirchhof \ Verfassungsrechtlicher und internationaler Schutz der Menschenrechte, Konkurrenz oder Ergänzung?, in: EuGRZ 1994. S. 16 ff., 25f: E. Stäche. Die europäische Menschenrechtskonvention und ihre Bedeutung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: JA 1996. S. 75 ff.. 81 m. w. N.; Sachs. VerfGH LKV 1996.273 (275). Außerdem ist auch die Rspr. der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu beachten (BVerfG. NJW 1987. 24 (27); Sachs. VerfGH (1996), ebenda). Zur streitigen Bindungswirkung von Urteilen des EGMR für das BVerfG vgl. Art 53 EMR K und EuG H. EuG RZ 199 7. 83ff („Kra nzow") ; BVer fGE 92.91, 108 (..Feuerwehrabgabe"); A. Bleckmann. Bundesverfassungsgericht versus Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: EuGRZ 1995, S. 387 ff. 22 2 Die „Gemeinschafts-Grundrechte" ergeben sich teilweise (ausdrücklich) aus dem primären Gemeinschaftsrecht, teilweise aus (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Range von primärem Gemeinschaftsrecht, vgl. u. a. EuGH Slg. 1969. 419 (425) (..Stauder") - unter Beruf ung auf Art 164. 215 Ab s. 2E GV ; Slg. 1970. 112 5 (..Handelsgesellschaft"); Slg. 1974. 491 („Nold"). Abgeleitet werden diese „allgemeinen Rechtsgrundsätze" aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der .Mitgliedstaaten sowie aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Menschenrechtsverträgen. speziell der EMRK in der Auslegung ihrer Organe, z.B. Entscheidungen der EKMR oder des EGMR: vgl. Art. F Abs. 2 EUV (Erweiterung durch Amsterdamer Vertrag vom 16.06. 1997). Siehe auch EuGH Slg. 1991 I. 2925 (..Elliniki"); 1975. 1219 (1232) (,.Rutiii"). Die materielle Kompetenz des EuGH zur Entwicklung der „Gemeinschaftsgrundrechte" ergibt sich aus Art. 164 EGV. Zur Bindungswirkung von Urteilen des EuGH vgl. EuGH Slg. 1981. 1191 (1215); Slg. 1985, 719 (747) und statt vieler B. Beutler/Bieber/ J. Pipkorn/J. Srreil, Die Europä ische Union . 4. Aufla ge 199 3. Rdnr. 7.3. 3.7. Zum EG-Grundrechtsschutz vgl. T. Jiirgensen! I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Ma ßna hme n der Mitglied staa ten, in: AöR 1996. S. 200 ff.; Übe rsic ht bei Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: AöR 1996. S. 599 ff.
J. Kokott. Der
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Es ließen sich letztlich vier Argumente herauskristallisieren, die Charta als Teil einer Verfassung von morgen rechtsverbindlich (und von jedem Einzelnen vor dem EuGH einklagbar zu machen
22 3 ):
- Die wach send e Macht der EU- Org ane in Brüssel sollte einer Kontrolle unterwerfen werden, die es bislang nicht ausreichend gab. - Die Komplexitä t der Verträge erzeugt ein Gef ühl der Rechts unsic herhei t. Dem einzelnen Bürger sollte das Gefühl genommen werden, dieser Macht hilf- und schutzlos ausgeliefert zu sein. - Die Defizi te des bisher durch die Verträg e und den EuGH gewähr leiste ten Grundrechtsschutzes sollten beseitigt werden. - Die deutl ichere Darstel lung bereits beste hend er Rechte, um etwa den Beitrittskandidaten die Werte, wofür die Union stehe, klarer zu machen. (2)
Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents
Der Konvent sollte schließlich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente - zwei aus jedem Mitgliedstaat - sowie einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission bestehen."" Von den nationalen Parlamenten konnten nicht nur die Regierungsparteien, sondern - als stellvertretende Mitglieder - auch die jeweilige Opposition beteiligt werden. Jeweils ein Vertreter des Europarats, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Gerichtshofs der Europäischen Union sollte als Beobachter teilnehmen. Einzelheiten seines Verfahrens und der Auslegung seines Mandats 22 3 Anerkanntermaßen gewährleistet die Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg seit Jahrzehnten weitgehenden Schutz gegen die Hoheitsgewalt der Union. Der Gerichtshof prüft die Rechtsakte der Europäischen Union auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten,
wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ergeben (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV). Selbst Rechtsakte der Mitgliedstaaten unterliegen dieser Prüfung, soweit sie Unionsrecht anwenden und umsetzen. Dagegen bleiben die Mitgliedstaaten in den rein nationalen Bereichen der Gesetzgebung nur ihren eigenen Grundrechtsregelungen unterworfen. Darin lässt sich auch schon im geltenden Unionsrecht ein föderatives Element erkennen. Das BVerfG hat ausdrücklich anerkannt, dass der EuGH einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtschutz gewährleistet. Vgl. zu alledem mit weiteren Nachweisen zu den relevanten Etscheidungen des EuGH und des BVerfG Ar. Reich, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, in: ZRP 2000. S. 375 ff. m.w. N. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während das Grundgesetz wie die meisten staatlichen Verfassungen die Grundrechte detailliert regelt, findet sich in Art. 6 EUV nur der Verweis auf die vorgenannten Rechtsquellen. Für den Bürger ist dies wenig transparent und voraussehbar. zumal in dem gemeinsamen Rechtsraum der Union mehr als 27 verschiedene Rechtstraditionen zusammenwachsen sollen. " 4 Zu Verfahren. Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses ..Konvents" vgl. Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff.
W. Dix,
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sollte das Gremium nach eigenem Ermessen entscheiden. Von diesem Vorgehen versprach man sich eine ständige aktive Teilnahme des institutionellen Sachverstandes und aller großen politischen Richtungen in den Mitgliedstaaten und auf Unionsebene. Die Parlamente akzeptierten diese Einladung. Das Gremium einigte sich in seiner konst ituie rende n Sit zun g am 17. Dez emb er 1999 auf den früh eren Bundespräsidenten R. Herzog als Vorsitzenden und auf ein Arbeitsprogramm. Auch über die Benennung als „Konvent" und über das Recht der stellvertretenden Mitglieder, an den Beratungen teilzunehmen, entschied die Versammlung durch Abstimmung selbst. Die europäischen und die nationalen Parlamentarier wählten jeweils einen Sprecher in das Präsidium. Die gesellschaftlichen Gruppen und die Öffentlichkeit wurden arbeitsteilig konsultiert: auf Unionsebene durch das Präsidium des Konvents, auf nationale r Ebene durch An höru ngen der jeweiligen Parlamente. Die Sitzungen des Konvents und seine Diskussionsgrundlagen waren ständig öffentlich und über Medien und Internet zugänglich. Alle Interessierten konnten sich direkt gegenüber dem Konvent oder mittelbar über seine Mitglieder zu Worte melden. Das Beratungsverfahren des Konvents war parlamentarisch geprägt: freie Debatte unabhängiger Persönlichkeiten nach strikten parlamentarischen Regeln, die sich der Konvent nach Bedarf selbst auferlegte. Bei aller Schärfe der sachlichen Auseinandersetzung stand die Suche nach einem möglichst breiten Konsens im Vordergrund. Abstimmungen über den Entwurf, die im Interesse eines möglichst breit legitimierten Ergebnisses bis zuletzt vermieden werden konnten, wären zwar möglich gewesen, jedoch hätte der Konvent die Modalitäten selber festlegen müssen. Überdies hätte ein Ergebnis, das unter den Regierungsbeauftragten im Konvent streitig geblieben wäre, die Kontroverse in den Rat verlagert und wegen der dort erforderlichen Einstimmigkeit den Erfolg des Konvents in Frage gestellt. Andererseits mussten auch die Regierungsbeauftragten ein Höchstmaß an Kompromissbereitschaft aufbringen, um isolierte Positionen im Rat und vor allem auch gegenüber ihren eigenen Parlamenten zu vermeiden. Damit bestanden auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten beste Voraussetzungen für eine breite öffentliche Diskussion. Die Öffentlichkeit hatte es allerdings nicht leicht, dem raschen Verhandlungsgang im Konvent und der teilweise erheblichen Weiterentwicklung der Vorentwürfe zu folgen. So brachte auch noch die letzte Verhandlung am 26. September wesentliche Veränderungen und hat die fast einhellige Billigung des Textes durch den Konvent erst ermöglicht. Anlässlich des Europ äischen Rates in N izza am 7. Deze mber 200 0 hatten di e Unionsorgane die erarbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union feierlich proklamiert. Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde naturgemäß in der wissenschaftlichen Literatur, durch die Medien und Politik unterschiedlich bewertet. 22 5 Während manche nach der Notwendigkeit dieser Charta fragten.
22 5 Einen Überblick bieten N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte. 2002: /. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVB1.2000.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
zumal doch die Grundrechte in der Union und ihren Mitgliedstaaten umfassend gewährleistet wären, stärkte für die Gegenansicht die Charta den Schutz der Grundrechte, weil sie die gemeinsamen Grundrechte für alle Unionsbürger in einer gemeinsamen Sprache klar und verständlich formuliert und damit Vertrauen in die gemeinsame Rechtsordnung begründet hätte. Für Andere stellte die Charta und vor allem das neue Konventsverfahren, in dem sie entstanden war, ein Modell für künftige Vertragsänderungen dar. S ie erhofften sic h eine grundlege nde Refor m der Union unter breiter Mitwirkung der Parlamente und der Öffentlichkeit. Einige sahen in der Charta sogar den ersten Schritt zu einer föderativen Verfassung der Union. Die Debatte über die gemeinsame Wertebasis der Europäischen Union erreichte im ersten Halbjahr 2000 unter dem Vorzeichen der Wahl der rechtspopulistischen FPÖ in Österreich ihren (unrühmlichen) Höhepunkt. Im Zusammenhang mit den juristischen Problemen, auf welche die Sanktionen der Europäischen Union gegen Österreich stießen, forderten viele Politiker geeignetere Mechanismen, bei möglichen Verstößen gegen Grundrechte auch schon vorbeugend tätig zu werden. Vor diesem Hintergrund verlagerte sich die Diskussion auf den Gehalt und die Verbindlichkeit der Grundrechtscharta. Hier zeichneten sich zwei Positionen ab: Die Minimalisten plädierten für die Unverbindlichkeit der Charta (dies forderten vor allem die Briten und Skandinavier), die Beschränkung auf klassische Abwehrrechte und gegen die Auf nah me sozialer Anspruchsrechte. Die konservativen Parteien und Wirtschaftsverbände fürchteten, dass die Aufnahme dieser Rechte zu einer Kompetenzausweitung der Europäischen Union führen könnte."" Für den maximalistischen Ansatz, welcher neben einem umfassenderen Katalog vor allem die Verbindlichkeit und Einklagbarkeit der Rechte als ersten Schritt zu einer Verfassung einforderte, setzten sich Sozialdemokraten und die Grünen, das Europäische Parlament und die Kommission ein. Auf dem Gipfel von Feira am 19. und 20. Juni 2000 entschloss der Europäische Rat sich dann aber - gegen den Willen von Deutschland und Frankreich - unter dem Einfiuss der „Minimalisten" für die Unverbindlichkeit der Charta. In Frankreich wurde zeitgleich der Vorschlag des ehemaligen Kommissionspräsidenten J. Delors vom 19. Janua r 2000 diskutiert, eine Kerngru ppe der sechs S. 847 ff.; PJ. Tettingen Die Char ta der Gr und rec hte der EU. in: N JW 200 1, S. 1010 ff. Siehe auch J. Meyer. Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2. Aufl. 2005; P. Häberle , Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 634 ff. Vgl. auch W. Dix, Eine europäische Charta der Grundrechte, in: Vertretung der Europäischen Kommission. Berlin (Hrsg.). Europäische Gespräche. Berlin Heft 2/ 1999. S. 90 ff.; ders., Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff. 22 6
Vgl. J. Meyer, Will Europa sein Modell opfern? Die EU-Grundrechtecharta belebt die alte Debatte über die Notwendigkeit sozialer Rechte neu, in: Frankfurter Rundschau vom 28.4.2000.
II. Eckpunkte
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Verfas sungsentw icklung
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Gründungsstaaten in der Integration schneller voranschreiten zu lassen, die durch einen „Vertrag im Vertrag" - nicht einer Verfassung - eine „Föderation der 7 Die ehemaligen Regierungschefs Nationalstaaten" bilden sollten." und - im Hinblick auf seine spätere Rolle nicht ohne Pikanterie 8 d'Esiaing stimmten diesem Vorschlag zu."
H. Schmidt V. Giscard
Die Proklamation der Grundrechtecharta ist im Rückblick, jedoch teilweise auch im damaligen Verständnis lediglich als Vorstufe zur vertraglichen Regelung oder Verfassung zu sehen. Sie war notwendig, weil in einigen Mitgliedstaaten weiterhin starke Vorbehalte gegen eine vertragliche Verankerung der Charta bestanden. Grund hierfür war zumeist das Festhalten an einem Verfassungs- und Souveränitätsverständnis, das die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta als weiteren Schritt zu einem staatsähnlichen Zustand der Union ablehnte. Das rechtsstaatliche Gebot, die Grundrechte als Beschränkung von Hoheitsrechten möglichst klar und verbindlich zu regeln, sollte sich letztlich als das stärkere Argument erweisen. Das gilt in besonderem Maße für eine überstaatliche Gemeinschaft, die ihre zwangsläufig größere Bürgerferne überwinden und um Vertrauen und Zustimmung ihrer Bürger werben muss. Dennoch offenbarten sich auch in dieser Debatte die zu erwartenden Widerstände, die sich regelmäßig im europäischen Kontext an Begriffen wie „Verfassung", „Föderation" und „Souveränität" heraus kristallisieren. Freilich wurden zu diesem Zeitpunkt - trotz gelegentlich aufflammender Tendenzen Unionskompetenzen zu renationalisieren - der Union bereits zahlreiche „souveräne" Hoheitsrechte übertragen, weshalb ihre Organe allein schon deshalb zu einem gewissen Grade handlungsfähig, demokratisch und rechtsstaatlich „verfasst" sein müssen 22 9 . Die Mitgliedstaaten haben sich vertraglich verpflichtet, diesen „Acquis" zu erhalten und seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Demzufolge hat bislang noch jede Vertragsänderung die gemeinschaftlichen Elemente der Union weiterentwickelt. Als Korrektiv und Grenze dieser Entwicklung wurden zugleich die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Grundsatz der Subsidiarität zu fundamentalen Prinzipien der Union erhoben. Dabei gab es immer schon die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vertiefung der Union, zwischen „Integrationisten" und „Souveränisten", die jedoch zumeist pragmatisch überbrückt werden konnten.
22 7
Vgl. nur das Interview mit J. Delors in Le Monde vom 19. 1.2000. Vgl. J.-L.Arnaud. Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei Eröffnung der französischen Ratspräsidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10. Notre Europe. Groupement d'Etudes et de Recherches. Paris, Juli 2000. S. 3. Die CDU hielt an ihrem Konzept des Verfassungsvertrages fest, was sie auf ihrem Parteitag im Jahre 2000 in Essen deutlich machte, vgl. Essener Erklärung. Beschluss des 13. CDU- Parteitages, April 22 8
2000. 22 9 Vgl. I. Pernice , Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff.
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Der Grundrechtekonvent hat die Frage, ob ein Schritt zu einer quasi-staatlichen Verfassung der Union vollzogen worden wäre, bewusst offen gelassen. Sie spielte für seine Aufgabe letztlich auch keine fundamentale Rolle. Entscheidend war allein, wie die Union dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit ihres Handelns am besten gerecht werden konnte. Die strikte Beschränkung auf dieses Ziel ermöglichte schließlich auch die Einigung auf eine entsprechend umfassende Grundrechtecharta und die Genesis eines Textes, der in Klarheit und Verständlichkeit den Grundrechtskatalogen der staatlichen Verfassungen vergleichbar ist, über die EMRK hinausgeht und für eine spätere Aufnahme in eine Verfassung grundsätzlich geeignet war. 23 0 Im Ergebnis erwies sich aber insbesondere das Konventsverfahren als zukunftstauglich. jj) Mit „Hum bold t" nach Nizza? Mit der (mittlerweile vom Protagonisten selbst grundlegend revidierten) Rede des deutschen Außenministers J. Fischer an der Berliner Humboldt-Universität am 12. Mai 2000 begann eine weitere Phase der Debatte, in der zahlreiche Spitzenpolitiker aus verschiedensten Mitgliedsstaaten dem Drang nachgaben, sich zu Wort zu melden und individuelle Verfassungskonzepte der europäischen Öffentlichkeit vorzustellen." ' Aus den Reihen der Staats- und Regierungsschefs eröffnete der französische Staatspräsident J. Chirac den Reigen derer, die sich zu einer weiter 23 0 Hätte man sich auf einen Streit um Verfassung und Staatlichkeit der Union eingelassen. so wäre diese Einigung zu dieser Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit gefährdet gewesen, so auch IV. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34ff, 36. Für Dix. ebenda, ist die ..Charta ein weiteres Beispiel, dass sich die Union auch ohne Berufung auf staatsrechtlich geprägte Zielvorstellungen
pragmatisch und schrittweise weiterentwickeln kann. Hierfür genügen ihr die schon immer anerkannten funktionalen Grundsätze der Integration: die Handlungsfähigkeit der Organe, die demokratische Legitimation, die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten." 23 1
Drei Tage vor dem 50jährigen Jubiläum des Schuman-Plans legte Fischer seine ..Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" als „Privatmann" dar. in der er nicht nur ausdrücklich eine „Verfassung" bzw. einen ..Verfassungsvertrag" forderte, sondern durchaus konkrete Inhalte und Realisierungschancen nannte, vgl. Fischer. Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede vor der Humboldt -Uni vers ität Berlin am 12.5. 2000 . abge druc kt u. a. in: Integrati on 2000 . S. 149 ff. Die Rede fand nicht nur innerhalb Deutschlands Zustimmung von den Regierungsund Oppositionsparteien (siehe u. a. die Darstellungen in der deutschen Tagespresse: etwa Frankfurter Rundschau. 13.5.2000: „Mit der Schwerkraft zum Ziel"; Frankfurter Allgemeine Zeitung. 13.5. 2000: Fischer greif t nach dem europäi schen Ret tungsring"; sowie Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2000: ..Schäuble lobt Fischers Europa-Idee"), sie provozierte vor allem auf französischer Seite die unterschiedlichsten Reaktionen. Sowohl in der Sonderrolle der Ratspräsidentschaft als auch im Hinblick auf die .Kohabitation' wollte Frankreich keine Spaltungen durch provokante Visionen hervorrufen und die für Nizza vorgesehenen
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reiche nden „A ntw or t" au f die Ged ank en Fischers aufgerufen fühlten. Mit seiner Red e vor de m Reic hsta g am 27. Juni 20 00 setzte er sich über die Koh abi tat ion hinweg und bestätigte, in einigen Jahren werde man über einen Text befinden, den man dann als erste Europäische Verfassung proklamieren könne.
232
Ähnlich
ar gum ent ier te am 6. Juli der italie nische Staa tspr äsi dent Car lo Ciam pi an der Universität Leipzig. Es folgte der belgis che Premie rmin iste r G. Verhofstadt m i t eine r Red e vor de m Euro pea n Policy Ce nte r in Brüsse l (21. Se pt em be r 2000) . Kurz darauf legte Tony Blair vor der polnischen Börse seine Vision für Europa dar und sprac
h sich gege n eine Ve rf ass ung au s (6 . Ok to be r 2000) .
234
233
Zu den
Gegnern einer Verfassung zähl(t)en neben Blair der spanische Ministerpräsident J.M. Aznar die (später ermordete) schwedische Außenministerin A. Lindh , sowie eine Minderheit im Europäischen Parlament. Eine nicht unerkleckliche Anzahl französischer Spitzenpolitiker wie der Sozialist J.-P. Chevenement, der damalige französische Innenminister H. Vedrine und der ehemalige Kommissionspräsident J. Delors sprachen sich zwar für grundsätzliche Reformen des Systems aus, hatten aber bekanntlich gegen die deutschen Vorschläge einer Konstitutionalisierung argumentiert.
institutionellen Reformen nicht gefährden, vgl. allgemein J.-L. Arnaud, Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei Eröffnung der französischen Ratspräsidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10, Notre Europe. Groupement d'£tudes et de Recherches. Paris. Juli 2000. S. 3. Konservative wie sozialistische Parteien bekundeten in der französischen Öffentlichkeit ihre Zustimmung zu Fischers Konzept. Der Präsident der konservativen UDF. F. Bayrou, legte - wie bereits erwähnt - mit dem grünen Europaabgeordneten D. Cohn-Bendit sogar einen eigenen Verfassungsentwurf vor (dazu J.-L. Arnaud. ebenda), kurz darauf folgten die Neogaullisten A. Juppe un d J. Toubon mit einem ausgearbeiteten Konzept (..Constitution de TUnion Europeenne". 28. Juni 2000. abrufbar u. a. unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf) . Dagegen mündete die skeptische Haltung des damaligen französischen Außenministers J.-P. Chevenement in ein offenes Streitgespräch mit Fischer (dokumentiert in Die Zeit. Dossier. 7. Juni 2000). Nach dem deutsch-französischen Gipfel in Mainz, auf dem der französische Staatspräsident Chirac sich positiv zu Fischers Visionen geäußert hatte, veröffentlichten der britische Premierminister T. Blair und der spanische Staatschef J.M.Aznar am 13. Juni eine n gem ein sam en Artik el in der Financial Times un d El Mundo, in dem sie sich ebenfalls skeptisch zu Fischers Rede äußerten und ein gemeinsames Auftreten in der Wirtschaftspolitik signalisierten. Auch das Europäische Parlament und die Kommission reagierten ambivalent. Während Kommissionspräsident R. Prodi die Ideen der Rede begrüßte, befürchteten Kollegen, er wolle mit seinen Verfassungsplänen die Kommission abschaffen: ähnliche Befürchtungen äußerten einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments (siehe Süddeutsche Zeitung, 16. Mai 2000. S. I: ..Prodi lobt Fischers Red e zu Europ a"; sow ie Südde utsc he Zeitu ng. 18. Mai 200 0. S. 5: ..Beifall fürs Ganze. Kritik am Detail"). 232 J. Chirac , Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. in: FAZ vom 28.6. 2000. S. 10 f. 233 G. Verhofstadt. A Vision for Europe, 21. Septe mber 2000. abr ufba r unter ww w .theepc.be. 234 T. Blair, Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. abrufbar unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.html.
96
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Wenig später folgten Reden des finnischen Premierministers P. Lipponen (10. November 2000) 23 5 und - wie bereits oben erwähnt - von Bundespräsident J. Rau , der sein konstitutionelles Konzept in Zeitungsartikeln und einer Rede 2 1 am 19. Oktober 2000 wiederholt vorstellte. - * Das Europäische Parlament und die Kommission legten in diesem Zeitraum mehrere Stellungnahmen zur Verfassungsdebatte vor. 237 Zahlreiche Anregungen und Stellungnahmen aus der Wissenschaft begleiteten diesen Prozess. 23 8 Mit dem Vertrag von Nizza 23 9 (Inkrafttreten am 1. Februar 2003) bereitete sich die Union auf die Aufnahme der damaligen zwölf Beitrittskandidaten vor. Er sollte somit die Integrationsfähigkeit während der kommenden Erweiterungsphasen stärken. Der Vertrag enthält wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge und des Unionsvertrags, vor allem die Größe der Kommission, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, die Stimmenwägung und Abstimmungsverfahren betreffend. Insgesamt sollten Legitimität, Effizienz und Transparenz der Gemeinschaftsinstitutionen verbessert werden. Indirekt war damit die Frage nach der politischen, d. h. der demokratischen 24 0 „Verfasstheit" der Union gestellt. Oder anders formuliert: es ging (und geht
235 P. Lipponen, Speec h at the Coll ege of Europe . Brügge. 10. Nove mber 2000. abru fba r unter www.vn.fi/english/speech/20001110e.htm. 236 J.Rau, Rede bei m VIII Kongress de r Euroch ambre s Berlin, 19. Oktobe r 2000: vgl. ders. Die Quel le der Legitim ation deutlich mach en, in: FAZ vom 4. 11 . 1999: Une Constitition pour l'Europe, in: Le Monde vom 4. 11. 1999: ders.. Wir brauchen eine europäische Verfassung, in: Die Welt vom 15.9. 2000.
237
So etwa der Bericht des konstitutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments
über die Ko nstit ution alisi erung der Verträ ge vom 12. Okt obe r 200 0: sowie der der Kommission zur Neuo rdnu ng der Verträge vom 14. Juli 2000 .
Vorschlag
23 8
Vgl. auch H. Wagner. Rechtsnatur EU. Anmerkungen einer in Deutschland stattfindenden Debatte, in: ZEuS Die 2006. S. 287 ff.,derinsbesondere zu den zu kontraprodunktiven Wirkungen der Rede J. Fischers. 23 9 Vgl. etwa die Aufsätze in: M. Jopp/B. Lippert/H. Schneider (Hrsg.), Das Vertragswerk von Nizza und die Zukunft der Europäischen Union. 2001 sowie in: D.Melissas/ I. Pernice (Hrsg.), Perspectives of the Nice Treaty and the Intergovernmental Conference in 2004. 2001; K.H. Fischer. Der Vertrag von Nizza. 2001: R. Gnan. Der Vertrag von Nizza, in: BayVBl. 2001. S. 449 ff.; E. Brök. Die Ergebnisse von Nizza. Eine Sichtweise aus dem Europäischen Parlament, in: Integration 1/2001, S.86ff.; J. Schwarze. Europäische Verfas sungsperspe ktiven nach Nizza, in: N JW 2002. S. 993 ff.; T. Bender. Die verstärkte Zusa mmena rbei t nach Nizza, in: Za öRV 2001, S. 729 ff.; R. Streinz, (EG-)Verfassungsrechtliche Aspekte des Vertrages von Nizza, in: ZÖR 58 (2003), S. 137 ff.; A. Hat je. Di e institutionelle Reform der Europäischen Union - der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand, in: EuR 2001. S. 143 ff.: P. Schäfer, Der Vertrag von Nizza - seine Folgen für die Zukunft der Europäischen Union, in: BayVBl. 2001. S. 460 ff.: H.-G. Franzke. Das weitere Schicksal des Vertrages von Nizza, in: ZRP 2001. S.423 ff. 24 0 Vgl. U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2/2001. S. 28 ff.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
97
weiterhin) um die Frage der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung innerhalb der Europäischen Union. (1)
Gründe für ein Debatten-Crescendo
Vor allem zwei politische Entwicklungen von historischem Ausmaß haben die neuerliche Verfassungsdiskussion entfacht und befördert. Zum einen die „Wiedervereinigung Europas" als historische Aufgabe der Erweiterung der Europäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas sowie Maltas und Zyperns. 24 1 Als zweites politisches, im besonderen Maße auch - ungelöstes - gesellschaftspolitisches Ereignis, das die gegenwärtige Verfassungsdiskussion in der Europäisc hen Union en tscheidend be förder t hat. sticht der 11. Sept embe r 2001 hervor. Neben zahlreichen anderen Konsequenzen hat dieses schreckliche Ereignis maßgeblich die Einsicht gefördert, dass innerhalb der Europäischen Union eine offensichtliche Diskrepanz nicht mehr länger hinnehmbar ist: nämlich einerseits die Verantwortung einer Weltmacht, andererseits jedoch das evidente Unvermögen auf Grund ihres institutionellen Geftiges - vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Bereich der Zusammenarbeit Inneres und Justiz - derzeit dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dieses Missverhältnis ist innerhalb einer „europäischen Grundsatzdebatte" kaum den „europäischen Bürgern" zu vermitteln, es untergräbt auch und vor allem die Glaubwürdigkeit und den eigenen Anspruch der Union und trägt damit im Ergebnis mit dazu bei, die Entfernung - zuweilen Entfremdung - zwischen den Bürgern und der Union zu vergrößern anstatt zu verringern. Freilich traten weitere Elemente und Überlegungen hinzu, die letztendlich die Auffa ssung manifestierten, dass die Zeit für di e formale Konstitutionalisierung der Europäischen Union überreif sei. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an 242 die Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen , die zu einer politischen Auf-
24 1
Siehe zur EU-Osterweitcrung angesichts ausufernder Literatur die Bibliographie im ..Dresdner Internetportal zur EU-Osterweiterung", abrufbar unter dipo.tu-dresden.de/ browse.php?topic=Literature. Mit grundsätzlichen Erwägungen //. Roggemann. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West. 1996. S. 177 ff.: A. StölzlB. Wieser (Hrsg.), Verfassungsvergleichung in Mitteleuropa. 2000. Zu den einzelnen osteuropäischen Staaten vgl. den Literaturhinweis bei P. Häberle . Europäische Verf assun gsleh re. 4. Aufl. 2006. S. 217 Fn. 93. Vgl . zu den jüng ste n Erweit erun gs- und Fortschritten der Länder des westlichen Balkans K.-T. zu Guttenberg. Vorsichtig in die Unabhängigkeit, in: Die Welt vom 8. 10. 2005 sowie ders.. Eine Lösung für den Kosovo, in: Berliner Zeitung vom 18.2.2006. 2 2
~ Dazu aus der neueren Lit.: M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EU. 2004. S. 58 ff.; M. Nettesheim. Kompetenzen, in: A. von Bogdandy. Europäisches Verfassungsrecht. 2003. S. 415 ff.; C. Triie. Das System der EU-Kompetenzen, in: ZaöRV 64 (2004). S. 391 ff.; vgl. auch /. Pernice, Kompetenzregelung im Europäischen Verfassungsverbund, in: JZ 2000. S. 866 ff.
98
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
24 1 wertung der Union führten, die Einführung einer Unionsbürgerschaft und die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins sowie die an Resonanz gewinnen-
de Überzeugung, dass mit zunehmender Ausweitung des demokratischen Defizits Vertragsänderungen nicht mehr wie bisher durchgeführt werden konnten. Das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer verfassungsgestaltenden und letztlich verfassungsmäßigen „Generalüberholung" der Union sowie die Erkenntnis, die Union sollte den Geboten von Transparenz, Effizienz und Demokratie wahrhaftig genügen, reifte in den vergangenen Jahren über die Ebene einzelner Staats- und Regierungschefs hinaus auch in der Wahrnehmung einer beträchtlichen Mehrheit 24 4 der Bürger in der Europäischen Union . Es is t müßig darüb er zu debattieren, ob eine solche, mit al ler Konsequ enz geführ te Verfassungsdiskussion bereits zu Beginn der europäischen Einigung zu einer Blockierung des Integrationsprozesses geführt hätte, noch bevor er richtig begonnen worden wäre. Gleichwoh l war die schrittweise Integration in der Grün der pha se 245 der europäischen Einigung, die oftmals so apostrophierte „Monnet-Methode" , während dieses Abschnittes der europäischen Integration insgesamt die adäquate Methode. Es wäre allerdings ein allzu offensichtliches Versäumnis, die in diesen evolutionären Entwicklungsschritten bereits enthaltenen verfassunggebenden Elemente zu verschweigen 24 6 , weshalb in den vorangegangenen Kapiteln entspre24 ?
Siehe den 3. Bericht der Kommission Uber die Unionsbürgerschaft v. 7.9.2001
(KOM (2001) 506) sowie aus dem Schrifttum P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem Europa der Bürger ?, in: DÖV 1987. S. 221 ff .; später ders., Der Rechtsstatus der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück. 2005. S.429 ff.; vgl. auch M. Degen. Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Euro päis che U nion, in: D ÖV 1993, S. 749 ff.; A. Randelzhofer, Marktbürgerschaft - Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. Randelzhofer/R. Scholz/D. Wilke (Hrsg.). Gedäc htnissc hrift für Eberhard"Grabitz, 1995 . S.58 1 ff.; A r. Kotalakidis. Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. 2000. 24 4 Von der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung überzeugt zeigten sich 2002 nach der 56. Ausgabe des Eurobarometers 2/3 der Bevölkerung, vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 8192 v. 15./16.4.2002. S. 7 und Nr. 8194 v. 18.4.2002. S. 6. 24 5 Ein Vorgehen, das die Union schrittweise, orientiert am jeweils Machbaren und ohne die Beteiligten zu überfordern, fortentwickelt, aber umgekehrt auch zu derjenigen Unübersichtlichkeit des Vertragswerks beigetragen hat. die zu einem weiteren ernst zu nehmenden Argument für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion wurde. Vgl. zur sog. ..MonnetMethode ; " u. a. W. Wessels. Jean Monnet - Mensch und Methode. 2001. 24 6 Neben den grundlegenden Erwägungen und in dieser Hinsicht Pionierwerken PHäberles (vgl. nur ders., Europäisc he Verfa ssungslehre. 4. Aufl. 2006. S .3 6f f. ) hebt diese verfassunggebenden Elemente etwa auch A. Peters. Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001 hervor, die Züge einer ..Kontinuierlichen Verfassungsgebung" konstatiert und eine „Konstitution durch Evolution" (S. 375 ff.) sowie eine ..Legitimation durch Bewährung" (S. 580 ff.) postuliert. Grundsätze, nach denen der Union bereits heute unstreitig Verfassungsqualität zukommt; vgl. dazu lediglich noch /. Pemicef P.M. Hu-
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
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99
chende Hinweise zu geben waren. Der zu Beginn des neuen Jahrhunderts dem späteren Verfassungskonvent zugrunde liegende Diskussionsstand ist angesichts der einzelnen und bereits wie im Folgenden angerissenen „verfassungshistorischen" Stufen als bislang konkretestes und entsprechend erfolgversprechendes Szenario zu erachten gewesen 24 7 (das vorübergehende Scheitern und Aussetzen des Verfassungsvertrages im Dezember 2003 sowie des Vertrages von Lissabon läuft dieser Beobachtung nicht entgegen - vielmehr hat sie durch die Intensivierung der inhaltlichen Auseinandersetzung eine Manifestierung erfahren). Insgesamt gestaltet sich spätestens seit dem Vertrag von Nizza die Diskussion sehr viel politischer als zuvor und steht unter einem sehr viel größeren - nicht nur zeitlichen - (Erwartungs-) Druck. Im Vorfeld der erneuten Verfassungsdebatte rückten vier qualitativ unterschiedliche Herangehensweisen zur Reform der Vertragsstruktur ins Blickfeld: - Redak tionelle Vereinfachu
ngen, wie sie in Amste rdam
2 48
begonnen wurden.
- Fusi onsm ode lle, die die wichtig sten Verträge (EUV. EGV, EGKSV, EAG V) in einem Vertrag zusammenführen und dabei weniger wichtige Bestandteile z. B. Protokolle ausgliedern. - Grun dvert ragsm odel le, die eine rechtsqualitative Zweite ilung in einen Kernvertrag mit den konstitutionellen Bestandteilen der Gemeinschaftsverträge sowie in einen oder mehrere Ausführungsteile vorsehen, deren Revision dann auch unterschiedlich strengen Anforderungen genügen muss. - Schließ lich Verfassu ngsm odel le, die einen neuen T ext generie ren, der in der Regel von einer verfa ssun gsge ben den Institution (z. B. Konven t) erarbeitet wird - wobei allerdings unterschiedliche Leitmotive zu unterschiedlichen Lösungsmodellen führen. Diese vier Optionen sahen sich auch um die Jahrtausendwende mit Überlegungen konfrontiert, die bereits in den vergangenen Jahrzehnten mit mehr oder minder hoher Intensität in der Diskussion standen. So sollten redaktionelle Vereinfachungen oder eine reine Fusion der vorhandenen Vertragstexte nicht ausreichen, um das notwendige Maß an Vereinfachung und Transparenz zu schaffen. Verfassungsmodelle oder sogar eine damit verbundene „Neugründung" der Europäischen Union ber/G. Lübbe-Wolff /C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (20Ö1) und H. SteinbergerlE. Klein! D. Thürer. Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991). 24 7 Zutreffend diesbezüglich auch J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. 2000. S. 13, 182, ders., Europäische Verfassungsperspekt iven nach Niz za, in: N JW 200 2. S. 993 ff.; ein wenig zu skept isch bezüg lich des politischen Willens für ..konstitutionalisierende europäische Verträge" : W. Graf Vitzthum. Die Identität Europas, in: EuR 2002. S. 1 ff.. 16. 24 8
Im Einzelnen U. Karpenstein. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der Maastric htent schei dung des BVerf G. in: DVB1 1998, S. 942 ff.: R.Streinz, Der Vertrag von Amsterdam, in: JURA 1998. S. 57 ff.
100
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hätten sich hingegen stets an der politischen Durchsetzbarkeit zu messen. Dies würde grundsätzlich bedeuten, den notwendigen, eigenen Befindlichkeiten folgenden Ratifikationsprozess bereits im Vorfeld im Auge zu behalten und den Mehrwert gegenüber den bestehenden, in fünfzig Jahren ausgebildeten Vertragsgrundlagen der „europäischen Bevölkerung" verständlich darzustellen. (2)
Die politische Dimension der Verfassungsdebatte
Der Weg zum Verfassungsvertrag ist - ebenso wie das amerikanische Vorbild - neben allen verfassungsrechtlichen Aspekten - ein höchst politischer, weshalb dieser - gerade auch angesichts des Wechselspiels zwischen Politik und Verfassungsrecht 24 9 - wenigstens in Ansätzen aufgezeichnet werden soll. Die Diskussion, ob Europa tatsächlich einer Verfassung bedarf und was deren 2 50 Vor- und Nachteile sein könnten, wurde erschöpfend geführt. Aus politischer Sicht is t allerdings hervorzuheben, dass mit einem abgeschlossenen Verfassunggebungsprozess auch eine Manifestierung der „Politisierung" der Europäischen Union einherginge 25 1 und dass dadurch ihre Legitimität erhöht würde, entsprechend 24 9
Dazu auch unter B.II.2.f)jj)(4) sowie unter B.IV.2.b)cc)(2).
25 0
Die Lit. ist Legion : vgl. etwa D. Grimm . Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, S.581 ff.; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, in: EuR 2000 , S. 311 ff.; T. Stein, Europas Verfassung, in: Festschrift Krause. 2000. S. 233 ff.: G. Hirsch. Kein Staat, aber eine Verfassung, in: NJW 2000. S.46f.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien. 1999: W. Hertel , Suprantionalität als Ver fas sung spri nzip . 1999. Sieh e auch G. C. Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, in: EuGRZ 1996. S. 125 ff.; ders.. Gedanken zum Entstehen einer Europäischen Rechtsordnung, in: NJW 1999. S. 1 ff.: /. Pernice. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996. S.27ff.; T.Schilling, Di e Verfassung Eu ropas, in: Staa tswisse nschaft en und Staatspraxis 1996 . S. 387 ff.; A. von BogdandyIM. Nettesheim. Die Europäische Union: Ein eineheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, in: EuR 1996. S. 3 ff.; P.M. Huber. Differenzierte Integration und Flexibilität als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, in: EuR 1996. S. 347 ff.: R. Hrbek (Hrsg.). Die Reform der Europäischen Union. 1997; H. Heberlein. Regierungskonferenz 1996: Eine Neue Verfassung für die Europäische Union? (Tagungsbereicht), in: BayVBl. 1997. S.78ff. Vgl. auch 1. Pernice, Vertragsrevision oder Verfassunggebung?, in: FAZ vom 7.7. 1999; J.H.H. Weiler, The Constitution of Europe. 1999. Siehe auch die Sammelbände von J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer euopäischen Verfassungsordnung, 2000; J. SchwarzeIP.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Verfassungsentwicklung. EuR Beiheft 1, 2000; R. Herzog!S. Hobe (Hrsg.). Die europäische Union auf dem Weg zum verfassten Staatenverbund: Perspektiven der europäischen Verfassungsordung, 2004: M. Jopp. S. Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa - Analysen zur Konstitutionalisierung der EU. 2005. Von manchen als ..klassisch" bezeichnet: P. Pescatore, Die Gemeinsc haftsver träge als Verfassungsrecht - ein Kapite l Verf assungsgeschichte in der Per spektive des Europäischen Gerichtshofs, in: W.G. Grewe/H. H. Rupp. H. Schneider (Hrsg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher. 1981. S. 319 ff. 25 1 Vgl. auch 5. Goulard. C. Lequesne, Une Constitution europeenne. si et seulement si ..., in: Politique etrangere, n° 2, 2001, S. 1 ff.
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Verfas sungsentw icklung
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der Maßgabe, dass dort, wo (europäisches) Recht gilt und durch- bzw. umgesetzt wird, auch der (verfassungsmäßige) Ursprung dieser Rechtsetzung offensichtlich sein muss. 25 2 Zudem bedeutet die Realisierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einen qualitativen Integrationsschritt, der steter politischer Begleitung bedarf. Und drittens ist zu betonen, dass eine europäische Verfassung der Europäischen Union, die sich als Staaten-, aber auch als Bürgerunion versteht, den europäischen Bürgern die Souveränität über den europäischen Integrationsprozess zurückgeben würde. Denn eine europäische Verfassung bedeutet im Gegensatz zu den bestehenden Europäischen Verträgen insofern eine qualitative Veränderung bezüglich der Legitimität, als dass eine Verfassung normalerweise Ausdruck von VolkssouveJ. Bodin un d T. Hobbes , Ausdruck ränität und damit, in der besten Tradition von 253 eines freien Volkswillen ist. Idealiter würden nicht mehr seine Hoheit, der König von Belgien, ihre Majestät, die Königin von Dänemark, noch der deutsche Bundeskanzler oder der französische Staatspräsident dann ein Vertragsdokument unterzeichnen, sondern die europäischen Bürger, ähnlich wie es in dem fiktiven Verfassungsentwurf („We, the people of Europe ..."), den der britische Economist veröffentlichte 25 4 , zum Ausdruck kam. Eine bewusst gesetzte Analogie zum amerikanischen Verfassungstext. Politisch sprach (und spricht) indes dagegen, dass die Diskussion über eine Europäische Verfassung vor allem von den Gegnern einer tiefer gehenden Integration dazu genutzt werden konnte, indirekt, insbesondere über die Frage der Kompetenzabgrenzung, eine versteckte Renationalisierungsdebatte zu führen.
25
'
An dieser Stelle soll nunmehr ein vertiefender Blick aus der politischen Praxis die wissenschaftlichen Schilderungs- und Gestaltungsversuche ergänzen. Manche (wissenschaftlichen) Protagonisten gehen in selten offener Selbstbetrachtung gar soweit, den Beitrag der Wissenschaft zur Verfassungsentwicklung D. Freiburghaus stellte lakonisch fest, die Wisals eher gering einzuschätzen.
25 2
Vgl. J. Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: Fra nkfurte r Allgemeine Zeitung. 4. 11. 1999: ders.,Une Constitition pour l'Europe. in: Le Monde. 4. 11. 1999: ders., Wir brauchen eine europäis che Verfass ung, in: Die Welt, 15. 9. 20 00 sowie A. von Bogdandy, A Bird's Eye View on the Science of European Law, in: European Law Journal. Bd. 6. Nr. 3. September 2000. S. 208 ff., 215 ff.; vgl. auch die ..Mailänder Erklärung zur Europäischen Verfassung" von DGAP. ifri und ISPI. 28. 11. 2000, abrufbar über: www .dgap.org. Stichwort: „European Constitution Watch". 25 3 Siehe auch U. Guerot . Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2/2001. S. 28 ff. 25 4 A Constitution for the European Union, in: The Economist, 28. 10.2000. S. 22. 25 5
Der luxemburgische Premierminister J.-C.Juncker formulierte in der Financial Times Deutschland vom 16. 1.2001: „Die Regierungskonferenz 2004 darf keine Abbaukonferenz werden".
102
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senschaft begleite diese Prozesse wie ein Chor in der griechischen Tragödie, 25 6 habe jedoch auf die Handlung kaum Einfluss. Gleichwohl: Die Juristen haben auch unter praktischen Aspekten fraglos am meisten beigetragen. Die Ökonomen gelegentlich. Die Politikwissenschaft leidet darunter, dass sie eigentlich nicht Wissenschaft von der Politik, sondern zunehmend Wissenschaft des modernen Staates ist. Soweit ..Europa" (in klaren Grenzen) staatsähnlich ist, erwuchs und erwächst freilich überaus konstruktive Begleitung. (3)
Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Auseinandersetzung
Es überrascht kaum, dass unterschiedliche Vorstellungen über die endgültige Gestalt Europas auch die politische Debatte prägten. Sie sollen in der Folge systematisiert werden. Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass zuerst das Ziel der Integration feststehen musste, an dem sich die verfassungsmäßige Organisation europäischer Macht folglich ausrichten sollte. „Man kann (... 1 keine institutionelle Architektur [... ] vorschlagen, ohne zuvor zu über den politischen den2-'. manMit derselEuropa zu verleihen wünscht, nachgedacht haben" (L.Sinn, Jospin) ben Stoßrichtung äußerte sich auch K. Biedenkopf : „Man kann keine Verfassung 25 8 schaffen, ohne zu wissen, was verfasst werden soll". Alle genannten Akteure verfolgten letztlich die - banale - Absicht, einen „Klärungsprozess darüber 25 9 einzuleiten, wozu die Einigung Europas überhaupt gut ist" . Neben dem deutschen Außenminister J. Fischer der in einfachen Worten betonte, die Integration sei jetzt „an einem Punkt angelangt, wo unsere Bürger 26 0 genauer wissen wollen, wohin die Reise geht und wie das Ziel aussieht" und 26 1 deshalb eine Antwort auf die Frage „quo vadis Europa?" vonnöten sei , stellten andere politische Protagonisten die Frage nach einer europäischen Vision, welche 256
D. Freiburghaus, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaf-
ten zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66, 2003, S. 60 f., 60. Anders allerdings S. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung. CAP-Working Paper. 2001. 257
L Jospin. Rede zur „Zukunft des erweiterten Europas", 28.5.2001, abrufbar unter
www.franco-allemand.coni/de/de-traite-jospineurope2001.htm. 258
K. Biedenkopf. Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Herausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin. 4. Dezember 2000. S.3. 259 H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderation - oder was sonst?, in: Integration 3/2000. S. 171 ff., 171. 260 J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor der französischen Nationalversammlung, 20. Januar 1999, im Internet abrufbar unter www .auswaertigesamt.de/www/de/infoser\ 261
,
ice/download/pdf/reden/1999/r990120a.pdf.
J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Integration 3/2000. S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?, 2001, S. 299 ff.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
103
beantworten soll, „in welchem Europa wir leben wollen", und die zu „weiteren 26 2 Anstrengungen veranlasst und diese rechtfertigt" . Weitergehende Gedanken über die „Finalität" der europäischen Einigung machten sich auch die Verfassungsskeptiker wie etwa T. Blair: „Wenn wir uns nicht zuerst die grundlegende Frage nach der Richtung stellen, welche Europa einschla26 3 gen soll, verirren wir uns im Dickicht des institutionellen Wandels." Die Überlegungen zur endgültigen Gestalt Europas richteten die unterschiedlichen Akteure letztlich an differierenden Leitbildern aus. Leitbilder oder „europäische Ideale", die nicht nur die Erwartungen der Beteiligten an die Entwicklung der Integration ausdrückten; sie sollten auch die Rolle der Institutionen im Prozess der Gemeinschaftsbildung ausdrücken helfen und den Grad der Kohärenz des jeweils erreichten Entwicklungsstandes mit den jeweiligen politischen Erwartungen der 2 Bürger widerspiegeln. " (a) Das Ideal einer „Föderat ion von Nati onal sta aten " Mit dem Leitbild einer „Föderation von Nationalstaaten" suchten u. a. J. Delors, J. Fischer, J. Rau un d L. Jospin einen Abgleich mit ihren Vorstellungen über die Finalität der Integration. Der Begriff „Föderation" erscheint zunächst als Tabubruch, denn er erweckt den Eindruck, als würde der aus der Europapolitik verbannte Gedanke eines Europäischen Bundesstaates als Gegenstand politischer 26 5 Gestaltungsperspektiven wiederbelebt. Tatsächlich zeigte sich Fischer der den Begriff in seiner Humboldt-Rede aufwirft, inspiriert von der bundesstaatlichen Rhetorik der Nachkriegszeit. Er bezieht sich auf die „Europäische Föderation, die 26 6 R. Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat" .
26 2 So J. Chirac . Zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000 in der Semperoper in Dresden. 3. Oktober 2000. abrufbar unter http://www.sachsen.de/de/bf /reden_und Jnterviews/redenOO/10-C.htm. 263
T. Blair Spee ch to the Polish Stock Exchange . Warsc hau. 6. Okt obe r 2000 . eben da. Vgl. dazu auch J.Janning, Leitbilder der europäischen Integration, in: W. Weidcnfel d/W . Wessels (Hrs^.). Europa vo n A-Z. Taschenbuch der Europäischen Integration. 199 7. S. 253 ff., 258. 26 4
26 5 So P. C. Midler-Graff. Europäische Föderation als Revolutionskonzept im europäischen Verfassungsraum?, in: Integration. 3/2000. S. 157 ff., 157. 26,% J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Integration 3/2000. S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?. 2001. S. 299 ff. Dieser Logik folgend, fordert Fischer zunächst staatsähnliche Merkmale für diese Föderation: ..Ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebend e und exekutive Gewalt [ | ausüben". Im Laufe der Rede macht Fischer jedo ch deutlich, dass er mit ..Föderation" schließlich etwas anderes meint: ..Die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein Konstrukt jenseits der gewachsenen
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Fischers Leitbild ist in seiner Berliner Rede vom Interesse geprägt, den Nationalstaat auch bei einer verstärkten Integration zu erhalten: „Die Nationalstaaten werden fortexistieren und in der Föderation einen stärkeren Rang haben als die Bundesländer". Vor diesem Hintergrund wird erklärbar, dass etwa Abgeordnete des Europäischen Parlaments Fischer vorwarfen, das von ihm entworfene Europa sei keine Föderation, sondern eine „lockere Konföderation von Nationalstaaten im Sinne von de Gaulle"
267
.
Fischer bemühte sich mit seiner unorthodoxen Verwendung des Begriffs „Föderation" um ein vermittelndes Leitbild, das über „Entweder-Oder-Sichtweisen 268 hinausführt" . Bereits im Januar 1999 hatte er darauf hingewiesen, es gehe ihm „nicht darum, eine neue Föderalismus-Debatte zu entfachen. Europa ist bereits zu weit entwickelt, um sich in Kategorien wie Staatenbund und Bundesstaat ein-
politischen Realität en". Statt dessen definiert Fischer den Föder ationsbe griff jensei ts der althergebra chten Begr iffs besti mmunge n, die hinter jahrz ehntel angen Auseinanderset zungen um die Zielsetzung der Europapolitik standen, vgl. auch H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - oder was sonst?, in: Integration 3/2000. S. 171 ff., 172. Seine „Föderation der Nationalstaaten" beruht auf dem Prinzip der „Souveränitätsteilung" zwischen Mitgliedsstaaten und Europäischen Union nach dem Subsidiaritätsgrundsatz, die sich aus einer doppelten Legitimation ableitet: Eine Bürgerkammer mit direkt gewählten Abgeordneten vertritt die Bürger direkt, eine Staatenkammer wahrt die Interessen der Nationen. Damit diese Dualität gewährleistet bleibt, baut Fischer „Unitarisierungsbremsen" ein. die „bundesstaatlichen Tendenzen einen Riegel" vorschieben sollen, z. B. mit einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Mitgliedsstaaten und EU-Organen. Dabei tendierte er teilweise sogar zu einer stärkeren Intergouverncmentalisierung: Fischer konnte sich im Streitgespräch mit seinem französischen Amtskollegen Chevenement (vgl. DIE ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff., 18), „sehr gut vorstellen, dass bestim mte Aufgaben wieder [auf die Nationalstaaten) rückübertragen werden". Die von Fischer erwogene Alternative, den Ministerrat als „echte Regierung" der Europäischen Union zu etablieren, allerdingsintellektuell zu einer bloßen Körperschaft degradieren.würde Vgl. die dazuKommission die vergleichsweise klare,administrativen wenngleich durchaus streitbare Replik auf Fischers „Humboldt-Rede" von C. Leben. A Federation of Nation States or a Federation of States?, in: C.Joerges/Y. Meny/J.H.H. Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000. S. 100 ff., insb. 103 : „The Comm issi on would bec ome only an administrative body". Fischers ursprüngliches Konzept des Doppelmandats in der ersten Kammer stellt in der Konsequenz einen Rückschritt zu den Zeiten diu , als das Europäische Parlament noch aus Delegierten der Mitgliedsstaaten zusammengesetzt war. Des weiteren erwähnt Fischer entscheidende föderationsqualifizierendc Merkmale nicht, wie etwa die Übertragung des Haushaltsrechts auf die europäische Ebene (s. auch T.A. Börzel/T. Risse, Who is afraid of a European Federation? How to Constitutionalize a Multi-Level Governance System, in: C.Joerges/Y. Meny/J.H.H. Weiler (Hrsg.) (2000), S.45 ff„ 48). 26 7 So beispielsweise in einem Vortrag J. Voggeniwber. Das Europäische Parlament und die konstitutionellen Reformen der Europäischen Union. 2000. Bericht von M.O. Pähl abrufbar unter www.rewi.hu-berlin.de/WHI/english/fce/fce600/bericht-voggenhuber.htm. 26 8 Vgl. H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - oder was sonst?, in: Integration. 3/2000. S. 171 ff., 173.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
105
26 9 zwängen zu lassen. Europa ist und bleibt eine Konstruktion sui generis" . Im Streitgespräch mit Chevenement erklärte Fischer, warum er dennoch den ideo-
logisch belasteten Begriff „Föderation" gewählt hatte: „Wir haben versucht, ein neues deutsches Wort zu finden anstatt .Föderation'. Wenn man es übersetzt, kommt [... ] immer wieder federation oder federation heraus. Sodass wir am Ende 27 0 aufgegeben und gesagt haben: Wir müssen akzeptieren, dass dies das Wort ist". Gleichwohl ist Fischer mit dieser Wortwahl seiner (wiederholten) Intention gerecht geworden, zu provozieren. 27 1 Dass er aber nicht gänzli ch hinter dem Beg riff stand, lässt sich anhand der Tatsache vermuten, dass Fischer seinen Verfassungsgedanken zwar weiterhin an den Vorstellungen der „Souveränitätsteilung" ausrichtete, das Leitbild der Föderation in seinen späteren Europareden und Stellungnahmen 27 2 aber nicht mehr nachhaltig verfolgt hat. Trotz der begrifflichen Probleme haben einige weitere Politiker dieses Leitbild aufgegriffen. Bundespräsident J. Rau wies darauf hin, dass eine „Föderation von Nationalstaaten" das Gegenteil eines Superstaates bedeuten würde, und schon 27 3 gar nicht ein Europa „ä la Bundesrepublik Deutschland". Der Bundespräsident betonte, dass „die wirtschaftliche Globalisierung die Souveränität der Nationalstaaten gravierend aushöhlt". Die Föderation sei „darauf die Antwort, weil sie Souveränität |...) wiedergewinnt, die die einzelnen Staaten, auf sich allein gestellt, im Zuge der Globalisierung, längst verloren haben". Eine föderale Verfassung gebe „Europa eine Gestalt, wie wir sie uns für morgen wünschen können: ein Zusammenschluss von Staaten, die einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinschaftlichen Einrichtungen übertragen, damit sie durch gemeinsames Handeln Souveränität zurückgewinnen können" 27 4 .
J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor der französischen Nationalversammlung. 20. Januar 1999. Umfassend zum Föderalismusbegriff in rechtsvergleichender Perspektive unten B.IV.3.b). 27 0 Siehe Die ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff.. S. 17 f. 27 1
Siehe auch das Interview mit Fischer in D IE ZE IT 20. Juli 2000. S .3 . ..Europas Werte": ..Dass meine Rede Anstoß erregen würde, davon ging ich aus. das sollte sie". Zur durchaus kontraproduktiven Wirkung der Rede Fischers vgl. auch H. Wagner, Di e Rechtsnatur der EU. - Anmerkungen zu einer in Deutschland stattfindenden Debatte, in: ZEuS 2006. S. 287 ff.. 288 ff. 27 2 In der Rede vor dem belgischen Parlament, in der Fischer seine Konzepte der Humboldt-Rede noch einmal fast wortgetreu wiedergibt, ersetzt er das Wort ..Föderation" durch ..Europa": „Wichtigster Ansatzpunkt muss eine klare Souveränitätsteilung zwischen .Europa* und den Nationalstaaten sein" 27 3
Siehe J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung" Rede vordem Europäischen Parlament am 4. April 2001, S. 3. 274 J. Rau. Rede beim VIII Ko ngress der Euroc hambr es Berlin. 19. Oktob er 2000. Widersprüchlich ist allerdings, dass Rau den Ministerrat in eine zweite Kammer neben einem gleichberechtigten Europäischen Parlament umwandeln und das nationale Vetorecht aufgeben wollte und noch betonte, diese Kammer „wahre die Souveränität der Nationalstaaten",
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Auch auf französischer Seite ist das Konzept aufgegriffen worden, wo in ähnlicher Diktion L. Jospin für eine „Föderation von Nationalstaaten" plädierte. Wie Fischer un d Rau distanzierte sich der französische Premier von einer zentralistischen Auslegung: „Dieses Wort (...) deckt in Wirklichkeit vielfältige Inhalte ab". 27 5 Ein Gefüge, in dem die derzeitigen Staaten lediglich den Status eines deutschen Bundeslandes erhielten, könne Frankreich nicht akzeptieren. Verstehe man dagegen unter „Föderation" eine „schrittweise und kontrollierte Teilung von Befugnissen und deren Übertragung auf die Union", stimme er dem Begriff „ohne Wenn und Aber" zu. Der Terminus traf außerdem Jospins Vorstellung des konstitutiven Spannungsfeldes der europäischen Integration: die Nationalstaaten seien „Realität", die Föderation bleibe ein „Ideal". Damit „starke und lebendige Nationen. die ihre Identität wahren wollen", bestehen bleiben, solle die Union Jeden Einzelnen stärker machen". Auch J. Delors , der einer Verfassung grundsätzlich skeptisch gegenüber stand, verfolgte dieses Leitbild gleichfalls in der Annahme, 27 6 „dass die Nationalstaaten bleiben müssen" . (b) Das Ideal eines „Europas der
Nati one n"
Der Vors tellung eines „Europa der Nati one n" lassen si ch die Verfassung skonz epte von J. Chirac und A. Juppe mit J. Toiibon zuordnen. Im Gegensatz zu J. Fischer benannte Chirac nicht explizit ein „typisches" Leitbild im Spannungsfeld von Föderation oder Konföderation. Indem er auf seine damalige Rolle als Ratspräsident und die Kohabitation Rücksicht nahm, wich er der von Fischer aufgeworfenen Frage der Finalität aus und gab in seiner Berliner Rede „den Pragmatiker", um 27 7 nicht zu provozieren, sondern auszugleichen. Dennoch lässt sich herauskristallisieren, wie er Europa sehen wollte, nämlich als „Zusammenschluss von Nationen, vgl. ders., Plädoyer für eine Europäische Verfassung" Rede vor dem Europäischen Parlament am 4. April 2001. S.5. 275
L Jospin. Rede zur ..Zukunft des erweiterten Europas", 2001. ebenda. S. 7.
27 6
Vgl. das Interview mit J. Delors in: Le Mond e vom 19. Jan uar 2000. Vgl. J. Chirac. Rede vor dem Deutsc hen B undesta g am 27. Juni 2000. abge druckt in: FAZ vom 28 .6 .2 00 0. S. 10 f. Fischers Vorschlag sorgte auch in diesem Kontext für nahezu reflexartige Abwehrreaktionen. So etwa des bereits benannten ..Souveränisten" Chevenement auf das empfohlene Leitbild der Föderation: ..Weil Deutschland immer noch die Nation diabolisiert. neigt es zur Flucht ins Postnationale und findet sich wieder im wehmütigen Traum einer Art von Föderation, die unterschiedliche Teile möglichst regional zusammenhält". Chevenement sah den wichtigsten Bezugspunkt der Bürger in der Nation und hielt deshalb den Begriff des ..Verfassungspatriotismus" für „oberflächlich". Gleichzeitig verdächtigte er Fischers Verfassungskonzept als „verkappten deutschen Hegemonieanspruch" (zitiert nach K. »>. Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung , in: C.Joerg es/Y . Me ny /J .H .H . Weil er ( Hrsg.), What Kind of Constitut ion for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 2000. S.61 ff.. 61) Einerseits neige Deutschland dazu. ..die Nation zu verteufeln" (vgl. DIE ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13), 27 7
andererseits habe Fischer aber genau verstanden, dass die Nation ein „unentbehrlicher Rahmen der demokratischen Auseinandersetzung" sei. Hinter diesen .Zweideutigkeiten"
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
die jewe ils ihre Seele und Identitä
Verfas sungsentw icklung
t bewa hren m öchte n, aber
beschl ossen habe
ihre Interessen und vor allem ihre Werte gemeinsam zu verteidigen"
278
107 n,
.
Konkreter bekannten sich Juppe u n d Toubon zu einem Leitbild der „Nationalstaaten und der Bürger". Als ehemaliger Premier und Vorsitzender von Chiracs Sammlungsbewegung RPR stand Juppe dem Präsidenten nicht nur nahe, sondern er hatte auch seinen Verfassungsentwurf im Auftrag desselben ausgearbeitet. Zielsetzung des Verfassungsentwurfes war unter anderem, den Bürgern eine ernstzunehmende Stimme zu verleihen und Rechte der Mitgliedsstaaten zu garantieren. Den Verfassern ging es mit der Abschaffung der Kommission, der Aufwertung
witterte Chevenement offensichtlich den Versuch. Fischer wolle den anderen „ein Konzept aufzwingen, das ihm entspricht, aber nicht uns". In diesem Kontext ist auch das Zitat zu verstehen. Deutschland müsse sich „von den Entgleisungen des Nationalsozialismus" erholen. Dass die Deutschen den anderen einen europäischen Bundesstaat nach deutschem Vorbild überstülpen wollen, schien auch J. Delors anzudeuten, wenn er hinter der Diskussion um eine Verfassung „eine Arglist" vermutete (so in seiner Rede bei einem Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Die Europäische Avantgarde" in Paris, 2001. S. 1). Obwohl er die Position Chevenements ablehnte, meinte auch H. Vedrine : „Niemand kann behaupten, eine .Patentlösung" für Europa zu haben". Er betonte wiederholt, die Antwort auf Herausforderungen könne „nur das Ergebnis einer wirklichen, loyalen 1... 1 Diskussion sein" (vgl. H. Vedrine . Schreiben an den deutschen Außenminister J. Fischer, vom 8. Juni 2000. abrufbar unter ig.cs.tu-berlin.de/oldstatic/w2001/eul/dokumente/). Nicht allein, weil er sich in der Position des Ratsvorsitzes zu diesem Zeitpunkt um kurzfristigere Ziele kümmern musste. stand Vedrine der Verfassungsidee skeptisch gegenüber. Auch bei ihm rief das Schlagwort „Föderation" Souveränitätsverlustängste hervor: „Wenn man die Direktwahl des Präsidenten der Föderation, der deren Außen- und Sicherheitspolitik unter der Kontrolle des Parlaments umzusetzen hätte, in Erwägung zieht, welche Zuständigkeiten verbleiben dann dem Nationalstaat? J...1 Wie lange gäbe es in Frankreich noch einen Präsidenten I...] und in Deutschland noch einen Bundeskanzler?" (vgl. Vedrine. ebenda). Auch T. Blair sah in Fischers Konzept ein etatistisch geprägtes Leitbild, welches er dem konföderalen Modell der britischen Konservativen gegenüberstellte : „Zwei Mode lle wurden bis jetzt vorgeschlagen: Europa als eine bloße Freihandelszone, und das klassische föderalistische Modell, in dem Europa seinen Kommissionspräsidenten wählt und das Europäische Parlament eine echte Legislative und Europas wichtigste demokratische Kontrollinstanz wird". Europa dürfe aber nie ein „Superstaat" werden, denn die wichtigste Quelle demokratischer Legitimität seien die direkt gewählten nationalen Parlamente und Regierungen: „Europa ist ein Europa freier, unabhängiger souveräner Nationen, die frei wählen, ihre Souveränität in ihrem eigenen Interesse und zum gemeinsamen Gut zusammenschließen" (vgl. ders. Speech to the Polish Stock Exchange. 2000. S. 5 ff.) Außerdem sei es für die Briten aufgrund ihrer eigenen Verfassungstradition „einfacher zu verstehen", dass eine konstitutionelle Debatte nicht unbedingt in einem einzigen Dokument enden müsse, schon gar nicht bei einer so „dynamischen und komplexen Einheit wie der EU". Auch für Blair war das von Fischer vorgeschlagene „Gravitationszentrum" mit eigenen Institutionen nicht akzeptabel. Statt eines „Superstaates" sah (und sieht) Blair Europa als „Supermacht" und „wirtschaftliches Kraftwerk" (vgl. ders. (2000). S. 7). 278 J. Chirac, Rede zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000. S. auch ders.. Rede vordem Deutschen Bundestag: „Unser Europa", 27. Juni 2000. wonach
die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker „auch in Zukunft die Nationen darstellen" würden.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
des Rates, der Beschränkung europäischer Kompetenzen und der übergeordneten Position der „Staatenkammer" letztendlich um eine weitgehende Renationalisierung. (c)
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Das Ideal eine s „Eu rop as der Re gi on en "
Nebe n den deutschen Bun desl ände r verfolgten gerade die Regieru ngsche fs k leinerer Staaten das Leitbild eines „Europa der Regionen". Es gab freilich Differenzierungen. So setzte sich der sächsische Ministerpräsident K. Biedenkopf bewusst v on Fischers „Föderation der Nationalstaaten" als „Endpunkt der Integration" ab. Die vom Außenminister geforderte Souveränitätsteilung zwischen Nationen und Europäischer Union sei „instabil": Die „Größenunterschiede der Mitgliedsstaaten erlaubten keine dauerhafte Struktur", da „die Idee des Nationalstaates (...] mit einer demok rati sch legitimierten Föderatio n [. .. ) ka um vere inbar " sei. 2 8 0 Eine „Föderation der Nationalstaaten" befördere die Behauptung und Durchsetzung nationaler Interessen und die Reaktivierung der Nationalstaaten im Falle von Krisen". Bei „Fortdauer der Nationalstaaten" seien der „Steigerung der Verbundsintensität dauerhaft Grenzen gesetzt". Fischers Föderation sei kein „Neubeginn, der es rechtfertigen würde, durch eine europäische Verfassung ratifiziert zu werden, weil sie die Tendenz einer durch die nationalen Exekutiven dominierten Regierungsform" verstärke. Ein „Europa der Regionen" könnte, so Biedenkopf die Demokratisierung und Effizienz europäischer Politik besser gewährleisten. „Grenzüberschreitende Euroregionen" erlaubten die Bildung „selbstverwalteter Einheiten", die „als Keimzellen der Integration" Menschen auch „über nationale Grenzen hinaus verbinden". Die Dominanz größerer über die kleineren Mitgliedsstaaten würde so aufgehoben und die Union würde handlungsfähiger. Während Biedenkopf die Absicht verfolgte, „in einem Prozess der Regionalisierung (...] die Länder auf Kosten der nationalen Parlamente über die Re2sl gionalpolitik der Europäischen Union zu stärken" , hielt der glücklose niedersächsische Ministerpräsident S. Gabriel den Erhalt des Nationalstaates für eine Vorraussetzung, „wirklich ernsthaft eine Revitalisierung des Föderalismus in 282 Deutschland durchzusetzen" . Deshalb sah Gabriel auch keinen Widerspruch 27 9 Siehe A. Juppe/J. Toubon, Constitution de 1'Union Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l'Europe. vom 28.6.2000. abrufbar unter www .mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Chiracs Leitbild ist zwar moderater. doch erwähnt er beispielsweise die Kommission auch nicht. 28 0 Vgl. K. Biedenkopf, Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Herausforderungen", Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin. 4. Dezember 2000. 28 1 So K. von Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/ Y. Meny/J.H.H. Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 2000. S. 61 ff., 70. 282 S. Gabriel, Regierungserklärung am 21. Juni 2000 in Hannover, abrufbar unter www .eiz-niedersachsen.de/uploads/media/ef-2000-1 .pdf.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
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zwischen dem Erhalt der Nationalstaaten und der Stärkung der Regionen: Ein „Verfassungsvertrag, der die Souveränitäts- und Kompetenzverteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten horizontal und vertikal regelt", sollte nämlich gleichzeitig „den Regionen und Ländern Spielräume verschaffen, auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verfassungen die Kompetenzen mit ihren Nationalstaaten zu regeln". Allen Konzepten der Bundesländer ist die zentrale Forderung nach einer verfassungsmäßigen Kompetenzabgrenzung zwischen den Regionen und der Europäischen Union gemeinsam, um der „Erosion regionaler Handlungsspielräume" durch immer weitere Kompetenzerweiterung der europäischen Ebene entgegenzuwirken und diese wiederzugewinnen. So forderte im trivialen Duktus der rheinlandpfälzische Ministerpräsident K. Beck : „Die Rechte der Bundesländer müssen in die EU-Verfassung". 28 4
2 83
(d) Ein offe nes Leitbild mit Gemei nscha ftsa nsatz In diese Kategorie fallen jene Akteure, die in ihren Reden und Äußerungen keinem fest definierten Muster folgten, aber mit einer Verfassung die Einbeziehung der supranationalen Institutionen garantieren wollen. Dazu sind die Kommission, das Europäische Parlament (bereits aufgrund der Heterogenität der immanenten Ansätze), sowie G. Verhofstadt (bis 2005) und P. Lipponen als Vertreter kleinerer Mitgliedsstaaten zu zählen. Auch C. Ciampi wollte sich nicht an „starre Schemata gebunden fühlen". 28 5 Die Kommission. Lipponen un d Verhofstadt richteten ihr Leitbild im Wesentlichen am Gemeinschaftsmodell aus. So zeigte sich Kommissionspräsident R. Prodi fest davon überzeugt, dass die „Gemeinschaftsmethode" unter der Prämisse ihrer „Rationalisierung, Vereinfachung und Erweiterung die Zukunft der Union" wäre. Der Gipfel von Nizza hätte die Schwächen der zwischenstaatlichen Methode
28 3
So der damalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens W. Clement . Europa gestalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza, Rede in Berlin. 12. Febr. 2001, abrufbar unter www.pressearchiv.nrw.de/0l_textdienst/12_reden/200l /mskr20010212_l.htm. 28 4 Interview mit K.Beck in der FAZ. 2.Juli2000. S.5. Auch E.Stoiber sah den Kernpunkt eines Verfassungsvertrags Europas in der Frage: „Welche Kompetenzen behalten die Nationen und Regionen?", vgl. ders., Rede am 13. November 1999 in München, abrufbar unter www.bayem.de/Presse-Info/Regierungserklaerun^en/pdf/reg_(K)0322.pdf ?PHPSESSID. 285
C. Ciampi. Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig. 6. Juli 2000. abr ufba r unter www.quirinale.it/ex_presidenti/Ciampi/Discorsi /Discorso.asp?id=12718, mit dem weiteren Hinweis, dass „[...] die Begriffe Bundesstaat. Staatenbund oder Staatenverbund unterschiedliche Hypothesen (verkörpern], die in neuen, kombinierten Formen allesamt brauchbar sind".
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gezeigt. Nur einheitliches Handeln, welches auf dem institutionellen Dreieck der Gemeinschaftsmethode beruhe, würde auch in Zukunft zu Ergebnissen führen.
28 6
Das Parlament verfolgte wohl eine ähnliche Absicht, als es ein Leitbild der „Union der Staaten und Bürger" benannte, die den Ministerrat und das Parlament als 2 wirklich gleichberechtigte Legislativen vorsehen sollte. " Gleichzeitig betonten die meisten der genannten Akteure, dass sie damit weder für die „Staatswerdung 28 8 Europas" noch etwa für einen „europäischen Superstaat" plädierten. Einmal mehr sollte der Hinweis folgen, die Europäische Union sei eine Rechtsordnung sui generis. (e) Zwischenfazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keiner der benannten Spitzenpolitiker - unabhängig von seiner Meinung zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union - einen ,Superstaat Europa' errichten wollte. Zumal die vehementesten Befürworter einer Verfassung wie Fischer oder Ran sich ausdrücklich von einem Europa ä la Bundesrepublik distanzierten und mittels der Staatenkammer und dem Kompetenzkatalog Zentralisierungshindernisse in ihr Konzept mit einbau2 9 ten bzw. sogar die Renationalisierung einzelner Politiken befürworteten. " Die Bedeutung des Begriffs „Föderation" wurde vor diesem Hintergrund nicht mehr ausschließlich von Verfassungsbefürwortern benutzt, sondern beispielsweise auch von kritischen Stimmen wie J. Delors. Die Ablehnung des Verfassungsbegriffs ist
286
R. Prodi , Rede vor de m Europä isch en Par lamen t am 17. Jan uar 2001. ab ru fba r unter europe.eu.int/comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/index_de.htm. Nach G. Verhofstadt. Welche Zukunft für welches Europa? Rede am 24. Juni 2001. abrufbar unter www.europadigital.de/aktuell/dossier/reden/verhofstadt.shtml. könnten ..Transparenz. Effizienz. Legitimität" nur mit der Geme insch afts metho de gewährleistet werden. ..Eine .starke Kommission* müsse ihre Kraft aus einem .neuen Verhältnis mit den anderen Institutionen* schöpfen, mit einem Rat. der die Prioritäten der Union festlege und zusammen mit dem Parlament als Gesetzgeber fungiere (vgl. ders. A Vision of Europe. Rede vom 21.9.2000. abrufbar unter www.theepc.be/About_The_EPC/EPC_Documents/Communications_Doc/305.asp ?ID=305). Für P. Lipponen. Spe ech at the Coll ege of Euro pe. Brüg ge. 10. Nove mber 2000 . abrufbar unter www.vn.fi/english/speech/20001110e.htm. . war die Kommission von „ausschlaggebender Bedeutung", damit in Zukunft nicht mehr die größeren über die kleineren Staaten dominiere n könnten. Dies würde auch die Gleic hberec htigung jede s Mitglieds im Ministerrat nötig machen. 287
So im Bericht des
Europäischen Parlaments zu der Konstitutionalisierung der
Verträge. 2000. S. 17. 28 8 Vgl. G. Verhofstadt. A Vision of Europe. Rede des belgischen Ministerpräsidenten v. 21.9.2000. ebenda sowie K. Hänsch. Ziel und Zukunft der Einigung Europas. Rede auf der Landestagun g der Europa- Union Hes sen. 3. Juni 2000. ab rufb ar unter www .eu ropa web.de/euro
pa/01 lvkvjf/102LY7haensch.h
tm.
Vgl. umfassend auch 5. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung, CAP-Working Paper. 2001. S. 30 f. 28 9
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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4 29 0 daher zum Teil durch „institutionalisierte Wirklichkeitskonstruktionen ' bedingt: Gerade euroskeptische Regierungen verbanden mit den Begriffen „Verfassung"
und „Föderation" immer noch die althergebrachte Vorstellung eines europäischen Superstaates. Andererseits forderten die meisten Verfassungsbefürworter die Vertiefung der politischen Integration, während die Verfassungsskeptiker die Europäische Union vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft sahen. (4)
Das Wechselspiel zwischen und politischer Diskussion
Verfassungsfunktionen
Maßgeblich für diese Untersuchung ist die Feststellung, dass bisher alle politischen Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte gescheitert sind, sich aber gleichzeitig die juristische Auffassung durchsetzen konnte, der rechtliche Rahmen der Europäischen Union habe sich bereits weitgehend zur Verfassung entwickelt. Um diesen Widerspruch zu erklären, sind vier essentielle Funktionen und Merkmale einer modernen Verfassung anzusetzen und auf den europäischen Kontext zu übertragen, nämlich die Legitimationsfunktion (Berufung auf eine verfassungsgebende Gewalt und Garantie von Partizipationsrechten), Organisationsfunktion (vertikale und horizontale Gewaltenteilung), Begrenzungsfunktion (individuelle Bürger- und Menschenrechte) sowie die Integrations- und Identifikationsfunktion (klare Festlegung von Normen und Werten). (a) Die Legi timat ionsf unkt ion als Gra dme sser der (politische n) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vorbild? Alle Beobachter und Politiker betonten während der Debatte um eine künftige Verfassung, dass die Legitimationsquelle der Europäischen Union nicht allein aus dem bisherigen Europäischen Parlament entspringen könne. J. Fischer griff hier - wenn auch nicht explizit - die These auf. dass das Europäische Parlament nie die Rolle der nationalen Parlamente übernehmen könne, denn ein „Faktum der europäischen Realität sind (...) die unterschiedlichen politischen Nationalkulturen und deren demokratische Öffentlichkeiten, getrennt zudem noch durch 29 1 die auffälligen Sprachgrenzen" . Ähnlich argumentierte auch J. Chirac : Wegen ihrer „politischen, kulturellen und sprachlichen Traditionen" würden „auch in 29 2 Zukunft die Nationen die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker darstellen". Laut C. Ciampi sollte eine europäische Verfassung erforderlich sein, um zu „de290 K. v. Bewne. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C.Joerges/ Y. Meny/J.H.H. Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 20(X). S. 61 ff. 67. 291 J. Fischer. Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration. Rede an der Humboldt-Universität Berlin. 12. Mai 20(X). 292 J. Chirac. Rede vor dem v. 28.6.2000. S. 10 f.
Deut sche n Bund est ag am 27. Juni 20(X). in: FAZ Nr. 147
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monstrieren, dass die letztliche Quelle für die Legitimität der Institutionen der Europäischen Union bei den Bürgern liegt", ohne dass sie dabei „die Identität 29 - Eine europäische Verfassung sollte deshalb der einzelnen Nationen auslöscht". die Souveränität der EU-Bürger auf beiden Ebenen, der europäischen wie der nationalen. garantieren. Fischer folgerte daraus: „Ein europäisches Parlament muss deswegen immer ein Doppeltes repräsentieren: Ein Europa der Nationalstaaten 2 und ein Europa der Bürger". ^ Diese „Souveränitätsteilung" sollte sich in einem Zwei-Kammer-System manifestieren, von dem eine Kammer die Bürger und die andere die Staaten vertritt.
Das US-Vorbild des Kongresses schimmerte hierbei erst schüchtern hindurch. Lediglich wenige Politiker - wie Ciampi, Lipponen un d Chirac - erwähnten das Zwei-Kammer-System indes nicht ausdrücklich. Andere Befürworter einer Verfassung hatten ihre Ideen über die Zusammensetzung dieser beiden Kammern im Laufe der Debatte wiederholt modifiziert. So auch J. Fischer der in seiner Humboldt-Rede das Zwei-Kammer-System nach eigenen Angaben als erster aus 29 5 der politischen Szenerie auf die Agenda gebracht haben wollte und diesen institutionellen Ansatz gleichwohl bald zu relativieren wusste, nachdem dieser Vorschlag auf heftige Kritik in vielen Fraktionen des Europäischen Parlaments gestoßen war. Zahlreiche Abgeordnete warfen Fischer vor, er stelle die Eigen2 6 ständigkeit des Europäischen Parlaments in Frage. '' Dem entsprang schließlich ein weiteres Konzept Fischers, welches er vor dem Europäischen Parlament am 6. Juli 200 0 darstel lte. Äh nlic h wie in den USA sollten in der ersten Ka mm er die direkt gewählten Europa-Abgeordneten sitzen, die Zweite Kammer dafür aus : 7 Delegierten der nationalen Parlamente bestehen. ' 293 C. Ciampi , Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig, 6. Juli 2000.
294 29 5 J. Fischer (2000). Tatsächlich hatte J. Kau in den Namensartikeln in Le Monde und der FAZ schon im November 1999 für dieses System plädiert, es fand aber nicht ein vergleichbares Echo: vgl. FAZ. 4. November 1999. S. 8: ..Die Quelle der Legitimation deutlich machen". Nach Fischers ursprünglicher Auffassung sollten die Abgeordneten der ersten Kammer zunächst ..zugleich Mitglieder der Nationalparlamente" sein, denn nur so sei gewährleistet, dass das EP die „unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten tatsächlich zusammenführt", vgl. ders. In seiner Humboldt-Rede (2000). ebenda. 29 6 Da es zeitlich nicht möglich sei, gleichzeitig zwei Mandate ..auch nur annähernd sachgerecht auszuüben", führe ein solches Doppelmandat zu einer ..Schwächung des Europäischen Parlaments und seiner Kontrollfunktion", vgl. dazu den Bericht über das Diskussionsforum am Walter-Hallstein-Institut vom 22. Juni 2000 mit Johannes Voggenhuber. MdEP und Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (Grüne): „Umfassende Demokratisierung gefordert. Gegenposition zu Joschka Fischer aus dem Europäischen Parlament". 29 7
Dazu SZ. 7. Juli 2000. S. 8: „Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg: Fischer fordert Entscheidungen über die Zukunft der EU". Das Redemanuskript des Auswärtigen Amtes entspricht der im Wesentlichen frei gehaltenen Rede nur in Grundzügen.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
113
Hatte Fischer in seiner Humboldt-Rede noch zwei Alternativen zur Stimmenverteilung dieser „Staatenkammer" vorgeschlagen - das Senats- und Bundesratsmodell - setzte sich ersteres in der Debatte durch. Auch Andere befürworteten in 29 8 späteren Red en das Senatmod ell mit je zwei Abgeordnete n pro Mitgliedsstaat. Vor allem die kleineren Länder wie Belgien und Finnland warben aus offensichtlichen Gründen für das US-Modell. Die Kommission äußerte sich nicht explizit zu diesem Modell, betonte aber mehrfach, die kleinen Staaten müssten gleichberechtigt mit den großen Staaten repräsentiert werden. Während Fischer wederein konkretes Rollenverhältnis zwischen beiden Kammern definierte, noch deutlich machte, ob die zweite Kammer den Ministerrat ersetzen würde, hatten sich die Positionen zwischen den Verfassungsbefürwortern mittlerweile polarisiert: Am einen Ende der Skala standen die Befürworter von mehr Supranationalität. Am anderen Ende waren die Intergouvernamentalisten auszumachen, die dem Europäischen Parlament nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Ministerrat 2 9 zuweisen wollten. Diese Vorschläge kamen vor allem von französischer Seite. " Im Zuge von Nizza plädierten auch Regierungschefs verstärkt dafür, den Rat und das Europäische Parlament zu den Kammern einer einzigen Legislative zu entwickeln, wobei ein ständiger Rat als Beauftragter der Mitgliedsstaaten fungieren sollte, und das Europäische Parlament als Vertreter der europäischen Völker.Ein drittes Modell zielte darauf ab, die Partizipationsmöglichkeiten der 30 1 Bürger durch mehr Mitspracherechte der Regionen auszuweiten. 29 8
So beispielsweise J. Rau. der für die gleichberechtigte Repräsentation mit einer ..gleichen Anzahl von Stimmen" in der zweiten Kammer warb (vgl. ders., Rede beim VIII Kongress der Eurochamb res Berlin, 19. Oktober 2000). 29 9
Verfechter von mehr Supranationalität forderten ein Zwei-Kammer-System, in dem das Europäische Parlament und der Ministerrat gleichberechtigt Gesetze erlassen könnte. Teile des Europäischen Parlaments sahen vor, dass die „Komposition, das Funktionieren und die Balance zwischen den Institutionen der Union" die „doppelte Legitimität als eine Union der Völker und eine Union der Staaten" reflektieren müsse, und zwar durch den „Ministerrat und das Europäische Parlament" (Konstitutioneller Ausschuss: Bericht über die Vorschläge des Europäischen Parlaments für die Regierungskonferenz. Dok. Nr.: A5 -0 08 6/ 20 00 , 27. März 2000. S. 5: ..An overall equili brium must be St ruc k between the small and large States [...] therefore [...] the constitutional principle that the Union of Peoples is represented by the European Parliament and the Union of the States is represented by the Council"). Zahlreiche Abgeordnete forderten in Anlehnung an die früheren Verfassungsentwürfe aus der Mitte des Europäischen Parlamentes ein „echtes Zwei-Kammer-System", in dem „alle Gesetzgebung doppelt legitimiert sein muss: Durch eine Mehrheit der gewichteten Stimmen der Mitgliedsstaaten im Rat und durch eine Mehrheit im Parlament" (Vgl. dazu etwa die Rede von K. Hänsch auf der Lande stagung der Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000: sowie das Papier von W. Görlach/J. Leinen/R. Linkohr. Europa als demokratischer Staat, in: H. Mahrhold. Die neue Europadebatte. 2001, S. 298 ff.). Der konstitutionelle Ausschuss modifizierte diese Forderung, indem er die „Aufteilung in zwei Gruppen von Rechtsakten" verlangte, „in denen das Parlament oder der Rat das letzte Wort haben" sollten (ebenda. S. 17). 10 0 Laut G. Verhofstadt sollte im Rat die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, und das Europäische Parlament ein generelles Mitentscheidungsrecht erhal-
114 (b)
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung Organisa
tions-
und Begr enzu ngsf unkt ion in der Verf assungs debat te
Die wissenschaftliche und politische Debatte um die Berücksichtigung der Organisationsfunktion ist zwa r mit Blic k auf die We ch se lw ir ku ng en dies es Prinzips eher dürr 3 0 2 , gleichwohl haben sich zahlreiche Beiträge mit der Frage nach horizontaler Gewaltenteilung zwischen den Institutionen, der tenteilung, somit auch bezügli ch der Stich worte ..Europäische „Kompetenzkatalog" befasst.
vertikalen GewalReg ier ung " und
303
ten ( vgl. ders.. Rede in Göttweig am 24. Juni 2001, S. 9). Das gleiche Konzept schlug auch J. Rau vor: ..Der Ministerrat soll zur Staatenkammer werden, in der jeder Staat, vertreten durch seine Regierung, abstimmt". Das Europäische Paralment würde zur ..Bürgerkammer" werden. Beide Kammern sollten ..gleichwertig und gleichberechtigt entscheiden" (J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung. Rede vor dem Europäischen Parlament am 4. April 2001. S. 5). Auch W. Clement forderte, dass das Europäische Parlament ..als Bürgerkammer in allen Bereichen mit dem Rat gleichberechtigt entscheiden" sollte (vgl. ders, Euro gesta ltenargumentierte - nicht verwa lten. Die K ompe tenz ung -der Nizz a. 12. Febr. 2001).pa Ahnlich auch E.Stoiber, derordn beiden RatEU undnach Europäischem Parlament - ein Initiativrecht zubilligte (ders., Reformen für Europas Zukunft. Rede in Berlin. 27. Sept embe r 2000, abru fbar unter www.bayern.de/Berlin/Veranstaltungen /Redenarchiv/?PHPSESSlD=eb06875d90a340f2d38d4976). Am weitesten ging Bundeskanzler G. Schröder. Er plädierte nicht nur für den „Ausbau des Rates zu einer europäischen Staatenkammer" und für die „weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes mittels Ausweitung der Mitentscheidung", sondern forderte damals als einziger Regierungschef die „volle Budgethoheit" für das Europäische Parlament (hier G. Schröder in seiner Funktion als SPD-Parteichef, zitiert nach dem SPD-Leitantrag „Verantwortung für Europa ", 30. April 2001, S. 2). Ü berleg ungen auf französ ischer Seite waren diesen bundesstaatlichen Tendenzen entgegengesetzt. Die Neogaullisten A. Juppe un d J. Toubon verorteten Legitimität und Kompetenzkompetenz hauptsächlich bei den Nationalstaaten. In ihrem Verfassungsentwurf vom Juni 2000 ist die „Chambre des Nations" der Kammer der europäischen Abgeordneten deutlich übergeordnet, vgl. eingehender 5. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung, CAP-Working Paper. 2001. S. 34 ff. 30 1 So argumentierten etwa K. Biedenkopf in seiner Rolle als Ministerpräsident, sowie die Regierungschefs der kleineren Staaten. Während vor allem in den bevölkerungsreicheren Mitgliedsstaaten der Nationalstaat nur einen „geringen Bezug zur Bevölkerung" herstellen würden, erlaube die „kleinere, überschaubare Einheit" der Region den Bürgern mehr Partizipationsmöglichkeiten. Die Regionen wären demnach „angesichts ihrer besseren Vergleichbarkeit nach äußerer Größe und innerer Homogenität eine geeignetere Basis staatlicher Repräsentanz in Europa" als die „größeren, sehr verschiedenen Nationalstaaten" (K. Biedenkopf. Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Herausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität Berlin. 4. Deze mber 2000. S.8 ). Auch R Lipponen un d G. Verhofstadt betonten die „wachsende Bedeutung der Regionen" (P. Lipponen, Speech at the College of Europe in Brügge. 10. November 2000. S. 4; G. Verhofstadt. A Vision for Europe. Rede vor dem European Policy Center in Brüssel, 21. Septembe r 2000. S.7 ). Biedenkopf schlug sogar vor. dass die Zweite Kammer überhaupt nicht die Nationalstaaten vertreten solle, sondern sich aus dem Ausschuss der Regionen entwickeln könnte (ebenda (2000)). 30 2
Vgl. aber aus der politikwissenschaftlichen Lit. mit zahlreichen Nachweisen 5. Volkmann-Schluck. Die Debatte um eine europäische Verfassung. CAP-Working Paper. 2001. S. 38 ff.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
115
Die Forderung nach einer eindeutigeren Zuständigkeitsverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedsstaaten bzw. Regionen stand und steht bis heute in zahlreichen Überlegungen an zentraler Stelle. Ein Kompetenzkatalog stellte - neben der Grundrechtecharta - für viele die Konkretion des Verfassungsgedankens dar. Mit einem Kompetenzkatalog sollte das Prinzip funktional definierter Handlungsbefugnisse zugunsten rechtsgebietlich definierter Zuständigkeiten überwunden werden. Statt der Vielzahl von Regelungen auf EU-Ebene als Ergebnis der induktiven Vergemeins chaftung sollt en bereits in Fischers HumboldtRede die Kompetenzen nach dem Prinzip der horizontalen (zwischen den Institutionen), besonders aber der vertikalen Gewaltenteilung zwischen EU-Ebene und Mitgliedsstaaten geordnet werden. Während die fr üheren Ent würfe des Europäis chen Parlamentes darauf abzielten, zunehmend mehr Macht auf die europäische Ebene zu übertragen, gestaltete sich di e Organisationsfunktion der Verfassungsentwürfe um die Jahrtausendwende tatsächlich anders. Sowohl Befürworter als auch Gegner einer Verfassung waren sich weitgehend einig, dass das Subsidiaritätsprinzip durch einen klaren Kompetenzkatalog gesichert werden sollte und der Übertragung von Kompetenzen verfassu ngsmäßig e Schranken entgegen gesetzt werden müssten. So sollte die horizontale Gewaltenteilung besser organisiert werden, indem die Kommission klarer der Exekutive zugeordnet würde und der Ministerrat sich auf legislative Aufgaben konzentriert hätte. Die vertikale Gewaltenteilung, d. h. auf welcher Ebene die unterschiedlichen Politikbereiche ausgeübt werden sollen, hing jedoch - wie historisch erwartbar - von den Interessen der einzelnen Akteure ab. Überlegungen zur verfassungsmäßigen Begrenzungsfunktion politischer Macht gegenüber dem Einzelnen in Form von Menschen- und Bürgerrechten bildeten neben der Frage der Kompetenzabgrenzung den zweiten Kernpunkt der Verfassungsdiskussion. Nicht zufällig trieb demnach die auf dem Kölner Rat vom Juni 30 4
1999 beschlossene Ausarbeitung einer „Grundrechtecharta" , welche die in den Verträgen verstreuten Grundrechte sichtbar machen sollte, die Verfassungsdiskussion in allen Mitgliedsstaaten an. Die meisten Akteure versprachen sich von dem 30 3
Aus der Lit. P.Häberle, Europäisc he Verfass ungslehre. 4. Aufl. 2006, S. 1 37 f.. 406 ff.; M. Brenner. Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union. 1996. S. 157 ff.. R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus, Rechtsbindung, in: P.-C. Müller-Graff/E. Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union. 1998. S. 99 ff.; P. Kirchhof. Die Gewaltenba lance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: JZ 1998. S. 965 ff.: H.-D. Horn, Über den Grundsatz der Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspektive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 2. Aufl. 1962, S. 106. Siehe des weiteren M. Simm. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Zum ..institutionellen Gleichgewicht" 304
R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003, S. 217.
Vgl. unter B.II.2.0").
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Menschen- und Bürgerrechtskatalog auch eine Verbesserung der Akzeptanz der 30 5 Europäischen Union, weil jene als „Wertegemeinschaft" identifizierbar würde. (c) Integrations- und Identifik ationsfunkt ion: Transparen z und Bürgernähe, EU-Skepsiskultivierung Alle diskutierten Verbesserungen im Bereich der Legitimations-, Begrenzungsund Organisationsfunktion sollten letztlich dazu beitragen, dass Europa kein „abstraktes Großprojekt mehr ist, das sich hinter verschlossenen Türen im fernen 30 6 Brüssel oder in den Köpfen einiger Technokraten abspielt" . Zahlreiche Beiträge zielten darauf ab. mittels der Verbürgung von mehr Bürgernähe durch Subsidiarität, der Personifizierung von EU-Politik durch die Wahl eines Präsidenten, der klareren Nachvollziehbarkeit von Verantwortlichkeiten, sowie der Verständigung über grundlegende und identitätsstiftende Werte des Zusammenlebens die Identitätskrise zu beseitigen. Die mangelnde Identifizierung des Bürgers mit Brüssel war (und ist) für nahezu alle Verfassungsbefürworter ein zentrales Problem: Zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern besteht eine derart bemerkenswerte Kluft, die sich seit Maastricht nicht verringert hat. Als Indikatoren dieser Identitätskrise nannten die Politiker die steigende Europa-Verdrossenheit und die sinkende Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die negativen dänischen und irischen Referenda zum Euro und zum Vertrag von Nizza wurden als Folge einer Identitätskrise gewertet. Das spätere französische „Non" und das niederländische „Nee" zum Verfassungsvertrag sind beredter Ausdruck einer „EU-Skepsiskultivierung". Ein weiterer wichtiger Grund für die fehlende Akzeptanz der Europäischen Union bleibt freilich - auch praekonstitutionell - die Undurchsichtigkeit der Verträge. Zudem sind die „Wahrnehmungsmängel" der bereits in den EU-Verträgen und durch die Rechtssprechung garantierten europäischen Grundrechte wohl auch entscheidende Gründe für wachsende Unzufriedenheit, Desinteresse und „EuroMüdigkeit" der Bürger, die in den letzten Europawahlen in nahezu allen Mitgliedsstaaten in bisher kaum für möglich gehaltene Wahlverweigerung umgeschlagen sind. Das Problem hatte spätestens mit der Erweiterungswoge im Jahre 2(K)4 noch an Dringlichkeit und Umfang zugenommen. Nachdem die Vergrößerung der 30 5 Kritisch zur „Wertegemeinschaft" R. Streinz , Der europäische Verfassungsprozess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissa bon, aktu elle analyse n Nr. 46 der Ak ad em ie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung. 2008. S. 13 ff. Vgl. auch M. Herdegen . Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Festschrift für Rupert Scholz. 2007. S. 139 ff. 30 6 So Bundeskanzler G. Schröder in seiner Regier ungs erk lär ung vom 19. Janu ar 2001 (vgl. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages).
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
117
Europäi schen Union von 15 auf 27 (plus x) Mitgliede r die Auflösu ng zuordn ungs fähiger Verantwortlichkeiten noch verstärkt und somit potentiell zu europäischen „Erosionsprozessen" führt, muss es auch aus diesem Grunde einen strukturellen Neuanfang geben. Selbst J. Fischer warnte (sie!), dass die Erweiterung „bei den Bürgern Sorgen und Ängste auslösen würde, unter anderem, weil die EU noch undurchsichtiger und un verstehbarer" 30 7 würde. Als vordergründig banalste (und in der Umsetzung offensichtlich unerreichbare) Lösung dafür, dass sich die Bürger wieder als Teilnehmer des europäischen Gemeinwesens verstehen, galt deshalb die Vereinfachung der bestehenden Verträge. Analog zu den Erfahrungen in der Bundesrepublik, aber eben auch der Vereinigten Staaten von Amerika könnte sich auf diesem Wege ein europäischer „Verfassungspatriotismus" entwickeln. Auch unter diesem Vorzeichen stand die Forderung nach einer Zweiteilung der Verträge in Artikel mit konstitutionellem Charakter (in einem Grundvertrag) und solche mit detaillierten Ausführungsbestimmungen.
30 8
Selbst eine „europäische Verbundsverfassung" wäre dem Bürger nur schwer vermittelbar, weil die konstitutionellen Garantien und Grundsätze in dem über Jahrzehnte gewachsenen, immer komplexer gewordenen Vertragswerk und den Urteilen des EuGH für den Bürger nicht erkennbar sind. Dem theoretisch nicht reizlosen Ansatz eines „Verfassungsverbunds" (/. Pernice™) sind bereits damit messbare Grenzen gesetzt. Damit können die Verträge nicht die integrative Kraft 307 J. Fischer ; Vom Staatenverbund zur Föderation- Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Abdruck seiner Rede vor der Humboldt Universität Berlin (2000). Die ..für die Europapolitik unverzichtbare Akzeptanz" würde sich auch laut Fischer deshalb nur dann einfinden, wenn der ..Zugang der Bürger zum Recht" verbessert wird (vgl. auch ders., Rede zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere, 28. Oktober 1999). M8 Dj e s e Überlegung resultierte aus dem Bericht der ..Drei Weisen", den die Kom-
mission im Oktober 1999 in Auftrag gegeben hatte (vgl. European University Institute. A Basic Treaty for the European Union, 2000 sowie Centrum für angewandte Politikforschung. Ein Grundvertrag für die Europäische Union. 2000). Die Kommission stieß deswegen die Diskussion um die ..Neugestaltung der vorhandenen Texte"(vgl. die Rede von R. Prodi, Nizza - und da nach. 29. Novembe r 2000. a bru fbar unter www.europa.eu.int/rapid/start/cgi/guesten.ksh?p_action.gettxt=gt&doc=SPEECH/00 /475%7C0%7CRAPID&lg=DE) bereits in der ersten Phase der Debatte an. ""' /. Pernice. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996. S. 27 ff. Die von /. Pernice entwickelte Konzeption des Verfassungsverbunds hat inzwischen hohen Bedeutungsgrad in der deutschen Debatte erlangt. Danach stehen Verfassung und Rechtsordnung des Verbands ..Europäische Union" und der mitgliedstaatlichen Verbände in einem so engen Verhältnis der gegenseitigen Verweisung, der gegenseitigen Anhängigkeil und der Verflechtung, dass man die klassisch-völkerrechtliche Sichtweise (unabhängiger Staat und internationaler Zusammenschluss) überwinden müsse. Europäische Union und Mitgliedstaaten sind danach rechtsnormativ in einer Weise zusammengewachsen, dass man sie als Bestandteile eines miteinander zusammengewachsenen Verbundes betrachten müsse. Die zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bestehende Trennung werde durch den Prozess des konstitutiven Zusam men Wachsens aufge hoben. EU-R echts ordnun g und
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
einer Verfassung entfalten, weil die Bürger sich nicht als Träger des europäischen Gemeinwesens verstehen. Die Verträge können also die Identifikations- und Integrationsfunktion einer Verfassung kaum erfüllen. Die Komplexität führte aber nicht nur zu mangelnder Akzeptanz und Entfremdung von der Europäischen Union. sondern auch zu Koordinationsproblemen im politischen System selbst, womit auch die mangelhafte Organisationsfunktion der Verträge erneut angedeutet wäre. Unter dem Strich trugen alle Defizite im Bereich der Legitimation, Organisation und Begrenzung europäischer Macht zur mangelnden Identifizierung der Bürger mit Brüssel bei. Dramatisch (und fälschlicherweise gerne gleichgesetzt mit dem vorangegangenen Gedanken) war in der Folge auch der Identitätsverlust seitens der Europäischen Union. kk) Folgerungen
aus vier Jahrzehnten Verfassu
ngsentwick lung
Insgesamt hat sich herausgestellt, dass das ursprünglich zwischenstaatlich konzipierte europäische Recht der anfänglichen Wirtschaftsgemeinschaft im Laufe des Integrationsprozesses immer mehr konstitutionelle Funktionsnormen entwickelt hat. So legitimieren die Verträge europäische Macht, indem sie dem Bürger Wahlmöglichkeiten und Petitionsrechte einräumen. Die Verträge begrenzen Macht, indem sie die individuellen Menschenrechte der EU-Bürger schützen. Es hat sich gezeigt, dass diese Konstitutionalisierung maßgeblich vom EuGH forciert wurde, welcher bereits in den sechziger Jahren europäischem Recht Vorrang vor nationalem Recht zusprach und ein Garant individueller Rechte wurde, indem er dem Einzelnen Klagemöglichkeiten gegen Vertragsverstöße durch die Mitgliedsstaaten gab. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich geworden, dass die Verträge und die EuGH-Rechtssprechung wesentliche Funktionen einer Verfassung nicht erfüllen können, denn sie leiten sich nicht vom pouvoir constituant eines souveränen Volnationale Rechtsordnung w ürden miteinander verschmolzen. Die Verflechtung hätte einen Grad erreicht, der es konzeptionell nicht mehr sinnvoll erscheinen ließe, zwischen zwei verschiedenen Rechtsordnungen zu unterscheiden (vgl. I. Pernice, Art. 23, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar. 1998. Rdnr. 20). Die in der Vergangenheit immer wieder auftauchenden Konflikte zwischen dem Geltungsanspruch beider Rechtsordnungen wären damit hinfällig. Im Hinblick auf das Zusammenwachsen der Verfassungen müsse auch von einer einheitlichen „Verfassung Europas" gesprochen werden, in der EUVerfassungsrecht und nationale Verfassungen aufgegangen seien. Dies mündet in ein Verfassungsverständnis, in dessen Mittelpunkt die europäische Verfassungsgesamtheit steht, in der die mitgliedstaatlichen Verfassungen und die unionale Verfassung als „Teilverfassungen" (P. Hüberle) aufgehen (..Mehrebenen Verfassungsverbund", vgl. nur I. Pernice, Multil evel Constitutionalism and the Treat y of Amster dam: European ConstitutionMaking Revisited?, in: 36CMLRev. 1999. S.703 ff.). Im Übrigen steht nicht die Frage nach der Souveränität bzw. nach dem Ausnahmefall im Zentrum des Denkens von Pernice, sondern der Regelfall der Kooperation, vgl. auch M. Nettesheim. EU-Recht und nationales Verfassungsrecht, Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter www.fide2002.org/reportseulaw.htm) .
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und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
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ke s 31 0 ab und bieten dem Bürger nur unzureichende Möglichkeiten, die Politik der Union demokratisch mitzugestalten. Erschwerend kommen die Sprachbarrieren zwischen den Mitgliedsstaaten hinzu, die verhindern, dass eine europäische Öffentlichkeit 3 " zustande kommt, die für das Funktionieren einer Verfassung unerlässlich ist. Auch aus diesem Defizit lässt sich schließen, dass eine europäische Konstitution nicht die staatlichen Verfassungen ersetzen kann, weil sie nicht gänzlich über die nötigen demokratischen Strukturen und Voraussetzungen, wie sie üblicherweise vom Staat gewährleistet werden, verfügen würde. Die Verfassungspläne, die während der Integrationsgeschichte vom Europäischen Parlament entworfen wurden, hatten zum Ziel, diese Defizite zu lösen und die unübersichtlichen Verträge durch ein einzelnes, übersichtliches Dokument zu ersetzen. Initiativen zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union entstanden immer dann, wenn eine innere Krise diese Probleme sichtbar machte oder wenn die europäische Integration durch Einflüsse von außen sich qualitativ veränderte. So war der Entwurf der Ad-hoc-Versanunhmg eine Reaktion auf die KoreaKrise und sollte den Übergang zu einer politischen Gemeinschaft markieren. Ähnlich versuchte der Herman-Entwurf von 1994. ein neues Selbstve rstä ndnis der Europäischen Union nach dem Ende des Kalten Krieges zu definieren. Die beiden neueren Entwürfe des Europäischen Parlamentes von 1984 und 1994 entstanden, um die Handlungsfälligkeit der Europäischen Union auch nach einer Erweiterung ihrer Mitgliederzahl zu sichern. Der Entwurf des Parlamentes von 1994 reagierte auf die Akzeptanzkrise nach dem Maastrichter Vertrag, der zwar immer mehr politische Befugnisse auf die Gemeinschaft übertragen, dem Bürger aber kaum Gestaltungsmöglichkeiten europäischer Politik gegeben hatte. Obgleich die Akzeptanz- und Handlungsprobleme der Europäischen Union, die sie zu lösen versuchten, sich im Laufe der Integration verschärften und spätestens seit Maastricht auch zur gelegentlich offenen Verweigerung der Europäischen Union (Wahlen!) umschlugen, waren die Verfassungsentwürfe des Europäischen Parlamentes zum Scheitern verurteilt, da sie die besonderen Bedingungen einer europäischen Konstitutionalisierung nicht genügend berücksichtigten. Die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union stellt keinen „eindeutig abgrenzbaren linearen" Prozess dar. sondern ein „mehrpoliges System", in dem „zwischen den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft sowie zwischen den Organen der EG ein sich fortwährend neu definierendes Gleichgewicht gesucht wird".
31 2
31 0 Zum ..Volksbegriff* aus der Lit: A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union. Zu Inhalt und Kritik eines normativen Begriffs, 2()(X): vgl. P. Hüberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 306 f. 31 1 Grundlegend P. Hüberle , „europäische Öffentlichkeit"?. 2001 zuvor schon in: Festschrift Hangartner. 1998. S. 1007 ff. 31 2
Zitate nach R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der EG. in: R. Wildenmann (Hrsg.): Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union. 1991. S. 393 ff.. 412 f.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Laut I. Pernice ist eine „geschachtelt konstituierte europäische Gesamtordnung" entstanden, die „ein einheitliches, föderal strukturiertes System bildet, in dem die nationalen Verfassungen und das europäische Primärrecht Teilelemente eines 31 3 Europäischen Verfassungsverbundes bilden". 11) Die Verfas sungsq ualität der Gem ein sch af ts Vertr äge
In der Literatur ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass das Primärrecht 31 4 der Europäischen Union Verfassungsqualität hat. dass aber unter Zugrundelegung eines substantiell angereicherten Verfassungsbegriffs Defizite bestehen. Die rechtsdogmatische Qualifikation der Europäischen Gemeinschaften bereitete hingegen schon zur Zeit ihrer Gründung erhebliche Schwierigkeiten. Zuge ihrer weiteren Entwicklung und Ausgestaltung zu einer politischen Union und „Werte-Gemeinschaft" haben sich diese noch erheblich verstärkt.
31 5
Im
Zwar charakterisierte schon W. Hallstein die EWG als „Rechtsgemeinschaft" und nicht lediglich als ein Bündel völkervertraglicher Rechte und Pflichten der verbundenen Staaten. 3 ' 6 Bemerkenswert äußerte sich auch der EuGH - bereits in diesem Kontext - , der in seiner berühmten Les Verts-Entscheidung bestätigte, „dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist. dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle 313
/. Pernice . Der europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR. Bd. 48 (2000). S. 205 ff., 210. 31 4 Grundsätzlich zur Frage eines konstitutionellen Europas: PHäberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999; ders.. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001: M. Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung, in: Der Staat 41 (2002), S. 359 ff.: R. Scholz. We -
ge zur Europäischen Verfassung, in: ZG 2002. S. I ff.; A. S.von Europäische Prinzi-Di e pienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. 2003. 149Bogdandy. ff.; I. Pernice. Europäische Verfassung, in: Festschrift Steinberger, 2002. S. 1319 ff.: H.H. Rupp. Anmerkungen zu einer Europäischen Verfassung, in: JZ 2003, S. 18 ff.; E. Pache. Eine Verfassung für Europa - Krönung oder Kollaps der Europäische Integration?, in: EuR 2002. S. 767 ff. ' 1 5 Vgl. dazu allgemein tenverbindungen. 1972.
A. Riklin, Die Europäische Gemeinschaft im System der Staa-
316 W. Hallsrein. Die Europäische Geme insc haft , 1. Aufl. 19 73, S. 49: H. P.lpsen, Eu ropäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 197 ff., sieht in der Gemeinschaft einen Zweckverband und unterstreicht damit auch den Unterschied zur „Staatlichkeit als umfassender geistig-sozialer Wirklichkeit, potenziell unbeschränkter Kompetenzfülle von Gebiets- und Personalhoheit". Zu \V. Hallstein: M. Kilian, Der Visionär, in: C.D.Classen u.a. (Hrsg.), ..In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ...". Liber amicorum Thomas Oppermann. 2001. S. 119 ff. Hallsteins Werke dürfen zu den Klassikern des gemeinschaftsrechtlichen Schrifttums gezählt werden, vgl. auch ders., Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. 1969. Zur Europäischen Union als ..Rechtsgemeinschaft" R. Streinz, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft. Rechtsstaatliche Anforderungen an einen Staatenverbund, in: Festschrift für Detlev Merten. 2007. S. 395 ff.
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darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsur31 7 kunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen". Unentschieden blieb jedoch die grundlegende Frage, ob die Gemeinschaften bzw. die Union (noch) mit dem herkömmlichen begrifflichen Instrumentarium des Staatsrechts oder des Völker31 8 rechts qualifiziert werden können oder ob sie sich einer solchen Einordnung 31 9 konzeptuell bereits entziehen.
31 7
EuGH Slg. 1986. 1339 (1365 f.).
31 8
Vgl. auch W. Hummer . ..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Arg ume nte. So nder hef t 1/2003, S. 53 ff. 55 f.: umf ass end bereits VV. Meng, Das Recht der internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts. Zugleich eine Untersuchung zur Rechtsnatur des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, 1979. 31 9 Zur rechtlichen Natur der Europäischen Union sei noch ergänzt, dass die Union zunächst auf mehreren, in der Art der Zusammenarbeit zwischen den Staaten abgestuften Gemeinschaften basiert. Diese „drei Säulen Europas" umfassen die Europäischen Gemeinschaften als erste Säule (Die Europäischen Gemeinschaften (die EG. die EGKS - im Jahr 2002 in die Anwendungsbereiche des EGV überführt - sowie die Euratom) bilden seit dem am 01.11.1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht Untereinheiten der Europäischen Union und wurden durch diesen Vertrag ergänzt um PJZ und GASP. vgl. etwa M. Herdegen, Europarecht. 8. Aufl. 2006. S .3 8f .) , die Geme insa me Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als zweite Säule sowie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZ) als dritte Säule. Während es sich bei der zweiten und dritten Säule um Strukturen mit rein intergouvernementaler Zusammenarbeit handelt, die teilweise auf die Organe der Europäischen Gemeinschaften zurückgreifen, bilden die Europäischen Gemeinschaften eine besondere Form völkerrechtlicher Verträge durch Ihren Charakter als „supranationale Organisationen" und sind in ihrer rechtlichen Gestalt weltweit einzigartig (so auch M. Heintzen, Vom Dickicht der Verträge zur europäischen Verfassung? Vortrag vom 27. 11. 2000 im Rah men des Studie nganges Journ alist en-We iter bildun g der Freien Universität Berlin. www.fu-berlin.de/jura/netlaw/pubikationen/beitraege/ssOO-heintzen.html) . Wesentlich für die Begründung dieses supranationalen Staatenzusammenschlusses ist die Übertragung von Teilen nationaler Hoheitsgewalt durch die Mitgliedstaaten auf die Europäischen Gemei nschaf ten. Dadurch liegt sowohl legis lative als auch judikative Entsc heidungsund Regelungsgewalt gegenüber den Völkern dieser Staaten in den Händen der Europäischen Gemeinschaftsorgane, die beispielsweise im Fall der Europäischen Kommission und des EuGH auch unabhängig von nationaler Willensbildung tätig werden. Das Primärrecht der Europäischen Union setzt sich zusammen aus dem primären Gemeinschaftsrecht (das durch die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaften gebildet wird) und den Grundlagenverträgen der Europäischen Union, das Sekundärrecht besteht aus allen Rechtsakten, die auf der Grundlage des Primärrechtes gesetzt werden und ebenfalls mittelbare als auch unmittelbare Wirkung annehmen können. Die sog. intergouvernementale Zusammenarbeit wirkt insbesondere in den Bereichen der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union, in denen die Staaten auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge, die jedoch auf das jeweilige nationale Recht nur mittelbaren Einfluss haben, kooperieren. Nur die Europäischen Gemeinschaften sind sowohl im völkerrechtlichen Sinne als auch
im innerstaatlichen Rechtsverkehr im Rahmen der Kompetenzen der EG rechtsfähig. (Ausdrücklich ane rkann t in den drei Grü ndung sver trä gen: A rt. 281 und 282 EGV. Art. 6 EGK S
122
B. Verfa ssungse rweck ung und Verfass ungsbestät igung
In die Verfassungstheorie lassen sich nichtstaatliche Verbände dadurch dogmatisch einbeziehen, dass man innerhalb eines weiter gefassten Verfassungsbegriffs verschiedene Verfassungstypen unterscheidet. Bisher sind nach der Art des Verbandes drei Verfassungstypen zu unterscheiden, nämlich die Staatsverfassung, die bundesstaatliche Gliedstaatsverfassung und - ggf. - die Unionsverfassung. T. Schmitz ist zuzustimmen , dass die essentiellen Lehren der Verfassungstheorie auf alle Verfassungstypen anwendbar sind, während weitere Lehren nur für bestimmte Verfassungstypen gelten und allenfalls nach umsichtiger Anpassung 12 0 auf andere übertragen werden können. Die Einbeziehung staatsähnlicher Verbände bedeutet demnach also keine vollständige Gleichstellung einer etwaigen Unionsverfassung mit der eines Staates. Unübersehbare Parallelen zwischen den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften und einer Verfassung haben im europarechtlichen Schrifttum allerdings schon früh zu einer verfassungsrechtlichen Interpretation der Verträge geführt. Bereits Ophüls verwies darauf, dass sie eine Grundordnung enthielten, ein in sich geschlossenes System, das im Gemeinschaftsrecht12 1ähnlich herrsche wie die staatliche Verfassung im nationalen Bereich. Hinsichtlich der teils erst für spätere Zeitpunkte festgelegten Integrationsschritte sprach er von „Planungsverfassungen". Ipsen benannte sie später angesichts der bereits mehrfach 32 2 erfolgten Vertragsänderungen als „Wandelverfassungen". In den achtziger Jahren ging die Lehre zunehmend dazu über, die Verträge unter Hinweis auf ihre zum Teil verfassungstypischen Regelungsinhalte und Funktionen als Verfassung zu charakterisieren; dabei war durchaus an eine Verfassung i.S.d. normativen Verfassungsbegriffs der Verfassungstheorie gedacht. (I)
Ausgewählte
Verfassungsattribute
Die Verträge sind Verträge zwischen Mitgliedstaaten, welche sich ursprünglich auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die damit verbundenen Wirtschaftspolitiken beziehen (sollten). Als „Zweckverband" ist ihr Geltungsbereich im Gegensatz zur Verfassung also nicht universal, sondern auf einzelne 32 3 Politikbereiche begrenzt. Anders als eine Verfassung im „klassischen" Sinne sowie Art. 184 und 185 Euratom). Die EU sollte dagegen bisher augenscheinlich keine auf völkerrechtlicher Ebene rechtsfähige Organisation sein (vgl. M. Herdegen (2006). S.65). 320 T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 398 ff. 321 C. F. Ophüls, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassungen, in: J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung 1. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft. 1965. S. 229 ff. 32 2 Vgl. H.P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration. in: J. Schwarze (Hrsg.). Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 29 ff. Siehe bereits ders., Europäisch es Gemeinschaftsre cht. 1972, S. 64. wo vom ..Inbeg riff des Pr imä rr ech ts" als der ..mate riellen Ve rfa ssun g der
Gemeinschaft" die Rede ist. 32 3 Vgl. H.P. Ipsen. Fusionverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969. S. 54.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
123
konstituieren sich die EU- und EG-Verträge eben auch nicht aus einem - beispielsweise revolutionären - Gründungsakt einer politischen Gemeinschaft, sondern leiten sich aus dem Vertragsabschluss souveräner Staaten ab. Laut Art. 48 EUV muss deshalb jede Änderung der EU-Verträge an den Anforderungen der nationalen Verfassungen gemessen und von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden, und theoretisch können die Mitgliedsstaaten (in einer besonderen Ausdrucksform 32 4 jenes Attributes) als „Herren der Verträge" die Mitgliedschaft wieder aufkündigen. Gleichwohl existieren Merkmale, die den Verträgen partiell Verfassungsqualität verleihen. Demzufolge sei mit einigen Stichpunkten und freilich unvollständig auf einige Attribute hingewiesen. Was die EG- und EU-Verträge zunächst von internationalen Verträgen unterscheidet. ist der teilweise Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten durch die vertraglich festgelegte Errichtung einer supranationalen Behörde und eines Gerichtshofs. Die Kommission hat das alleinige Initiativrecht für Gesetze (Art. 211 EGV) 32 5 und kontrolliert die Implementierung dieser Gesetze auf nationaler Ebene. Di e funktionale Ausweitung der Verträge auf immer neue Wirtschafts- und Politikbereiche und die damit verbundene Übertragung ursprünglich nationalstaatlicher Kompetenzen auf die supranationale Ebene hat dazu geführt, dass die Verträge wesentliche Funktionen übernommen haben, die im staatlichen Bereich von einer Verfassung erwartet und erfüllt werden. In Bezug auf die Legitimationsfunktion 32 6 haben die Verträge dem ursprünglichen „Marktbürger" im Integrationsprozess immer mehr Partizipationsrechte gewährleistet. Dazu zählt seit 1979 das aktive Wahlrecht zu den Direktwahlen des Europäischen Parlaments, was seit „Maastricht" mit der Unionsbürgerschaft auch auf das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen in jedem Mitgliedsstaat ausgeweitet wurde. Mit der Unionsbürgerschaft erhielt der Einzelne auch das Recht, Eingaben und Beschwerden an das Europäische Parlament zu richten. Dazu gibt es einen Bürgerbeauftrag32 4 Kritisch freilich P. Häberle , Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 192. da die Staaten „im EU-Europa ohnehin nicht mehr .Herren der Verträge' sind." Im demokratischen Europa könne es keine „Herr en" geben. Die auf der würde des Menschen auf baue nde ..Bürgergemeinschaft Europas" mache die Herrenideologie gegenstandlos (vgl. ebenda. Fn. 21). P.Häberles Bezug zur ..Herrenideologie" erscheint jedoch ein wenig konstruiert - bei aller zugestanden unglücklichen Wortwahl.
Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1950 eröffnete sich durch diesen Souveränitätsverzicht für Frankreich die Möglichkeit, auf friedliche Weise den Kern des deutschen Wirtschaftspotentials zu kontrollieren, und für den Kriegsverlierer Deutschland die gleichberechtigte Aufnahme in eine internationale Organisation. Ausgehend von diesem „kleinsten gemeinsamen Nenner" sollten die Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, auf weiteren Gebieten „gemeinsame Lösungen zu suchen", vgl. C. Giering . Europa zwischen Zweckverb and und Superstaat, 1997 . S.45. 32 6 Zu diesem Begriff siehe auch S. Hobe. Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, in: Der Staat. Nr. 32 (1993). S. 245 ff.. 246.
124
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
ten, der im Interesse der Bürger die Organe zu Stellungnahmen auffordern kann (Art. 195 EGV). Gleichzeitig haben sich im Laufe der Integrationsgeschichte immer mehr allgemein als „demokratisch" bezeichnete Rechtsgrundsätze entwickelt, wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Rechtssicherheit. Die verfassungsmäßige Begrenzung von Hoheitsgewalt zum Schutz des Einzelnen in Form von Grund- und Bürgerrechten ist im Prozess der schrittweisen Vertragsänderungen ebenfalls ausgebaut worden. Laut Art. 6EUV achtet die Union die Grundrechte, welche in der EMRK „gewährleistet sind" und die sich aus den „gemeinsamen Verfassungen der Mitgliedsstaaten ergeben". Dazu gehören seit „Am ster dam " auc h der Schutz vor ..Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion" oder „der Weltanschauung", einer „Behinderung", des „Alters" oder der „sexuellen Ausrichtung" (Art 13 EGV). In Art. 136 EGV werden zudem grundsätzliche soziale Rechte bestimmt, sowie in Art. 3 Abs. 2 EGV die „Gleichstellung von Männern und Frauen". Mit dem Vertrag von Nizza ist außerdem ein Frühwarnsystem eingebaut worden: Art. 7 EUV wurde so geändert, dass der Ministerrat auch vorbeugend tätig werden kann, wenn 90 Prozent des Rates feststellen, dass die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender gemeinsamer Werte besteht. Der in Maastricht geschaffene „status activus" der Unionsbürgerschaft soll dem Bürger durch Petitions- und Appellationsrechte ein gewisses „Nähe- und Akzeptanzverhältnis" zur Europäischen Union ermöglichen und so zur Integration und Identifikation beitragen. Auch das Subsidiaritätsprinzip 32 7 (Art. 5 EGV) soll garantieren, dass Entscheidungen „mög32 8 lichst bürgernah getroffen werden sollen" (Präambel EUV). Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staatsangehörigkeit gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" (Art. 6, Abs. 3 EUV). (2)
Die Qualifikation der Verträge durch den EuGH ein „europäisches Marbury vs. Madison"
Die konstitutionellen Merkmale des bisherigen Gemeinschaftsrechts erschließen sich nicht nur aus dem Wortlaut der Verträge, sondern auch aus höchstrich32 9 terlichen Leitentscheidungen. In seiner Rolle als unabhängige permanente Ge32 7 Die Lit. zum ..Subsidiaritätsprinzip" ist uferlos. Vgl. etwa H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip - Strukturpri nzip einer europäischen Uni on. 1993 : P. Häberle , Das Prinzip der Subsidiarität aus Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 118 (1994). S. 169 ff.: A.Riklin/G. Batline r (Hrsg.). Subsidiarität. 1994: D.Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas. 1993. 32 8 Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staatsangehörigkeit gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" (Art. 6. Abs. 3 EUV). 32 9 Die diesbezüglichen Ansätze des französischen Conseil Constitutionnel beleuchtet J. Dutheil de la Roche re, The French Conseil Constituionnel and the constitutional
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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richtsinstanz für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH als „Markstein" rechtsschöpferischer Gerichtsbarkeit das Gemeinschaftsrecht von der völkerrechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung 33 0 auf eine Verfassung entwickelt. Dieser Konstitutionalisierungsprozess durch den EuGH ist gekennzeichnet durch zwei Grundprinzipien: Die direkte Wirkung des EG-Rechts auf den Bürger und der Vorrang der europäischen Rechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten.
developme nt of the European Union, in: M. Klo epfe r/I . Pernice (Hrsg. ), Entwic klungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam. 1999. S.43ff. Das BVerfG hat verschiedentlich untechnisch von einer Gemeinschaftsverfassung gesprochen, zur verfassungstheoretischen Einordnung der Verträge aber bislang nicht Stellung geno mmen . Gleichwohl ist (t rotz inflationärer Literatur) in diesem Zusa mmen hang die „Maastricht"-Entscheidung des BVerfG vom 12. Oktober 1993 zu nennen, in welchem das BVerfG den Gründungsvertrag der Union sowie die Europäische Union selbst mit folgenden Worten qualifiziert: ..Der Vertrag begründet einen europäischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; er betrifft die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat [...]. Der Unions-Vertrag begründet [... J einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europ as, keinen sich auf ein eur opäi sch es Staatsv olk stütz enden Staat [ ]. Wohin ein europäischer Integrationsprozess nach weiteren Vertragsänderungen letztlich fuhren soll, mag in der Chiffre der .Europäischen Union' zwar im Anliegen einer weiteren Integration angedeutet sein, bleibt im gemeinten Ziel letztlich jedoch offen. Jedenfalls ist eine Gründung ,Vereinigter Staaten von Europa', die der Staatswerdung der Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbar wäre, derzeit nicht beabsichtigt" (BVerfGE 89. S. 155 ff. (Rdnr. 33. 51. 53). Damit verwirft das BVerfG nicht nur (für den damaligen Integrationsstand) jedweden Staatsbezug, sondern sieht auch für die weitere Ausgestaltung der Gemeinschaften bzw. der Union - nicht einmal für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion - ..keinen in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren ,Automatismus"' (BVerfGE ebenda. Rdnr. 88). der unter Umständen zu Formen föderaler Staatlichkeit führen könnte. In der vom BVerfG gewählten Beschreibung der Europäischen Union als „Staatenverbund" drückt sich allerdings die ganze Hilflosigkeit nicht nur der Doktrin, sondern auch der höchstrichterlichen Judikatur mitgliedstaatlicher Gerichte aus. die hybride Rechtsnatur der Europäischen Union auch nur einigermaßen exakt zu beschreiben. Der Begriff ..Staatenverbund" stellt in diesem Zusammenhang (und bis zur wegweisenden Ausgestaltung durch /. Pernice , vgl. statt vieler Aufsätze ders.. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbu nd. in: EuR 1996. S. 27 ff.) gera dezu den Schulf all einer ..sema ntischen Lee rf orm el " dar. täuscht er doch - allerdings nur auf der semantischen Ebene - einen (vermeintlichen) Konsens in der (völkerrechtlichen) Lehre der Staatenverbindungen über die rechtliche Qualität der Europäischen Union vor, der als solcher aber nicht existiert. 33 0 Vgl. auch M.A.Dauses, Die Rolle des EuGH als Verfassungsgericht der EU, in: Integration. 4/1 994 . S. 215 ff.. 215. Zu ebendieser Rolle des EuG H als „Verfassungsgericht" siehe bereits G. C. Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfa ssung sger icht , in: EuR 1992. S. 225 ff.; T. Hitzel-Cassagnes, Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches .Verfassungsgericht'?, in: APuZ. B. 52-53/2000. Siehe auch F. G. Jacobs, A new Consti tutional Role for the Europe an Cour t of Justice in the next
decade?, in: M. Kloepfer/I. Pernice (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam. Baden-Baden 1999. S. 56 ff.
126
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Der EuGH entschied bereits 1963 in der berüh mten Rs. Van Gend & Loos , dass EGRecht anders als in internationalen Organisationen nicht nur für Staaten, sondern auch unmittelbar für deren Bürger gilt, indem er den Bürgern die Möglichkeit gab. 1 1 Gemeinschaftsrecht vor ihren jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen. ' Di e nationalen Gerichte müssen demna ch EG-Re cht unabhä ngig von der jeweiligen Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten anwenden. Mit der Ausweitung der Klagemöglichkeit auf Einzelpersonen und Unternehmen ist der EuGH nicht mehr nur ..Kontrollorgan der Staaten und der Gemeinschaftsorgane", sondern - wie ein Verfassungsgericht - auch ein „Gralshüter" jener Rechte und Freiheiten der EG11 2 Bürger, die in den Vertragstexten begründet sind. Den übergeordneten Charakter des EG-Rechts vor nationalem Recht bestätigte der EuGH kurz darauf in der Rs. Costa/ENEL: „Mit der Übert ragun g vo n Hoheitsrec hten [.. .] auf die Gemeins chaf t [. .. ] haben die Mitgliedsstaaten ihre [...] Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper 3 geschaffen, der für sie und ihre Angehörigen verbindlich ist." "
Mit dieser Rechtssprechung wurde den Verträgen Vorrang vor nationalem Recht verliehen, indem spezifischen europäischen Freiheiten des Einzelnen gegen Eingriffe der Mitgliedsstaaten Schutz erwuchs. Um dieser verfassungsmäßigen Begrenzungsfunktion von Hoheitsgewalt auch auf der Ebene der Europäischen Union gerecht zu werden, integrierte der EuGH eine „Grundrechtsdoktrin" in seine Rechtssprechung, welche über die im EWG-Vertrag vorgesehenen wirtschaftlichen Freiheiten und den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Nationalität hinausreichte. Weil die Verträge selbst keinen Grundrechtskatalog besitzen, berief sich de r Eu GH seit 1970 (Rs. Internationale Handelsgesellschaft) auf die 1 14 gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedsstaaten und der EMRK. Ebenfalls in der Rs. Van Gend & Loos hatte sich der EuGH 1963 mit der Rechts33 5 natur der EWG und deren Gründungsvertrag auseinander zu setzen gehabt und dabei statuiert, dass der EWG-Vertrag „mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet" sowie „dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souve33 1 33 2
Vgl. EuGH. Rs. 26/62. Van Gend & Loos. Slg. 1963, S. 1 ff.. 24. So auch M.A. Dauses (1994). S. 215.
33 3
EuGH. Rs. 6/64. Costa/ENEL, Slg. 1964. S. 1141 ff„ 1251. Die Organe müssen demnach bei der Gesetzgebung, die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von EG-Recht diese Menschenrechte beachten. Auch ohne Grundrechtskatalog gab es also genügend Mechanismen, die sicherstellen, „dass die Organe und Mitgliedsstaaten die Grenzen der ihnen übertragenen öffentlichen Autorität nicht überschreiten" (so U.K. Preuß. Auf der Suche nach Europas Verfassung, in: Transit 1999 (17). S. 154 ff.. 155). 33 4
33 5
Vgl. hierzu sowie zu den weiteren relevanten Ansätzen des EuGH ..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode, in: Politische Studien. Sonderband 1/200 3. S. 54 ff.. 57 f.
W. Hummer.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfa ssungsent wicklung
127
riinitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte 336 nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind'*. Ein Jahr später entwickelt der EuGH in der benannten Rs. Costa! EN EL diesen Gedanken der Eigenständigkeit der Rechtsordnung der EWG weiter fort: .Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigen e Rechtso rdnung geschaffen [ ... J Denn durch die Gründ ung einer Geme insch aft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist. haben die Mitgliedstaaten, wenngleich auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und für sie selbst verbindlich ist.""'
Dieser von ihm selbst benannte völkerrechtliche Ursprung der Europäischen Gemeinschaften hinderte den EuGH hingegen nicht, wiederholt deren Gründungsverträge als „Verfassungen" zu bezeichnen und damit (gewollt oder ungewollt) eine staatsrechtliche Analogie zu ziehen. So bediente sich der EuGH erstmals der Begrifflichkeit „Verfassung" - wenngleich zunächst noch in Form eines bloßen obiter dictum - in seinem Gutachten I/7633*, wo er von der „inneren Verfassung der Gemeinschaft" spricht, im Anschluß aber bereits pointiert in der Rs. Les Verts, in der er den EWG-Vertrag explizit als „die Verfassungsurkunde der Ge33 9 meinschaft" bezeichnet. Diese Formulierung nimmt der EuGH in der Folge in der Rs. Zwartveld wieder auf und postuliert, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, „ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen". 34 0 Im Gutachten 1/91 qualifiziert der EuGH den EWG-Vertrag (kontrastierend zum EWR-Vertrag) wie folgt: ..Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar." 54 1
33 6 33 7 33 8
EuGH. Rs. 26/62, Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. I ff., 25. EuGH. Rs. 6/64. Costa/ENEL, Slg. 1964. S. 1141 ff. EuGH . Gutachten
1/76 vom 26. April 1977, Stilllegungsfonds für d
ie Binnens chiff-
fahrt. Slg. 1977, S. 741 ff. 33 9 In der französischen Fassung: ..Charte constitutionnclle de base", vgl. insgesamt EuGH. Rs. 294/83. Parti'ecologiste ..Les Verts"/Europäisches Parlament. Slg. 1986. S. 1339 ff. 34 0
EuGH. Rs. C-2/88. J.J. Zwartveld u.a.. Beschluss vom 13.Juli 1990. Slg. 1990.
S. 1-3365. Rdnr. 16. 34 1 EuG H. Gutac hten 1/91 vom 14. Dez emb er 1991, EW R. Slg. 1991 S. 607 9 ff.
128
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Schließlich sucht der EuGH in der Rs. Beate Weber wieder den Kontext z u seiner Formulierung in der Rs. Zwartveld, indem er die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage damit begründet, dass „weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit 34 2 der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen'*. Im Übrigen stellte auch das EuG in der Rs. Martfnez fest, dass der Gründungsvertrag der EG 34 1 als „Verfassungsurkunde" der Gemeinschaft zu erachten ist. Im Ergebnis hat der EuGH die verfassungsrechtliche Sichtweise zunächst durch seine kontinuierlich rechtsstaatlich-staatsanaloge und systembildende Rechtsprechung gefördert und schließlich mit der Entscheidung Les Verts von 1986 und dem I.Gutachten zum EWR-Abkommen von 1991 übernommen, ohne sie allerdings näher zu begründen oder zu erläutern. Andererseits ist sich der EuGH aber durchaus der Grenzen einer solchen staatsrechtlichen Analogie bewusst, vor allem was einen eventuellen „föderalen" Charakter der vertikalen Kompetenzverteilung 34 4 zwischen den Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten betrifft. Insgesamt lässt sich mit Blick auf die Leitentscheidungen des EuGH (insbesondere 1963 und 1964) und angesichts der Parallelen zu den US-Entwicklungen von 3 45 einem „europäischen Marbury vs. Madison" sprechen.
34 2
EuGH . Rs. C-3 14/9 1. Beate Webe r/Eu ropä isch es Parlament. Slg . 199 3. S. I-1093 f f..
Rdnr.8. 34 3 EuG. verb. Rs. T-222. 327 und 329/99. Jean Claude Martfnez ua/Europäisches Parlament. Slg. 2001, S. 11-2823, Rdnr. 48. 34 4 So weist er zu dem Vorbringen der deutschen Bundesregierung in der
Rs. C-359/
92 - die der Kommiss ion in Art. 9 der allgemei nen Produkts icherheitsric htlinie (1992) eingeräumte Befugnis stehe „in Widerspruch zu der Verteilung der Befugnisse zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten" und gehe damit ..über die Befugnisse hinaus, die in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland dem Bund gegenüber den Ländern zustünden" - darauf hin, ..dass die Vorschriften, die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten betreffen, nicht die gleichen sind wie diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander verbinden" (EuGH. Rs. C-359/92, Deutschla nd /R at. Slg. 1994 . S. 1-36 81 ff., S. 1 -3712, Rdnr .38). Auch der Gene ralanwal t F.G.Jacobs weist in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache darauf hin. dass „mir eine solche Analogie zur Verteilung der Befugnisse nach der deutschen Verfassung jedoch neben der Sache zu liegen [scheint]" (vgl. die Schlussanträge des GA Jacobs in der Rs. C-359/92 (Fn. 34). S. 1-3694. Rdnr.39). Damit erkennen sowohl der EuGH als auch der Generalanwalt. dass d ie „vertik ale Kompetenz verteil ung" im Sinne einer (bloßen) „begrenzten Einzelermächtigung" mit final ausgerichteten Organkompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaften bzw. der Union mit der bundesrepublikanischen föderalen Kompetenzverteilung nichts gemein hat. sondern anderen Gesetzmäßigkeiten - außerhalb des Staatsrechts - folgt. Vgl. auch W. Hummer (2003), S. 57 f. 34 5 Zur zitierten Entscheidung des US-Supreme Courts unter B.IV.2b)aa).
II. Eckpunkte
(3)
und Grundla gen der europäischen
Völkerrechtliche
Verfa ssungsentw icklung
129
Qualifikationen
46 Neuerdings wird der herrschenden Qualifikation' einer zwischen den beiden Polen eines völkerrechtlichen Staatenbundes bzw. eines staatsrechtlichen Bundesstaates 34 angesiedelten gegenwärtigen Hybridform als Gebilde „sui generis" insoweit entgegengetreten, als dies nicht schlüssig die Existenz einer eigenen au34 8 tonomen Rechtsordnung im Sinne einer „lex contractus" nach sich ziehen muss. Vielmehr seien die Kategorien der Allgemeinen Staatslehre sowie der Lehre von 34 9 den völkerrechtlichen Staatenverbindungen flexibel genug, um auch eine Einordnung der Europäischen Union nach herkömmlicher Terminologie vornehmen zu können. 35 0
Selbst das Abgrenzungskriterium der „Kompetenz-Kompetenz" stellt keine plausible Trennlinie dar. Denn völkerrechtlich ist die souveräne Selbstbestimmung, also die Unabhängigkeit von Dritten entscheidend, nicht aber, ob innerhalb der Staatenverbindung die „Kompetenz-Kompetenz" bei der zentralen oder bei den dezentralisierten Einheiten liegt. Letzteres ist wiederum maßgeblich für die föderale Ausgestaltung und die Gewaltenbalance in diesem Verbund, nicht aber für die Selbstständigkeit gegenüber Dritten, die aus völkerrechtlicher Sicht das 35 1 Kriterium für den Bestand einer „Staatsgewalt" darstellt. Bezug nehmend auf die klassische „Drei-Elemente-Lehre" des Völkerrechts für das Vorliegen eines souveränen Staates wird behauptet, dass der EU eben jene drei Elemente fehlen würden: 34 6
Im Sinne eines „dualistischen Rechtsdenkens*'.
14 7
Einem sehr allgemeinen Ansatz folgend liegt der Unterschied zwischen Staatenbünden und Bundesstaaten grundsätzlich im Ausmaß der Zentralisierung bzw. Dezentralisierung der Aufgabenwahrnehmung, wobei die Grenzen aber fließend sind. 348 Yg j p f j s c i J e r D i e EU - eine autonome Rechtsgemeinschaft? Gleichzeitig ein ..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Beitrag zur Problematik des dualistischen Rechtsdenkens in der internationalen Juris prudenz , in: W. Hum mer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Völkerrechtler zu aktuellen Problemlagen. 2003. S. 3 ff. 14 9
Klassiker etwa G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen. 1882; J. L. Kunz, Die Staatenverbindungen. 1929; H.Kelsen, General Theory of Law and State, 1949; R. Bindschedler; Rechtsfragen der europäischen Einigung. Ein Beitrag zu der Lehre von den Staatenverbindungen, 1954. 35 0 Diese Beobachtung und Differenzierung stützt sich auf W. Hummer, „VerfassungsKonvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderheft 1/2003. S. 53 ff. 56. Vgl. auch 5. Griller, Der ..Sui Generis-Charakter" der EU und die Konsequenzen für die Verfassungsoptionen. Ein Versuch der Entmythologisierung des Verfassungsstreits, in: W. Hummer (Hrsg.). Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Europarechtler zu aktuellen Problemlagen. 2()03. S. 23 ff.; siehe auch A. Riklin, Die Europäische Gemeinschaft im System der Staatenv erbindungen . 1972. S. 330 ff. 35 1 Vgl. auch S. Griller (2003), S. 26 ff.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
- So habe sie bereits kei n Staatsvolk, sonde rn gem. Art. 17 EGV nur Unionsbü rger und es existierten gem. Art. 189 EGV nur die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten", aber kein einheitliches europäisches Staatsvolk. - Des Weiteren sei der Europäi schen Union ke in Staatsgebiet zuzuo rdnen , sondern nur ein gem. Art. 299 EGV über die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaaten umschriebener räumlicher Geltungsbereich ihres Gründungsvertrages. - Zuletz t fehl e ihr auch die Staat sgewa lt, da das Gewa ltmo nop ol nach wie vo r bei den Mitgliedstaaten liege. Alle diese Einwände lassen jedoch nicht zwingende Argumentationslinien erkennen. 35 2 Hinsichtlich der Existenz eines „europäischen Volkes" verlangt das Völkerrecht kein homogenes Staatsvolk bzw. eine „subjektive Bekenntnisgemeinschaft" im Sinne einer „Nation", sondern rekurriert auf die Bevölkerung als Anzahl sesshafter Menschen. Bezüglich des Staatsgebietes stellt das Völkerrecht nur auf den Bestand eines gesicherten Raumes ab, auf dem das Staatsvolk seine Herrschaft ausüben kann. 35 3 Und betreffs der fehlenden Staatsgewalt wurde vorstehend schon ausgeführt, dass es nur auf die souveräne Selbstregierung und rechtliche Unabhängigkeit ankommen könne, nicht aber darauf, wie die Wahrnehmung der Staatsgewalt in der Staatenverbindung intern aufgeteilt ist. Im Wesentlichen ist die noch fehlende „Staatsqualität" des (völkerrechtlichen) Staatenbundes Europäische Union auf den mangelnden Staatsgründungswillen ihrer Mitgliedstaaten zurückzuführen und weniger auf die fehlende hinreichende Staatsgewalt oder die in den Gründungsverträgen enthaltenen Garantien für die 35 4 einzelstaatliche Identität (Art. 6 Abs. 3 EUV) und Selbstständigkeit.
35 2 Die folgenden völkerrechtlichen Begründungsansätze lehnen sich an W. Hummer, ..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderheft 1/2003. S. 53 ff., 56 an. 35 3
Hierzu auch S. Griller, Ein Staat ohne Volk? Zur Zukunft der Europäischen Union. IEF Worki ng Paper Nr. 21. 1996. S. 14: „W arum die Festle gung diese s Gebiet s in der .Staatsverfassung* nicht unter Bezugnahme auf die räumliche Abgrenzung seiner territorialen Untergliederungen, etwa der Länder einer bundesstaatlichen Organisation, möglich sein soll - etwa in Form von Art. 3 B-VG: .Das Bundesgebiet umfasst die Gebiete der Bundesländer' - bleibt unerfindlich". 35 4 Bezüglich der damit zusammenhängenden, dogmatisch ebenfalls bestrittene Völkerrechtssubjektivität der Europäischen Union unterscheidet W. Hummer (2003), ebenda, zwischen einer ..Innensicht" im Sinne einer ..Autostereotypisierung" und einer ..Außensicht" im Sinne einer ..Heterostereotypisierung". Im Inneren wachse ..der Union implizit vor allem über den bereits durch sie selbst mehrfach erfolgten Vertragsschluss mit Drittstaaten gem. Ar t. 24 EUV mehr und meh r Handlung sfähig keit und damit (partielle) Rechtspersönlichkeit im Völkerrecht zu. hinsichtlich des ,Außenaspektes' muss ein in der Literatur
II. Eckpunkte
(4)
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
131
Konstitutionelle Defizite der Verträge
Der „Komplementärverfassungscharakter" VerträgeKürze birgt jedoch auchwerden konstitutionelle Mängel, von denen einige in derder gebotenen dargestellt sollen. Unzureichend ist zunächst die Legitimationsfunktion der Verträge. Der EuGH stützte seine Urteile wie zitiert auf die Annahme, dass die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts" darstellt, „zu deren Gunsten die Staaten |...) 35 5 ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben". Aus einer engen, verfassungstheoretischen Perspektive ist dies nicht unproblematisch, da sich die Souveränität der europäischen Rechtsordnung nicht auf den vorrechtlichen pouvoir constituant einer politischen Gemeinschaft, sondern letztlich auf die Rechtssprechung eines durch Verträge geschaffenen Gerichtshofes stützt. Auch das Europäische Parlament als schwächstes Organ der Gemeinschaft kann wegen seiner mangelhaften Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten nur unzureichend die konstitutionelle Legitimationsfunktion übernehmen. Der Bürger bleibt durch seine rudimentären Mitwirkungs- und Kontrollrechte eher ein „Zaungast des eigenen Schicksals", der es schwer hat. die „neue Formation öffentlicher Gewalt zu verstehen und sich 3 56 selbst als Subjekt dieser Entwicklung zu erkennen". Auf dieses vielbeklagte 7 Demokratiedefizit" stützt sich die Meinung, die Europäische Union sei generell nicht verfassungsfähig 35 8 , da der Bürger zwar immer mehr an die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft gebunden ist, seine demokratischen Mitwirkungsrechte aber primär im jeweiligen Mitgliedsstaat ausübt. Demzufolge kann die materielle „Verfassung" der Europäischen Union bereits ihre integrative Kraft nicht vollends
völlig vernachlässigtes Kriterium erwähnt werden, nämlich der Umstand, wie denn die Staatengemeinschaft als solche die EU als „internationalen Akteur" sieht. Diese ..Heterostereotypisierung" der EU als eigenständige Rechtsperson durch dritte Völkerrechtssubjekte wird mit zunehmender Verdichtung der Außenbeziehungen der EU immer wahrscheinlicher und würde die EU diesbezüglich „von außen" in Zugzwang bringen, ihre Handlungs- und damit auch Rechtsfähigkeit „nachzujustieren". 35 5
EuGH. Rs. 26/62, Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. 1 ff.. 25.
35 6
Zitiert nach U. Di Fabio, Eine europäische Charta. Auf dem Weg zur Unionsverfassung. in: JZ 2(KM), S. 737 ff.. 738. 35 7 Vgl. nurA Blecknumn. Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 2001. S. 53 ff., 57: D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie. 1999: D. Thürer . Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: O. Du e u. a. (Hrsg .), F estsch rift f ür U. Everli ng, 1995, Band 2, S. 1561 ff.: M. Kaufmann. Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften und Staa tspr axis 1992, S. 349 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 29 (1993), S.449 ff.: H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische
Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff. 35 8 Zur Frage der ..Verfassungsfähigkeit" der Union m.w. N. unter B.II.2.f)nn)(2)(c).
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
entfalten, weil die Bürger sich nicht als Mitträger des durch sie konstituierten 35 9 Gemeinwesens verstehen. Als größtes Hemmnis der Bildung eines europäischen öffentlichen Raumes, in dem die Bürger ihre Konflikte austragen könnten, bezeichnet unter Anderen D. Grimm das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, durch das der öffentliche politische Diskurs an nationale Grenzen gebunden bleibe, während im europäischen Raum abseits der Öffentlichkeit geführte Fach- und Interessensdiskurse dominieren. 36 0 Deshalb könne der zum Funktionieren einer Verfassung unerlässliche demokratische Willensbildungsprozess nicht zustande kommen. Eine konstitutionelle Neugründung der Europäischen Union würde zwar den Organen die Fähigkeit geben, neue Hoheitsbefug nisse zu schaffen. Da d iese Kompetenz-Kom petenz aber nicht von einer Art europäischem Staatsvolk legitimiert wäre, wäre die durch eine 36 1 europäische Verfassung vermittelte Legitimation nur eine „Scheinlegitimation". Hiergegen ließe sich anführen, dass ein Grundaxiom der europäischen Idee gerade nicht die Homogenität eines Staatsvolks, sondern auf der Basis eines der Pluralität verhafteten Europabildes das „Recht zum Anderssein", die „Garantie für Vielfalt" und die „Selbstbestimmung des Individuums" die erforderlichen Prämissen bilden. Die Legitimität einer solchen primär funktionellen, heterogenen Gemeinschaft erfolgt weniger durch eine politische Gesamtwillensbildung nach parlamentarischem Muster, sondern durch die Bereitstellung verschiedener Beteiligungsmöglichkeiten auf den politischen Prozess wie Interessensgruppen, politische Parteien. EU-Organe, Bundesländer und jeweiligen nationalen Parlamente. Da die supranationale Gemeinschaft gerade ihrer dem Nationalstaat gegenüber höheren Problemlösefähigkeit wegen gegründet wurde, ist das wichtigste Legitimitätskriterium der Europäischen Union nicht wipM/-definiert, also z. B. durch Wahlen, sondern ergibt sich aus ihrem Output, d. h. der Leistungsfähigkeit und Effektivität, Probleme zu lösen. Wichtig wäre es deshalb, die Union handlungsfähig und Kanäle zur Interessensdurchsetzung nutzbar zu machen. Ziel einer europäischen Verfassung wäre deshalb nicht, den Nationalstaat zu ersetzen, sondern das
35 9
Vgl. D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S.581 ff.. 581. Unter dieser Prämisse könnte selbst die Stärkung der legislativen Rechte des Europäischen Parlaments dieses Defizit nicht verringern. Denn die Unionsbürger orientieren sich bei der Wahl der Abgeordneten an Präferenzen, die sich ..sachlich in den nationalen nach wie vor segmentierten öffentlichen Meinungen widerspiegeln" (so C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfähig?, in: DÖV 1998. S. 268 ff., 271). 360 161
D. Grimm (1995), S. 587. 591.
In die gleiche Richtung zielte auch das BVerfG in seiner „Maastricht"-Entscheidung vom 12. Oktob er 1993 (BVer fGE 89. S. 155 ff.). Nur innerha lb der Mitgli edssta aten könne sich das „Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren", um so dem. was es „relativ homogen - geistig, sozial und politisch -verbindet I...J rechtlichen Ausdruck zu geben".
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
133
Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht und einer 36 2 auf verschiedenen Ebenen ruhenden geteilten Souveränität. Ein weiteres Defizit der Verträge ist bei der Organisationsfunktion zu sehen. Zwar sind in Art. 7 und Art. 189 ff. EGV die Organe und Ausschüsse der Gemeinschaft, sowie deren Befugnisse und Aufgaben festgelegt. Ein wesentliches Organisationsprinzip der Europäischen Union, die Subsidiarität, ist im Vertrag von Maastricht sogar in die Präambel aufgenommen worden. Eine klare Abgrenzung der Kompetenzen und Normenhierarchie legen die Verträge allerdings nicht fest. Zwar wird die vorrangi ge Stellung des Vertragsrechts in Art. 10 EGV deutlic h, laut dem die Mitgliedsstaaten alle zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen beitragenden Maßnahmen ergreifen müssen. Die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Union sind allerdings willkürlich aufgelistet (vgl. Art. 3 EGV) und stimmen nicht mit der Systematik der Art. 2 3 - 1 8 8 EGV überein. Es wird weder klargestellt, welche Normen Verfassungsrang haben und welche sich davon ableiten, noch wird eine qualitative Unterscheidung der einzelnen Politiken vorgenommen. Es bleibt unklar, in welchen Politiken die Union tatsächlich verantwortlich und entscheidungsbefugt ist, welche Bereiche nur teilweise zur Union gehören oder nur von dieser koordiniert werden und welche Politiken noch rein zwischenstaatlich gemacht werden. 36 3 Auch die tatsächliche Begrenzungsfunktion der in den Verträgen festgelegten Grundre chte is t beschränkt. Vord em EuG H haben Einzelpersonen kein Klagerecht, und erst seit Amsterdam gibt es einen sehr schwerfälligen Sanktionsmechanismus. 36 4 Weil der EuGH sich in Bezug auf die Menschenrechte gerade nicht auf die autonome Rechtsordnung der Europäischen Union, sondern auf die Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten beruft, kann es hier zu Konflikten mit diesen Grundrechtskatalogen kommen, denn die Verfassungen der Mitgliedsstaaten verbürgen wegen ihrer kulturellen und geschichtlichen Entstehungsbedingungen unterschiedliche Grundrechte. Würde der EuGH beis pielsweise das in der irisc hen Konstitution vorgesehene Abtreibungsverbot in seine Rechtssprechung mit ein36 5 beziehen. käme es zum Konflikt mit allen anderen Verfassungen. Der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK kann dieses Problem formell und in enger 162 Vgl. I. Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidierung. in: JöR 48 (2000), S. 205 ff. sowie die Aufsatzsammlung bei J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. 2000.
363
Vgl. zu alledem Centrum für angewandte Politikforschung , Ein Grundvertrag für die
Europäische Union. 2000. S. 13. ' 6 4 Art. 13 EGV: Der Rat kann auf Vorsc hlag der Kommi ssi on und nach Anhö ru ng des Parlaments einstimmige Vorkehrungen treffen, um diese Diskriminierungen [...] zu bekämpfen. 36 5 Hierzu G. De Bürca , Fundamental Rights and the Reach of EC-Law. in: Oxford Journal of Legal Studies. 3/1993. S. 283 ff. 301.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Auslegung auch nicht lösen, da der Konvention nur Staaten beitreten können, und die Eur opäi sche Union ist - wie der EuGH 1994 bestät igte - kein Staat. Das markanteste Defizit der Verträge liegt allerdings bei der Integrations- und Identifikationsfunktion. So sind die demokratischen Rechte des Bürgers nur schwer in den Verträgen erkennbar, da sie in einem Jahrzehnte langen Prozess an verschiedensten Stellen immer wieder eingefügt und ergänzt worden sind. Ähnliches gilt für die vom EuGH entwickelte ungeschriebene Grundrechtsdoktrin, welche selbst für Fachleute gelegentlich diffus erscheint. Zudem kommt erschwerend die komplizierte Sprache des Rechts und die geringe Präsenz des EuGH im Bewusstsein der Bürger im Vergleich mit anderen EU-Institutionen hinzu. J.H.H. Weiler 36 6 spricht in diesem Zusammenhang von einem .,selfreferential legal universe". Dem Einzelnen ist es bereits deshalb nicht möglich, seine vertraglich verbürgten Rechte umfassend wahrzunehmen, weil er sie kaum erkennen kann. Der Streit um die Verfassung der Europäischen Union erhält durch eine unvermeidliche Nebenfolge der Integration, die in Europa zu erheblichen Teilen bereits eingetreten ist, besonderes Gewicht: Zwangsläufig büßt die nationale Verfassung einen Teil ihrer politischen Steuerungsfähigkeit ein, denn in ihrem territorialen Wirkungskreis entfalten sich Kräfte, die nicht mehr ihrer Autorität unterworfen sind; zudem wird ihre Autorität gegenüber den ihr unterstellten Akteuren durch abweichende Vorgaben aus einer anderen Rechtsordnung punktuell durchbrochen. Dieser ..graduelle Bedeutungsverlust der Verfassungen der Mitgliedstaaten" zeigt sich insbesondere auf dem Gebiet der Grundrechte, aber auch bei materiellen Verfassungsgrundsätzen und sogar bei nationalen Verfassungsspezifika. die als solche nicht in einem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Union stehen. Durch diese Entwicklung wird die Integrationsfunktion der Verfassungen beeinträchtigt, auf die sich gerade der moderne Verfassungsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestützt hat. Um heute in dem um die Union erweiterten politischen Gesamtsystem das sicherzustellen, was früher in den Mitgliedstaaten gegeben war, müssen die nationalen Verfassungen durch ein Pendant auf der Ebene der Union ergänzt werden, welches ihre Funktionsdefizite ausgleicht. Die derzeitigen Gründungsverträge der Europäischen Union erfüllen diese Anforderungen offensichtlich nicht.
366
J.H.H. Weiler. The Constitut ion of Europe. 1999. S. 190.
3*7 Ygi S. 374 ff.
hie r/u ausf ührl ich T. Schmitz . Integration in der Supranationalen Union. 2001.
1 7
*
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
135
mm ) Aus der Nizzas tarre zum Konvent (1)
Der Post-Nizza-Prozess™ - parlamentarische Einflusssphären Im Lichte der wenig überzeugenden Reformergebnisse des Vertrags von Nizza wurde wiederkehrend der Vorteil eines konventsähnlichen Verfahrens thematisiert. Ein wesentliches Argument für die Forderung nach einer offenen und transparenten Methode jenseits der nationalen Interessensgräben der Regierungskonferenzen war dabei regelmäßig der Hinweis auf die positiven Erfahrungen mit dem Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta, der in nur 18 Sitzungen eines der modernsten Menschenrechtsdokumente und ein deutliches Bekenntnis der Europäischen Union zum europäischen Grundrechte- und Wertemodell entworfen hatte. Im ersten Halbjahr nach Nizza kristallisierte sich heraus, wie die Debatte über die Zukunft der Europäsche Union und ihre Verfassung strukturiert werden sollte. Die Ratspräsidentschaft übernahm miteher Schweden im euroskeptischen ersten Halbjahr Großbritan2001 ein EU-kritischer ..Kleinstaat", der sich mit dem nien verbündet sah. die Verfassungsfrage stand nicht explizit auf der Agenda. Dennoch förderte Schweden die „Debatte über die Zukunft Europas", in der es einmal mehr um die bessere Verständlichkeit der Verträge und Strukturen der Europäischen Union, das Gleichgewicht zwischen Mitgliedsstaaten und Union sowie um die Stärkung des demokratischen Selbstverständnisses gehen sollte. Am 17.1.2001 stellte Kommissionspräsident R. Prodi einen dreistufigen Plan über die 36 9 Strukturierung der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union vor. EUKommissar M. Bamier konkretisierte diesen Plan in einer Rede in Brüssel und 37 0 bekannte sich ausdrücklich zu dem Wort „Verfassungsvertrag". Am 9.3.2001 eröffneten Kommissionspräsident Prodi, der Kommissar für institutionelle Fragen Bamier und der schwedische Ministerpräsident G. Persson eine insgesamt breiter angelegte und eingehendere Debatte, welche auch im Internet verstärkt geführt werden sollte. 37 1
36 8
Hierzu etwa M. Kotzur, Ein nationaler Beitrag zur Europäischen Verfassungsdiskussion: deutsche Erfahrungen im Post-Nizza-Prozess, in: P. Häberle/M. Morlok/W. Skouris (Hrsg.). Festschrift Festschrift für Dimi tri sTh. Tsatsos. Zum 70. Geburtstag am 5. Mai 2003. 2003, S. 257 ff.; C. Do rau. Die Verfassungsfrage der EU - Möglichkeiten und Grenzen der europäischen Verfassungsentwicklung nach Nizza. 2001; M. Stolleis. Europa nach Nizza. Die historische Dimension, in: NJW 2002. S. 1022ff.: P.C. MiUler-Graff, Der Post-NizzaProzess. Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung, in: Integration 2/2001. S. 208 ff. 36 9
Vgl. R. Prodi. Rede vor dem Europäischen Parlament am 17. 1.2001: „Es ist an der Zeit, die Debatte über die Zukunft Europas zu strukturieren", s. Protokolle der Sitzungen des Europäischem Parlaments. 370
M. Bamier. Rede vor Vertretern der Region Aquitaine und Emilia-Romagna und des Landes Hessen: ..Die Perspektiven der EU nach Nizza", Brüssel. 18. Januar 2001. abrufbar unter www.europe.eu.int/comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/indcx_de.htm.
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Ein ..Rat der Weisen" der zwischenzeitlich auf Ratsebene als Alternative zum Konvent thematisiert wurde, genügte nach fester Überzeugung vieler Fachausschüsse nationaler Parlamente der Forderung nach mehr Demokratie und Transparenz der Meinungs- und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union nicht.
372
Je do ch ge la ng e s a uf de r XX IV . C O S A C am 2 1 . / 2 2 . 5 20 01 in St oc kh ol m, die Unterstützung der Vertreter aller nationalen Parlamente für die neue Methode zu gewinnen.
373
Hinsichtlich der Zusammensetzung und Arbeitsweise des Gremi-
37 1 Vgl. Mitteilung von Ministerpräsident G.Persson anlässlich der Debatte über die Zuk unf t der Union. März 2001. Brüssel 20 01; siehe dazu SZ. 9. März 2001, S.2 , ..Die EU tritt vor das Volk"; die Debatte im Internet unter: http://europa.eu.int/futurum.htm. Auch die Regierungschefs setzten ihre Grundsatzreden kontinuierlich fort. Bei seiner Regier ungs erkl äru ng vor dem Bunde stag zu den Ergeb nisse n von Nizza am 19. 1. 200 1 sagte
Bundeskanzler G. Schröder, dass in Nizza die Tür zum neuen Europa aufgestoßen worden sei. welches über eine verfassungsmäßige Grundlage verfügen werde (Regierungserklärung vom 19. Januar 2001. vgl. die Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages). Diese Vision wiederholte Schröder vor dem Internationalen Bertelsmann Forum in Berlin (im Rede-Manuskript ist zwar von ..Verfasstheit" die Rede. Seinen Wunsch nach einer europäischen Verfassung äußerte er aber spontan, vgl. dazu SZ. 22. 1.2001. S. 1: „Wenn Schröders Herz spricht"). Aufsehen und kritische Stimmen erntete ein Leitantrag der SPD vom April 2001. in dem Schröder in seiner Funktion als Parteichef seine Vorstellungen über die Ausgestaltung der europäischen Verfassung konkretisierte (SPD-Leitantrag ..Verantwortung für Europa", 30.4.2001. Berlin 2001). Kurz zuvor erntete Bundespräsident J. Rau vor dem Europäischen Parlament Beifall für sein bereits erwähntes ..Plädoyer für eine Europäische Verfassung" (Rede am 4.4.2001. Straßburg). Am 28.5.2001 hielt schließlich auch der französische Ministerpräsident L. Jospin seine lang erwartete Grundsatzrede zur Zukunft Europas, in der er sich u. a. für eine europäische Verfassung aussprach (..Zur Zukunft des erweiterten Europa"). 37 2
Die ablehnende Haltung des
Ausschusses für Europäische Angelegenheiren des Deut-
sche n Bunde stag es (Besc hlus s vom 4. Apri l 2001 bzw. Be richt vom 6. Ju li 20 01 ) ist bei \ f . Fuchs/ S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent. 2002. S.24I ff. dokumentiert. 37 3 Trotz deutlicher Zurückhaltung des Gastgeberlandes Schweden sprachen sich im Verlauf der Beratungen immer mehr Delegierte für ein konventsähnliches Verfahren in Anlehnung an den Grundrechtekonvent aus. Nachhaltig unterstützt wurde die Bundestagsdelegation in ihrer Forderung nach einer Verfahrensreform von der COSAC-Delegation der Assemblee Nationale und des französischen Senats sowie den Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Am Ende der zweitägigen Konferenz verabschiedete die COSAC einstimmig bei einer Stimmenthaltung einen Beitrag, in dem die Einrichtung einer am Vorbild Grundrechtekonvent orientierten Konferenz zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 gefordert wurde, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002), S.63I. Nach dem ersten Schulterschluss mit den anderen mitgliedsstaatlichen Parlamenten blieb der Europaausschuss des Bundestages in engem Kontakt mit der Bundesregierung über die Frage der weiteren Ver fahrensschr itte im R ahme n des Post-Niz za-Proz esses. Am 4. Juli 2001 fasste er mit den Stim men aller Fraktion en eine n weit eren Ko nvent sbesc hluss , vgl. M. Fuchs!S. Hartleif / V. Popovic (2002), S. 245, in dem er unter anderem forderte, das Mandat des Konvents zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 auf Vorschläge zur
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
137
ums betonten die Delegationen die Notwendigkeit einer starken und frühzeitigen parlamentarischen Beteiligung. Ebenso wie in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten gewann die Diskussion um den Post-Nizza-Prozess auch innerhalb des Rates immer deutlichere Konturen. Insbesondere die belgische EU-Ratspräsidentschaft vertrat die Idee des Konventmodells während des 2. Halbjahres 2001 mit großem Nachdruck.
374
Oktober 2001 konnten im Allgemeinen Rat und beim informellen Treffen der EU- Auß enm ini ste r in Genval auf belgisch e Initiative erste Festle gungen auf
Im
die
Konventmethode zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 erreicht werden. Einig waren die Außenminister über die Zusammensetzung des zweiten Konvents nach dem Vorbild des Grundrechtekonvents - und damit über die starke parlamentarische Komponente -. die gleichberechtigte Einbeziehung der Beitrittsländer sow ie den Beginn der Arbe iten unter der folg ende n spanis chen Ratsp
räsi dent scha ft
im 1. Halbj ahr 2002. Weitere wichtige Verfa hrensf ragen wie der Umf ang des Konventmandats, die Frage eines Gesamttextes oder einer Optionslösung sowie die Einrichtung eines Präsidiums blieben allerdings mangels Konsens noch in der Diskussion. Parallel dazu berieten seit September 2001 die Europaausschüsse des 3 5 Deutschen Bundestages und der Assemblee Nationale über einen gemeinsamen 376 Text zur Zus am men se tz ung und Arbei tswei se des neuen Konvents.
zukünftigen Rolle der Organe der EU sowie ihr Verhältnis zueinander, zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten, zur Vereinfachung der Verträge, zur künftigen Rolle der nationalen Parlamente sowie zur Integration der Europäischen Grundrechtecharta in die Verträge auszuweiten. Um den Ergebnissen eines zweiten Konvents in der anschließenden Regierungskonferenz Gewicht zu verleihen, betonte der Ausschuss die Bedeutung der Erarbeitung eines einzigen Ergebnisentwurfs mit der Möglichkeit, in Ausnahmefällen bei kontroversen Meinungen alternative Optionen in Form von Mehrheits- und Minderheitsvoten anzuzeigen. Mit diesem Beschluss. der nach den geschäftsordnungsrechtlichen Sonderbefugnissen des Europaausschusses stellvertretend für denklar Deutschen Bundestag gefasst w urde, vgl. § 93a Abs.künftige 4 GO-BT. sprach sich der Bundestag für die Ausdehnung des Konventmandats auf die Gewaltenteilung zwischen den europäischen Institutionen aus. die in der Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der EU von den Staats- und Regierungschefs als Thema der Zukunftsdebatte noch nicht explizit genannt worden war. 37 4
Zum Auftakt seiner Ratspräsidentschaft erklärte der belgische Premierminister G. Verhofstadt. dass der Post-Nizza-Prozess in „die Konstitutionalisierung der Union" münden müsse. Vgl. ders., Rede am 24. Juni. „Welche Zuku nft f ür welches Eur 2001.
opa?",
' ? So befasste sich der Deutsche Bundestag bereits in einer Sondersitzung des Europaauss chusses am 15. Deze mber 200 0 (vgl. M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic (2002). S. 49 ff.) mit der Initiative der Bundesregierung zum Anstoß der europaweiten Zukunftsdebatte; die Abgeordneten machten mehrheitlich deutlich, dass die Ausgestaltung des Prozesses zur Zukunft der EU und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 einen neuen Verfahrensansatz erfordere. Dabei wurde das Konventsmodell „als kreative, transparente und unmittelbar demokratisch legitimierte Methode zur Vorbereitung der nächsten Vertragsrevisionsverhandlungen". vgl. M. Fuchs usw. (2002). ebenda, angesehen. Die Bundestagsabgeordneten stellten sich damit auf den gleichen Standpunkt, den auch das Europäische
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Mit Blick auf den Stand der Konventsdiskussion im Rat wurde eine gemeinsame 37 7 Erklärung an den Europäischen Rat von Laeken verabschiedet , in der sich die Abgeordneten dafür aussprachen, das Mandat des Konvents auf die Vorlage eines einzigen Textentwurfs für den neuen Grundvertrag der Europäischen Union zu richten und Optionslösungen nur in unvermeidlichen Fällen zu formulieren. Beide Parlamente vertraten die Überzeugung, dass das inhaltliche Mandat des Konvents außerdem die Prüfung weiterer Integrationsschritte in den Bereichen der 2. und 3. Säule umfassen müsse. Die bilaterale Parlamentsinitiative unterstützte damit vorbehaltlos die gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der französischen Regierung auf dem deutsch-französischen Gipfel von Nantes vom November 2001, die ehrgeizige Initiativen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit wie die Einsetzung einer europäischen Polizei zur Überwachung der EU-Außengrenzen, die Stärkung von Europol mit dem Ziel einer integrierten Polizei zur Bekämpfung von internationalem Terrorismus und organisierter Kriminalität, den Ausbau von Eurojust, den Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft, die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigung und die Terrorismusbekämpfung als Aufgabe der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefordert hatte. Gleichzeitig lag den Parlamenten besonders an der Ausstattung des Konvents mit einem weit gefassten und seine Autonomie wahrenden Mandat.
Parlament auf europäischer Ebene gegenüber den Staats- und Regierungschefs in seiner Bewertung zu Nizza einnahm, vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 561 ff. Mit dem Fortschreiten der Ausschussberatungen undVerfassungsexperten im Anschluss an eine öffentliche Anhörung zur des Zukunftsdebatte in der EU mit nationalen fasste der Europaausschuss Bundestages im April 2001 zur Vorbereitung der XXIV. COSAC, der gemeinsamen Konferenz der Europaausschüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments einen von allen Bundestagsfraktionen getragenen Beschluss, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002). S. 241 ff., in dem er forderte, dass die Vorbereitungen zur Ausarbeitung einer Verfassung im Rahmen des in Nizza beschlossenen Prozesses zur Zukunft der Europäischen Union verstärkt durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, einschließlich der Parlamente der Beitrittsländer, wahrgenommen werden müssten. Gleichzeitig regten die Ausschussmitglieder an. dass zur Vorbereitung der für 2004 geplanten Regierungskonferenz eine an den Konvent angelehnte Konferenz zusammengerufen werden sollte, um Vorschläge für die Reform der EU zu erarbeiten. Damit hatte der Europaausschuss seine Position zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 frühzeitig festgelegt. 37 6 Im unmittelbaren Vorfeld des Europäischen Rats von Laeken trafen am 10. Dezember 2001 die beiden Europa ausschü sse zusam men mit den Auswärtige n Ausschüssen und unter Leitung der Parlamentspräsidenten W. Thierse un d R. Forni in Paris erstmalig in der
Geschichte beider Parlamente zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen. 377
Vgl. M. Fuchs IS. Hartleif IV. Popovic (2002), S. 263 f.
II. Eckpunkte
(2)
und Grundla gen der europäischen
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Die Erklärung von Laeken eine „stille Revolution" der Integrationsgeschichte
Die Staats- und Regierungschefs haben mit der dem Vertrag von Nizza beige37 8 fügten Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der Union dies unterstrichen, indem sie unter anderem folgende Fragen formulierten, die es zu klären galt: - Zum einen wie eine genauere, dem Subsidiarit ätspri nzip entsprechen de Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann; - sodann der Status der in Nizza verkündeten Charta der Grundr echte der Europäischen Union gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Köln; - eine Vereinf achun g der Verträg e mit dem Ziel, diese klarer un d verständ licher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern: - die Rolle der nation alen Parlamen te in der Archit ektur Europas . Neben der Forderung nach einer Vereinfachung und Neuorganisation des europäischen Vertragswerks und der Integration der Grundrechtecharta in die Verträge wurden konkrete Reformkomplexe wie die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission, die Frage der Beibehaltung der halbjährlichen Rotation des EU-Ratsvorsitzes, die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene, die Stärkung der Rolle der Europäischen Union in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik. Zuwanderung. Kriminalitätsbekämpfung, und der Anstoß zu Veränderungen der Gesetzgebungsinstrumente der Europäischen Union formuliert. Die der Einsetzung des Europäischen Konvents zugrunde liegende Entscheidung der EU-Staats- und Regierungschefs im belgischen Laeken, die Debatte über die künftige Gestalt der Europäischen Union im Rahmen eines Konvents unter maßgeblicher Beteiligung der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten und des Europäischen Parlaments zu führen, wurde zu Recht als historischer Schritt bezeichnet und verdiente sich angesichts der weitgehend zustimmenden Reaktionen in großen Teilen der „europäischen Öffentlichkeit" den Begriff einer „stillen Revolution" der europäischen Integrationsgeschichte. Mit der Festlegung auf einen überwiegend aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent hatten die Staats- und Regierungschefs die Unzulänglichkeit der „Methode Regierungskonferenz" für die gewünschte europaweite Zukunftsdebatte erkannt. Gleichzeitig entsprach der Europäische Rat in Laeken dem begründeten Ringen der Parlamente in der Europäischen Union um mehr und direkten Einfluss bei der Fortentwicklung der Europäischen Verträge.
17 8 Dazu R. Wagenbauer, Zur Zukunft der EU: Was bringt die Erklärung von Laeken?, in: ZRP 2002. S. 94 f.
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Mit der Erklärung von Laeken war ein tatsächlich zukunftsgerichteter Ausgangspunkt für die Diskussion über die Effizienz eines neuen Verfahrens zur Vorbereitung künftiger Vertragsrevisionen gefunden. Die intensive Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen Parlaments bildete schon relativ früh den gedanklichen Ausgangspunkt für den Wunsch nach Einrichtung eines Konvents. So hatte etwa der Deutsche Bundestag durch den Ausschuß für Europäische Angelegenheiten, der in Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Rechte gemäß Art. 45 GG i.V. m. § 93a Abs 3 Satz2 GO-BT am 4. Juli 2001 einen entsprechenden plenarersetzenden Beschluß fasste 37 9 , unter Rückgriff auf das Konvents-Modell für die Vorbereitungsphase der „Regierungskonferenz 2004" eine umfassende Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen Parlaments gefordert. Bereits zuvor hatte der Bundesrat in einer Entschließung zu den Verfahrensaspekten der „Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union" vom 11. Mai 2001 ein Gremium aus Vertretern der nationalen Parlamente unter Einschluss eines Vertreters des Bundesrates, der mitgliedstaatlichen Regierungen, der Organe in der Europäischen Union sowie von Sachverständigen und Vertretern der Beitrittsländer gefordert. Das Europäische Parlament hatte sich in einer Entschließung diesen Forderungen im Wesentlichen angeschlossen. Auch die Kommission hatte sich bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt für ein Konventmodell unter Anlehnung an das im Rahmen der Erarbeitung der Grundrechts-Charta praktizierte Prozedere ausgesprochen.
nn) Inkurs: Verfassungs begriff und Verfassungsver
ständnis
In derZeit um die Erklärung von Laeken spitzte sich die (nicht neue) europäische Debatte über die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union in entsprechender Intensität zu. Eine nähere Betrachtung des Konventverfahrens und seiner Zielsetzung erfordert die Klärung einer elementaren, gleichwohl inflationär abgehandelten Vorfrage: von welchem Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis 38 0 ist innerhalb der heutigen Europäischen Union auszugehen? Auch mit Blick auf die späteren Vergleiche mit der US-amerikanischen Verfassungsordnung soll dieser Aspekt eingehender abgehandelt und durch einige, die bisherige Debatte ergänzende Überlegungen angereichert werden. Zudem bedarf es einer zielführenden Einordnung, um im Rahmen der späteren Betrachtung 379
Vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 245 ff.
38 0
Aus der unüberschaubaren Lit. insbesondere W. Hertel . Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999: P. Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 32 ff.. 69 ff.; C.Koenig, Ist die Europäische Union v erfas sungsfä hig?, in: DÖV 1998. 268 ff. Siehe auch D. Tsatsos , Die Europäische Unionsgrundordnung, in: EuGRZ 1995. S. 287 ff.; I. Pernice. Der Europäische Vervassungsvcrbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR 48 (2000), S. 205 ff.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
141
des europäischen „Verfassungsänderungsverfahrens" oder einer „Europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit" gesicherte Grundlagen aufweisen zu können. (1)
Das
Verfassungsverständnis - allgemeine
Überlegungen
Der Facettenreichtum einer Verfassung legt den Schluss nahe, ein Verfassungsverständnis gründe sich auf der geglückten gedanklichen Verbindung ihrer vielfältigen Elemente. Das Verfassungsverständnis kann nun mittels Begriffen bestimmt 38 1 werden, die ihrerseits allesamt einer „gemischten" Definition innewohnen dürf38 2 ten. Nun geht es hier nicht um die Frage, was überhaupt Verfassung ist , sondern wie sich Verfassung in ihrem jeweiligen Umfeld darstellt. So unscharf zuweilen 38 3 zwischen Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis unterschieden wird , so vordergründig unvereinbar (einige, wie C. Schmitt gegen R. Smend bestätigen diese Einschätzung) scheinen sich gewisse Thesen gegenüberzustehen, die eine Annäherung an das Verfassungsverständnis unternehmen. Wenn allerdings das Verfassungsverständnis etwa als Grundlage eines Verständnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Methodik zu begreifen ist, das ersteres wiederum ausgestaltet, so wird man sich nicht auf formale Gesichtspunkte beschränken können. Ähnliches gilt auch für den Verfassungsvergleich: es bietet sich ein ..gemischtes Verfassungsverständnis" an, da eine Gegenüberstellung sich nicht lediglich am Gestaltungswillen des Gesetzgebers (N. Achterberg)3*4, am jeweiligen Entschei385 dungsmoment (C. Schmitt) oder an der Akzentuierung planmäßigen, bewussten
38 1 Ein „gemischtes Verfassungsverständnis" betont P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kultur wissens chaft. 2. Aufl. 1998. S. 397, 399 ff.: ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 187 ff. Ähnlich K. Hesse , Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995. S.3ff„ der in Abgrenzung zur Verfassungstheorie für die Verfassungsrechtslehre auf einen vielseitig beeinflussten Verfassungsbegriff zurückgreift und diesen wohl mit dem Verfassungsverständnis gleichsetzt. Vgl. aber auch P. Hiiberle zum (erweiterten) Ansatz eines „gemischten, kulturwissenschaftlichen Verfassungsverständnisses", ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S.9.
' s 2 Auch um dieser Problemstellung beizukommen wird allgemein auf ..Hilfsmittel" zurückgegriffen, sei es dass auf die dem Begriff zugrundeliegenden Aufgaben und Zielsetzung abgestellt wird. vgl. K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995, S. 3. oder auf ihre Funktionen, vgl. etwa R. Smend. Staatsrechtliche Abhandlungen. 3. Aufl. 1994. S. 187 ff.. H. Heller . Staatslehre. 1934 (Neudr. 1963), 5. 249 ff. 38 3 Dass mehrere Begriffe zumeist erst ein Verständnis ausbilden können, beweist sich bereits bei den Versuchen, sich sowohl einem Verfassungsverständnis als auch dem angestrebten Verfassungsbegriff mit mehr oder weniger langatmigen Umschreibungen anzunähern.
' s 4 Vgl. N. Achterberg. Die Verfassung als Sozialgestaltungsplan. in: ders. (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für H.U. Scupin. 1983. S. 293 ff. 38 5 Siehe C. Schmitt. Verfassungslehre. 8. Aufl. 1993. S. 23.
142
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
organisierten Zusammenwirkens (H. Heller)38* orientieren muss. Einem umfassenden Vergleich ist ebenso wenig eine Verengung der Sichtweise auf den materiellen ,s oder formellen Sinn zuträglich wie eine Begriffsbestimmung durch die Betonung einer „Hauptfunk tion", sei es die Verfassung als grundle gende normative Ordnun g und Sinnorientierung, in deren fortlaufenden Vollzug sich die politische Gemeinschaft „integriert" ( R. Srnend, H. Heller) 2** oder die intendierte Freiheitssicherung durch Machtbeschränkung (//. Ehmke, K. Loewenstein)389. Die unterschiedlichen Ansätze einer Begriffsbestimmung aus dem deutschen Sprachraum werfen somit bereits ein vorauseilendes Licht auf die Schwierigkeiten, die im Rahmen der Rechtsvergleichung zu erwarten wären. Gleichwohl wird auch diese Untersuchung auf Versuche eingehen, die einen europäischen (bzw. im späteren Rechtsvergleich den US-amerikanischen) Verfassungsbegriff zu prägen glauben, indes nur als eine der Komponenten eines übergreifenden Verfassungsverständnisses. Nachdem dieses auch durch seine stete Fortentwicklung geformt wird, ist die hier getätigte Auswahl bestimmender Faktoren unweigerlich fragmentarisch. Dennoch
soll unter Berücksichtigung der Bedeutung einzelner Verfassungsprinzipien und der rechtskulturellen Perspektive für die jeweilige Ausprägung einer Verfassungsentwicklung dem Leitbild eines „gemischten Verfassungsverständnisses" gefolgt werden. Letztlich würde selbst ein befürwortetes einheitliches Verfassungsverständnis der tatsächlichen Vielfalt einer mehr als zwei Jahrhunderte erprobten amerikanischen Verfassung und der Bandbreite eines Regelwerks, die den Anforderungen eines vergleichsweise jungen Europas entspringt, kaum gerecht. (2)
Der „ europäische "
Verfassungshegriff
Die Frage nach der Konstitutionalisierung der Europäischen Union hat ihren Bezugspunkt in der Problematik des Gemeinwesens der Europäischen Union in ihrer (gegenwärtigen) Verfasstheit. Derzeit ist die Europäische Union eine „Komposition" aus drei Europäischen Gemeinschaften und zwei Formen der Zusammenarbeit. Hinzu kommen gemeinsam verfasste Grundaufgaben und materielle (z. B. wirtschafts- und sozialpolitische) Ziele (Art. 2 EUV), ein einheitlicher, institutioneller Rahme n (Art. 3 - 5 EUV) sowie eine geme insa me Gru ndwert eorientier ung (Art. 6 - 7 EUV und Europäisc he Grun drecht echart a). Dies allerdings 386
Vgl. H. Heller (1934).
38 7
So gibt es Staaten - wie beispielsweise Großbritannien -, die durchaus eine Verfassung im materiellen Sinne, jedoch keine Verfassungsurkunde besitzen, die die tragenden Verfassungsgrundsätze zusammenfaßt. 38 8 Vgl. H.Heller (1934); R. Smend, Staatsrechtliche Abhand lungen , 3. Aufl. 1994. S. 187 ff. 38 9 Siehe K. Loewenstein. Verfassungslehre. 3. Aufl. 1975. S. 127 ff.. der Verfassungsänderung, 1953.
H. Ehmke , Grenzen
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
143
legt nahe, dass die Europäische Union, auch wenn sie als Gemeinwesen sui generis ohne „Staatsqualität" gelten muss, grundsätzlich ein verfassungsbedürftiges Ge390 mit eigener legislativer meinwesen darstellt. Als eigene Rechtspersönlichkeit 39 2 administrativ-exekutiver und judikativer Gewalt 39 3 übt die Europäische Union kraft ihrer Organe letztlich (quasi-)staatliche Gewalt aus, wobei sie laut Art. 213 Abs. 2 EGV auf ein Gemeinschaftswohl verpflichtet ist. Juristisch könnte man daraus ein „Verfassungserfordernis" für die Europäische Union ableiten bzw. die Notwendigkeit, das politische Ziel, zu einer Gesamtverfassung von Gemeinschaften und Union zu kommen.
39 1 ,
(a) Zwei Vorfragen Bei allen Qualifizierungen der bisherigen europäischen Rechtsordnung richtete sich eine breite Hoffnung auf eine „echte" Verfassung. Die Banalität der Begrifflichkeit „echt" verschleiert jedoch die Klärung zweier Grundfragen, die neben den weiteren (sogleich angerissenen) vielschichtigen Debatten - etwa um die „Staatlichkeit" der Europäischen Union - oftmals unterzugehen drohen.
39 4
Erstens: gibt es den idealen Typus der Verfassung, den absoluten, platonistisch konzipierten Begriff der Verfassung? Zweitens: selbst wenn die Konstitutionalisie3 95 rung Europas ein „Sonderweg" ist, soll sie ein Sonderweg zur Normalität sein, also die „Konstitutionalisierung" Europas seine „Normalisierung" bedeuten? Hinsichtlich der ersten Fragestellung sind weiterhin latente Tendenzen einer gewissen Art der „Begriffsjurisprudenz" zu beobachten, die sich jedoch nicht offenbart, sondern oft unauffällig in den Diskurs hineinzugelangen vermag. Die scheinbare Notwendigkeit stets fester Begrifflichkeiten bietet hierbei eine - wenn auch gelegen tlich schwankende - Plattform für Begriffsre alismus . Die juristischen Begriffe müssten danach metahistorische Größe sein. Um mit R. von Ihering zu sprechen, gäbe seinem es einenTod „juristischen Begriffshimmel", wohin der inszenierte Romanist nach endlich kommt:
39 0
Vgl. die Texte von Art. 6 EGKSV, 281 f. EGV. 188 f. EAGV.
39 1
Siehe etwa die Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen im Sinne von Art. 249 Abs. 2 EGV. 39 2 Vgl. nur die Befugnis zur Aufsicht über staatliche Beihilfen, zur Ahndung von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln etc. 39 3
Vgl. insb. Art. 220 ff. EGV. Vgl. aber den Redebeitrag von O.Jouanjan, Stellungnahme, in: G.Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 12 ff. 39 4
39 5 So J.H.H. Weiler. Federalisme et constitutionnalisme: le Sonderweg de 1'Europe. in: R. Dehousse (Hrsg.). Une Constitution pour 1'Europe?, 2002. S. 151.
144
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„In ihm findest Du alle die juristischen Begriffe, mit denen Du Dich auf Erden so viel beschäftigt hast, wieder. Aber nicht in ihrer unvollkommenen Gestalt, in ihrer Verunstaltung, die sie auf Erden durch Gesetzgeber und Praktiker erfahren haben, 3 6 sondern in ihrer vollendeten, fleckenlosen Reinheit und idealen Schönheit." *
Das He rakl it'sc he rcdvra pe i entfaltet jed oc h auch im Hinblick auf juris tisch e Grundbegriffe Geltungskraft. Bereits G. Jellinek hatte Anfang des 20. Jahrhun39 7 derts diese „im Fluss des historischen Geschehens" gesehen. Auch angesichts eines erforderlichen Schutzes gegen wissenschaftlich vertarnten Essentialismus sollte alles in allem nicht von einem „idealen Wesen der Verfassung", sondern höchstens von einem geschichtlichen Typus ausgegangen werden. Das Flussprinzip gilt im Übrigen auch für die zweite Voraussetzung der Frage nach der „echten" Verfassung, nämlich die angedachte „Norma lisierung" Europas. Zwar könnte man in der kongruenten Wandelbarkeit bereits einen Hinweis hierauf erkennen. Die Europäische Union bleibt jedoch trotz unübersehbarer Parallelen zu verfassungsschöpferischen Vorgän gen in der (nationalstaat lichen) schichte auch im Hinblick auf seine Konstitutionalisierung ein Ansatz sui Verfassungsgegeneris. Zudem ist „Normalisierung" in diesem Kontext und unabhängig vom Ergebnis nicht lediglich mit „Verstaatlichung" gleichzusetzen. Schon die Erklärung von 39 8 Laeken vom 15. 12.2001 weist in diese Richtung. In diesem Kontext ist festzuhalten, dass neben den genannten Gründen die bisherige etatistische Ausrichtung europäischer Verfassunggebung schon deshalb zum Scheitern verurteilt war. weil im Gegensatz zur gelegentlich idealisierten Verfassunggebung nach dem Muster der französischen Revolution eine europäische Verfassung kein Machtvakuum füllen soll, sondern im Gegenteil bereits vorhandenen staatlichen Macht- und Verfassungsstrukturen entgegentritt. So wurde der Begriff „europäische Verfassung" lange Zeit auch tabuisiert, weil er reflexartige Abwehrreaktionen vieler Mitgliedsstaaten hervorrief, da er in den Argumentationslinien auch die „Staatswerdung" Europas und damit Souveränitätsverluste implizierte. So verblieben die Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte weitgehend im Bereich der symbolischen Politik.
396 R. von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Neudruck. Darmstadt 1992. S. 249 f. 39 7 Vgl. G. Jellinek. All geme ine Staatsl ehre. 3. Aufl.. 1914. S. 39. 39 8 Siehe den Text der Erklärung, u. a. abgedruckt in EuGRZ 2001, S. 662, wonach der Bürger „mehr Ergebnisse, bessere Antworten auf konkrete Fragen (erwartet), nicht aber
einen europäischen Superstaat oder europäische Organe, die sich mit allem und jedem befassen."
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
145
(b) Allgeme ine Eingrenz ungsvers uche des Verfas sungs begrif fes 39 9 normative Bedeutung gewann der Verfassungsbegriff erst im 18. JahrhunSeine dert. Vorher handelte es sich nicht um einen - im heutigen Sinne - normativen, sondern um einen empirischen Begriff, in den Normen im Wesentlichen lediglich als zustandsbestimmende Elemente eingingen. Wo das Wort „Verfassung" oder ein fremdsprachliches Äquivalent normativ verwendet wurde, meinte es dagegen bestimmte von Herrscher erlassene Gesetze, aber gerade nicht ein Gesetz, das die 40 0 Herrschaft selbst betreffen sollte.
Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert manifestierten sich in zahlreichen Staaten der Gedanke und die Forderung, ein Staat müsse eine Verfassung haben, um die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und insbesondere Grundfreiheiten der Bürger zu sichern. In vielen Staaten entstanden politische Bewegungen und teilweise innere Kämpfe um die Frage, ob der Staat eine Verfassung erhalten oder ob es beim „verfassungslosen" Zustand verbleiben sollte. So ist die Idee der geschriebenen Verfassung als Grundgesetz des „modernen" Staates eine Frucht des ausgehend en 18. Jahrhunde rts, als sich der Geda nke von der Notwendigkeit die staatliche Herrschaft ordnender und begrenzender Normen sowie das Prinzip 4<>1 der Kodifikation durchsetzte. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Ausdruck „Verfassung" mit verschie40 2 denen Bedeutungen verbunden. Über einige grundlegende Wesensmerkmale besteht jedoch Einigkeit. So wird der Begriff „Verfassung" zumeist als die rechtliche 39 9
Vgl. M. Nettesheim . EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002. S. 10 (abrufbar unter www.fide2002.org/reportseulaw .htm). 400 40 1
Vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S. 581 ff., 582. Vgl. K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 2.Auflage, 1984
Bandl. S.48. Gleichwohl wird es als fraglich erachtet, ob es ausschließlich das sich in dieser Zeit formende Ideengut der Aufklärung, der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von religiösen Vorstellungen, oder das Gedankengut der Volkssouveränität, des Liberalismus und der Demokratie gewesen sind, die Verfassungen hervorbrachten, oder ob es nicht auch eine Anknüpfung an ältere, namentlich griechische oder römisch-rechtliche sowie mittelalterliche Vorstellungen gewesen ist, vgl. auch instruktiv aus den Sammelwerken P. Bachira, Verfas sung, in: R. Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisc hes Staatslexikon. Band II. 3. Auf lag e, 1987. Spalt e 3738 : D.Grimm. Verfassung, in: Görres Gesellschaft (Hrsg.). Staatslexikon. Band 5. 7. Auflage. 1989 und 1995. S.634. Wie bereits oben beschrieben wurden diese auf Schaffung eines Verfassungsstaates abzielenden Bestrebungen zuerst auf dem amerikanischen Kontinent in die politische Wirklichkeit umgesetzt, bevor sich in Euro pa im Jah re 1791 Frank reic h seine erste Ver fas sung schu f. Was Deut schl and anbelangt, gaben sich in Anlehnung an die französische Verfassung von 1814 zahlreiche deutsche Staaten eine Verfassung, so Sachsen-Weimar-Eisenach (1816), dann Bayern und Baden (1818), Württemberg (1819). Im Jahre 1871 trat eine gesamtdeutsche Verfassung, als staatsrechtliche Grundlage des neu geschaffenen deutschen Bundesstaates, in Kraft. Den Anforderungen demokratischer Verfassunggebung genügte aber erst die Weimarer Verfassung von 1919.
146
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Grundordnung des Gemeinwesens umschrieben. Auch besteht Übereinstimmung darüber, dass in der Verfassung die Leitprinzipien für die Organisation des Staatverbundes und die Funktionsweise der Staatsgewalt und damit die wesentlichen 40 3 Entscheidungsstrukturen festgelegt werden. Wie man die begrifflichen Voraussetzungen der Verfassung definiert, hängt ebenso wie bei den Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit und vielen anderen Fragen der Verfassungstheorie zu einem erklecklichen Teil von Wertungen ab. Demzufolge lassen sich kaum zwingende Aussagen treffen, wie sie bei logischen Fragestellungen möglich sind. An dieser Stelle soll sich auf diejenigen Merkmale konzentriert werden, die für die Wirkung der „Verfassung als rechtliche Institution" 41 " erforderlich sind. Das sind im Wesentlichen formelle, aber auch einige materielle Merkmale (da es eine Verfassung in einem nur formellen oder nur materiellen Sinne faktisch nicht geben kann - auch deswegen ist vieles, was in der europäischen Verfassungsdiskussion als „Verfassung" bezeichnet wird, nicht wirklich als Verfassung i. S. d. Verfassungstheorie anzuerkennen). Gleichwohl bleibt die Unterscheidung von Verfassung im formellen und materiellen Sinne grundlegend. Dabei versucht der formelle Verfassungsbegriff eine Antwort auf die Frage zu geben, welche äußerlichen Kriterien (Form, Bestandskraft, einheitliche Urkunde) eine Verfassung kennzeichnen, während der materielle Verfassungsbegriff nach dem Regelungsgehalt eine Zuordnung bestimmter Normen zum Verfassungsrecht vornimmt. Bedeutung und Inhalt beider Verfas40 5 sungsbegriffe sind in den Einzelheiten freilich sehr umstritten. Nach verbreiteter Meinung wird im formellen Sinne unter Verfassung das Verfassungsgesetz als das „Grundgesetz" eines Staates verstanden, das besondere Formqualitäten kennzeichne n 40 6 : der höchste Rang innerhalb der staatlichen Normenhierarchie (Vorrang der Verfassung), erschwerte Abänderbarkeit, erhöhte Bestandskraft. Die höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung, die allen anderen Normen die Regeln der Erzeugung vorgibt und den Geltungsmaßstab bildet, ist die einzige Norm, welche Zulässigkeit und Verfahren der eigenen Abänderbarkeit regelt. Sie lässt sich auf keine Normenzeugungsregel zurückzuführen. Sie entspringt außerhalb 40 2
Vgl. P.Badura (1987), Spalte 3737 und M.Sachs, Grundgesetz. Kommentar. 3. Aufl. 2003, S. 51 ff. Beachtenswert sind die Begriffsbestimmungen der Verfassung von G. Jellinek un d C. Schmitt , die einen nicht unerheblichen Einfiuss auf die Verfassungsrechtslehre ausgeübt haben. Vgl. dazu K. Stern (1984). S. 51 ff. und W. Hertel. Supranationalität als Verfas sungs prin zip. 1998. S. 77 ff. 4l " Vgl. etw a J. Schwarze. Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 109 40 4
Dazu T. Schmilz (2001), S. 415. Vgl. J. Schwarze. Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. 1. Aufl. 1984. S. 15 ff.. 17. 4 05
4 0 6 Vgl. nur./. Isensee. Staat und Verfassung, in: J. Isensee/R Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bandl. 1987, S.644.
II. Eckpunkte
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des Systems staatlich verfasster Legalität im Legitimitätsgrund der Staatlichkeit, der, nach demokratischem Verständnis, im Willen des Volkes liegt. Verfassung im materiellen Sinne ist dagegen die rechtliche Grundordnung des Staates. Sie ist die rechtliche Substanz, auf der das Staatsgrundgesetz als die rechtliche Form angelegt ist. Materien der Verfassung müssen über die des einfachen, disponiblen Gesetzes durch ihre Bedeutung für die staatliche Einheit hinausreichen. Zur materiellen Verfassung gehören die Staatsform, Grundlagen der Staatsorganisation, der Legitimationsursprung, die Machtverteilung durch die Kompetenzordnung, das Recht der höchsten Staatsorgane sowie Ziele und Grenzen der Staatsform. Als wesentliche Charakteristika der Verfassungsordnung eines modernen Staates werden die Staatsorganisation, das Demokr atieprinz ip, die Rechtsstaatlich keit und 40 7 der Schutz der Grundrechte betrachtet. (c) Verfassungs fähigkeit u nd deren Voraussetzungen Die zentrale Frage in der europäischen Verfassungsdiskussion war die, ob der europäische Herrschafts- und Integrationsverband in seiner damaligen (und gegen40 8 wärtigen) Gestalt überhaupt eine Verfassung haben kann , das heißt im Sinne der Verfassungstheorie zu einer Verfassung fähig ist („Verfassungsfähigkeit"). Diese Debatte hat sich auch nach dem Verfassungskonvent nicht gänzlich erschöpft. Obgleich man annehmen könnte, dass mit dem schließlich vorgelegten Verfassungsvertrag der Streit um die Verfassungsfähigkeit obsolet geworden ist, gewann diese Diskussion beispielsweise bei der Qualifikation des Konventsentwurfs (Ver40 9 fassung, Vertrag bzw. Verfassungsvertrag ) oder einer etwaigen („klassischen" Verfassungs(?)-)Interpretation erneut Aktualität. Über die Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit ist in der Verfassungstheorie bisher keine tiefgreifende Diskussion geführt worden, weil der Begriff der 4117
Vgl. wiederumvon J. Schwarze, Dieeuropäischem Entstehung einer europäischen 2(XM). Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen nationalem und Verfassungsrecht. S. 115 ff. 40 8 Vgl. statt vieler etwa D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S. 581 ff.; I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution -Making Revisited?, in: 36 CML Re v. 1999 . S. 703 ff.; P. Hiiberle, G e meineuropäisches Verfassungsrecht, in: ders.. Europäische Rechtskultur. 1994. S.33ff.; E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat. Nation. Europa. Studien zur Staatslehre. Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. 1999. S.68ff.; T.Bruhaf J.J.Hessel C.Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa? Erstes interdisziplinäres ..Schwarzkopf-Kolloquiunfzur Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, 2001; J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders.. Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S.91 ff.; ders., Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: D. Grimm. Die Einbeziehung des Ander en. Studien zur politischen Theorie , 1996. S. 185 ff.; G. Frankenberg, The Return of Contract: Problems and Pitfalls of European Constitutionalism. in: 6 ELJ 2000. S. 257 ff.; E.-U. Petersmann. Proposais for a Constitutional Theory and Constitutional Law of the EU.
in: 32CMLRev. 1995. S. 1123 ff. 409 Dazu unter B.II.2.0qq)(D.
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„Verfassungsfähigkeit" dort noch nicht entsprechend breit eingeführt ist. kann daher nur allgemein auf Sinn und Zweck der Verfassung und die unter die-
410
Es
sem Gesichtspunkt wichtigen Eigenschaften des Staates abgestellt werden. Dabei müssen das zentrale Anliegen und der Kerngedanke der Verfassungstheorie im Mittelpunkt stehen. Primäre Voraussetzung ist, dass es sich um einen Verband, eine Körperschaft handelt. Außerdem ist jede Verfassung auf einen einzigen, bestimmten Verband beschränkt, der allerdings auch ein Gesamtverband sein kann. Eine „europäische Verfassung" im Wortsinne, die unmittelbar an das Territorium anknüpft oder die rechtlich unverbundenen europäischen Verbände Europäische Union, Europarat und OSZE unter einer Ordnung vereint, erscheint also nicht möglich. Weitere Voraussetzungen sind ein hoher Organisationsgrad und weitreichende Kompetenzen, denn Verfassungen kommen nach der hier vertretenen Auffassung nur für hoch entwickelte Verbände mit politischem Gewicht in Betracht. Außerdem muss es sich um einen allgemeinen politischen Zusammenschluss handeln, denn die Institution der Verfassung ist für die rechtliche Ordnung politischer Gemeinschaften von Menschen und nicht als Steuerungsinstrument für Zweckverbände entwickelt worden. Ferner bedarf es einer nicht unerheblichen Autonomie bei der Aufgabenerfüllung, soll die Institution der Verfassung doch der Selbstkontrolle selbständiger Machtapparate und nicht der Beaufsichtigung von Erfüllungsgehilfen dienen. Zu dieser Autonomie gehört bei einem völkerrechtlichen Verband auch eine Verselbständigung des politischen Willens gegenüber den einzelnen Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen. Deswegen muss zumindest ein erheblicher Teil der wesentlichen Entscheidungen unitarischen Organen überantwortet oder dem Mehrheitsprinzip unterstellt sein. Verstände man den Luxemburger Kompromiss von 1966 als rechtlich bindend, müsste man daher die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaften bis in die späten achtziger Jahre verneinen. Schließlich muss ein verfassungsfähiger Verband von einer engen Verantwortungs- und Solidargemeinschaft getragen sein, die eine Parallele zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft erkennen lässt. denn die Funktion einer Verfassung ist auch die eines grundlegenden rechtlichen Dokumentes, das dem Bürger den Schutz und Beistand der Gemeinschaft garantiert. - Bei einer Supranationalen Union 41 1 sind diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt. Im Einzelfall kann die Verfassungsfähigkeit allerdings daran scheitern, dass den Regierungen der Mitgliedstaaten eine so weitgehende Kontrolle über die Politik der
410
führlich
Vgl. aber grundlegend und zu den nachfolgend aufgeführten Gesichtspunkten ausT. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 404 ff.
41 1 De r Verf. versteht in dieser Arbeit unter „Supranationaler Union" eine von mehreren Staaten zum Zwecke der Integration gegründete, auf ständige Fortentwicklung angelegte, konzeptionell für Aufgaben aller Art offene internationale Organisation, welche ihrer Integrationsfunktion vor allem dadurch nachkommt, dass sie in erheblichen Umfang durch Ausübung von Hoheitsgewalt in den Mitgliedstaaten selbst öffentliche Aufgaben wahrnimmt. vgl. auch die Definition von T. Schmitz (2001), S. 168. Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften fallen somit hierunter.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
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Union eingeräumt ist, dass letztlich nicht mehr von autonomer Aufgabenerfüllung gesprochen werden kann. (d) Staat und Verfa ssung im „wechs elsei tigen Korset t"? Geboren und durchgesetzt in der Epoche der Nationalstaatlichkeit, ist die Institution der Verfassung traditionell mit der Organisationsform des Staates verbunden. Ihre Theorie wurde für den Staat entwickelt, die historischen Verfassunggebungen, die als Referenz dienten, landen in den Staaten statt. Nach diesem vielfach als „klassisch" bestimmtem Verständnis werden die Funktionen und Vorraussetzungen der Verfassung auf das Bild eines in sich geschlossenen, in völ41 2 liger Selbständigkeit handelnden Staates bezogen. Auch C. Schmitt wählte in seiner „Verfassungslehre" eine ähnliche, vergleichbar enge Formulierung, indem er „Verfassung" (kontrastierend zum „Verfassungsgesetz") als Dezision über die 41 3 Form und Grundstruktur eines schon vorgegebenen Staates bezeichnete. Dieses 41 4
auf die Heger sehe Staatsphilosophie zurückgehende staatszentrierte Verständnis von Verfassung lässt die Annahme, es existiere bereits eine europäische Verfassung, ebenso wenig zu wie die Behauptung, die Europäische Union könne sich in näherer Zukunft eine Verfassung zulegen. Der Staatsbezug ist darauf zurückzuführen, dass lange Zeit nur der Staat als territorial gebundene, allein zu allgemeinverbindlicher Entscheidung und zu zwangsweisem Vollzug legitimierte Einrichtung durch seine Souveränität, d.h. sein ausschließliches Recht, über ein definiertes Gebiet einem Geltungs- und Anwendungsbefehl konstitutiv zu r Wirk ung zu verhelfen, die Effektivität der Verfassung garantieren konnte. 41 5 Bezeichnet man nun den souveränen Staat als Rechtsvoraussetzungsbeg riff und die Konstituente, den „pouvoirco nstitua nt", als nur aus diesem Grund frei, besteht nach dem so genannten „normativen staatsbezogenen Verfas41 6 sungsbegriff* folglich eine Konnexität von souveränem Staat und Verfassung , wenn nicht sogar eine wechselseitige korsettartige Verbindung. 41 2 Vgl. W. Wessels, Die europäischen Staaten und ihre Union - Staatsbilder in der Diskussion, in: H. Sch nei der /D. Bie hl/ W. Wessels (Hrsg.), Fö derale Union - Europas Zukunft?, 1994. S. 51 ff.. 53. 413 C. Schmitt, Verfassungslehre. 1928. S. I lff sowie zur Differenzierung von Verfassung und Verfassungsgesetz, ebenda S. 3: „Das Wort .Verfassung* muss auf die Verfassung des Staates, d. h. der politischen Einheit eines Volkes beschränkt werden, wenn eine Verständigung möglich sein soll". 41 4 Fü r Hegel ist der Staat als „die Wirklichkeit der Sittlichen Idee" das „an und für sich Vernüftige", vgl. G.W.F. Hegel, Grundli nien der Philosophi e des Rechts, 1821 . S. 39 8f . (§§257 ff.): Zum modernen sittlichen Staat vgl. W. Pauly , Hegel und die Frage nach dem Staat, in: De r Staat 200 (). S. 38 1 ff., vor allem 392 ff.. E.-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat. 1978. 4 15 Herleitung nach Theorie, 1995. S.605.
D. Nohlen/R.-O. Schtdtze. Lexikon der Politik. Band I: Politische
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Auch hinsichtlich der euro päisc hen D imen sion wur de der Begr iff der Verfa s417 sung zunächst her kömm lic h und über wie gend auf den Staat bez ogen gedacht. In der Konsequenz könne nach dieser Auffassung die Europäische Union keine 418 Verfassung haben, denn sie sei kein Staat. Da sie auch kein Volk im traditionellen Sinne vorzuweisen habe, gebe es noch nicht einmal eine verfassungsgebende Gewalt. Dieser weiterhin von den früheren Richtern am Bundesverfassungsgericht P. Kirchhof u n d D. Grimm vertretenen Vorstellung hat I. Pernice einen „postnationalen" Verfassungsbe griff entge gengest ellt. 4 1 9 Er ist funktional bestimmt und beg rün det sich auf
de m von
P. Häherle formulierten Gedanken, dass es nicht mehr
420 „Staat" geben kann, als die Verfassung konstituiert. Der Staat ist demzufolge der Verfassung nicht vorgelagert, wird von ihr nicht vorausgesetzt, sondern durch sie
konstituiert. Mit dem Wandel des Staates und seinen Funktionen wird nach dieser Auffassung das Bedürfnis nach einem „offenen Verfassungsbegriff" evident.
421
4 1 6 So D. Blumenwitz, Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategi en und Argum ente. Sonderh eft I /200 3. S. 44 ff.. 47 f. 41 Vgl. nur P. Kirchhof. Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: J. Isensee (Hrsg.). Europa als politische Idee und als rechtliche Form. 1993. S. 63 ff., 82. 4.8 In diesem Sinne auch U. di Fabio. Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich? Die Spannung zwischen Unionsgewalt und Souveränität der Mitgliedstaaten ist kein Hindernis für die Einheit Europius, in: FAZ v.2.2.2001. S. 8. „[...]dass es eine europäische Verfassung im herkömmlichen Sinne staatlicher verfassungsgebender Gewalt nicht gibt, wohl aber einen funktionellen Verfassungsvertrag, den man. um Missverständnisse auszuschließen. die Europäische Charta nennen könnte". Allerdings auch ders.. Eine europäische Charta. Auf dem Weg zu einer Unions verfas sung, in: JZ 2000. S. 737 ff., 739. wona ch ..!...] wir uns längst im Strudel des Epochenwechsels befinden, der die Konnexität von souveränem Staat und Verfassung auflöst", und es nicht mehr erlaubt ist, ..auf der klassischen Idee von der Verfassung als Ausdruck staatlicher Selbstherrschaft zu beharren". 4.9 /. Pernice. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, VVDStRL 60 (2001), Zi ff. II. (i.E. ); vgl. auch ders., Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Europas VerfassungEine Ordnung für die Zukunft der Union. 2001, S. 18 ff., 20 f. Grundsätzlich J. Habermas. Die postn atio nale Kons tellat ion. Pol itisch e Essays, 1998. S. 105 ff. sowie spez iell zur Entwicklung in der Europäischen Union D. H. Scheuing. Zur Europäisierung des deutschen Verfassungsre chts, in: J. Drexl u. a. (Hrsg.), Die Europäi sierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997. S. 87 ff. 420 Vgl. P. Haberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 620: ders.. Europäische Verfassungslehre - Ein Projekt, in: ders.. Europäische Verfassungslehre in Einze lstud ien. 1999. S. 16. Ihm letztlich folg end: H. Hofmann. Von der Staatssoziologie zur Soziologie der Verfassung?, in: JZ 1999. S. 1065 ff., 1066; vgl. auch K. Sobotta, Das Prinzip Rechtsstaat. 1997. S. 30 ff. 42 1 Dies umfasst eine „Offen heit" für die rechtliche Erfassun g supra- und internationaler Strukturen gleicher Ziel- und Zwecksetzung, vgl. /. Pernice, Die Europäische Verfassung.
Grundlagenpapier, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Europas Verfassung-Eine Ordnung für die Zukunft der Union. 2001. S. 18 ff.. 20. Für einen vom
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
151
Mit der Supranationalen Union existiert nunmehr eine völkerrechtliche Organisationsform. die dem Staat nahe kommt, doch wird bis heute vielfach in Zweifel gezogen, ob dies schon eine Übertragung der eigentlichen Verfassungsidee zulässt. Zwar bedarf die Union ebenso wie der Staat eines festen Rahmens, der sie bei aller Entwicklungsoffenheit verlässlich in bestimmte Bahnen lenkt und so die vom Verfassungsstaat bekannte Grundsicherheit schafft, doch bleibt eine „Unionsverfassung" vordergründig sowohl in ihrer Legitimität als auch in ihrer normativen Wirkung hinter der eines Staates zurück, da zum einen keine Zurückführbarkeit auf ein Staatsvolk, zum anderen zunächst lediglich eine „Komplementärverfassung", also kein umfassend normhierarchischer Vorrang gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht gesehen werden könnte. Die Debatte war in ihrem Kern letztlich eine um Folgeprobleme, die allerdings oftmals unbenannt blieben. Akzeptierte man nämlich die Möglichkeit einer Verfassung für die Union, verknüpfte sich dies mit der Gefahr einer Verwässerung des Verfassungsbegriffs und damit einer schleichenden Entwertung des Konzepts der Verfassung. Verneinte man sie, drohte je nach den unmittelbar daraus gezogenen Konsequenzen eine vorübergehende Stagnation der Integration mit anschließendem Zentralisierungsschub, ein unzureichend vorbereiteter vorzeitiger Übergang in den „geo-regionalen Vereinigungs-Staat", eine allmähliche Untergrabung der Herrschaft der Verfassung durch immer ausgedehntere „verfassungsfreie Zonen" oder eine weitere Komplizierung der Supranationalen Union durch eine erst noch einzuführende, in ihrer Wirkung schwer berechenbare 42 2 verfassungsähnliche Institution. Nicht nur die Verfassungslehre sah und sieht sich hierbei mit einer grundlegenden Weichenstellung konfrontiert, die man als 42 3 das „Verfassungsdilemma supranationaler Integrationsverbände" umschreiben kann. Staat gelösten Verfassungsbegriff siehe auch
G. Biaggini. Die Idee der Verfassung - Neu-
ausr4 2icht ung im Zeital ter der Glob ali sier ung, in: ZSR 119 (2000 ), S. 44 5 ff.. 463. 2 So T. Schmilz , Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 388 ff. 423
T. Schmitz spricht ähnlich, jedoch in einem etwas zu weitgehendem Ansatz, vom ..Verfassungsdilemma der supranationalen Integration". Als Ausweg aus dem Verfassungsdilemma schlägt ders. (2001), S. 393 ff., die ..vorsichtige Einbeziehung einzelner nichtstaatlicher Organisa tionsfor men in die Verfassungstheorie' vor. Es müsse unterschieden werden zwischen den gewöhnlichen nichtstaatlichen Verbänden, die aus vielfachen Gründen nicht für eine Verfassung geeignet sind, und den wenigen herausragenden Typen, bei denen sich aufgrund einer besonderen Staatsähnlichkeit die Übernahme des Konzepts der Verfassung trotz der damit verbundenen Probleme rechtfertigen lässt. Auf diese Weise lasse sich das zentrale Anliegen der Verfassungstheorie, für eine verlässliche grobe Ordnung der politischen Verhältnisse und eine Grundausrichtung und Mäßigung der öffentlichen Gewalt zu sorgen, in das Zeitalter der relativierten und integrierten Staatlichkeit weitertragen, ohne dass dabei der Kern dieser Theorie, der Grundgedanke der Bindung jedes Machtträgers in einem Herrschaftsverband an übergeordnete rechtliche Vorgaben, verändert würde. Es handelt sich nach Schmitz also um eine Fortschreibung, nicht Verfälschung. Es ist richtig: Dieser Lösungsansatz erlaubt eine möglichst weitgehende Verfassungsgebundenheit öffentlicher Gewalt auch unter den Bedingungen der Globalisierung und Georegionalisierung und
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Insgesamt stößt jedoch der enge Verfassungsbegriff (wie etwa bei C. Schmitt) - nicht nur qua definitionein - rasch auf Grenzen, die der Wirklichkeit geschuldet sind. Visionär im gewissen Sinne ist bereits der Ansatz P. Häberles. der - gleichwohl (aber eben nicht nur) mit Staatsbezug - einen ähnlich weiten Verfassungsbegriff angelegt hat: ..Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, schließt also die - verfasste - Gesellschaft ein. - freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen . d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst (Verfassung ist nicht nur .Staats-'Verfassung)."*
24
Angesichts der ökonomischen und politischen Potenziale, die in einer Gesamtbevölkerung von mehr als 350 Millionen Menschen stecken und wenn es gelingen sollte, diese über demokratische Repräsentation einheitlich zu artikulieren, werden theoretische Einwände, einen „postnationalen Verfassungsbegriff" gebe es nicht, für eine Verfassung brauche man ein „Staatsvolk", der Übergang vom Vertrag auf die Verfassung sei verfrüht oder der Wechsel von der Legitimation durch die Staaten Ministerrat) zur Legitimation durch ein echtes Parlament sei nochSorgen nicht (oder(imnie) gangbar, kaum Widerhall finden. Diese Einwände artikulieren vor einem wachsenden Defizit an demokratischer Legitimation, manchmal aber lediglich Irritationen, weil der gewohnte nationalstaatliche Verfassungsrahmen und die damit verbundene Begriffiichkeit dahinschwinden. Ähnlich verhält es sich 42 5 mit der zögernden Formel „staatlicher Verbund" . Die Politik der „Kernländer" der Europäischen Union ist längst festgelegt; sie kann sich wegen der normativen Kraft des Faktischen einem noch weiter verdichteten und rechtlich verfassten Europa nicht mehr entziehen. „Verfassung" kann also auch in einem weiteren Sinne als rechtliche Grundordnung eines nichtstaatlichen Gemeinwesens, einer Rechtsgemeinschaft oder einer supranationalen öffentlichen Gewalt verstanden werden. Demgemäß können die Gründungsverträge internationaler Organisationen, die formal als multilaterale völkerrechtliche Verträge erscheinen, Verfassungscharakter
42 6
haben.
Der Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union als eines supranationalen Herrschaftsgebildes eigener Art steht damit auf den ersten Blick zumindest begrifflich nichts entgegen.
berücksichtigt außerdem den Bedarf an vorstaatlichen Verfassungserfahrungen im multinationalen Integrationsverband, auf die sich später bei der Erarbeitung einer Staatsverfassung zurückgreifen lässt. Er vermeidet die negativen Folgen einer Integration ohne Verfassung, vernachlässigt aber nicht die Gefahren, die mit einer Öffnung der Verfassungstheorie einhergehen. 424 P. Hiiberle. Verfassung slehre als K ulturw issensc haft. 2. Auflage . Berlin S. 118 f. 4 25 426
So das Bundesverfassungsgericht in Hierzu unter B.II.2.011).
BVerfGE 89. 155 11811.
1998.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
153
(e) Fazit Zugesetzt, der ohne Integration hatsein. sichDer schließlich ein Hoheitsträger herausgebildet, derIm Recht Staat zu überkommene, seit nunmehr dreihundert Jahren gültige und nahezu zum Dogma erhobene Konnex von Staat und Recht, von Staatsgewalt und Rechtsetzung wird hiermit relativiert, wenn nicht durchbrochen. Regierungsgewalt und Rechtsetzung dürfen nunmehr als Erscheinungen begriffen werden, die auch jenseits der Staatlichkeit erfolgen. Nettesheim ist zuzustimmen, wenn die damit verbundenen Schwierigkeiten - entgegen gelegentlich geäußerter Befürchtungen - nicht überzeichnet werden sollten: „Kategorien wie Kompetenz. Zwang, Recht etc. lassen sich ohne Probleme auch außerhalb staatlicher Kontexte denken. Das Völkerrecht bietet hierfür seit Herausbildung des Konzepts der internationalen Organisation in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts genügend Beispiele. Insbesondere warder Rechtsbegriff zu keiner 42 7 Zeit ausschließlich auf den Staat bezogen." Insbesondere die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft bedient sich nicht eines eindeutigen Verfassungsbegriffs. Einige weisen zu Recht darauf hin. dass je nach Erkenntnisinteresse, verfassungstheoretischem Standpunkt und normativem Anliegen man sich des Begriffs in deutlich unterschiedlicher Bedeutung bedient. 42 8 Insofern könne es nicht verwundern, dass sich die Diskussion um Stand und Entwicklung der europäischen Integration, um Richtung und Finalität des Prozesses auch und zuerst auf begrifflicher Ebene abspielt(e). Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt, die eine Verwendung eines angereicherten, wenngleich nicht legitimistischen Verfassungsbegriffs als sinnvoll erscheinen lässt. Es muss sich demnach um einen Verfassungsbegriff handeln, der auf die Problematik zugeschnitten ist, die sich mit der Einbindung und Legitimierung von Herrschaft im 21. Jahrhundert jenseits des Nationalstaates verbindet (konkr eter, aber abstrahierender normativer Verfassun gsbegriff). 42 9
427
M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S. 507 ff. Staatliches Recht genoss zwar vor dem Hintergrund der staatlichen Zwangsgewalt eine besonders prägnante Normativität: an seiner Seite stand aber immer auch Recht, hinter dem diese Gewalt nicht stand, das aber gleichwohl in seiner Existenz und Wirksamkeit als Recht nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Insofern bedarf es eines Hinweises, dass die Durchsetzung des Unionsrechts in den Händen der Mitgliedstaaten liegt, nicht. 42 8 So etwa M. Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter www.fide2002.org /reportseulaw.htm). 429 Zum Ganzen P. Craig, Constitutions. Constitutionalism and the European Union, in: 7 ELJ 2001. S. 125 ff. Zur Begriffsbildung vgl. zusammenfassend etwa M. Nettesheim
(2002). mit zahlreichen Nachweisen sowie R. Bieber, Verfassungsfrage und institutionelle Reform, in: T. Bruha u. a. (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?. 2001, S. 111 ff.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Ergänzend und die vorherigen Verfassungs-Prämissen aufgreifend wären für eine „Unionsverfassung" zunächst als einzelne formelle Voraussetzungen zu nennen: - der durch normativen Gesamtakt erlassene Normenkomplex (was allerdings eine allmähliche Verfassungsherausbildung und Verfassungsbegründ ung durch richterliche Rechtsfortbildung ausschließen würde); - die Schrif tfor m; der Vorrang (mit der Kons eque nz, dass die Union sverfa ssung 43 0 nur in einem Verfassungsvertrag liegen kann ); - die ersch werte Abänderbark eit und schließlich - die Selbstkennzeichnu ng als Verfassung. Materielle Voraussetzungen einer „Unionsverfassung" wären etwa: - die organisa torische Ausgestalt ung der Union ; - die Bestim mung des Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten (bis h in zum Bereitstellen von Sanktionsinstrumenten für den Krisenfall, dass ein Mitgliedstaat aus der Verfassungsordnung ausbricht); - die Schaffung der verbandsbezogenen rechtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der supranationalen öffentlichen Gewalt und schließlich - die poli tisch-philosophische Grundausric htung der Union. Im „Streit um die Verfassung der Europäischen Union" ging es allerdings nicht nur um Begrifflichkeiten: Er dreht sich bis heute auch allgemein um die politische und staatstheoretische Bedeutung des Primärrechts der Union auf der einen und des nationalen Verfassungsrechts auf der anderen Seite, und damit auch um die Bedeutung der Institutionen Union und Staat. (3)
Das
Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern
Von he C(arlo) Schmid stammt das geflügelte Wort, ganz eineaus eu-den ropäisc Verfass ung zu schreiben . Man brau che es nurseijewe ils leicht, das Beste nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Richtig an dieser Aussage ist. dass es in Demokratien allgemein gültige Wirkungsmechanismen gibt. Politische Verantwortlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung finden sich auch in den verschiedenen instititutionellen Ausprägungen und Grundrechten der EU-Mitgliedstaaten. Der Rekurs auf nationale Verfassungsvorverständnisse erfordert Umsicht. Das Originäre an der Europäischen Union ist - wie bereits aufgezeigt - ihr nichtstaatlicher Charakter, ihr ..Doppelcharakter als Staaten- und Bürgerunion", wie er z. B. in einer Föderation von Nationalstaaten zum Ausdruck käme. Nationalstaatliche Verfassungstraditionen sind infolgedessen nicht eins zu eins übertragbar. Eine europäische Verfassung kann nur eine nicht-staatliche Verfassung darstellen, die die nationalen Verfassungsordnungen ergänzt. Es gibt auch 43 0
Vgl. zu der Abgrenzung ..Verfassung" - „Verfassungsvertrag" unten B.II.2.f)qq)(l).
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
noch keinen komplementären europäischen Demos komplementäre europäische Öffentlichkeit.
Verfas sungsentw icklung 41 1
155
und erst ansatzweise eine
Eine Analyse nationaler Verfassungs-Vorverständnisse kann gerade auch im Hinblick auf das Konventsergebnis dreierlei leisten: - eine Hi lfestellung zur Wahrn ehmu ng der eingeflossenen „europagee igneten" 41 2 Strukturen und Institutionen; - einen Beitrag zu m besseren Verständn is vorhe riger Verfa ssun gspro jekt e für die Europäische Union - mit ihrer z. B. eher supranational-föderalen oder eher intergouvernemental - souveränistischen Ausrichtung; - eine Verdeutlichung der Grenze n für die Übert ragun g von nationalen Modelle n 43 3 im Rahmen der europäischen Verfassunggebung. Alle konstitutionellen Sonderwege, die in den alten (insbesondere in Großbritannien), neuen und zukünftigen Mitgliedstaaten bestehen, verdeutlichen: Eine Verfassung ist eine Existenzbedingung eines modernen demokratisch organisierten Gemeinwesens. Sie kann dazu beitragen, eine historische Ausnahmesituation zu bewältigen. Die italienische Verfassung (1947) wurde wie das Grundgesetz (GG) und die späteren Verfassungen von Griechenland (1975), Portugal (1976) und Spanien (1978) nach dem Ende eines diktatorischen Regimes ausgearbeitet. Ein vergleichbarer Umstand prägt z. B. auch die polnisc he Verfassung von 1997. Den Schöpfern der Verfassung der V. Französischen Republik ging es 1958 dagegen darum, einen 43 1 Vgl. aber J.H.H. Weiler, Der Staat „über alles". Demos. Telos und die MaastrichtEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR 44 (1996). S. 91 ff. (gemeinsam mit A. Ballmann un d F. Mayer).Aus der nationalstaatlichen Sphäre vertraute Baumuster können beim Bürger eher ein Gefühl der Transparenz und Verständlichkeit vermitteln als eine
,.sui generis" kann - Konstruktion. Eine zu ausgeprägte nationaler Verfassungsvorstellungen aber zum .Missverständnis führen,Verwendung dass über eine EU-Verfassung eine Staatlichkeit der Union angestrebt wird („Superstaat"). 43 2 So gibt es bei den existierenden, nationalstaatlichen Zweikammer-Systemen durchaus „Model le" für echte supranationale zweite Ka mmer n, vgl. nur den deutschen Bundesrat oder den US-Senat - und solche, die lediglich mit einer stärkeren Einbeziehung nationaler Parlamentarier arbeiten: bei den Exekutivmodellen stehen sich z. B. das Modell eines parlamentarisch-verantwortlichen Regierungschefs und das einer direkt gewählten exekutiven Spitze gegenüber. Vgl. allgemein sowie für die beidseitige Wechselwirkung auch W. Kluih, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Gestalter und Adressaten des Integrationsprozesses - Grundlagen und Problemaufriss, in: ders. (Hrsg.), Europäische Integration und Verfassungsrecht. Eine Analyse der Einwirkungen der Europäischen Integration auf die mitgliedstaatlichen Verfassungssysteme und ein Vergleich ihrer Reaktionsmodelle, 2007, S. 9 ff. 4 33 Aus dem Doppelcharakter der Staaten- und Bürgerunion folgt z. B. - dass anders als in den meisten nationalen Verfassungen - in einem EU-Verfassungsvertrag ein „Staaten-
Legitimationsstrang" im Rat und ein „Unions-Legitimationsstrang" über das Europäische Parlament und die Kommission notwendig ist.
156
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
ineffizienten Parlamentarismus zu überwinden und eine starke Exekutive zu schaffen. Das Grundgesetz (GG) hatte in der (alten) Bundesrepublik Deutschland einen besonderen historischen Stellenwert. In einer geteilten Nation bot es die Möglichkeit, über einen „Verfassungspatriotismus" einen Identifikationspunkt für den verlorenen Nationalstaat zu bilden. Aus deutscher Perzeption hat dabei das Grundgesetz vor allem auch abwehrenden Charakter gegenüber Übergriffen des Staates. Die Verfassungen anderer Mitgliedstaaten stehen nicht in gleichem Maße für diesen positiv besetzten Abwehrgedanken. Während der europäischen Verfassungsdebatte durfte man deshalb außerhalb von Deutschland nicht die gleichen Konnotationen beim Begriff einer etwaigen EU-Verfassung erwarten. Vielmehr überwogen (allerdings auch letztlich in Deutschland) die Befürchtungen einer Staatswerdung Europas. 43 4 Betrachtet man nun die Strukturen der am Konvent beteiligten Staaten, so er43 5 Aus deutscher Sicht sind die gibt sich insgesamt ein eher heterogenes Bild. naheliegendsten Vergleichsparameter für Verfassungen die des Grundgesetzes von 1949 und der Nachkriegs-Länderverfassungen, wobei für die Struktur des Grundgesetzes wie für die Verfassungen der Länder die Zusammenfassung der 43 6 Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde und im Grundgesetz - kontrastie43 7 rend zur Struktur der Weimarer Verfassung - die Akzentuierung der (meisten ) Grundrechte durch ihre „Position" an der Spitze der Verfassung, in einem Teil I 43 8 („Die Grundrechte" - Art. I bis 19 GG) kennzeichnend sind.
Der deutschen Verfassu ngsstru ktur is t die Italiens (Verfass ung von 1947) n icht unähnlich. Diametral unterschiedlich erweist sich hingegen die Verfassungsordnung Großbritanniens. Großbritannien verfügt mit der Magna Charta von 1215
43 4 Dies galt freilich immer weniger in Frankreich (vgl. die Rede von Staatspräsident J. Chirac vor dem Deutschen Bundestag vom 27.06.2000, in: FAZ vom 28.6.2000. S. 10 f.. in der der Verfassungsbegriff zentral für die Bestimmung der französischen Rolle in der und durch die EU ist). 4 35
Zu diesem Ergebnis kommt auch F.C. Mayen Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz - Merkmale europäischen Verfassungsrechts?, in: Integration 4/2003. S. 398 ff.. 405 f. 436 Vgl. auch Art. 79 Abs. 1 GG. 43 7
Siehe aber die justiziellen Grundrechte in Art. 101 ff. GG. Eine Besonderheit bildet die Einbeziehung der Art. 136 bis 141 der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz durch Verweis. Materiell besteht grundsätzlich eine Gleichrangigkeit der Grundgesetzbestimmungen, allerdings ergibt sich durch die ..Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG eine Abstufung in der Änderungsfestigkeit der Verfassungsartikel. Insgesamt verwundert es nicht, dass aus deutscher Sicht die Struktur des Konventsentwurfs eines Verfassungsvertrages vor allem unter zwei Aspekten Kritik fand: zum einen wegen 43 8
der Positionierung der Grundrechtecharta lediglich in Teil II des Entwurfs, zum anderen aufgrund des unklaren Verhältnisses zwischen Teil I und insbesondere Teil III des Entwurfs.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
157
zwar über das vergleichsweise älteste geschriebene Verfassungsdokument, hat aber bekanntlich kein einheitliches, geschriebenes Verfassungsrecht. Dieses setzt sich zum einen aus kodifizierten Texten, wie eben der Magna Charta oder der Bill of Rights von 1689 bis zum Human Rights Act (1998) zusammen, zum anderen aber aus den nicht kodifizierten Grundsätzen des Common Law wie dem Grundsatz der „Parliamentary Sovereignty". Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die kodifizierten Rechte mit Verfassungsrang keine hervorgehobene Stellung 43 9 innerhalb des Rechtssystems einnehmen. Die Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten lassen sich innerhalb der beiden „Pole" - einerseits Konzentrierung aller Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde, andererseits weitgehend ungeschriebene, nur in Einzelaspekten auf bestimmte Urkunden zurückgreifende Verfassung-ansiedeln. Am nächsten kommen der ersteren Erscheinungsform mit übersichtlichen, einheitlichen Verfassungsur40 kunden die Verfassungen von Belgien (1831 r , Luxemburg (1868), Griechenland (1975) und Portugal (1976). Ebenso sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen in Polen (Verfassung von 1997), der Slowakei (1992), Slowenien (1991), Litauen (1992) und beim Konventsteilnehmer Bulgarien (1991) in einer Urkunde zusammengeführt. In Zypern beanspruchte während des Konventsverfahrens die Verfassun g von 1960 nur für den griechischen Teil der Insel Geltung, we shalb zu einem gewissen Grade von „ungeklärten Verfassungsverhältnissen" gesprochen werden kann. 44 1 In manchen Verfassungsordnungen ist allerdings nicht unmittelbar erkennbar, dass das als Verfassung apostrophierte Dokument nicht alle geltenden „Verfassungsbestimmungen" widerspiegelt, ja wiedergibt. So finden sich etwa in der Verfassungsurkunde Verweise auf frühere Normschichten oder auf ergänzende 439
Sie stehen vielmehr auf derselben Rangstufe wie andere Parlamentsgesetze. Dem-
zufolge könnten auch durch entgegenstehende vgl. insgesamt P. Birkinshaw, ..Statutes" Britischer Verfassungsrechte Landesbericht, in: aufgehoben J. Schwarzewerden, (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 208 ff. 440 Zur Vorbildfunktion der belgischen Verfassung allgemein H. Hauenhauer, Europäische Recht sgesc hicht e. 1992. S. 565 ff. Die belgis che Verfa ssung , die bis heute Best and hat. verbriefte die bedeutendsten Freiheitsrechte als geltendes Recht und stellte erstmals in Europa die Staatsordnung auf eine demokratische Grundlage, ohne allerdings das Bestehen der Monarchie anzutasten, vgl. ebenso IV. Skouris, Die kontinentale(n) europäische(n) Verfassungskultur(en), in: M.Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates. 2001. S. 85 ff.. 90. Der Verfassungstext von 1831 war Vorbild für zahlreiche späteren europäischen Verfassungsurkunden, insbesondere für die griechische Verfassung von 1864 (deren Grundentscheidungen auch den Kern der heutigen griechischen Verfassung von 1975 bilden). 44 1 In der Türkei galt zu diesem Zeitpunkt noch die Verfassung von 1982 (die im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen grundlegende Änderungen erfahren sollte). Eine Reihe von
kemalistischen Reformgesetzen bleiben allerdings gegen diese Verfassung abgeschirmt (Art. 174 der türkischen Verfassung).
158
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Normen. Beispielhaft ist hierbei Frankreich zu nennen, wo mit der Verfassung der V.Republik von 1958 zwar eine einheitliche Verfassungsurkunde existiert; jedoch verweist diese in ihrer Präambel auf die Präambel der Verfassung von 1946. die wiederum die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit Verfassungsrang ausstattet. Daneben bestehen sogenannte „Lois organiques", die die Verfassung weiter konkretisieren. Eine vergleichbare Normenkategorie findet sich in Spanien zur Ausgestaltung der Verfassung von 1978. In der Verfassung der Niederlande von 1983 stehen Verweise auf einzelne Bestimmungen der Verfassung von 1972, die somit weiter Geltungskraft entfalten. In Ungarn gilt die Verfassung von 1949. die 1989/90 umfassend revidiert wurde. Die Verfassung von Lettland lässt sich auf einen Text aus dem Jahre 1922 zurückführen, der 1998 umfängliche Änderungen erfahren durfte. 44 2 Wie die Beispiele von Irland und Dänemark zeigen, können verfassungs44 3 ergänzende Bestimmungen durchaus unterschiedlicher Natur sein. Während in 44 4 Schweden vier „Grundgesetze" mit Verfassungsrang bestehen , beruhte auch die Verfassungsordnung Finnlands (gewissermaßen als Relikt aus den Zeiten der Zugehörigkeit Finnlands zum schwedischen Königreich) bis in die jüngste Zeit auf mehreren Verfassungsgesetzen mit Verfassungscharakter. Nach einer umfassenden Verfassungsreform wurde 1999 eine Verfassung für Finnland verkündet, die im Jahre 2000 in Kraft trat. Eine Eigentümlichkeit des finnischen Verfassungsrechts besteht allerdings dahingehend fort, als materielle Abweichungen von der Verfassung durch „Verfassungsausnahmegesetze" zugelassen werden können 44 5 (Paragraph 73 (1) der finnischen Verfassung). Die Verfassung von Malta ist
44 2 Davor bestand ein eigenes Verfassungsgesetz über Bürgerrechte von 1991. Diese finden sich nunmehr im Schlusskapitel der Verfassung. 4 43 Die Verfassung von Dänemark (1953) wird etwa durch das ..Thronfolgegesetz"
ergänzt. In den Irland sind alle die sich die europäische Integration explizit in Wortlaut der Verträge, derzeitigenaufVerfassung (Ausgangsfassung aus dem gründet, Jahre 1937) aufgenommen und damit gleichsam in das irische Verfassungsrecht einbezogen, vgl. auch F.C. Mayer. Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz - Merkmale europäischen Verfassungsrechts?, in: Integration 4/2003. S. 398 ff.. 404f: ..Damit genügt es nicht, zur Ermittlung des geltenden irischen Verfassungsrechts den Verfassungstext von 1937 aufzuschlagen, vielmehr muss man auch das europäische Primärrecht heranziehen." 44 4 Neben der Verfassung (..Regeringsformen") aus dem Jahre 1975, und dem ..Thronfolgegesetz" sind dies Gesetze mit Verfassungsrang, die jeweils grundrechtliche Gewährleistungen zur Pressefreiheit („Tryckfrihetsförordningen") und zur Meinungsfreiheit („Yttrandefrihetsgrundlagen") enthalten . 44 5 Demzufol ge kann der Gesetzge ber unter denselben Voraussetzungen, wie sie f förmliche Verfassungsänderung erforderlich sind. Gesetze verabschieden, die nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Der Unterschied zu einer Verfassungsänderung besteht darin, dass die „Verfassungsausnahmegesetze" zwar in einem qualifizierten Verfahren zustande kommen, jedoch durch ein einfaches Parlamentsgesetz zurückgenommen werden können (allein in den Jahren 1919 bis 1995 ist in 869 Fällen ein Verfassungsausnahmegesetz verabschiedet worden). In diesem Kontext ist beachtenswert, dass nach der Verfassung des
ür eine
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
159
gekennzeichnet durch die Besonderheit, dass sie durch sogenannte „Schedules" ergänzt wird. Auch in Österreich ist eine „Streuung" von Normen mit Verfassungsrang über die gesamte Rechtsordnung zu beobachten. Obgleich mit dem Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929 (zurückgehend auf den großen Verfassungsrechtler H. Kelsen) ein hervorgehobener und allgemein als „österreichische Verfassung" identifizierter Text vorliegt, finden sich doch mehr als zweihundert Verfassungsbestimmungen in über hundert Bundesgesetzen, die letztlich alle - als „Bundesverfassungsgesetze" - im gleichen Rang stehen und mit dem Bundes* Verfassung sgesetz die eigentliche „Verfa ssung" bilden. Ge wisse Parallelen zu einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) im europäischen Kontext sind nicht zu übersehen. In der Tschechischen Republik gilt die Verfassung von 1992. Diese bezieht neben weiteren „Verfassungsgesetzen" in ihrem Art. 3 eine „Grundrechtecharta" (ebenfalls 1992) als Bestandteil der Verfassungsordnung mit ein - bemerkenswert im Hinblick auf die europäische Struktur. (a) Nationale Erfahrung swerte i n der Verfassunggeb ung Hinsichtlich des srcinären Verfassunggebungsprozesses offenbarten zum Zeitpunkt der Einberufung des Verfassungskonvents alle vierzehn (geschriebenen) Verfassungen der Mitgliedstaaten - in der unterschiedlichsten Form - Anschauungsmaterial für demokratische, legitimitätsstiftende Verfahren des Zustandekommens. Die „Verfassungsschöpfung" erfolgte teilweise durch ein „normales" Parlament, häufiger aber durch eine eigens gewählte verfassunggebende Versammlung. Zusätzlich ist das Instrument des Volksentscheids zu nennen oder sogar, wie 1958 in Frankreich, ein Referendum ohne vorherige parlamentarische Beratung und Verabschiedung. Grundgesetz (GG) bildet als der der Parlamentarische Das Rat nicht direkt gewählt war, insofern sondern eine sich Ausnahme, aus Vertretern 44 6 Landtage der westdeutschen Länder zusammensetzte. Nach den Erfahrungen des Europäischen Rates in Nizza lag es nahe, an nationale Erfahrungen der Verfassunggebung anzuknüpfen. Fragen von derart grundsätzlicher Tragweite, wie 44 7 sie im Post-Nizza-Prozess (teilweise erneut) anstehen sollten , ließen sich alleine durch das herkömmliche Verfahren der Regierungskonferenz kaum lösen. Nach den positiven Erfahrungen bei der Ausarbeitung mit der Grundrechte-Charta 44 8 sprach deshalb viel dafür, diese mit der Konvent-Methode zu nutzen.
Konventsteilnehmers Rumäniens von 1991 mit Zweidrittelmehrheit verfassungswidrige Gesetze bestätigt werden können (Art. 145 der Verfassung). Die Ratifi zierung erfolgte durch die 44 7 44 8
allerdings demokrati
Vgl. unter B.II.2f)mm). Hierzu umfassend unter B.II.2f)pp) und B.V. I.
sch gewählten - Landtage.
160
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
(b) Das Vorvers tändni s von Demo kratie , Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung Hinsichtlich der Axiome Demokratie und Gewaltenteilung sowie bezüglich „direkter Mitwirkungsrechte" offenbaren die Verfassungen aller Mitgliedstaaten einheitliche Elemente: Alle begründen die Legitimation der Staatsgewalt im Willen des Volkes, das sich in regelmäßig stattfindenden freien Wahlen äußert. Das Volk, d. h. die Summe aller Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, ist der letzte 44 9 legitimatorische Ableitungspunkt für die politische Herrschaft. Der „StaatsLegitimationsstrang" bildet sich in den nationalen Arenen (nationalen Parlamenten und nationaler Öffentlichkeit) und wird für den europäischen Kontext im Rat formuliert. Er bleibt jedoch ein national-vermittelter Legitimationsstrang, der mit fortschreitender Integration nicht ausreicht. Das Demokratieprinzip kommt zwar in den Nationalstaaten ungeschmälert zur Geltung, aber den Nationalstaaten schwinden die Entscheidungsbefugnisse. Diese wachsen auf europäischer Ebene an. mit der Folge, dass sich auch dort ein immer stärkeres Bedürfnis nach einer unmittelbaren, nicht von den Mitgliedstaaten abgeleiteten demokratischen Substanz ausgebildet hat. Für mehr Akzeptanz von Entscheidungen der Europäischen Union bildet sich deshalb das Erfordernis eines „Unions-Legitimationsstrangs" heraus, der besonders in den Organen Europäisches Parlament und Kommission seinen Ausdruck zu finden hat. In allen Verfassungen findet sich - bei unterschiedlichen Lösungen im Einzelnen - eine Aufteilung der exekutiven, legislativen und judikativen Funktionen der Staatsgewalt auf verschiedene Organe, ebenso wie die Unabhängigkeit der Justiz. Die gleichzeitige Exekutiv- und Legislativtätigkeit des Europäischen Rates ist in dieser Hinsicht systemfremd (wenngleich in der „sui generis" Architektur der Europäischen Union das klassische Montesquieu'sehe Prinzip der Gewalten45 teilung wahrscheinlich nicht streng anwendbar sein mag). " Kennzeichnend für den modernen europäischen Verfassungsstaat ist eine Interdependenz zwischen Regierung und Parlament. Dabei sind die Regierungen dem Parlament politisch verantwortlich. 45 1
449 450
Vgl. etwa Art. 20 Abs. II GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus."
A. Juppe un d J. Toubon forderten daher in ihrem Verfassungsentwurf vom 28.06.2000 (ganz in der französischen Verfassungstradition) exekutive und legislative Tätigkeiten klarer voneinander zu trennen, vgl. A. Juppe/J. Toubon. Constitution de l'Union Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l'Europe, vom 28.6.2000. abrufbar unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Ein anderer Mangel der Gewaltenteilung zwischen europäischer Exekutive und europäischer Legislative könnte darin zu sehen sein, dass das Europäische Parlament, zunehmend in die administrative Umsetzung von Ratsbeschlüssen durch die Kommission (im Ausschuss- /..Komitologie"Verfahren) eingreifen möchte. Kritisch ist ebenfalls zu erwähnen, dass das Europäische Parlament wiederholt den Anspruch erhebt, über sein Haushaltsrecht die exekutive GASP mitzugestalten.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
161
Im Allgem einen ist die Stellung der Parlamente in den Mitgliedsta aten stark ( insbesondere in Mitgliedstaaten und Beitrittsländern mit Diktaturerfahrung). Einzig die Stellung der französischen Nationalversammlung, die noch nicht einmal über volle Geschäftsordnungsautonomie verfügt, ist eher schwach. Korrespondierend zu dieser Schwäche des Parlaments verfügt die französische Exekutive über ein hohes Maß an autonomen Normsetzungskompetenzen. Die Demokratien in den Mitgliedstaaten sind repräsentativ verfasste Demokratien. Das Element direkter Demokratie tritt ergänzend hinzu. Direkte Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung - in Form von Volksbegehren und Volkentscheiden - sind im mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht die Regel (nicht aber in Deutschland, dessen Demokratie - auf Bundesebene - wohl die repräsentativ ausgeprägteste in den Mitgliedstaaten ist). Bei Fragen des EU-Beitritts, der Vertragsänderung oder der Euro-Einführung können diese Volksrechte 45 2 bekanntlich eine gewichtige Rolle spielen. Die Mitgliedstaaten weisen unterschiedliche Erfahrungen auf, was den Wert eines Zwei-Kammersystems für die Parlamentarisierung der Europäischen Union anbelangt (das britische Oberhaus ist beispielsweise relativ einllusslos und auch nicht in indirekter Form demokratisch legitimiert). In Dänemark. Finnland. Griechenland. Luxemburg, Portugal und Schweden besteht das Parlament nur aus einer Kammer. Die anderen Staaten besitzen Zweite Kammern, die die Gebietskörperschaften in den Mitgliedstaaten repräsentieren. In Frankreich vertreten etwa die Abgesandten der Gebietskörperschaften im Senat das „tiefe Frankreich". Diese zweiten Kammern weichen nach Struktur- und Kompetenzen erheblich voneinander ab (der französische Senat verfügt in der Gesetzgebung nur über ein suspensives Veto gegenüber der Nationalversammlung). Nur im Falle von Deutschland. Belgien und Österreich spielen die zweiten Kammern eine traditio45 3 nelle föderale Rolle im Gesetzgebungsprozess.
45 1 Im Rahmen einer weiteren Ausbildung der EU-Exekutive stellt sich die Frage, inwieweit diese aus einer Mehrheit im Europäischen Parlament hervorgehen sollte. 45 2
Siehe nur die Regelungen in Dänemark. Frankreich. Großbritannien. Irland. Finnland und Österreich. Aus der eigenen verfassungsrechtlichen Tradition heraus schlugen A. Juppe un d J. Toubon (2000) ein Gesetzesinitiativrecht für europäische Bürger vor. ebenso die Annahme oder das Außerkraftsetzen („referendum d'abrogation") durch Bürgerreferenden. So interessant dieser Vorschlag erscheint: grundsätzlich setzt er eine europäische Öffentlichkeit voraus, die sich erst noch entwickeln muss. 45 1 Bislang gibt es in der Europäischen Union eine institutionelle Dreiecksbeziehung zwischen Rat. Europäischen Parlament und Kommission. Die europäische Legislative wird aus Rat und Europäischen Parlament gebildet, die europäische Exekutive aus Kommission und Rat (mit einer dominierenden Rolle des letzteren in weiten Bereichen), die europäische Judikative aus dem EuGH. Wann immer es um die Einführung einer föderalen zweiten EU-Kammer neben dem Europäischen Parlament ging, war eine Bikameralisierung der Europäischen Union gemeint, in der ein stärker repräsentatives Europäisches Parlament
162
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Im Hinblick auf die Exekutive eröffnen sich zwei Grundmodelle in den Mitgliedstaaten. Der Normalfall ist eine politische Regierung, die aus den Machtrelationen im Parlament hervorgeht (etwa mit einem Bundeskanzler, einem Ministerpräsidenten oder einem Premierminister mit Richtlinienkompetenz an der Spitze). Diese Exekutive ist gegenüber dem Parlament verantwortlich. Hierbei ist die Möglichkeit des Misstrauensvotums zu erwähnen, wobei der Regierungschef in Deutschland. Spanien und Belgien besonders durch ein „konstruktives Misstrauensvotums" geschützt ist. Daneben existiert die „Einrichtung" eines repräsentativen Staatsoberhauptes mit begrenzten, eben überwiegend repräsentativen Befugnissen. Anders stellt sich die Situation in Frankreich dar. Hier besteht eine exekutive Doppelspitze aus Staatspräsident und Premierminister. Der Premierminister geht als Regi erun gsche f au s de m Parl ament hervo r und unterliegt dessen M isstr auensvotum. Dies gilt nicht für den französischen Staatspräsidenten: er ist zugleich oberstes Repräsentations- und Exekutivorgan (insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der er über eine Art Richtlinienkompetenz verfügt). Er leitet seine Autorität aus der Direktwahl durch die Bevölkerung ab und ist damit aus französischer Sicht unmittelbar und souverän legitimiert wie das Parlament - und deshalb diesem auch nicht verantwortlich. Ausfluss dieser besonderen direkten Legitimation ist das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen.
454
mit europaw^it einheitlichen Wahlrecht die erste Kammer der EU bilden und der Rat sich in Richtung einer Staatenkammer entwickeln sollte. Die Kommission wäre tendenziell zur Exekutive geworden (einschließlich einer Aufgabe des Prinzips der nationalen Repräsentation dort). Zu entscheiden wäre in diesem Modell, ob die Vertreter in der Staatenkammer ernannt oder direkt gewählt werden sollen (siehe die Beispiele Deutscher Bundesrat oder US-Senat) bzw. ob und wie das demographische Gewicht zum Tragen zu bringen wäre (z. B. von drei bis sechs Stim men wie im Bundes rat oder je zwei Stim men wie im US- Sena t). Bei dieser Bikameralisierung der Europäischen Union darf aber nicht übersehen werden, dass auch die im Rat vertretenen mitgliedstaatlichen Regierungen durch ihren nationalen Parlamente demokratisch legitimiert sind. Als solche haben sie einen demokratisch hergeleiteten Anspruch, gestaltende Akteure im europäischen Organsystem zu sein. Insofern erscheint es in einer ..Staaten- und Bürgerunion" problematisch, den Rat in eine rein nachgeordnete legislative zweite Kammer herabzustufen. Für viele Mitgliedstaaten stand deshalb während des Konventsprozesses bei der etwaigen Einrichtung einer zweiten Kammer nicht der Rat im Vordergrund, sondern die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente (vgl. insofern die Vorschläge von Kommissar C. Patten und Premierminister T. Blair für die Einrichtung einer zweiten Parlaments-Kammer aus nationalen Parlamentsangehörigen, in ihren Reden vom 26. 10.2000 bzw. 06. 10.2000). Die französischen Vorschläge für eine aus nationalen Parlamentariern beschickten zweiten Parlaments-Kammer dürften sich - neben Souveränitätsvorbehalten - auch aus den schwachen parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten der Assemblee nationale in der Europapolitik erklären. Eine zweite Kammer würde diese Kontrollrechte verbessern (während der deutsche Bundestag bereits nach Art. 23GG über breite Mitwirkungsmöglichkeiten verfügt). Juppe un d Toubon (2000) schlugen vor diesem Hintergrund ein Zwei-Kammer-System vor. mit einem Europäischen Parlament (dessen exklusive Gesetzgebungszuständigkeit allerdings durch die Tagesordnung der europäischen Regierung bestimmt wird) sowie eine „Kammer der Nationen" (aus Mitgliedern der nationalen Parlamente). Die Kammer ist gedacht als Garant des Subsidiaritätsprinzips und vitaler nationaler Interessen eines Mitgliedstaates.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
163
Effizienz (über starke Gemeinschaftsorgane mit Mehrheitsentscheidungen im Rat) und demokratische Legitimation (über verstärkte parlamentarische Kontrollrechte) sind auch das Ergebnis einer nachvollziehbaren Aufgabenteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten bringen hier sehr unterschiedliche verfassungsrechtliche Vorerfahrungen ein. Wenn der Föderalismus eine politische Organisationsform darstellt, in der jede staatliche oder regionale Ebene in einer Reihe von Aufgabenbereichen endgültige Entscheidungen treffen kann, dann wird man neben Deutschland und Österreich nur noch Belgien als einen föderalen 45 5 Staat bezeichnen können. Im deutschen Verbund-Föderalismus fallen die Gesetzgebungszuständigkeiten grundsätzlich den Ländern zu. Der Bund nutzt seine speziellen Gesetzgebungs-Kompetenzen allerdings so extensiv, dass für die Länder derzeit 45 6 „unter dem Strich" nur wenige Bereiche übrig bleiben. Der Bund ist dabei allerdings fast immer auf eine Mehrheit im Bundesrat und auf eine Umsetzung über die Verwaltungen der Länder angewiesen. Die anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen kennen keine bundesstaatlichen Strukturen (in der Verfassung der V. Republik Frankreichs gibt es beispielsweise keine hierarchischen Kompetenzbestimmungen). Es lässt sich lediglich eine allmähliche Entwicklung weg vom Unitarismus beobachten (allerdings von oben nach unten und nicht von unten nach oben ). Spani en hat 1978 - mit noch offenem Ausgang - eine Dezentralisierung begonnen. Ähnliches gilt ansatzweise für Polen. Italien hat durch die Einführung der Direktwahl des Präsidenten des Regionalausschusses zwar die Legitimität der Regionen gestärkt, ihre Zuständigkeiten und Finanzausstattung freilich nicht erweitert. In Frankreich ist ein (schüchterner) Dezentralisierungsprozess eingeleitet, der inzwischen aber - trotz aller Auflockerung des Einheitsstaates - ins Stocken geraten ist (vgl. nur das „Problemfeld" Korsika). Dieser Prozess soll erklärtermaßen nicht in einen Föderalismus münden. Großbritannien schließlich hat 1998 Gesetze beschlossen, die Schottland, Wales und Nordirland eine - begrenzte - Regionalautonomie geben sollen. Insgesamt ist und war es beim Herangehen an die europäische Verfassungsdebatte entscheidend, die nationalen Verfassungsvorverständnisse mitzuberücksichtigen. Die bislang vorliegenden Verfassungsentwürfe zeig(t)en, welche große Rolle die nationalen Ausprägungen demokratischer Wirkungsprinzipien spielen. 45 4 Die Stellung des US-Präsidenten ist insofern noch stärker, als er Regierungschef ist und ebenfalls direkt - über Wahlmänner - gewählt wird. 4 55 Der schweizerische Wettbewerbsföderalismus ist insoweit nochmals eine Besonderheit. da er den Gliedstaaten z. B. auch autonome Steuererhebungskompetenzen einräumt; nach dem US-Trennungsföderalismus umfassen dagegen die jeweils der Bundesebene zugewiesene Sachkompetenz alle Funktionen: Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit. 4 5 6 Belastbare Bewe rtungen der ..Föderalismus-Reform I" sowie der laufenden ..Föderalismus-Kommission" stehen noch aus.
164
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
oo) Begleitend zum Verfassun gskonve nt vorgestellte (Priv at-)En twürfe Begleitend zum seit Februar 2002 tagenden „Konvent zur Zukunft Europas" erarbeiteten verschiedene Politiker und Juristen eine Vielzahl eingehender Verfassungsentwürfe. 45 7 Zu nennen sind hierbei ( P\ Häberle zitierend 45 8 und ergänzend) der „Budapester Entwurf für eine Europäische Verfassung" der Arbeitsgruppe an der Staatsund Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Budapester Eötvös-Loränd-Universität vom Juni 2003 45 9 , der Entwurf von The Young Christian Democrats ofDenmark (KFU) vom März 2003 46<> , der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ) vom Februar 2003 4 6! sowie aus demselben Monat der 46 2 „Trierer Verfassungsentwurf für die Europäische Union" . Weiterhin sollen in diesem Kontext hervorgehoben werden: Die EVP - Kon46 1 ventsgruppe und ihr Diskussionspapier vom November 2002 sowie die überar4 M ; der (überarbeitete) Entwurf eines „Verfasbeitete Fassung vom Januar 2003 sungsvertrages der Europäischen Union" von F. Cromme 465; der Vorentwurf des VerfassungsVertrages von Kommissionspräsident R. Prodi (4.12.2002) 4 6 6 .
45 7
17 dieser Entwürfe werden von P Hüberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 6 00 ff. ( vgl. a uch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufga ben unserer Verfa ssungs-Z ukunft: 16 Entwürf e auf dem Prüfstand, in: DÖV 11/2003. S.429 ff.) vorgestellt und profund (gelegentlich streitbar - etwa der sog. ..Berliner Entwurf* vom November 2002) analysiert. Auf eine Darstellung dieser Ansätze wird daher verzichtet, gleichwohl darauf verwie sen, dass eine nicht unerhebliche Anza hl der Entw ürfe einflussreiche Wegmarken für die Debatte zu setzen w ussten (bzw. noch w issen). Einige Verfassungsentwürfe, die von P. Hüberle nicht aufgenommen wurden, sind bereits oben benannt worden. Vgl. auch T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonventnach 2002/2003. DVBI. Verfassungsperspektiven Nizza, in in: NJW 2002.2003. S. 993S.ff.1 ff. 458 459
460
P. Häberle. Europäische Verfassungs lehre. 4. Aufl. 2006. Vgl. www.cap.uni-muenchen.de/konvent/entwuerfe.htm.
J. Schwarze. Europäische S. 604 ff.
Young Cristian Democrats Of Denmark (B. Langdahl. T.N. W. Pedersen). A Danish
Proposal on a European federal Constitution. 25. März 2003, abrufbar unter
http://kfu.dk
/rtf/108.pdf. 46 1 Der Entwurf: Verfa ssungsg rundsä tze der Europäischen Union. 14. Februar 2003. vgl. www.bundestag.de/internat/eu_konvent/verf_ent.html. 462 H. W. Maull. R. Kirt (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Trierer Verfassungsentw urf für die Europäische Union. Ergebnis eines Projektseminars Trierer Studentinnen und Studenten. 2003. 4 63 „The Constitut ion of the Europe an Union " (Dis cuss ion Paper). 10. Nove mbe r 2002 . Text of the EPP Convention Group meeting in Frascati. abrufbar unter http://www.cap.unimuenchen.de/konvent/download/EPP-Constitution2.pdf. 46 4 „Die Verfassung der Europäischen Union" (Diskussionspapier), überarbeitete Fassung einschl. des 2. Teils. 27.01.2003. vgl. CONV 616/03 vom 01.04.2003.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
165
467 De r „B er li ne r E n t w u r f ' von G. Gloser u n d M. Roth (November 2002) und der 46s „F re ib ur ge r E n t w u r f ' de s Europa-Instituts Freiburg e. V. (November 2002) ver-
dienen eb enso eine Erwäh nun g wie der „Entwu rf einer Neufa ssung des Vertrages über die Eur opä isc he Un ion für den Ve rfa ssu ngsk onv ent der E U " von R. Scholz (2002) 4 6 9 , der Vorentwur f des Ver fassungsv ertrag es vom Konventspräsidium (Oktober 2002) 4 7 0 und der Vorschlag einer „Verfassung der Europäischen Union" an den Konvent von Auf
Widerhall
471
J. Leinen (Oktober 2002) stießen
zudem
der
Entwurf
.
von
A.
C. Hillion. A. Johnston u n d E. Spavent (Oktober 2002) Konventsmitglieder
E. O. Paciotti47\
E.
Brök474,
R.
Dashwood, 472
M. Dougan,
sowie die Ansätze der
Badinter475
und A.
Duff476.
Neb en dem in mancherlei Hinsicht geglückte n Entwu rf von F. Dehousse u n d 477 W. Coussens (Europen Policy Center) ist in messbaren Grenzen beachtenswert auch der „First Gre en Dra ft for a Eur ope an Consti tuti on" der jun ge n Grünen -Pol iti-
465 F. Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union. Entwurf und Begründung. 2. Aufl. 2003, S. 27 ff. 466 Abrufbar unter http://europ a.eu.int/futurum /documents/o fftext/const05 1202_en.p df 46 7
Abrufbar unter
http://www.eloser-spd.de/berliner_entwurf-verfassung_fuer_die_eu
.pdf. 468 Europa-Institut Freiburg e. V. ( Hrsg.). F reiburger Entwur Verfassungsvertrag, 2002.
f für einen europäis
chen
46
" R. Scholz, Entwurf einer Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für den Verfassungskonvent der EU. in: Zeitschrift für Gesetzgebung. Vierteljahresschrift für staatliche und kommunale Rechtsetzung, 17. Jahrgang. Sonderheft 2002. 470 Vgl. CONV 369/02 sowie http://register.con silium.eu.int/pdf/d e/02/cv00/003 .pdf 47 1 Abrufbar unter http://www.joleinen.de/dokumente.html.
69d2
4 7 : ..Draft Constitutional Treaty of the European Union and related documents", vgl. CO NV 345 /02 REV I sowi e hUp://re gister. consilium. eu.int/pdf /de/02/cv00 /00345rid2.pdf 4 73 „Progetto di Costituzione dell'Unione Europea" (ital.), ..Projet de Constitution de f Union Europenne" (franz.), vgl. CONV 335/02 vom 10. Oktober 2002 sowie http://register
.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00335d2.pdf 47 4 „Constitution of the European Union" (Discussion Paper) neuere Version zum Entwurf vom 10. Sept embe r 2002 (abr ufbar unter http://www.welt politik.net /texte/poli cy /verfassung/brok.pdf). vgl. CONV 325/02 vom 8.Oktober2002 (CONTRIB III) sowie
http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00325d2.pdf 47 5 „Eine Europäische Verfassung. Une Constitution Europenne", vgl. CONV 317/ 02 vom 30. September 2002 sowie http://register. consilium.eu.i nt/pdf/de/02 /cv00/003l7 d2 .pdf 476 „A Model Constitution for a Federal Union of Europe", vgl. CONV 234/02 vom 3. Septe mber 2002 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf7dc/02/cv00/00234d2.pdf: 47 7 Constitution of the European Union. 17. Sept embe r 2002. vgl. http://www muenchen.de/konvent/download/EPC-DehousseCoussens.pdf.
.cap.un i-
166
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
ker Seifen, Liihrmann und Nouripour (September 2002) 47 8 sowie „La Constitution Europeene de Cluny" der Convention Europiene de Cluny (Juli 2002) 47 9 . pp) Der Europ äisc he Konvent (I)
Auftrag
48 0
und Zusammensetzung - das innovative Konventsmoment
Der „EU-Konvent zur Zukunft Europas" wurde von den europäischen Staatsund Regierungs chefs am 1 4./ 15. Deze mber 2001 b eauft ragt, „die wesentlich en Fragen zu prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union aufwirft." Dazu wurden in der benannten „Erklärung von Laeken" jene knapp 60 Fragen aufgelistet, mit denen sich der Konvent beschäftigen sollte. Praktisch war damit der Auftrag für eine Generalrevision der Europäischen Union gegeben. Der Konvent hat seine Arbeit so angelegt, dass praktisch das gesamte europäische System auf den Prüfstand kam. Im Unterschied zu Regierungskonferenzen, die bisher die Verträge ausgearbeitet hatten, setzte sich der Konvent nicht aus Diplomaten der Mitgliedstaaten zusammen, sondern in erster Linie aus Parlamentariern. Darin lag das „innovative Moment" des EU-Konvents für die europäische Verfassunggebung. Der Konvent versammelte 105 Mitglieder und die gleichen Zahl von Stellvertretern. Auch Vertreter der Beitrittsstaaten nahmen teil. Neben dem Präsidenten und zwei Vizepräsidenten bestand der Konvent aus -
28 V ertretern der Regierungen der Mitgliedstaate 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 56 Vertretern der nation alen Parlamen te und zwei V ertretern der EU-Kom miss ion.
n,
Zwar hatten die Mitglieder der Beitrittsstaaten kein Stimmrecht, doch wirkte sich das in der Praxis mangels Abstimmungen nicht aus. Die stellvertretenden48 1 Mitglieder waren im Status den Mitgliedern praktisch gleichgestellt.
47 8 479
Vgl. http://www.cap.uni-muenchen.de/konvent/download/Young_Greens.pdf. Vgl. http://pictel.cluny.ensam.fr/Europe/textes/const_2001 .htm.
4S
" Aus der Lit: T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, in: DVB1.2003. S. 1 ff.: F.C.Mayer. Macht und Gegenmacht in der Europäischen Verfassung. Zur Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents, in: ZaöRV 63 (2003). S. 59 ff.: I. Pernice. Eine neue Kompetenzordnung für die Europäische Union, in: P. Häberle/M. Morlok/W. Skouris (Hrsg.), Festschrift Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos. Zum 70. Geburtstag am 5. Mai 2003. 2003. S.477 ff.: 5. Magiern. Die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, in: D ÖV 2003. S. 578 ff.; D. Tsatsos. Der Europäische Konvent, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003. S. 749 ff. Siehe insb. auch die Bibliographie des Verf. (2006). 48 1 Aus Deutschland gehörten zuletzt dem Konvent an: Bundesminister J. Fischer (Grüne), und Staatsminister H.M. Bury als Vertreter der Bundesregierung. Ministerpräsident
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
167
Ein bedeutender Vorteil des Konventsverfahrens lag im Beginn der „Politisierung" des europäischen Interessenausgleichs. Grundsätzlich ist eine Abstimmung von 25 (plus x) nationalen Interessen nahezu unmöglich. Unhabhängig von einer aktuellen Bewertung steht einem Konvent dagegen grundsätzlich die Möglichkeit zur Interessenformulierung innerhalb der vier Institutionengruppen und der „politischen Familien" offen. So erfolgte beispielsweise zum Ende des Grundrechtekonvents der politische Interessenausgleich nicht mehr entlang der nationalstaatlichen Linien, sondern zwischen den politischen Gruppen. Die Zusammenkünfte der „politischen Familien" im Vorfeld der Plenarsitzungen führten so schon beim ersten Konvent zu einer Abstimmung über 48 2 die nationalen Grenzen hinweg. (2)
Die Gestaltung der Konventsarbeit
Der Konvent konnte freilich auf zahlreiche neue Vorschläge für eine Reform bzw. Ersetzung der geltenden Verträge zurückgreifen. Die jeweiligen Vorarbeiten spielten in der Konsequenz aber eine vergleichbar marginale Rolle. Die Zusammenarbeit zwischen dem Plenum und dem Präsidium bzw. seinem Präsidenten gestaltete sich von Beginn an nicht reibungs- und konfliktfrei. wurden etwa Arbeitsgruppen mit einer realistischen Zeitvorgabe erst auf Druck des Plenums eingesetzt, ohne dass dabei tatsächlich plausible Strukturüberlegungen erkennbar waren. Zu einem zentralen Punkt der Reform, den Institutionen, hat es keine Arbeitsgruppe gegeben. Von Vielen wurde beklagt, dass die „GrundE. Teufel (CDU) und W. Gerhards (SPD), als Vertreter des Bundesrates,
48 3
So
J. Meyer (SPD)
un d P. AI mutier (CDU) als Vertreter des Bundestages. E. Brök (CDU). K. Hansell (SPD), S. Kaufmann (PDS) und J. Wuermeling (CSU) in der Delegation des Europäischen Parlaments. 482
Der zweite Konvent hat daraus zumindest vordergründig seine Konsequenzen gezogen: Bereits vor der Eröffnungssitzung am 28. März 2002 fanden sowohl die ersten Treffen der Institutionengruppen als auch Koordinierungssitzungen der ..politischen Familien" statt. 4 83 Bereits der Auftakt der Konventsberatungen war in diesem Sinne misslungen. da das Präsidium den Versuch unternommen hatte, eine ausschließlich von ihm selbst entworfene, sehr präsidiallastige Geschäftsordnung zur Grundlage der Konventsarbeit zu machen, vgl. auch J. Meyer/S. Hölscheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in: EuZW 2003. S.6I3 ff. Um die Verfassung zu entwerfen, wurden 27 Plenarsitzungen zwischen dem 28.2.2002 und dem 10.7.2003 durchgeführt, in denen es 1802 Redebeiträge gab. die als Folge der Beschränkung der Redezeit ..nur" 5436 Minuten in Anspruch genommen haben. Das Präsidium hat 50mal getagt. Es gibt 848 Konventsdokumente: 5995 Änderungsanträge wurden gestellt. Elf Arbeitsgruppen gab es. die insgesamt 86 Sitzungen durchgeführt haben: hinzu kommen drei Arbeitskreise, die insgesamt zwölfmal getagt haben, vg l. CO NV 851 /0 3 v. 18 . 7.2 003 ; Agence Europe v. 10.7 .20 03: die letzte CO NV Nr. ist zwar 854/03 v. 29.7.2003, doch wurden gem. CONV 835/03 v. 29.7.2003 6 CONVNr. nicht vergeben.
168
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
rechtecharta" vom Präsidium als „Steinbruch" genutzt worden wäre, indem es ihre Normen in anderen Teilen der Verfassung untergebracht und dadurch unnötigerweise hunderte von Änderungsanträgen provoziert hätte. Ein allzu üblicher Verfahrensfehler ließ sich ebenfalls nicht vermeiden: die anfänglich geführte Ge ner ald eba tte wa r viel zu la ngw ier ig, so dass d e m Konve nt gege n End e nicht genügend Zeit blieb, den umfangreichen Teil III in der gebotenen Ausführlichkeit zu erörtern. 4 8 4 Der Konvent tagte im Plenum an 52 Sitzungstagen zwischen März 2002 und Juni 2003. Dies gab Gelegenheit zu 1802 mündlichen Beiträgen. Arbeitsgruppen wu rde n einge richt et u. a. zu den T h e m e n S ubsid iari tät, nati onal e Par lame nte , Zuständigkeiten, Ordnungspolitik. Inneres und Justiz, Gesetzgebungsverfahren. Außenbeziehungen und Verteidigungspolitik. In dem Konvent haben sich die Mitglieder sowohl nach politischer Zugehörigkeit wie nach Delegationen (z. B. Europäisches Parlament oder nationale Parlamente) zus amm eng efu nden . In dies em Rahme n fanden jeweils Koordinie Die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), umfasste etwa 40 Prozent der Mitglieder, die der Sozialisten 30 Prozent. Die EVP-Gruppe hatte in vielen Punkten
rungen st at t.
aufgrund (damalig) weitgehender Homogenität eine Führungsrolle übernommen bis hin zur Vorlage des bereits erwähnten kompletten Verfassungsentwurfs.
4S?
484 J. Meyer!S. Höheheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in: EuZW 2003. S. 613 ff., 613 stellen zu Recht fest, dass dies ein „wichtiger Grund für manche Ungereimtheiten der Verfassung" gewesen sei: „Theoretisch wäre es sinnvoll und möglich gewesen, die Konventsarbeit weiter zu verlängern, praktisch nicht. Europa benötigt generell Zeitdruck, um Fortschritte zu erzielen. Speziell für den Konvent als neuartigem parlamentarischen Gremium war die Mitgliedersituation zu berücksichtigen, weil persönliche Kontakte jenseits starrer Delegationsgrenzen, wie sie Regierungskonferenzen kennen, eine große
Rolle gespielt haben. In den Konvent brachten lediglich 14 Mitglieder durchgängig ihre Erfahrungen aus dem Grundrechtekonvent ein; von den ursprünglichen 105 Mitgliedern waren am Schluss nur noch 69 vertreten, mehr als ein Drittel ist also ausgetauscht worden. Eine Verlängerung hätte zwangsläufig eine weitere Fluktuation mit sich gebracht und das Konventsgeflecht beeinträchtigt. Außerdem erschöpft sich die Dynamik und Produktionskapazität eines solchen Gremiums zu einem bestimmten Zeitpunkt. Erfahrungsgemäß ist er nach ca. zwei Jahren erreicht." Dies belegen auch die Prozesse der Verfassunggebung in den 70er Jahren in Griechenland. Spanien und Portugal auf der Staatenebene, die Verfassungskommissionen der fünf neuen Bundesländer auf der innerstaatlichen Ebene und zuletzt der Grundrechtekonvent auf der europäischen Ebene. 4S ? Die deutschen Vertreter von „Rot-Grün" hätten im Konvent eine maßgeblichere Rolle spielen können. Das Potential Deutschlands als größtem Mitgliedstaat wurde bei aller gebotenen Zurückhaltung auch angesichts gegebener Wirkkräfte nur bedingt genutzt. Einen Akzent brachte zumindest die deutsch-französische Initiative im Frühjahr 2003 (wobei die ..Vertretungsregelung" Deutschlands durch/ Chirac zu den traurigen Kapiteln tatsächlicher „Interesse nsvertretung" zu zählen is t). Die Auswec hslung des Regierungsvertreter s P. Glotz
durch Außenminister J. Fischer erfolgte zu spät. Zudem gehörte Fischer als Grüner keiner der großen politischen Gruppen an. in der die Linien verabredet wurden.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
169
Der Konvent wurde „gesteuert" durch den Präsidenten V. Giscardd'Esiaing, das Präsidium und das Generalsekretariat. Der Präsident war zunächst auf viele Vorbehalte der Mitglied er gestoßen. Er hat jedo ch den Konvent laut Aussagen zah lreicher Mitglieder durch eine weitsichtige, pragmatische und konziliante Amtsführung überzeugen können. Seine Autorität hat in der Schlussphase gelitten durch das Beharren auf Vorschlägen, die das Plenum mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte. (3)
Inkurs:
Der Konvent als Zentralisierungsplattform?
Eine grundsätzliche Überlegung: die Verfassung ist ein klassisches Mittel, die Macht des Staates zu begrenzen. Sie kann aber auch dazu missbraucht werden, die Machtfülle, die staatliche Institutionen angesammelt haben, ex post zu legitimieren und weiter auszubauen. Der Europäische Verfassungskonvent hatte vorgeschlagen, die Kompetenzen der Europäischen Union zu erweitern, anstatt sie zu beschränken. Der Konvent wurde im De zemb er 2001 vom Europäisch en Rat eingesetzt, auch weil der französische Präsident J. Chirac in Nizza offensichtlich eine weitere Zentralisierung der Europäischen Union in wichtigen Punkten zu blockieren vermocht hatte. Nicht zuletzt um ihn - auch in seinem eigenen Land - unter Druck zu setzen" 86 , beschloss die Ratsmehrheit, auf öffentlichkeitswirksame Weise an die Spitze des Verfassungskonvents einen bürgerlichen Politiker aus Frankreich zu stellen, der als besonders zentralisierungsfreudig bekannt war. Die offizielle Begründung lautete freilich anders: Der Konvent sollte erstmals den Parlamenten - dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten - die Möglichkeit geben, schon im Vorfeld einer Regierungskonferenz Einfluss auf die Reformdiskussion zu n ehmen. Tatsächl ich besaßen die Europapa rlamentarier ( 16) und die nationalen Parlamentarier (30) im Konvent - allerdings nicht in seinem Präsidium - zusammen eine Mehrheit der 66 Stimmen. Hierbei ist jedoch die unterschiedliche Interessenlage wenn zwischen und europäischen mentariern zu berücksichtigen, es umden dienationalen Zentralisierung Europas geht.ParlaDas Kooperationspotential erschien zunächst eingeschränkt. Versucht man die verschiedenen Gruppen des Konvents nach ihrem jeweiligen Zentralisierungsinteresse zu ordnen, so standen die Vertreter der Kommission (2) und des Europaparlaments (16) an der Spitze. Es folgten der Präsident, die beiden Vizepräsidenten to un d Dehaene (zusammen 3) sowie die Vertreter der nationalen Regierungen (15). Für eine Mehrheit bedurfte es 34 der 66 Stimmen. Damit wurde deutlich: Die Mehrheitskoalition, die einer stärkeren Zentralisierung grundsätzlich befürwortend gegenüberstand, besteht aus den Vertretern der Kommission und des Europaparlaments, der Leitung des Konvents und 13 (von 15) Regierungsvertretern (2+16+3+13=34). Der Repräsentant der französischen Regierung und die
4 8 6 Vgl. nur R. Vaubei Weshalb das Defizit an Demokratie bestehen bleibt, in: NZZ am Sonntag vom 16.2.2003.
Ama-
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nationalen Parlamentarier konnten beliebig überstimmt werden. Im zwölfköpfigen Präsidium gestaltete sich dies noch leichter. Dem Präsidium gehörten - in der Rangfolge ihrer vordergründigen Zentralisierungsneigung - j e zwei Vertreter der Kommission und des Europaparlaments, die dreiköpfige Konventsleitung, drei Vertreter der Regierungen und zwei nationale Parlamentarier an. Den Ausschlag gab daher weitgehend die Konventsleitung. Zehn Mitglieder des Konvents kritisierten den Zentralisierungskurs. Diese Gruppe war nicht im Präsidium vertreten. Nunmehr in Fortführung der oben angestellten grundsätzlichen Überlegung: Die Zusammensetzung des Konvents könnte gegen die klassischen Maxime der Verfassungstheorie verstoßen haben, wonach Verfassungsregeln nicht von denen aufgestellt werden dürfen, die sie später einhalten sollen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass sich die Verfassunggeber mehr Macht einräumen, als für das Gemeinwesen „gut" ist. Demzufolge hatte beispielsweise die erste französische Verfassunggebende Versammlung (Assemblee Constituante) in der Verfassung von 1791 ihren Mitgliedern verboten, für das daraufhin zu wählende Parlament 48 7 (Assemblee Legislative) zu kandidieren. Tatsächlich haben die europäischen Institutionen den benannten verfassungstheoretischen Grundsatz bereits früher missachtet. So war der erste Präsident der Kommission mit W. Hallstein der Mann, der den EWG-Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt hatte. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hätte der Europäische Verfassungskonvent im Grunde nur aus Mitgliedern der nationalen Parlamente bestehen dürfen, denen für die Zukunft alle Ämter in den EU-Institutionen verwehrt worden wären. Dann hätte der Verfassungskonvent auch ganz an die Stelle der Regierungskonferenz treten können. Alle Änderungen der Verträge wären vom Konvent ausgehandelt und dann den Parlamenten der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorgelegt worden. Das wäre bereits insoweit vorzugswürdig gewesen, als die Regierungen oft allein deshalb der Zentralisierung interessiert sind, um sichder derMitgliedstaaten extensiven parlamentarischenanKontrolle zu entziehen. Die Parlamentarier haben jedoch kein Interesse an ihrer eigenen Entmachtung, und auch ein internationales Regulierungskartell hat für sie wenig Wert. Interessant wird in diesem Gesamtzusammenhang und mit Blick auf den Verfassungsvertrag bzw. den Vertrag von Lissabon die zukünftige Rechtsprechung des EuGH sein. Zwar sollen die nationalen Parlamente die Möglichkeit erhalten, im Vorfeld der EU-Gesetzgebung ihre Bedenken anzumelden und im Nachhinein beim EuGH gegen Kompetenzüberschreitungen zu klagen. Jedoch ist bislang 4S
In diesem Kontext entwickelt der Gedanke eines Referendums in der Regel besondere Anreize, vgl. dazu A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003. S. Hol scheidt. /. Putz. Re ferenden in Europa, in: DÖV 18 (2003), S. 737 ff.; K. Schmitt (Hrsg.) , Herausforderungen der repräsentativen Demokratie. 2003.
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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nicht erk ennba r, we sha lb d er E u G H da s Ze ntr ali sie run gsin ter ess e der an der en europäischen Institutionen nicht teilen sollte. Je mehr Kompetenzen die Europäische Union erhält, desto wirkungsmächtiger sind die Fälle, die die europäischen Richter zu entscheiden haben. Es würde zu weit führen zu postulieren, dass sich insb eson der e des hal b der E u G H i n der Verga ngenh eit als „M oto r der Integ betätigt hätte 4 8 S . Allerdings ist in einer vergleichenden Betrachtung der Geschichte
rati on"
unterschiedlicher Bundesstaaten festzustellen, dass die Verfassungsgerichte kaum gegen Zentralisierungstendenzen vorzugehen tendierten und diese nicht selten durch ihre Rechtsprechung verstärkten.
489
Demzufolge und aufgrund der beklag-
ten Chancenlosigkeit der nationalen Parlamente vor dem EuGH wurde bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wiederholt die Forderung aufgestel lt, die nationalen Parlament e über eine zweite K am me r des Europap oder direkt an der europäischen Gesetzgebung zu beteiligen. Auch wurde erwogen,
arla ments
de m E u G H zu min des t ein „S ubsi diar itä tsge ric ht" an die Se ite zu stellen, d Vertretern der höchsten nationalen Gerichte bestünde und ausschließlich über
as aus
490
Kompetenzstreitigkeiten zu entscheiden hätte.
488 Siehe nur G. G. Saner. Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1988. Zur bisherigen Rolle des EuGH J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983: O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000). S. 386 ff.; P Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 478 ff.: W. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998: P. Pernthaler. Di e Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestaltenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A Wolf-Niedermaier.. Der Euro päis che Gerich tshof zwis chen Recht und Politik. 1997. 489 Eine Ausnahme bildet etwa das schweizerische Bundesgericht, da es nicht für
Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund zuständig ist. 490 Solche Vorschläge, wie sie die ,. European Constitutional Group" (ECG ) in einem Entwurf für eine europäische Verfassung im Sinne einer liberalen Ordnung 1993 vorgestellt hatte, stießen jedoch bei der Mehrheit des Verfassungskonvents auf wenig Widerhall. Di e ECG ist im Juni 2002 in Berlin mehr oder weniger neu lanciert worden, um das Vorhaben des EU-Verfassungskonvents kritisch zu begleiten; Zielsetzung war u.a. sozusagen als Schatten-Konvent zu arbeiten, um bei der Veröffentlichung des offiziellen Verfassungsentwurfs des EU-Konvents mit einem liberalen Gegenvorschlag aufzuwarten. Die wiedererweckte der ECG umfas ste 18 Öko nome n und Rechtsexperten. Der Entwurf ECG war naturgemäß viel schlanker als die Dokumente des EU-Konvents, inhaltlich aber radikaler. Die Autoren waren der Meinung, dass für eine wachsende Europäische Union in gewissem minimalem Ausmaß eine föderale Union nötig sei. um deren Funktionsfähigkeit zu sichern. Gesucht wurden deshalb Spielregeln für eine demokratische, föderal aufgebaute Europäische Union mit klarer Kompetenzaufteilung zwischen den verschiedenen Staatsebenen: Verfassungsregeln, die die Rechte der Bürger schützen, nicht - wie es eher EUTradition ist - die Rechte von Staaten. Als Grundrechte sollten die in der Konvention von 1950 umschriebenen Freiheitsrechte gelten und nicht - wie es der EU-Konvent letztlich vorsah - die im Dezember 2000 verkündete Grundrechte-Charta der Europäischen Union.
172 (4)
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung Zeitgemäße
Aspekte
der
Öffentlichkeitsarbeit?
Der Konvent tagte öffentlich und alle Dokumente waren über das Internet jedermann zugänglich. Ziel war eine umfassende Debatte aller Bürgerinnen und Bürger zur Reform der Europäischen Union. Dazu wurde ein „Forum" geschaffen, das allen Organisationen der Zivilgesellschaft offen stand. Hier sind 1264 Beiträge von Nichtregierungsorganisationen eingegangen, die beispielsweise im Rahmen einer Anh ör un g der Zivilges ellscha ft am 25. /2 6. Juni 2002 durc h den Konvent in die Debatte eingeflossen sind. Der Vorsitzende hat die Mitgliedstaaten dazu aufge rufe n, auch auf nationaler Eben e Foren zur Bürgerbe teiligun g einzurichten. In eine m „Ju gen dko nve nt" wur de am 10 . Juli 20 02 der Beit rag von übe r 20 0 Jugendlichen gehört. Eine breitere Öffentlichkeit nahm trotz dieser Bemühungen erst gegen Ende des Mandats von den Arbeiten Notiz. Umfragen zufolge hatten zum Schluss gerade einmal die Hälfte der EU-Bürger von dem Konvent gehört. Dies, obwohl der Verfassungstext gerade Übersichtlichkeit, Einfachheit und Bürgernähe vermitteln sollte. Umfassend informiert wurden allerdings die nationalen Parlamente durch ihre Vertreter. 4 9 1 Die Kernthemen, mit denen der Konvent sich zu befassen hatte - Transparenz, Demokratie, Effizienz und Effektivität politischer Entscheidungsverfahren - sind we sen smä ßig weitgehe
nd identisch mit
jen en, die auch
im nationalen Kontext
Begründet wurde dies damit, dass die Charta zur verfassungsmäßigen Beschränkung der Staatsgewalt ungeeignet sei, da sie neben Freiheitsrechten viele Stellen enthalte, aus denen zahlreiche Schutz- und Umverteilungs-Versprechen ableitbar wären. Im ECG-Worschlag w ird die zweite Kammer nicht aus dem Europäischen Rat gebildet; dieser bleibt näher bei seiner heutigen Rolle. Die Zuständigkeit der europäischen Regierung beschränkt sich auf Verteidigung. Außenpolitik. Außenhandelspolitik, die Gewährleistung des freien Verkehrs von Waren. Dienstleistungen, Personen und Kapital innerhalb der Europäischen Union, auf Wettbewerbspolitik sowie Umweltpolitik mit Blick auf EU- weite Umweltprobleme. All dies soll nur an die oberste Ebene delegiert werden, wenn unter den Mitgliedstaaten darüber Konsens herrscht und ein Referendum darüber die Volks- und Ländermehrheit findet. Der Haushalt der europäischen Regierung muss über die Legislaturperiode hinweg ausgeglichen sein. Die europäische Regierung wird durch eine speziell bezeichnete Steuer finanziert, etwa durch eine proportionale indirekte Steuer. Steueränderungen sind nur bei Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern und Zustimmung des Volkes möglich. Für wichtige Geschäfte gilt ein obligatorisches, für andere Vorlagen bei bestimmten UnterschriftenQuoren ein fakultatives Referendum. Vorlagen bedürfen zur Annahme einer Volks- und Ländermehrheit. Jeder Staat hat das Recht, aus der Europäischen Union auszutreten, wobei das Volk mit qualifizierter Mehrheit zustimmen muss und Verfahren mit Übergangszeiten festzulegen sind. Schliesslich ist das Verfahren bei Entwurf und Verabschiedung einer Verfassung von zentraler Bedeutung, zumal diese eine Art Grundkonsens der EU-Bürger darstellen sollte. Eine Verfassung nach dem Geist der ECG müsste wohl dem Volk vorgelegt werden, und zwar in der ganzen Europäischen Union. 49 1
So haben etwa CDU/CSU-Konventsmitglieder der Führungsspitze, den Europapolitikern. Bundestagsabgeordneten und weiteren Mandatsträgern der Partei nach jeder Plenartagung schriftlich Bericht erstattet.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
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vieler EU-Länder bestehen, während die EU-Kandidatenländer in der zurückliegenden Dekade einem intensiven Reformprozess unter diesen Perspektiven unterzogen wurden: gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass sie dadurch besser auf die Europäische Union vorbereitet sind und waren als manches bisherige EU-Mitglied auf die gemeinsame europäische Zukunft. Der Verfassungstext ist zwar nicht gerade über Nacht, aber doch in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne von weniger als zwei Jahren entstanden. Gewiss, auch Verfassungen von Staaten kamen zum Teil sehr schnell zustande. So beispielsweise die gaullistische Verfassung der Fünften Republik in Frankreich. Sie wurde 1958 unter der Leitung von \1. Debre in wenigen Monaten redigiert und in Kraft gesetzt. Alte Staatsve rfassu ngen wie dieje nige der Vereinigten Staaten von 1787 aber waren meist Produkte langer, intensiver Diskussionsprozesse. In der Schweiz nahm die Tagsatzung 1848 die neue Bundesverfassung zwar nach nur einigen Wochen dauern den Kommissionsve rhandlunge n an. Sie griff - so der Komme ntar (des US-Schweizers) W. Rappard - zwar so lustlos zum neuen Text wie ein ermüdeter Patient zum rettenden Medikament. Doch waren der Errichtung des Bundessta ates von 1848 währe nd fünfz ig Jahren zum Te il erbitterte Ausein andersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten. Liberalen und Konservativen vorausgegangen. Der EU-Verfassungskonvent hat zügiger und diskreter gearbeitet als die meisten staatlichen Verfassunggeber. Er war nicht umlagert von einem nachrichtenbegierigen Publikum. Er produzierte definitiv keine „Federalist Papers", wenn man einmal von (verstreuten und eher unkohärenten) öffentlichen Stellungnahmen aus den Federn von U. Eco, J. Habermas, J. Derrida, A. Mtischg und anderen Intellektuellen absieht. Der Prozess vollzog sich - im Gegensatz zu klassischen Fällen des staatlichen „constitution-making" - in einer gewissen Abgeschiedenheit vom politischen und intellektuellen Leben. Trotzdem war niemals zuvor in der Verfassungsgeschichte ein Verfassunggebungsprozess im Angebot so öffentlich, demokratisch und transparent. Ein entscheidender Unterschied zur „Geheimniskrämerei von Philadelphia oder Herrenchiemsee" 49 2 . Es wird allerdings abzuwarten und manche Analyse bestritten sein, bevor eine klare Festellung gewagt werden kann, ob das allgemeine Interesse wenigstens an den Ergebnissen des Konvents und seinen Folgen höher war als bei Verfassungsprozessen früherer Zeiten. Verfassungsfragen sind oftmals prozeduraler Natur und interessieren daher neben den naturgemäß Betroffenen und Beteiligten in den Institutionen regelmäßig Minderheiten. Es ist demzufolge ein bedauernswerter Umstand, dass die europäische Verfassungsdebatte am Ende wieder auf eine Institutionendebatte reduziert wurde, gerade in dem Augenblick.
49 2 So L. Kidmhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Strukturentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.
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wo sie in das Blickfeld der Medien gelangte. Es wäre beispielsweise zielführender gewesen, unter Beteiligung einer tatsächlich einbezogenen europäischen Öffentlichkeit 49 1 darüber zu streiten, warum die Charta der Grundrechte nicht an eine prominentere Stelle in der Verfassung gesetzt wurde, denn sie weiß eine hervorgehobene Facette politischer Identität zu verkörpern, die aus der Europäischen Union neben der Staatenunion auch eine Union der Unionsbürger macht. (5)
Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des einzelnen Mitglieds
Auf der Grundlage der ersten Diskussionen und der Ergebnisse der Arbeitsgruppen erarbeitete das Präsidium im Oktober 2002 ein Rohgerüst für den Verfassungsvertrag. Sodann wurden sukzessive Vertragsartikel für die diversen Teile des Entwurfs vorgelegt. Nach Vorstellung dieser Artikel im Plenum konnten die Mitglieder (und auch die Stellvertreter) binnen einer Woche schriftliche Änderungsanträge zu den Texten einreichen (1. Lesung). Insgesamt wurden fast 8000 solcher Änderungsanträge gestellt. In der folgenden Plenartagung wurden die Texte und die Änderungsanträge diskutiert. Auf dieser Grundlage überarbeitete das Präsidium den Entwurf und legte eine neue Fassung vor. Zu dieser konnten wiederum Änderungsanträge eingebracht werden (2. Lesung). Nach einer erneuten Überarbeitung und Diskussion im Plenum (3. Lesung) wurden noch geringfügige Änderungen vorgenommen, bevor man den Konsens feststellen konnte. Dieses Verfahren räumte dem Präsidium des Konvents eine starke Stellung ein. Es traf sich zu insgesamt 50 Sitzungen und unterbreitete dem Plenum 52 Arbeitspa piere. Kein einziger Text kam in den Verfa ssungsve rtrag, der nicht zuvor die Billigung des Präsidiums erhalten hatte. Dies war in dem Mandat des Gipfels von Laeken angelegt, nach dem das Präsidium die Aufgabe der Ausarbeitung der Texte hatte. Im Konvent konnte nicht abgestimmt werden, denn er war nicht repräsentativ zusammengesetzt. Bei Abstimmungen hätte auf die Sensibilität von einzelnen Mitgliedstaaten nicht Rücksicht genommen werden können. Wären aber deren Vertreter regelmäßig überstimmt worden, hätte der Entwurf keinerlei Chance gehabt, die Regierungskonferenz zu passieren. In den Plenardebatten konnte sich das einzelne Mitglied in auf drei Minuten beschränkten Wortbeiträgen zu den vorgegebenen Themen äußern. Nach einem Block von fünf Redebeiträgen konnten Kurzreaktionen von einer Minute abgegeben werden.
4 93 Den Begriff ..europäische Öffentlichkeit" beleuchten und definieren P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6. S. 163 ff. mit zahlreichen Nachweisen; siehe
auch den Sammelband von C. Franzius!U. K. Preuß (Hrsg.) Europäische Öffentlichkeit. 2004. Vgl. bereits P Häberle. Öffentlichkeit und Verfassung, in: ZIP 1969. S. 273 ff.
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Die Beratungen in den Arbeitsgruppen waren wesentlich ergebnisorientierter. Sie tagten nur während eines kurzen Zeitraums von zwei oder drei Monaten und hatten das Ziel, Orientierungen zu Einzelthemen wie etwa den ergänzenden Zuständigkeiten oder der Verteidigungspolitik zu erarbeiten. Da sich die Präsenz der Mitglieder hier meistens auf ein Dutzend beschränkte, war eine intensive und produktive Diskussion der einzelnen Themen möglich. Die meisten Reformansätze in dem Vertrag beruhen auf Vorarbeiten in den Arbeitsgruppen. Darüber hinaus konnten die Mitglieder wie eben erwähnt Änderungsanträge und „schriftliche Beiträge" einbringen. 1159 solcher Beiträge sind zum Plenum 4 und zu den Arbeitsgruppen eingegangen. ** (6)
Schlussphase der Konventsarbeit, im Europäischen Rat
Abstimmung(sprobleme)
Allerorten entwickelten sich in der Schlussphase der Arbeit des Konvents überbordende Plattformen für europafreundliche Schriften und Reden. Vielfach wurden der Wert und das Ziel einer Balance zwischen den Institutionen der Europäischen Union angerufen. Gleichwohl aber war an vielen Orten auf subtile Weise eine wachsende Stimmung gegen Europa zu spüren. Man hatte nicht selten den Eindruck, dass Europa dort geschwächt werden sollte, wo es funktioniert (Binnenmarkt), und dass es dort trotz aller Rhetorik schwach bleiben könnte, wo die Bürger eindeutig und ausweislich aller demoskopischen Befunde „mehr Europa" wünschen (Außen-, Justiz-, Innenpolitik). In Nizza waren die Vetokapazitäten zwischen den Staaten gefestigt worden, bis am Ende die Einsicht Platz griff, dass das System insgesamt nicht mehr funktionieren würde. Nicht selten entstand in der Schlussphase des Konvents der Eindruck, als sollten dieses Mal die Vetokapazitäten gegenüber den gemeinschaftsbildenden Prozessen und Institutionen gestärkt werden. Erneut - wie im Umfeld von Nizza - wurde intensiver über Kompromissspielräume bei den Institutionenfragen als über Maßstäbe. Ziele und Folgen des Verfassungsprozesses debattiert. Nach der Übergabe des Entwurfs durch den Konvent im Juli 2003 begannen im Oktober 2003 die Vorbereitungen zur Regierungskonferenz im Dezember. Die Zeit der Vorverhandlungen zur endgültigen Verabschiedung war knapp bemessen - ein Großteil der Verantwortung lag hierbei in den Händen der italienischen Ratspräsidentschaft. Der Vorsitz selbst arbeitete darauf hin, die außen- und sicherheitspolitischen Kapitel des Entwurfs zu modifizieren und für alle anderen 49 5 Fragen differenzierte Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren. Ein sehr kontro-
49 4
Die Beiträge sind auf der Web-Site des Konvents ( .int) zugänglich.
http://europeanl-lconvention.eu
4 95 Vgl. A. Maurer, Aufschnüren oder Dynamisieren? Chancen und Risiken der Regierungskonferenz zum EU-Verfassungsvertrag, SWP-Aktuell Nr. 38. 2003. S. 1.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
verser Verh andlun gsver lauf war zu erwarten. Zu r Effi zienz steig erung hatte eine Vorgehensweise festgelegt: Stellte ein Mitgliedsstaat eine partielle Regelung,
man
einen einzelnen Punkt des Gesamtkonsensus in Frage, trug er die Verantwortung für das Finden eines neuen Konsensus. A. Maurer sieht hierin einen Fortschritt zu m herk ömml iche n „Bar gain ing" nach
der Theo rie
A. Moravcsiks. 4%
Nicht alle Teilnehmer sahen diese Vereinbarung als verbindlich und konsensual getroffen an.
497
In der Praxis sollte sich zeigen, dass im Zweifelsfall nationale Interessen stärker die Vorgehensweise der Konferenzteilnehmer bestimmten, als dieser edle Vorsatz. Auf versc hiede nen Foren
der Regi erun gskon fere nz, darun ter der Auß enm ini s-
terkonferenz in Neapel Ende November, hatten sich bereits einige institutionelle Fragen in der Vorbereitungsphase des Abschlussgipfels klären lassen.
498
Bei den
Diskussionen um den turnusmäßigen Wechsel des Vorsitzes im Ministerrat wurde als endgültige Lösung die „gleichberechtigte Rotation" im Vertrag festgehalten - eine präzise Ausgestaltung sollte zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
499
49 6 Vgl. A. Maurer!S. Schunz, Auf dem Weg zum Verfassungsvertrag. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung in der Regierungskonferenz. 2003. S. 3. Bezug zu.: A. Moravcsik. Preferences and Power in the European Community: A Liberal Interngovernmentalist Appr oach , in: Journal of Co mm on Market Studies, Nr 4. 1993. 49 7 Der „Economist" äußerte sich hierzu wie folgt: „The Germans, for instance. think that so broad a consensus was reached in the Convention that any government wishing to fiddle with the text must find an alternative broad consensus - which is unlikely", vgl. Economist vom 04. 10.2003. 49 8 Darunter waren die Funktion und Flexibilität des durch den Konvent vorgeschlagenen Legislativrates im Verhältnis zu den anderen Ratsformationen wie auch die Frage nach Status u nd Rolle des künftigen Außenministers. Die Außenministe rkonfere nz kam hier üb erein.
dass kein eigenständiger Legislativrat gebildet werden sollte, vielmehr sollten die einzelnen Fachräte immer dann als ein solcher zusamment reten, wenn sie ein Gesetzgebungs verfahre n durchführen und in diesem Zusammenhang öffentliche Beratungen stattfinden, vgl. Artikel I - 24. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 06.08.2004. CIG 87/04. Zur näheren Definition der Rolle des künftigen Außenministers der EU vereinbarte man einen den anderen Kommissionsmitgliedern gleichberechtigten Status (Artikel I - 28. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 06.08.2004. CIG 87/04). Gegenstände der Einigung waren die Klärung seines Stimmrechtes außerhalb der Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Frage, ob ein Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Kommission auch eine Amtsniederlegung des Außenministers zur Folge haben sollte (vgl. Artikel 1-25. Vermerk des Vorsitzes der Ratspräsidentschaft an die Delegationen CIG 60/03 ADD 1). 499 Der italienische Vorsitz zielte auf die Diskussion achtze hn monati g wechse lnder Vorsitze. Neben der Dauer des Vorsitzes musste auch die Anzahl der Mitglieder innerhalb einer Gruppenpräsidentschaft diskutiert werden: Laut italienischem Konscnpapier CIG 60 /0 3 A D D I sollten dies drei Staaten sein. Diese Rege lung ging schlie ßlich in den
Vertragstext ein. Die Alternative wäre gewesen, dass jeder Ministerrat in jeder seinerZusammensetzungen den eigenen Vorsitz autonom wählt. Die Formulierung des Artikel 1-24
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
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Am 24. November 2003 verständigten sich schließlich die EU-Botschafter der 25 Mitgliedsstaaten über die Neuordnung der Ratspräsidentschaft: In einem Turnus von 18 Mona ten sollt e im Regelfall ein jewei ls größerer EU-Staat geme insa m mit einem kleineren bisherigen Mitgliedsstaat sowie mit einem „neuen" Mitglied die Teampräsidentschaft stellen. Gleichwohl: in den meisten Auseinandersetzungen standen sich die sechs Gründungsstaaten und die kleineren Mitgliedsstaaten, darunter die Beitrittsstaaten, gegenüber. Die Zusammensetzung und Beschlussfassung der Europäischen Kommission 50 0 war bereits im Konvent Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen. Die Komm ission sollte laut Konve ntsent wurf ab dem 1. Nove mber 200 9 nur noch 15 stimmberechtigte Kommissare („innerer Kreis") umfassen, die nach einem System der gleichberechtigten Rotation ausgewählt würden. Neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten sollten weitere 13 Kommissare („äußerer Kreis") vertreten sein. Der Kommissionspräsident würde einen Kommissar aus einer Dreier-Liste 50 1 jedes Mitgliedsstaats wählen. Der Verzicht auf einen Kommissar bedeutet für einen Mitgliedsstaat einen nicht geringen Einflussverlust. Die Kommissare gelten als Mittler zwischen „Brüssel" und ihren Herkunftsländern, daher möchte jeder Staat mit der Person des Kommissars über ein „symbolisches Vertretungsdispositiv" verfügen. Es wurde vorgezogen, eine Einigung in dieser Frage zunächst auf einen Folgegipfel zu vertagen, da die kleinen Staaten ihr Interesse hier massiv geltend machten. Die Ablehnung von Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich wegen ihres Verstoßes gegen die Defizitkriterien verschlechterte das Klima zusätzlich. Beide Staaten stellten sich einer im Konventsentwurf vorgesehenen Vergrößerung der Kompetenzen der Kommission im Bereich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entgegen. Die eigennützige Interessenlage beider Defizitsünder trug nicht gerade zu einer affektfreien Diskussion bei. Diese Frage wurde ebenso wenig geklärt wie die der Rechte des Europäischen Parlaments im Haushalt der Europäischen Union und die Neustrukturierung der Parlamentssitze. Der Besetzungsmodus der Europäischen Kommission war wie die folgenden Diskussionsgegenstände keiner der Gründe, die unweigerlich zum Abbruch der Verhandlungen hätten führen müssen - da aber aufgrund der großen Streitfrage um die Gestaltung der Mehrheitsverhältnisse im Ministerrat ohnehin ein Scheitern absehbar war, bevorzugte man die Klärung jener Fragen unter Sondierung durch die folgende irische Ratspräsidentschaft.
in der endgültigen Fassung ermöglicht eine Änderung des Modus durch das im Vergleich zur Verfassungsänderung einfachere Verfahren des Europäischen Beschlusses. 5
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit und Effizienz war bereits auf den letzten Regierungskonferenzen vorrangiges Ziel gewesen. Da die Einführung eines Mehrheitsvotums regelmäßig national als Abtretung souveräner Kompetenzen wahrgenommen wird, wohnte diesem Thema hohes Konfliktpotential innerhalb der Mitgliedsstaaten inne. Einige Staaten waren nicht bereit, ihre Vetomöglichkeit in für sie sensiblen Bereichen aufzugeben. 50 2 Die Konventsregelung für die Gewichtung der Stimmen im Ministerrat stellte die Streitfrage dar. die letztlich eine Einigung unmöglich machte. Die Formulierung von Artikel 24 des Konventsentwurfs wollte dem Doppelcharakter der Europäischen Union als „Union der Staaten" und „Union der Bürger" Rechnung tragen. Der Abstimmungsmodus berücksichtigte im Vergleich zur Stimmengewichtung im Vertrag von Nizza 5 '" die tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisse. Laut Konventsentwurf sollten zum Zustandekommen einer qualifizierten Mehrheit 50 Prozent der Stimmen der Mitgliedsstaaten repräsentiert werden und gleichzeitig hätten 60 Prozent der Bevölkerungszahl darin vertreten sein müssen. Die relative Gestaltungsmacht bevölkerungsreicher Staaten wie Deutschland gegenüber den anderen großen Staaten im Rat wäre begünstigt worden. Polen und Spanien lehnten dies als Herabstufung ihrer im Nizza-Vertrag entstandenen Sperrminorität ab. Die Regierungen Polens und Spaniens argumentierten, dass sie auf diese Weise Mehrheitsbeschlüsse nicht mehr blockieren und folglich von den bevölkerungsreichsten Staaten der Europäischen Union dominiert werden könnten. Der Einsatz der Verhandlungspartner zielte hier folglich nicht auf direkten eigenen Machtzuwachs ? 2
" Die Einführung des Abstimmungsmodus der qualifizierten Mehrheit sollte in den Politikfeldern Steuern, Außen- und Sicherheitspolitik. Innen- und Justizpolitik wie auch Sozialpolitik und Haushalt erfolgen. Die große Konfliktlinie bestand zwischen Großbritannien. Irland. Tschechien. Malta und Slowenien einerseits - und den anderen Staaten andererseits. Während erstere für Einstimmigkeit plädierten, hätten vor allem Deutschland. Belgien und Niederlande gerne künftig in diesen Bereichen mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Großbritannien erwies sich in dieser Hinsicht als unbeirrbar in seiner Position: Die vergleichsweise niedrige Steuerquote sollte nicht durch Harmonisierungszwänge modifiziert werden müssen. Vor allem aber im Bereich der Außenpolitik gelten Kompetenzabtretungen an die supranationale Ebene als Souveränitätsverluste. Das von K. D. Putnam (Dipl omacy and Domes tic Politics: The Logic of Two-Lev el-Gam es. In: International Organization. Nr. 3, 1988) umrissene Vcrhandlungsparadigma ließe sich auf diese Situation anwenden: Die Kompromissbereitschaft und der Spielraum der Diskussionspartner sind in dem vorliegenden Konfliktfall stark von ihrer europapolitischen Grundposition zur Integration abhängig. Im britischen Fall kann davon ausgegangen werden, dass Verhandlungshärte nicht zur Erreichung von Zugeständnissen an den Tag gelegt wurde. Vielmehr lassen sich von den ..roten Linien" abweichende Ergebnisse innenpolitisch nicht rechtfertigen. Die ..red lines" der britischen Regierung waren der Vorsatz, Mehrheitsentscheidungen in den Feldern Steuer-. Sozial- und Außenpolitik zu verhindern, vgl. etwa The International Harald Tribüne vom 13. 12.2003. 503 J.A. Emmanouilidis/T. Fischer, Die .Machtfrage europäisch beantworten. Die Abstimmungsregeln von Nizza und Konvent im Vergleich. 2003.
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und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
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ab, sondern vielmehr auf die Verhinderung eines als Bedrohung empfundenen „Übergewichts" der großen Staaten. Die deutsche und die französische Delegation fühlten sich zu Unrecht angegriffen. Es sei ihnen um die Einführung eines einfachen, transparenten und effizienten Abstimmungsverfahrens gegangen, das Gestaltungsmöglichkeiten eröffne und keine Blockadehaltung konserviere.
50 4
Da sich die Diskussion zunehmend im Kreise drehte, versuchte die Ratspräsidentschaft im „Beichtstuhlverfahren", also bilateralen Einzelgesprächen, die Fronten aufzuweichen. In Ermangelung weiterer Verhandlungsmasse verkündete der italienische Premierminister schließlich den Abbruch der Verhandlungen. Der gescheiterte EU-Gipfel vom Dezember 2003 ist in eine weitere Perspektive zu rücken. So bemerkenswert die konsensuale Übereinstimmung im Verfassungskonvent gewesen war - am Ende stand keine formelle Abstimmung. Am Vorabend der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union schien der größte mögliche Absturz der Hoffnung auf eine Verstärkung des politischen 50 5
Charakters der Europäischen Union zu stehen. Die Gründe für das Scheitern des Gipfels vom Dezember 2003 waren - wie geschildert - mannigfach. Vor allem mangelte es an einem „esprit europeenne" bei vielen der beteiligten Akteure. Die Ursachen dafür ließen sich nicht auf die besonders kontroverse Frage der Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat reduzieren. Machtfragen und psychologische Verstimmungen hatten sich vermischt - Folge einer Kette von Ereignissen und Tendenzen, die seit dem Gipfeltreffen des Jahres 2000 in Nizza ruchbar geworden waren und spätestens im internen kalten Krieg des Westens über die richtige Politik gegenüber der irakischen Diktatur und über die Weisheit des amerikanischen Krieges gegen das Regime von S. Hussein eskalierten. Auch in dieser Hinsicht wurde eine alte Erfahrung bestätigt: Wann immer die transatlantischen Beziehungen in einem schlechten Zustand sind, befindet sich auch der Prozess der europäischen Einigung in einem schlechten Zustand. Anders als im Dezember 2003 war es den Staats- und Regierungschefs jedoch bei ihrem zweitägigen EU-Gipfeltreffen am 18. Juni 2004 in Brüssel gelungen, sich auf einen Verfassungsvertrag für die Union zu einigen. Von vornherein stand dieser Erfolg nicht fest. Allerdings warder Druck für eine Verständigung außerordentlich groß. Zum einen wollten die Konferenzteilnehmer ihre Entscheidungsfähigkeit nach der niedrigen Stimmbeteiligung an den Europawahlen und dem Vormarsch der EU-kritischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten eindrücklich unter Beweis stellen. Zum andern standen die Regierungsverantwortlichen im Wort, denn sie hatten sich im März verpflichtet, bis Ende Juni die Beratungen über die EU• ' u Vgl. Regierungserklärung von Bundesaußenminister Rat vordem Deutschen Bundestag am 11.12.2003, abrufbar unter .de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=5179.
J. Fischer zum Europäischen www.auswaertiges-amt
50 5 Vgl. L. Kühnhardt. Auf dem Weg zu einem europäischen Ver in: NZZ. 16. Juli 2004.
fassungspa triotism us,
180
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Vertrags-Reform abzuschließen. Noch bedeutsamer war wohl die zielstrebige und effiziente Verhandlungsführung der irischen EU-Präsidentschaft, die es in allen Phasen der Debatte verstanden hatte, scheinbar unüberbrückbare Differenzen mit kreativen Kompromissvorschlägen zu überwinden. qq) Einige Geda nken zum Ergebn is des Verfass ungsko nvent s Eine umfassendere Bewertung des Verfassungsvertrages befindet sich im Anhang 50 6 , weshalb an dieser Stelle lediglich einige beifolgende (und gegebenenfalls von der „Parteilinie** abweichende) Gedanken sowie „wertende Bruchstücke" die bunte Fassade der Kommentierungen ergänzen sollen. (I)
Systematische Ergänzungen zur Frage:
Verfassung oder Verfassungsven rag?
Bei der Verwendung des Begriffs „Verfassung" waren im Debattenverlauf um die Jahrhundertwende auch unter den politischen Akteuren einige zurückhaltender als andere. Während J. Fischer in seiner Humboldt-Rede ganze zehn mal auf eine „Verfassung**- bzw. einen „Verfassungsvertrag" Bezug nimmt, taucht der Ausdruck in J. Chiracs Rede vor dem Deutschen Bundestag (2000) nur einmal auf, und dann auch sehr vage: „Nach diesen Arbeiten, die sicherlich einige Jahre in Anspruch nehmen werden, hätten zunächst die Regierungen und dann die Völker über einen Text zu befinden, den wir dann als erste .Europäische Verfassung' proklamieren könnten" 50 7 . Auch Bundeskanzler G. Schröder sprach zunächst von einer „verfassungsmäßigen Grundlage" oder „Verfasstheit" und erst später von „Verfassung". 50 8 Nahezu alle politischen Protagonisten betonten unterdessen den Verlaufcharak tereines „Konstitutionalisierungsprozesses". Zudem war auffallend, dass manche Akteure, so die Kommission und die CDU/CSU, fast ausschließlich von einem „Verfassungsvertrag" bzw. „Grundvertrag" sprachen, während "" Bewertunge n (unte r Mitarbeit des Verf.) der CSU-Landesgruppe sowie der CDU/ CSU Fraktion im Deutschen Bundestag. Eine tiefergehender Bericht sowie eine entsprechende Bewertung (die unter dem Namen des damaligen Staatsministers R. Bockler de r bayerischen Staatsregierung vorgelegt wurde) des ersten Entwurfes vom Juli 2003. findet sich unter www.bayern.de/.../content/stk/allgemein/ergebnisse_eu_konvent_030911 .pdf?PHPSESSlD=eb()6875d90a340f2d38d4976" Vgl. zudem zu den Inhalten des Verfassungsvertrages die Bibliographie des Verf. (2006): dazu die bei P. Hiiberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 661 f.. 666 ff. angegebene Lit. Vgl. zur Genesis auch die Aufsätze in H.-J. Blanke/S. Mangianieli (Hrsg.), Governing Europe under a Consitution. The Hard Road from the European Treaties to a European Constitutional Treaty, 2006. 507
J. Chirac. Rede vor dem D euts che n Bun des tag am 27. Juni 200 0. in: F AZ vom 28. 6.2 000 . S. 10 f. 50 8 So im Redemanuskript beim Internationalen Bertelsmann-Forum 2001: „Das entgrenzte Europa**. 19. Januar. 2001, mit G. Amato in der FAZ. 21.9.2000: „Weil es uns ernst ist mit der Zukunft Europas", sowie in der Regierungserklärung zu Nizza, 19. Januar 2001 (vgl. das entsprechende Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundestages).
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
181
etwa Fischer beide Begriffe benutzte. Dem Europäischen Parlament dagegen erschien „die Wahl des Ausdruckes (... ] von zweitrangiger Bedeutung. Der Begriff ,Verfassung' bringt unser europäisches Engagement stärker zum Ausdruck"
50 9
.
Die Debatte um die (Richtigkeit der) Bezeichnung des Ergebnisses des Verfassungskonvents 51 " ist auf den ersten Blick ein Scheingefecht. Wenn von einem idealen und metahistorischen Begriff der Verfassung sowie von der traditionellen 5 Verbindung zwischen Staat und Verfassung - wie unten dargelegt " - abgerückt werden muss, wenn also die Entwicklung der Europäischen Union auf ihrem „Sonderweg" zur Konstitutionalisierung ohne die gängigen Vorurteile, die der Begriff „Verfassung" mit sich bringt, bewertet werden soll, dann ist immerhin auch zu fragen, welche qualitative Änderung der ,.Verfassungs"-text für die Europäische Union induzieren würde. Erst dann würde die Einführung des Wortes „Verfassung" eine eigentliche Bedeutungskraft entwickeln und eine zielführende Betrachtung, nämlich in welcher Beziehung die künftige Verfassung Europas zur historischen Typologie der Verfassung steht, Sinn machen. Andernfalls könnte die Begrifflichkeit über einen verordneten Symbolcharakter nur schwerlich hinausreichen. Ein „Verfassungsvertrag" hat aus theoretischer Perspektive grundsätzlich eine schwächere Bedeutung als eine Verfassung. Er leitet sich nicht allein von der Volkssouveränität ab, sondern stellt in der Regel eine Vereinbarung zwischen selbständigen Staaten zur Begründung und Ausgestalt ung einer bundesstaatlichen oder bundesstaatsähnlichen Einheit dar. Wird innerhalb eines Staates ein Verfassungsvertrag abgeschlossen, ist meist von einer Abmachung zwischen der Exekutive und Volk auszugehen. Im 19. Jahrhundert sollte dieser konstitutionelle Kompromiss die Souveränitätsfrage überflüssig machen, da keine von beiden konstituierenden 5 2 Gewalten im Konfliktfall das letzte Wort hatte. ' Der Terminus „Grundvertrag" ist im Übrigen noch enger gefasst und bezieht sich nur auf die Bündelung der Artikel der Verträge, die bereits Verfassungscharakter tragen. Gleichwohl soll als unverzichtbare interpretatorische Grundlage im Rahmen 51 3 einer „Textstufenanalyse" zunächst der eigentliche, vorliegende Text selbst einer Prüfung unterzogen werden. Das Wort „Verfassung" findet sich bereits in der 50 9 Europäisches Parlament. Ausschuss für konstitutionelle Fragen: ..Bericht über die Konsti tutiona lisier ung der Verträge" , 12. Okt obe r 20(X). 51 0 Dieser Frage widmet sich auch P. Hüberle . Europäische Verfassungslehre. 4. Auflage 2006. S. 647 f. 51 1 Vgl. unter B.II.2.f)nn)(2)(d). 51 2 So E.-W. Böckenförde, Staat. Verfassung. Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. 1991. S. 36. 51
' Begr iff und Methodik der ..Textstuf enanalyse" beru hen auf P. Hüberle . Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998. S. 342 ff. m.w. N.; zum „Textstufenparadigma" im europäischen Kontext ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S.4ff.
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Präambel, wonach den „Hohen Vertragsparteien" eine „dankende Anerkennung der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents" dafür zugeschrieben wird, dass diese Mitglieder „diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und 51 4 Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben". In den drei ersten Teilen bezeichnet sich der Text ausnahmslos mit dem Wort „Verfassung". Dagegen ist im 4. Teil (Schlussbestimmungen) nur noch die Rede von einem „Vertrag" („le traite instituant la Constitution" in der französischen Fassung), dem „Vertrag über die Verfassung". Dies mag sich unter anderem daraus erklären, dass die Schlussbestimmungen formelle Fragen behandeln. Eine gewisse vertragsrechtliche Form des Textes zeigt sich auch dadurch, dass er mit mehreren Protokollen versehen ist. 51 5 Nun könnte man dazu neigen, dass es sich vorliegend materiell um eine Verfassung handelt, formell aber um einen Vertrag. Zumindest im Falle des Entwurfs wird die Form des Vertrags gebraucht, um über die Verfassung zu entscheiden (in der deutschen Sprachfassung heißt es „Vertrag über die Verfassung"). Durch die Vertragsform wird die Verfassung letztlich gegründet (worauf die französischen Fassung hin deutet: „Traite instituant la Constitution"). Offensichtlich wird aber auch ein „Vertragsmoment" in diesem Sinne fortdauern. was sich mit Art. IV-6 des Textes bestätigen lässt. In der Bestimmung wird das im Art. 48 EUV vorgeschriebene und vereinheitlichte Verfahren der Ver51 6 tragsänderung modifiziert. An dieser Stelle sei lediglich die Notwendigkeit der Ratifizierung jeder Änderung durch alle Staaten nach ihren eigenen nationalen Verfassungsbestimmungen benannt, was zur Folge hat. dass der die Verfassung gründende Vertrag also auch formell ein Vertrag bleibt. Der IV. Teil des Textes untermauert schließlich diese These. Im Ergebnis erweist sich die europäische Integration als weiterhin zwischenstaatlich gegründet. Diese in der „Verfassung" zu lesende Zwischenstaatlichkeit der Europäischen Union wird durch das in Art. 1-59 niedergelegte Recht auf „freiwilligen Austritt aus der Union" noch verstärkt. Sezessionsrecht war stets der neuralgische Punkt, an den die Interpretation föderaler Verfassungsordnungen angestoßen ist. Mit Blick auf die amerikanische Verfassungsgeschichte sei nur an Calhorni und seine „States Rights"-Doktrin erinnert, womit er die Stellung der 51 7 Südstaaten vor dem Sezessionskrieg begründete.
51 4 Bemerkenswert an diesem Satz ist zudem das seitens des Konvents formulierte ..Selbstlob durch Dritte". 51 5
Ein Umstand, der d ie „Lesbarkeit " des Gesa mtwer kes - einer der wic htigen Aufträge des Konvents nach der Erklärung von Laeken - nicht unbedingt fördert. 51 6
Ausführlich zum Änderungsverfahren unten B.IV.2.b).
Vgl. dazu C. Schmitt. Verfassungslehre. 7. Aufl., 1989. S. 374 f. Die vertragsmäßige Gründung des Deutschen Reichs 1866-1871 sollte auch bei dem bayerischen Staats51 7
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
183
Insgesamt ist mit der Anerkennung eines Austrittsrechts eine gewisse Schwächung der integrativen Symbolik verbunden, die man dem Terminus „Verfassung" beimisst. Eine weitere Akzentuierung erfährt der derivative Charakter der EU-Zuständigkeiten in der Formulierung von Art. 1-9, auch im Lichte von Art. 5 EGV. In Letzterem ist das sogenannte Prinzip der Einzelermächtigung wie folgt ausformuliert: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig." Art. 1-9 Abs. 2 lautet (mittlerweile „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union inner-
518
):
halb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr die Mitgliedstaaten519 in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr niedergelegten Ziele zugewiesen haben. Alle der Union nicht in der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten." Hiermit wird offenkundig, dass die Verfassung keine srcinäre Macht, sondern eine begrenzte Zahl an Zuständigkeiten gestaltet, die 11 von den Staaten zugewiesen sind/
rechtler M. von Seydel das Sezessionsrecht der Länder gewähren. Umgekehrt wurde das vom sowjetischen Föderalismus immer formell anerkannte Austrittsrecht der autonomen Republiken schon von Lenin so interpret iert, dass sein e Ausü bun g auf je den Fall durch die unwahrscheinliche Bewilligung der Union bedingt und folglich faktisch unmöglich war (vgl. S.M. Mouskhely, Les contradictions du federalisme sovietique. in : Centre de recherches sur l'URSS et les Pays de l'Est (Hrsg.), L'URSS: Droit, economie, sociologie, politiqu e, cultur e. t. 1. Paris 1962, S. 25.). Für eine Ausle gung der Sow jet ver fas sun g als zwischenstaatlich abgeschlossenen Vertrag war schließlich kein Raum. 5,8 Im Konventsentwurf lautete Art. 1-9 Abs. II S. 1 noch: „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr von den Mitgliedstaaten in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr niedergelegten Ziele zugewiesen werden." Die zukunftsoffene Formulierung bezüglich der Zuständigkeiten, die der Union „zugewiesen werden", änderte sich bemerkenswerterweise in eine 51 9 engere Fassung (nunmehr: „zugewiesen Kursivsetzung erfolgte durch den Verf.
haben").
Dieses Prinzip wird in Art. l-5a im Kontext des Grundsatzes vom Vorrang des EURechts wiederholt: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten". Eine solche klare Begrenzung des dem EU-Recht zukommenden Vorrangs steht im Übrigen der vom deutschen Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entsche idung behaupteten Prüfungsko mpete nz n icht entgegen, vgl . BVer fGE 89. 155: „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt. nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen." Man kann auch eine gewisse Zurückhaltung in den vorgesehenen Garantien erkennen, die den Rückgriff auf die neu gestaltete Flexibilitätsklausel einr ahme n (Art. 1-17). Dami t soll die viel disku tier te Gefa hr einer durch diese
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Auch im Hinblick auf die Ausgangslage des Konvents ist einer unreflektierten Bezeichnung des Textes als „Verfassung" mit Skepsis zu begegnen. Der Konvent tagte, wie bereits angedeutet, nicht in einer „revolutionären" Situation, die einen Bruch mit dem bestehenden Recht oder eine Staatsgründung gestattet hätte. Er sollte auf der Basis eines Mandats der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie geltender internationaler Verträge arbeiten, die es zu ersetzen gilt, was wiederum die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordert. Mehr als ein „Vertrag über eine Verfassung für Europa" konnte daraus als Gesamtwerk nicht erwachsen. Auch war es dem Konventspräsidium laut K. Hänsch durchaus bewusst, dass der Begriff „Verfassungsvertrag" in der öffentlichen Diskussion zur „Verfassung" verkürzt werden würde. 52 1 Ein Text mit lediglich (wenngleich zahlreichen) verfassungscharakteristischen Bestandteilen ist ebenso nur partiell „Verfassung", wie die bisherigen „Verträge" entgegen ihrer Benennung und angesichts unbestreitbarer Verfassungselemente nur zu einem (wenngleich großen) Teil „Verträge" im engeren Sinne sind. Die Diskussion um die Bezeichnung des Konventstextes spiegelt im Ergebnis eine mittlerweile „typisch" zu nennende, europäische Debatte wider. Auch hier mit unterschiedlichen Traditionshintergründen, unterschiedlichen Verfassungsverständnissen und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Ist das Verfassungsprojekt ein Turm zu Babel, der wegen seiner überrissenen Dimension und der SprachFlexibilität ins System möglicherweise einfliessenden Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union abgewandt werden. Nach wie vor wird die Geltung und die Anwendung von Europarecht in Deutschland „von dem Rechtsanwendungsbefehl des (zur Ratifizierung der .Verfassung* verabschiedeten) Zustimmungsgesetzes" abhängen. Die Bezeichnung des Vertrags als „Verfassung" kann an dieser vom Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung ausgesprochenen Behauptung nichts ändern. Interessant ist in diesem Zus amm enh ang auch der Bli ck nach Frankreich. In Art. 55 der nationalen Verfassung heißt es: „Die ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträge oder Abkommen erlangen mit ihrer Veröffentlichung höhere Rechtskraft als die Gesetze, vorausgesetzt, dass die Abkommen oder Verträge von den Vertragspartnern angewandt werden" (Übersetzung de s Verf.). Nach der französischen Rechtsprechung ist diese Bestimmung der Geltungsgrund des primären sowie des sekundären EG Rechts in der nationalen Rechtsordnung. Die ratifizierte EU-Verfassung könnte auch diesen Weg zur nationalen Rechtsordnung über den Art. 55 der französischen Verfassung nehmen. Damit ist aber auch ein Vorbehalt zum Vorrangsanspruch des EU-Rechts verbunden: nach der höchstrichterlichcn Rechtsprechung in Frankreich gilt diese „höhere Rechtskraft" der internationalen Verträge den Verfassungsb esti mmunge n gege nüber nich t (vgl. Conseil d' Eta t, 30. Oktobe r 1998. M Sarron, iVf. Levacher et autres, Les Grands A rrets de la Juris prudcn ce Administra tive, 13. Aufl.. 2001, Nr. 113 ; Cour de Cassation. 2. Juni 2000. Mademoiselle Fraisse, 2000. S. 865. Anm. Mathieu et Verpeaux). Anders gesagt: über den Weg des Art. 55 der französischen Verfassung wird eine Unions-Verfassung aus der französischen nationalen Perspektive nie vor der nationalen Verfassung Vorrang haben, sondern umgekehrt. Diese Tatsache ließe sich auch durch das Wort „Verfassung" nicht korrigieren. 52 1
334.
Vgl. K. Hänsch, Der Konvent - unkonventionell, in: Integration 4/2003, S. 331 ff.,
II. Eckpunkte
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Verwirrung zwar formell fertig gestellt erscheint, aber faktisch nie diesen Status erreichen wird? Redeten letztlich alle vom Gleichen, meinten jedoch Grundverschiedenes? Es wird stets Stimmen geben, denen das Verabschiedete entweder des Guten zuviel oder zu wenig ist. Unausgesprochen oder lediglich schüchtern erwähnt blieb bislang der Umstand, dass das Produkt gerade nicht für die Ewigkeit gemacht und revidierbar ist, sondern prinzipiell gegen, vielleicht für die Zukunft offensteht.
Die unterschiedlichen Vorstellungen können, vereinfachend und zusammenfas5 send. drei Ausgangsverständnissen " zugeordnet werden. Zum einen das (national) staatszentrierte Verfassungsverständnis, das der Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich die Verfassungsfähigkeit abspricht. Daneben ein lediglich formales Verfassungsverständnis, das mit einem einheitlichen, kohärenten und einprägsamen Dokument zufrieden ist. Zum dritten ein funktionelles Verfassungsverständnis (als insgesamt problemadäquatestes), das sich nicht in der Frage verliert, ob mit der Organisation der Dinge zugleich eine wie immer geartete Staatlichkeit entstehe oder diese voraussetze. Es ergänzt vielmehr in einem Mehrebenen-Modell die nationalen Verfassungen um eine supranationale ..Hausordnung" - unabhängig von den Ansichten um die Beschaffenheit des „Hauses Europa". Welche Bezeichnung man dem Papier schließlich gibt, ist dann von sekundärer Bedeutung. Das Mischwort „Verfassungsvertrag" dürfte auch unter diesem Blickwinkel die angemessene Konsenslösung sein. (2)
Inhaltliche Anmerkungen. Präambel und Leitmotto", Plädoyer für eine ,.Europäische Gesprächskultur"
Obgleich Beethoven mit - von vielen als „Europa-Hymne" apostrophierter „Freude schöner Götterfunken" bemüht wurde, zur Entflammung europäischer Herzen genügt das Dokument nicht. Die „Finalität" der Union - ob Vereinigte Staaten von Europa 52 3 oder etwas anderes „sui generis" - bleibt auf der Grundlage des Textes unbeantwortet. Immerhin sind Fortschritte gemacht worden, solche, die das eher lamentable Ergebnis des Gipfeltreffens von Nizza hinter sich lassen. Mehr war realistischerweise nicht zu erwarten. Die „Vertiefung" der Europäischen Union entwickelt sich weiter auf ihre traditionelle Weise, langsam, mühsam, Schritt für Schritt, unsicher über das Ziel, während die „Erweiterung" weiterhin (und bei aller politischen Ermüdung etwa angesichts des in mancherlei Hinsicht ernüchternden Beitritts Rumäniens und Bulgariens) große Sprünge macht. 5 24 Die Verfassung(svertrag)surkunde unterscheidet sich freilich erheblich von früheren Verträgen der Europäischen Union und in vielerlei Hinsicht auch von
5:2
Zum Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ausführlich unter B.II.2.f)nn).
Vgl. T. R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy. 2005. 52 3
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nahezu allen Verfassungen, die man landläufig als historische Vorbilder heranzie52 5 hen könnte. Sie entsteht nicht nach einer historischen Katastrophe , nach einem verheerenden Krieg oder nach einer Revolution, sondern sie rekurriert auf das, was ist und was die Nationen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen bewahren und zukünftig leisten wollen. Die Aufgabe der eigenen Staatlichkeit der Mitgliedsländer ist keine Bedingung zur Erreichung dieser Ziele (und kann deshalb auch kein - und schon gar nicht das einzige - Kriterium für die Durchführung einer Volksabstimmung sein). Darüber hinaus: in seinem evolutionären Charakter ist der Prozess der europäischen Integration einzigartig. Der nunmehr vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung setzt hier keinesfalls einen Endpunkt. Im Gegenteil: es ist abzusehen, dass sich die europäische Verfassung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit viel höherer Frequenz verändern wird 52 6 als wir dies von anderen Verfassungen gewohnt sind. Ein weiterer Punkt: auf den ersten Blick ist das Argument einleuchtend, dass die politische Bereitschaft, sich auf eine Europäische Verfassung einzulassen, um so größer wäre, je klarer und unzweifelhafter durch einen eindeutigen Kompetenzkatalog festgelegt wäre, welche Kompetenzen die Europäische Union ausschließlich, und welche sie in Form einer mit den Mitgliedstaaten geteilten (oder konkurrieren52 7 den) Kompetenz wahrnehmen soll. Damit sollte einer bisher „schleichenden"" Kompetenzaushöhlung regionaler und nationaler Kompetenzen durch die Europäische Union vorgebeugt werden. Im deutsch-französischen Dialog über diese Frage wurden zwischenzeitlich auch Teile des politischen Spektrums in Frankreich von 52 8 der Notwendigkeit eines Kompetenzkatalogs überzeugt. Doch Überzeugung allein führt in dieser Frage bis heute nicht weiter. Verschiedene Versuche, beispielsweise von deutschen Landesregierungen, eindeutige Kompetenzabgrenzungskataloge zu entwickeln, sind bisher angesichts der immanenten Komplexität wenig fruchtbar gewesen. Eine optimierte Organisation der „geteilten" Kompetenzen zwischen europäischen und nationalen Behörden bleibt unabhängig von den Regelungen, die im 52 4
Zum Verfassungsvertrag ist ein vollständiger Kommentar erschienen, nämlich C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag. Handkommentar, 2007. 5 :5 Sofern man den Beginn des Verfassungsschöpfungsprozesses nicht bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehen will. Ein insgesamt abwegiger Gedanke, nachdem der aktuelle Konvent ein srcinärer Vorgang ist. der zwar auf den Gedanken sowie einem Ensemble von Teilverfassungen (P. Hiiberle) und Errungenschaften des vergangenen halben Jahrhunderts aufzubauen weiß, jedoch letztlich die gesamte Verfassungsgeschichte zur Grundlage nehmen müsste. 52 6
Möglichkeiten und Wege der Verfassungsänderung werden unter B.IV.2.b) aufge-
zeigt. 52 7
Siehe bereits
W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8.6. 2000.
Vgl. J.-P. Picaper. Le RPR et l'UDF se rapprochent sur l'Europe. in: Le Figaro vom 15. 12.2000. 52 8
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Verfassungsvertrag gefunden wurden ein wichtiges Thema. Erforderlich ist im Wesentlichen eine klare Vereinbarung von Grundsätzen und Instrumenten für die Wahrnehmung politischer Verantwortung und für die Mitgestaltungsmöglichkeiten von nationalen (und subnationalen) Einheiten in der Europa-Politik. Die Gefahr aber lag und liegt stets darin, den Kompetenzkatalog dazu zu nutzen, verloren geglaubte Kompetenzen zurück zu gewinnen bzw. noch vorhandene „gegen Europa"' zu verteidigen, und dies relativ unabhängig von der eigentlich wichtigen Frage, wo die politische Verantwortung themenbezogen am geeignetsten ausgeübt würde.
52 9
Einige Worte zur Präambel des Verfassungsvertrages: Ist die fehlende Nennung der Bürger in der Präambel nun ein rückschrittliches Element, die Abkehr von mittlerweile gewohnten Verfassungselementen? Wohl nicht. Eher ist hierin eine Aufforderung zur konkreten Ausgestaltung und Neubestimmung durch die europäische Bevölkerung zu sehen. Die Akzentuierung der Repräsentativorgane (Könige?) ist weniger Endstadium als Einleitung eines erwünschten Devolutiveffekts. Ein europäisches „We the People ..." wird auf absehbare Zeit kaum am Schluss einer evolutiven Stufenleiter stehen. Die Präambel ist im Vergleich zu manch anderen Verfassungstexten wenig eindrucksvoll ausg efallen . Nicht nur ers cheint der Bezug zum religiösen und geistigen Erbe Europas dürr 53 0 , wenngleich die Diskussion über die fortwirkende Bedeutung des religiösen Erbes für die europäische Identität bemerkenswert lebendig und substantiell gewesen ist. Auch die formulierten „Ziele der europäischen Einigung" werden eher in trockener Sprache, entsprechend dem Kommunique-Stil von EUGipfeltreffen abgehandelt. Was der Dank an die „Verfassungsschöpfer" in einer Präambel zu suchen meint, bleibt das - uneitlen Erwägungen wohl nicht gänzlich ferne - (Er-)Schöpfungsrätsel der Konventsmitglieder. 53 1 Der Präambeltext bewegt sich auffällig fern allen (auch literarischen) Schwunges sowie des gerne belächelten Pathos und Zielorientierung der amerikanischen Verfassung. In der Konsequenz einen Verzicht auf die Präambel zu erwägen und den Verfassungstext stattdessen unmittelbar mit der Evokation der Grundrechte in der Europäischen Union beginnen zu lassen, würde freilich zu weit führen. 53 2 52 9 Vgl. auch U. Guerot . Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2/2001. S. 28 ff. 53 0 Vgl. hierzu unter C.II. 53 1 Vgl. auch L Kühnhardt. Der Verf assungs entwur f des EU-Konvents. Be der Strukturentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003. S.6f.: ..Dass den Verfassungsschöpfern Dank gebührt, ist wohl wahr. Aber was hat dieser Dank in der Präambel einer Verfassung zu suchen, die nicht nur politischen Akteuren als Referenzpunkt dienen soll, sondern die von Schülern und Studenten in ganz Europa studiert wird, um Auskunft über
die Frage zu bekommen, was die politische Identität Europas bedeutet?" 53 2 Siehe aber L. Künhardt, ebenda.
wertun g
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Gelungen ist allerdings das Motto, das Konventspräsident Giscard d'Estaing in letzter Minute für den Text der Präambel einbrachte: „In Vielfalt geeint" (es wird in Artikel IV-1 VerfV: ..Die Symbole der Union" wiederholt). Diese Floskel besitzt durchaus Chancen, zum (wenngleich stets zu überprüfenden und höchstens im Hinblick auf eine erfolgreiche Implementierung des Verfassungsvertrages geltenden) Leitmotto der Europäischen Union auf Jahre und Jahrzehnte hinweg zu werden. De r Verfasser dieser Zeilen erhebt den bislang vereinzelten und schüchternen Ruf, die Devise „In Vielfalt geeint" eines Tages - in lateinischer Fassung - auch auf den EURO-Geldscheinen lesen können, zur Forderung. Als das neue Deutsche Reich am 9.7. 1873 ein Münzgesetz erließ und dort erklärte „An die Stelle der in Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung ..." war einer der wichtigsten Punkte der „inneren Reichsgründung" erreicht. Zumindestens in der Perzeption der Bevölkerung kann die Etablierung einer Währung - wie auch der Verzicht - den „Verfassungsbestätigungsprozess" begleiten. Allein das „Dogma" der Integration, deren zentrale Stellung innerhalb der Verfassungsdebatte lassen angesichts der integritätsstiftenden Wirkung einer Währung diese Beobachtung umso evidenter erscheinen. Weshalb sollte man also nicht auch die Währung als „Transporteur" von Kernbotschaften nutzen? Das Beispiel der USA („In God We Trust" - auf allen Geldscheinen) ist diesbezüglich wegweisend. Es ste llt sich freilich die Frage, ob E uropa bereits reif ist, sich eine Verfa ssung zu geben. In den einzelnen Staaten sind noch durchaus Mangelerscheinungen an der erforderlichen politischen Substruktur, insbesondere an den Voraussetzungen für 5 eine echte politische Kommunikation auf europäischer Ebene zu beobachten. " Um die Kommunikationshemmnisse zu überwinden, gilt es im besonderen Maße, die „Europäische Gesprächskultur" nachhaltig zu fördern. Die vordergründigen Barrieren der Vielsprachigkeit und gelegentlich diametraler Interessen in nahezu allen Politikbereichen müssen dabei weniger als unüberwindbare Begrenzung denn einer vielmehr SprungbrettWerten zu einem ehrlichen interkulturellen Dialog mit dem Ziel auf als gemeinsamen basierenden Verfassungsgemeinschaft empfunden werden. rr) Elemente einer Ratifikationskris
e
Ein vordergründig trivialer Vorgang entwickelte sich nunmehr zur nahezu unüberwindbar erscheinenden Hürde: der Verfassungsvertrag, der alle derzeitigen europäischen Verträge durch einen einzigen Rechtsakt ersetzen sollte, konnte erst in Kraft treten, wenn er von den Unterzeichnerstaaten angenommen beziehungsweise ratifiziert wurde. Der Ratifizierungsprozess sollte ursprünglich in allen Mitgliedsstaaten bis November 2006 abgeschlossen sein. 53 3
2001.
Siehe zu dieser Argumentation auch
D. Grimm . Die Verfassung und die Politik.
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Zunächst gab es lediglich differierende Annahmeverfahren und einige Unklarheiten zu konstatieren: während in zehn Mitgliedsstaaten die Ratifizierung per Referendum stattfinden sollte, konnten in weiteren zwölf Ländern grundsätzlich die nationalen Parlamente die Verfassung ratifizieren. Iii drei Mitgliedsstaaten stand die Methode der Annahme noch nicht fest. Darüber hinaus traf der Verfassungsvertrag in zahlreichen Ländern weiterhin auf Widerstand und Ablehnung in Gesellschaft und Politik. Dies kulminierte schließlich in den ablehnenden 53 4 Referenda in Frankreich und den Niederlande. Referenda zu Fragen der europäischen Integration sind freilich kein Novum. Unterschieden werden muss dabei zwischen verschiedenen Typen: bindende und nichtbindende Referenda; Referenda, die von Regierungen, und solche, die von der jeweiligen Opposition eingebracht worden sind; Referenda mit Wirkung auf das Land, das das Referendum durchführt, und Referenda mit Wirkung auf den EU-Prozess insgesamt. 53 6 Bisher haben über 40 Referenda über Aspekte der Weiterentwicklung der europäischen Integration stattgefunden. Einige betrafen die Frage des Beitritts - oder der Fortsetzung der Mitgliedschaft - eines Landes zum europäischen Einigungsprozess in seiner jeweiligen Form oder zur verstärkten bilateralen Kooperation mit der Europäischen Union. Ein Referendum entschied über den Beitritt anderer Länder. Eine Reihe von Referenda wurde über Aspekte der konstitutionellen Vertiefung der europäischen Integration abgehalten.
53 5
Seit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 ist dies ein Indikator dafür geworden, dass die europäische Integration auf die Identität ihrer Mitgliedsstaaten zurückwirkt. Die Frage nach der konstitutionellen Legitimität einer vertieften Integration stellt sich überhaupt nur dort, wo der nächste politische 53 7 Schritt tatsächlich eine Vertiefung des Integrationsprozesses bedeutet. 53 4
Vgl. Zu der Diskussion in den Niederlande
A. Pijpers, Neue Nüchternheit und
kritische - dieauch Niederlande und die. europäische integration 30/2(X)7.Öffentlichkeit S. 449 ff. Vgl. S. Goulard EuropäischeIntegration, Paradoxien in: - ein Kommentar zur Lage der EU. in: integration 30/2007. S. 503 ff. 53 5 Vgl. hierzu IKI Europa (Hrsg.), IRI Europe Country Index on Citizenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 European States. 2003 sowie 2004: S. Höl Scheidt 11. Putz, Referenden in Europa, in: DÖV 18 (2003), S. 737 ff. sowie L LeDuc, The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective. 2003, S. 20f .; A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003: K. Schmitt (Hrsg.), Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 2003. 53 6 In einem ..europäischen Verfassungsreferendum" müsste verfahrensmäßig der föderale Aspekt zum Tragen kommen. Es dürfte nicht nur auf die Zustimmung der gesamten europäischen Bürgerschaft ankommen, sondern es wäre auch die regionale Verteilung der Zustimmung zu berücksichtigen, um die Majorisierung von Bürgern kleiner .Mitgliedstaaten (deren auch-nationale Identität zu respektieren ist) zu verhindern. Die bloß parallelen nationalen, auf Europa bezogenen Referenden können diesen Minderheitenschutz nicht leis-
ten. Allerdings: ein gesamteuropäisches Referendum (gar mit dem geschilderten föderalen Mechanismus) bleibt utopisch.
190
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Über den Ausgang der Referenda über den Verfassungsvertrag ließen sich anfangs nur schwerlich klare Prognosen anstellen (was für das „französische Referendum" 2005 nur beschränkt galt), vor allem nicht mit Blick auf Länder mit einer europaskeptischcn Grundströmung wie Großbritannien oder Dänemark, das in den frühen neunziger Jahren schon einmal den Aufstand geprobt und zunächst den Vertrag von Maastricht abgelehnt hatte. In den als integrationsfreundlich geltenden Ländern wiederum bestand die berechtigte Gefahr, dass der Urnengang für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert würde (Frankreich. Niederlande!). Dies geschah bereits in Irland, wo im ersten Anlauf der Vertrag von Nizza ver4 worfen wurde. 5 ' 8 Schließlich sollte der weitere ..Abstimmungskampf" um die EUVerfassung weiterhin maßgeblich von der „Türkei-Frage" beeinfiusst werden. Die Debatte über die Ratifikationsprozedur war und ist in sich selbst ein Teil des Diskurses zur europäischen Verfassung. Sie rückt Prognosen in das Licht der Öffentlichkeit, die mit gewisser stereotypischer Kontinuität über die Haltung einzelner Völker zum europäischen Einigungswerk gemacht werden. Der Prozess der Ratifizierung einer europäischen Verfassung ist ebenso Teil der Formierung einer europäischen Öffentlichkeit, wie die Erarbeitung des nun zur Abstimmung 53 9 stehenden Textes selbst es gewesen ist. Die Architekten des EU-Verfassungsvertrags haben mögliche Pannen beim Ratifizierungsprozess nicht wirklich bedacht. Was in einem solchen Fall konkret 53 7
Vgl. L. Kühnhardt, Auf dem Weg zu einem europäisc hen Ver fassungspa triotism us, in: NZZ , 16. Juli 2004: ..W o dies der Fall i st, geht es um die Übe rtr agun g nationals taatlic her Souveränität auf die EU. Es ist nicht verwunderlich, dass in einer solchen Situation in einigen Ländern der EU die Referendumsfrage virulent wurde - und bei der europäischen Verfassung wieder virulent geworden ist. Andere Staaten votierten schon in früheren Fällen - und auch jetz t w ieder - für die pr imä re Ver antw ortu ng ihrer frei gewä hlte n und dadurch entsprechend zur Abstimmung mandatierten Parlamente." 53 8 Die zweifachen Abstimmungen in Dänemark (1992 und 1993) und Irland (2001 und 2003) über den konstitutionellen Fortgang des Integrationsprozesses ragten bis zu den „schwarzen Tagen" in Frankreich und den Niederlande tatsächlich aus dem Kontext der Erfahrungen mit Referenden zu Fragen der europäischen Integration heraus: In beiden Fällen hatte das Votum eines Mitgliedslandes Auswirkungen für alle anderen Mitgliedsländer und ihren Integrationswillen. Dies war letztlich der - sowohl integrationstheoretisch wie auch demokratietheoretisch nachvollziehbare - Grund, warum in beiden Fällen ein zweites Referendum angesetzt wurde. Im Falle Dänemark geschah dies nach Konzessionen an die dänischen Kritiker des Maastricht-Vertrages („opting out"-Klauseln). Im irischen Fall - bei dem doppelten Votum der Iren zum Vertrag von Nizza - wurde das zweite Votum nach einer Periode des Wartens angesetzt, verbunden mit deutlichen Worten von außen, dass ein Land nicht die ganze Europäische Union zur Geisel nehmen dürfe. Im dänischen Fall wurde die integrationspolitische Logik des erzielten Kompromisses kritisiert, im irischen Fall die demokratietheoretische Logik des zweiten Referendums. In beiden Fällen obsiegte ein gewisser Sinn für Pragma tismus , der in der Europäisc hen Union off enbar vor jede r Form von Purismus immer dann obwaltet, wenn das Einigungswerk insgesamt in eine Sackgasse
zu geraten droht. 53 9
Vgl. L. Kühnhardt (2004).
II. Eckpunkte
und Grundl agen der europäischen
Verfas sungsentw icklung
191
geschehen sollte, stand gänzlich offen. Entschieden (und mittlerweile revidiert) war lediglich, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei „Schwierigkeiten" in einem oder mehreren Mitgliedstaaten und unter der Voraussetzung, dass zwei Jahre nach Unterzeichnung, also im Oktober 2006, mindestens 80 Prozent der Länderden Verfassungsvertrag ratifiziert haben, der „Frage" annehmen würden. Fazit: Der Europäischen Union stand eine Zitterpartie bezüglich ihrer Verfassung bevor, bestenfalls keine Periode integrationspolitischer Wirrnis und Konfusion (was angesichts des Beginns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (sowie mit Kroatien) am 3. Oktob er 2005, der Debat te um Rum änien und Bulgar ien sowie der Perspektive des restlichen westlichen Balkans („Thessaloniki goals") eher illusionär sein sollte). Nach dem Scheitern der Referenda in Frankreich und den Niederlanden sprachen sich viele Politiker. Kommentatoren und Wissenschaftler für eine „Rettung" des Vertrages aus, dessen baldiges Inkrafttreten realistischerweise unwahrscheinlich war. Sowohl die französische wie die niederländische Regierung häten bei einer zeitnahen neuen Abstimmung „politischen Selbstmord" begangen. Der Vorwurf des Ignorierens des Wählerwillens wäre allenfalls dann überwindbar, wenn das unbedingte Festhalten am Verfassungsvertrag innerhalb der Europäischen Union eine breite Unterstützung fände. Diese ist bis heute weder auf EU-Ebene noch in den Mitgliedstaaten auszumachen. Zudem war insbesondere in Großbritannien und Irland ein klares „Ja" nicht zu erwarten. Folglich dachten Viele über mögliche Alternativen nach. 54 0 Es wurde eine ganze Reihe von „Plan B-Optionen" diskutiert : eine umfassende Neuverhandlung, der „cherry-picking-Ansatz" (sog. Nizza-Plus), ein Zusatzvertrag zum geltenden Vertrag von Nizza in der Form eines Verfassungsvertrages Ii gilt oder eines Änderungsvertrages, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten mit den beiden Optionen eines freiwilligen Austritts der Nichtratifizierer oder der Gründung einer
neuen Union, die Beibehaltung des primärrechtlichen Status quo sowie die erneute Reform der europäischen Verträge in einigen Jahren im Sinne einer „Verfassung II". Einige der Alternativvorschläge stellten keine reelle Option dar. Aber auch die übrigen konnten nur ,jecond-best-Lösungen" anbieten, da sie stets mit gewissen Einschränkungen oder Hindernissen verbunden sind. Welcher der diskutierten
54 0 Vgl. umfassend und m.w. N. B. Thalniaier. Nach den gescheiterten Referenden: Die Zukunft des Verfassungsvertrages, C.A.P.-Analyse, 2005: siehe auch C. Closa, Ratifying the EU-Constitution: Referendums and their Implications, 2004. Vgl. auch D. Gölerl H. Marhold , Die Zukunft der Verfassung - Überlegungen zum Beginn der Reflexionsphase, in: integration 28/2005. S. 332 ff.: D. GölerlM. Jopp. Die europäische Verfassungskr ise und die Strategie des „langen Ate ms" , in: integra tion 29/ 200 6. S. 91 ff.: B. Laffanll. Sudbury, Zur Ratifizierungskrise des Verfassungsvertrages - drei politikwissenschaftliche Lesarten und ihre Kritik, in: integration 29/2006. S. 271 ff.: D. Thym, Weiche Konstitutionalisie-
rung - Optionen der Umsetzung einzelner Reformschritte des Verfassungsvertrages ohne Vertragsänderung, in: integration 28/2005, S. 307 ff.
192
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Plan B-Optionen auch immer im Rahmen des Vertrages von Lissabon zum Tragen käme, die Ratifikation sollte nur gestoppt werden, wenn eine klare Alternative vorhanden ist. die ambitioniert genug ist, die EU-27 demokratischer und effizienter zu gestalten. Der Ausgang der Referenden belegt ein „So geht es nicht weiter!". Ein schlichtes Einstellen der Bemühungen um Reformen und ein Weitermachen wie bisher kommen nicht in Betracht. Den Verfassungsvertrag bzw. nunmehr den Vertrag von Lissabon zu ..begraben", ist daher keine tragfähige Option. Die Staats- und Regierungschefs hatten schließlich auf dem EU-Gipfel am 16./ 17. Juni 200 5 i n Brüssel beschloss en, bis zu m Ende der österreich ischen Ratspräsidentschaft im Juni 2006 eine ..Phase der Reflexion" im Prozess der 54 1 Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa einzulegen. Die Fortsetzung des Ratifikationsprozesses wurde dadurch nicht Frage gestellt, zeitlich ist er aber zunächst bis Mitte 2007 verlängert worden. Infolgedessen hatten Großbritannien. Portugal, Polen, die Tschechische Republik, Dänemark, Irland. Schweden und Finnland ihre nationalen Ratifikationsverfahren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Schließlich ein grundsätzlicher Gedanke: Ein einmaliger, punktueller Akt kann eine Verfassung ohnehin nicht legitimieren. Denn dieser bezieht sich immer nur auf den Status quo. Wenn sich Verfassungsinhalte nicht bewähren oder wenn sich die Umstände ändern, dann bringt die vergangene einmalige Zustimmung letztlich nichts. Für die nachfolgenden Generationen, die unter dieser Verfassung leben müssen, hat dieser Akt - wenn es auf die Zustimmung der Bürger ankommen soll - ohnehin keine Legitimationswirkung. Ein Umstand, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Republikanern und Jakobinern erkannt worden ist. Demzufolge wird eine Verfassung weniger durch die Art und Weise ihrer „Erzeugung" legitimiert als über ihre - nur ex post feststellbaren - Leistungen 54 2 und kontinuierliche Akzeptanz. 3.
Drei Folgerungen
In der Absicht, abschließend die Geschichte Europas als Ganzes in den Blick zu nehmen, ergeben sich aus dieser (limitierten) tour d'horizon einige Folgerungen, die gleichzeitig einer weitergehenden interdisziplinären Bearbeitung bedürften. Zum einen: Die Geschichte Europas ist in weiten Teilen ihre eigene Rezeptionsgeschichte. Die longue dürfe ist ein Zivilisationsprozess, der in hohem Maße aus Diese Reflexionsphase wurde auf dem Gipfel Ende Juni 2006 nunmehr erneut verlängert. Die unbestrittene Legitimität des deutschen GG. das bekanntlich an diversen „Geburtsmakeln" litt, illustriert diese These, vgl. zu alledem auch A Peters, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.). Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfas sungssympos ium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 24 ff.
II. Eckpunkte
und Grundla gen der europäischen
Verfa ssungsentw icklung
193
Traditionswahrnehmungen gespeist wird. Für Europa gilt, was B. Anderson über die Nationen gesagt hat: Es ist eine „imagined Community", besteht also, wenn es besteht, vor allem in den Köpfen der Menschen.
543
Möglicherweise, das wäre das zweite Ergebnis, ließe sich das analytische Instrumentarium für eine Verfassungsgeschichte Europas verfeinern. Das oft genutzte Begriffspaar Rationalisierung und Modernisierung als Leitfaden einer europäischen Geschichte ist für sich alleine eine zu grobe und übrigens auch zu vieldeutige Kategorisierung, um zur Beschreibung einer Langen Dauer der abendländischen Zivilisation zu taugen. Hilfreicher als ein lineares Fortschrittsmodell wäre eines, das an jedem Zeitpunkt der Entwicklung auch die dazugehörige Reflexion über diese Entwicklung einbezöge: welche historischen Weltbilder liefern den Wahrnehmungs- und Urteilsrahmen, innerhalb dessen sich die Entwicklungsschritte vollziehen? Welche kollektiven Erinnerungen, welche Vorbilder, welche Mythen, welche Metaphern, welche rückwärtsgewandten Utopien bilden die „Folie", auf deren Hintergrund der Prozess der Zivilisation abläuft? Erst wenn der Zusammenhang zwischen Logos und Mythos, zwischen Zukunftsentwurf und Vergangenheitsbild hergestellt sein wird, kann man die lange Renaissance Europas, die Verwestlichung des Abendlandes angemessen beschreiben und damit der Verfassungsgeschichte einen tatsächlich würdigen Rahmen ermöglichen. Im übrigen wird - drittens und letztens - ersichtlich, dass es nicht ausreicht, einzelne Epochen der europäischen Geschichte jeweils für sich zu betrachten und zu analysieren. In jeden Zeitpunkt ist die ganze europäische Vorgeschichte mit eingeschlossen und muss jeweils mitgedacht werden, und zwar zugleich auf zwei Ebenen: Als Realgeschichte wie als mythisch vermittelte Vergangenheitswahrnehmung, als welche sich Geschichte in dauernder Verwandlung ständig wiederholt. 5 4 4 Der tiefste Grund für den Aufstieg wie auch für die Gefährdung Europas liegt vielleicht in dieser immerwährenden Suche nach der verlorenen, der geahnten und erhofften
ciureci aetas.
543 B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 1983. 54 4 Namentlich Letzteres spricht übrigens gegen das Verfahren namhafter Historiker, die Antike aus der europäischen Geschichte auszugrenzen und Europa irgendwann zwischen Spätantike und Hochmittelalter entstehen zu lassen, vgl. nur//. Pirenne, Geschichte Europas. Von der Völker wand erun g bis zur Reformation . 1956 : D. Gerhard. Das Abendland 800-1800. Ursprung und Gegenbild unserer Zeit. 1981; F. Heer. Europäische Geistesgeschichte. 1953; A. Mirgeler, Revision der euro päisc hen Gesc hicht e. 1971. Tatsächlic h reicht die Antike als historisch wirkende Kraft bis in unserer Gegenwart, ist also auch Neueste Geschichte, und zwar in erster Linie in Gestalt ihrer Verwandlungen, die sie im Laufe der Zeit in den Köpfen und Herzen der Menschen durchgemacht hat.
194
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
III. Der Einfluss der ameri kanis chen Verfassung und des Verfassungsverständnisses auf europäische Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge Amerikan ische Verfas sungsprinzipien und -elemente waren in d en vergangenen, annähernd zweieinhalb Jahrhunderten einer weitreichenden Rezeption in Europa unterworfen. 54 5 Durch Rousseau waren im vorrevolutionären Frankreich demokratische Ideen lebendig geworden. Die Physiokraten erhoben die Forderung nach Freiheit 5 46 wirtschaftlicher Betätigung und Niederhaltung staatlicher Einmischung. Zeitgleich war in Amerika die Verbriefung solcher Freiheiten in Grundrechtskatalogen nur eine Kodifizierung von bereits weitgehend geltenden Grundsätzen in der damaligen Verfassungswirklichkeit. Das revolutionäre Frankreich stand angesichts der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor einer gänzlich 54 7 unterschiedlichen politischen wie verfassungsrechtlichen Situation. Lafayette wurde jedoch maßgeblich durch die Bill of Rights of Virginia angeregt, in der französischen Constituante den Antrag für eine Erklärung der Menschenrechte zu erlassen. Und wieder führt die Spur zu Jefferson, der angesichts seiner Mitwirkung an dem eingebrachten Entwurf 5 48 tatsächl ich zum Grenzgänger zweier Verfassungswelten wurde und wohl als der eigentliche ..Pionier transatlantischer Verfassungsrezeption*' bezeichnet werden muss. In Frankreich betonte man im kosmopolitischen Geist der Aufklärung die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden „Revolutionen". Die amerikanischen Verfassungen erschienen in französischen Übersetzungen und Lafayette verehrte seinem 54 9 Freund Washington in einer symbolischen Geste den Schlüssel der Bastille.
5 45 Dazu etwa H. Steinberger,; 200 Jahre amer ikan isch e Bund esve rfa ssun g. 1987, S. I ff., 23 f.; B.Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, in: NJW 1989. S. 1333 ff. 54 6 Vgl. D. Klippel . Der Einfluss der Physiokraten. in: Der Staat 1984. S. 205 ff. 54 7 Dazu umfassend W.Rees, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. 1912 (Neudr. 1968): S.-J. Samwer, Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91. 1970. 54 8 Diese Konstellation beschreibt O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrechte. in: R.Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung Menschenrechte und Grundfreiheiten. 1964 (2. Aufl. 1974), S. 166 ff., S. 193 ff. Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen beschreibt ebenfalls O. Vossler in seiner gleichnamigen Monographie (1929).
Zu den wechselseitigen Wirkungen der Französischen Revolution und der Amerikanischen Revolution auf das Frankreich und Amerika des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts vgl. J. Heuleking. Geschichte der USA. 2. Aufl. 1999. S. 79 ff.
III. Der Einfiuss der amerik anische n Verfassung
195
Insbesondere das US-amerikanische Prinzip der Verfassungskontrolle ist im Europa des 19. Jahrhunderts stellenweise rezipiert worden. Portugal, Griechenland 55 0
und Norwegen übernahmen sogar die Grundzüge des amerikanischen Vorbilds. Das Präsidialsystem hat - in Konkurrenz zum System mit Premierminister - weltweite Verbreitung gefunden. Ebenso die Verfassungsgerichtsbarkeit.
,,[T|he Federalist Constitution has proved to be a brilliant success. which unitary nation states and parliam enta ry democr acie s all over the world would do well to copy. I give it most of the credit for the fact that ours is the wealthiest, most technologically advanced. and most socially just society in human history. not to mention the fact that we have with ease bec ome a military sup erpowe r. 1... | The rest of the world is quite rightly impressed with us. and it is thus no accident that the United States of America has become the biggest Sin gle expo rter of publi c law in the histor y of hum ank ind . Alm ost wherev er one looks. written constitutions. federalism. Separation of powers, bills of rights, and judicial review are on the ascendancy all over the world right now - and for a good 1 reason. They work better than any of the alternatives that have been tried.""
Die triumphalen und schwerlich bescheiden zu nennenden Zeilen Calabresis sind beredtes Zeugnis für ein amerikanisches Selbstverständnis, dass neben aller gelegentlichen Hybris doch in einem tatsächlich fruchtbaren „VerfassungsNährboden" wurzelt. 55 2 Freilich: Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die amerikanische Bundesv erfassu ng von 1787 zählen zu den wichtigsten Inn ovationen für den westlichen Staatsbildungsprozess überhaupt. Uralte Gegenseitigkeitsprinzipien fanden auf der Grundlage allgemeiner Volkssouveränität eine Transformation in modernes Selbstbestimmungsrecht. Eine Nation gründete sich mittels einer Verfassungsurkunde erstmalig selbst, einer Verfassung, die wie oben kursorisch ausgeführt auch inhaltlich innovativ war - eigentlich weniger durch die Verankerung der Gewaltenteilung als in der Errichtung eines Bundesstaates mit klar aufgeteilter Souveränität. 55 3 Die - regelmäßig in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixierte - Verfassung ist konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwesens. Der moderne Konstitutionalismus wiederum erwächst den großen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In vielerlei Gestalt hat die „Konstitutio-
5511 Vgl. M. Fromont. La justice «institutionelle dans la monde. 1996. S. 15: Rechtskreise im öffentlichen Recht, in: AöR 126 (2001), S. lOff, 49.
R. Grote,
551 S.G. Calabresi, An Agenda for Constitutional Refor m, in: W.N. Eskri dge/ S. Levinson (Hrsg.), Constitutional Stupidities. Constitutional Tragedies, 1998. S.22. 55 2 Etwas nüchterner in der Betrachtung in: 113 Harv ard L. Rev. (200 0), S. 63 3 ff. 55 3
B. Acker man. The New Separation of Powers,
Tatsäc hlich gelang es mit der Nor th West Ordina nce 1787, das weitere Wach stum der Nation verbindlich vorzuprogrammieren, eine gänzlich neuartige, rationale Planung des politischen Prozesses.
196
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
nalisierung der Herrschaft" ( D. Grimm)** 4 seither die historisch-politische Welt geprägt und darüber hinaus im Zuge der Globalisierung der Politik die nichtwestlichen Gesellschaften erfasst. Dort, wo seiner Grundidee nach der moderne 55 5 Begriff der Verfassung als „Ordnung des Politischen" konzipiert wird, wird gleichzeitig ein zentraler Sinngehalt der politischen Kultur ausgedrückt. In diesem Kontext entspringt der modernen Verfassung eine Mehrfachfunktion: zum einen deutet sie ihrer symbolischen Funktion entsprechend die Ordnungsgehalte der politischen Kultur der Gesellschaft und normiert dieselben. Gemäß ihrer instrumentellen Funktion liefert sie zudem das (Spiel-)Regelwerk für die politischen Prozesse des politischen Systems. Als „quasi-kanonischer Text" steht sie einmal für eine Hermeneutik der gesellschaftlichen Existenz mit einem Verbindlichkeit fordernden Geltungsanspruch. Zum anderen ist sie Anker- und Kristallisationspunkt für einen permanenten hermeneutischen Prozess der Interpretation der durch sie verbürgten Prinzipien im Medium der politischen Deutungskultur der Gesellschaft. Wo ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit zukommt, hat sich eine in sich stets kontroverse Tradition der Verfassungshermeneutik herausgebildet, die unter modernen kulturhermeneutischen Vorzeichen zu analysieren ist bzw. wäre. 55 6
55 4
Vgl. D. Grimm. Die Zukunft der Verfassung, 1991.
55 5
Dazu weitergehend in U.K. Preuß (Hrsg.), Zum Be griff der Verfassung, 1994. Es entspricht der hier vorgeschlagenen Problemstellung, dass sowohl an die Resultate der historisch und vergleichend ausgerichteten Forschungen zum Konstitutionalismus als auch an die jeweilige nationale Verfassungsgeschichtsschreibung anzuknüpfen ist. Hierbei liegt das Gewicht in der Regel auf der Behandlung des westlichen Konstitutionalismus. Bezeichnend ist, dass der von K. Löwenstein in seiner Verfassungslehre (1959) konzipierte historisch-vergleichende Ansatz erst in den vergangenen Jahrzehnten wiederaufgenommen wurde. Ein Grund hierfür mag darin zu sehen sein, dass der Strukturfunktionalismus 55 6
als dominante Richtung der „comparative politics" die Verfassungsfragen marginalisierte. Die Arbeiten von J. Elster!R. Slagstat (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy. 1988. D. Grimm. Die Zukunft der Verfassung. 1991. U. K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994. J. Gebhardt! R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. 1994. A. Kimmel (Hrsg.), Verfassu ngen als Funda ment und Instrument der Politik. 199 5 un d H. Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte. 1999. haben in unterschiedlicher Perspektive die Bedeutung des Konstitutionellen für die moderne Staatlichkeit erneut thematisiert. Die Problemstellung der Hybridisierung und Indigenisierung konstitutioneller Formen wurde erst in der neueren Forschung als ein eigenständiger Untersuchungsgegenstand begriffen (K Meny (Hrsg.), Le Politiques du mimetisme institutionel, 1993; W. Reinhard (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt, 1998). Hier ist insbesondere auf die regionalspezifische verfassungsgeschichtliche Forschung zu islamischen (aus der Lit. M. Bayat. The Constitutionalization of Power in Shia Iran, in: J. Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999; dies., Iran's First Revolution, Shi'ism. and the Constitutional Revolution. 1991: H.G.Ebert, Die Interdependenz von Staat. Verfassung und Islam im Nahen und Mittlere n Osten in der Gege nwa rt. 1991; A Schirazi, The Constitution of Iran. 1997) und ostasiatischen (K.J. Antoni, Der himmlische Herrscher und sein Staat. 1991; W.Seifert. Verfassung und Politische Kultur am Bespiel der Meiji-Verfassung von 1889.
III. Der Einfi uss der ame rik anis che n Verf assung
197
Der in der amerikanischen Revolution formulierte Katalog konstitutioneller Ordnungsprinzipien wurde schon im Verlauf des „westlichen" Konstitutionalisierungsprozesses jeweils unterschiedlichen historisch-politischen Formensprachen unterworfen, woraus durch Verschmelzung von Eigenem und Fremdem eine Vielfalt der Verfassungskulturen resultierte. Letztlich ein dynamischer Prozess der Übernahme, Umformung. Anpassung und Umdeutung konstitutioneller Paradigmata.' 5 Diese verschmolzenen, hybriden Formen des institutionell en Mimetismus erwiesen sich durchaus als exemplarisch für Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas. 55 8 Im Iran, in Japan und der Türkei bedienten sich unterschiedliche Reformbewegungen aus dem Fundus des westlichen Konstitutionalismus, um indigene politische Ausprägungen der gesellschaftlichen Existenz zu entwickeln. Die Rezeption des Konstitutionalismus in den „nicht-westlichen" Zivilisationen resultierte im Wesentlichen jedoch nicht in einer Modernisierung durch Verwestlichung, sondern in einer Entfaltung pluraler Formen der Modernität, in denen die jeweiligen eigenen historischen Traditionen oftmals in der Begegnung mit westlichen konstitutionellen Formen eine indigenisierte konstitutionelle Politik generierten, die in den Strukturen analog, aber nicht identisch zu bzw. mit dem westlichen Modell sind. 1.
Die Verein igten Staa ten von Ame rik a - ein
Faktor des europäischen Einigungsprozesses
Es wäre trotz aller (regelmäßig wiederkehrender) Friktionsfelder falsch, die historisch fördernde Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess wegzudiskutieren und die strategische wie gesellschaftliche Bedeutung eines gut funktionierenden, transatlantisch partnerschaftlichen Verhältnisses zu unterschätzen.
55 9
in: J. Gebh ardt (Hrsg. ). Verfas sung und politische Kultur. 1999. S. 139 ff.: M. Schmiegelow, Democracy in Asia. 1997) Gesellschaften zu verweisen. 55 7 Von Y. Xteny (Hrsg.), Le Politiques du mimetisme institutionel - La greffe et le rejet. 1993 im Vorwort als „mimetisme constitutionel" bezeichnet. 55 8 Während Hybridisierung für jeden Fall der Verfassungsübernahme charakteristisch ist. gilt für den Fall eines gelungenen Konstitutionalisierungsprozesses. dass die mimetische Anverwandlung der institutionellen Form an die geschichtlich-kulturellen Vorgänge, d. h. die Indigenisierung des Konstitutionalismus in einer politischen Kultur gebunden ist. 55 9 Zustimmung verdient G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im globalen Kontext, 2004, S.41 ff., 41, der hinsichtlich des derzeitigen transatlantischen Verhältnisses feststellt: „Indessen gleicht das Verhältnis der USA und der EU einer langjährigen partnerschaftlichen Beziehung, die beide Partner als so selbstverständlich ansehen, dass sie sich über den Grad der Belastbarkeit beim Austragen von Streitigkeiten keine Sorgen zu machen glauben. Das .taking for granted* aber ist ein
schleichendes Gift, das die soliden Grundlagen in Vergessenheit geraten lassen und den Blick für die gemeinsame Bewältigung zukünftiger Aufgaben trüben kann."
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Ein nüchterner Blick bleibt angebracht: Die Einigung Europas ist in erster Linie eine Verantwortung und gestalterische „Hausaufgabe" der Europäer selbst. Gleichwohl ist die Haltung der Vereinigten Staaten - unterstüt zend, kritisch wohlwollen d begleitend oder skeptisch abwartend - stets auch ein Faktor der Beschleunigung oder der Verzögerung gewesen. Die Reden W. Churchills in Fulton/Missouri (1946)5*° und G \jars/,alls in Harvard (I947) 5 61 konnten inspirierende Wirkkraft entfalten.
Persönliche Bindungen mit „transatlantisch prägender Dimension" fristen in der rechts- und politikwissenschaftlichen Betrachtung ein eher kümmerliches Dasein. Umso erstaunlicher, da etwa jeder grenzüberschreitende, „rechtskulturelle" Ansatz auf personalisierte Bindeglieder, zumal „Transporteure" angewiesen sein müsste. Beispielhaft darf angeführt werden, dass drei amerikanische Nachkriegspräsidenten. Truman. Eisenhower un d Kennedy, mit J. Monnet in persönlicher Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbunden waren. G. Ball wa r J. Monnets engster amerikanischer Berater. J.F. Kennedys Konzept der Partnerschaft von Gleichen, sein Einfluss auf Mac Millans Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft 1961 und die frühe Beschäftigung amerikanischer Universitäten mit der Theorie und Praxis europäischer Integration sind weitere Beispiele konstruktiven amerikanischen Interesses. W. Hallstein hat diese Interaktion zwischen amerikanischem Interesse und notwendiger Erklärung komplexer europäischer Vorgänge prägend mitgestaltet. In Teilen ungebrochen aktuell lesen sich Hallsteins Clayton-Vorlesungen mit dem Titel ..Die Einheit Europas - Herausforderung und Hoffnung" im April 1962 in Boston 5 ' 0 oder die (selbst verfassten) Berichte über seine regelmäßigen Gespräche mit Präsident Kennedy sowie seine Reden in Washington und New York aus den Jahren 1961 -6 3 5 6 3 . Ernst Haas hat schon Anfang der 50er Jahre an der Universität Berkeley eine Vorlesung über die Rechtsnatur der EGKS eingerichtet. Heute beherbergen mehr als 15 amerikanische Universitäten ein „European Union Center", zahlreiche Institute und Forschungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt „Europäische Union" wurden und werden etabliert.
56 0
Abrufbar unter
www.nato.int/docu/speech/1946/s460305a_e.htm.
56 1
Abrufbar unter www.georgecmarshall.org/lt/speeches/marshall_plan.cfm. 562 W. Hallstein. United Europe: Challenge and Opportunity. The William L.Clayton Lectures on International Economic affairs and Foreign Policy. 1962. 56 3 Die Reden sind abrufbar unter /indexEN.html.
www.ena.lu/europe/19571968-successes-crises
III. Der Einfiu ss der amer ikan isc hen Verf assung
2.
Die konkrete Rolle der
USA ini europäischen Einigungspro zess
199 5W
Es wird im Folgenden darum gehen, die grundlegende Unterstützung der USA für den Prozess der supranationalen Integration Europas in den verschiedenen Phasen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch genauer nachzuzeichnen. Dabei wird zu zeigen sein, dass es sich um eine Unterstützung handelte, die in Abhängigkeit von den jeweils dominanten Motiven und Interessenlagen sowie den spezifischen Kontexten und Problemen unterschiedlich intensiv ausfallen und verschiedenartige Ausprägungen annehmen konnte. a)
Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten Weltkrieg?
Bereits unmittelbar nach Kriegsende setzte das amerikanische Engagement für den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten (West-) Europa ein. Dabei standen zunächst die „Notwendigkeiten der Nachkriegszeit" im Vordergrund. Seinen sichtbarsten Ausdruck fand das europapolitische Engagement der USA in der Verabschiedung des so genannten „Marshallplans" durch den US-Kongress im Jahre 1948. Bekanntlich hat dieses nach dem amerikanischen Außenminister G. Marshall benannte Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) mit seinen materiellen und finanziellen Hilfen und Dienstleistungen erheblich zum Wiederaufbau der europäischen Länder nach 1945 beigetragen. Auch wenn dem Marshallplan die primäre Zielsetzung zugrunde gelegen hat. die materiellen Nöte der vom Krieg geschundenen Bevölkerung zu lindern und langfristig den ökonomischen Wiederaufstieg der westeuropäischen Staaten zu fundieren, war bereits dieses frühe europapolitische Engagement der USA auch mit der Absicht verknüpft, die politische, wirtschaftliche und militärische Integration Westeuropas zu befördern. Die 1953 vom amerikanischen Außenminister J. F. Duttes vordem National Security Council vorgetragene These, „There was no hope for Europe without integration" 56 5 , lag bis in die sechziger Jahre als eine Art Leitmotiv der Europapolitik aller amerikanischen Nachkriegs-Administrationen zugrunde. Die Hintergründe und Motive dieser gegenüber der Vorkriegszeit grundlegend veränderten handlungsleitenden Grundmaxime der amerikanischen Europapolitik waren vielfältig. Ohne Frage hat die destruktive und destabilisierende Wirkung der von permanenten, gefährlichen Krisen erschütterten zwischenstaatlichen Beziehungen der europäischen Nationalstaaten in der Vorkriegszeit, die schließlich
56 4 Die nachfolgenden Thesen stützen sich auf einen Vortrag des Verf. am 17. 11.2005 in Washington, zu dem eine vom Verf. in Auftrag gegebene Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 25. 10.2005) wesentliche Impulse zu setzen wusste. 56 5
Zitiert nach B. Neuss, Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-'Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.
20 0
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in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mündeten, bei den außenpolitischen Eliten in Washington eine gründliche Revision der tradierten Denkmuster und Handlungsstrategien hervorgerufen. Nur eine Abkehr von der herkömmlichen Nationalstaatspolitik und eine weit reichende supranationale Integration der europäischen Staaten bei einem mehr oder weniger großen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte konnte nach einer in den maßgeblichen amerikanischen Führungskreisen weithin verbreiteten Überzeugung eine stabile friedliche sowie eine politisch wie ökonomisch gedeihliche Entwicklung garantieren. Dagegen sah man bei einer Restauration des traditionellen europäischen Nationalstaatensystems das Wiederaufleben schwerer internationaler Krisen und kriegerischer Auseinandersetzungen als geradezu unvermeidlich an. Die amerikanische Führung unterstützte daher alle Ansätze, die darauf abzielten, die westeuropäischen Staaten zu einem der USA ebenbürtigen Verbund von Staaten zusammenzuschließen, selbst auf die Gefahr hin, dass den Vereinigten Staaten hieraus eines Tages ein potentieller Konkurrent erwachsen könne, der international seine eigenen Ziele und Interessen verfolgen würde. In der politischen Praxis der ersten Nachkriegsjahre kam dieser neuen Ausrichtung der amerikanischen Europapolitik zugute, dass eine Reihe von führenden westeuropäischen Staatsmännern der Wiederaufbauzeit wie R. Schunian, A. de Gasperi, J.Monnet un d K.Adenauer ebenfalls eine stärkere Einbindung ihrer Staaten in übernationale westeuropäische Strukturen befürwortete. Die Übereinstimmung in der grundsätzlichen Ausrichtung erleichterte die amerikanisch-westeuropäische Zusammenarbeit in der Integrationspolitik sehr und zeitigte in den - angesichts der Komplexität und Reichweite der Materie - überraschend zügig zum Abschluss gebrachten Verhandlungen über die Verträge zur Errichtung der EGKS, der EVG sowie der beide Organisationen überwölbenden EPG mit föderativer Struktur erste konkrete Ergebnisse. 56 6 In Abgrenzung zur älteren idealistischen Sicht der Integrationsgeschichtsschreibung wird in der jünge ren Forsc hung allerdings geltend gemacht, dass die Gründungsväter Europas auf beiden Seiten des Atlantiks nicht (oder zumindest nicht allein) aus visionärer Einsicht das bisherige nationalstaatliche Paradigma zurückdrängten sowie gänzlich selbstlos und ohne handfeste ökonomische und nationale
Währ end die 195 2 beschlossene EVG ebenso wie das EPG-P rojek t 1954 definitiv scheiterte, erwies sich die von den Beneluxstaaten. Frankreich. Italien und Deutschland im April 1951 begründete EKGS als erster entscheidender Schritt im europäischen Integrationsprozess und kann als „Keimzelle" der späteren Europäischen Gemeinschaft betrachtet werden, vgl. auch R. Hrbek . Europa in der internationalen Politik, in: U. Albrecht///. Vogler (Hrsg.), Lexikon der internationalen Politik. 1997. S. 131 ff.. 132 f.; im größeren Kontext XI. J. Hillenbrand. Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H.P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme. 1977. S. 288 ff.
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Interessen handelten. 56 7 Während aus europäischer Perspektiv e nur e in bestimm tes Maß an supranationaler Integration und ein damit einhergehender Teilverzicht auf Souveränitätsrechte das Überleben der Nationalstaaten und deren wirtschaftlichen Wiederaufstieg garantieren sollten und überdies militärische Schutzinteressen und die Aussicht auf ökonomische Hilfsleistungen eine enge Anlehnung an die USA ratsam erscheinen ließen, sollte es für die Amerikaner schon bald nach Kriegsende klar gewesen sein, dass sich ihre Hoffnungen auf eine friedliche Nachkriegsordnung in Europa und anderen Teilen der Welt zerschlagen hätten. In ihren strategischen Überlegungen für den heraufziehenden Kalten Krieg wiesen die Amerikaner Europa die gewichtige Rolle eines starken und geeinten Partners bei der Herstellung des globalen Gleichgewichts zwischen den beiden Militärblöcken zu. Voraussetzung hierfür war nach amerikanischer Überzeugung allerdings die Errichtung eines Systems zwischenstaatlicher Strukturen in Westeuropa, das den Ausbruch neuer europäischer Kriege wirksam unterband, deshalb vor allem Deutschland als den größten Unruheherd der zurückliegenden Jahrzehnte und voraussichtlich stärksten Machtfaktor der Zukunft wirksam einband sowie die Grundlagen für eine positive Entwicklung der westeuropäischen Staaten in 56 8 wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht schuf. Selbst wenn das amerikanische Interesse an einer europäischen Einigung somit primär sicherheitspolitisch begründet war, bleibt dennoch anzuerkennen, dass die amerikanischen Regierungen unter H. Truman un d D. Eisenhower mit der Einflussnahme auf Verhandlungen und der Ausübung von Druck als Antreiber und Vermittler im europäischen Einigungsprozess gewirkt haben, ohne den supranationale Integration keineswegs so schnell und in dieser Form vorangeschritten wäre. Insofern lässt sich durchaus mit einer gewissen Berechtigung konstatieren, 56 9 dass die USA tatsächlich als „Geburtshelfer Europas" gewirkt haben. Diesem Befund widerspricht nicht, dass die USA mit ihrem auf Integration ausgerichteten Europakurs durchaus eigene politische Interessen verfolgten. Denn eine Stabilisierung und wachsende Integration der westeuropäischen Staaten versprach nicht
56 7
Vgl. etwa K.K. Patel, Rezension zu G. Lundestad. The United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlantic Drift. 2003, in: H-Soz-u-Kult. 21. 10.2004. S. 6. abrufbar unter http://hso zkult.geschich te.huberlin.d e/rezensionen /2004 -4-049. 56 8 Vgl. G. Lundestad, ..Empire" by Integration. The United States and European Integration 1945-1997, 1998. S. 13 f.: K. K. Patel ( 2004): ähnlich auch B. Neuss , Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155. 56 9
So der Titel einer Monographie von B. Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945-1958. 2000. Siehe auch dies., Der „gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.
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nur einen Zugewinn an äußerer Sicherheit und damit eine Stärkung der amerikanischen Positionen in der Konfrontation der Blöcke, sondern eröffnete langfristig auch die Aussicht, die gewaltigen Kosten, die die Wahrnehmung der weltpolitischen Rolle der USA mit sich brachte, durch Lastenverteilung („bürden sharing") mit den in Zukunft auch wirtschaftlich erstarkten europäischen Staaten zu senken. Ebenso dürften die US-Administrationen in ihren integrationspolitischen Bemühungen für Westeuropa auch von der Hoffnung auf das Entstehen lukrativer neuer Märkte in den zukünftig stärker verflochtenen Volkswirtschaften Europas 57 angetrieben und bestärkt worden sein. " Dies ändert freilich nach Ansicht einer Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern nichts an der Tatsache, dass die sicherheitspolitischen Ziele in der amerikanischen Europapolitik gerade in den ersten Nachkriegsjahren gegenüber den ökonomischen Erwägungen eindeutig im Vordergrund gestanden haben und die Amerikaner für die Durchsetzung ihrer Sicherheitsbedürfnisse sogar bereit waren, auch ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen. 57 1 Im Gegensatz zu älteren Forschungspositionen, die dem europapolitischen Engagement der Amerikaner hauptsächlich ökonomischen Eigennutz und hegemoniale Absichten bei nur geringem Interesse an einem föderalen Europa unterstellten besteht nach neuerer Ansicht weitgehend Konsens darüber, dass die Europäer die amerikanische Einflussnahme nicht nur mehr oder weniger zustimmend akzeptiert haben, sondern die Vereinigten Staaten nachgerade aufgefordert haben, sich an der Lösung der innereuropäischen Probleme zu beteiligen. Nach einer inzwischen weithin akzeptierten These suchten die westeuropäischen Staaten nach dem Krieg die enge Anlehnung an die Vereinigten Staaten, da sie sich alleine weder im Stande sahen, ihre zerstörten Volkswirtschaften wieder aufzubauen, noch sich gegen die äußere Bedrohung vor allem durch die sowjetischen Expansionsgelüste in Europa zur Wehr zu setzen, noch die Einflüsse und Machtansprüche der kommunistischen Parteien in ihren eigenen durch den Krieg sozial zerrütteten und wirtschaftlich schwachen Staaten zurückzudrängen.
57 3
In diesem Kontext ist allerdings festzuhalten, dass die USA ihre Vorstellungen keinesfalls eins zu eins durchsetzen konnten. Vielmehr zeigten sich die Europäer durchaus in der Lage, amerikanische Vorhaben abzuändern und eigene Akzente zu setzen, was sich unter anderem an der erfolgreichen Zurückweisung der 5 " Dazu etwa D. Krüger . Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas 1947 bis 1957, 2003, S. 17 f.
571
Vgl. K K Patel (2004), S. 7.
57 2
Siehe etwa noch J. Heideking , Die Vereinigten Staaten, der Marshall-Plan und die Anfänge der europäischen Integration, in: R. Dietl/F. Knipping (Hrsg.). Begegnungen zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg. 1999. S. 17 ff.. 17 m.w. N. 573 G. Lundestad. The United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlatic Drift. 2003. hebt diesen Aspekt wiederholt hervor.
57 2
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immer wieder vorgetragenen amerikanischen Forderungen nach größeren Rüstungsanstrengungen seitens der Europäer, aber auch an der Einflussnahme vor allem Frankreichs und Großbritanniens auf die integrationspolitischen Vorstel57 4 lungen Washingtons belegen lässt. Vor diesem Hintergrund charakterisiert G. Lundestad die Position der USA in Westeuropa als „empire by invitation", womit er zum Ausdruck bringt, dass die amerikanische Einflussnahme auf Westeuropa keineswegs gegen den Widerstand der betroffenen Länder erfolgte, sondern im Gegenteil vielfach auf deren erklärten Wunsch hin zustande kam. Dabei versteht Lundestad „empire" in Abgrenzung zu älteren Formen direkter Herrschaft wertneutral als hierarchisches System mit einem Zentrum, das auch und vor allem mit Hilfe seiner integrationspolitischen Bemühungen seine Einflusssphäre auf 57 5 eine Reihe unabhängiger Staaten ausdehnt. Das insgesamt einigende Bekenntnis zu demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien setzt der Einflussnahme seitens der amerikanischen Vormacht freilich messbare Grenzen und lässt Kritik und Gegenvorschläge der abhängigen Staa57 6 Bei allem Einsatz für eine ten nicht von vorneherein aussichtslos erscheinen. stärkere Integration der europäischen Staaten in den fünfziger Jahren war die amerikanische Politik nicht frei von Brüchen und Widersprüchen. Hatten die USA zunächst noch von den Europäern initiierte supranationale Initiativen unterstützt, als die Europäer sich bereits zurückgezogen hatten, ließen seit etwa 1954 auch die Amerikaner in ihren Integrationsbemühungen nach und konzentrierten sich mehr auf ihr Verhältnis zu Großbritannien und zur NATO. Überhaupt scheint die NATO, nachdem sie sich als leistungsfähiges und erfolgreiches Instrument zur Lösung der inneren und äußeren Sicherheitsprobleme erwiesen hatte, die Westeuropäer der Notwendigkeit enthoben zu haben, gegenüber der Herausforderung des Ostblocks eine politisch voll integrierte Gemeinschaft aufzubauen. Die transatlantische Einbindung garantierte größtmögliche Sicherheit (wenngleich auch eine allzu eingeschränkte Sicht- und Empfindungslage) und machte einen weiteren 57 4
So z. B. bei der gescheiteren supranationalen Umorganisation der OEEC. der Errichtung der EGKS oder beim Scheitern von EVG und EPG. Siehe auch H. R. Hümmerich . Jeder für sich und Amerika gegen alle? Die Lastenteilung der NATO am Beispiel des Temporary Council Comittee 1949 bis 1954.2003 sowie B. Neuss , Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 157 f., 159 ff. 575 G. Lundestad. „Empire" by Integration. The United States and European Integration 1945-1997, 1998. S. 2 ff. sowie umfassend ders, The United States and Europ e since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlatic Drift. 2003. 57 6 Insbesondere in Situationen, in denen einzelne europäische Länder sich in ihren existenziellen Grundlagen bedroht sahen, wie dies etwa bei Frankreich angesichts der bei Umsetzung der EVG-Pläne befürchteten militärischen Aufwertung der Bundesrepublik der Fall war. kann auch noch so großer Druck der USA die betroffenen europäischen Staaten nicht zum Einlenken bewegen, vgl. M.J. Hillenbrand, Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H .-P. Schwa rz (Hrsg.), Ameri ka und Westeuropa . Gegenwarts- und Zukunftsprobleme, 1977. S. 288 ff., 288."
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Souveränitätsverzicht der auf ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit bedachten westeuropäischen Staaten zugunsten eines stärker integrierten, föderalen Europas (vordergründig) überflüssig. Angesichts der Verlagerung der europapolitischen Anstrengungen der Amerikaner kann es kaum verwundern, dass auch die beiden gegen Ende der fünfziger Jahre ausgehandelten und für den weiteren europäischen Einigungsprozess besonders erfolgreichen Projekte, die Euratom und die EWG auf rein europäischen Initiativen basierten und hinsichtlich ihrer Realisierungschancen von Washington äußerst skeptisch beurteilt wurden. Gleichwohl unterstützte die amerikanische Regierung auf Drängen der Europäer beide Projekte und vermittelte hinter den Kulissen zwischen den Verhandlungspartnern, da sie zu der Überzeugung gelangt war, dass die zu erwartenden Vorteile - unter anderem das Erreichen einer weiteren europäischen Integrationsstufe. Sicherung der Energieversorgung. Kontrolle der militärisch orientierten Atomforschung. Vertiefung der Anbindung Deutschlands an den Westen. Schaffung eines großen europäischen Binnenmarkts (mit neuen Marktchancen auch für die amerikanisc he Wirtscha ft) - die befürchteten Nachteile vor allem f ür die amerikani sche Wi rtschaf t (durch Subventionen oder Schutzzölle im Agrarbereich sowie Erhöhung des Konkurrenzdrucks und Exporteinbußen für die amerikanische Industrie) unter allgemein- wie sicherheitspolitischen Gesichtspunkten rechtfertigten. Wie oben bereits dargestellt konnten nach langwierigen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlungen im Frühjahr 1957 die EWG und die Euratom mit der Ratifizierung der „Römischen Verträge" ins Leben gerufen werden. Während die politische Bedeutung von Euratom insgesamt gering blieb und ihre integrationspolitisc hen Wirkungen bescheiden ausfielen, erwies sich die EWG als entscheidender Kristallisationspunkt für alle weiteren europäischen Einigungsbestrebungen.
b)
57 7
Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Spannungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz
Etwa ein Jahrzehnt nach Beginn der Bestrebungen, die westeuropäischen Staaten in supranationale Strukturen einzubinden und damit die politische, wirtschaftliche und militärische Integration Europas voranzutreiben, war mit amerikanischer Unterstützung vor allem im wirtschaftlichen Bereich ein enges organisatorisches Beziehungsgeflecht in Kontinentaleuropa entstanden, das in den beteiligten Staaten neben einer gedeihlichen wirtschaftlichen und insgesamt stabilen inneren Entwicklung auch das friedliche Zusammenleben beförderte. Die nun einsetzende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und die wieder erlangte 57 7
Umfassend B. Neuss (2001) S. 163 f.; siehe auch R. Hrbek . Europa in der internationalen Politik, in: U. Al bre cht /H. Vogler (Hrs g.). Lexikon der internatio nalen Politik. 1997. S. 131 ff., 133.
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wirtschaftliche Stärke und politisch-gesellschaftliche Stabilität der europäischen Staaten hatte auch Auswirkungen auf die europäische Rolle der USA und die transatlantischen Beziehungen. Auch wenn die USA die grundlegenden Leitlinien ihrer Europapolitik nicht veränderten und nach wie vor fördernd in den europäischen Einigungsprozess eingriffen, entwickelten sich nun mehr und mehr Frankreich und Deutschland zum eigentlichen Motor der europäischen Einigung. Trotz eines zunehmend selbstbewussten Auftretens der europäischen Staaten verstanden sich die USA weiterhin als Förderer der europäischen Einigung, mehr noch: in ihren strategischen Konzepten wiesen sie Europa eine zentrale Rolle zu. In dem von der /fe/i/t^dy-Administration entwickelten „Grand Design" für die transatlantische Gemeinschaft sollte ein ökonomisch, militärisch und politisch starkes und geeintes Europa eine tragende Rolle als zweite gleichberechtigte 57 8 Säule neben der amerikanischen einnehmen. In seiner weithin beachteten Rede vom 4. Juli 1962 in Philadelphia, in der er das neue NATO-Konzept vorstellte, bekannte sich J. F. Kennedy daher auch ausdrücklich zur europäischen Integration: ..Die Vereinigten Staaten sehen auf dieses große neue Unterfangen mit Hoffnung und Bewunderung. Wir betrachten ein starkes und vereintes Europa nicht als Rivalen, sondern als Partner. Seinen Fortschritt zu unterstützen, war siebzehn 57 9 Jahre lang das Hauptanliegen unserer Außenpolitik." Trotz allem: jenseits derartiger langfristiger strategischer Überlegungen nahm im politischen Alltag die Zahl der Differenzen und Konflikte zwischen Amerikanern und Europäern zu. Insbesondere die französische Regierung unter Präsident de Gaulle forderte mit seinen Versuchen, autonome, von den amerikanischen Hegemonialinteressen unabhängige europäische Strukturen und mit den USA eine gleichberechtigte und gleichgewichtige Partnerschaft aufzubauen (Konzept einer europäischen dritten Kraft), die amerikanische Führungsrolle in Europa ein ums andere Mal heraus. 5S 0 Ein Umstand, der bis heute durchzuscheinen, gelegentlich Platz zu greifen vermag. 578 J. F. Kennedv, The Goal of an Atlantic Partnership. Rede in Philadelphia am 4. Juli 1962, /.it. nach M.J. Hillenbrand (1977), S.289: vgl. auch E.-O. Czempiel/C.C. Schweitzer. Weltpoli tik der USA nach 1945. Ein füh run g und Dokum ent e. 1989. S. 254.
579
J.F. Kennedy, ebenda.
Anlass zu Irritationen und Konflikten boten unter anderem der Gemeinsame Markt, vor allem die von Frankreich vorangetriebene Ausgestaltung des gemeinsamen Agrarmarktes, der mit seinen protektionistischen Praktiken amerikanischen Wirtschaftsinteressen tendenziell zu schaden drohte; die durch den Übergang von der Strategie der „massiven Vergeltung" zur Strategie der „flexiblen Antwort" bei den Europäern ausgelöste Sorge vor einer Aufweichung des atomaren Schutzschilds der USA für Europa: der deutschfranzö sische Fre undschaf tsvertr ag von 1963 , den de Gaulle im Sinne der europä ischen Führungspläne Frankreichs gegen die USA auszuspielen beabsichtigte: der - auf Betreiben Frankreichs erfolgte - Ausschluss Großbritanniens aus dem Gemeinsamen Markt; der - aufgrund amerikanischer Bevorzugung Großbritanniens eingeleitete - atomare Alleingang der Franzosen: der Rückzug Frankreichs aus der Verteidigungsorganisation der NATO im
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Auf wirtschaftlichem Gebiet war der amerikanischen Einflussnahme in Europa nur bedingt Erfolg beschieden. So gelang es den USA, durch Gründung der OECD die aufstrebende EWG in den größeren Zusammenhang der (westlichen) Industriestaaten zum Zwecke der Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Kooperation bei der Auslandshilfe einzubetten. Auch war es noch unter der Kennedy-Administration ge lun gen, Zo ll Vereinba rungen mit der EWG auf den Weg zu br inge n und durch Senkung der Zölle auf Industrieprodukte eine erhebliche Liberalisierung des Handels zwischen den Industriestaaten herzustellen. Dagegen scheiterte der amerikanische Plan, durch Errichtung einer europäischen Freihandelszone mit der EWG, Großbritannien und dem Commonwealth eine kontinentaleuropäische 58 1 Blockbildung zu verhindern. Differenzen und Fehlschläge dieser Art verstärkten eine bereits Anfang der sechziger Jahre unter amerikanischen Führungsgruppen spürbare ambivalente Haltung gegenüber dem europäischen Einigungsprozess: Einerseits gab es eine breite Unterstützung für die europäischen Einigungsbemühungen, deren geopolitische Bedeutung nach wie vor unumstritten war. Auch erkannte die amerikanische Wirtschaft die neuen ökonomischen Chancen der EWG und nutzte den durch diese hergestellten größeren Markt für eine Steigerung ihrer Direktinvestitionen in Europa (was dort Ängste vor „amerikanischer Überfremdung" auslöste). Andererseits empfand man insbesondere die EWG-Agrarpolitik und die Bevorzugung des Mittelmeerraums und Afrikas durch die EWG als Diskriminierung mit negativen Auswirkungen auf den eigenen Export. Vor allem aber tat man sich jenseits des Atlantiks schwer damit anzuerkennen, dass die aus der Einigung resultierende machtpolitische Stärkung Europas zwangsläufig eine Relativierung, wenn nicht sogar auf kurz oder lang eine Beendigung der amerikanischen Führungsrolle in Europa zur Folge haben musste. Auch wenn der amerikanische Führungsanspruch sich mit dem bereits von Kennedy propagierten Partnerschaftsmodell schwer vereinbaren ließ, konnten ihn die Amerikaner aber vor allem mit Verweis auf die fehlende politische Einheit und großen militärtechnischen Defizite der Europäer zumindest auf sicherheitspolitischem Gebiet weiterhin geltend machen.
März 1966: die Weigerung, sich in die Rüstungskontrollgespräche mit der Sowjetunion einbinden zu lassen, vgl. hierzu W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis Folgerungen für die Zuku nft , in: M. Kah ler /W. Link (Hrsg.). Europa nach der Zeitenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S.49ff.. 117, 120 sowie jün gst /. Wallerstein. Die USA und Europa - 1945 bis heute, im Internet unter: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/wallerstein.html. 58 1 Vgl. E.-O. Czetnpiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik und Dokumente, 1989. S. 256 f.
der USA nach
1945. Einfü hru ng
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c) Die 70er Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern Nachdem sich bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts andeutete, dass die Amerikaner auf europapolitische Misserfolge, Ausweitung des transatlantischen Konfliktpotentials und wachsenden Gestaltungswillen der zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Europäer mit nachlassendem Interesse 58 2 an der europäischen Integration reagierten , scheint sich diese Haltung in der Europapolitik in den siebziger Jahren weiter verfestigt zu haben; zumindest zeichnete sich damals der europapolitische Kurs der USA durch wachsende Distanz gegenüber den europäischen Partnern und ihren Integrationsbemühungen sowie durch eine insgesamt veränderte weltpolitische Prioritätensetzung aus. Dass dieser Kurswechsel auch einen Reflex auf die bisherigen Misserfolge in der Europapolitik darstellte, lässt sich an der Kongressrede Präsident Nixons vom Februar 1970 ablesen, in der er die Grundlinien seines neuen Ansatzes in der Europapolitik vorstellte: ..Die Struktur Europas [...] ist grundsätzlich die Aufgabe der Europäer. Wir können Europa nicht vereinigen, und wir glauben nicht, dass es nur einen Weg zu diesem Ziel gibt. Wenn die Vereinigten Staaten sich in früheren Regierungsperioden zum eifrigen Anwalt machten, dann schadete dies mehr dem Fortschritt, als es ihm half. Wir glauben, dass wir den Prozess der europäischen Einigung nicht nur durch unsere Rolle in der Nordatlantischen Allianz und durch unsere Beziehungen zu europäischen Institutionen unterstützen können, sondern ebenso durch unsere bilateralen Beziehung zu den verschiedenen Staaten Europas. Für die weitere Zukunft werden diese Beziehungen 5 die wesentlichen transatlantischen Bindungen darstellen f...)" "
Dies bedeutete nichts anderes, als dass die Administration der Vereinigten Staaten zwar weiterhin das Ziel einer europäischen Vereinigung unterstützte, sich aber von ihrer einstmaligen Rolle als Antreiber und Impulsgeber des europäischen Integrationsprozesses nunmehr endgültig verabschiedet hatte. Stattdessen zogen sie es vor, die innereuropäischen Entwicklungen nur noch indirekt über ihre bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedsländern der Gemeinschaft mehr zu begleiten als zu beeinflussen. Die Wendung in der Europapolitik der USA war Ausfluss eines sich seit Ende der sechziger Jahre abzeichnenden grundlegenden Richtungswechsels in der amerikanischen Außenpolitik, der in hohem Maße ökonomisch motiviert war. Während die US-Wirtschaft stagnierte bzw. in eine Rezession fiel, stiegen die 58 2
Siehe auch J. G. Giauque. Grand Designs and Visions of Unity. The Atlantic Powers and the Reorganization of Western Europe. 1958-1963, 2002. 583 R.M. Nixon. U.S. Foreign Policy for the 1970's. A New Strategy for Peace. Bericht des Präsident en an den Kongr ess. Washingto n 1970. zit. nach M.J. Hillenbrand. Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in : K. K aiser/H .-P. Schw arz (Hrsg .), Amerik a und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme. 1977. S. 288 ff.. 300.
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Kosten des weltpolitischen Engagements der USA ins Unermessliche. Die amerikanischen Militärausgaben im Ausland (insbesondere während des Vietnamkriegs), umfangre iche Auslandshilfen sowie beträchtliche wirtschaftliche Investiti onen der Amerikaner in Europa hatten den US-Staatshaushalt arg strapaziert. Kapitalabflüsse ins Ausland und eine dramatische Abnahme der Goldreserven brachten die amerikanische Währung zunehmend in Schwierigkeiten, was schließlich dazu führte, dass die Regierung Nixon im August 1971 völlig überraschend die Goldbindung und Konvertibilität des Dollars aufhob (und damit das von den USA etablierte Weltwährungssystem von Bretton Woods beendete). 58 4 Ausbildungen dieser Art signalisierten augenfällig, dass sich zumindest im wirtschaftlichen Bereich die überragende Position der USA zu relativieren begann. Auch wenn die dominante Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten weiterhin unangetastet blieb, war nicht mehr zu übersehen, dass die westeuropäischen Staaten wirtschaftlich inzwischen weit fortg eschritten sich im Aufhol prozes s befanden und sich anschickten, das globale wirtschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern. Vor allem die Staaten der Europäischen Gemeinschaft entwickelten ein der USWirtschaft nahezu ebenbürtiges Wirtschaftspotential. Es war deshalb wenig verwunderlich. dass die Europäer nun versuchten, die neu gewonnene wirtschaftliche Stärke dazu zu nutzten, ihre Unabhängigkeit gegenüber der „hegemonialen Füh58 5 rungsmacht" jenseits des Atlantiks auszuweiten. Erwartungsgemäß reagierte die US-Administration auf derartige Bestrebungen äußerst verstört. Dies lässt sich unter anderem an den Reaktionen der amerikanischen Regierung auf das Streben der EG-Mitglieder nach Harmonisierung ihrer Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) erkennen. So hatte der von diesem Vorhaben eher verunsicherte US-Außenminister H. Kissinger zwar stets eine stärkere außenpolitische Zusammenarbeit der Europäer eingefordert und bei diesen moniert, dass er nicht wisse, welche „Telefonnummer" er in Europa bei einer Verständigung im Krisenfall anrufen solle, andererseits machte er aber keinen Hehl daraus, dass ihm eine „freischwimmende 5S 4 Ausführlicher G. Lundestad, „Empire" by Integration. The United States and European Integration 1945-1997. 1998, S.96ff.: W. Link . Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Zukunft, in: M. Kahler/ W.L ink (Hrsg.). Europa nach d er Zeite nwende - die Wiederk ehr der Geschichte , 1995, S. 49 ff. , 122 f.: E.-O. CzempieUC.-C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente, 1989. S. 257, 313 f. ? s5 Neben dem Bestreben, sich etwa durch währungspolitische Koordinierungsbemühungen (europäische Währungsschlange, Block-Floating gegenüber dem Dollar) von den gravierenden Problemen der US-Wirtschaft abzukoppeln, zielten die europäischen Emanzipationsversuche auch auf eine größere Eigenständigkeit des sich vereinigenden Europa in der Weltpolitik - ohne allerdings die enge Anlehnung an die westliche Vormacht in Sicherheitsfragen sowie die feste Einbindung in die NATO in Frage zu stellen (ohne poin-
tierte „Ausbruchsversuche" Frankreichs außer Acht zu lassen), vgl. auch S. 123 ff.
W. Link (1995),
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209
58 6 europäische Außenpolitik" überaus suspekt war. Nixon stufte die auf politische Eigenständigkeit und Gleichberechtigung mit den USA zielenden Bestrebungen ?s 7 gar als „ganging up" der der EPZ in seiner Chicagoer Rede von April I974 Europäer gegen die Vereinigten Staaten ein und stellte angesichts der auch auf anderen Feldern 58 8 sichtbar gewordenen Differenzen in aller Öffentlichkeit die Bündnisfrage. Rigoros lehnte er eine weitere Kooperation auf sicherheitspolitischem Gebiet für den Fall ab. dass die Europäer ihren wirtschaftlichen und politischen Konfrontationskurs weiterhin fortsetzten. Statt den Europäern größere politische Unabhängigkeit zuzugestehen, verfolgten die USA unter dem Eindruck der geschilderten ökonomischen Probleme seit Anfang der siebziger Jahre das Ziel, die Kosten für ihr weltpolitisches Engagement zu reduzieren, ohne international an Einfluss zu verlieren und die hegemoniale Grundstruktur des transatlantischen Bündnissystems aufzugeben. In diesem Sinne ist auch der Entwurf Kissingers für eine Atlantik-Charta von 1973 zu verstehen, in der er eine Neuordnung der transatlantischen Beziehungen vorschlug, in der die bisherige Aufgabenteilung
(globale Rolle der USA, regionale Zuständigkeiten der europäischen Staaten) zwar grundsätzlich beibehalten, die Europäer aber als Gegenleistung für die amerikanische Sicherheitsgarantie wirtschaftliche Zugeständnisse machen und einen Teil der gewaltigen militärischen Lasten übernehmen sollten. Die amerikanische Strategie, die sicherheitspolitische Abhängigkeit der europäischen Staaten von der westlichen Schutzmacht gegen die wirtschaftlichen und politischen Eigenständigkeitsbestrebungen der Europäer auszuspielen, erwies sich schließlich als erfolgreich - nicht zuletzt auch deshalb, weil die im Zuge der Entspannungspolitik forcierten bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen die Gefahr einer Durchlöcherung des amerikanischen Schutzschilds für Europa heraufzubeschwören drohten. Auf Vermittlung der Bundesrepublik Deutschland, die als Frontstaat im Kalten Krieg existenziell auf den militärischen Schutz der USA angewiesen war, lenkten die Europäer schließlich ein. Ein Schlüsselmoment ereignete sich auf der Konferenz auf Schloss Gymnich bei Bonn im April 1974: dort sicherten die Europä er zu. dass die USA bei EPZ-B eschlussfassungen. die amerikanische Interessen berühren, zu konsultieren sind. Die im Juni 1974 in Brüssel unterzeic hnete „Atlantische Dekla ratio n" verpflichtete die europäischen Bündnispartner als Gegenleistung für die amerikanische Sicherheits5S 6 Ein Umstand, den mehrfach dementiert hat.
H. Kissinger nunmehr in persönlichen Gesprächen mit dem
Verf.
58 7 Zitiert nach W. Link (1995). S. 124f; vgl auch B. Neuss, Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Walser/B. Rill (Hrsg.). Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff.. 165. 58 8 Soz. B. in der Diskussion über die als Folge der ersten Ölkrise notwendig gewordenen Änderungen der energiepolitischen Strategie des Westens. 58 9 Dazu E.-O. Czempiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der und Dokumente, 1989. S. 257. 313.
USA nach
1945. Ein füh run g
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garantie zur Übernahme eines angemessenen Anteils an den Verteidigungslasten. Zudem verständigten sich die NATO-Partner darauf, die „Sicherheitsbeziehungen durch harmonische Beziehungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet" zu stärken. 59 0 Obgleich es den Amerikanern somit aufgrund ihres in der Blockkonfrontation nicht zu kompensierenden militärischen Potentials gelungen war. die geopolitischen Eigenständigkeitsbestrebungen der europäischen Staaten einzulangen und machtstrategisch ihre hegemoniale Vorherrschaft im Atlantischen Bündnis weiterhin zu behaupten, entwickelte sich dank der organisatorischen Ausweitung und institutionellen Verfestigung der europäischen Wirtschaftmacht in der EG eine Dynamik, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Westeu59 1 ropa im Sinne einer weitgehend gleichrangigen Partnerschaft umformte. Auch die währungspolitischen Koordinierungsbestrebungen der europäischen Staaten, die 197 8/7 9 mit der Errich tung eines Europäischen Währungssystems ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, widerspiegelten deren Bestreben, die Rahmenbedingungen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung autonom zu gestalten. Dass das Wirtschaftspotential des nunmehr zur „ökonomischen Supermacht" aufgestiegenen Westeuropa auf kurz oder lang auch das weltpolitische Gewicht der Europäer stärken musste, ließ sich schon gegen Ende der siebziger Jahre absehen. So gab es in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auch von amerikanischer Seite verstärkte Bemühungen, die europäischen Partner in wichtigen internationalen Fragen zu konsultieren und mit ihnen bei der Lösung anstehender Probleme zu kooperieren. Die damit verbundene zunehmende Anerkennung des machtpolitischen Gewichts Westeuropas durch die USA ließ sich unter anderem an der relativ unabhängigen europäischen Rolle während der KSZE-Verhandlungen seit Ende der siebziger Jahre sowie an der gemeinsam von den USA und den drei europäischen Führungsmäc hten Großbritannien, Frankreich und Deutschland getroffenen Grundsatzentscheidung über den NATO-Doppelbeschluss im Januar 1979 erken-
d)
Die 80er Jahre: Konflikt und Kooperation
Die wesentliche Prägung des transatlantischen Verhältnisses zu Beginn der achtziger Jahre erwuchs aus den Auseinandersetzungen um ein angemessenes 59 0 Vgl. German Chancellor Schmidt and French Prime Minister Chirac at the North Atlantic Council Me eting in Brüssels . 1974 06 26 - FO T -. in: H. G. Le hm an n (Hrsg.), Deutschland-Dokumentation. 1. Januar 194 5-3 1. Januar 2004. 2005. 59 1 Ihren sichtbarsten Ausdruck fand der Aufstieg Westeuropas als gleichberechtigter Partner in der Weltwirtschaft in den seit 1975 jährlich tagenden Weltwirtschaftsgipfeln, an denen neben den USA, Japan und Kanada auch die vier europäischen Führungsmächte (Frankreich. Großbritannien. Italien und Deutschland) teilnahmen. 59 2 Vgl. auch E. Forndran, Der NATO-Doppelbeschluß - oder: Die Diskussion über die Nachrüstung, in: Gegenwartskunde 3/1981. S. 293 ff.
III. Der Einfiuss der amerik anische n Verfassung
211
Vorgehen angesichts der seit Ende der siebziger Jahre wieder einsetzenden Hochrüstung der beiden Militärblöcke. Obwohl zwischen Westeuropäern und Amerikanern Einigkeit darüber bestand, dass eine Verschiebung des militärischen und machtpolitischen Gleichgewichts, das sich aus der massiven sowjetischen Aufrüstung im eurostrategischen und interkontinentalen Bereich sowie der militärischen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ergab, nicht hingenommen werden durfte, stritten die westlichen Verbündeten dies und jenseits des Atlantiks heftig über die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen. Während die westeuropäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik, an der Entspannungspolitik festhalten wollten, zogen die Vereinigten Staaten einen strikten Konfrontationskurs vor, der auch Sanktionen gegen die Staaten des Warschauer Paktes nicht ausschloss. Auch befürchteten die Europäer erneut, dass die in dieser Phase aufgenommenen bilateralen Abrüstungsverhandlungen zwischen der Sowjetunion und den USA eine Durchlöcherung des amerikanischen Schutz59 1 schildes für Europa zum Ergebnis hätten. Die Amerikaner begriffen vor allem in der Amtszeit von Präsident R. Reagan die Notwendigkeit, die militärische Stärke des Westens wiederherzustellen, als Chance, anstelle des eben erst eingeführten kooperativen Führungsstils ihre frühere hegemoniale Vormachtstellung in der Allianz wiederherzustellen und ihre transatlantischen Partner zur Gefolgschaft und stärkeren Beteiligung an den sicherheitspolitischen Kosten zu verpflichten. Die Europäer reagierten auf die neuerlichen hegemonialen und unilateralen Neigungen der Amerikaner mit einer Intensivierung und Ausweitung der westeuropäischen Kooperation und eigenständigen Initiativen gegenüber dem Ostblock. Ihre Bemühungen, die während der Entspannungspolitik der siebziger Jahre aufgebauten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zum Osten fortzuführen und die rüstungspolitischen Konflikte mit dem Warschauer Pakt durch Kompromisslösungen auf dem Verhandlungsweg zu lösen, widersprachen zwar der amerikanischen Kon fron tat ions- und Sanktionsstrategie (und stießen daher ein ums andere Mal auf den energischen Widerspruch der USA). Die transatlantischen Gegensätze und Rivalitäten in diesen wie in anderen Fragen bestärkten aber in Europa die Einsicht, dass die europäischen Interessen nur durch ein einiges und starkes Europa wirk-
Vgl. m.w. N. W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Zukunft, in: M. Kahler/W. Link (Hrsg.). Europa nach der Zeit enw ende - die Wie der keh r der Geschi chte , 1995 , S. 49 ff., 132 f. 59 4 Unter anderem drohten sie ihren europäischen Bündnispartnern für den Fall, dass diese nicht ihr konventionelles Verteidigungspotential deutlich stärkten (was den sofortigen Rückgriff auf die nukleare Option im Verteidigungsfall unnötig machen sollte), eine drastische Reduzierung der amerikanischen Truppen in Europa an. Auch die von den Amerikanern vorgelegten neuen Konzepte für einen auf Europa beschränkten Krieg mit konventionellen und nuklearen Waffen widersprachen angesichts der damit verbundenen riesigen Zerstörungen (vor allem in der Bundesrepublik) den existenziellen Interessen der europäischen Verbündeten, vgl. ausführlich W. Link (1995), S. 135 f.
59 4
212
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
sam vertreten werden können, und forcierten somit die integrationspolitischen Bemühungen der westeuropäischen Staaten. In Anlehnung an die von H. Schmidt 59 5 , revitalisierten die formulierte Devise „Europa muss sich selbst behaupten" Europäer auf verteidigungspolitischem Gebiet die WEU, bekundeten mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte den Willen, bis 1993 einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen (was bei den Amerikanern sogleich Befürchtungen vor ein er s ich abschottenden „Festung Eur opa" hera ufbeschwor ), und weiteten die deutsch-französischen Kooperation im militärischen Bereich aus, was auf erhebliches Misstrauen in Washington stieß. Auch ihre Anstrengungen. Westeuropa wirtschafts- und währungspolitisch von den negativen Auswirkungen der Reagan sehen Wirtschaftspolitik abzukoppeln, bestätigten die bereits in den siebziger Jahren erkennbare Tatsache, dass die Fortschritte bei der europäischen Integration weniger von den Konsultationen und der Zusammenarbeit mit den USA bewirkt wurden als vielmehr von den Reaktionen der Europäer auf Gegensätze 59 6 und Konflikte mit der Vormacht des transatlantischen Bündnisses.
Allerdings: das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa war auch in den achtziger Jahren nicht lediglich von Gegensätzen und Streit bestimmt. So erfolgte etwa die Stationierung der Mittelstreckenraketen (Pershing II, Marschflugkörper) in Westeuropa zu Beginn des Jahrzehnts mit einhelliger Zustimmung der europäischen Regierungen (jedoch gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung in den europäischen Staaten), da hiermit eine Abkoppelung der interkontinentalen von der europäischen Abschreckung wirksam unterbunden wurde. Insgesamt war es der atlantischen Allianz mit der Nachrüstung gelungen, ihre militärstrategische Handlungsfälligkeit unter Beweis zu stellen und ihr machtpolitisches Gewicht zu stärken. Überhaupt ist festzustellen, dass die Konfliktbereitschaft gegenüber den Amerik anern unter den europäischen Regierungen sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Insbesondere die deutsche Regierung unter Bundeskanzler H. Kohl und Außenminister H.-D. Genscher hatte an ihrer ununumstößlichen Loyalität zur NATO und zu den Vereinigten Staaten nie einen Zweifel aufkommen lassen und war deshalb als Vermittler und Balancefaktor bei Streitigkeiten innerhalb der Allianz geradezu prädestiniert. Die 198 5 erfolgte Über nahm e des Amt s des Generalsekretärs der KPdSU durch M. Gorbatschow und die von ihm eingeleitete Entspannungspolitik gegenüber dem Westen hatte dann auch eine spürbare Klimaaufbesserung innerhalb des westlichen Bündnisses zur Folge. In den nun einsetzenden Abrüstungsverhandlungen mit den Warschauer-Pakt-Staaten griffen die Bündnispartner wieder verstärkt auf kollektive Beratungs- und Entscheidungsmechanismen zurück. Auf dieser Basis 59 5
Eine wiederkehrende These des Altkanzlers; zuletzt tung Europas. 2002.
H. Schmidt . Die Selbstbehaup-
59 6 So auch G. Lundestad , The United States and Western Europe since 1945. From ..Empire" by Integration to Transatlantic Drift, 2003, S. 232.
III. Der Einfiuss der amerik anische n Verfassung
213
gelang es im Rahmen der KSZE-Verhandlungen, den Osten durch Abbau seiner überlegenen konventionellen Streitkräfte zur Aufgabe seiner Invasionsfähigkeit zu bewegen und die Grundlagen für eine gesamteuropäische Friedensordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu schaffen. Zudem schuf das einheitliche Auftreten der transatlantischen Allianz im Umfeld der Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem annus mirabilis (Häberle) mit dem Fall der Mauer, insbesondere die (mit Einverständnis der Bundesrepublik) gegenüber der Sowjetunion letztlich erfolgreich erhobenen Forderung nach einer unbedingten Einbindung eines wiedervereinigten Deutschlands in das westliche Bündnis (als wirksamer Schutz vor möglichen deutschen Sonderwegen oder einer kontinentalen deutsch-russischen Blockbildung) eine der wesentlichen Voraussetzungen für die internationale Zustimmung zur 59 7 Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990.
e)
Die Folgejahre nach
1989/90 sowie ein Ausblick
Auch nach En de des OstAVest-Konflikt s setzte sich die bereits seit den sechziger Jahren konstatierte ambivalente Haltung der USA gegenüber den europäischen Integrationsbestrebungen weiter fort. Zwar haben die USA die Gleichberechtigung der Europäischen Union a uf wirtsch aftlic hem Gebiet grundsätzlich akzeptiert und die gewachsene europäische Wirtschaftskraft für eigene ökonomische Interessen zu nutzen gewusst, aber allzu häufig münden wirtschaftlicher Konkurrenzdruck und Rivalitäten in politische Streitigkeiten, die sich etwa in politisch forcierten Handelskriegen (Hähnchen- und Bananenkrieg, Genmais-Konflikt etc.) oder Streitigkeiten über die Besetzung von Führungspositionen in Weltwirtschaftsinstitutionen äußern. 59 8 Im Bereich der internationalen Politik haben die globalen Entwicklungen seit 1990 gezeigt, dass der transatlantischen Gemeinschaft bei der internationalen Konfliktregulierung und Aufrechterhaltung einer stabilen internationalen Ordnung nach wie vor eine gewichtige Rolle zukommt und dass für eine angemessene Funktionswahrnehmung dieser internationalen Rolle das machtpolitische Gewicht der Europäer noch stärker anwachsen muss. Die Ansicht wird auch von den Amerikanern geteilt, die deshalb bei den Europäern stets geeignete Maßnahmen zur effektiveren Wahrnehmung ihrer internationalen Aufgaben und Verpflichtungen angemahnt haben. Gerade weil die USA angesichts der neuen weltpolitischen Herausforderungen auf einen starken handlungsfähigen Partner angewiesen sind. 59 7 Hierzu mit dem interessanten norwegischen Blickwinkel S. 228 ff. 59 8
G. Lundestad (2003),
Ausführlicher B. Neuss , Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäisch en Einigung, in: R .C. Mei er- Wal ser /B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 165.
214
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
haben sie sich immer wieder darüber beklagt, dass die Europäer weder über wirksame Entscheidungsmechanismen noch über die richtigen außenpolitischen Instrumente verfügten, um zügig und konsequent auf internationale Krisen reagieren zu können. Andererseits haben die USA in den internationalen Krisen der jüngsten Vergangenheit den Europäern deutlich zu verstehen gegeben, dass sie immer dann. wenn es ernst wird und ihre vitalen Interessen betroffen sind, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. Gerade die Administration von G. W. Bush hat mehrfach deutlich gemacht, dass die amerikanische Supermacht allenfalls bei Konflikten im regionalen Umfeld der Europäischen Union zur Kooperation bereit ist, ansonsten aber einer aktiven Rolle der Europäischen Union (etwa jüngst die „Kongo Mission EU FOR") eher reserviert, oftmals offen skeptisch gegenüber steht. Die EU-Staaten haben ihrerseits zunehmend deutlich gemacht, dass sie die traditionelle Rollenverteilung im Bündnis, wonach die USA die großen Leitlinien vorgeben und den Europäern lediglich unterstützende Funktionen, z. B. bei der Finanzierung friedensstabilisierender Maßnahmen, zufallen, nicht mehr länger gewillt sind hinzunehmen. Trotz der traditionellen Reserviertheit der USA gegenüber eigenständigen verteidigungspolitischen Vorstößen der Europäer, haben sie daher in den neunziger Jahren verstärkt (und gelegentlich allzu brachial - Stichwort „Pralinen Gipfer 2003) damit begonnen, ein eigenes geostrategisches Potenzial, weniger durch Belebung und Ausweitung der WEU als durch den Auf- und Ausbau einer Gemeinsamen Europäischen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) und insbesondere einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), aufzubauen. Auch für die internationale Entwicklung nach dem Ende der Blockkonfrontation gilt somit, dass die Differenzen mit den Vereinigten Staaten über die Ausrichtung der Politik der westlichen Welt und die Erfahrung, (noch) nicht über ein ausreichendes außen- und sicherheitspolitisches Instrumentarium zur angemessenen und eigenständigen Bewältigung der wachsenden an Europa herangetragenen internationalem Aufgaben und Herausforderungen zu verfügen, die Europäer zu verstärkten Integrationsanstrengungen und damit zur Stärkung ihres eigenständigen Gewichts in der Welt angespornt haben. Temporär aufkeimende Gegengewichtsphantasien haben sich zuletzt relativiert (insbesondere durch die wachsende Schwäche der Regierung Chirac in Frankreich und durch die Abwahl des deutschen Bundeskanzlers Schröder die beide als Haupttriebfedern einer 59 9 „neuen" transatlantischen Emanzipationsbewegung zu sehen sind). Die immer häufiger und immer offener zu Tage tretenden Auseinandersetzungen und Brüche in den transatlantischen Beziehungen sind unter anderem auch 59 9 Vgl zu alledem umfassend die Bundestagsreden des Verf. vom 5. 12.2002. vom 20.3.2003. vom 15. 10.2003. vom 23. 10.2003. vom 4.3.2004. vom 25.3.2004. vom 27.5.2004. vom 17.6. 2004. vom 26. 11.2004. 17.3. 2005 sowie vom 27.5.2005 (hierzu die jeweiligen BT-Plenarprotokolle des Sitzungstages).
III. Der Einfiuss der amerik anische n Verfassung
215
Kennzei chen dafür, dass die internat ionale Ordn ung auch 15 Jahr e nach Ende des Kalten Krieges immer noch von bedeutenden Umwälzungsprozessen erfasst wird und die Re-Definition von Positionen und Rollen in der internationalen Politik immer noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der politischen wie wissenschaftlichen Kontroversen (auf beiden Seiten des Atlantiks!) befasst sich mit der Frage, welche Rolle ein sich vereinigendes Europa zukünftig im internationalen Mächtekonzert spielen wird. Während eine Richtung angesichts der großen Zukun ftsa ufga ben des 21. Jahr hunderts auch für ei n stärker integriertes und machtpolitisch gewichtigeres Europa keine Alternative zur engen Anlehnung an das „amerikanische Empire" sieht, sprechen andere Positionen bis heute einem vereinigten Europa das Potential zu, ein partnerschaftliches Verhältnis auf gleicher Augenhöhe zu den Vereinigten Staaten aufzubauen oder sich eben 60 0 als Gegengewicht oder Konkurrent zu der derzeit einzigen „Supermacht" zu etablieren. Bislang war Amerika eine europäische Macht, nicht lediglich eine Macht in Europa. Zukü nfti g wird die ser Umstand nur in dem Maße Geltung besitzen können, 60 1 wie Europa für die Vereinigten Staaten so unentbehrlich ist wie umgekehrt. Die Europäer bedürfen, solange sie, mit oder ohne Verfassung keine real tragfähige Konstruktion (auch im militärischen Bereich) ausbilden, der USA unverändert als Schutz- und Garantiemacht. Ebenso als Gleichgewichtsstifter, wenngleich die 60 2 Europäische Union zunehmend in diese Rolle selbst hineinzuwachsen scheint. 3.
Europä ische Einflusss phären im
amerikanischen Rechtsdenken - Schlaglichter
Eine wesentliche Ursache des Verkennens politischer wie rechtlicher Realitäten der USA liegt eventuell darin, dass sich Europäer wiederkehrend von vorder600
Die Entwicklungen Chinas und Indiens sind in diesem Kontext politisch wie wissenschaftlich aufmerksamer zu begleiten. 60 1 Ähnlich auch M. Stürmer. Europas Sicherheitsarchitektur wankt, in: DIE WELT. 11. Dez. 2001. S. 8. " i : Beispielhaft seien nur die Friedens- und Vermittlungsbemühungen unter „europäischer Flagge" im Nahen Osten oder etwa in Bosnien-Herzegowina genannt. Gleichwohl ist es mittelfristig nicht ausgeschlossen, dass ein Verschieben der europäischen (Gleich?-)Gewichte eintritt. Grund hierfür ist zum einen die neue weltpolitische Bedeutung Russlands - u. a. wegen amerikanischer strategischer Bedürfnisse bei Raketenabwehr (NMD), Proliferation und in Innerasien - zum anderen aber die europäische Energielage. Diese wird umso unsicherer, je mehr sich der Nahe Osten in unvereinbaren Interessen und Konflikten verzettelt. Sollten die Vereinigten Staaten in Reaktion auf weltpolitische Erfordernisse und europäische Selbstmarginalisicrung einmal aufhören, tatsächlich europäische Macht zu sein, ist auch in diesem Kontext die neue Rolle Russlands zu beachten, das sich in einer solchen Situation Deutschland annähern könnte. Letzteres ließe Distanzierungen von Paris und London befürchten.
216
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
gründigen Identitäten und formalen Parallelen der Herrschaftssysteme diesseits und jenseits des Atlantiks täuschen lassen. Sie neigen dazu, Varianten desselben Herrschaftsmodus zu identifizieren, wo tatsächlich Struktur- und Funktionsunterschiede der politischen Institutionenordnungen vorhanden sind. Ableitbar ist dieses Fehlurteil auch aus einer gewissen Ambivalenz mit der die amerikanischen Verfassungsväter die Schaffung ihrer Republik ins Werk setzten. Sie gingen einerseits von weithin bekannten Ideen und Einrichtungen des „abendländisch-europäischen Kulturkreises" aus. So nutzten sie sowohl exakte Kenntnisse der politischen Philosophie seit den Tilgen der Antike oder der politischen Aufklärungsliteratur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Europa sowie ihr Wissen über die Strukturen und Funktionsweisen des britischen Regierungssystems, die mannigfaltig die politischen Ordnungsverhältnisse in den amerikanischen Kolonien geprägt hatten. Man arbeitete mit politischen Begriffen, die aus dem Fundus der Tradition stammten und die sie teilweise auch über den Atlantik in die „Neue Welt" übernahmen. Gleichwohl nutzten sie all diese Kenntnisse. Vorgaben und Begriffiichkeiten nicht lediglich zur Imitation europäischer Modelle, sondern kreativ zur Schaffung neuer, durchaus revolutionärer Institutionen. An dieser Stelle sei nur - und undifferenziert hinsichtlich sprachlicher wie inhaltlicher Unterschiede - auf den Föderalismus als amerikanische Erfindung im Bereich des Staatsrechts erinnert. Und selbst wo die Verfassungsväter Ideen und Einrichtungen aus Europa übernahmen (etwa den Gedanken der Repräsentation), gewannen diese in einer völlig neuartigen Umgebung spezifisch amerikanische Charakteristika, die mit europäischen Modellen kaum noch zu vergleichen waren. A. de Tocqiieville hat in seinem klassischen Werk „Über die Demokratie in Amerika" (1835) an zahlreichen Beispielen den Nachweis geführt, wie die eigentümliche „Ausgangslage" der „Neuen Welt", wie ihre Glaubensbekenntnisse das Überkommene selbst dort veränderten, wo man es zu bewahren suchte, wie etwa allein schon das „Dogma der Volkssouveränität" und das Gleichheitsprinzip überkommene Herrschaftseinrichtungen grundlegend veränderten. Der US-Historiker F.J. Turner meinte ähnliches, als er um die Wende zum 20. Jahrhundert die offene Grenze, das Erlebnis der Weite des Westens und die Erfahrung der Ungewißheit für die gesamte politisch-soziale Entwicklung der USA (mit)verantwortlich machte: „Vom Beginn der Besiedlung Amerikas an hat die Region der Grenze ständig ihren Einfluß auf die amerikanische Demokratie ausgeübt [...] Die amerikanische Demokratie ist im Grunde das Ergebnis der Erfahrungen des amerikanischen Volkes in der Auseinandersetzung mit dem Westen. Die westliche Demokratie fördert während der ganzen früheren Zeit die Entstehung einer Gesellschaft, deren wichtigster Zug die Freiheit des Individuums zum Aufstieg im Rahmen sozialer Mobilität und deren Ziel die Freiheit und das Wohlergehen der Massen war. Diese Vorstellungen haben die gesamte amerikanische Demokratie mit Lebenskraft erfüllt und sie in scharfen Gegensatz zu den Demokratien der Geschichte gebracht und zu den modernen Bemühungen in Europa, ein künstliches demokratisches Ordnungssystem mit Hilfe von Gesetzen zu errichten."
60
'
III. Der Einfiuss der amerik anische n Verfassung
217
Viele Europäer haben die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Herrschaftssystems missverstanden, da sie ihm, von vordergründigen Parallelen der Regierungsweisen diesseits und jenseits des Atlantiks getäuscht, mit Vorstellungen und Begriffen begegneten, die ihren eigenen Verfassungsordnungen entstammten. Die Strukturprinzipien der parlamentarischen Regierungssysteme europäischdeutscher Prägung unterscheiden sich allerdings erheblich von jenen der amerikanischen Präsidialdemokratie. Unabhängig davon, dass in diesen politischen Systemen Parlamente an den staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben, trennt sie doch vieles 61 ": im Rahmen der polity. der Institutionen. Strukturen und konstitutiven Normen ebenso wie im Bereich der politics, wie im anglo-amerikanischen Rechtsund Kulturkreis die politischen Prozesse umschrieben werden. Diese Unterschiede schlagen sich notwendigerweise auch in der Sphäre der policy, bei der Planung und Durchführung konkreter politischer Gestaltungsaufgaben, nieder. Allerdings: Lousiana übernahm kurz nach seiner Aufnahme in die Union Gesetzbücher nach französischem Vorbild, u.a. den Code Civil aus dem Jahre 1808. Erfolglos blieb dagegen ein Versuch deutschstämmiger Siedler 1794/95 in Pennsylvania und Virginia, die Gesetze der Union auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen.
60 5
4.
Inkurs: Teilaspekte
einer Europäis chen
Rechtskultur, Europaverständnis
Europas Werteordnung ist im Besonderen von drei Grundgedanken bestimmt: Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Diese drei Faktoren verstehen sich aus6 03
Zitiert nach der Website der US-Amerikanischen Botschaft in Deutschland, .usembassy.de/etexts/gov/bpb/body_i_l99_l .html. Vgl. auch F.J. Turner. vgl. The usa Significance of the Frontier in American History. 1893 sowie ders. The Frontier in American History. 1920. " u Bei der Definition des parlamentarischen Regierungssystems kommt es nicht in erster Linie darauf an. dass in dieser Herrschaftsordnung ein Parlament existiert, das verfassungsmäßig festgelegte Befugnisse bei der politischen Willensbildung hat. Andernfalls würde Verschiedenes zu einer künstlichen Einheit zusammengefügt - die Präsidialdemokratie der USA ebenso wie das Direktorialsystem der Schweiz oder die parlamentarischen Regierungsformen westeuropäischer Staaten. 60 5 Vgl. hierzu D. Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht. 6. Aufl.
München
1998. S.2 0 Fn. 32, mit Verweis auf
American State Papers. Miscellaneous,
Washington D.C. 1834. I. S. 114. 222. Nachdem sich zwei Kongressausschüsse für den Antrag ausgesprochen hatten, wurde er im Plenum mit 42 zu 41 Stimmen abgelehnt. Laut Blumenwitz (1998). soll „die entscheidende Stimme der Speaker of the House, der deutschstämmige F. A.C. Mühlenberg, abgegeben haben (...). Dies warder Anlaß für die in Deutschland immer wieder hochgespielte Legende, Deutsch sei nur wegen des Votums eines Deutschen nicht die Amtssprache der Vereinigten Staaten geworden."
218
B. Verfassung
serweckung
und Verfassungsbestätigung
drücklich als Säulen der Werteordnung, sie ziehen sich aber gleichzeitig (neben anderen Axiomen) durch alle Bestimmungsversuche einer europäischen Rechtskultur. Vereinfacht ist unter Personalität zu verstehen, dass der Mensch als ein mit Würde ausgestattes Einzelwesen zu sehen ist, das zunächst für sich verantwortlich ist. Der Gedanke der Solidarität knüpft an das Verständnis des Menschen als Sozialwesen an, das in der Gemeinschaft lebt und Verantwortung trägt für diejenigen, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Schließlich bedeutet Subsidiarität in diesem Kontext, dass die jeweils kleinere Einheit selbstverantwortlich alle die Herausforderungen erledigt, die sie selbst schultern kann und erst dann die nächst größere zu Hilfe kommt. Um dieses Werte- und Gedankengerüst dem Reich der Ideen zu entreißen, bedarf es jedoch der Verflechtung mit dem Recht. Auch im 21. Jahrhundert bleiben die Garanten des Rechts primär die Staaten. Sie allein können, bevor nicht ein stabiles, insbesondere vom einzelnen Bürger anerkanntes supranationales „Gebilde" etabliert ist, die latent drohende Gefahr einer Unterhöhlung des legitimen und friedensstiftenden Gewaltmonopols abwenden. Sie können dies umso besser, je mehr sie von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen werden. Ein Umstand im übrigen, der nicht anstrebenswertes Ziel einer überstaatlichen Vereinigung sondern bereits Grundlage hierfür sein muss und nirgends besser wachsen kann als aus den Staaten selbst heraus - von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen. Die Vereinigten Staaten lieferten nach de m 11. Sep temb er 2001 ein beeind ruckendes Beispiel für den Willen, mit großem Selbstbewusstsein die notwendigen Aufgaben nach dem gewaltigen Schock gemeinsam zu erledigen. Auch im vereinten Europa haben die Nationalstaaten ihre Berechtig ung nicht verloren. Sie s ind im Gegenteil gerade unentbehrlicher Bestandteil einer zu vermittelnden europäischen Kultur. Im positiv gemäßigten, wohlverstandenen Patriotismus der europäischen Nationen bündeln sich die gemeinsame Geschichte und Kultur unseres Kontinents. Die nationale Prägung ist für die Menschen dabei sowohl stabiles Bindeglied zu sich selbst wie zu den Nachbarländern (im wechselseitigen Verständnis) als auch Teil ihrer unverwechselbaren Identität. Kulturelle Verwurzelung und nationale Identität stehen dabei zur Weltoffenheit oder zu einem gemeineuropäischen Verständnis nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Europa erfährt seine Prägung durch seine Nationen mit den ihnen eigenen Besonderheiten, aber Europa war auch immer gekennzeichnet vom gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Dieser ständige Prozess des Austausches - ohne Verlust der eigenen Identität - war nur möglich, weil er in ein gesamteuropäisches Wertesystem eingebunden war. Die europäischen Völker und Staaten sind sich auch nicht annähernd so fremd, wie es die Vielfalt der Sprachen und die Unterschiede der Kulturen, des Alltags und der sozialen Standards vermuten lassen. Sie haben eine seit dem frühen Mittelalter auf engem Raum und in ständiger Auseinandersetzung entwickelte (letztlich gemeinsame) Geschichte, und zwar nicht lediglich eine Kriegsgeschichte, sondern auch eine des ständigen Austauschs durch Handel, Migrationen, Missionierung
III. Der Einfiuss der amerik anische n Verfassung
219
und Kulturtransfer. Zum Kulturtransfer gehört auch die seit dem 12. Jahrhundert sich ausbreitende Schulung professioneller Juristen am wiederentdeckten römischen Recht sowie an dem für alle Lebensverhältnisse maßgeblichen Recht der römischen Kirche. Die Einübung der Rechtssprache, der Grundfiguren rechtlicher Ordnung und gewaltfreien Güteraustauschs, der differenzierten Verfahren und der typischen Verfahrensfehler bedeuteten eine außerordentliche, im Alltag kaum noch bewusste Zivilisationsleistung. Das Gleiche gilt für die Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts, das sich aus Theologie und Naturrecht. Gewohnheitsrecht und Doktrin langsam verfestigte und schrittweise positiviert wurde. Mit anderen Worten: Eine künftige Verfassung Europas kann auf einem durch lange 60 6 Erfahrungen gesicherten Fundament aufbauen. 5.
Ein historisch gewachs enes
„transatlantisches Verfassungsfundament"
Insgesamt ist ein transatlantisches „Verfassungsfundament" zu konstatieren. Dieses besteht zunächst aus internalisierten Sätzen einer vielfach gemeinsamen, 607 in den Anfängen noch europäischen Rechtskultur. Es gibt nicht nur positives Verfassungsrecht. sondern auch unübersehbare historische Prinzipien. Diese besagen zum einen, dass die regierende Macht bei ihren Handlungen fundamentalen Beschränkungen unterliegt. Sie hat sich ihnen anfangs durch Eide und Verträge, dann durch Fundamentalgesetze, Bills of Rights, Constitutions-Akte und schließlich durch jeweils mod erne Verfassungen unterworfen . Zum and eren sind Verfassungsgerichte geschaffen worden, die diese Beschränkungen kontrollieren.Mit anderen Worten: Die Idee der Bindung der Staatsgewalt an Grundrechte und die effektive Kontrolle durch gerichtsförmige Verfassungsorgane oder funktionale Äquivalente gehören heute zum Standard. Zudem erkennen die Staaten Grundprinzipien des Rechtsstaats an. also die Bindung an demokratisch zu Stande gekommene Normen. faires Verfahren und ausgebauten Rechtsschutz60durch unabhängige Gerichte, 8 Verhältnismäßigkeit von Anlass und Eingriff. Im 19. und 20. Jahrhundert ist die „egalitäre Demokratie" hinzugekommen. Es entstanden Sicherungen der politischen Partizipation aller mündigen Bürgerinnen und Bürger, Verfahren der politischen und staatlichen Willensbildung, 606 Ebenso M. Stolleis, Europa nach Nizza. Die historische Dimension, in: NJW 2002. S. 1022 ff., 1023. 60 7 Es gibt bislang nu r zaghaf te Versuche, Unterschiede und Gemeinsa mkeite n zwischen der europäischen und der amerikanischen ..Rechtskultur" zu erarbeiten, vgl. allerdings R. Zimmermann (Hrsg.). Amerikan ische Rechtskultur und europäisc hes Privatrecht. 199 5; ders., Rom an Law, Conte mpo rar y Law. Europe an Law, 1991 mit Blick auf die römisch rechtliche Tradition. 60 8 So im Hinblick auf die europäische Verfassungsgeschichte auch nach Nizza. Die historische Dimension, in: NJW 2002. S. 1022 ff., 1023.
M. Stolleis. Europa
220
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
einschließlich der Anerkennung von Parteien. So differierend die Reaktionen auf das mittelalterliche Postulat „quod omnes tangit ab omnibus approbetur" auch ausfallen mögen, es gibt auch hierfür „Leitsätze", die in der transatlantischen Verfassungsgeschichte der letzten zweihundert Jahre eingeübt worden sind: Jeder gesunde Erwachsene soll ohne Ansehung von Rang und Stand eine periodisch wiederkehrende Chance der politischen Mitbestimmung haben, und zwar durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Abstimmung nach Mehrheitsprinzip, sei 60 9 es über die Sachfrage selbst, sei es über die Wahl von Repräsentanten. Die institutionellen Arrangements, die den so ermittelten Volkswillen in einen annähernd handlungsfähigen Regierungswillen überführen, sind überaus vielfältig, folgen jedoch weitgehend einem Grundmuster: Parteien als „Agenturen" zur Bündelung des Volkswillens, die Regierung als Exekutivorgan des Mehrheitswillens, die Opposition als politischer Gegner, das Parlament als Beschlussorgan und politische „Schaubühne". Unterschiedlich ist auf beiden Seiten des Atlantiks freilich das Verständnis von der Notwendigkeit einer Trennung von Staatsoberhaupt und Regierungschef. Wie eingespielt diese allgemeine Funktionsteilung mittlerweile auch auf europäischer Ebene ist, offenbaren bei aller Dringlichkeit einer neuen Gewichtsverteilung die dort gebildeten Organe (Parlament, Kommission, Ministerrat, Gerichte). Zu den kraft historischer Langzeiterfahrung internalisierten Sätzen atlantischer Rechtskultur gehört nicht nur die vertikale Funktionsteilung, sondern auch die horizontale Ausgliederung von Aufga ben zur sel bst verantwortlichen Erledigung. Dies hat seinen Ausgangs- (oder End-)punkt bei den Kommunen, gewinnt aber seine größte Bedeutung auf der mittleren Ebene semiautonomer „Teilstaaten", die zwar wesentliche Aufgaben dem Zentralstaat überlassen, aber doch im Bereich ihrer Kompetenzen als „Staaten" auftreten, mögen sie im europäischen „Gewand" Provinzen (Belgien. Niederlande), Regionen (Italien) oder Länder heißen. Gewiss sind die englischen Grafschaften, die französischen Departements und „Regionen", die spanischen Comunidades Autönomas. die schwedischen Provinzen (län), die ungarischen Komitate und die polnischen Wojewodschaften keine „Länder" im Sinne der deutschen oder „Staaten" (states) gemäß der amerikanischen Tradition. Was aber alle verbindet, ist der letztlich banale Grundgedanke, dass in größeren Staaten nicht alle Fragen am grünen Tisch in der Hauptstadt entschieden werden können. Für regionale, kulturelle, sprachliche oder ethnische Besonderheiten muss es Legitimationsstrukturen vor Ort geben, die sich in überschaubaren Einheiten aufbauen lassen. Das hat den geschichtlich unzählige Male bestätigten Vorteil, dass diejenigen Politiken, die traditional geformte Räume, spezifische Mentali-
60 9 Das schließt Minderheitenschutz durch intelligente Verfahren ein. etwa durch Garantien von Mandaten. Vetorechten. Wechsel im Vorsitz. Ausklammerung streitiger
Themen und „Herunterzonen", Formelkompromisse und „praktische Konkordanzen",
vgl. M. Stolleis (2002). S. 1023.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
22 1
täten. Bedürfnisse von ganzen „Landschaften", konfessionelle oder sprachliche Besonderheiten den Betroffenen zur eigenverantwortlichen Regelung überlassen, letztlich die effektiveren sind. So haben sich in den letzten Jahrzehnten auch alte europäische Zentralstaaten zu einer gewissen Diversifizierung ihrer Verwaltung bereitgefunden.
IV. Die Bestä tigung und Festigung des Verfassungsstaates (USA) bzw. der Verfassungsgeineinschaft (EU) durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien Das Unterfangen einer (verkürzten) historischen Betrachtung der amerikanischen und europäischen Verfassungsentwicklung erlaubt (und erfordert) die Hervorhebung dreier Standpunkte, die mit unterschiedlichem Blickwinkel, aber einem Zielpunkt, der sich unter den Begriff „amerikanische bzw. europäische Verfassungskultur" fassen lässt, die Verfassungsgeschichte zu prägen wußten. Zum einen sind im Kontext der amerikanischen Verfassunggebung die Amendments als Zeugnis eines sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen, gleichwohl fortentwickelnden kulturellen Umfelds zu nennen. Vollzogener Wandel und Fortentwicklung sind in diesem Kontext nicht gleichzusetzen; vielmehr ist die stete Wandlungsfähigkeit erst Voraussetzung einer blühenden Kultur. Mit Blick auf die Europäische Union sind die Instrumente zur Änderung der Verträge sowie des Verfassungsvertrages näher zu betrachten. Als zweite Säule der Verfassunggebung und Standpunkt im obigen Sinne lässt sich als eigentlicher Impulsgeber und Kontrolleur amerikanischer Verfassungswerdung der US-Supreme Court als „ständiger Verfassungskonvent" 61 " und bedeutsamster Verfassungsinterpr et ausmachen , auf europäischer Ebene ist die diesbezügliche Rolle des EuGH in einzelnen Punkten zu prüfen. Beide Gerichte nehmen gleichzeitig eine bedeutende Rolle für Entfaltung und Fortgang der jeweils verankerten Verfassungsprinzipien ein, die drittens als Grundged anken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgeme inschaft 6 " (Europäische Union) in einer Auswahl einem Vergleich unterzogen werden. Zwischen Amendments, Gerichtshöfen und Verfassungsprinzipien findet sich schließlich eine höhere Schnittmenge, als dies die Verfassungstexte zunächst erahnen lassen.
61 " Diese Bezeichnun g wird Präsident W. Wilson zugeschrieben: „The Supreme Court is a constitutional Convention in continuous session" (zitiert nach E.S. Corwin/J. Peltason. Unde rst andi ng the Const ituti on. 11. Aufl. 1988. S. 125: wieder kehr end auch in D. Kyvig, Explicit and Authentic Acts: Ame ndin g the U.S. Cons titut ion. 17 76- 199 5, 1996 ; in der deutschsprachigen Literatur bereits: W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA.
Fragen der Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 1972, S. 12. 61 1 Vgl. nur P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 645.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung 1.
Geb und ene Verfas sungge bung - Wege zur
Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung
a) USA: Die Amendments als Abbilder einer Verfassungsergänzung - Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte Die Gründungsv äter schufen bewusst eine Verfassung, die schwer zu verändern, revidieren oder ergänzen sein sollte. Im festen Glauben an eine eherne Verfassungsstruktur. die ihrerseits den verankerten und sich entwickelnden Prinzipien den gebührenden Respekt sichern würde, gingen sie von einem lediglich begrenzten Spielraum für Änderungen aus. J. Madison unterstrich dieses Bewußtsein in The Federalist No.49, indem er die Verfassung nur anlässlich „certain great and extraordinary ocassions" irgendwelcher Modifikationen unterwerfen wollte. Tatsächlich vereinten seit der Verfassungsratifikation in mehr als zweihundert Jahren lediglich 27 vorgeschlagene Amendments die erforderlichen Mehrheiten im Kongress und den Staaten auf sich, wobei den ersten zehn Amendments, der Bill of Rights, insoweit ein Sonderstatus einzuräumen ist, als sie als untrennbarer Bestandteil der Gründungsverfassung gesehen werden müssen und deren 612 Aufnahme von Anfang an vorgesehen war. Die Amendments sind das Abbild unmittelbarer Verfassunggebung in Amerika, 61 3 ihrer mehr als 200-jährigen Verfassungsgeschichte und lassen sich am ehesten als „Verfassungsergänzung" begreifen. Der Terminus „Verfassungsergänzung" ist angesichts des Umstandes, dass die Urfassung der amerikanischen Bundesverfassung bislang keine Wortlaut-Änderungen, sondern vielmehr textliche Erweiterungen erfuhr, sachgerechter als der inflationär gebrauchte Begriff der „Verfassungsänderung". Freili ch wurden mit Hilfe der Amend ments Anwe ndungsbereiche einzelner Artikel geändert, die Gültigkeit einzelner Bestimmungen gegebenenfalls aufgehoben. Trotzdem wirkt in einer Gesamtschau jede Änderung letztlich solange ergänzend bis es tatsächlich zu einer Totalrevision kommt. Die amerikanische Verfassung bleibt angesichts des Festhaltens an ihren Bestimmungen damit Spiegelung ihrer Kulturgeschichte - im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen, die das Ringen um eine Fortentwicklung angesichts des revidierten Textes selten erkennen lassen. T. Hobbes sah bereits den Akt der Ver-
61 2 Vgl. auch. K. Locwenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959, S. 35. 61 3 Zur Geschichte der Amendments in großer Ausführlichkeit R. K. Newman (ed.), The Constitution and its Amendments, 4 Vol., 1999. Den Bezug zum politikwissenschaftlichen Ansatz arbeitet J. R Vile, The Constitutional Amending Process in American Political Thought. 1992. heraus. Siehe auch die Quellensammlung von ders.(cd.), The Theory and
Practice of Constitutional Change in America : a Collection of Original Source Materials, 1993.
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fassun ggebung in Kulturstaaten eher als einen Akt der Verfassungweitergebung. Diese These wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika auch in formeller
61 4
Hinsicht erfüllt. aa) Artikel V der Bundesv erfassu ng ein Faktor der Stabilität und Flexibilität Darüberhinaus wurde mit dem Instrument der Amendments ein Gerüst geschaffen. das den so gegensätzlich erscheinenden, tatsächlich jedoch einander streng bedingenden Säulen jeder Rechtsordnung - rechtliche Stabilität und notwendige Anpassungsfähigkeit zum gesellschaftlich bedeutsamen Wechsel - die Balance und Beständigkeit gab, die in der vorhergegangenen Geschichte oftmals erstrebt und letztlich nie im erforderlichen Maße erreicht wurde. Was also bereits im alten Testament im Buch Esther und beim Propheten Daniel angesichts der kaum intendierten Auswirkungen unabänderlicher Gesetze von Medern und Persern angedeutet worden war 61 5 , was schon Plutarch bezüglich des schnellen Wandels der ursprünglich für hundert Jahre niedergelegten Gesetze Solons festgehalten hatte 61 6 und was schließlich Zeitgenossen der amerikanischen Verfassungsväter in 6 7 philosophischen und politischen Schriften forderten - die Liaison von Tradition
61 4
Vgl. T.Hobbes. Leviathan. 1651, chap. 26. P.Kirchhof greift diesen Gedanken ebenfalls auf in ders., Die Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. 1999. S. 31 ff.. 49. 6 15
Siehe das Buch Esther Kap. 1. 19; 2 ff. sowie Daniel. Kap. 6. 9. Vgl. in englischer Übersetzung Plutarch. The Rise and Fall of Athens: Nine Greek Lives. 1960. S. 67 ff. 61 7 Einen profunden Überblick über die amerikanischen Ansätze im 18. Jahrhundert gibt 616
J.R. Vile. Ideas of Legal Change: Precursors of the Constitutional Amending Process. in: 9 Midsouth Pol. Sei. Journal (1988). S. 64 ff. Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch die frühen Gedanken des Quäkers W. Penn, dessen Entwurf der Charter of Delaw are (1701) unter dem Eindruck der Forderungen nach Religions- und Gewissensfreieit sowie angesichts der banalen Erfahrung von der Sterblichkeit der Menschen bereits einen „amendingprocess" vorsah. Penn formulierte, dass .,no Act, Law or Ordinance whatever" shall „alter, change or diminish the Form or Effect of this Charter [...] without the Consent of the Governor [...] and Six Parts of Seven of the Assembly I...]." Darüberhinaus fand sich in der Charter eine Garantie, dass „the First Article of this Charter relating to liberty of Conscience. and every Part and Clause therein I...] shall be kept and remain. without any Alteration, inviolably for ever", zitiert nach F. Thorpe. The Federal and State Constitutions. Colonial Charters and Other Organic Laws of the States. Territories, and Coloni es Now or Heretofor e Forming the United States of Americ a, 1909. S. 560 . In einigen der einzelstaatlichen Verfassungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung geschaffen wurden, war die Möglichkeit zukünftiger Modifizierungen auf Änderungen der staatsorganisatorischen Struktur beschränkt, wohingegen die meist separat verabschiedeten „Bill of Rights" meist für unabänderlich erklärt wurden, vgl. Article V and the Bill of Rights, in: 6 Ind. L. Rev. (1973). S. 699 ff.
R. Taylor. A New Look at
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und Moderne, die Verbindung eines erhaltenden mit einem wandlungsfähigen Element - fand mit der Möglichkeit der Verfassungsergänzung mittels Amendments in Art. V der Verfassung von 1787 erstmalig Einzug in eine Rechtsordnung: „The Congress, whenever two thirds of both Houses shall deem it necessary. shall propose Amendments to this Constitution, or. on the Application of the Legislatures of two thirds of the several States, shall call a Convention for proposing Amendments, which. in either Case, shall be valid to all Intents and Purposes. as Part of this Constitution, whcn ratified by the Legislatures of three fourths of the several States, or by Conventions in three fourths thereof. as the one or the other Mode of Ratification may be proposed by the Congress: Provided that no Amendment which may be made prior to the Year One thousand eight hundred and eight shall in any Manner affect the first and fourth Clauses in the Ninth Section of the first Article; and that no State, without its Consent, shall be deprived of its equal Suffrage in the Senate."
Über dem Verfassungskonvent von Philadelphia schwebte - wie erwähnt - stetig der Geist des Kompromisses. Hinsichtlich der Amendmentregelung wurde der Wille zur „aurea medioeritas" schließlich exemplarisch umgesetzt, indem man einen Mittelweg fand zwischen einer „fließenden", leicht zu ändernden Verfassung. die beispielsweise keinerlei Schutz vor unerwünschtem politischen Wandel geboten hätte, und einer allzu rigiden Ordnung ohne jegliche Möglichkeit zur gelegentlich notwendigen Neuorientierung. Art. V übernahm hierbei eine bedeutsame Rolle. So konnten noch die Anicles of Confederation nicht ohne die Zustimmung der Legislaturen 61 " aller Einzelstaaten geändert werden - ein System, das sich nach überwiegender Meinung als unpraktikables Mittel zu Stillstand und potentieller 61 9 Separation instrumentalisieren ließ . Die Unzufriedenheit mit den Regelungen der Anicles und die daraus zu ziehenden Konsequenzen brachte Madison im Federalist No. 40 zum Ausdruck, als er das Vorhaben der Verfassungsväter auch insoweit rechtfertigte, „ [ . . . ] that. in all great chang es of established governments, forms ought to give way to substance, that a rigid adherence in such cases to the former would render nominal and nugatory the transcendent and precious right of the people to .abolish or alter their 6.8 Der Begriff „legislatures" in Artikel V bezeichnet „deliberative, representative bodies of the type which in 1789 exercised the legislative power in the several States. It does not comprehend the populär referendum which has subsequently become a part of the legislative process in many of the States, nor may a State validly condition ratification of a proposed constitutional amendment on its approval by such a referendum", vgl. Das Urteil
des US-Supreme Court in Hawke v. Smith. 253 U.S. 221,231 (1920)sowie
Leser v. Garnett,
258 U.S. 130. 137 (1922): „lt]he funetion of a State legislature in ratifying a proposed amendment to the Federal Constitution, like the funetion of Congress in proposing the amendment, is a federal funetion derived from the Federal Constitution: and it transcends any limitations sought to be imposed by the people of a State." 6 . 9 Siehe Art. XIII der Articles of Confederation. Dazu VV. Solberg. The Federal Convention and the Format ion of the Union of the Ame ric an States. 1958. S. 51.
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governments as to them shall seem most likely to effect their safety and happiness,' since it is impossible for the people spontaneously and universally to move in concert toward their object; and it is therefore essential that such changes be instituted by some informed and unauthorized propositions, made by some patriotic and respectable Citizen or number of Citizens." Nachdem sich das Prinzip der Einstimmigkeit also als untaugliches Mittel für den unumgänglichen Wandel erwiesen hatte, brachten die Verfassungsväter eine neuartige Alterna tive auf den Weg. 6 2 " Verglichen mit den Articles of Confederation steht A rt. V f ür ein höh er es M a ß an Fle xibi litä t, da er zwa r hoh e H ür de n 621 im Amendmentprozess vorschreibt , gleichwohl jedoch (unterschiedliche) Mehrheiten im Verfahren genügen lässt. Nachdem die rechtlichen Zwänge gegenüber denen der Articles vergleichsweise gelockert waren, glaubten nun einige Konventsmitglieder. die gegebenen „legal constraints" seien durch eine selbst auferlegte Zurückhaltung („self-restraint") zu ergänzen. Andere forderten in regelmäßigen Abständen Überprüfungen der Verfassung („periodically scheduled reviews"). Freilich erfolg los auf Bun des ebe ne - wobei jed och nicht verschwie soll, dass diese Idee immerhin in einige einzelstaatliche Verfassungen inkorporiert wurde. 6 2 2
gen werde
620 Obgleich alle Aufzeichnungen des Verfassungskonvents wiederholt Gegenstand intensiver Untersuchungen im Hinblick auf Hintergründe des Amendment-Prozesses waren, hatte es innerhalb des Konvents kaum Diskussionen über die Notwendigkeit der neuen Verfahrensform gegeben, vgl. S. Gaugush, Principles Governing the Interpretation of Exercises of Article V Powers, in: 35 The Western Pol. Q. (1982), S. 213 ff. Der Delegierte Mason aus Virginia meinte etwa, dass Amendments vonnöten seien und es wäre ..better to provide for them. in an easy. regulär and Constitutional way than to trust chance and violence", zitiert nach M. Farrand. The Records of the Federal Convention. Bd. 1. rev.ed. 1937 sowie 1966 (hier zitiert). S. 202. 62 1 Bei den Anti-Federalists war die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu
n
Col.
schwierig (siehe die Kritik von P. Henry vordem Ratifizierungskonvent in Virginia, zitiert be i J. Ellion . The Debates in State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution. Bd. 3,1888. S. 48 sowie die Einschätzung von W. Livingston, Federalism and Constitutional Cha nge. 1956 , S. 242 ff. ) eng mit der Auf fas sung verk nüpft , dass die grund sätzl ich notwendige Aufnahme und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung b edürft e, vgl. E. P. Smith. The Movemen t Tow ards a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. Jameson, Essays in the Constitutional History of the Un ited S tates in the Formative Period. 177 5- 178 9. 1889 . S.4 6f f. Madison freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und versicherte die anschließende Aufnahme einer Bill of Rights. Die ..amending articles" verteidigte er im übrigen als ein ..neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmit tel gegen alle erdenkli chen Fehl er in der Verf assu ng, ver sehen mit der Funktion ..equally against that extreme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 43) zu wachen. Vgl. dazu auch J. R. Vile, Amer ican Vie ws of the Constitutional Amending Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991), S.44ff., 49 f.; P. Weher. Madison's Opposition to a Second Convention, in: 20 POLITY (1988), S. 498 ff.
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bb) „Self-Re straint " in der Verfass unggebun g Insgesamt gedieh, besser glückte die Selbstverpflichtung zum „self-restraint" in den ersten zwei Jahrhunderten nach dem Gründungsakt. Obwohl in diesem Zeitraum mehr als 11.000 Amendment-Vorschläge für die Verfassung in den Kongress eingebracht wurden, vereinten lediglich 33 die erforderlichen Kongressmehrheiten auf sich, wovon letztlich nur die benannten 27 auch von den Staaten ratifiziert wurden. Die nach allgemeiner Ansicht bedeutsamsten Amendments, etwa die Hälfte, entstammen zwei bahnbrechenden Perioden amerikanischer Ge62 3 schichte - dem Zeitraum der Verfassungschöpfung , die 1791 ihre Vollendung mit der Bill of Rights gefunden hatte, sowie der umwälzenden Phase des Bürgerkrieges. die Ausschlag für die sogenannten ..Reconstruction Amendments" geben sollte. Daneben bleiben lediglich dreizehn „sonstige" Amendments der Verfassung, die größtenteils dazu dienten, entweder das Wahlrecht auszuweiten oder die Amtszeit des Präsidenten zu regulieren. Vier Amendments blieb es vor-
624
62 5
behalten. höchstrichterliche Entscheidungen de facto aufzuheben. So verbietet das 11. Ame ndm ent (1798) entgegen der Entsche idung Chisholm v. Georgia 626 Klagen von Bürgern eines Einzelstaates gegen einen anderen Einzelstaat. Mit dem 16. Amendment (1913) wurde im Widerspruch zu Pollock v. Farmers Loan & Trust Co.'-2' die Einkommenssteuer ermöglicht. Das 14. Amendment (1868) aus der Reconstruction-Ära ermöglicht allen in den USA geborenen oder eingebürgerten Personen die amerikanische Staatsbürgerschaft und setzte sich damit über Dred Scott v. Sandford b28 ebenso klar hinweg wie das 26. Amendment aus dem Jahre 1971 eine Beschränkung des Wahlrechts von Personen über achtzehn und
62 2 Vgl. J.K. Vile (1991), S. 50. In Pennsylvania gab es für die „reviews"die Institution eines „Council of Censors"; dazu S.P. Xleador, The Council of Censors, in 22 Pennsylv.Mag. of Hist.and Bio. (1898). S. 265 ff. Zum Amendment-Prozess in den Einzelstaaten
bereits J. W. Garner. Am end men t of State Consti tution s. 1907; sowie A. L Sturm. Methods of State Consti tutio nal Refor m. 1954; M.L Kendrigan, Constitutional Revision in Other States. 1965. 6 23 Hierzu zählt kurioserweise auch das letzte, 27. Amendment, das ursprünglich bereits Bestandteil des dem ersten Kongress 1791 zugegangenen Ame ndment-. .Paket s" wa r. jedoch erst im Jahre 1992 ratifiziert wurde. 62 4 Dies sind das 13.(1865), 14.(1868)und 15. Amendment (1870). Siehe auch A.Avins, The Reconstruction Amendments' Debates. The Legislative History and Contemporary Debates in Congress on the 13th. 14th. and 15th Amendments, 1967. Zu den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem 14. Amendment J.E. Bond. No Easy Walk to Freedom. Reconstruction and the Ratification of the Fourteenth Amendment. 1997. 6 25 Das ame rik ani sch e Wahlr echt haben das 17. (191 3), 19. (192 0). 23. (196 1). 24. (1964) und 26. Amendment (1971) sowie die ..Reconstruction Amendments" 14 (1868) und 15(1870) zum Gegenstand.
626
Chisholm v. Georgia, 2 U.S. (2 Dali.) 419 (1793).
627 628
Pollock v. Farmers Loan & Trust Co., 157 U.S. 429 (1895). Dred Scott v. Sandford 60 U.S. (19 How.) 393 (1857).
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damit das Urteil Oregon v. Mitchell™ obsolet machte. Die einzigen Amendments, die nicht diesen Kategorien unterfallen - die sogenannten Prohibition Amendments63°- bilden zudem das bislang einmalige Beispiel einer Aufhebung eines Amendents durch ein weiteres Amendment. In der amerikanischen Verfassung gibt es lediglich eine Vorschrift, die nicht geändert werden darf' 3 1 , nämlich laut Art. V letzter Halbs atz die Best imm ung , die jedem Staat das gleiche Stimmrecht im Senat gewährt. Tatsächlich wurde mit Erlaubnis des beeinrächtigten Staates diese Regelung mit dem 17. Amendment (1913) schließlich auch dahingehend geändert, dass nicht mehr wie ursprünglich in Artikel I § 3 par. 1 der Verfassung vorgesehen die Staatsparlamente ihre Senatoren ernennen sollten, sondern das Volk diese in Direktwahl zu bestimmen hätte. Die grundsätzliche Änderungsbefugnis unterstrich der Supreme Court 63 2 ausdrücklich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Vor allem aber die erforderliche Beteiligung der Einzelstaaten stellte sich in der Vergangenheit als schwer zu überwindendes Hindernis gegen häufige und übereilte Ergänzungen des Verfassungstextes dar. In den letzten Jahren waren jedoch im Hinblick auf Amendment-Bemühungen Anzeichen eines weniger strengen „self-restraint"-Bewußtseins zu beobachten. Obgleich seit 1971 kein neu vorgeschlagenes Amendment (das 27. aus dem Jahre 1992 hatte man. wie bereits erwähnt, schon im Zuge der Inkorporierung der Bill of Rights initiiert) mehr angenommen wurde, ergab sich ein plötzlicher Anstieg vorgeschlagener Ergänzungen, die den Verfahrensweg bereits ungewöhnlich weit beschritten haben und die. sollten sie in Kraft treten, für fundamentale Prinzipien wie das Recht der freien Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit, den strafrechtlichen Schutz der Bill of Rights und die Methodik, auf die der Kongress für die Zuweisung von Mitteln zurückgreift, einschneidende Veränderungen zur Folge hätten. 63 3 Darüber hinaus ist im Zuge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 eine Potenzieru ng von Amendme nt-Vo rhabe n zu erkennen, wobei 629
Oregon v. Mitchell. 400 U.S. 112 (1971).
630
Das 18. (1919) und 21. (1933) Amendment. Dazu W.D.Guthrie, Constitutional Aspects of National Prohibition: a Review of the Antecedents of the Eighteenth Amendment, the Objections to its Repeal. and the Advisability of its Modification. 1932. 63 1 Im Gegensatz etwa zum deutschen Grundgesetz, vgl. Art. 79 III GG. Das Problem der ..unabänderlichen Verfassungsnormen", wie beispielsweise die „Ewigkeit" der republikanischen Regierungsform in den Verfassungen der französischen dritten bis fünften Republik oder in der italienischen Verfassung, besteht also in dieser Form in den Vereinigten Staaten nicht.
632
Vgl. die National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920) sowie
Leser v. Garnett.
258 U.S. 130(1922). 6 33 Innerhalb weniger Jahre haben etwa in den 1990er Jahren sechs vorgeschlagene Verfassungsergänzungen (u.a. einen ausgeglichenen Haushalt. Wahlkampffinanzierung. Religionsfreiheit. Verfahren zur Erhebung neuer Steuern, aber auch Flaggenentweihung („flag desecration") betreffend) das Plenum einer der beiden oder beider Kammern des
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aber weitgehend davon ausgegangen wird, dass die Unmittelbarkeit der Reaktion
(ein Wesensmerkmal von politisch gesteuertem Aktionismus) über die Momentaufnahme hinaus ihre Grenzen in der bisherigen Verfassungs-Ergänzungs-Tradition finde dürfte. Zwar haben Bemühungen um die amerikanische Verfassunggebung seit der Declaration of Independence nicht mehr Anlass zur Vermutung gegeben, äußeren Einflussfaktoren geschuldet zu sein, gleichwohl ist nicht zuletzt aufgrund des amerikanischen Verfassungsselbstverständnisses und -Patriotismus' gerade
dieser Umstand eher Hemmnis denn Antrieb für allzu extensive AmendmentAbsichten. 63 4 Jedoch ga b es bereits vor dem 11. Sep tem ber 200 1 - insbesond ere in der Parteienlandschaft - Tendenzen, das politische Klima zugunsten weiterer Amendments zu verändern. So fanden Vorschläge, die Verfassung um ein „victim's rights - amendment" 63 5 zu ergänzen ebenso politische Unterstützung wie Konzepte, die amerikanische Staatsbürgerschaft neu zu definieren oder die Erfordernisse für zukünftige Amendmen ts zu er le ic ht er n. Di e Gr ünde für dies es ne u er weckte politische Amendment-Interesse sind vielfältig. Für manchen Republikaner spielte gewiß der Umstand, seit mehreren Generationen erstmals wieder die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses zu stellen, eine nicht unbedeutende Rolle. Unter den Demokraten gibt es bis heute nicht wenige, die ihrer Frustration über
Kongresses erreicht. Dabei wurden zwei („balanced budged amendment" und ..flag desecration amendment") vom Repräsentantenhaus verabschiedet, eine Version des ..balanced budged amendment" verfehlte die erforderliche Senatsmehrheit zweimal jeweils nur um
eine Stimme, vgl. United States, Congress, Senate-Committee on the Judiciary, Subcommittee on the Constitution, Balanced-Budget Amendment to the Constitution. Hearings before the Subcommittee on the Constitution of the Committee on the Judiciary, United States Sena te, One Hundr ed Third Congre ss. second session. on S.J . Res. 41. Februa ry 15, 16. and
17. 1994. 1995; United States Congress, Senate - Committee on the Judiciary, BalancedBudget Amendme nt. Hearings before the Committe e on the Judiciary, United S tates Senate. One Hundre d Fifth Congr ess. first session on S. J. Res. 1, a b ill proprosin g an ame ndm ent to the Constituti on of the United States to require a balanced budg et. Januar y 17 and 22, 1997 ,
1997. Zum „flag desecration amendment": United States, Congress, House - Committee on the Judiciary. Subcommittee on the Constitution. Flag Desecration Amendment to the Constitution. Hearing before the Subcommittee on the Constitution of the Committee on the Judiciary, One Hundred Fourth Congress, first session. on H.J. Res. 79. May 24. 1995. 1995. 63 4 Freilich hatte der 11. September in den Vereinigten Staaten (wie in vielen Ländern Europas) eine Flut von Gesetzgebungsinitiativen zur Folge, die insbesondere verschärfte Maßnahmen im Rahmen der inneren Sicherheit ermöglichen sollten, vgl. dazu nur die breite Berichterstattung etwa zum sog. ..Patriot Act". 6 35 Vgl. dazu die Stellungnahmen der Senatoren R. Feingold un d P.J. Leahy vor dem Senate Judiciary Committee. Executive Business Meeting: „The Victims' Rights Amendment" (S.J. Res. 3) September 30. 1999. www.judiciary.senate.gov/93099rf.htm bzw. judiciary.senate.gov/93099pl2.htm. 636 Allein im 106. Kongress wurden im Repräsentantenhaus bis Dezember 2001 fünfzig „proposals of an amendment" (vgl. die Auflistung im Einzelnen unter http://thomas
.loc.gov/cgil-lbin/quer\7L?cl06:71ist/cl06hj.lst:l), im Senat dreizehn solche Vorschläge (http://thomas.loc.gov/cgi-bin/query/L?cl06:./list/c I06sj.Ist: 1) beha ndel t.
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ein in ihren Augen durch umfangreiche Walkampfspenden korrumpiertes System mit einer Änderung des Verhältnisses „between money and speech" Ausdruck verleihen wollen. 63 7 Insbesondere sind aber parteiübergreifend Bestrebungen auszumachen, die auf eine Beschränkung des höchstrichterlichen ,judicial activism" und eine Rückbesinnung auf den ursprünglich in der Verfassung vorgesehenen Amendment-Prozess abzielen. Letzteres geschieht vorwiegend unter Berufung auf 6,s die sogenannte „srcinal meaning" des Verfassungsdokuments. Die Fülle der eingebrachten Amendment-Vorschläge sollte allerdings nicht darüber hinwegsehen lassen, dass der überwiegende Teil der intendierten Verfassungsergänzungen Problemstellungen betrifft, die richtigerweise Gegenstand der „normalen" Gesetzgebung sein müssten. Auch darf der Umstand, dass seit 1791 lediglich siebzehn eigentliche Verfassungsergänzungen erfolgreich durchgeführt wurden, nicht den Blick auf die Flut in den Kongress eingebrachter und letztlich gescheiterter Amendment-Vorschläge verschleiern. Der grundsätzlichen Bedeutung gescheiterter Empfehlungen zur Verfassungsergänzung oder -änderung für die Verfassungsentwicklung wird an späterer Stelle noch eingehender gedacht. cc) Initiative und Ratifikation (1)
Das Modell
das Verf ahren
„congressionalproposal" - der Regelfall
Das Verfessungsergänzungsverfahren teilt sich in zwei Abschnitte: der Initiative („proposal") folgt die Ratifikation, wobei die Initiative entweder vom Kongress 63 9 oder den Staaten eingeleitet werden kann. Ersteres erfordert einen gemeinsa men Beschluss (Joint resolution") von Senat und Repräsentantenhaus mit Zweidrittel63 7
Siehe zu dieser Problematik
D. Donnelly, Are Elections for Sale?, 2001. Ein inter-
essanter Vergleich zwischen amerikanischer und europäischer Methodik der Wahlkampfund Parteienfinanzierung wird im Sammelband von A.B. Gunlicks (ed.), Campaign and Party Finance in North America and Western Europe. 1993. angestellt. 638 Zum Stellenwert der ..srcinal meaning" bzw. des ..srcinal intent" in der Verfassungsinterpretation siehe einen der prominentesten Vertreter des sog. „srcinalism" R.H. Bork. Tradition and Morality in Constitutional Law. in: W.F. Murphy/C.H. Pritchett (eds.), Courts. Judges & Politics. An Introduction to the Judicial Process. 4. Aufl. 1986. S. 635 ff.; ders.. Neutral Principles and Some First Amendment Problems, in: 47 Indiana Law Journal (1979), S. 1 ff.: ders.. The Tempting of America. The Political Seduction of the Law. 1990. 63 9 Bereits im Verfassungskonvent von 1787 wurde die Ausgestaltung eines Änderungsverfahrens kontrovers diskutiert. Zunächst wurde erwogen, dass „provision ought to be made for the amendment [of the Constitution] whensoever it shall seem necessary" - ohne jegliche Beteiligung des Kongresses, vgl. M. Farrand , The Records of the Federal Convention of 1787. Bd. I,rev.ed. 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S. 22.202 f., 237; Bd. 2. S. 85. Auf dieser Grundlage gestaltete die Detailkommission einen Absatz, der vorsah, dass der Kon-
gress auf Antrag von zwei Dritteln der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten einen Konvent zur Änderung der Verfassung einzuberufen hätte, vgl. Farrand (1937), Bd. 1.
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mehrhcit. In den bislang eingebrachten dreiundreißig Verfassungsergänzungsinitiativen wur de in allen Fälle n auf die gen ann te Altern ativ e des Ve rfa hre ns übe r den Kong res s zur ückg egr iff en. Da das „proposa l of an Am en dm en t" nicht als Gesetzgebungsakt einzustufen ist, besitzt der amerikanische Präsident gegenüber der J o i n t re solu tion " des Kon gre sse s w ede r ein Vetorecht noc h is t sein e Zus ti mm un g 640 erforderlich. Bislang haben sich hinsichtlich dieses Initiativrechtes nur vereinzelt verfassungsrechtliche Probleme ergeben. Als etwa Madison dem Repräsentantenhaus den Vorschlag zur Aufnahme eines Grundrechtekataloges. dem letztlich die Bill of Rights entsprang, unterbreitete, beabsichtigte er eigentlich eine Inkorporation der f>il entsprechenden Bestimmungen in den Verfassungstext. Das Repräsentantenhaus entschied sich dahingegen bekanntlich für die bis heute praktizierte Methode. 642 Ergänzungen in Form zusätzlicher Artikel vorzuschlagen. Schlicht ignoriert wurde dabei eine Empfehlung, zunächst beide Kammern des Kongresses beschließen
S. 188. was freilich zu heftigen Kontroversen führte. Zum einen wurde die Gefahr einer subversiven Dominanz von zwei Dritteln der Staaten über die Minderheit befürchtet, so der Delegierte Gerry, siehe Farrand (1937). Bd. 1. S. 557 f. Andere prophezeiten, dass der Kongress wohl als Erster ein Amendment für notwendig erachten würde, eine Übertragung der ..Verfahrenshoheit" auf die Einzelstaaten hingegen bedeuten könnte, dass lediglich Veränderungen, die die Machtposition der Staaten festigen würden, begründete Aussicht auf Erfolg hätten, vgl. das Votum Hamiltons be i Farrand (1937). S. 558. Schließlich wurde der Vorschlag Madisons angenommen, der ein Amendment-Initiativrecht sowohl des Kongresses als auch von den gesetzgebende Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten vorsah. 640 Vgl. Hollingsworth v. Virginia. 3 Dali. (3 U.S.) 378 (1798). Den Gouverneuren der Staaten steht ebensowenig ein Veto zu. Allerdings sind dem Präsidenten indirekte Handhaben der Einflussnahme auf den Kongress gegeben, um gegebenenfalls gegen eine Verfassungsergänzung einzuschreiten. Am Beispiel des sog. Bricker-Amendments, das die außenpolitische Bewegungsfreiheit der Präsidialgewalt einschränken wollte, erläutert dies K. 41, Loewenstein S. 3 10 ff. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. f>il Siehe Annais of Congress, Bd. 1 ( 1789 ). S. 43 3 ff. Gl eichz eiti g war bei den Ant iFederalists die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig, eng mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwendige Beifügung und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eig entlichen Verfassungsratifi zierung bedürfte, vgl. E. P. Smith . The Movement Towards a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. Jam eso n. Essays i n the Consti tutio nal H istor y of the United States in the Formative Period, 1775-1789, 1889. S.46ff. Madison freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und versicherte die anschließende Aufnahme einer Bill of Rights. Die ..amending articles" verteidigte er im übrigen als ein „neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion „equally against that extreme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 43) zu wachen, vgl. auch J.R. Vile. Ame rica n Views of the Constitut ional Ame ndi n? Process: An Intellectual History
of Article V. in: 25 AJLH (1991). S.44 ff.. 49 f. M2 Vgl. Annais of Congress. Bd. I (1789). S. 717.
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zu lassen, ob Amendments überhaupt notwendig („necessary") seien, bevor de64 taillierte Vorschläge in Betracht gezogen würden. - Der Supreme Court entschied schließlich in den National Prohibition Cases, dass die zwei Kammern des Kongresses durch den Vorschlag eines Amendments konkludent die Notwendigkeit einer Revision zum Ausdruck brächten.
(2)
Das
Modell
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„constitutional Convention "
-
Option
zur
Totalrevision?
Das zweite verfassungsmäßig vorgesehene Modell, der „constitutional Convention" wurde bislang noch nicht erfolgreich bemüht. Hierbei müssen zwei Drittel der Gesetzgebungskörperschaften aller Einzelstaaten die Einberufung eines Verfassungskonvents beschließen, der dann die Freiheit besäße, alle erdenklichen Ergänzungen sowie de facto Änderungen der Verfassung vorzunehmen. Selbst die Annahme einer gänzlich neuen Verfassumg wäre im Rahmen des Möglichen. Eine solche Totalrevision, wie sie beispielsweise in der Schweizer Verfassung 5
vorgesehen ist" , wurde in der Vergangenheit mehrfach vorgeschlagen."" Die Bundesverfassung unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Teil- und Gesamtänderu ngen der
Verf assung , sondern spricht
in Art. V lediglich
von „Am en dm en ts
M3
Ebenda S. 430. Siehe National Prohibition Cases 253 U .S. 350. 386 (1920): „Th e adopt ion by both Houses of Congress. each by a two-thirds vote, of a joint resolution proposing an amendment to the Constitution, sufficiently shows that the proposal was deemed necessary by all who voted for it. An express declaration that they regarded it as necessary is not essential. None of the resolutions whereby prior amendme nts were proposed contained such a declaration." Im selben Fall wurde im übrigen auch das bereits oben genannte Quorum, wonach für das ..proposal" die Zweidrittelmehrheit der anwesenden Kongressmitglieder ausreichend sein sollte, vom Supreme Court festgestellt. 64 4
6 45
Art. 138 der Schweizer Bundesverfassung. Am 18. April 1999 kam in der Schweiz
eine zweite große Totalrevision nach 1874 zur Abstimmung und wurde trotz niedriger Stimmbeteiligung (35.4%) deutlich angenommen. Die neue Verfassung trat am 1.1.2000 in Kraft. Ausschnitte der langen Diskussion um eine Totalrevision der Schweizer Verfassung bieten etwa M. Imboden , Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in: ders.. Staat und Recht, 1971. S. 219 ff. : L. Wildhaber, Das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, in: JöR 26 (1977), S. 239 ff. (zum Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung. 1977) und B. Ehrenzeller, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Der gegenw ärtige Stand des Vorhabens, in: ZaörV 47 (1987), S. 699 ff. Nunmehr R.J. Schweizer Die erneuerte schweizerische Bundesverfassung, in: JöR 48 (2000), S. 263 ff. Den wichtigen Bezug schweizerischer Verfassungsstrukturen zu Europa stellt P. Häberle, „Werkstatt Schweiz": Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: ders.. Europäische Rechtskultur (1994). Tasche nb. 1997, S. 355 ff. her. 64 6
Eine große Auswahl verschiedener Vorschläge findet sich bei D. Robinson (Hrsg.), Reforming American Government. The Bicentennial Papers of the Committee on the Constitutional System. 1985 . Für eine genauere Bes chreibung und Analyse der einzelnen Vorschläge: J. R. Vile, Rewriting the United States Constitution. An Examination of Proposais from Reconstruction to the Present, 1991.
232
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
to this Constitution". Soweit die Verfassungsrechtslehre gleichwohl an diese Unterscheidung anknüpft, gehen die Meinungen darüber auseinander, welches Organ die Obliegenheit einer Totalrevision wahrzunehmen befugt ist. Nach einer entstehungszeitlich argumentierenden Richtung ist der Kongress ausschließlich ermächtigt. Teiländerungen der Verfassung vorzuschlagen, während das Unternehmen einer Totalrevision von dem als Pouvoir constituant eingesetzten Verfassungs647 konvent durchzuführen ist. Im Unterschied dazu lehnt eine verbreitete, das „geltungszeitliche" Auslegungselement betonende Auffassung solche organspezifischen Kompetenzzuweisungen ab und räumt Kongress und Verfassungskonvent gleichermaßen die Befugnis zur Vornahme von Total- und Teilrevision ein. Da die Alternative des Konvents nie erfolgreich durchgeführt wurde, ist die64 8 se Methode mit etlichen rechtlichen Fragen behaftet. Wann und wie ist ein Verfassungskonvent einzuberufen? Müssen die Amendment-Anträge der erforderlichen Anzahl von Einzelstaaten identisch sein, inhaltlich das gleiche Amendment erstreben oder lediglich eine ähnliche Angelegenheit betreffen? Kommt es bei dem notwendigen Quorum auf ein gleichzeitiges Einreichen der Petitionen an 64 oder können diese gar über mehrere Jahre gestreckt werden? '' Kann ein Konvent nur auf die Beratung eines Amendments oder auf den materiellen Gehalt des Amendments begrenzt werden? Diese Fragen sind eine bloße Facette des unüberschaubar erscheinenden Problemkataloges, der dem „constitutional Convention" anhaftet. 65 0 In der amerikanischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre üben wenige Themenkreise eine ähnlich - kontrovers diskutierte - Faszination aus wie die Möglichkeit der Einberufung eines weiteren Verfassungskonvents, sei es um das Dokument von 1787 einer Totalrevision zu unterziehen oder sei es „nur" einzelner Amendments willen. Die Konvents-Alternative scheiterte einige 64 7 Vgl. zu diesem Streit mit einer Darstellung der unterschiedlichen Positione n W.S. Livingston, Federalism and Constitutional Change, 1956. S.218: D.P.Lacyl P.L. Martin. Amending the Constitution: the Bottleneck in the Judiciary Comniittees, in: 9 Harvard Journal on Legislation (1971/72). S. 666 ff.. 671 f.; W.A. Platz. Article V of the Federal Constitution, in: 3 The George Washington L. Rev. (1934), S. 17 ff., 24 f. f>:8
Eine umfängliche Studie der „Convention method" gibt C. BrickfieUl. Problems Relating to a Federal Constitutional Convention. 85th Congress, Ist sess., 1957. Siehe auch R. Caplan. Constitutional Brinksmanship. Amending the Constitution by National Convention, 1988. ,vi y ' Diese Frage ist nicht mit der Problemstellung zu verwechseln, wie lange ein vom Kongress den Staatenlegislaturen zur Ratifikation überwiesener Vorschlag in Umlauf bleiben kann oder soll, ehe er als überholt gelten kann. vgl. K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S.4I. 650 Eine gründliche Analyse der einzelnen Fragestellungen mit einigen bemerkenswerten Lösungsansätzen geben Brickfield (1957) und Caplan (1988). Siehe auch Federal Constitutional Convention. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on Separation of Powers. 90th Congress. Ist sess. (1967); W. Edel. A Constitutional Convention: Threat or
Challenge?, 1981: American Bar. Association (Hrsg.), Amendment of the Constitution by the Convention Method under Article V, 1974.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
233
Male nur knapp. So fehlte ein einziger Staat für die Einberufung eines Konvents, nachdem der Senat die lang diskutierte Verabschiedung eines Amendments, das 65 1 In den 60er die Direktwahl der Senatoren gestatten sollte, zugelassen hatte. Jahren des 20. Jahrhunderts missglückte aufgrund nur eines fehlenden Staates zur erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit der Versuch, ein Konvent zur Revision der umstrittenen Supreme Court Entscheidungen zur Anpassung der Wahlbezir65 2 ke („reapportionment decisions") zu initiieren. Zwei Staaten fehlten zu einer 6 53 erfolgreichen Petition für eine Begrenzung der Einkommenssteuerraten sowie 6 54 für ein ..balanced budget amendment" .
Während in der amerikanischen Verfassungslehre einige die Auffassung vertreten, zahlreiche Sicherungshebel würden einen Konvent als risikolose politische Option erscheinen lassen 65 5 , setzen andere in zuweilen dramatischen Worten eher warnende Akzente 65 6 . Letztere verweisen unter anderem auf den Umstand, dass bislang nicht einmal ein Gesetz zur Regelung eines solchen Konvents verabschiedet wurde. 65 7 Unter dem Strich haben wohl zwei Fragestellungen die Debatten um einen Konvent dominiert. Zum einen wurde der Problematik einer etwaigen Begrenzung der Verhandlungspunkte in einem Konvent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum 65 1
Dazu Brickfiekl (1957). S. 7, 89. Vgl. G. Rees. The Amendment Process and Limited Constitutional Conventions, in: 2 Benchmark (1986). S. 66 f.; Caplan (1988). S. 73 ff. 65 2
65 3
Vgl. Brickfield (1957), S. 8 f.. 89.
65 4
Gründliche Diskussionen zu diesem ..proposal" finden sich in: W. Moore/R. Penner.
The Constitution and the Budget. 1980;
American Enterprise Institute. Proposais for a
Constitutional Convention to Require a Balanced Federal Budget, 1979. Siehe aber auch W.T. Barker. A Status Report on the .Balanced Budget' Constitutional Convention, in: 20 The J. Marshall L. Rev. (1986). S. 29 ff., der viele der einzelnen Petitionen für diesen Konvent für rechtsunwirksam hält. 6 55
Siehe nur Caplan (1988): P. Weber. The Constitutional Convention: A Safe Political Option, in: 3 The J. of Law & Politics (1986), S.51 ff.. J.T.Noonan, The Convention Method of Constitutional Amend ment - It s Meaning. U seful ness and Wisdom. in: 10 Pac. L.J. (1979). S. 641 ff. 65 6 Vgl. etwa L. Kean. A constitutional Convention Would Threaten Rights We Have Cherished for 200 Years. in: 4 Det.Col. of L. Rev. (1986), S. 1087 ff.; A. Sorenson. T h e Quie t Cam pa ign to Rewr ite the Co nsti tuti on, in: Sat . Rev. vom 15. Juli 1967, S. 17 ff.; G. Gunther. Constitutional Brinkmanship. Stumbling Toward a Convention, in: 65 Amer. Bar Assoc.J. (1979). S. 1046 ff. 65 7 Freilich unternahmen einige, insbesondere der ehemalige Senator S. Ervin. de n Versuch, einen Gesetzentwurf zu formulieren mit dem Vorsatz, den wissenschaftlichen Spekulationen um die Einzelheiten eines ungenutzten Instruments ein Ende zu bereiten, vgl. S. Ervin, Proposed Legislation to Implement the Convention Mechanism of Amending the Constitution, in: 66 Michigan L. Rev. (1968), S. 875 ff.; siehe auch ders., Proposed Legislation on the Convention Method of Amending the United States Constitution, in: 85 Harvard L. Rev. (1977), S. 1612 ff.
234
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
anderen stand immer wieder das Thema, welche Kontrolle entweder der Kongress oder die Justiz über das Konventsverfahren ausüben könnten, im Vordergrund. Die Option einer „limited constitutional Convention" untersuchte insbesondere W. Dellinger, um schließlich festzustellen, dass eine inhaltliche Begrenzung des Konvents abzulehnen und jede gliedstaatliche Petition, die auf eine solche Be65 8 grenzung abzielte demnach unwirksam sei. Diese Position gründet auf der Überzeugung, dem Kongress ebensowenig ein exklusives Vorschlagsrecht für Amendments zu gewähren wie den Legislaturen der Einzelstaaten einzuräumen, Amendments, die die gliedstaatlichen Befugnisse auf Kosten der Bundesregierung 65 ausweiten würden, vorzuschlagen und zu ratifizieren. ' Würde nun einem von beiden die Berechtigung zur Begrenzung zugebilligt, liefe man Gefahr die eben genannten Grundsätze auszuhöhlen. Dies gelte dann auch entsprechend hinsichtlich einer Kontrollkompetenz des Kongresses über einzelne Punkte des Konvents. Auf Widerstand stieß diese Auffassung unter anderem bei G. Rees, der es den Gliedstaaten durchaus selbst überlassen will, inwieweit ein Konvent eine Begren6 60
zung erfährt. Die einzelstaatlichen Befugnisse, Amendments vorzuschlagen würden nach Artikel V zumindest „ungefähre" Parallelen zu den dort genannten Kompetenzen des Kongresses aufweisen, dessen Aufgabe es im Wesentlichen sei, „housekeeping rules" 66 1 zu erlassen, was zur Folge habe, dass der Konvent viele seiner kennzeichnenden Angelegenheiten selbst zu erledigen habe und den Gerichten allgemeine Aufsichtsfunktionen zugewiesen werden müssten. Sowohl Rees als auch Dellinger koppelten also die Problemstellungen der Organkompetenz und der Begrenzungsoption. Allerdings unter diametralen Prämissen. Während Dellinger das gesamte Amendment-Verfahren als eine „series of formalities" beziehungsweise ein „set of formal rules rather than as the embodiment of vague policy objectives" 66 2 einschätzt, stell t Rees den Gedanken des „contemporary consensus"
65 8 Siehe W. Dellinger, The Recurring Question of the .Limited* Constitutional Convention. in: 88 Yale L. Rev. (1979). S. 1623 ff. Eine ähnliche Sichtweise offenbart auch C.L. Black. Amending the Constitution: A Letter to a Congressman. in: 82 Yale L.J. (1972), S. 189 ff. Eine Begre nzung des Ve rfassungskon vents auf lediglich ..stückweis e Ände rungen" („piecemeal changes") schlägt A. Diamond. A Convention for Proposing Amendments. The Constitution*s Other Method, in: 11 PUBLIUS (1981), S. 1113 ff. vor. Dagegen J.R. Vile. Ann Diamon d on an Unlimited Constitutional Convention, in: 19 PUB LIU S (1989), S. 177 ff. sowie ders.. American Views of the Constitutional Amending Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991). S.44ff„ 65.
659
Dellinger (1979), S. 1630.
660
Vgl. G. Rees. The Amendment Process and Limited Constitutional Conventions, in: 2 Benchmark (1986). S. 66 ff. Obgleich sich auch Rees selbst nicht als Befürworter eines erneuten Verfassungskonvents sieht, vgl. ebenda. S. 80. so widerspricht er doch Dellinger insoweit als er keinen Anlass erkennt, den Staaten lediglich die Wahl zwischen einem von allen Fesseln befreiten oder eben keinem Konvent zu geben. 66 1
Ebenda S. 86.
Siehe W. Dellinger. The Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the Amending Process. in. 97 Harvard L. Rev. (1983). S. 386 ff., 418. 432. 66 2
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
23 5
in den Vordergrund. Letzterer nimmt diesen Gedanken auch zum Maßstab eines gerichtlichen Eingreifens in Amendment-Angelegenheiten, das er grundsätzlich befürwortet. Für Dellinger kommt dagegen höchstens eine Justiziabilität der formellen Kriterien durch die Gerichte in Betracht. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen, da er zum einen nicht den konstruiert erscheinenden Weg über eine sehr weite Auslegung von Artikel V gehen muss und letztlich konsequenter in den Folgefragen bezüglich der Stellung des Kongresses, der Gerichte und Einzelstaaten und deren 66 3 klarer Abgrenzung untereinander im gesamten Amendment-Verfahren ist. (3)
Versuche zur Begrenzung von „amending power"
Obgleich die beiden vorgesehenen Methoden der Verfassungsergänzung einer weitreichenden, bundesweiten Einbeziehung der Regionen und Einzelstaaten bedürfen. um die erforderlichen qualifizierten Mehrheiten zu erlangen, mangelte es in der Vergangenheit nicht an Versuchen, die vorgebenen Barrieren noch zu verschärfen. Bereits dem Verfassungskonvent von 1787 wurde der letztlich gescheiterte Vorschlag unterbreitet, Art. V um die Klausel ,.no State shall without its 6 consent be affected in its internal policy" zu ergänzen. " Ein weiterer Anlauf, die „amending power" einer verstärkten Begrenzung auszusetzen wurde 1861 unternommen, als der Kongress den Staaten nahelegte, alle zukünftigen Amendments zu blockieren, die den Kongress autorisieren würden, „to interfere, within any 665 State, with the domestic institutions thereof f...]" . Nachdem bereits drei Staaten einen diesbezüglichen Entwurf ratifiziert hatten, beendete der Ausbruch des 66 6 amerikanischen Bürgerkriegs vorzeitig den Fortgang dieses Vorhabens. Wenig später versuchten einige Kongressmitglieder vergeblich die Verabschiedung des 13. Amendments (Verbot der Sklaverei) zu verhindern, indem sie daraufhinwiesen. dass der „amending process" nicht für eine derart große Veränderung innerer 66 7 Angelegenheiten der Einzelstaaten missbraucht werden dürfte. Jahre später befanden sich die formelle und materielle Rechtsgültigkeit des 18. und 19. Amendments (das bundesweite Alkoholverbot sowie die Ausdeh66 3 Dazu zählen etwa die zahlreichen Streitpunkte bezüglich der Ratifikation (siehe sogleich), die Dellinger durch seine stringente Haltung mit klaren Kompetenzabgrenzungen bewältigt, vgl. ders. (1983), S.419ff. Kritisch allerdings LH. Tribe. A Constitution We Are Amending: In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 433 ff. Siehe auch J.R. Vile. Judicial Review of the Amending Process: the DellingerTribe Debate. in: 3 J. of Law & Politics (1986), S. 21 ff. 66 4 Vgl. M. Farrand. The Records of the Federal Convention of 1787. Bd. 1, Revised Edition 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S.630. 6 65
Siehe 57 Cong. Globe 1263(1861). Dazu ausführlich H. Arnes, The Proposed Amendments to the Constitution of the United States Düring the First Century of Its History. H. Doc. 353, pt. 2. 54th Congress, 2d 66 6
sess., 1897. S. 363. 66 7 Vgl. 66 Cong. Globe 921, 1424-1425, 1444-1447, 1483-1488(1864).
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nung des Wahlrechts auf Frauen) auf dem Prüfstand. In der Diskussion wurde hinsichtlich der Reichweite der Amendments betont, dass ihr eigentlicher Anwendungsbereich die Korrektur von Fehlern der ursprünglichen Verfassungsversion sei und dass insbesondere nicht die Annahme zusätzlicher oder ergänzender Vorschr ifte n von Art. V der Verf ass ung umfas st sei. 66 8 Zudem habe der Kongress keine verfassungsmäßige Kompetenz, Amendments vorzuschlagen, welche die Wahrnehmung souveräner Gewalt der Gliedstaaten oder deren Verzicht darauf berühren würde. Gegen das 19. Amendment wurde unter anderem vorgebracht, einem Gliedstaat, der das Amendment nicht ratifiziert habe, würde das Recht auf „equal suffrage" im Senat vorenthalten/'" Die Berücksichtigung „überpositiver" Grundsätze, die auch den Verfassungsgesetzgeber binden würden, ist dem amerikanischen Rechtsdenken fremd. Diesbezügliche Gedankengänge wurden vom Supreme Court als unerheblich eingestuft, die beiden Amendments entgegen aller 67 Einwände letztlich aufrechterhalten. "
(4)
Rcitifikationserfordernisse und Problemlagen das Kuriosum 27. Amendment
-
Die Ratifikation 67 1 erfordert laut Art. V S. 1 der Verfassung bei beiden Initiativ-Modellen eine Mehrheit von drei Vierteln der einzelstaatlichen Legislaturen. Allerdings steht es im freien Ermessen des Kongresses, im Anschluß an die Wahrnehmung seines Initiativrechts die Ratifizierung entweder durch die gesetzgebenden Körperschaften der Staaten oder durch speziell von den Staaten 67 2 einzuberufende Verfassungskonvente vorzuschreiben. Zur großen Überraschung der amerikanischen Bevölkerung wurde 1992 das bereits erwähnte 27. Amendment ratifiziert. 203 Jahre nach seinem „proposal". Dies warf freilich die Frage nach der erlaubten zeitlichen Anhängigkeit eines Amendments auf. Grundsätzlich wurde dem Kongress das Recht zugestanden, mit dem „amendment-proposal" ein angemessenes („reasonable") Zeitlimit zu verbinden. 67 1 Seit dem 18. und mit der Ausnahme des 19. Amendments hatte der Kongress allen Ergänzungsvorschlägen eine Formulierung beigefügt, wonach das 668 66 9 67 0
Vgl. National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920). Vgl. Leser v. Garnett. 258 U. S. 130 (1922). Vgl. National Prohibition Cases und Leser v. Garnett, ebenda
61 Zur Ratifikation der Gründungsverfassung und der Bill of Rights C.R.Smith. To Form a More Perfect Union. The Ratification of the Constitution and the Bill of Rights. 1787-1791, 1993. 67 2 Die zweite Alternative wurde nur einmal, nämlich anlässlich des 21. Amendments (Aufheben der Prohibition) bemüht, da man sich hiervon eine raschere Umsetzung versprach. 671
In Black's Law Dictionary wird „reasonable time" definiert als „such length of time as may fairly, properly, and reasonably be allowed or required, having regard to the nature of the act or duty. or of the subject-matter. and to the attending circumstances",
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23 7
jeweilige Amendment nach einer Ratifikationsfrist von sieben Jahren ungültig sein sollte. In den früheren Vorschlägen war diesbezüglich nichts zu lesen; zwei „proposals" aus dem Jahre 1789, die schließlich 18I0beziehungswei.se 1861 vorgelegt wurden, gingen im Verfahren bereits an die Gliedstaaten, wurden jedoch nicht ratifiziert. In seiner berühmten und heftig umstrittenen Entscheidung Coleman v. Miller weigerte sich der Supreme Court darüber zu befinden, ob das den Staaten 1924 vorgelegte „child labor am en dm en t" 13 Jahre später ratifiziert werden 67 5 könnte. 67,1 Dies sei eine „political question" , die der Kongress zu lösen habe, wenn die erforderlichen Dreiviertel der Gliedstaaten dem Amendment-Vorschlag zugestimmt hätten. Eine Fristsetzung seitens des Gerichtshofs komme daher nicht in Betracht. 67 6 Bereits 1921 hatte der Supreme Court in Dillon v. Gloss das Recht des Kongresses unterstrichen, zeitliche Begrenzungen für die einzelstaatlichen Ratifikationen zu setzen. 67 7 Zudem deutete der Gerichtshof bereits an, dass deutlich zeitferne „proposals" nicht länger einer Ratifikation zugänglich gemacht werden dürften. Obgleich der Supreme Court zugestand, der Wortlaut von Artikel V der Bundesverfassung enthalte tatsächlich keinen Hinweis auf etwaige zeitliche Beschränkungen. so wies das Gericht doch nachdrücklich auf den Umstand hin, dass ein funktionierender „amending process" als solcher das gewichtigste Argument 67 gegen eine grenzenlose Ausweitung des Ratifizierungsverfahrens liefere. * Drei logisch miteinander verknüpfte Gesichtspunkte sollten die Ansicht des Supreme Court untermauern: ..First, proposal and ratification are not treated as unrelated acts but as succeeding steps in a Single endeavor. the natural inference being that they are not to be widely separated in time. Secon dly. it is only when there is dee med to be a nece ssit y ther efor that amendments are to be proposed. the reasonable implication being that when proposed
,h editi on 1990. S. 1483 (vgl. auch vgl. H.C.Black. Black's Law Dictionary. 6 die achte Neuauflage von B.A. Garner (ed.). 2006). Den wahren Bezugspunkt dieser Definition hat der Supreme Court in Twin Lick Oil Co. v.Marbury, 91 U.S.587. 591, 23 L.Ed.328 hergestellt, indem er feststellte: .Jiow long a .reasonable time' ought to be is not defined in law, but is left to the discretion of the judges."
674
Coleman v. Miller 307 U.S. 433 (1939).
6 75
Hierzu kursorisch unter B.IV.2.b)cc)(2). In Coleman v. Miller, ebenda, wurde auch der Frage nachgegangen, inwieweit ein Staat, der bereits einmal einen Ergänzungsvorschlag abgelehnt hat, sich nachträglich anders entscheiden und ihn doch annehmen kann. Der Supreme Court erklärte diese Konstellation für zulässig mit der etwas seltsam anmutenden Begründung, dass damit eine Stimme mehr für das Zustandekommen der Dreiviertelmehrheit gegeben sei. Umgekehrt ist es aber einem Staat, der ein ..proposal" bereits angenommen hat. nicht ermöglicht, diesen wieder wirksam abzulehnen. Vgl. dazu auch kritisch K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S.42. 676
677 678
Dillon v. Gloss 256 U. S. 368 (1921). Ebenda 374.
238
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they are to be cons ide red and dispo sed of presently. Thindly, as ratificati on is but the expression of the approbation of the people and is to be effective when had in three-fourths of the States, there is a fair implication that that it must be sufftciently contemporaneous in that number of States to reflect the will of the people in all sections at relatively the same perio d. which of cour se ratif ication scattered thr ough a long series of years would not do." 6T O
Weiter führte das Gericht diese Lösung deshalb als die tragfähigste an, als sie entgegen der anderen Ansicht nicht die Konsequenz jahrhundertelanger schwebender „proposals" mit sich brächte. Vier Amendmentvorschläge, wozu die zwei zu zählen wären, die im Jahre 1789 den Staaten zugeleitet wurden „are still pending and in a Situation where their ratification is some of the States many years since by representatives of generations now largely forgotten may be effectively supplemented in enough more States to make three-fourths by representatives of the present or some future generation. To that view few would be able to subscribe, 68 0 and in our opinion it is quite untenable." Was also dem Supr eme Court 1921 ohn e Gegenstimm e untragbar („untenable") erschien, erwies sich 1992 in Exekutive und Kongress als durchaus vertretbar. Angesichts der Kampagne zum 27. Amendment zeigte sich auch, wie eng das verfassungsrechtliche Instrument Verfassungsergänzung an die politische Wirklichkeit gebunden ist. Die Korrelation zwischen Verfassungsrecht und Politik, die die amerikanische Geschichte wechselvoll prägte, wird auch an diesem Beispiel offenkundig. Inwieweit eim 27. Amendment noch von einer „reasonable time peri6 1 od" die Rede sein konnte, war heftig umstritten. * Da s Office of Legal Counsel de s Justizdepartments legte damals dem Weißen Haus ein Memorandum vor, das die 68 2 wesentlichen Bezüge zur D/7/ö/i-Entscheidung des Supreme Courts herstellte. Dabei wurden die drei oben genannten „considerations" des Gerichtshofs als nicht überzeugend qualifiziert. So setze der Supreme Court zwar voraus, das Verfahren müsse eher kurz denn ausgedehnt sein, da Vorschlag und Ratifikation als Schritte in einem einzigen Verfahren zu sehen seien. Allerdings sage das Argument, ein Amendment solle seine Notwendigkeit widerspiegeln gerade nichts über die Länge des verfügbaren Zeitraums aus. Dies umso mehr als die Staaten, die erst kürzlich ratifiziert hatten, offensichtlich von der Notwendigkeit des Amendments ausgegangen wären. Auch deute der Umstand, dass ein Amendment das Resultat
679 68 0
Ebenda 374 f. Ebenda.
f>sl So schrieb beispielsweise LH. Tribe. The 27th Amendment Joins the Constitution, in: Wall Street Journal. 13. Mai 1992. S. AI5: ..Article V says an amendment .shall be valid to all Intents and Purposes. as part of this Constitution' when .ratified' by three-fourths of the states - not that it might face a veto for tardiness. Despite the Supreme Court's suggestion. no speedy ratification rule may be extracted from Article V's text, strueture or
history." 68 2 Vgl. 16 Ops. of the Off ice of Legal Co unsel ( 1992) . S. 102 ff.
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eines Konsenses sein sollte, nirgends auf eine Zeitgleichheit der Übereinstimmung hin. 68 3 Schließlich wurde in besagtem Memorandum der Hinweis gewagt, die einzig angebrachte Form der Auslegung von Art. V sei „ to provide a clear rule that is capable of mechanical application, without any need to inquire into the timeliness or substantive validity of the consensus achieved by means of the ratification process. Accordingly, any interpretation that would introduce confusion must be disfavored." 68 4 Dieser Ansicht ist unter Berufung auf eine enge Wortlautauslegung der Verfassung grundsätzlich zuzustimmen. Artikel V enthält keinerlei Hinweis auf etwaige Fristen, wohingegen die Verfassung an anderen Stellen sehr wohl Fristset zungen aufweist. 68 5 Die Verabschiedung des 27. Amendments wirft indessen die Frage auf, ob 68 6 einem Amendmentvorschlag eine „Ewigkeitsgarantie" innewohne. Dies kann jedoch höchstens für „proposals" gelten, die selbst nach vielen Jahren noch eine tatsächliche Aktualität beinhalten. Freilich ist - mit Ausnahme von Regelungen, die an eine Bedingung oder Frist gebundenen sind - den meisten Verfassungsvorschriften der Wille der jeweiligen „Verfassungsväter" zugrunde zu legen, die Inhalte mögen auf Dauer Geltungskraft besitzen. Die Bemühungen um Flexibilität im Wortlaut unterstreichen diese Bemühungen. Allerdings zeigt eben auch gerade die amerikanische Bundesverfassung, dass selbst unbedingte Vorschriften 68 7 Ergänzungen und Veränderungen erfahren mussten.
6 83
Ebenda. S. 111 f.
68 4
Ebenda. S. 113. Vgl. etwa Art. I §7 par. 2; Art. II § I par. 3 („immediately"); Art. II § 2 par. 3. 6S6 Ygl . da zu Congressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided 6 85
to June 29. 1992. Senate Document No. 103-6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26. 1998. Senate Document No. 106-8. S.904. 6S 7
Es würde auch zu w eit führen, das Zusta ndeko mmen des 27. Amen dment gleichzeitig einen Präzedenzfall (und als solcher wird es in den unterschiedlichsten Zusammenhängen gerne bezeichnet) für die etwaige Unwirksamkeit vom Kongress gesetzter Umsetzungsfristen zu n enne n - sei es mittels des Textes selbst oder auf gru nd der den V orschlag beglei tenden Resolution. Bereits die in Artikel V der Verfassung vorgesehene hervorgehobene Stellung des Kongresses während des Amendment-Verfahrens legt eine solche Sichtweise nahe. Die Problematik, ob nun der Kongress eine bereits gesetzte Ratifikationsfrist ohne Hinzuziehung der Staaten, die bereits ratifiziert haben, verlängern darf, verwickelte schließlich angesichts des vorgeschlagenen ..Equal Rights Amendment" sowohl Kongress als auch die Staaten und Gerichte in eine anhaltende Diskussion. Befürworter und Gegner dieser ausschießlichen Befugnis des Kongresses zur Fristsetzung und etwaigen -Verlängerung bemühten mit unterschiedlicher Stoßrichtung jeweils die ..political question doctrine", um ihren Standpunkt zu untermauern, vgl. nur: Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th Congress, 2d sess. (1978); Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress. lst/2d sess. (1977-78).
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Im Kontext des Ratifikationsverfahrens stellte sich wiederkehrend die Frage, ob ein Staat, der bereits ratifiziert hat. diesen Schritt wieder mit der Folge rückgängig machen kann, dass der Kongress diesen Staat nicht der erforderlichen Mehrheit zurechnen darf. Insgesamt legt die bisherige Praxis den Schluss der Unwirksamkeit eines solchen Vorgehens einzelner Staaten nahe. Andeutungen des Supreme Court in Coleman v. Miller 688 und die Maßnahmen des Kongresses bei der Ratifikation des 14. Amendments 6 89 stützen diese Einschätzung. Ebenso könnte insoweit von einer ausschließlichen Kompetenz des Kongresses ausgegangen werden. Es handelt sich letzlich um eine „political question", die, wenn überhaupt, lediglich einer eingeschränkten Justiziabilität zugänglich ist. Eine andere Ansicht in dieser Angelegenheit vertrat das Office of Legal Counsel des Justizdepartments erneut im Verfahren des 27. Amendments. Die Coleman-Entscheidung wurde als nicht bindend, das Vorgehen des Kongresses bezüglich des 14. Amendments als „ab6 erration" bezeichnet. '" Als Begründung wurde unter anderem vorgebracht, der Kongress werde durch Artikel V der Verfassung nur zum Vorschlag eines Amendments und zu Empfehlungen bezüglich der „Mode of Ratification" ermächtigt. Zudem sei eine derartige Ausdehnung der Befugnisse des Kongresses schwer mit dem Grundgedanken der „Separation of powers" und des Föderalismus zu vereinbaren. 69 1 Will man sich einer Lösung dieses Problems annähern, so gilt es zunächst festzustellen, dass der Kongress im Gegensatz zu den amerikanischen Gerichten 68 8
307 U.S. 433.448. (1939): „Thus, the political departments of the Government dealt with the effect of previous rejection and of attempted withdrawal and determined that both were ineffectual in the presence of an actual ratification." 689 Nach den Widerrufen der Ratifikation des 14. Amendments seitens der Staaten Ohio und New Jersey und insbesondere nach Ratifikation - durch neu eingesetzte Regierungen - dreier Staaten (Georgia. North Carolina. South Carolina), die im Vorfeld bereits die Ratifikation hatten, einer entbrannte ein Streit über dieZurückweisung. Wirksamkeit der Widerrufe als auchversagt der Gültigkeit Ratifikation nach sowohl bereits erfolgter Der Kongress selbst stellte schließlich die Wirksamkeit der Ratifikation fest, indem er die Widerrufe Ohios und New Jerseys schlicht überging. Erneut debattiert wurden diese Fragen im Kontext des bereits genannten, vorgeschlagenen „Equal Rights Amendment", siehe Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th Congress, 2d sess. (1978); Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress, lst/2d sess. (1977-78). Allerdings konnte angesichts des gescheiterten ..amendment-proposal" keine Klärung der Angelegenheit erzielt werden, vgl. dazu insgesamt ausführlich Congtressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate Document No. 103-6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26. 1998. Senate Docum ent No. 1 06 -8 , S. 905. Siehe auch E.S. Corwin!M. L Ramsey, The Constitutional Law of Constitutional Amendment, in: 27 Notre Dame Lawyer (1951), S. 185 ff.. 201 ff. 690 69 1
Vgl. 16 Ops. of the Office of Legal Counsel (1992), S. 102 ff.. 125. Ebenda. S. 121 ff. mit weiteren Argumenten.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
24 1
69 2 nicht unter dem Diktat des Prinzips der „stare decisis" handeln muss. Entscheidungen des Kongresses binden also keineswegs spätere Zusammensetzungen der
Kamme rn. Gleichwohl ist auch der Kongress aufgerufen, gewisse Grundregeln im Umgang mit verfassungsrechtlichen Problemen einzuhalten. Die Beantwortung von Fragen, die letztlich einer Verfassungsinterpretation bedürfen, aber gleichzeitig „political questions" darstellen, obliegt grundsätzlich zunächst den „politischen Gewalten" Legislative und Exekutive. Allerdings werden beide per Eid an eine Verfassung gebunden 69 3 , welche naturgemäß nicht immer die Klärung eines Problems bereits inhaltlich liefern kann. Wenn aber die Verfassung die Entscheidung in einer Sache etwa dem Kongress auferlegt und keinerlei Regelungen über das Zustandekommen dieser Entscheidungen zu erkennen gibt, so wird man annehmen dürfen, dass der Kongress die Freiheit besitzt, autark zu beschließen und im Ergebnis die Maßnahme „politisch" zu nennen, was wiederum die Einflussmöglichkeiten 69 4 der Gerichte beschneidet. Auch wenn die Entscheidungen Dillon v. Gloss™5 696 und Coleman v. Miller nicht als Präzedenzfälle in dieser Gegebenheit erachtet werden können, da ihnen ein anderer Sachverhalt zugrundelag. so lässt sich doch auf einige grundsätzliche Erwägungen des Supreme Courts, beziehungsweise einzelner Richter in Sondervoten zurückgreifen. Die Einlassungen des Gerichts, wie lange ein Amendment-Vorschlag „reasonably" schweben dürfe bevor er unwirksam würde, sind auch auf die Frage einer späteren Ratifikationsrücknahme übertragbar. Dazu zählen insbesondere die oben genannten drei Schritte der Begründung, die der Supreme Court in Dillon v. Gloss angestellt hatte. Indes muss eine Bezugnahme auf diese Entscheidung nicht bedeuten, dass der Kongress einen Widerruf der Ratifikation nicht auch - stillschweigend - hinnehmen könnte, wenn er etwa zu der Einsicht gelangte, der Widerruf würde nicht die erforderliche „contemporaneous expression
69 2 Eingehender zu diesem Prinzip aus der deutschsprachigen Lit. mit zahlreichen Nachweisen M. Leder. Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998 sowie G. Seyfarth. Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998. insb. Teil I. Siehe bereits H.A. Oliphanr, A Return to Stare Decisis. in: American Bar Ass. Journal 1928, S.71 ff.; R. Laim. Stare Decisis. The Fundamentals and the Significance of Angl o-S axon Case Law. 1947. 69 3
Siehe Artikel VI § 3 der Bundesverfassung. Ähnlich Chief Justice Hughes in Coleman v. Miller, 307 U.S. 433, 450 ff. (1939), der „no basis in either Constitution or Statute" fand, der Gerichtsbarkeit entsprechende Eingriffsbefugnisse zuzusprechen. „Article V. speaking solely of ratification. contains no Provision as to rejection." Hinsichtlich einer etwaigen Fristsetzungskompetenz des Supreme Courts befand Hughes: „Where are to be found the criteria for such a judicial determination? None are to be found in Constitution or Statute", vgl. ebenda 453 f. Siehe insgesamt zur Fragestellung, inwieweit es sich hierbei um eine „political question" handelt L Henkin, Is There a .Political Question' Doctrine?, in: 85 Yale L.J. (1976), S. 597 ff. 69 4
6 95 69 6
256 U.S. 368 (1921). 307 U.S. 433 (1939).
242
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
of the people's will" untergraben. Eine solche Sichtweise würde dem Kongress gerade die „Handlungshoheit" hinsichtlich Erfolg und Scheitern einer Ratifikation erhalten. 6 '' 7 Überdies unterstrich der Supreme Court in derselben Entscheidung, Artikel V überlasse dem Kongress die Autorität „todeal with subsidiary matters of 69 8 detail as the public interest and changing conditions may require." In Coleman v. Miller vertiefte Chief Justice Hughes den Gedanken, indem er diese „matters of detail" ausdrücklich dem Kompetenzbereich des Kongresses zuordnete und den 69 9 Gerichten diesbezüglich jegliche Zuständigkeit absprach. Ferner lässt Artikel V. dessen Wortlaut lediglich die „Ratifikation" und diesbezüglich keine weitergehenden Optionen nennt, darauf schließen, dass ein Staat nach dem Akt der Ratifikatio n keine weit ere rechts wir ksa me Beurtei lung mit der Folge der Rücknahme der Ratifikation des Amendments vornehmen kann. Das gelegentlich vorgetragene Argument, bereits Madison habe darauf hingewiesen, ein Gliedstaat könne nicht bedingt ratifizieren, denn eine Annahme habe „in toto and for ever" zu erfolgen 70 0 lässt sich dagegen kaum auf die Frage einer späteren Rücknahme übertragen. (5)
Beendigung
des Amendment-Verfahrens
Das Amendment-Verfahren endete früher mit der offiziellen Unterrichtung des von dem Amendment betroffenen Ministers durch die einzelstaatliche Legisla69 7
Nach der Gegenauffassung musste diese Kompetenz auf einen „executive official" (heute den sog. ..Archivist") übertragen werden, der bei Fragen etwa nach der Gültigkeit eines Widerrufs der Ratifikation wiederum das Justizdepartment konsultieren könnte. Diese Konstruktion ist jedoch weder mit den vorgesehenen ministeriellen Funktionen des ..Archivist" zu vereinen noch leistet sie einen Beitrag zur Lösung einer ..political question", über die letztlich erneut nur der Supreme Court entscheiden könnte, nachdem der Kongress bei diesem Ansatz keinerlei Entscheidungsautorität besäße. Vgl. auch 16 Ops. of the Office of Legal Cou nsel (1 992) . S. 10 2 ff.. 116 ff. 69 8
Ebenda 375 f. Coleman v. Miller 307 U.S. 433. 452 ff. (1939). Differenzierend in diesem Kontext das Sondervotum von Justice Black, ebenda 456. 458. der sowohl den Kongress als auch den Gerichtshof in gewissen Fragestellungen im Zusammenhang von Artikel V lur berufen hält. Zudem forderte Black die Formulierung „reasonable time" aus Dillon v. Gloss zu verwerfen. 699
Hierau f wir d u. a. in Congressional Research Center, Analysis and Interpretation. Ann otat ions of Ca ses Deci ded by the Supr eme Cour t of the United States. 1992 Edition : Cases Decided to June 29. 1992 . Senate Docume nt No. 10 3- 6 and 1998 Suppleme nt: Cases Decided to June 26, 1998. Senate Docum ent No. 106 -8 . S. 908, Bezug genomme n. Im Wortlaut befand J. Madison . als in New York die Ratifizierung der Verfassung unter der Bedingung einer Berücksichtigung gewisser Amendments diskutiert wurde: „The Constitution requires an adoption in toto and for ever. It has been so adopted by the other States. An adoption for a limited time would be as defective as an adoption of some of the articles only. In short any condition whatever must viciate the ratification", zitiert nach: H. Syrett (Hrsg.). The Papers of Alexander Hamilton. Bd. 5. 1962, S. 184.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
243
turen. die bestätigten („authenticate"), dass sie das vorgeschlagene Amendment ordnungsgemäß ratifiziert hatten. So bindend dieses Amendment für den Minister war, so endgültig war dessen Bestätigung durch Verkündung („proclamation") für die Gerichte sowohl im Hinblick auf etwaige folgende Einwände als auch 70 1 angesichts der vermuteten Richtigkeit des legislativen Ratifikationsverfahrens. Diese ministerielle Aufgabe war sodann auf einen Funktionär, den sogenannten Administrator of General Services 10' übertragen worden, bevor man zuletzt den Archivist of the United States für zuständig erklärte 70 3 . In der Entscheidung Dillon v. Gloss erklärte der Supreme Court, dass das 18. Amendment mit dem Zeitpunkt der Ratifikation des (damals für die erforderliche Mehrheit entscheidenden) 36. Staates in Kraft getreten sei und nicht erst mit dem Datum der Proklamation des Ministers. 70 4 Auf die deckungsgleiche heutige Verkündung durch den Archivist ist diese Regelung zweifellos entsprechend anwendbar. dd) Möglichk eit der Interpretation
von Ame nd men ts
Inwieweit Artikel V der Bundesverfassung tatsächlich richterlicher Auslegung zugänglich ist, gehört wie bereits mehrfach erwähnt zu den umstrittendsten Fragen im Kontext des Amendment-Verfahrens. Vor 1939 erklärte sich der Supreme Court (trotz der Erkenntnis von der Endgültigkeit einer Ratifikation nach der 70 5 offiziellen Bekan ntmachun g durch die jeweiligen Gliedstaaten ) bei einigen Einsprüchen gegen die Gültigkeit von Amendments zwar für zuständig, ließ jedoch alle Begehren an der Begründetheit scheitern. Die in vielerlei Hinsicht unbefriedigende Entscheidung Coleman v. Miller bedeutete schließlich einen Wendepunkt 70 6 in der Haltung des Gerichtshofs, der nicht weniger als vier unterschiedliche Meinungen in seinen Reihen vereinte, wovon keine von mehr als vier Richtern 70 1
Vgl. Act of April 20. 1818. See. 2, 3 Stat. 439 sowie
Leser v. Garnett, 258 U.S. 130.
137(1922). 70 2 Siehe 6 5 Stat . 710 -7 11 . See. 2: Reorg. P lan No. 20 of 19 50. See. l( c) .6 4St at . 127 2. 70 3
National Archives and Records Administration Act of 1984, 98 Stat. 2291, 1 U.S.C. See. 106b. 704 705
Dillon v. Gloss, 256 U.S. 368. 376 (1921). User v. Garnett. 258 U.S. 130 (1922).
70 6 Vgl. Coleman v. Miller, 307 U. S. 433 (1939). Streitpunkt war die erfolgte Bestätigung einer Ratifikationsresolution des Staates Kansas, die sieh aus dreierlei Gründen Angriffen ausgesetzt sah: zum einen sei das Amendment („child labor amendment") bereits einmal zurückgewiesen worden: darüberhinaus sei für die Ratifikation ein „unreasonable" Zeitraum, nämlich dreizehn Jahre verstrichen: zum dritten seien die Kompetenzen des Vizegouverneurs im Ratifikationsverfahren überschritten worden, indem seine Stimme als die entscheidende zugunsten der Ratifikation gewertet wurde. Ausführlich zu dieser Entscheidung statt vieler H.H. Clark. Coleman v. Miller: A major reduetion of the Jurisdiction o f the Supr eme Court . 1942: R.F. Fairchild Cushman/B.S. Koukoutchos, Cases in Constitutional Law. 9. Aufi. 1999. Ch. 11. Siehe aber auch bereits Fairchild v. Hughes, 25 8 U.S. 126 (1922), als der Supreme Court konstatierte, eine private Person könne nicht vor
244
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unterstützt wurde. Die Mehrheit urteilte, dass die Kläger - Mitglieder des Senats von Kans as - je den fa lls ein ausrei che nde s Inter esse geltend ma ch en konnte n, um die Zuständigkeit der Bundesgerichte zu begründen. Materiell ging es freilich wie oben bereits angedeutet stets um die Frage, inwieweit es sich bei den strittigen Punkten um ..political questions" handele und, wenn dies zu befürworten sei, ob 707 diese überhaupt Gegenstand richterlicher Kontrolle sein dürften. Letzten Endes steht Coleman v. Miller für die Erkenntnis, dass einige Entscheidungen hinsichtlich „proposal" und Ratifikation von Amendments ausschließlich dem Kongress vorbehalten sind - sei es angesichts des klaren Wortlauts der wesentlichen Bestimmung (Art. V) oder sei es aufgrund fehlender Entscheidungskriterien seitens der Gerichte, um abschließend und angemessen über Amendments zu befinden. Der Supreme Court akzentuierte diesen Gedanken in Baker v. Carrim, indem er sich erneut - auch unter Bezugnahme auf Coleman v. Miller - der ..political question doctrine" annäherte: „(Coleman] held that the questions of how long a proposed amendment to the Federal Constitution remained open to ratification. and what effect a prior rejection had on a subsequent ratification, were committed tocongressional resolution and involved criteria of decision that necessarily escaped the judicial grasp."™' Beide gena nnte n Aspekt e hob der Geri chtsho f erne ut als „political hervor. 7 1 0 Eine Überzeugung, die in späteren Entscheidungen bestätigt werden sollte.
7
quest ions "
"
den Bundesgerichten eine indirekte Entscheidung über die Gültigkeit und Annahme eines Amendments erstreiten. 70 7 Dazu neben den Sondervoten in Coleman v. Miller der bereits oben im Zusammenhang mit dem Steit um Einzelfragen des Konvents erwähnte G. Rees. Throwing Away the Key: The Unconstitutionality of the Equal Rights Amendment Extension, in: 58 Texas L. Rev." (1980). S. 875 ff.. 886 ff.: forders. Com men t. Rescinding Constitutional Amendments. A Question the Court, in: 37 La. L. Rev.Ratification (1977). S. of 896ff. Proposed der eine generelle Befugnis des Supreme Court zum Judicial review" befürwortet. Im Ergebnis ähnlich, jedoch mit klaren Einschränkungen auf lediglich „formale Fragen" W. Dellinger. The Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the Amendment Process. in: 97 Harvard L.Rev. (1983), S. 386ff.. 414ff. Siehe weiterhin LH. Tribe. A Constitution We Are Amending: In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 433 ff., 435 ff. Eine Vielzahl von Argumenten zu dieser Thematik findet sich auch in den ..Hearings" zur Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th Congress. 2d sess. (1978); Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights, 95th Congress. lst/2d sess. (1977-78). Zudem befassten sich zwei gliedstaatliche Gerichte mit der Problematik, um zu dem Schluß einer zumindest eingeschränkten Justiziab ilität zu kom men. Dyerv. Blair. 390 F. Supp. 1291 (D.C.N.D. III., 1975); Idaho v. Freeman. 529 F. Supp. 1107 (D.C.D. Idaho, 1981). aufgehoben und „remanded to dismiss" durch den Supreme Court. 459 U.S. 809 (1982). 708 70 9
Baker v. Carr. 369 U. S. 186. 214 (1962). Ebenda.
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24 5
ee) Die generellen Wirkkr äfte des Amendm ent-Ve rfahr ens Auch nicht ratifizierte Vorschläge für eine Verfassungsänderung oder -ergänzung können eine Verfassungskultur prägen. Dieser Aspekt gerät allzu leicht in Vergessenheit. Dabei scheint sich zunächst eine unterschiedliche Betrachtungsweise aufzudrängen, je nachdem wie weit ein Amendment-Vorschlag im Verfahren fortgeschritten ist. Allerdings kann dieser Gesichtspunkt nicht derart pauschal bewertet werden, da auch (bereits im Kongress) gescheiterte „propo7 2 sals" durchaus zu hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit geführt haben und 71 3 andere fast unbemerkt zuletzt sogar ratifiziert wurden . Allein die Diskussion einer etwaigen Verfassungsergänzung - oder Verfassungsänderung außerhalb der Vereinigten Staaten - leistet mehr als lediglich einen Beitrag zur Fortentwicklung eines gewachsenen Verfassungsverständnisses; sie ist Ausdruck. Bestandteil und - insbesondere wenn sie öffentlich ausgetragen wird - Mittlerin einer lebendigen Verfassungskultur. Gleichzei tig werden unverzichtbare Fundam ente für jed e erfolgreiche Verfassunggebung errichtet. Das Ausschlußprinzip wird somit zwar an der Verfassung ausgerichtet, jedoch nicht an ihr vollzogen. Neben den 27 durch die erforderliche Dreiviertelmehrheit der Staaten ratifizierten Amendments wurden den Staaten sechs weitere Vorschläge zur Entscheidung 71 4 vorgelegt, die jedoch nie ratifiziert wurden. Von den zwölf vorgeschlagenen Amendment-Artikeln aus dem Jahre 1789 wurden die Artikel III bis XII rati7I " Ebend a 217: „a tex tually demon stra ble constitution al commi tme nt of the issue to a coordinate political depart ment; or a lack of judicially discoverable and mana geable Standards for resolving it."
7.1
Siehe Powell v.McCormack, 395 U.S. 486 (1969);
(1972); Gilligan v. Morgan,413 U.S. 1 (1973). Vgl. aber
CIO. 468 U. S. 1310( 1984) und das Sondervotum von
O'Brien v. Brown, 409 U.S. I auch eins chrä nkend
Uhler v. AFL-
Justice Powell in Goldwater v. Carter,
444 U.S. 996, 1001 (1979). 7.2 Siehe beispielsweise im Kontext des Bürgerkrieges die ..Amendments Proposed in Congr ess by Senator John J. Crittende n. Decem bcr 18. 1860" bzw. ..Amendm ents Proposed by the Peace C onf ere nce . Fe bru ary 8 - 2 7 . 1861" ( im Wor tlaut abged ruckt bei PL Ford, The Federalist. A commentary on the Constitution of the United States by Alexander Hamilton. James Madison and John Jay edited with notes, illustrative documents and a copious index by Paul Leicester Ford. 1898). 71 3 Die Ratifizierung des zunächst letzten, bereits geschilderten 27. Amendment überraschte selbst Kenner des amerikanischen Verfassungslebens: das über 200-jährige Verfahren trug unterdessen nicht wesentlich zur Prägung der amerikanischen Verfassungskultur bei, vgl. dazu bereits vor der erfolgten Ratifikation S. Slavin, (ed.), The Equal Rights Amendment. The Politics and Process of Ratification of the 27th Amendment to the U.S. Constitution. Vol. 2. 1982. 71 4
Da diese sechs ..proposals" bislang in der deutschsprachigen Literatur nicht zu finden sind (vgl. aber G.Anastaplo, The Constitution of 1787. 1989. S.298f.). werden sie im Originaltext im Anhang abgebildet. Zu dem prominenten, gescheiterten ..Equal Rights Amendment" vgl. M. Berry, Why ERA Failed: Politics. Women's Rights, and the Amending Process of the Constitution. 1986: J. Manbridge. Wh y we lost the ERA . 1986.
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fiziert und gingen als die ersten zehn Amendments unter dem Begriff „Bill of Rights" in die Bundesverfassung ein. Der zunächst vorgesehene Artikel II mündete schließlich im schon mehrfach genannten 27. Amendment (1992). Obgleich die Option einer formalen Verfassungsergänzung mittels des Amendment-Prozesses nie grundsätzlich in Frage gestellt wurde, tauchten doch in der amerikanischen Verfassungsgeschichte, wie an den obigen Beispielen illustriert, wiederkehrend Spannungen und heftige Kontroversen über Einzelheiten und Leitgedanken des Amendmentverfahrens auf. Einigen Problemstellungen ist allerdings eine gewisse Konstanz, auch in der unerbittlichen Haltung der konträr vertretenen Positionen nicht abzusprechen. Zu nennen ist etwa der Grundkonflikt zwischen dem Bedürfnis nach einem formalen Verfahren nach Artikel V. das bereits T. Jefferson pointierte 71 5 , und dem Favorisieren einer Verfassungsanpassung durch eine starke Gerichtsbarkeit, was wiederum Äußerungen von Chief Justice J. Marshall 1* und später W. Wilson 717 oder C. Tiedeman 7!K deutlich werden lassen. 71 9 Periodisch traten offen kundgetane Sorgen um die eigentliche Angemessenheit und die anti-demokratischen Wesenszüge des Amendment-Prozesses zutage. Naturgemäß waren diese Bedenken stets am Ende langer Zeitspannen zu konsta7,5
72 0
So bereits T. Jefferson im Briefwechsel mit J. Madison, vgl. P.L. Ford (ed.), The
Wor ks of Thom as Je ffe rso n. Vol. 6. 1904 - 5 , S. 3 ff. 716 Marshall sah sogar breit angelegte Konstruktionen durch die Gerichtsbarkeit als erstrebenswerte Alte rnative zu konstanten Textänderungen der Verfassung oder zu späteren Verfassungskonventen, vgl. dazu mit Textbeispielen N. Cahn. An American Contribution. Supreme Court and Supreme Law. 1954, S.25. Neben den Anmerkungen Marshalls zur Rechtfertigung einer Stärkung der Gerichtsbarkeit in der bahnbrechenden Entscheidung Marbttry v. Madison, 5 U.S. 137, 176 (1803) ist seine Charakterisierung von Artikel V der Verfassung als „unwieldly and cumberous machinery" in Barron v. Baltimore, 7. Pet. 242. 150 (1833) bemerkenswert. 71 Siehe insbesondere W. Wilson, Congressional Government, in: A.S. Link (ed.), The Papers of Woodrow Wilson. Vol. 4. 1968. S. 134 f., wo er die Rolle des Supreme Court für eine Fortentwicklung der Verfassung prägnant hervorhebt. 71 8 C. Tiedeman. The Unwritten Constitution of the United States. 1890. S.43: ,,|the] flesh and blood of the Constitution [are found] in the decisions of the courts and acts of legislature. which are published and enacted in the enforcement of the w ritten Constitution." Das Werk kann als ..Klassiker" amerikanischer Verfassungsliteratur bezeichnet werden. 19 Fundierte Einblicke in das Wechselspiel zwischen Artikel V und der Rolle der Gerichtsbarkeit gibt B. Acker man. The Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984)". S. 1013 ff.: ders.. Transformative Appointments. in: 101 Harvard L. Rev. (1988), S. 1164 ff. 72 0 So beispielsweise in den Schriften von S.G. Fisher, der in ders.. The Trial of the Constitution. 1972 (Neud ruck der Ausgabe von 1862 ), S. 55 die berüh mt gewordenen rhetorischen Fragen stellte: „Why should they not be made by Congress. if dcmanded by necessity, as they would be by an English Parliament? Should they be approved and ratified
by the people, what is the difference, whether their consent be expressed by a Legislature or by a Convention which they have elected. or before or after the alteration be made it
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tieren - wie von 1804 bis 1865 und von 1870 bis 1913 -, während derer keine Amendments in die Verfassung Einzug hielten. Wohingegen in Zeiten höchster Amendment-Kreativität vernehmen waren. 72 2
72 1
diesbezüglich höchstens gedämpfte Kassandrarufe zu
Die Rechtsfragen im Zusa mme nhan g mit der formalen, gebundenen Verfassunggebung in den Vereinigten Staaten legen einige Grundsätze des amerikanischen Verfassungsverständnisses offen. Einerseits bestimmen Gerichtshof und Kongress letztlich das „Uhrwerk" der Verfassung. Zeit und Verfassung findet in ihrer inne72 3 ren Bedingtheit eine Kontrolle. Der Gerichtshof hat trotz der selbst auferlegten Zurückhaltung allein schon in der Begründung derselben gewichtige Argumen7 :4 te für gewisse zeitliche Regelungen und Fristen getroffen. Weiterhin ist die unbestrittene Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber der grundsätzlichen Option. Verfassungsergänzungen im Zuge eines formalen Verlahrens durchzuführen, eindrucksvolles Zeugnis ihres tief verwurzelten Engagements um einen funktionierenden „Konstitutionalismus". Dabei entspricht es einer verbreiteten Ansicht, tiefgreifende Regierungsprobleme seien gegebenenfalls durch 72 5 eine Revision der Verfassung zu lösen. Derlei Bestrebungen stehen in einem steten Spannungsfeld zu den ebenso „geistreichen" Empfehlungen „moderner Madisons", die einen Verschleiß des Amendment-Instruments befürchten und daher gewisse verfassungsrechtliche Fragen ohne Rückgriff auf die Verfassung lösen
would still be the wishes of the same people carried into effect. If the people should be dissatisfied, they can say so through another Congress. If they continue to be satisfied after the alteration is tried, it would be thus established as a precedent to be engrafted on the Constitution, as is the case in England." Weiter bekräftigte Fisher, „|t|he Constitution belongs to the people of 1862, not to those of 1787", woraus er schließlich folgert: „|i]t must and will be modified to suit the wishes of the former. by their representatives in Congress, just as the English Constitution has been modified by Parliament". vgl. ebenda. S.96f. Ähnlich später H. Croly, Progressive Dcmocracy. 1909. S. 130. der Artikel V als ..the most formidable legal obstacle in the path of progressive democratic fulfilment" zu portraitieren wußte. 72 1
Eine Darstellung auffälliger ..amendment Clusters" bietet A. Grimes, Democracy and the Am en dm en ts to the Const ituti on. 1978. S. 157 f. 72 2 Be i J.R. Vile. American Views of the Constitutional Amending Process: An Intellectual History of Article V, in: 25 AJLH (1991), S.44ff.. 67 f. findet sich eine historische Zusammenstellung aller Bedenkenträger. die mit unterschiedlichen Argumenten Artikel V der ..Büchse der Pandora" gleichstellen. 72 3 Grundsätzlich zu ..Zeit und Verfassung": P. Hüberle, Zeit und Verfassung, in: ZIP 21 (1974), S. 111 ff., wiederabgedruckt in: R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976. S. 293 ff. Siehe auch ders., Zeit und Verfassungskultur, in: A. Pe is l/ A. Möhl er (Hrsg.), Die Zeit. 1983. S. 289 ff. 72 4
Vgl. erneut die Entscheidungen
Dillon v.Gloss, 256 U.S.368, 376 (1921) und
Coleman v. Miller, 307 U.S. 433 (1939). 72 5 Wobei gelegentlich selbst eine neue Verfassung vorgeschlagen wurde, siehe nur den Ansatz von R. G. Tugwell, The Emerging Constitution. 1974.
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wollen. 72 6 Letztlich ist es aber auch gerade den „stabilen" Gegensätzlichkeiten innerhalb der endlosen Diskussion zuzuschreiben, dass neben den bereits genannten Gründen die Urfassung der amerikanischen Verfassung vergleichsweise unberührt blieb. Die amerikanische Bundesverfassung entspringt einer emotional aufgeladen Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts und sie lebt in der Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen zu ihr fort. Die genannten Konflikte allein im AmendmentVerfahren leisten hierzu durch aus ihren Beitrag. Trotz fundamentaler Umwälzungen innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte im gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen und politischen Umfeld 27 erscheint das parallele „Wachstum" der amerikanischen Verfassung um zehn plus siebzehn Amendments nur auf den ersten Blick dürr. Die beispielhafte Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Verfassung hat neben der Möglichkeit der formalen Verfassungsergänzung also weitere Gründe. Die wesentlichen Veränderungen - und eben nicht lediglich Ergänzungen - sind demzufolge auch auf anderen Wegen als dem der gebundenen Verfassunggebung durchgesetzt worden. Die Geschichte der amerikanischen Revisionspraxis zeichnet sich insgesamt und in föderativer Hinsicht durch zwei Merkmale aus: Formell wie gesehen dadurch, dass bislang alle Verfassungsergänzungen auf Vorlagen des Kongresses beruhten, die Gliedstaaten ihr Recht auf Einberufung eines Verfassungskonvents somit noch nie durchgesetzt haben, und materiell schließlich dadurch, dass die im 20. Jahrhundert gewachsenen Kompetenzverlagerungen auf den Bund weniger eine Folge förmlicher Anpassungen des Verfassungstextes, sondern vielmehr 72 Ergebnis richterlicher Verfassungsinterpretation sind. " b)
Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs(Vertragsänderung
Aus der verfassungshistorischen Betrachtung der heutigen Europäischen Union ergaben sich bereits unterschiedliche Entwicklungsschritte, die verfassungsschöpfenden wie verfassungsändernden Charakter hatten. Es drängt sich daher auch 72l>
Vgl. dazu auch kritisch m.w.N J.R. Vile. American Views of the Constitutional Amending Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991), S.44ff., 61 ff. 27 Einen Einblick in den Amendmcnt-Prozess und dessen Konnexität zur amerikanischen politischen Realität gewährt R. Bernstein. Amending America. 1993. 28 Es ist daher durchaus schlüssig, dass die unter bundesstaatlicher Sichtweise besonders wichtigen Amendments allesamt noch vor den sogenannten „New Deal"-Reformen angenommen wurden: so die „Bill of Rights", die Abschaffung der Sklaverei (13. Amendment), das Recht auf „due process" (14. Amendment), die Einführung einer Bundeseinkommenssteuer (16. Amendment) und die Volkswahl der Senatoren (17. Amendment), vgl. auch mit Betonung der gliedstaatlichen Aspekte J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat. 1992. S.220 mit Fn.4.
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ein Blick auf die „gebundene Verfassunggebung" in Europa auf, der sowohl die Verträge als auch den Verfassungsvertrag und die jeweiligen Verfahrensschritte umfassen soll. aa) Verfassunggebung in der
Supranationalen Union
Von Interesse ist zunächst die generelle Frage nach den Voraussetzungen der Verfassunggebung in der Supranationalen Union. Dabei erscheint die Unterscheidung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt in der Supranationalen Union nicht unproblematisch, insbesondere da ein völkerrechtlicher Vertrag üblicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten, auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen Einschränkungen unterliegt. Jedoch erlaubt es das Recht der völkerrechtlichen Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 401 WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist die Unterscheidung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen; die vertragsändernde ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt. Im Übrigen: jede Vertragsänderung bewirkt zugleich eine materielle Verfassungsänderung auf nationaler Ebene, ohne dass der Text etwa des Grundgesetzes (GG) geändert würde: Art.23 Abs. 1 GG verweist konsequent auf Art.79 Abs. 2 und 3, nicht aber auf Absatz 1, in dem für jede Grundgesetzänderung eine aus72 9 drückliche Änderung des Textes vorgeschrieben wird. In der Supranationalen Union bestimmt sich bereits der Verfassunggeber anders als im Staat und die Institution der Verfassung ist zunächst nicht auf einen bestimmten Anwenderkreis festgelegt. Verfassunggeber im weiten Sinne ist, wem es gelingt. Normen zu erlassen, die sich innerhalb des von ihnen betroffenen Herrschaftsverbandes mit der Autorität einer Verfassung im normativen Sinne durchsetzen. Im Staat soll das beispielsweise das Volk, es kann aber auch grundsätzlich ein anderer Machtträger sein. Nach T. Schmitz, ist in der Supranationalen Union hingegen die verfassunggebende Gewalt bei den Mitgliedstaaten fixiert, denn die Verfassung könne als die höchstrangige Rechtsquelle in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nur in einem als Verfassung ausgestalteten Gründungsvertrag (Verfassungsvertrag) 7:9 Vgl. auch I. Pernice. Grundl agenpap ier. Die Europäische Verfas sung, 16. SinclairHaus-Gespräch. 11./12. Mai 2001. Wenn beispielsweise in Österreich der Beitritt zur Europäischen Union als Gesamtänderung der Bundesverfassung behandelt wurde (vgl. dazu T. Oldinger. Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union. 1999). verdeutlicht dies, in welchem Maße allein die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf nationaler Ebene materielle Verfassungsänderungen mit sich bringt, ohne dass dies im Verfassungstext zum Ausdruck kommen muss.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, sei nach dem 7 Völkerrecht den Staaten vorbehalten. '" Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluss als die Maßnahme, welche die Verfassungsnormen entstehen lässt. ausschließlich ihnen zuzurechnen. Demzufolge kann es eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i. S. d. demokratischen Verfassungstheorie in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nach dieser Darstellung nicht geben. Dieser Ansatz bedarf allerdings einer wichtigen Ergänzung: Eine Ausblendung bzw. Nicht- Einbeziehung des Volkes in das Verfahren der Verfassunggebung ist damit keineswegs verbunden. Im Lichte der demokratischen Verfassungstheorie muss die Unionsverfassung in ihrer Legitimität der vom Volk gegebenen Verfassung wenigstens weitmöglichst angenähert werden. Aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre kommt es zudem auf eine entsprechend weit gehende Integrationskraft der Unionsverfassung an, um die Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer bereits beeinträchtigten Integrationsfunktion effektiv zu ergänzen. Beides würde freilich eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe legen, bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluss durch begleitende Legitimitäts- und Integrationskraft vermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird oder (aus heutiger Sicht mit Blick auf den zunächst gescheiterten Verfassungsvertrag) worden wäre. Einen dieser Schritte könnte neben einem öffentlich hinreichend begleiteten Konvent ein „duales Plebiszit" darstellen, in dem die Bürger gleichzeitig als Unionsbürger über die Billigung der Unionsverfassung und als Staatsbürger über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden. Sie würden dabei als Angehörige zweier „Völker" im demokratietheoretischen Sinne auftreten: des nationalen Staatsvolkes und eines „Unionsvolkes", das zwar kein Staatsvolk ist, aber nach der hier vertretenen Auffassung als allgemeine politische Gemeinschaft von Menschen wenigstens für seinen Herrschaftsverband demokratische Legitimation vermitteln kann.
73 0 So T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. Das europäische Organisationsmodell einer prozesshaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und staatstheoretischen Implikationen. 2001, S. 432 ff. 731 T. Schmitz (2001), S. 440 ff. spricht mit ähnlicher Ausrichtung von einem ..Doppelreferendum" und schlägt weitere ..Schritte" wie etwa eine ..vorbereitende Verfassungsversammlung" deren notwendige Unterstützung „durch eine breite öffentliche Diskussion durch flankierende Maßnahmen zur Förderung einer unionsweiten öffentlichen Verfas-
sungsdiskussion" gesichert würde. Solche Schritte ließen es zudem „sinnvoll erscheinen, zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung zu schließen".
73 1
IV. Die Bestät igung und Festigun g des Verfas sungss taates
25 1
bb) Europ äische Rechtsetzu ng als Spiegelbild der institutionellen Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts Die europäische Rechtsetzung ist das Spiegelbild der institutionellen Ordnung der Europäischen Union. Die Organisationsstruktur der Union kann (noch) nicht als in si ch geschlossen es institutionelles System verstanden werden. D as Bild einer supranationalen Gemeinschaftsebene, die der nationalen Ebene übergeordnet ist und auf diese durch ein-seitige Hoheitsakte einwirkt, blendet die in nicht unwesentlichen Teilbereichen weiterhin dominierende nationale Ebene aus und ist eher zu ersetzen durch das Bild eines interdependent-kooperativen Systems. Europäische Rechtsetzung wird durch die Kooperation der Mitgliedstaaten mit den Organen der Europäischen Union geprägt. Diese Zusammenarbeit bestimmt alle Phasen des umfassend zu verstehenden Normgebungsprozesses: Neben der vorlegislatorischen Politikformulierung sowie der Umsetzungs- bzw. Anwendungskontrolle im nachlegislatorischen Stadium bestimmt sie vor allem die Entscheidungsfindung in der legislatorischen Phase und die Normpräzisierung im Rahmen der Komitologie („tertiäre Rechtsetzung"). Damit wird nicht nur das Primärrecht, sondern auch das Sekundärrecht durch die Regierungen der Mitgliedstaaten geprägt. Die überstaatliche Kooperation entspricht den Erfordernissen des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes der Europäischen Union. Die ursprünglichen Vorgaben des EG-Vertrags zur Durchsetzung der Gemeinschaftsziele waren vorrangig auf eine Beseitigung der Behinderungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes gerichtet. Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungstands werden weitere Integrationsfortschritte vor allem durch eine aktive Ausweitung gemeinschaftlicher Politikbereiche erreicht. Auf diesen Tätigkeitsfeldern gibt es entsprechend und mittlerweile fast traditionell stärkere Beharrungstendenzen der Mitgliedstaaten. Mit einer schrittweisen Reduzierung der Legislativfunktion der Kommission nimmt das Gemeinschaftssystem Abschied von der ursprünglichen Konzeption einer spezifischen, auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses ausgerichteten Funktionenteilung zwischen Parlament. Rat und Kommission und entwickelt sich zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung mit einem Zweikammersystem. Die Einbußen der Kommission verringern die Durchsetzungsmöglichkeit genuiner Gemeinschaftsinteressen und ermöglichen eine verstärkte Einflussnahme seitens der nationalen Exekutiven auf die Organe der Gemeinschaft. An die Stelle des Gemeinschaftsinteresses treten die koordinierten nationalen Partikularinteressen. Eine Rückbesinnung auf die tradierte gemeinschaftsspezifische Funktionenteilung ist angesichts gefestigter Verfahrenspraktiken weder normativ noch faktisch gangbar. In Einklang mit der konstatierten Verfassungsentwicklung und -praxis steht nur eine Lösung, welche die Interpretation des Primärrechts auf der Grundlage der tatsächlichen Entwicklung fortschreibt. Das Gemeinschaftssystem ist durch weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments und Ausrichtung auf eine ebenenübergreifende Kooperation fortzuschreiben.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Dieses Ergebnis entspricht dem dynamischen Charakter des Unionsrechts. Noch stärker a ls die nationa len Verfassun gen sind die Verfahrensregeln der Europäisch
en
Union ständigem Wandel unterworfen. Ihre Ausgestaltung wird durch die vertragsändernde und vertragsergänzende Verfassungsentwicklung im Zuge der Vertragsrevisionen sowie durch die verfassungsimmanenten Formen einer gestaltenden Fortbildung fortlaufend verändert. Die Entwicklung zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung wird begleitet von dem erkennbar zunehmenden politischen Druck seitens der Mitgliedstaaten, die europäischen Rechtsetzungsverfahren in Analogie zu den vertr auten Paradigmata nationaler Normgebu ngsverfahre n auszugestalten. Gleichzeitig sind die Regierungen und die nationalen Interessenverbände bestrebt, die europäische Rechtsetzung intergouvernemental, also auf unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, auszurichten. Trotz der durch zunehmende Kompetenzübertragung auf die Union herbeigeführten zentripetalen Entwicklung bleiben die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf europäischer Ebene die zentralen Akteure. Angesichts kooperativer Steuerungsmechanismen haben ihre Regierungen verstärkt Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Gestaltung öffentlicher Aufgaben zurückgewonnen. Unvereinbar mit dem derzeitigen Integrationsverlauf erscheint deshalb eine Sichtweise, nach der die Mitgliedstaaten im Zuge der weiteren Integration künftig in einer neuen „staatlichen Einheit" aufgehen oder von ihr überlagert werden. Das kooperative europäische Regelungssystem hebt den Nationalstaat nicht auf, sondern stärkt ihn letztlich. Mit zunehmender (und eigentlich wünschenswerter) Vertiefungsdebatte der Union wurde es schwieriger, die noch bestehenden Defizite in der Verwirklichung der funktionalen Grundsätze zu überwinden. Ursache waren die in vergleichbarem Maße wachsenden Befürchtungen, die Mitgliedstaaten könnten dabei zuviel von ihrer Souveränität und Identität einbüßen. Solche Befürchtungen manifestierten sich auch in den Exekutiven der Mitgliedstaaten. Abhilfe verspricht bis heute deshalb wohl nur eine breite öffentliche Debatte unter Einbeziehung der Parlamente und aller gesellschaftlichen Gruppierungen.
7':
cc) Die Abän derba rkeit der Europ äische n Verträge Fraglich war freilich, ob das Verfahren der Vertragsänderung für eine solche öffentliche Debatte Raum lässt. Die Abänderbarkeit der derzeitigen europäischen Verträge, die den Kern des 73 3 europäischen Primärrechts ausmachen , durch explizite Vertragsänderung ist in Art. 48 EUV geregelt. Danach kann die Regierung jedes Mitgliedstaates oder 73 2
So W. Dix. Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff. 733 Nicht weiter thematisiert wird im Folgenden die Kategorie des ungeschriebenen Primärrechts.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
253
die Kommission dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht, vorlegen. Nach einem unionsinternen Verfahren, in das sowohl das Europäische Parlament, die Kommission als auch der Rat einbezogen sind, werden die geplanten Änderungen auf einer vom Präsidenten des Rates einzuberufenden Regierungskonferenz von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten beraten und beschlossen. Sie bedürfen, um endgültig in Kraft zu treten, der (völkerrechtlichen) Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. In Deutschland bemisst sich der Ratifizierungsprozess nach Art. 23 GG. Dieses Verfahren sichert zwar den Regierungen größtmögliche Handlungsfreiheit für die Aushandlung der Vertragsänderungen. Andererseits begünstigt es eine Fortschreibung des vertraglichen Acquis, die sich möglichst eng an den bisherigen Texten orientiert, schon um die spätere Zustimmung in den Parlamenten und Volksabstimmungen nicht zu gefährden. Auch deshalb haben sich die vertraglichen Grundlagen der Union zu einem sehr komplexen Gebilde von Kompromisslösungen entwickelt. Dieses Verfahren für die Weiterentwicklung der Union, die zunehmend supranationale Hoheitsrechte der Gesetzgebung ausübt und nicht nur völkerrechtliche Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten begründet, erwies sich als kaum ausreichend. Vielmehr erforderte der Entwicklungsstand der Union neue Verfahren, die eine stärkere Einbeziehung der Parlamente und der Öffentlichkeit schon während Verhandlungen ermöglichen. Bereits den Regierungskonferenzen von Maastricht und Amsterdam wurde der Vorwurf gemacht, ihre Ergebnisse seien ohne breite politische Debatte und über die Köp fe der Parlam ente und der Bevölkerung hinweg zustande gekommen. Änderu ngen des Primär rechts können jedoch auch außerhalb des Verfahrens nach Art. 48 EUV erfolgen. Hier ist zunächst das in Art. 49 EUV geregelte Verfahren des Beitritts neuer Mitgliedsta aten zu nenne n, we lches in Gestalt der jeweiligen Beitrittsverträge neues bzw. geändertes Primärrecht zum Gegenstand hat. Auch hier greift jedoch letztendlich der Ratifizierungsvorbehalt aller Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Daneben bestehen jedoch weitere Mechanismen der Änderung von Primärrecht außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV. In diesem Zusammenhang ist zwischen „vereinfachten" und „autonomen" Verfahren der Vertragsänderung zu unterscheiden. 73 4 Das sog. „vereinfachte" Verfahren unterscheidet sich von dem in Art. 48 EUV vorgesehenen regulären Vertragsänderungsverfahren dadurch, dass 73 4 Dazu ausführlich H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar. 2000. Art. 48. Rn. 11, mit umfangr eichen Nachwe isen; vgl . auch eine Ausa rbeitun g der Wis-
senschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 24. 10.2003) im Auftrag des Verf.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
an Stelle einer Regierungskonferenz Vertragsänderungen durch den Rat mit einstimmigem Votum vorgenommen werden. Ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis nach den jeweiligen Vorgaben der nationalen Verfassungen besteht 73 5 jedoch auch im Rahmen dieses Verfahrens. Demgegenüber fehlt es an diesem Ratifizierungserfordernis im Rahmen des „autonomen" Vertragsänderungsverfahrens, das eine - in der Regel vom Rat einstimmig auszuübende - Vertragsänderungsbefugnis der EU-Organe, zumeist für technische Anpassungen, vorsieht. Das EU-Recht kennt hinsichtlich der gemäß Art. 48 EU-Vertrag vorzunehmenden Abänderung von Primärrecht keine vergleichbaren inhaltlichen Schranken, wie sie etwa für den deutschen (Verfassungs-)Gesetzgeber bzgl. der Abänderungsmöglichkeiten des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegt sind. Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Verträge frei, ohne inhaltliche Begrenzung jede Art von Änderungen oder Ergänzungen der Verträge, auf denen die Union beruht, vorzunehmen. Gleichwohl wird im Schrifttum der Standpunkt vertreten, es gebe einen (ungeschriebenen) änderungsfesten Kern
73 6
73 7
des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts. Dazu werden etwa die in der Union zugrunde liegenden Strukturprinzipien des Bekenntnisses zu den Menschenrechten 73 8 und zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit gezählt. Nicht hierzu zählt aber etwa der bereits erreichte Stand der Integration. Eine „Umgehung" der genannten ausdrücklichen Vertragsänderungsverfahren durch implizite Vertragsänderungen hält der EuGH nach ständiger Rechtspre73 5
Beispielhaft seien an dieser Stelle die folgenden Anwendungsgebiete dieses Verfahrens genannt: Art. 17 Abs. 1 EUV (Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik): Art. 42 EUV (Überführung von Teilen der bisherigen dritten Säule des EUV in den EG-Vertrag): Art. 190 Abs. 4 EGV (einheitliches Wahlverfahren für das Europäische Parlament); Art. 22 EGV (Begründung neuer Rechte im Rahmen der Unionsbürgerschaft). 73 6 Hier /u zählen etwa die Bereiche: Art. 187 (Verfahren der Assoziier ung); Art. 213 Abs. 1 des (Ände rungArt. der 7 Zahl Kommis sionsmi er); Art. 245 Abs. 2 (Änder ung der Satzung EuGH); Abs. 3derEUV (Aussetzung des tglied Stimmrechts bestimmter MitgliedStaaten); Art. 67 Abs. 2 (Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im Bereich Justiz und Inneres). Vgl. zu den umfangreichen weiteren Anwendungsgebieten dieses Verfahrens nur die Auflistung bei H.-H. Herrnfeld (2000). Art. 48. Rn. 12. H.-J. Cremen in: C.Cal lie ss/ M. Ruffert (Hrsg .), Kommenta r zu EU-Vertrag un d EG-Vertrag. 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn.4, mit ausführlichen weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum. 73 8 In diesem Sinne m.w.N. C. Vedder/H.P. Folz, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäisc hen Union. Komme ntar. 200 3 (Stand: 21. Erg.Lie ferung) , Art. 48. Rn. 20. die diese Aussage auf eine angebliche völkerrechtliche Verpflichtung bzw. verfassungsrechtliche Selbstbindung der Mitgliedstaaten stützen. Im Ergebnis ebenso, allerdings mit abweichender Begründung H.-H. Herrnfeld (200 0), Art. 48, Rn. 8. der dies damit begründet, dass die Strukturprinzipien als allen Mitgliedstaaten gemeinsame, ihrer Verfügungsgewalt entzogene Grundsätze auch dem Unionsvertrag bereits vorgegeben seien und damit nicht erst durch diesen gewährt, sondern durch diesen lediglich anerkannt werden (in diesem Sinne auch W. Meng, in: H. von der Groeben/J.Thiesing/C.D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EGV/EUV. 5. Aufl. 1999. Art. N. Rn. 59 0-
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
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chung für ausgeschlossen. Danach seien Änderungen der Verträge grundsätzlich 7 9 nur im Wege der vertraglich vorgesehenen Änderungsverfahren möglich. * Nach dieser Auffassung ist eine implizite Änderung der Verträge, etwa durch konkludenten. gleichzeitig mit einem Organakt von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Änderungsvertrag oder durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht, selbst bei einem 74 0 Einverständnis aller Mitgliedstaaten nicht möglich. Daneben kommt auch eine implizite Abä nde run g von Vertrags Vorschriften durch bloßes Organ hand eln, wie 74 1 etwa durch eine schlichte Praxis des Rates nicht in Betracht. Demgegenüber soll nach überwiegender Auffassung im wissenschaftlichen Schrifttum die ausdrückliche Änderung bzw. Aufhebung von Primärrecht durch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des allgemeinen Völkerrechts grundsätzlich 74 2 auch außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV möglich sein. Diese Befugnis der Mitgliedstaaten folgt aus ihrer Eigenschaft als „Herren der Verträge" und der Tatsache, dass das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht nach wie vor auf den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen beruht. Aufgrund der grundsätzlichen Gleichrangigkeit aller Akte des Völkerrechts wäre demzufolge eine Abänderbarkeit dieser Verträge auf die dargestellte Art und Weise grundsätzlich möglich. Gleichwohl greifen auch bei derartigen, außerhalb von Art. 48 EUV erfolgenden Änderungen von Primärrecht die verfassungsrechtlichen Ratifizierungsanforderungen an den jeweiligen völkerrechtlichen Änderungsakt, so dass sich an der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnis der nationalen Parlamente in diesem Fall nichts ändern würde.
73 9
EuGH . Rs. 43/ 75. Slg. 1976.
455. rn. 56/5 8
(Defrenne / Sabena); vgl. hierzu auch
H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48. Rn. 16. 74 0
Dazu ausführlich
H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.). Kommentar zu
EU-Vertrag Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn sonstigen 4 f. Anden; aber BVerfGE 68. 1 (82), das und eineEG-Vertrag, konkludente2.Vertragsänderung durch einen Änderungsvertrag für möglich hält. /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Aufl. 1994. Rn. 529 hält auch eine nachträgliche Änderung durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht für denkbar. 74 1
In diesem Sinne EuGH Rs. 68/86. Slg. 1988. 855, Rn. 24 (Vereinigtes Königreich/
Rat). 42
Diese völkerrechtlich wirksame Vorgehensweise kann aber zu einem Konflikt mit Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht führen. Vgl. zur hierzu geführten, wissenschaftlich komplexen Debatte nur C. VedderfH.P. Folz, in: E.Grabitz/M.Hilf (Hrsg.). Das Recht der Europäischen Union. Kommentar. 2003 (Stand: 21. Erg.Lieferung). Art. 48. Rn.46ff. So auch etwa H.-J. Cremer, in: C. Cal lie ss/ M. Ruffert (Hrsg.), Komm enta r zu EU-Ver trag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn. 5: differenzierend aber H.-H. Herrnfeld. (2000). Art. 48. Rn. 16. dereine (unionsrechtliche) Bindung der Mitgliedstaaten annimmt, das Verfahre n des Art. 48 EUV zu respektie ren. Die allgemeinen Regelungen des Völkerrechts sollen dem gege nüber durch Art . 48 EUV verdrängt worden sein. Jedoch stehe dieser unionsrechtlichen Selbstverpflichtung der .Mitgliedstaaten die in diesen verbliebene völkerrechtliche Kompetenz gegenüber, sich durch eine gegenteilige Übereinkunft von dieser Selbstverpflichtung zu lösen.
256
B. Verfassung
serweckung
und Verfassungsbestätigung
Zusammenfassend kann deshalb festgehalten werden, dass alle bisherigen, expliziten oder impliziten Verfahren der Änderung von Vertragsprimärrecht, sieht man einmal von den beim Verfahren der „autonomen" Vertragsänderung geltenden Besonderheiten ab. durch ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis flankiert werden. dd) Verfassungsänderung nachdem Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren Ein Schlüssel dafür, ob eine europäische Verfassung auf Dauer handlungssteigernd sein wird, liegt in dem Mechanismus, der für künftige Verfassungsänderungen gefunden wird. Verfassungsergänzungen werden unvermeidlich sein und sind fraglos Ausdruck einer gewissen Normalität. Hierfür werden aber in Zukunft nicht mehr einstimmige Totalrevisionen erforderlich sein. Verfassungsergänzungen und Verfassungsänderungen im Sinne amerikanischer Amendments könnten im Prinzip mit qualifizierter Mehrheit möglich werden. Die Ausnahmetatbestände, bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist, sind selbstredend. Aber nur mit Hilfe einer klaren Trennung von fundamentalen und eher technischen Fragen der Verfassungsentwicklung kann europäische Verfassungskontinuität mit dem lebendig sich weiterentwickelnden politischen Erfahrungs- und Anforderungsprozess der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Nach Art. IV-7 VerfV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) wird die Konventsmethode als Mechanismus häufiger Verfassungsänderungsdebatten eingeführt. Bei technischen Änderungen kann der Rat mit einfacher Mehrheit beschließen, den Konvent nicht einzuberufen, „wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist." Obschon am Ende wiederum eine Regierungskonferenz stehen soll, „um die an dem Vertrag wahrzunehmenden Änderungen zu vereinbaren", ist der vorgesehene Modus für Verfassungsergänzungen eine bedeutende Stärkung des föderalen Unionsprinzips, sofern der Europäische Rat am Ende im Normalfall mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. Jedenfalls darf Zwang zur Einstimmigkeit bei künftigen Verfassungsergänzungen nicht die faktische Unveränderbarkeit der Verfassung in einer Europäischen Union mit 27 oder mehr Staaten bedeuten, so als müsste dem derzeit möglichen Verfassungsergebnis eine Ewigkeitsgarantie gewährt werden. (I)
Das FünfstufenmodeII des
Verfassungsvertrages
Durch den Verfassungsvertrag wird eine fünfgliedrige Verfahrenskette zur Änderung und Anpassung des gesamten Vertrages sowie einzelner verfahrensrechtlicher 74 3 und substantieller Aspekte normiert:
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
Die erste Stufe bilden nunmehr zwei „ordentliche" Verfahren zur Änderung des Verfassungsvertrages gemäß Art. IV-443 VerfV. Dieses Verfahren beinhaltet zwei Varianten, wobei in der ersten Variante „Konvent plus Regierungskonferenz" der Präsident des Europäischen Rates einen Konvent einberufen muss, sollte der Europäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschließen. Dem Konvent ist es vorbehalten, die Änderungsentwürfe zu prüfen und im „Konsensverfahren" eine Empfehlung für die nachfolgende Regierungskonferenz abzugeben. In der zweiten Variante ..Regierungskonferenz ohne Konvent" kann der Europäische Rat jedoch mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließen, auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten, wenn das Konventsverfahren aufgrund „des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist". Für den Fall, dass die Zustimmung des Europäischen Parlaments hierzu vorliegt, wird auf der Grundlage eines Mandats des Europäischen Rates eine Regierungskonferenz zur Prüfung und zu etwaigen Änderungen des Vertrages einberufen. Verweigert hingegen das Parlament die Zustimmung, hat die Regierungskonferenz auf der Grundlage der dann im Konsensverfahren von einem Konvent angenommenen Empfehlungen zu arbeiten. Auf der zweiten (übergeordneten) Stufe bestimmt Art. IV-444 VerfV die Regeln für ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren. Hierbei lassen sich zwei „Reformfelder" ausmachen, um die Substanz des Verfassungsvertrages ohne notwendige Einberufung einer Regierungskonferenz oder eines Konvents zu ändern: So kann der Europäische Rat zum einen in Bereichen, in denen der Rat nach den Bestimmungen des Verfassungsvertrages einstimmig entscheiden muss, einstimmig eine Überführung in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit beschließen. Und zum zweiten kann der Europäische Rat in den Bereichen, in welchen er europäische Gesetze und Rahmengesetze nicht nach dem ordentlichen Gesetzgebungs-, sondern nach „besonderen Gesetzgebungsverfahren" annimmt, einstimmig beschließen, diese europäischen Gesetze oder Rahmengesetze in das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren" zu überführen. Beide genannten Beschlüsse unterliegen freilich der Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie einem Vorbehaltsrecht der jeweiligen nationalen Parlamente. Das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren scheitert, wenn auch nur ein einziges nationales Parlament innerhalb von sechs Monaten nach Übermittlung einer entsprechenden Vertragsänderungsinitiative sein Veto einlegt. Allerdings entfällt im Gegenzug die Verpflichtung zur Ratifikation der Vertragsänderungsbeschlüsse.
7 J 3 Vgl. A. Maurer. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die neuen Handlungsermächtigungen der Organe. SWP-Diskussionspapier, 2005.
25 7
258
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Art. IV-44 4 VerfV findet seine weitg ehen de Ent sprec hun g in der Passerelle innerhalb der ehemaligen, durch den Maastrichter Vertrag festgelegten Justizund Innenpolitik (Art. 42 EUV): Durch dieses Verfahren wird die Möglichkeit eröffnet, über einen längerfristigen Zeitraum auch diejenigen Politikfelder und Bereiche in die qualifizierte Mehrheit zu übertragen, bei denen es im Konvent bzw. in der Regierungskonferenz (zum Teil erwartbar) nicht gelungen ist. Durch die Einstimmigkeit der Übergangsentscheidung behält somit jeder Staat die Ent74 4 scheidungshoheit über diesen signifikanten Schritt. Der Verfassungsvertrag sieht nunmehr auf einer dritten Stufe vor, dass gemäß Art. IV-445 VerfV der Europäische Rat eine „Änderung aller oder eines Teils 74 5 der Bestimmungen von Teil III Titel III erlassen" kann. Der entsprechende Änderungsbeschluss des Europäischen Rates erfolgt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission. Die nationalen Parlamente verfügen im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen nicht über ein Vetorecht. Jedoch treten Vertragsänderungen erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Allerdings beschränkt Art. IV-445 VerfV auch die Eingriffstiefe der jeweiligen Reformen, weshalb die nach diesem Verfahren angenommenen Vertragsänderungen nicht zu einer Ausdehnung der der Union übertragenen Zuständigkeiten führen dürfen. Konsequenterweise ist hierzu letztlich wieder der Rückgriff auf das ordentliche Vertragsänderungsverfahren vonnöten. Die vierte Stufe beinhaltet gem. Art. 1-18 VerfV schließlich eine Bestätigung der schon länger geltenden Flexibilitätsklausel zur einstimmigen Ergänzung bereits vertraglich sanktionierter Politiken. Sind im Verfassungsvertrag die zur Erreichung eines bestimmten Ziels notwendigen Befugnisse nicht vorgesehen, obgleich „ein tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Politikbereiche erforderlich" erscheint, dann kann der Rat einstimmig auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Maßnahmen erlassen. Eine Änderung des Verfassungsvertrags gestattet Art. 1-18 VerfV hingegen nicht, sondern lediglich eine auf den Einzelfall begrenzte Präzisierung bzw. Befugniserweiterung der Union. Hieraus ergibt sich die Voraussetzung, dass der Verfassungsvertrag ein entsprechend konkretes Unionsziel bestimmt, das durch die spezifischen Kompetenznormen selbst nicht 74 4 Andererseits stellt die Passerelle als Befugniserweiterung des Europäischen Rates einen Schritt dar. der die institutionelle Balance zwischen den Organen Parlament. Rat und Kommission deutlich zugunsten des Rates bzw. des Europäischen Rates verändert. In der Umsetzung von Art. IV-444 werden sich daher wohl auch grundsätzlichere Fragen der demokratischen Kontrolle des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden stellen, vgl. auch A. Maurer (2005), S. 25. 74 5
Diese Formulierung bezieht alle internen Politiken der Union vom Binnenmarkt über die Wirtschafts-, Währungs-. Innen- und Justizpolitik bis hin zur Gesundheits- und Bildungspolitik mit ein.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
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gedeckt ist. Ausgenommen sind hiervon jedoch explizit Maßnahmen, die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten abzielen würden, obwohl die betroffene Vertragsbestimmung jedw ede Harmonisierung ausschließt . Demzufo lge sind flexible Vertragsergänzungen ausgeschlossen, die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Diskriminierungsbekämpfung, der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik, der Forschungspolitik, der Kultur-, Bildung-, Ausbildungs-, Jugend- und Sportpolitik, der Tourismuspolitik, sowie im Katastrophenschutz und 74 6 der Zusammenarbeit der Verwaltungen hinauslaufen würden. Zuletzt benennt und etabliert der Verfassungsvertrag auf einer fünften Stufe so genannte „Notbremsen" für die sekundärrechtliche Weiterentwicklung bestimmter Politikfelder. So wird etwa im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs für Maßnahmen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer festgehalten, dass ein Mitgliedstaat im laufenden, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorbehalt geltend machen kann, wenn und weil der geplante Rechtsstaat „die Kosten oder die Finanzstruktur seines sozialen Systems verletzen oder dessen finanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen" könnte (Art. III-136.2 VerfV). Auch im weiten Bereich der Justiz- und Innenpolitik eröffnete erst eine solche, vom irischen Ratsvorsitzenden vorgeschlagene Option den Weg für eine Konsenslinie zwischen jenen Regierungen, die weitere Integrationsschritte zugunsten der strafrechtlichen Kooperation forderten, und denjenigen (vor allem Großbritannien), die sich in Zurückhaltung übten. Im Kontext der sozialen Sicherheitspolitiken wird das Entscheidungsverfahren nach einem Staatsvorbehalt zunächst angehalten. Der Europäische Rat muss sich mit der Frage befassen und kann den geplanten Rechtsakt entweder an den Rat zur Weiterbehandlung zurück überweisen oder aber die Kommission um die Vorlage eines neuen Vorschlags ersuchen. Jeder Staat, der ein europäisches Rahmengesetz als mit den grundlegenden Prinzipien seiner Strafrechtsordnung für unvereinbar hält, verfügt im Bereich der Strafrechtszusammenarbeit ebenfalls über ein suspensives Vetorecht, um das jeweils laufende 74 7 Ratsverfahren zu stoppen. Sodann muss sich der Europäische Rat mit der Frage befassen und innerhalb einer Frist von vier Monaten entscheiden. Lässt sich analog zu den Bestimmungen aus Art. III-136 VerfV keine Einigung erzielen, kann automatisch eine verstärkte Zusammenarbeit eingeleitet werden, an der sich mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligen muss (Art. III-270.4 VerfV). Im Bereich der sozialen Sicherheit zeitigt die „Notbremse" wohl keine weiteren 74 s Konsequenzen für die faktische Fortentwicklung der Integration. Dahingegen eröffnet das Vetoverfahren in der Strafrechtszusammenarbeit de facto eine Fort-
74 6
Dazu A Maurer (2005). S. 26.
74 7
Art. III-270.3 VerfV'.
Bei entsprechend extensiver Praxis würde Art. 136 VerfV wohl eher den ..Rückbau" der Integration sanktionieren. 74 8
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
entwicklung dieses Politikfelds unterhalb der Schwelle der Vertragsreform. Mit Blick auf beide „Notbremsen" mag sich die Unbestimmtheit des Verfahrenszeitpunkts als problematisch erweisen. So wird es sich gegebenenfalls nur im Rahmen eines Interinstitutionellen Abkommens zwischen Europäischem Parlament und Rat klären lassen, ob Staaten die „Notbremse" in jeder Phase des Gesetzgebungsverfahrens oder nur in einer bestimmten Phase der ratsinternen Vorabstimmung ziehen dürfen. (2)
Gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung
betreffend
Der Europäische Rat entscheidet nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages künftig ohne Ratifikationserfordernis, ob für einen Politikbereich zur Mehrheitsentscheidung übergegangen wird. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat müssen nur unterrichtet werden. Damit wird die Stellung von Deutschem Bundestag und Bundesrat erheblich geschwächt, da das in Art. 23 GG bei Hoheitsübertragungen vorgesehene 2/3-Erfordernis entfällt. Die Parlamente und insbesondere die Opposition werden dadurch nicht unerheblich geschwächt. Dies ist besonders problematisch, wenn die sich aus der betroffenen Rechtsgrundlage ergebenden Kompetenzen nicht klar abgegrenzt sind. 2.
Kreative Verfass unggebu ng - Verfassun gsinterpreta tion, insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte
..In the Performance of assigned constitutional duties each branch of the Government must initially interpret the Constitution, and the interpretation of its powers by any 74 9 branch is due great respect from the others."
Besser hätte der Supreme Court kaum seiner eigenen Rolle als auch der aller Verfassungsorgane bei der zweiten „Alternative" der Einflussnahme auf die Entwicklung der amerikanischen Bundesverfassung Ausdruck verleihen können. Diese Funktion ist zunächst nur insoweit an eine gesetzliche Grundlage gebunden als man letztere zum Gegenstand der Tätigkeit bestimmt. Gilt es nun eine verfassungsrechtliche Frage zu beantworten, die sich nicht zweifelsfrei mittels der Verfassung selbst lösen lässt, wird die Interpretation der Verfassung erforderlich. Die spezifische „Gestimmtheit des Verfassungsrechts" ( K. Stern) führt zu Besonderheiten bei der Interpretation. „We must never forget that it is a Constitution 75 0 we are expounding", hat der Supreme Court der USA bereits 1819 dekretiert. 74 9 750
United States v. Nixon. 418 U. S. 683. 703 (1974).
MeCulloch vs. Maryland 17 U.S . 316 (407) . Der Richte r hat innerhal b des Interpretationsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten Fall löst. Hierfür steht ihm etwa in Deutschland eine gefestigte Methodik zur Verfügung,
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
26 1
D e m g em äß hat sic h die Wis se nsc haf t seit lan gem be mü ht , „P rin zip ien der Verfassungsinterpretation" - so das Thema der Freiburger Tilgung der Vereinigung Deut sche r Staatsre chtslehre r von 196 1 - herau szuar beite n, wie überhaup t ein Großteil der jünger en Arbeiten zu m Th em a Ausl egun g der Verf assun gsausl egung gewidmet sind. ga be" oder ihre
751
Dabei wird erschöpfend die „Komplexität der Interpretationsauf„Un ersc höpf lich keit ", der sich jed e Epo ch e unte r ihren jewe ilig en
Bedingungen neu zu stellen hat, betont. Unzweifelhaft führt vor allem die Rechtsbildung zu Spannungen, zuweilen auch zu Konflikten, zwischen den nach der Gewalten- und Funktionenordnung der Verfassung zur generellen Rechtserzeugung berufenen Parlamenten und den Verfassungsgerichten. Vielfach wird etwa die Besorgnis zu zunehmender Nebenordnung und Annäherung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung betont. Dahinter steh t eine dem angel sächsische n Rechtskr eis vertraute Tendenz. Ge
setze s-
recht und Richterrecht zunehmend als sich wechselseitig ergänzende, arbeitsteilige Modalitäten im Rechtsfindungsprozess zu sehen.
die mit den Stichworten „Wortlaut der Norm", „Wille des Gesetzgebers" und „Teleologie" angedeutet sei, insbesondere durch die ..Rechtsvergleichung" anzureichern ist (P. Hiiberle). Noch immer gilt der klassische Ansatz von Savigny, wonach Auslegung ..die Rekonstruktion des klaren oder unklaren Gedankens ist. der im Gesetz angesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist." Die Aufgabe des Richters. Recht zu sprechen, verbietet ihm grundsätzlich, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Dieses insbesondere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung („deni de justice") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfalls fortzuentwickeln und Lücken zu füllen, etwa durch Analogien. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst. Scheint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, dass Richter, die dem gesetzten Recht unterworfen sind, zugleich die Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortzubilden und damit in gewissem Sinne selbst die Normen zu schaffen, an die sie gebunden sind. Diesen Zwiespalt brachte der Richter am US-Supreme Court Hughes treffend auf den Punkt: ..We. the judges, we are under the Constitution, but the Constitution is, what the judges say, it is" (zitiert nach en.thinkexist.com/quotation/we_are_under_a_constitutionllbut_the_constitution/158023.html). Der Richter war - entgegen der Forderung von Montesquieu - in Europa niemals lediglich ..la bouche qui prononce les paroles de la loi"(der Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb die Kompetenz des Richters zur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis. Anders im angelsächsischen Recht. 75 1 Vgl. insbesondere die umfangreiche Lit.-Darstellung bei P. Hiiberle . Europäische Verfssungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 247 ff. mit den Fn. 165 ff. und dessen wichtige eigene Analyse des Themenfeldes. Zu den ..Prinzipien der Verfassungsinterpretation" ders., ebenda. S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deut schl and. 20. Aufl. 1995 (Neudr. 1999). S. 19f f. : Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.
R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.),
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
75 2 Ein kurzes Wort zur verfassungskonformen Auslegung. Sie ist ein ebenso 75 3 unentbehrliches und - in nicht ganz leicht zu definierenden Grenzen - auch all-
gemein anerkanntes Instrument der Normerhaltung (wie etwa im amerikanischen Rechtskreis bereits treffend von Justice Brandeis festgestellt wurde 75 4 ), birgt aber durchaus auch die Gefahr von Funktionsverwischungen. Unrichtig ist es allerdings anzunehmen, durch eine verfassungskonforme Auslegung würde der Handlungsspielraum des Gesetzgebers stärker als durch eine Kassation beschnitten. Erweist sich unter mehreren möglichen eine bestimmte Auslegung einer Norm als verfassungswidrig, bestehen aber neben der in diesem begrenzten Umfang aufrechterhaltenen Norm andere Möglichkeiten zur Regelung des ihren Gegenstand bildenden Sachverhalts, so hindert den Gesetzgeber nichts, diesen Sachverhalt nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten: nur die eine - verfassungswidrige - Lösung bleibt ihm verwehrt. a)
Allgemeine
Erwägungen
zur
Verfassungsinterpretation
Die juristische Hermeneutik teilt grundsätzlich die Probleme der allgemeinen Hermeneutik 7 55 , die vor allem in der Frage kulminieren, ob das Sinnverstehen ein rational kontrollierbares, intersubjektiv prüfbares Verfahren ist. K. Hesse sieht 75 2 Dazu etwa K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesre publik Deutschland. l. Bd .. 2. Aufl. 1984. § 4 III 8 d. S. 135 ff.: K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995, Rdnr. 79 ff., jeweils m.w. N. 75 3
Vgl. auch BVerfGE 54. 277 (299 f.).
754
Justice Brandeis in seiner Dissenting Vote zu rity, 297 US 288. 346 ff.( 1936). 75 5
Ashwander v. Tennessee Valley Autho-
Eine „allgemeine Hermeneutik" als Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften
ist im 19. Jahrhundert insbesondere von worden, vgl.
F.D.E. Schleiermacher und IV. Dilthey entwickelt
F. D.E. Schleiermacher, Hermeneutik (hrsg. von
H. Kimmerle), 2. Aufl. 1974:
W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften. Bd. 5.7. Aufl. 1982; ders., Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft., in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften. Bd. 7. 7. Aufl. 1979. Der Einfiuss beider reicht bis in die Gegenwart
(M. Heidegger. R. Bultmann. H.-G. Gadamer. E. Betti. G. Eheling). Die Differenz zwischen Methodologie, d. h. als Kunstlehre von den Regeln der Auskegung (ars interpretanda und Strukturtheorie als Lehre vom Zusammenhang zwischen Zeichen Bedeutung (signum et res) spiegelt sich in der jüng ere n Her mene utikd ebat te vor allem bei Gadamer un d Betti. Di e lange Jahre geführte Kontroverse zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und geisteswissenschaftlicher Hermeneutik hat sich dagegen entschärft, nachdem auch die analytische Wissensc haftst heorie das Problem des Sinnverstehens in ihr e Überle gungen einbezieht. Die Theorie der Interpretation (seit dem 15. Jahrhundert nach dem griechischen ep|ir|V£D£lV „Hermeneutik" genannt) gab es bereit seit der Antike und im Mittelalter (vgl. auch zuletzt J.Schröder. Entwickl ungstende nzen der juristisch en Interpret ationstheorie von 1500 bis 1850. in: ZNR 2002. S.52ff.) und spielte eine gewichtige Rolle in der Theologie (als Lehre vom vierfachen Schriftsinn - sensus litteralis. allegoricus. moralis und anagogicus, vgl. T. v.Aquin, Summa theologiae I, 1 q. 10 - die Idee eines „Auslegungskanons" war demnach früh geboren und im theologischen Kontext nicht wie vielfach behauptet erst seit Schleiermacher diskussionswürdig). Beispiele späterer musikalischer Hermeneutik
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demgemäß idealtypisch die Aufgabe der Verfassungs-Interpretation zutreffend 4 darin, „das verfassungsmäßig »richtige Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen und auf diese Weise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu 4 75 6 schaffen - nicht etwa nur. um der Entscheidung willen zu entscheiden. ' Eine Einschätzung, die „transatlantisch" Geltung beanspruchen kann, wenngleich ihrer 75 7 Umsetzung kaum nachgekommen wird. Die Suche nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation mündet oftmals zwangsläufig in einer Kata5S logisierung von Schlagworten . die nicht falsch sein müssen, denen jedoch in der Regel das verbindende Element, eine Ummantelung der begrifflichen Nacktheit fehlt. Dabei könnte möglicherweise ein kulturwissenschaftlicher Ansatz einen Rahmen bilden, um differierend anmutende Zielsetzungen und Aufgabenstellungen ebenso einer übergeordneten Sichtweise unterzuordnen wie dies im Kontext 75 9 verschiedener methodischer Ansätze bereits vorgenommen wird . Unter dem Strich ist dabei eher eine fruchtbare Ergänzung und weitere Auskleidung des Kulturbegriffes zu erwarten als ein ungeordnetes Nebeneinander wirrer Termini unter einer vagen Bezeichnung. Eine Betrachtung der möglichen Interpretations-,.Objekte" legt die Vielfalt juristischer Hermeneutik offen. Grundsätzlich finden sich so viele Arten der Interpretation wie es Rechtsquellen gibt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht in erster Linie die Verfassung als „Quelle interpretatorischer Tätigkeit" und die obersten Gerichte der Vereinigten Staaten bzw. der Europäischen Union respektive der Europäischen Gemeinschaften. Wie am Beispiel der Vereinigten Staaten bereits illustriert ist die - in der Regel in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixierte - Verfassung konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwesens. Der moderne Konstitutionalismus entspringt u. a. den bieten der Versuch einer Wiederbelebung der Affektenlehre durch
H. Kreizschmar sowie
A. Scherings Deutung der Musik L. v. Beethovens. 756 K. Hesse . Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. Neudr. 1999. S. 21. 75 7 Zur mangelnden Bewältigung der gesetzten Aufgabe in der deutschen Verfassungswirklichkeit vgl. K. Hesse, ebenda. 75 8 So werden an Aufgaben genannt (zitiert nach einer Aufzählung von P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 228 Fn. 14): Gerechtigkeit. Billigkeit. Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis. Vernünftigkeit. Praktikabilität. Sachgerechtigkeit. Rechtssicherheit. Berechenbarkeit. Transparenz. Konsensfähigkeit. Methodenklarheit. Offenheit. Einheitsbildung, Harmonisierung, normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gercchte („gute") öffentliche Ordnung. 75 9
Vgl. P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Auflage 1998. S. 227: „Da die einzelnen Interpretationsmethode n unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen, was kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinterpretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung bieten."
264
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
großen „Revolutionen" des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seitdem hat die „Konstitutionalisierung der Herrschaft" (D. Grimm™) in unterschiedlicher Gestalt der historisch-politischen Welt ihre Prägung verliehen und darüber hinaus im Zuge der Globalisierung der Politik und der Ausbreitung mancher Aspekte der Verfassungslehre die nicht-westlichen Gesellschaften erfaßt. Seiner Grundidee nach drückt sich im modernen Begriff der Verfassung dort, wo sie als „Ordnung des Politischen" (U.K. Preuß761) konzipiert wird, der zentrale Sinngehalt der politischen Kultur aus. Unter diesem Aspekt kommt der modernen Verfassung eine doppelte Funktion zu: ihrer symbolischen Funktion entsprechend deutet und normiert sie die Ordnungsgehalte der politischen Kultur der Gesellschaft. Ihrer instrumentellen Funktion entsprechend liefert sie das Spielregelwerk für die politischen Prozesse 762 des politischen Systems. Als quasi-kanonischer Text steht sie einmal für eine Hermeneutik der gesellschaftlichen Existenz mit einem verbindlichkeitsfordernden
Geltungsanspruch. Zum anderen ist sie Kristallisationspunkt für einen permanenten hermeneutischen Prozess der Auslegung der durch sie verbürgten Prinzipien im M ed iu m der politischen De utung skult ur der Gesell schaft . Ein weitr wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungshermeneutik ist vorläufig nur in den Vereinigten Staaten und neuerdings auch in Kanada aufgenommen worden.
7 1
'
eichen der
Er bewegt sich „Toward a Constitutional Hermeneutics"
76 0
Vgl. D. Grimm. Die Zukunft der Verfassung. Frankfurt 1991. Siehe den Titel des von U. K. Preuß herausgegebenen Sammelbandes ..Zum Begriff der Verf assu ng. Die Ord nun g des Politischen. 1994". 76 2 Eine ..Hermeneutik des Politischen" bewegt sich auf zwei Ebenen. Analytisch ist sie eine empirisch-hermeneutische Theorie. Sie analysiert die soziokulturellen Ordnungsgef üge auf die ihnen unter liegen de Ordnu ngslo gik hin und versteht das durc h die Pluralität von Ordnungs- und Symboltypen vermessene geschichtliche Feld menschlicher Selbstverständigung und -aktualisierung als Manifestation des Politischen. In diesem solchermaßen 76 1
umrissenen Objektbereich der empirisch-hermeneutischen Theorie spiegelt sich wiederum der anthropologische Sachverhalt des Menschen als eines sich selbst interpretierenden Wesens, als animal symbolicum. Dabei entspringen Ordnungsinterpretationen in einem sehr grundsätzlichen Sinn der fundamentalen menschlichen Existenzerfahrung. Insoweit gehen in die Hermeneutik stets Realerfahrungen der historisch-sozialen Lage ein. Zweitens bauen au f einer solchen Grundh erme neutik des Menschlichen eine Vielzahl von Deut jeweils sozialer Kontexte auf, deren Ordnungszentrum eine hegemoniale Identitätsdeutung des Menschlichen ist, die in peripheren Deutungen ausstrahlt. Drittens, das Specificum einer solchen Hermeneutik des Politischen ist deren Verankerung in der Machtstruktur, insofern sie Ausdruck des Ringens um das Deutungsmonopol für die politische Kultur (die „Wahrheit" der Gesellschaft), dessen Durchsetzung und Aufrechterhaltung ist. Das Medium der Hermeneutik des Politischen ist die politische Deutungskultur einer Gesellschaft. Die machtgestützte Hermeneutik des Politischen und deren Manifestation in der politischen Ordnungslogik garantiert einerseits eine gewisse gesellschaftliche Stabilität, andererseits ist sie stets der Herausforderung durch alternative Hermeneutiken ausgesetzt. Das Deutungsmonopol der hegemonialen Hermeneutik ist niemals absolut, vgl. zu dieser
ungen
Thematik ausführlich J. Gebhardt, Verfassung und Politische Kultur in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999.
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( G . Leyh)76*, wie sie sich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden „interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" niederschlägt
6?
und in einen weiteren hermeneutischen Zusammenhang von „katholischen" und 76 „protestantischen" Interpretationsschemata erstellt wird ". In diesen naturgemäß stets politisch aufgeladenen Debatten zeichnet sich das Problemfeld einer ver767 gleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik in den mit verfassungsrichterlichem Prüfungsrecht ausgestatteten Politien etwa der USA, Deutschlands, Kanadas. Australiens und Frankreichs ab. wobei in einigen Ländern in der Rechtsaber auch Politikwissenschaft vordergründig ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit behauptet wird. Insgesamt hat sich eine in sich kontroverse Tradition der Verfassungshermeneutik herausgebildet, die auch unter modernen kulturhermeneutischen
768
Vorzeichen zu analysieren wäre.
Die ser Unt er suc hun g vorgelager
t is t je do ch die Frage, ob
769
es tatsä chlic h die In-
haberschaft eines Interpretationsmonopols geben kann - einen interpretatorischen
Siehe H. Beiz, Constitutional and Legal History in the 1980s: Reflections on American Constitutionalism. in: 4 Benchmark (1988), S. 243 ff.; M.A. Graber. Why Interpret? Political Justification and American Constitutionalism. in: 56 The Review of Politics (1994). S. 415 ff. Zur amerikanischen Verfassungskuhur aus dem deutschen Schrifttum J. Gebhardt. Verfassungspatriotismus. Anmerkungen zur symbolischen Funktion der Verfassung in den USA. in: Akademie für politische Bildung (Hrsg.). Zum Staatsverständnis der Gegenwart. 1987. 764 G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics, in: 32 American Journal of Political Science (1988), No. 2, S. 369 ff. 765 Yg| p Kommers. The Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate on Judicial Review, in: 47 The Review of Politics (1985). No. 3, S. 113 ff. 76 6 Dazu H. Levinson, Constitutional Faith. 1989. 6 Hierzu gibt es Ansätze bei J. Gebhardt/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. 1994 und im Gesamtwerk P. Häberles. Bedeutsam vor allem das
Werk 1991. von
D.N. MacCormick/R. S. Summers. Interpreting Statutes: a Comparative Study.
76 8
Es grenzt an eine Tautolog ie, von „Kulturher meneuti k" zu sprechen, da Hermen eutik immer mit „Kultur" zu tun hat: zum einen sind ihre Gegenstände zweifellos Erzeugnisse kultureller Praxis, anfangs vor allem religiöse, juristisch-politische und philosophische Texte. Zweitens stellen hermeneutische Bemühungen ihrerseits ein kulturelles Phänomen dar. oft direkt in kulturelle Reflexivität einmündend. Drittens zielt Hermeneutik stets auf kulturelle Praxis, auf die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen verschiedenen, meist auch räumlich und zeitlich getrennten kulturellen Dokumenten sowie zwischen deren Verfassern. Zum Begriff der „Kultur" sehr detailliert P. Häberle, Verfassungslehre als Kult urw isse nsch aft . 2. Aufla ge 1998. S. 2ff; ders.. Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat. 1980. S. 13 ff.; ders.. Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders., Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht. 1982. S. I, 27 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen weiterführender Literatur. 76 9 Diese Forderung erhebt auch J. Gebhardt, Verfassungspatriotismus (1987). Im vollausgebildeten Konstitutionalismus wird gebetsmühlenartig die Frage des verfassungs-
gerichtlichen Interpretationsmonopols behandelt, so wie es sich scheinbar in den USA herausgebildet haben soll.
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Alleinanspruch über Verfassungsbestimmungen, die wegen ihres besonderen Charakters nicht allein durch „schlichte" juristische Interpretation etwa im Sinne des Savignyschen Kanons zu erschließen sind, die aufgrund der normativen, materialen und funktionalen Besonderheiten des Verfassungsrechts einen „Kunstgriff' erforderlich machen, der in der deutschen Verfassungslehre weithin als „Kon77 0 kretisierung" bezeichnet wird. Einer solchen Konkretisierung bedarf es im Verfassungsstaat namentlich bei den fundamentalen Staatsstrukturprinzipien, wie Demokratie, sozialer Rechtsstaat. Bundesstaat und Gewaltenteilung, bei nahezu allen Grundrechten, schließlich bei Staatszielbestimmungen. Rechtsvergleichend lässt sich dieser Gedanke auch auf andere Verfassungsstaaten übertragen, wobei die Konkretisierungsaufgabe für das Verfassungsrecht zunächst au f die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer Letztentsc heidungsfunkt ion „fokussiert" scheint. Also doch insgesamt ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit? Mitnichten, selbst wenn man einer Letztentscheidungsfunktion monopolähnliche Strukturen nur schwer absprechen kann. Gleichwohl wird die richterliche Entscheidung durch vorhergehende Interpretationen anderer Teilnehmer am „Verfassungsleben" wesentlich mitbeeinflusst. P. Häberle spricht zu Recht von einer „offene n Gesellschaft der Verfassungsint erpreten" und bezieht in die Prozesse der Verfassungsinterpretation „potentiell alle Staatsorgane, alle öffentli chen PotenT; : zen. alle Bürger und Gruppen" ein. Häberles Gedanke wird in den Vereinigten Staaten zwar bislang (noch) nicht unverhohlen rezipiert, findet jedoch zunehmend :: theoretische Entsprechungen. So formuliert etwa W. Murphy treffend: „A final definitional matter is important, especially for Americans who often assume that jud ges have a mon opo ly on consti tutiona l interp reta tion. In fact, however, even in a constitutional demoeraey with a constitutional text and judicial review. all public officials sometimes interpret - and properly if not always conrectly so - the Constitution. Not only judges but also legislators interpret when they resolve constitutional doubts for or against a bill as do executive officials when they decide they can, or cannot. consiste ntly with their oat hs of offi ce carry out a partic ular Public policy. Even police officers engage in constitutional interpretation when they decide they can or cannnot arrest an d/ or search a suspect. Moreover, leaders of interes t groups frequently offer
77 0
Vgl. etwa H. Huber , Rechtstheorie, Verfassungsrec
ht. Völkerrecht.
1971 , S. 340.
771
Siehe P. Häberle, Verfassun gslehre als Kultur wissen schaf t. 2. Aufl age 1998, S. 228 ff., 229. Grund legen d ders.. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975. S. 297 ff., auch in: ders., V erf assu ng als öffent lich er Proz ess, 3. Auf lag e 1998, S. 155 ff.: vgl. auch ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess - ein Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998. S. 121 ff. 77 2 Freilich im Wesentlichen nach dem hier so passenden Prinzip J. Pauls: „Unter einem freundlichen Ausleger mein' ich den. welcher in einem fre mden Buch e seine eigne Meinun g, obwohl tief vergraben, entdeckt und mit seiner Wünschelrute erhebt", vgl. Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, 1817.
ders.. Politische
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inter preta tions of the Constitution, both to adv anc e and defen d their goal s. Indivi dua! voters can also join in the inte rpret ive proces s by taki ng the time befo re casting their ballots to leam about and judge the validity of specific items on candidates' platforms."
7 '*
Einige Beispiele außergerichtlicher Verfassungsinterpretation sollen die Geltung skra ft dieser Aus sag e diesseit s und jense its des Atla ntiks unter strei chen. 1861 setzte A. Lincoln einen Markstein interpretatorischer Tätigkeit außerhalb des obersten Gerichtshofs als er feststellte: „I hold, that in contemplation of universal law. 774 and of the Constitution, the Union of these States is perpetual." Diese Auslegung war freilich nicht vollends abwegig, allerdings zu jener Zeit weder offensichtlich noch unbedingt allerorts populär. Da das Verfassungsdokument Lincolns Sätze textlich nicht explizit zu stützen wußte, soll erneut die Präambel der Verfassung in Erinnerung gerufen werden, in der es unter anderem heißt „j... ]in Order to form a more perfect Union|...]". Es ist also weder von einer allein „perfect" geschweige 77 denn von einer „perpetual Union" die Rede. ' Das zweite Exempel mag ungewöhnlich erscheinen und doch ist es Abbild verfa ssungsi nterpr etator ischer Tätigkeit. I m Jahr e 1936 wirkte die Mehrhe it der amerikanischen Bevölkerung als „Verfassungsinterpret" als sie entgegen massiver 773 W. F. Murphy, Constitutional Interpretation as Constitutional Creation. 1999-2000 Harr)' Eckstein Lecture, Princeton 2000. www.democ.uci.edu/democ/papers/murphy.htm. Siehe auch W. F. Murphy U.E. Fleming/S.A. Barber. American Constitutional Interpretation. 2 1x1 ed., 1995, Part III: W.F.Murphy. Who Shall Interpret the Constitution?, in: 48 Review of Politics, 1986, S.401 ff.; ders., Constitutions, Constitutionalism. and Democrac y, in : D. Gree nberg /S.N . Katz /M. B. Oliviero /S.C. Wheatley (eds .), Constit utional ism and Dem ocracy , 1993, S. U f f . jewei ls mit weiteren Nachw eisen. Entsprech end seines Einsatzes für eine ..representative" und gegen eine ..constitutional democracy" Demokratie tendiert etwa R.A. Dahl zu einer Interpretationsvorherrschaft der gewählten gesetzgebenden Körperschaft, die sich einer Prüfung lediglich durch die Wahlen auszusetzen habe. Ein richterliches Einschreiten wäre höchstens vertretbar, um einen reibungslosen Ablauf
der Wahlprozesse zu gewährleisten independent body down process[,] laws that seriously damage rights and interests ..for that|,]anwhile not external to to the strike democratic are demonstrably necessary to it would not seem to constitute a violation of the democratic process.", vgl. ders., Democracy end Ist Critics, 1989. S. 191. Ähnlich M. Walzer. Philosophy and Democ rac y, in: 9 Political Th eo ry (1981), S. 379 ff. 397: „The jud ges must hold themselves as closely as they can to the decisions of the democratic assembly, enforcing first of all the basic political rights that serve to sustain the character of the assembly and protecting its mem ber s from discriminat ory legislation. They are n ot to enforc e rights beyond these unless authorized to do so by a democratic decision." Eine solche Nähe der Richterschaft zu politischen Entscheidungen erleichtert jedoch in der Regel die Rechtfertigung jeglicher Interpretation der Verfassung, zu dieser Problematik umfassend J.H. Ely, Democracy & Distrust, 1980. 774
A. Lincoln. First Inaugural Address, in: R.P. Basler (Hrsg.), The Collected Works of Abr aha m Lincoln . Vol. IV 1953, S. 262 f. 77 ? Die folgenden vier Jahre Civil War und dessen Ergebnis straften Lincolns Interpretation - wenngleich bis heute patriotisch bejubelt - im Grunde Lügen. Die Nation, die letztlich aus diesem Konflikt erwuchs, wies auch erhebliche Unterschiede zu den (mehr oder weniger) ..united states" vor dem Bürgerkrieg auf.
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höchstrichterlicher Ablehnung der „New Dear*-Gesetzgebung dem amtierenden Präsidenten F.D. Roosevelt mit einem Erdrutschsieg bei den Wahlen (46 von 48 Staaten Zustimmung) erneut ins Amt verhalf. Auch H. Kohls entschlossener Griff nach dem Stundenzeiger historischer Zeitenwenden im Jahre 1990 muss als bedeutender Beitrag zur Interpretation einer Verfassung erachtet werden. Die Entscheidung, die Wiedervereinigung und Aufnahme neuer Bundesländer unter die damalige Fassung von Artikel 23 GG zu legen, war ein interpretatorischer Vorgang, der es allen Beteiligten ermöglichte, annähernd ohne richterliche „Beaufsichtigung" die Bedingungen der Wiedervereinigung zu verhandeln. Zudem blieb das Grundgesetz mit lediglich kleineren Modifikationen auch die Verfassung der vereinten Nation. Die zunächst plausibler ers che ine nde Interp retat ionsa ltern ative , nämlic h Artikel 146 GG a. F., hätte eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung erfordert, die schließlich die 76 Bedingungen für die Wiedervereinigung enthalten hätte. Es ist also festzuhalten, dass zur Interpretation der Verfassung weder nur die Verfassungsgerichtsbarkeit berufen noch dieser die ausschließliche Wirkkraft einer Auslegung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtung führt zurück zu der Forderung. Verfassungsinterpretation unter kulturhermeneutischen Vorzeichen zu betreiben. Das Verfassungsgericht ist ebenso wenig repräsentatives Spiegelbild einer gewachsenen Verfassungskultur wie der Verfassungstext selbst alleiniger Bezugspunkt verantwortlicher Interpretation stätigkeit se in kann. Das Zusammensp iel unterschiedlichster Auslegungskräfte und -intentionen aller am Verfassungsleben Beteiligten - ein „polyphones Konzert" der Verfassungsinterpreten - findet eine gemeinsame Zielsetzung in der Harmonisierung der eigenen Wunschvorstellungen mit den Realitäten der bestehenden Kultur und gibt letzterer damit stets eine kleinere oder größere Neuausrichtung ihrer Prägung, je nachdem wer oder welche Institution(en) an der Interpretation beteiligt sind. Dennoch werden westliche Konstitutionalismen und - d e m Prinzip des insti tutionellen Mimeti smus folgend - au ch ansatzweis e nicht-westliche Verfassungsstaaten nun zunehmend von einer Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur gekennzeichnet, was der vorangegangenen These der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" nicht widerspricht, allerdings Zeugnis einer differie77 6 Aus der überbordenden Literatur dazu etwa C. Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit. in: VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff.; das Sammelwerk von K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bde., 1991; siehe auch L Michael. Die Wiedervereinigung und die europäische Integration als Argumentationstopoi in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zur Bedeutung der Art. 23 S. 2 a. F. und 23 Abs. 1 S. I n. F. GG, in: AöR 124 (1999). S. 583 ff. Interessant ist diesbezüglich auch die Sichtweise aus dem amerikanischen Rechtskreis, vgl. nur P. Quint. The Constitutional Law of German Unification. in: 50 Md. L. Rev. (19 91), S. 47 5 ff. und ders., The Imperfect Union: Constitutional Structures of German Unification. 1997.
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renden Gewichtung unter den Verfassungsinterpreten ist. Die freilich unscharfe Kategorisierung in das Verfassungsleben mitformende „Prae-interpreten" und die letztliche Verantwortung tragende „Final-interpreten" (wie etwa US-Supreme Court, Bundesverfassungsgericht oder der französische Conseil Constitutionnel) soll eine kaum bestrittene Realität akzentuieren, die durchaus mit der Bezeich77 7 nung „Demokratisierung der Verfassungsinterpretation" belegt werden kann. Dass „Post-Interpreten" (beispielsweise die Verfassungslehre aber auch jeder „Verfassungsanwender") selbst wieder gleichzeitig „Prae-Interpreten" sind, lässt ein Kuriosum offenkundig werden: Die Gestaltung und Fortentwicklung von Verfassungskultur basiert auf einem „Kreislauf" der Verfassungsinterpreten. In den Vereinigten Staaten bringt vor allem der Supreme Court durch seine ständige Auslegung sowohl einzelner Verfassungsbestimmungen wie der Verfassung als Ganzes den Text der Verfassung in Übereinstimmung mit sozialen, 77 8 wirtschaftlichen und gegebenenfalls ethischen Zeitumständen. Dies geschieht auch unabhängig von Zeiten selbst verordneter politischer Zurückhaltung und bedeutet in der Konsequenz bei aller Diskussion um die „political question doctrine" und „judicial restraint" ein stetes, mehr oder weniger sanftes Einwirken auf politische Gegebenheiten. Auch wenn die Verfassungsinterpretation zweifellos der zentrale Baustein kreativer Verfassunggebung ist, so gründet sich letztere in den Vereinigten Staaten (wie auch anderswo) fraglos auf weiteren Faktoren. Zu nennen ist etwa die immer wieder modifizierte Handhabung verfassungsmäßiger Aufgaben durch oberste Verfassungsorgane wie Kongress und Präsident, aber auch die Verfassungsfortbildung in der Tradition der englischen „Conventions" durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten. wodurch neben einer Ausfüllung der Lücken im knapp bemessenen Verfassungstext auch die 77 9 Verfassungsbestimmungen selbst einem steten Wandel unterzogen werden.
77 7 So P. Hiiberle. Verfas sungslehre als Kultur wissen schaft. 2. Aufla ge 1998. S. 23 0: siehe auch ders.. Zeit und Verfassung, in: ZIP 21 (1974). S. 11 Iff. 118 ff." 77 8 Siehe hier/u und im folgenden auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungs prax is in den Vereini gten Staaten . 1959. S. 36 f. 77 '' Als Beispiele der Lückenausfüllung sollen zum einen der Aufbau der Bundesgerichtsbarkeit durch die „judiciary acts" dienen, da die Verfassung nur einen obersten Gerichtshof vorschreibt und die Schaffung von untergeordneten Gerichten dem Kongress überlässt (Artikel III § 1 der Bundesverfassung); darüberhinaus die Organisationshoheit für die Schaffung von Bundesbehörden, die allein dem Kongress zusteht: oder die Nachfolgeregelung. wenn sowohl Präsident als auch Vizepräsident an der Ausübung ihrer Ämter gehindert sind. Als ein bedeutendes Kapitel der Verfassunggebung durch den Kongress erwiesen sich die verfassungsrechtlich zugewiesenen Bundeszuständigkeiten. Berühmtheit erlangte dabei die Auslegung der sogenannten „commerce"-Klausel (Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung) seitens des Kongresses. Diese Klausel unterstellt den Handel der Bundeszuständigkeit, wobei der Kongress zu bestimmen hat. was letztlich unter Handel
zu verstehen ist. Jeweils mit Zustimmung des Supreme Court dehnte der Kongress über Jahrzehnte den Begriff weit über die ursprüngliche enge Bedeutung des einfachen Wa-
270
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Die folgende Betrachtung einzelner Gesichtspunkte der (richterlichen) Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten und später in der Europäischen Union versucht dem hohen Anspruch einer Berücksichtigung kultureller Prämissen zu folgen und legt seinen Schwerpunkt auf eine Untersuchung kreativer Verfassunggebung durch die obersten Gerichtshöfe. Diese Einführung sollte sich nur auf einen Anriss der genannten Vorfragen nach den Verfassungsinterpreten und der Beziehung von Verfassungsinterpretation zur Verfassungs-Kultur beschränken. Laut P. Höberle „färbt" kultureller Wandel die Verfassungsinterpretation. Diese Aussage lässt sich aufgrund des oben Gesagten freilich auch insoweit umdrehen als Verfassungsinterpretation seit jeher den kulturellen Wandel zu „färben", jedenfalls zu beeinflussen verstanden hat.
78 0
Das symbiotische Verhältnis von Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung gilt letztlich auch für die europäische Ebene. Das oben aufgezeigte Verfassungsverständnis und der zugrunde zu legende „europäische Verfassungsbegriff' lassen demzuf olge die Über tragun g einer Vielzahl der vorgenannten Überlegungen auf die europäische Rangstufe zu ( - mit Ausnahme der gänzlich „staatsfixierten" Aspekte). 78 1
renaustausches aus. Heute umfaßt er alles, was mit zwischenstaatlichem Handel auch im entferntesten in Verbindung steht. Aus der in Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung vorgesehenen eigentlichen Zuständigkeit zur Kreditaufnahme (..borrowing money") leitete der Kongress die Regelung des gesamten Geld-, Bank-, und Börsenwesens ab. Eine Rechtsfigur, die später auch in den Europäischen Gemeinschaften eine gewichtige Rolle spielen sollte, nahm in dendieVereinigten Staaten mittels der dem unterstellten Vollmachten Kongresses ihren Anfang: „implied powers". Aber auch Präsidenten bzw. dendes zuständigen Departments kommt in der Verfassunggebung durch Zuhilfenahme der ..implied powers"-Regel oder durch die selbständige Auslegung von Verfassungsbestimmungen im Rahmen der Amtsgeschäfte ein erhebliches Gewicht zu. Exemplarisch für die Verfassungsfortbildung durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten seien genannt: der heutige Gebrauch des Präsidialvetos (dazu bereits: G. F. Xfilton, The Use of Presidential Powers 178 9- 194 3. 1944 ): d ie Rolle der Unteraussc hüsse im Kongress und der gewachsene Einfluss politischer Parteien auf Verfassungsorgane und Verfassungsentwicklung. 780
P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aullage 1998. S. 226. Zur Interpretation und insbeondere Verfassungsinterpretation (insb. durch den EuGH) im europäischen Kontext (P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 268 ff. spricht von einer „offe nen Gese llscha ft der Verfa ssungsinte rpreten in Europa"): C. Huck , Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 1998: J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH. 1995; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaf7sl
ten. 1997; W. Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling. 1995. Band 1. S. 205 ff.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
27 1
b) Der US-Supreme Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit Die amerikanische Verfassung ist oberflächlich zunächst lediglich eine Darstellungsform allgemeiner Prinzipien, aus denen sich wiederum im einzelnen Gesetze und Kodifizierungen herausgebildet haben. Der Erfolg dieses Dokuments, der sich im Besonderen durch den Erhalt der Fundamente amerikanischer Regierungsstrukturen bestätigt sieht, gründet sich vornehmlich auf dem Umstand, dass es im Anschluss an die Gründergeneration nachfolgenden Besetzungen von Kongress und Supreme Court 7 " ermöglicht wurde, die Verfassung zu interpretieren oder sie gegebenenfalls den Anforderungen wechselnder Zeiten anzupassen. 78 3 Der amerikanische Föderalismus hat in Verbindung mit angelsächsischen Traditionen ein Rechtswesen geschaffen, das sich unter anderem durch zwei vertikale Gerichtssysteme auszeichnet- die Bundesjudikative als dreistufige Pyramide mit Distriktgerichten, Appellationsinstanzen und dem Supreme Court einerseits, das gleichfalls mehrstufige Gerichtswesen der Einzelstaaten andererseits.
Dem Föderalismus ist auch der Ansatz geschuldet, dass der Zivil- und Strafrechtsbereich. von verfassungsmäßig festgelegten Ausnahmen abgesehen, der Souveränität der Einzelstaaten unterliegt. Dies trägt zu jenem charakteristischen Farbenreichtum der Rechtsauffassungen bei, der durch das angelsächsische Common Law noch begünstigt wird. aa) Die Geburt sstun de der Verfassungsgerichtsbarkeit -
Marbu ry v s. Madison
Heute erscheint selbstverständlich, dass im Rahmen „moderner Staatlichkeit" die Bindung der Staatsgewalt an die Prinzipien Gewaltenteilung. Grundrechte der Bürger gegen den Staat und demokratische Mitwirkungsrechte durch die Gerichte, letztlich durch ein Verfassungsgericht, überprüft wird. So eindeutig war diese Fundierung des modernen demokratischen Rechtsstaats aber nicht, als der Sup rem e Cour t der Vereinigt en Staaten 1803 den Rechtsstreit Marbury vs. Madison zu entscheiden hatte. 7S J In diesem Fall entwarf der U.S. Supreme Court
78 2 Aus der deutschspr. Lit: W. Haller. Supreme Court und Politik in den USA. 1972; Ii. Maaßen. Der US-Supreme Court im gewaltenteilenden amerikanischen Rechtssystem (1787-1972), 1977; W. Brugger. Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: JöR 42 (1994). S.571 ff. Siehe auch (streitbar) M. Tushnet. Taking the Constitution away from the Courts. 1999: A.S.Miller, The Supreme Court. Myth and Reality. 1978; L. Tribe. Constitutional Choices. 1985: W H. Rehnquist, The Supreme Court. How i't Was - How It Is, 1987. 78 3
Hier/u ausführlich unter B.lV.3b)aa).
Vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). Vgl. aus der deutschspr. Lit. auch U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Po78 4
272
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
zum ersten Mal vier Kriterien, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts einen 785
Siegeszug durch die westlichen Rechtsordnungen antreten sollten - Verf assung en sollten
schriftlich formulier
t sein, um mehr
:
Rechtssiche
rheit zu
verbürgen als Gemeinschaften, deren politische Entscheidungsmechanismen auf Tradition und Ü
bun g beruhen.
- Die Ver fas sun g hat Vor rang geg enü ber Legisla tive, Exekut - Es is t Au fg ab e der Ger ich te, und letztlich
ive und Judika tive .
des höchs ten Geric hts, diese Verfa
s-
sungsbindung zu überprüfen. - Verst ößt ein Akt von Exek uti ve ode r auc h Legis lati ve gege n die Ver fas sung , kann das höchste Gericht die Verfassungswidrigkeit aussprechen. Der Geburtsort, die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt in den Vereinigten Staaten von Amerika, ihre Geburtsstunde, die „Inthronisation"
786
als
787
„gleichberechtigter Hüter und Formgeber" der Verfassung also in der viel zitierten Entscheidung Marbury v. Madison. Bevor ma n sich jed och diese r zuwe ndet , sollte ern eut ein Blick auf die Una bhä ngi gke its erk lär ung von 1776 gew agt und dort ein gerne übersehener erster „Zeugungsakt" für die spätere Verwirklichung verfassungsgerichtlicher Kontrolle in Augenschein genommen werden. Er findet sich nach der Aufzählung der unabänderlichen Rechte im ersten Teil der Erklärung: ..That to secure these rights. Gover nmen ts are instituted among Me n. derivi ng their just powers from the consent of the governed, - That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends. it is the Right of People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing
sition der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000). S. 397 ff. 7s 5 Vgl. hierzu W. Brugger. Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forsch ungsmaga zin der Universität Heidelberg. Hef t 3/1 994. S . 22 f f „ 22 . Im deutschen GG finden sich diese Leitlinien in den Artikeln 1. 20. 92 und 93. 78 6 So W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S.5. 7S Vor allen Arten von ..Hüterideologie" warnt P. Hiiberle. da entgegen der oft zitierten These, der Staatspräsident oder das Verfassungsgericht seien ..Hüter" der Verfassung, der Schutz derselben gerade allen Bürgern und allen Staatsorganen gleichermaßen anvertraut sei. Zum anderen sei die Verfassung „öffentlicher Prozess", was sich in der Bewahrung von Vorhandenem nicht erschöpfe, vgl. ders.. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Bad ura /H. Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 311 ff., 316. M.E. birgt die Bezeichnung des „Hütens" jenseits aller ideologischen Anklänge allerdings auch die Verpflichtung zur Fortentwicklung, wenn man so will zur „Erziehung" in sich und darf daher nicht lediglich als starres Bewahren verstanden werden, da ein verantwortungsvolles „Be-hüten" nur in der Vermittlung einer Zukunftsperspektive aufgehen kann. Der gleichzeitige Hinweis auf den „gleichberechtigten Hüter" nimmt darüberhinaus keinen am Verfassungsleben Beteiligten aus. Hiiberle, ebenda, mit Verweis auf die Verfassungen der Ukraine und Burundis, ist freilich zuzustimmen, dass es fehl geht, die Verfassungsgerichtsbarkeit als „authentischen" Verfassungsinterpreten zu bezeichnen.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
273
its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness. [...] But when a long train of abuses and usurpations. pursuing invariably the same Object, evinces a design to reduce them undcr absolute Despotism. it is their right. it is their duty, to throw off such Gov ern ment , and to provide new Guar ds for their future security." 78 *
Die Betonung der ..new Guards". die gelegentlich fälschlich in deutscher Über78 9 setzung als „Regierung" im Sinne von „Government" gedeutet wurden , eröffnen die Kontrollmöglichkeiten einer eigenen, srcinären Gewalt, wie sie sich später in der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit einstellen sollten. Ferner hat A. Hamilton im Federalist bereits ein Wesensmerkmal der künftigen Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben, als er das Spannungsverhältnis von der gelegentlichen Rolle des Gerichts als politischer Entscheidungsträger zum Prinzip der demokratischen Volkssouveränität offenlegte, da die Richter - wenn auch (indirekt) durch politisch legitimierte Organe in ihr Amt berufen - für ihre Entscheidungen „dem Volk" durch nicht eine direkteher verantwortlich sind. Hamilton bemühte sich nun, diesen Widerspruch metaphysische denn empirische Deutung des „Volkswillens" zu zerstreuen, indem er die Verfassung als seine dauerhafte Artikulation und den Supreme Court als dessen Sprachrohr dem wankelmütigen, 7 0 lediglich temporär durch Wahlen ausgedrückten Volkswillen gegenüberstellte. " Im selben Artikel des Federalist betonte er außerdem die Existenz einer Rangordnung von Gesetzen und wies darauf hin. dass es ein logisch unausweichliches Prinzip der Rechtsprechung sei, einen Widerspruch zwischen Gesetzen, die auf verschiedener Stufe stehen, durch Bevorzugung des höherrangigen Gesetzes zu lösen. Die Verfassung von 1789 behandelt die Funktionen des Supreme Courts lediglich mit mageren Worten. Gemäß Artikel III § 1 wird die Judikative der Vereinigten Staaten von einem obersten Gericht und denjenigen nachgeordneten Gerichten ausgeübt, die der Kongress errichtet. Daneben bestehen in den Einzelstaaten vollständige Geric htssys teme . Artikel II I §2 par. 1 der Bundesv erfas sung regelt die Zuständigkeit der Bundesgerichte, Artikel III § 2 par. 2 schließlich die Aufgaben des Supreme Court, wonach dieser in erster Instanz („srcinal jurisdiction") nur in zwei Fällen zuständig ist, nämlich bei Beteiligung eines Mitgliedes des diplomatischen Corps oder eines Bundesstaates am Verfahren, wohingegen er als Rechtsmittelgericht („appellate jurisdiction") grundsätzlich alle Fälle, die den
78 8 Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg .), Conci se Dictio nary of Ame ric an History, 1983 , S. 279 f. T. Fleiner-Gerster erkenn t in seiner „Al lge mein en Staat slehr e, 2. Aufl. 1995, S. 263 f." bereits diesen ursp rünglic hen gedankli chen Zusam men han g: die „u. a. von Locke geprägte Auffassung bildete auch die Grundlage für die Verwirklichung der Verfassungsgerichtsbarkeit". 78 9
790
So auch Fleiner-Gerster (1995). S. 264, allerdings mit richtigem Ergebnis.
Vgl. A. Hamilton im Federalist Nr. 78.
274
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Bundesgerichten zugewiesen sind, in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht überprüfen kann. 79 1 Vergeblich sucht man hingegen eine ausdrückliche Regelung, die den Supreme Court ermächtigen würde, über die Auslegung der Verfassung und die Vereinbarkeit von nachrangigem Recht mit der Verfassung zu entscheiden. Die Funktion der Normenkontrolle als Überprüfung von Gesetzgebung und exekutivem Handeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist dem Supreme Court in der Verfassung nicht explizit zugewiesen.
7 2
"
Allerdings gab es bereits in den amerikanischen Kolonien und nach der Unabhängigkeit von England in Einzelstaaten Präzedenzfälle, in denen Gerichte Gesetze, die gegen königliche „Charters" und später gegen die gliedstaatlichen Verfassungen verstießen, außer Kraft gesetzt hatten. Schon zu dieser Zeit entbrannte die bis heute gelegentlich erbittert geführte Debatte über die diesbezügliche gerichtliche Kompetenz, da das Gericht in der Auslegung einer „Charter" oder Verfassung unvermeidlich und oft mit folgenschweren gesellschaftlichen Konsequenzen in die Rolle der Politik schlüpft. Anfang des 19. Jahrhunderts befasste sich der Supreme Court in einigen grundlegenden Entscheidungen mit der Reichweite seiner eigenen Zuständigkeiten wie 79 auch der anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Kongresses. ' Unter der M J. Marshalf wurden bis heute tragende Weichen für Leitung von Chief Justice die künftige methodische Ausrichtung zur Konkretisierung der Bundesverfassung gestellt. 79 5 Das tatsächlich einschneidendste Ereignis auf dem Entwicklungswege des Supreme Court in seiner Eigenschaft als oberstes Verfassungsgericht zu ei79 1 Jedoch ist der Kongress ermächtigt, insoweit Ausnahmen zu erklären und das Verfahren einer Regelung zu unterwerfen. Artikel III § 2 par. 2 S. 2 der Bundesverfassung. In der Praxis kam es aber nicht zu nennenswerten Einschränkungen der Zuständigkeit des Supreme Court, sondern in der Regel zu Festlegungen, in welchen Fällen eine Verpflichtung des Supreme Courts zur Entscheidungsannahme und in welchen Fällen ein Annahmeermessen besteht, vgl. C. Egerer. Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court der USA: die Wurzeln des Prinzips des „judicial review" in Marbury v. Madison. in: ZvglRWiss 88 (1989). S.4I6ff.. 417. 79 2 Das deutsche Recht etwa gestattet dies dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 I Nr. 1. 2.4a. 4b und Art. 1001 GG. Dazu umfänglich D.P. Currie, The Constitution in the Supreme Court: The First Hundred Years 1789-1888. 1985. S. 61 ff.; siehe auch die einflussreichen Schriften von E.S. Corwin: beispielsweise ders., The Supreme Court and Unconstitutional Acts of Congress. in: 4 Michigan L. Rev. (1906). S. 616 ff.; Je«.. The Establishment of Judicial Review. In: 9 Michigan L. Rev. (1910). S. 102 ff. und in: 9 Michigan L. Rev. (1911), S. 283 ff. 79 4 In den Vereinigten Staaten ist es gängige Praxis, den Supreme Court begrifflich mit dem jeweiligen Chief Justice zu identifizieren, insbesondere wenn es um die historische Einordnung ..bewegter" gerichtlicher Zeiten geht. Marbury v. Madison wude vom sog. Marshall-Court ents chie den, aktue ll spr ach man wegen des seit 1986 (und bis 200 6) amtierenden Chief Justice \V. Rehnquist vo m Rehnquist-Courl. 79 5 Dazu u.a. F. Frankfurter. John Marshall and the Judicial Function, in: 69 Harvard L. Rev. (1955), S. 217 ff.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
27 5
nem zentralen Organ der Integration und nationalen Vereinheitlichung war aber eben seine unter J. Marshall getroffene Entscheidung in Marbury
v. Madison.
in welcher das Gericht für sich in Anspruch nahm, ein Gesetz des Kongresses - den „Judiciary Act" von 1789 - für verfassungswidrig zu erklären, weil der Kongress darin dem Supreme Court Aufgaben zugewiesen hatte, die ihm 796 von der Verfassung ausdrücklich nicht zustanden. Mit dieser Entscheidung machte sich der Supreme Court de facto selbst zu einem Verfassungsgerichts797 hof und damit zur - gerichtlich - höchsten Autorität in Verfassungsfragen. Diese Ent sche idun g war gew iss erm aße n auc h eine Reaktion auf das Bed ürf nis
nach einem dritten, zunächst nicht offen an der Macht beteiligten Staatsorgan, das der zu dieser Zeit besonders im Dualismus von Kongress und Präsident, der föde ral en Str uktur u nd den Gr und re cht en ange legt e „ Z w a n g " zu Mä ßi gu ng und Ausgleich zu erfordern schien. Um das Prinzip der „checks and balances" zu sichern, überwacht der Supreme Court also die Beachtung der verfassungsmäßi-
79 6
Da der Fall auch im deutschsprachigen Schrifttum eine umfängliche Darstellung erfahren hat. soll er hier nur kursorisch veranschaulicht werden. In der Streitsache ging es um die Zustellung der Ernennungsurkunde an Marbury zum ,Justice of the Peace", die ihm Madison auf Anordnung Jeffersons verweigert hatte. Der Supreme Court gab im Rechtsstreit Marburys Begehren nicht statt, da jener sich auf ein Gesetz berufen hatte, das der Supreme letztlich für unvereinbar mit der Verfassung erklärte. Damit reklamierte der Supreme Court für sich das benannte Recht. Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen und im Falle ihrer Unvereinbarleit in concreto nicht anzuwenden. Die Verfassung sei höchstes Recht, dem sich alles andere Recht unterzuordnen habe. Die Begründung aus der Feder J. Marshalls muss neben ihrer inhaltlichen Bedeutung zu den wenigen Stücken weltweit gewichtiger Verfassungsliteratur gezählt werden. Vgl. zum Urteil ausführlich etwa W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S. 5 ff.: ders.. Einführung in das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001, S. 7 ff.; C. Egerer (1989). S.418 ff.: D.P. Currie, Die Verfassung der Verei nigten Staaten von Amer ika . 1988. S. 15 ff.; zur histor ische n Einord nung vgl. G. Stourzh. Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert. 1974. Aus der Flut der amerikanischen Literatur: E.S. Corwin. Mar bury v. Madis on and the Doctr ine of Judicial Review, in: 12 Michigan L. Rev. (1914). S. 538 ff.: ders., John Marshall and the Constitution: A Chronicle of the 1 Supreme Court. 1921; C G. Haines. The American Doctrine of Judicial Supremacy. 2" ed . 1959: R.L Clinton. Mar bu ry v. Mad iso n and Judici al Review, 1989: aus jün ger er Zeit die umstrittenen Monographien von P. W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America, 1997 sowie W.E. Nelson. Marbury v. Madison: The Origins and Legacy of Judicial Review. 2000. Siehe auch L.D. Kramer. Foreword: We the Court, in: 115 Har var d L. Rev. (2 001 ), S. 4 ff. 79 7 Die Kritik an diesem Urteil ist seither nie gänzlich verstummt. Bereits im Jahre 1803 gab es Initiativen auf Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren („impeachment") gegen die Richter, die sich eine derartige Gewalt über die gesetzgebenden Organe anmaßten. Im (Wahl-)Jahr 1912 empfahl Präsident T. Roosevelr. Entscheidungen des Supreme Court, mit welchen ein gliedstaatliches Gesetz für nichtig erklärt wurde, einer Volksabstimmung zu unterziehen, vgl. dazu K. Heller, Der Supreme Court der Vereinigte Staaten von Amerika.
Probleme eines Höchstgerichts, in: EuGRZ 1985, S.685ff., 686. Siehe auch Alstyne. A Critical Gui de to Mar bur y v. Mad iso n, in: 1969 Duke L. J., S. 1 ff.,
W.W. van 17 ff.
276
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
gen Funktionsverteilung zwischen Kongress und Präsident, entscheidet Konflikte zwischen Bund und Gliedstaaten oder mehreren Gliedstaaten und garantiert in letzter Instanz den Freiheitsbereich des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Diese Bereiche des Verfassungsrechts waren justiziabel geworden, nachdem über die Kernsubstanz, die Grundprinzipien der Verfassung seit Verabschiedung der Bundesverfassung in der politischen Überzeugung der amerikanischen Bevölkerung, letzt lich der gesamten „V erfassungsöffentlic hkeit" ein weitgehender, oft bedingungsloser Grundko nsens geherrscht h atte. Demzufolge kann die amerikani7 98 sche ,judicial supremacy" - als bislang fassbares „Endstadium" vorgenannter Entwicklung - in hohem Maße der philosophischen und verfassungspolitischen Homogenität des Landes zugeschrieben werden. Der in der Gesetzesanwendung geschulte Richter war und ist nun dazu berufen, 79 9 als „gleichberechtigter Hüter der Verfassung" zu entscheiden, „what the law is" , wobei letzteres sich aus der Bundesverfassung selbst ergibt, die als „supreme law of the land" (Artikel VI § 2) absolute Wahrung ihres Vorrangs beansprucht. Es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass erst die frühe „Suprematie" der richterlichen Gewalt die tatsächliche ..Herrschaft der Verfassung" zu verbürgen wußte. Die Ära unter Chief Justice J. Marshall wird gerne ein wenig pathetisch betrachtet, der berüh mte Vorsitzende auch schon gelegentlich als „zweiter Schö pfer der Verfassung bezeichnet". Gleichwohl ist nicht abzustreiten, dass der Supreme Court gerade in dieser Zeit durch richtungsweisende und schöpferische Ausübung seines srcinären und ausgeweiteten Entscheidungsrechts seine Vorrangstellung (Judicial supremacy") als Interpret und Gestalter der Verfassung begründete. Nicht umsonst ist bis heute der Ausspruch „the Court will decide" gelebter Maßstab amerikanischer Verfassungspolitik. Dies widerspricht nicht der oben angestellten Betrachtung, der Supreme Court sei lediglich gleichberechtigter Teil einer Verfassungsöffentlichkeit sowie einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Gleichwohl wird ein Idealzustand gelegentlich von den Realitäten hierarchisch gegliederter Gesellschaftsformen eingeholt. De facto hat sich der Supreme Court diese Stellung aber judiziell „erarbeitet": und die vorhandenen Möglichkeiten, um die „Suprematie" etwa durch nachgeordnete Verfassunggebung seitens der anderen Gewalten oder durch die 79 8 Insbesondere unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern ist der Begriff „judicial supremacy" von scharfen Debatten begleitet. Er wird zwar größtenteils zu Recht als Faktum anerkannt, jedoch gerade im Hinblick auf die „checks and balances" zuweilen sehr kritisch beurteilt. Gleichwohl scheint die Annahme einer „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der Supr eme Court doch lediglich zwischen 18 90 -1 93 7 tatsächlich extensiv auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts zurückwies und vor allem in den ersten Jahren des Roosevelt'sehen New Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise
blockierte. 799
J. Marshall in Marbury v. Madison, ebenda.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
27 7
Bevölkerung (constitutional Convention) zu entwerten, wurden in den Vereinigten Staaten höchst selten oder im Falle des Konvents noch nie ergriffen. Im Kontext des Amendment-Verfahrens wurde bereits angesprochen, dass es lediglich vier Amendments bedurfte, um höchstrichterliche Entscheidungen aufzuheben. erscheint angesichts der geringen Anzahl an Amendments zunächst viel, ist bei einer Betrachtung der Flut verfassungserheblicher Entscheidungen des Supreme Courts jedoch wiederum verschwindend gering.
8150
Dies
bb) Anmerkun gen zum Wesen des Jud ici al review" Der Supreme Court muss demzufolge auch zu den markantesten Faktoren des amerikanischen Verfassungs(fort)lebens gezählt werden. Dabei entpuppte sich das Instrument des „judicial review", die Machtposition gegenüber Hoheitsakten der 802 Exekutive 80 1 sowie - praeter Constitutionen! - der Legislative des Bundes un d der Einzelstaaten, als elementarer Bestandteil amerikanischer Verfassunggebung. 8 0 3 Nach E.S. Corwin enthält Wras ist aber nun das Wesen des Judicial review"? das Konzept des „judicial review" drei Feststellungen: zum einen, dass die Verfassung im Verhältnis zu allem sonstigen Recht höherrangig sei; zweitens, dass die rechtsprechende Gewalt die Zuständigkeit zur Auslegung der Verfassung und zu deren Anwendung auf Rechtstreitigkeiten umfasse; schließlich die Erkenntnis, die Auslegungen des Gerichts seien geltendes Recht und bindend auch für die anderen Gewalten. 80 4 Dadurch erlangt das Mittel des „judicial review" noch eine weitere Dimension. Während nämlich die rechtsschöpferischen Akte und Bemühungen nachgeordneter Gerichte von den zuständigen Legislativen durch einfaches Gesetz beseitigt werden können, beinhaltet Judicial review" die Befugnis, die Verfassung gerade in wesentlichen Fragestellungen gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit auszulegen und diese Interpretationen auch durchzusetzen. So betonte auch A. Bickel, Judicial review" sei „f ...1 the power to apply and construe the Constitution in matters of the greatest moment, against the wishes of legisla-
80 0
Siehe oben B.IV. La). Unabhängig von der ..political questions doctrine" hat sich der Supreme Court auch nicht gescheut, in Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gegen politische Organe zu entscheiden. Unvergessen die Entscheidung U.S. v. Nixon , 418 U.S.683 (1974). durch die Präsident Nixon während der Watergate-Affäre zur Herausgabe von 64 Tonbändern aufgefordert wurde. 80 1
80 2
Vgl. Marbury v. Madison. 5 U.S. 137 (1803). Laut W. Brugger wird ..judicial review" - gerichtliche Überprüfung - in den Vereinigten Staaten üblicherweise im Sinn der (Verfassungsgericht!ichen Kontrolle staatlicher Akte anhand der Verfassung verstanden, vgl. ders., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987, S. I Fn.2. 80 3
80 4 Siehe E.S. Corwin. Mar bur y v. Mad ison and the Doctri Michigan L. Rev. (1914), S. 538 ff., 552.
ne of Judicial
Review, in:
12
278
B. Verfassung
serweckung
und Verfassungsbestätigung
tive majority, which is, in turn, powerless to affect the judicial decision" Supreme Court ergriff anläßlich dreier weiterer Fälle früh die Gelegenheit, den
80 5
. Der
Grundsatz des „judicial review" auch auf die Einzelstaaten anzuwenden und diesbezüglich auszudehnen. 80 6 Schließlich wurde mit der Etablierung des „judicial review" durch Marbury v. Madison ein weiterer, selten beachteter Gesichtspunkt Verfassungsgericht!icher Einflussnahme ins Spiel gebracht. J. Marshalls Entscheidung war nämlich gleichzeitig mit einer ausgeklügelten politischen Strategie unterlegt, um das richterliche Prüfungsrecht auch gegen etwaige populistische Einwirkungen abzusichern. Diesen Zusammenhang erkennt auch B.-O. Bryde, wenn er den „Einfluß, den ein Gericht [... | gewinnt (... | auch von seinem eige80 7 nen strategischen Verhalten" abhängig macht. Eine offene Konfrontation mit mächtigen politischen Akteuren könne es in einer noch ungeklärten Lage kaum gewinnen. Zeige es hingegen zu viel Zurückhaltung, würde es Kredit verspielen und als Kontrollorgan unbrauchbar. ..Die geniale Art und Weise, in der Marshall in Marbury v. Madison die Grundlage für das richterliche Prüfungsrecht gelegt hat, nämlich so, dass Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber dem Machthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte, 80 8 ist bis heute das klassische Beispiel solcher richterlichen Verfassungspolitik." Es ist Bryde zuzustimmen, dass alle erfolgreichen Verfassungsgerichte späterer 8(19 Epochen von diesem Beispiel profitiert haben. Marbury v. Madison „zementierte" den Gedanken der selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, die begrifflich eine „unabhängige, gegenüber anderen Staats-, bzw. Verfassungsorganen verselbständigte Institution mit bestimmten Kompetenzen bzw. Funktionen" 81 0 voraussetzt. 805 A. Bickel in seinem berühmten und umstrittenen Werk ..The Least Dangerous Branch", 1962, S. 16. Das Zitat soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bickel dem zugrunde liegenden Urteil Marbury v. Madison und der Begründungsarbeit von J. Marshall scharfe Kritik entgegenbringt, die sich nicht gegen die These von der Rangordnung der Gesetze richtet, sondern gegen die scheinbar logische Schlußfolgerung, dass Gerichte befugt seien, Gesetze für nichtig („void") zu erklären. Ein Konflikt zwischen Verfassung und einfachem Gesetz könne ebensogut durch die Gesetzgebung selbst, den Präsidenten und schließlich durch das Volk bei Wahlen gelöst werden, vgl. Bickel (1962), S. 1 ff. Bickels Beanstandung kann allerdings nicht überzeugen, da seine Alternativen nicht rechtlicher, sondern durchweg politischer Natur sind. Durch ein Infragestellen der grundsätzlichen Möglichkeit einer rechtlichen Lösung des Konflikts, zieht man im selben Atemzuge auch den Stufenbau der Rechtsordnung als logisches Grundprinzip in Zweifel. 806 Siehe Fletcher v. Peck 10 U.S. (6 Cranch) 87.3 L. Ed. 162 (\S\0),Martin v. Hunter's Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304. 4 L. Ed.97 (1816); 19 U.S. (6 Wheat.) 264. 5 L. Ed. 257 (1821). 807 Vgl. B.-O. Bryde. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse/G. Folke Schuppert/K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und -politik in Umbruchsituationen, 1999. S. 197 ff.. 199. 808 B.-O. Bryde, ebenda. 809 Zum Instrument des „judicial review" aus rechtsvergleichcnder Perspektive: A. Brewer-Casrias, Judicial Review in Comparative Law. 1989.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
279
cc) Der Sup rem e Cour t als erhebli cher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Amerika hatten von Beginn an auch Modifikationen in der durch den Supreme Court geprägten, spürbaren Struktur und Wirkung der amerikanischen Verfassung zur Folge. Der Gerichtshof bekleidete dabei unterschiedliche Rollen - von einem eher ruhigen, begleitenden Auftreten, über ein forderndes, vorantreibendes Verhalten bis zu gelegentlich hemmenden Aktionen gegenüber gesellschaftlichen Strukturveränderungen. Das Wirken des Supreme Court kann dabei in drei größere Phasen unterteilt werden, die sich im selben Atemzuge durch jeweils grundlegende Richtungen richterlicher Verfassungsinterpretation auszeichnen. Damit soll auch der Versuch einer Antwort auf das oben beschriebene Problem des „Wendengeflechts" gegeben werden. Freilich ließen sich die strukturellen Neuerungen in immer kleinere, kürzere Abschnitte unterteilen ohne unbedingt die Berechtigung bedeutender Perioden zu
s
verlieren. Gleichwohl birgt eine solche Unter-Gliederung stets die Gefahr einer banalen Aufzählung schlichter historischer Daten, mit allen Verästelungen und etwaigen Sackgassen, deren Beitrag zu den großen Linien gesellschaftlicher Entwicklungen möglicherweise lediglich marginal ist. Ohne den im einzelnen sicher notwendigen Blick auf ausgewählte wichtige Abschnitte zu verlieren, die dieser gröberen Einteilung untergeordnet sind, soll lediglich eine Auswahl vorgenommen werden.
(1)
Momentaufnahmen
einer
Verfassungsgerichtshistorie
Im Anschluss an 1789 bildete der alles überlagernde Gedanken einer „Stärkung der Union" eine erste Phase. Daran knüpfte sich der Zeitraum, der den Schutz des „laissez-faire"-Systems und privatwirtschaftlicher Interessen gegen staatliche zum wesensbildenden Merkmal bevor inRechte einem dritten bis Interventionen heute reichenden Abschnitt ein verstärkter Schutzhatte, individueller und die Herstellung von Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückte. Betrachtet man darüberhinaus die beiden Begriffe,Zentralisierung" und „Demokratisierung" nicht grundsätzlich als unvereinbar und als in der Kombination widersprüchlich, sondern eher zueinander in einem dialektischen Bezug und Spannungsververhältnis stehend, so lassen sich diese als langfristige Entwicklungskonstanten (nicht 8.0 So P Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgeric ht. 2001 , S. 311 ff., 313 f. In Europa begr ündeten diese s Konzept freilich zunächst Österreich (1867 - au f der Grund lage des Bundesve rfassun gsgesetz es 1920 wieder aufgelebt, dazu wegweisend G. Jellinek. Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich. 1885) bzw. vertiefend die Ideen H. Kelsens (vgl. etwa ders.. Wesen und Entwicklung der
Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30 ff. 8.1 Siehe oben B. 1.7.
"
280
B. Verfassung
serweckung
und Verfassungsbestätigung
ohne gelegentliche Gegenbewegungen) konstatieren. Hierbei ist in einer ersten oberflächlichen Definition unter „Zentralisierung" im Wesentlichen die Stärkung der Stellung der Bundesorgane gegenüber den Einzelstaaten zu verstehen. Die „Demokratisierung" bezieht sich in diesem Kontext primär auf die amerikanische Bundesverfassung und muss im Zusammenspiel mit der ebenso erfolgten „Liberalisierung" derselben gesehen werden. Es ist höchst anerkennenswert, dass es dem Supreme Court in mehr als 200 Jahren bis heute gelungen ist, den Respekt vor der Rechtsprechung mit wenigen Ausnahmen grundsätzlich zu wahren. Das mag banal klingen, ist jedoch angesichts vehementer Gerichtsschelte in anderen Verfassungsstaaten (mit kürzerer Verfassungsgeschichte) alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Begründung dieses Umstandes ist freilich der noch zu diskutierende Schutz der Rechtsprechung vor Missbrauch für politische Zwecke - und sei es nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Autorität der höchsten Gerichtsbarkeit i st nicht mit der andere r Verfassungso rgane, etwa des Parlaments oder der Regierung, vergleichbar, die ihre Entscheidungen auch mit anderen Mitteln (als ultima (ir)ratio sei nur an die Heranziehung des Heeres gedacht) gegebenenfalls durchsetzen können. Sie beruht einzig und allein in der gesellschaftlichen Anerkennung der Funktionen des obersten Gerichtes.
81 2
Seine Stellung als letzte und damit allgemein verbindliche Interpretationsinstanz für die Verfassung, eine Position die auf Marbury v. Madison beruht, hat es dem Supreme Court ermöglicht, in praktisch alle Lebensbereiche einzuwirken. Ein Umstand, den der Gerichtshof in seiner bewegten Geschichte gründlich (aus)genutzt hat. Unter den amerikanischen Verfassungsorganen wirkt er einzig unmittelbar sowohl auf Bundesrecht wie auch auf die den Gliedstaaten vorbehaltenen Bereiche der Rechtsetzung ein. Nachdem der nahezu ehern entwickelte Grundsatz des ,judicial review" im Zusammenspiel und in annähernder Kongruenz mit dem Begriff der Judicial supremaey" letztlich dazu führt, dass die Entscheidungen des Gerichts ausschließich in dem schwerfälligen AmendmentVerlahren außer Kraft gesetzt werden können, hat sich der Supreme Court eine Stellung von einzigartigem Einfiuss auf gesellschaftliche wie politische Verhältnisse geschaffen. C.E. Hughes wußte diese Gegebenheit mit leicht resignativem Unterton zu kommentieren: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is." 81 3 Wie bereits dargestellt ermöglichte es Marbury v. Madison dem Supreme Court. Gesetze und Verwaltungsakte von gliedstaatlichen Parlamenten. Kongress und Regierungen anhand konkreter Rechtsstreitigkeiten zu überprüfen und gegebenen812 813
Dazu unten B.IV.2b)cc)(2).
Aus einer Rede von C. E. Hughes, 1907. zitiert nach N. Lockhart u. a., Constitutional Law. Cases-Comments-Questions, 1986. S. 8.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
28 1
falls für verfassungswidrig zu erklären. Hiervon machte der oberste Gerichtshof anfangs über lange Jahr nur in begrenztem Ausmaße Gebrauch, um die Befugnisse von Bundesregierung und Gliedstaaten gegeneinander abzugrenzen und um das Privateigentum vor unangemessenen Eingriffen der Einzelstaaten als auch des Bundes zu schützen. In die Amtszeit J. Marshalls (bis 1835) fielen jedoch auch die bis heute wegweisenden Fälle, die sich mit dem Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten auseinandersetzten, die von einem Ringen um die Determinierung der Bundeskompetenzen und der Grenzziehung zu den Kompetenzen der Gliedstaaten geprägt waren. Mit Martin v. Hunter's Lessee814 dehnte der Supreme Court seine Entscheidungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten aus. Beide genannten Entscheidungen sind deutliche Beispiele für das anfängliche Bemühen des Supreme Courts, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Trägern der Staatsgewalt zu bestimmen und letztlich zu festigen. In der Entscheidung McCulloch v. Maryland aus dem Jahre 1819 wird die Tendenz des Supreme Courts deutlich, die ursprünglich limitierten, in Artikel I § 8 der Bundesverfassung genannten 8 ,5 Gegenstände der Bundesgesetzgebung zu erweitern. Der Supreme Court stellte in der Begründung die in Artikel I § 8 aufgeführte „necessary and proper"-Klausel mit dem Hinweis heraus, die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses trügen gleichzeitig die Befugnis in sich, alle zu ihrer Umsetzung notwendigen und angemessenen Gesetze zu erlassen. Bedeutsam für die Entwicklung einer Methodik der amerikanischen Verfassungsinterpretation wurden dabei die folgenden Worte J. Marshalls: ..Let the end be legitimate, let it be within the scope of the Constitution, and all means which are appropriate, which are plainly adapted to that end. which are not prohibited, 81 6 but consist with the letter and spirit of the Constitution, are constitutional."
Bis heute beansprucht diese Interpretation Geltung für die Beurteilung der Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz. Die zunächst unaufhaltsam scheinende Expansion reglementierender Bundesgewalt gegenüber den Gliedstaaten wird durch die Entscheidung Gibbons v. Ogden 817 ausgelöst. Bereits damals stützte sich der Supreme Court auf eine überaus extensive (und in der Zwischenzeit völlig konturlose) Auslegung der ..interstate commerce-clause" in Art. I § 8 der Bundesverfassung.
8.4
14 U.S. (I Wheat.) 304 (1816). Vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat.) 316 (1819). Der Supreme Court erklärte hierin die Besteuerung einer Bundesbank (Second Bank of the United States) durch den Staat Maryland mit dem Ziel, deren Filiale in Maryland zu schließen, für verfassungswidrig. 8.5
816 8,7
McCulloch v. Maryland, ebenda. S. 421.
22 U.S. (9 Wheat.) I (1824).
282
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
1857 traf der Oberste Gerichtshof mit Dred Scott v. Sandford 81s eine Entscheidung, die ihm geballte, aus den Reihen der Nordstaaten wütende Entrüstung entgegenbrachte und die einen nicht unerheblichen Beitrag zum später folgenden Bürgerkrieg zu leisten wußte. Bis heute wird Dred Scott als eines der verheerendsten und juristisch selbstherrlichsten Urteile in der amerikanischen Verfassungsgeschichte erachtet 81 9 , das als „prononcierteste Frühentscheidung des Supreme Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem der amerikanischen Gesellschaft [markiert] und [...] Zeugnis von einem Geburts82 0 fehler des amerikanischen Verfassungsstaates ab[legt]." Der Fall hatte die Frage zum Inhalt, ob ein Sklave durch den Aufenthalt in einem fremden Staat oder Territorium seine Freiheit erlangt hätte. Namens der Mehrheit des Gerichts verkündete Chief Justice Taney, selbst Sklavenhalter aus Maryland, dass Schwarze keine Bürger der Vereinigten Staaten seien und folglich kein Klagerecht hätten. Sklaven seien Eigentum, das dem besonderen Schutz der Verfassung unterliege, so dass alle Gesetze, die den Bürger um sein verbrieftes Eigentumsrecht brächten, null und nichtig seien. Das gelte für den Missouri-Kompromiss und implizit ebenso für den Kompromiss von 1850 und das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854; denn selbst eine Berufung auf die Volkssouveränität könne den übergeordneten Schutz des Eigentums nicht außer Kraft setzen. Damit hatte Taney den Verfassungskonsens im Sinne der Sklavenhalter pervertiert. Dred Scott verstärkte einen bereits im Ansatz deutlich erkennbaren Riss, der durch die gesamte amerikanische Gesellschaft, die Parteien, die Kirche, die Wirtschaft und die allgemeinen Wertvorstellungen ging. Die Ansichten über zivilisiertes Verhalten, politische Kultur und ihre Grundwerte, ja über das, was Recht und Unrecht war, fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der Boden für eine gewaltsame Lösung war bereitet, es fehlte lediglich noch der Anlass, der sich schließlich in der Präsidentenwahl A. Lincolns im Jahre 1860 finden lassen sollte. Verfassungsgerichten wohnt also, wie bereits dieses Beispiel anschaulich darlegt, neben ihrer Einordnung als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels auch stets die latente Gefahr inne. Auslöser gesellschaftlicher Brüche oder wenigstens „Wenden" im bereits genannten Sinne zu sein. Andererseits ist es auch der Dred Sow-Entscheidung mit zuzuschreiben.
81 8
60 U.S. (19 How.) 393 (1857). 1 Siehe nur LH. Tribe. American Constitutional Law. 3" ed. 2000, S.549: „[...] infamous decision [...] often recalled for its politically disastrous dictum [...]"; W. Wiecek in: K. Hall /J.W . Ely /J. B. Gro ssma n/W . Wiecek (eds.), The O xford compani on to the Supreme Court of the United States, 1992. S. 380: „[...] the greatest disaster the Supreme Court has ever inflicted on the nation." 81 9
H2
" C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S.24 mit einer breiten Darstelung der Entscheidung und des Sachverhaltes, a. a. O.. S. 24 f.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
283
dass nach dem Bürgerkrieg die Verfassung um die schon benannten Amendments 13 und 14 ergänzt wurde, womit Dred Scott letztlich ad absurdum geführt wurde. Das zweifellos beschädigte Vertrauen in die Rechtsprechung des Supreme Court konnte dieserdurch gezielt eingesetzte Zurückhaltung in einigen prekären Entschei82 1 dung während der „reconstruction era" genannten Phase wieder verbessern. So wies der Gerichtshof in Mississippi v. Johnson*" einstimmig das Klagebegehren, dem Präsidenten die Anwendung des ..reconstruction act" zu untersagen, mit der Feststellung zurück, das Gericht könne den Präsidenten nicht an einer Anwendung eines angeblich verfassungswidrigen Gesetzes hindern. Eine vergleichbare Zurückhaltung offenbarte der Supreme Court in Ex parte McCardle 82\ Allerdings begann der Supreme Court im 20. Jahrhundert immer deutlicher, im Besonderen durch seine Entscheidungen in Grundrechtsfragen, die Verfassung und das politische System fortzuentwickeln und den Alltag der Bürger zunehmend mitzubestimmen. 82 4 Hierunter fiel anfangs vor allem die relativ weite Auslegung der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die ihre Verankerung im ersten Amendment findet und die nunmehr nicht nur gegen Einschränkungsversuche der Bundesregierung sondern auch der Gliedstaaten behauptet wurde. Es folgten das Verbot der Rassentrennung und der Diskriminierung von Minderheiten auf der Grundlage des 14. Amendments sowie die Garantie eines fairen Prozesses für den Angeklagten, die tief in das gesamte Polizei und Justizwesen eingriff. Erwähnung verdient auch das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht auf eine Privatsphäre, gegen das beispielsweise die von Einzelstaaten angeordneten Verbote von Verhütungsmitteln und Abtreibungen verstießen.
82 1 Als „reconstruction" wird die mit dem Ende des Bürgerkrieges beginnende und etwa ein Jahrzehnt dauernde Periode des „Wiederaufbaus" des amerikanischen Bundesstaates bezeichnet, dessen Zusammenhalt unter der Bedrohung einer Sezession der Südstaaten stand. Die Phase fand ihre gesetzgeberische Unterlegung insbesondere mit den „reconstruction amendments" (13-15) zur amerikanischen Verfassung und mit dem „reconstruction act" aus dem Jahre 1867 . Mit den Amendm ent s wurde unter ande rem die Sklaverei abgeschafft. alle in den Vereinigten Staaten geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das Wahlrecht ausgeweitet. Der gegen das präsidentielle Veto verabschiedete „reconstruction act" verlieh den Südstaatenregierungen einen lediglich provisorischen Status und stellte sie bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und Durchführung von Neuwahlen unter militärische Kontrolle. 82 2
71 U.S.475 (1867). 74 U.S. 506 (1869). In dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof als Rechtsmittelinstanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu urteilen. Die Richter entschlossen sich nach der mündlichen Verhandlung im März 1868 mehrheitlich für eine Verzögerung der Entschei dung bis der Kongress die die Zuständigkeit des Gerichts begründende Norm außer Kraft gesetzt hatte. Anschließend wies Chief Justice Chase die Klage wegen fehlender Zuständigkeit des Supreme Court ab. 82 3
82 4 Aus der deutschen Literatur schichte. 1998, S. 68 f.
J. Heideking, Einführung in die amerikanische Ge-
284
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Jede Interpretation der Verfassung ist aber in der Umkehrung auch abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen, die einem steten Wandel unterworfen sind. Die Judikatur des Supreme Court bietet auch dafür zahlreiche Beispiele. So interpretierte der Supreme Court bis 1954 die Verfassung der USA und das darin verankerte Prinzip der Gleichheit aller Menschen so, dass die Tatsache der Rasse ntre nnun g (Segre gation ) mit dies em Grun dsat z verei nbar sei. 1954 urteilte eben dieser Gerichtshof in seiner wegweisenden Entscheidung ( Brown vs. Board of Education* 25), dass die Segregation der Verfassung widerspreche und deshalb aufzuheben sei. Dieser einschneidende Wandel geschah mit Berufung auf die Verfassung - aber ohne, dass sich diese geändert hätte. Geändert hatten sich Gesellschaft und gesellschaftliches Bewusstsein. Um den politischen Wandel zu verstehen, genügt es daher nicht, eine Verfassung zu lesen. Diese muss in Verbindung mit realer Politik gebracht werden. Im übrigen können sich im Zusammenhang der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Prozess des gesellschaftlichen Wandels durchaus Ähnlichkeiten, wenn 6 ergeben. nicht sogar Überschneidungen zu den Funktionen der Verfassung" Wagt man den Schritt von der „Funktion" zur „Aufgabe", so fallen der Verfassungsgerichtsbarkeit einige „.Aufgaben" zu, die im Verfassungskontext als „Funktionen" zu betrachten sind. Wieso sollte man der Verfassungsgerichtsbarkeit also nicht auch die Aufgabe der ..Bestandssicherung für Verfassungsnormen als ranghöchste Normen", eine „Schutzaufgabe durch Machtbegrenzung" oder eine „Integrationsaufgabe" zuweisen? Andere „Funktionen" der Verfassung lassen sich wohl schwieriger direkt in eine „Aufgabe" übertragen (etwa die der als „rechtliche Grundordnung" oder die „programmatische Funktion - Verfassung als ,Verhaltensentwurf"' und die „Legitimationsfunktion"). Es soll jedoch an die oben bereits genannten „typischen Elemente selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit" 82 7 und „Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit" erinnert werden. Dort fand sich unter Berufung auf P. Häberle der Begriff der „rationalen Rechtsprechungstätigkeit", wobei es nach diesem dabei auch um eine „Tätigkeit im Dienste der .Bewährung' nicht bloßer .Bewahrung' der Verfassung" geht. Diesem Aspekt könnte auch eine Zuordnung der drei letzten genannten Verfassungsfunktionen unterworfen werden. Wenn man nämlich Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Lichte des „Bewährens der Verfassung" betrachtet, so muss das oberste Rechtsprechungsorgan (auch unter gelegentlichem ..Bewahren") zwangsläufig ein „Bewähren" aller Verfassungsfunktionen gewährleisten.
82 5
347 US 483 (1954).
82 6
Dazu eingehend und in einer allgemeinen Darstellung etwa H. Schulze-Fielirz, Die deutsche Wiede rvere inigung und das Grundgese tz, in: J.J. He ss e/ G. F. Sch uppe rt/ K. Harms (Hrsg.). Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. Zur Rolle des Recht s in staatlic hen Tran sfor mat ions proz ess en in Europa. 1999. S. 65 ff.. 66 ff. 82 7
Siehe auch P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsger ichtsbarkei t, in: P. Ba du ra /H . Dreier (Hrsg.), Festschrif t 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 316 ff.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
28 5
Ein deutlic hes Beispi el, das s zwar tren nscha rf bei einer Darste llung der Prinzipien und Funktionen der einzelnen Teilbereiche (wie „Verfassung", „Verfassungsgerichtsbarkeit" oder „Verfassungsinterpre tation") vorzuge hen ist, gleichwohl mit einer Rückbesinnung auf die inneren Abhängigkeiten dieser Bereiche auch
jedo ch
die Überschneidungen, gelegentlich die Kongruenz gewisser Axiome im Blick zu behalten sind.
(2)
Der
Verfassungsrichter zwischen
Anmerkungen Nac hde m nahezu
zur
,.political
Recht
question
und
Politik
-
doctrine"
jed er gesells chaftli che Konflikt
als Freiheits- u
nd Gleich-
heitspr oblem for muliert wer den kann, darf die Frage aufge wor fen werd en, ob Verfassungsgerichte in jedem dieser Konflikte das letzte Wort haben sollen, selbst wenn die Verfassung nur ein vages Prinzip von Persönlichkeitsentfaltung und Gle ichb eha ndlu ng vo rgibt, über das die Verf assungs richte r gen aus o untersc hiedliche Ansichten vertreten wie Bürger und Politiker? Die herrschende, gleichwohl 828 heftig bekämpfte Meinung in den USA bejaht diese Frage. Das Spannungsfeld
82 8 Freilich handelt es sich auch um eine deutsche Debatte: der zentrale Einwand, der gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, insbesondere aber auch gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erhoben wird, lautet, dass Politik im Gewand des Rechts betrieben werde, vgl. u. a. E. Bendd , Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, in: ZRP 1977, S. 1 ff.. 4. Die Problematik ergibt sich aus den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes, das über Fragestellungen zu entscheiden hat. die von erheblichen politischem Einschlag sind. Die richterliche Stellung wird doppelt kritisiert, einmal im Zusammenhang mit den „geheimen" Wahlen und dem enormen politischen Einlluss durch die politische Nominierung und des weiteren aus der politischen Entscheidungskraft der einzelnen Richter. Die Literatur versucht eine Trennung von Unparteilichkeit und Neutralität anzustellen und dabei wird klar, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zwar unparteiisch, aber nicht neutral bleiben sollten (dazu M. Kriele , Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, in: NJW 1976, S.777 ff.). Dass ihre Entscheidungen durch die massive Beeinflussung im Zuge der juristischen Argumentation an politischer Macht verlieren, wird sogar durch Misstrauensverfahren nachgewiesen (vgl. EuGH. EuGRZ 1976. S. 11; EuGH. EuGRZ 1983. S.500). Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber anderen Verfassungsorganen wird auch in Deutschland oft unter dem Stichwort der political question doctrine geführt. Dabei werden die Möglichkeiten der Anwendung dieses aus dem amerikanischen Recht bekannten Prinzips analysiert, in Hinblick auf die Ablehnung von Entscheidungen mit hohen politischen Werl durch das Bundesverfassungsgericht. Die überwiegende Literatur hält diese Doktrin für unvereinbar mit der Verfassung der Bundesrepublik und lehnt ihre Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht ab (S. etwa C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des BVerf G. 1996. S. 230: K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. 1987, S. 175.; C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 2. Aufl ., 1996. S. 151.; J. Bliiggel , Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundes verfas sungsgeri cht. 1998. S. 1 77 ff.). Der Ged anke zur Entpolitisierung der
Entscheidungen wird jedoch prinzipiell nicht für abwegig gehalten. Dennoch sind es nur wenige Stimmen in der Literatur, die eine Anwendung der Doktrin für möglich halten, ja
286
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
zum Prinzip demokratischer Selbstbestimmung ist aber unübersehbar, ruft man sich drei Stufen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in Erinnerung: (1) die Sicherung verfassungstextlich spezifizierter Grundrechte gegen legislative Eingriffe, (2) die Sicherung, vielleicht sogar Optimierung der Fairneß des demokratischen Prozesses, und (3) die inhaltliche Kontrolle aller Ergebnisse des politischen Prozes82 9 ses über die Berufung auch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitspostulate. Gerade hinsichtlich des dritten Punktes droht, wenigstens bei ausufernder Inanspruch nahme der Prüfungs kompeten zen, die Ersetzung der legis lativen Priorität en durch eine Herrschaft der Richter. Will man gleichzeitig die Kompetenzen des demokratischen politischen Prozesses sichern und starken und insgesamt in diesem Bereich mehr Qualität fordern, so ist die Debatte über die Beschneidung verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenzen letztlich unvermeidlich. Allgemein und freilich simplifiziert beruht der Legitimitätsanspruch der Gerichte auf ihrer Fähigkeit, Kontroversen solchermaßen in rechtliche Argumente zu übersetzen, dass sie entscheidbar sind, ohne dem Verlierer noch eine Chance der 0 Unterstützung für die Fortsetzung des Streits zu geben." Lässt ein Urteil mehrere Varianten der Auslegung zu. gerät das Gericht konsequenterweise selbst in den Streit. Nicht nur in den Vereinigten Staaten lösen Entscheidungen zunehmend symbolische Kreuzzüge aus, anstatt politische Diskussionen beizulegen. Diese Tendenz des Gerichts, seine Rechtsprechung bis in politische Maßnahmen hineinreichen zu lassen, und zudem die Verfassung als fortwährende Weiterentwicklung immer neu zu interpretieren, bringt sie selbst in die politische Diskussion. Sie gefährdet damit zwei Erfolgskriterien, die über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Verfassungsgerichts entscheiden : zum einen, inwieweit den Entscheidungen Folge geleistet wird, sondern auch inwieweit diese andere Entscheidungsarenen determinieren. Daran gemessen erreichen manche Verfassungsgerichte bereits die Grenzen der Akzeptanzb ereits chaft i nnerhalb der jeweiligen Rechtskultur. Die Vereinigten Staaten als Ursprung der hier diskutierten Gestalt der Verfassungsgerichtsbarkeit waren fast zwingend auch der Ausgangspunkt der verfas83 1 sungsrechtlichen Sensibilität für die sogenannte ..political question".
sogar dessen Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht schon als vorhanden ansehen (so K. Dolze r. Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane. 1982. S.29ff. am Bsp. von EuGRZ 1983. 57 (70)). 82 9 Vgl. auch \V. Brüggen Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg, Heft 3/1994. S. 22ff, 23. 83 0
Vgl. auch N. Lahmann, Legitimation durch Verfahren. 1969. Hierzu insbesondere F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die Political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court. 83 1
1965. Vgl. auch den Überblick bei Prozess. 1968. S. I ff.
H. Ltuifer. Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
28 7
Mit dem Fall Luther v. Borden (1849) 83 2 hat der Supreme Court, um zunächst der Entscheidung politischer Fragen auszuweichen, die Doktrin der „political question" eingeführt. Der Grundgedanke dieser These ist darin zu sehen, sich bei verfassungsrechtlich nicht eindeutig entscheidbaren Fällen nicht in den demokratischen Prozess einzumischen. Vordergründig sollte die Rolle des Richters als politisches Gegengewicht zur Exekutive und Legislative beschränkt werden. In anderen Worten: weitreichende politische Reformen sollten durch den politischen 83 3 Gesetzgeber und nicht durch den Supreme Court eingeleitet werden. So viel zur Theorie. Allerdings: Die Rolle des „stillen, aber lauernden Beobachters" kann durchaus auch bereits eine politische Dimension in sich tragen. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lassen sich in der Rechtsprechung des Supreme Court zwei Phasen unterschiedlicher Kontrolle feststellen. In der nach dem Präsidenten des obersten Gerichts benannten „Lochner-Ära" (etwa
83 4
zwischen 1905 und 1937) wurde das vorwiegend wirtschaftslenkende Gesetzeswerk einer umfassenden Kontrolle unterzogen („strict scrutinity test"). Basierend auf der Erwägung, solche Gesetze würden die Vertragsfreiheit und im besonderen Maße das Eigentumsrecht beschränken, forderte der Supreme Court zu deren Rechtfertigung substantiell gewichtige öffentliche Interessen, deren Vorliegen er im einzelne n über prüf te. Annäh ernd 160 Gesetz e hielt en schließlich dieser Überprüfung nicht stand. Wohingegen sich der Gerichtshof in der sogenannten „NachLochner-Ära" nach 1937 spürbar zurücknahm und ein Gesetz regelmäßig nur dann für verfassungswidrig erklärte, wenn es willkürlich, diskriminierend oder nachweisbar ungeeignet zur Ereichung des Ziels war, das der Gesetzgeber frei wählen konnte („rational basis test"). Aus dem erstgenannten Stadium der Rechtsprechung ist eine dissenting opinion des Richters H. F. Stone bemerkenswert, der 1936 in der Blütezeit der sogenannten „New Deal"-Gesetzgebung, in der der Supreme ein landwirtschaftliches Sanierungsprogramm Präsidenten Rosseveit Court für verfassungswidrig erklärt hatte, seine abweichendedesMeinung wie folgt begründete: ..The power of courts to declare a Statute unconstitutional is subject to two guiding princi ples of decision whic h ought never to be absent fr om judicia l conscio usnes s. One is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom. The other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative
83 2
48 US (7 How.) 1. 12 L. Ed. 581. Siehe auch B. Kroll. Der Supreme Court - das oberste Gericht der USA. in: JuS 1987. S. 944 ff.. 947. 83 4 Dazu aus dem deutschen Schrifttum J. Wittmann, Self-restraint als Ausdruck der Gewaltenteilung, in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. 83 3
Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat. 1999. S. 109 ff., 110 ff. und vor allem Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987. S. 38 ff.
W. Brugger.
288
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
branches of the government is subject to judicial restraint. the only check upon our own exercise of power is our own sense of self-r estraint . For the removal of unwi se laws fr om the Statute books appeal lies, not to the courts. but to the ballot and to the processes of democratic government."*"
Soweit ersichtlich taucht an dieser Stelle der Begriff „self-restraint" im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erstmalig auf. Im Wesentlichen geht es bei der Beantwortung der Frage, ob nun eine „political question" vorliege stets um die selben Problemkreise: Handelt es sich um eine Rechtsfrage, was ist also justiziabel, und was eine „political question"? Im Ergebnis lässt sich dabei keine stringente Rechtsprechung des Supreme Court erkennen. Studiert man die Fülle der Entscheidungen des Supreme Court zur political-question-Theorie, so lässt sich eine klare Linie schwerlich feststellen; sie wird äußerst flexibel gehandhabt. Nur zählt es zum Geheimnis des Supreme Court festzulegen, wann er eine politicalquestion annimmt und wann nicht. Manche Sozialwissenschaftler haben zuweilen von einer richterlichen Vorherrschaft im amerikanischen Herrschaftsprozess gesprochen. Bei näherer Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der USA erscheint jedoch etwa der Begriff „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen 1890-1937 extensiver auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts zurückwies und vor allem in den ersten Jahren des Rooseveltschen New Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte. Ansonsten aber hat sich das Oberste Bundesgericht in vergleichsweise nüchterner Einschätzung etwaiger Friktionsfelder und potentieller Ansehensverluste politischen Auseinandersetzungen eher entzogen und sich bevorzugt für unzuständig erklärt als in 83 6 öffentliche Konflikte eingemischt. Alles in allem hat aber die mehr als zweihundertjährige Rechtsprechung dem Obersten Gericht soviel Autorität eingetragen, dass es längst zum respektierten Partner im Geflecht der checks and balances, der politischen Willensbildung und Machtausübung geworden ist. Demoskopische Erhebungen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder belegt, dass das Ansehen der Institution Supreme Court in der Bevölkerung viel größer ist als dasjenige der Präsidentschaft, vom Kongress ganz zu schweigen.
83 5
United States v. Butler. 297 U.S. 1 (1936). Das Oberste Gericht kann sich also weigern, dort Recht zu sprechen, wo es die Verantwortung für die Folgen seiner Entscheidung nicht übernehmen kann. Es erklärt dann solche Fälle zu ..political questions". Als solche werden vor allem Rechtsstreitigkeiten mit möglichen internationalen Implikationen betrachtet, etwa Konflikte im Bereich der auswär83 6
tigen Beziehungen (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen. Grenzstreitigkeiten. Anerkennung von Staaten. Einreiseverweigerungen für Ausländer oder deren Ausweisung).
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
(3)
Iiikurs:
289
„counter-majoritarianism"
Die Praxisäußeren des Supreme Courts,anzupassen durch ständige Auslegung den Verfassungstext veränderten Umständen ist letztlich bedeutsamer als die die gelegentlich spannungsgeladenere und im Ausland bis heute mehr beachtete Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts, das jedoch in Wirklichkeit nur einen kleinen Ausschnitt aus der fortlaufenden Interpretationstechnik der Verfassung 8 7 durch die amerikanische Gerichtsbarkeit darstellt. ' In den Vereinigten Staaten wird die Betrachtung von Problemkreisen der Verfassungsgerichtsbarkeit gerne auf den Begriff der „counter-majoritarianism" reduziert. also auf das Problem der „gegen-Mehrheitlichkeit". Anders als etwa in Deutschland oder Österreich dient letzteres vielen als eines der führenden ParaS3 S digmen des amerikanischen Verfassungsrechts schlechthin. Grundsätzlich ist die Debatte über das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokra83 9 tie und Rechtsstaat umfangreich und kann hier nicht verfolgt werden. Hierbei wird bemängelt, dass meist auf lange Zeit gewählten und nur unzureichend oder gar nicht verantwortlichen Richtern die Kompetenz erteilt wird. Gesetze eines demokratisch legitimierten Parlaments zu annullieren. Gerichte würden auch diesbezüglich Politik treiben, anstatt Recht zu sprechen. Befürworter wollen dagegen das demokratische Prinzip durch Theorien über die „Selbstbindung" der Legislative und die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten retten"
0
. Für
83 7
So bereits K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S.36. s58 Hierzu insbesondere A Bickel, The Least Dangerous Branch - The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962. Es sind jedoch vermehrt Stimmen vernehmbar, die einer allzu erhöhten Stellung dieses Gedankens kritisch gegenüberstehen, vgl. nur B.A.Ackerman, The Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984), S. l()13ff.
S. 1016: „Hardly a year goes tobythe without some learned professor that darkly, he has discovered the final Solution countermajoritarian difficulty. announcing or, even more that the countermajoritarian difficulty is insolvable." Siehe auch E. Chemerinsky, The Supreme Court 1988 Term - Foreword: The Vanishing Constitution, in: 103 Harvard L. Rev . (1989). S .4 3f f. ; ders., The Price of Asking the Wrong Question: An Essay on Constitutional Scholarship and Judicial Review, in: 62 Texas L. Rev. (1984). S. 1207 ff.: B. Friedman. Dia logu e and Judicial Review , in: 91 Mich iga n L. Rev. (1993 ), S. 577 ff.; jVf. V. Tushnet. Anti-Formalism in Recent Constitutional Theory, in: 83 Michigan L. Rev. (1985), S. 1502 ff.; mit dem Versuch einer Umkehrung der Problematik („the majoritarian difficulty") auch S. Croley, The Majoritarian Difficulty: Elective Judiciaries and the Rule of Law. in: 62 The University of Chicago L. Rev. (1995), S. 689 ff. 83 9 Für die amerikanische Diskussion wohl am bekanntesten A. Bickel (1962) und J.H. Ely, Democracy & Distrust. 1980; vgl. allgemein M. Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective. 1989. S. 3 ff.; für das deutsche Recht ist die Auseinandersetzung in der Weimarer Republik zwischen C. Schmitt un d H. Kelsen immer noch äußerst beachtenswert. 84 0 Vgl. etwa U.K. Preuß, Umrisse einer neuen konstitutionellen Form des Politischen, in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, erw. Neuausg. 1994. S. 123 ff.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
jVf. Cappelletti drücken Verfassungen die Positivierung höherer Werte aus. und Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Methode zur Durchsetzung dieser Werte
84 1
.
Dieser normative Streit muss an dieser Stelle nicht gelöst werden, unabhängig 842 davon, dass er wohl kaum plausibel auflösbar ist. . Entscheidend ist, dass diese Debatte - mit annähernd den gleichen Argumenten auf beiden Seiten - überall dort auftreten wird, wo die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt wird und sich gegenüber der Politik emanzipiert. Auf der einen Seite steht dabei typischerweise die Ideologie der „Volkssouveränität", die verfassungsgerichtliche Beschränkungen des Mehrheitswillens als „undemokratisch" verwirft. Auf der anderen Seite offenbart sich der „Konstitutionalismus", welcher die Bindung der Politik an eine Verfassung als Eigenwert begreift und den Mehrheitswillen diesen Bindungen unterordnet. Der „Legalismus" steht wohl zwischen diesen Prinzipien. Er verweist zwar auf die Herrschaft des Rechts über die Politik - und damit auf den „Rechtsstaat", ist aber weniger mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, als eher mit dem gesetzgebenden Parlament verbunden. c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichts barkeit - Richtwerte für den EuGH? Gerade im Hinblick auf eine Überprüfung der verfassungsgerichtlichen Elemente des EuGH sollen auch übergreifend kennzeichnende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit wenigstens angerissen werden, wobei bereits hier festgestellt werden darf, dass es bei den Kompetenzen und Funktionen durchaus zu Verschränkungen kommen kann, was auf dem Umstand beruht, dass beide unmittelbar einander zu bedingen wissen. Wie anders sollte beispielsweise die Funktion der Wahrung der Gewaltenbalance ohne die Kompetenz über Organstreitigkeiten aufrecht zu erhalten sein? Oder eine wirkungsvolle, evolutive Grundrechtssicherung ohneherstellbar wenigstenssein? eine dem Verfassungsbeschwerdeverfahren ähnliche Kompetenz
1,41 M. Cappelletti (1989), S. 118. 120. Freilich ließe sich pragmatisch argumentieren, dass es schlicht sinnvo ll sei, eine Insta nz zu scha ffen, die auf juri stis chem Wege polit ische Konflik te letztendli ch entsche idet. D ies setzt aber voraus , dass man die Vorh err scha ft des Rechts anerkennt.
* 42 Einiges mag dafür sprechen, die Institution des Verfassungsgerichts als „Dritte Kammer" des legislativen Prozesses zu begreifen (vgl. A. Stone, The Birth of Judicial Politics in Franc e. 1992. S. 209 ff.). Wie bereits der „Sc höp fer " des euro päis chen Mode lls der Verfassungsgerichtsbarkeit. H. Kelsen . festgestellt hat. wird ein Verfassungsgericht unvermeidlich legislativ tätig.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
aa) Verfassungsgeri chtlichc Interpretationspotentiale Verfassungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten
29 1
im
Im vollausgebildeten Konstitutionalismus stellt sich zudem die Frage des Verfassungsg erich t! ichen Inter pret atio nsmo nopo ls, so wie es sich in den USA herausg ebildet hat. Diese Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur prägt zunehmend „westliche", auch ansatzweise „nicht-westliche" Verfassungsstaaten. Ein wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungshermeneutik ist umfassend und jenseits schüchterener Debatten vorläufig nur in den USA in Gang gekommen. Er bewegt sich „Toward a Constitutional Hermeneutics" 84 1 , wie sie sich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden 84 4 „interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" niederschlägt und in einen weiteren Zusammenhang von „katholischen" und „protestantischen" Interpretatio nsschemata erstellt w ird 84 5 . Diese stets politisch aufgeladenen Diskurse offenbaren die grundsätzliche Notwendigkeit einer vergleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik in den mit verfassungs-richterlichem Prüfungsrecht ausgestatteten Politien der USA. Deutschlands, Kanadas, Australiens und Frankreichs. Die Idee und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit griff in Europa erst spät Platz. Zwar gab es in Westeuropa Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern einige Bestrebungen, die Gesetzgebung einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu unterwerfen. Aber nur in Österreich gelang es 1920 unter dem Einfluss des Staatsrechtlers H. Kelsens, ein wirklich aktives Verfassungsgericht in der Verfassung zu verankern. Die Ausbreitung dieser Institution fand in Westeuropa erst nach dem zweiten Weltkrieg statt. Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit kein unabdingbares Element einer Demokratie ist, zeigen die vielen als demokratisch verstandenen Staaten, die über diese Institution nicht verfügen, so wie etwa England. Auch Frankreichs court constitutione! verfügt nicht über die Kompetenzen z. B. des deutschen Verfassungsgerichts und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten eine größere Rolle im politischen System erkämpfen können. Mit Vorsicht ist eine Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit in die historische Entwicklung des ..Rechtsstaats" oder der „Rule of Law" zu behandeln, wie 84 6 das deutsche und das englische Beispiel zeigen. 843 G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics. in: American Journal of Political Science, No'. 2, vol. 32, 1988. S. 369 ff. 84 4 Dazu etwa D. P. Kommers , The Supreme Court and the Constitution: The Continuing Deba te on Judicial Review, in: The Revie w of Politics. No. 3, vol. 47, 1985. S. 113 ff. 84 5 Hierzu beispielsweise das wichtige Werk von H. Levinson . Constitutional Faith. 1989. 84 6 Die Konzeption des Rechtsstaats war alles andere als eine universelle Idee, sondern hat sich in einem ganz bestimmten sozio-politischen Umfeld entwickelt. Sie entstand in
292
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Die Ver fassungsge richtsbar keit findet weltweit zur Durc hsetz ung ihrer gen Verfassung immer weitere Verbreitung und trägt damit in den entsprechenden
jeweili-
Ländern implizit zur Festigung oder Ausformung gewisser gesellschaftlicher Strukturen bei. Zur Verwirklichung der normativen Anforderungen und zur Erhaltung des verfassungsrechtlichen Konsenses leisten Verfassungsgerichte einen wesentlichen Beitrag. Die Verfassung wäre ohne die Verfassungsgerichtsbarkeit lediglich auf ihren sozialen, gesellschaftlichen Rückhalt verwiesen. ne in Konfliktfällen drohende Aufzehrung des verfassungsrechtlichen Konsenses
847
Um aber ei-
zu vermeiden, ist die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit nahezu unverzichtbar. Vefassungsgerichten ist grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, einen von politischen und Handlungszwängen sowie Machterhaltungsinteressen vergleichsweise unabhängigen Blick auf die Verfassung zu werfen. Politisch wie gesellschaftlich bedeutsam und gegebenenfalls wirkungsvoller als die konkrete Gerichtsentscheidung kann dabei die generelle Existenz der gerichtlichen Kontrolle bereits im Vorfeld einer „drohenden" Auseinandersetzung mit anschließender Entscheidung in einer Streitsache sein, da Beteiligte wie politische Instanzen gezwungen sein können, die Verfassungsfrage bereits verhältnismäßig früh und 848 unabhängig zu stellen.
Deut schl and aus de m für die Restaurations/ .eit nach den Unru hen von 1848 charakteri schen Kompromiss zwischen Liberalismus und Konservatismus. Deswegen unterscheidet sie sich historisch auch grundlegend von der Idee der ..Rule of Law". Die Ideologie der „Rule of Law" entstand historisch in England unter dem Einfiuss einer starken Mittelklasse, die das Parlament kontrollierte und einer relativ schwachen königlichen Bürokratie, während die kontinentalen Rechtsstaatsprinzipien sich vor dem Hintergrund von machtvollen und zentralisierten Bürokratien entwickelten, dessen Türen die ..Bourgeoise" nicht niederreißen konnte, sondern an denen sie anklopfen musste, um Zugeständnisse zu erreichen. Der ..Rechtsstaat" erwies sich flexibel genug, um im monarchisch-bürokratischen Kaiserreich genau wie der Weimarer Republik und der Bundesrepublik eine der tragenden Staatsprin-
sti-
zipien zu sein. Begriffs hat sich im jedoch seit seinem ersten die Gebrauch radikal verändert, wennDer manInhalt seinedes heutige Bedeutung deutschen Staatsrecht, auch demokratische und sozialstaatliche Aspekte umfaßt mit der Vorstellung vergleicht, die seine frühen Verfechter hatten. Ähnliches gilt für die „Rule of law". War diese Doktrin anfänglich vor allem eine liberale Philosophie, hat in den USA unter ihrem Banner der Supreme Court eine Rechtsprechung geschaffen, die den Staat auf die Durchsetzung von Bürgerrechten verpflichtet-eine am Anfang des 19. Jahrhunderts undenkbare Entwicklung. Eine Minimaldefinition des „Rechtsstaats" könnte gleichwohl auch den Begriff „Rule of Law" umfassen. Eine umfassende Bibliographie zum Themenkomplex „Rule of Law" findet sich auf der Website der Wellbank unter http:/Avwwl.worldbank.org/publicsector/legal/annotated.pdf. 84 7 Auch wenn der soziale Rückhalt hinreichen sollte, absichtliche Verfassungsverstöße zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungsrechtliche Anforderungen ausschließen, vgl. auch D. Grimm. Verfassung, in: Staatslexikon, hrsg. v. d. Görr es- Ges ells cha ft, 7. Aufl.. Bd. 5, 1989 und 1995. S. 634 ff.. 639. 84 8 Bei einem Scheitern dieser „vor-gerichtlichen Wirkung" ist es dann Aufgabe eines funktionierenden Verfassungsgerichts, die Verfassung dem politischen oder gesellschaftli-
chen Streit zu entziehen und ihrer in diesem Fall entscheidenden Funktion als Konsensbasis widerstreitender Interessen wieder zuzuführen. D.Grimm (1989 und 1995) betont aber
IV. Die Bestäti gung u nd Festigung des Verfassungssta ates
29 3
Mit dem Argument, auch Verfassungsgerichte seien gesellschaftlich oder öffentlich verantwortlich, wird teilweise in der Politik- und Rechtslehre der Versuch angestellt, eine der Politik äquivalente Verantwortlichkeit der Verfassungsge84 9 richtsbarkeit zu formulieren. Dieser Gedanke verdient Unterstützung, da er alle Beteiligten der Verfassungsöffentlichkeit daran erinnert, was „Verfassung" neben allen anderen Definitionen noch ist: ein Leitfaden für Verantwortungsübernahme, ein Dokument zur Regelung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Dabei sollte im verfassungsgerichtlichen Kontext allerdings eine Differenzierung von individueller Verantwortlichkeit der Richter und institutioneller Verantwortlichkeit des 8 50 Gerichts vorgenommen werden. Selbstverständlich sind zu den verfassungsgerichtlichen Kompetenzen neben den beiden bereits genannten die konkrete und abstrakte, die vorbeugende und auch gegebenenfalls völkerrechtliche Normenkontrolle, unterschiedliche Verfassungsschutzverfahren sowie in föderalen Ordnungen Bundesstaatsstreitigkeiten zu zählen. Wahlprüfungsverfahren und Gutachtenkompetenzen sollen nicht unerwähnt bleiben, wenngleich für den berechtigten Status eines Gerichts als Verfassungsgericht insgesamt nicht alle Kompetenzen gegeben sein müssen. Allerdings ist ein Min dest maß a n verfassungsgerich tlichen F unktionen zu fordern, die von der Grundrechtssicherung über den Schutz maßgeblicher Verfassungsprinzipien (wie 8 51 Demokratie. Rechtsstaatlichkeit, Vorrang der Verfassung , Gewaltenbalance im Kontext mit der Trennung der Staatsgewalten) bis zur Sicherung des Pluralismus 8 52 und implizit dem Minderheitenschutz zu reichen haben. Für die europäischen, einzelstaatlichen Verfassungsgerichte ist das Aufrechterhalten einer kooperativen zutreffend, dass ,.|d]ie Bereitschaft, Machtfragen durch Gerichte schlichten zu lassen, I...] freilich soziale und kulturelle Wurzeln [hat], die keineswegs überall, wo eine Verfassung besteht, gegeben sind. Fehlen sie. werden Verfassungsgerichte mit den Machthabern kurzgeschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Beide Male ist der Schaden für die Verfassung größer als beim völligen Verzicht auf Verfassungsgerichtsbarkeit." 84 9 Siehe etwa M. Cappelleiti, Who Watches the Watchmen?, in: ders., The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989. S. 57 ff.. 79 ff.: dazu auch U. Haltern . Verfassungsgerichtsbarkeit. Demokratie und Mißtrauen. 1998. S. 200 f. 85 0 Siehe auch B. Friedman, Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993). S. 577 ff. 851 Über die Verfassungsgerichtsbarkeit als ..Instrument zur Sicherung des Vorrangs der Verfassung" sehr instruktiv C. Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. in: C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa. Teilband I: Berichte. 1986. S. 11 ff. Zu den antiken Grundlagen auch des Prinzips des Vorrangs der Verfassung vgl. bereits E.S. Corwin, The ..Higher Law". Background of American Constitutional Law, in: 42 Harvard L. Rev. (1928), S. 149ff. 153 ff. 85 2 Vgl. auch die Aufzählung bei P. Hiiberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 311 ff., S. 319. der noch die „friedliche Einordnung des nationalen Verfassungsstaates in regionale Verantwortungsgemeinschaften" unter dem Stichwort der „Völkerrechtsfreundlichkeit" und „die behutsame, buchstäblich so verstandene .Fortschreibung der Verfassung" nennt.
294
B. Verfassungserweckung
und Verfassungsbestätigung
Beziehung zum EuGH miteinzubeziehen (ohne dabei näher auf den vom BVerfG geprägten Begriff des „Kooperationsverhältnisses" eingehen zu müssen).
853
Daneben lässt sich an weiteren Variablen, die den genannten Elementen einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit hinzugefügt werden sollen, der Institu854 tionalisierungsgrad von Verfassungsgerichten messen Dabei ist zunächst die Autonomie zu nennen, als Fälligkeit von Institutionen, unabhängige Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Je weniger sie dabei in Abhängigkeit zu anderen Institutionen stehen, desto höher der Institutionalisierungsgrad. Trotz ihres Ranges als Verfassungsorgan sind die Verfassungsgerichte nicht in der Lage, ihre Entscheidungen selbst durchzusetzen, sondern hängen dabei von der Akzeptanz ihrer Judikate bei den Adressaten ab. bzw. von deren Bereitschaft, überhaupt eine judizielle Konfliktbeilegung zu wählen und nicht in andere Formen der Konfliktbewältigung auszuweichen. Diesbezüglich wird man dem Supreme Court der Vereinigten Staaten einen hohen Grad an institutioneller Autonomie zubilligen können. Prinzipiell dürfte aber der Autonomiegrad im Bereich der Entscheidungsfindung wesentlich höher als im Bereich der Umsetzung sein, was die Verfassungsgerichte wiederum durch spezielle Formen wie Apellentscheidungen, verfassungskonforme Auslegung oder auch Fristsetzungen 855 zu kompensieren suchen.
85 3
Vgl. beispielsweise U. Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemein schafte n. Nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift E.Grabitz, 1995, S.57ff.: ders.. Die Rolle des Europäischen Gericht shofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), R eform der Europäischen Union. 1995. S. 256 ff.: M.A. Dauses, Aufgabenteilung und judizieller Dialog zwischen den einzelstaatlichen Gerichten und dem EuGH als Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens. in: O.Due u.a. (Hrsg.), Festschrift für U.Everling. 1995. Band 1, S.223ff.: C.Tomuschat, Die unter der Aufsicht des. Bundesverfassungsgerichts, in: des EuGRZ 1993,Europäische 489 ff.. 494Union f.: M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter Staates im Prozess der europäischen Integration - Bemerkungen zum Maastricht Urteil, in: DVBl. 1994. S. 316 ff.. 323 f.: H. Gersdorf. Das Kooperationsverhältnis zwischen deutscher Gerichtsbarkeit und EuGH, in: DVB1.1994. S. 674 ff. 85 4 Diese folgenden Elemente (und gegebenenfalls Prinzipien) sind teilweise an Gedanken von R. Lhoita, Paper zur gemeinsamen Tagung von DV'PW. ÖGPW und SVPW am 8./9. Juni 2001 in Berlin zum Thema: ..Der Wandel föderativer Strukturen", Verfassungsgerichte im Wandel föderativer Strukturen - eine institutionentheoretische Analyse am Beispiel der BRD. der Schweiz und Österreichs. 2001. angelehnt. Lhoita bettet seine Überlegungen freilich primär in eine Betrachtung bundesstaatlicher Besonderheiten ein. 85 5 Bei den als hochgradig politisch rezipierten Entscheidungen kann jedoch die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen rasch absinken. Dies hat etwa der Nachhall zum Präsidentschaftsurteil ..Bush-Gore" in den Vereinigten Staaten (1998/99) oder in Deutschland auf den „Kruzifix-Beschlusses" (BVerfGE 93,1) des BVerfG gezeigt. Soweit eine unterlegene Prozesspartei scharfe Kritik übt. ist sie verständlich und meist auch bald vergessen, (vgl. zur ..Richterschelte in Deutschand" etwa H.-J. Vogel. Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am. Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978. S. 665 ff.). In
IV. Die Bestäti gung u nd Festigung des Verfassungssta ates
29 5
Als weiterer Aspekt ist die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit von Verfassungsgerichten hervorzuheben, womit die Möglichkeit von Institutionen gemeint ist, sich an Veränderungen ihres Kontextes, Adressatenkreises und institutionellen Umfeldes anzupassen und diesen (aktiv oder lediglich durch vorbildhaftes Wirken) zu beeinflussen. Ein vergleichender Blick zeigt allerdings, dass die Verfassungsgerichte im Umgang mit den Kompetenzkatalogen der jeweiligen Verfassungen einen eher restriktiven, gelegentlich dem Bild der Stagnation nicht fernen Kurs verfolgen, der im deutschsprachigen Raum in der sog. „Versteinerungstheorie" gipfelt. Auch die Selbstorganisation als die Fähigkeit einer Institution, interne Strukturen herauszubilden, um ihre Ziele zu verwirklichen und mit ihrer Umwelt umzugehen. gehört in den Reigen typischer, zumindest wünschenswerter Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier ist auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Verfassungsgerichte zu achten sowie auf die Art und Weise, wie das Selbstverständnis der Gerichte in eine eher streitentscheidende (richtende) oder streitvermittelnde (integrierende) Tätigkeit und/oder aktivistische bzw. zurückhaltende Spruchpraxis umgesetzt wird. 85 6 Daneben ist die Fähigkeit der Institution hervorzuheben, ihr eigenes Arbeitsaufkommen selbst zu steuern und Prozeduren zu entwickeln s 57 sowie Aufgaben schnell und effizient zu lösen. Unter den Begriff der verfassungsgerichtlichen Kongruenz soll der Grad gefasst werden, in dem intrainstitutionelle Beziehungen die sozialen Beziehungen abbilden, die sie zu regeln beanspruchen. Hier wird man zweierlei zu berücksichtigen haben: Zum einen richtersoziologische Aspekte, die sich darauf beziehen, inwieweit sich die parteipolitische sowie bikamerale Mitbestimmung bei der Richterwahl signifikant auf die Spruchpraxis der Verfassungsgerichte auswirken. Allem Anschein nach ist dies (soweit hierzu überhaupt Daten vorliegen) weder in
jüngster Zeit indessen wird die Kritik anläßlich einiger Entscheidungen des Gerichts oder seiner Kammern grundsätzlicher. E. IV. Böckenförde etwa hat die Gefahr des Übergangs zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" bzw. „Verfassungs-Areopag" beschworen (siehe ders., Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 ff., 25), B. Großfeld von „Götterdämmerung" geschrieben (ders., Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995. S. 1719 ff.) andere haben den Autoritätsverlust des Gerichts beklagt. Politik. Publizistik und Volkesmeinung in Leserbriefen und Demonstrationen reagierten nach den sog. ..Soldaten sind Mörder"-Entscheidungen (BVerfGE 86. 1 ff.: BVerfG. NJW 1994. 2943 ff.) und dem sog. Kruzifix-Beschluß des Ersten Senats noch viel schärfer. Frühe re Kritiken sprachen vom ..gov emment of jud ges ", von ..richterlicher Zensur", von „richterlichem Veto" oder ähnlichen Charakterisierungen (siehe m.w.N. die Zusammenstellung bei K.Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik. 1980. S. 17). 85 6 So auch R. Lhotta (2001). 85 7 Hier geht es primär um Variablen wie die Zahl der Richter, der Senate, der Assistenten. der Vorselektionsverfahren für Annahme/Ablehnung sowie Geschäftsordnungen, mit denen die Verfassungsgerichte institutionell auf die anfallenden Aufgaben reagieren.
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den USA noch in den mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten europäischen Staaten erschöpfend nachweisbar. Zum anderen, inwieweit es nicht gerade die hochgradig konsensual und parteipolitisch sowie konkordanzdemokratisch geprägten Richterwahlverfahren sind, aus denen Verfassungsgerichte durchaus ihre Autorität und Akzeptanz ableiten können. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Durchbrechungen des Konsensprinzips bei der Richterbestellung auch zu signifikanten Autoritätseinbußen sowie zu legitimitätsschwächenden Diskussionen um die Politisierung der Richter führen können - ein sowohl in Deutschland als auch in Österreich wohlbekanntes Phänomen. Der Supreme Court ist im Gegensatz etwa zum deutschen Bundesverfassungsgericht kein genuiner Verfassungsgerichtshof, der nur über Verfassungsrecht zu entscheiden hätte. Angelegt und von den Verfassungsvätern angedacht war er zunächst als reines Rechtsmittelgericht, sowohl gegenüber Rechtsstreitigkeiten, die vor den Bundesgerichten ausgetragen werden, wie auch gegenüber bestimm858 ten Streitsachen, die ihren Ausgang vor den Einzelstaatsgerichten nehmen. Die bereits benannte, in der Bundesverfassung vorgesehene erstinstanzliche Zuständigkeit fällt dagegen kaum nennenswert ins Gewicht. Wollte man nun eine Gewichtung der oben aufgezählten verfassungsgerichtlichen Kompetenzen vornehmen, so müßte die Befugnis zur inzidenten Normenkonrolle schon eine herausgehobene Stellung erhalten. Allein diese bedeutsame verfassungsgerichtliche Komponente gestattet es, den Supreme Court seit Marbury v. Madison primär als Verfassungsgericht anzusehen. Eine künftige Aufgabe der vergleichenden Forschung sollte es sein, die institutionellen Merkmale und Variablen zur Ermittlung des Einflusses von Verfassungsgerichten auch in ihren Unterschieden klarer herauszuarbeiten und besser aufeinander abzustimmen, um die zweifellos weiter notwendige Analyse von Entscheidungen der Verfassungsgerichte institutionentheoretisch rückzukoppeln und auf diese Weise mehr über den faktischen Wirkungsgrad und die Rolle der Verfassungsgerichte als maßgebliche Beteiligte am staatlichen und gesellschaftlichen Wandel zu erfahren.
85 8 Einen hohen praktischen Stellenwert für seine Funktion als Rechtsmittelgericht nehmen die die Appellationszuständigkeit begründenden Normen von 28 U.S.C. Section 1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus) ein. Nach einer erheblichen Beschränkung des als ..appeal" bezeichneten Rechtsbehelfs durch den 1988 erlas senen Judicial Improvemems and Access to Justice Act. biden die sogenannten „certiorari-Verfahren" den bei weitem größten Teil der zum Supreme Court kommenden Verfahren. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer ..petition for certiorari", den Fall zur Entscheidung anzunehmen, vgl. hierzu auch C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen
in der Rechtsprechung des United 1996. S. 17 f.
States Supreme Court und des Bundesve
rfassungsger
ichts.
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bb) Charakt eristik a selbständiger
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Verfassungs gerichtsbark eit
Darüber hinaus steht der amerikanische Supreme Court exemplarisch und pionierhaft für eine Anzahl charakteristischer Komponenten selbständiger VerfasSS 9 sungsgerichtsbarkeit. Dazu zählt zum einen die Verfassungsorganqualität mi t ihrer notwendigen textlichen Verankerung in der Verfassung (Art. III der amerikanischen Bundesverfassung, wo eine Auflistung entscheidender Kompetenzen des Supreme Courts zu finden ist). Die unabdingbare Garantie richterlicher Un860 abhängigkeit ist dabei von besonderer Bedeutung. Sie wird umso wichtiger, je weniger die beiden anderen Staatsgewalten, die Gesetzgebung und die Verwaltung, voneinander getrennt sind: Die politischen Parteien beherrschen Parlament und Regierung. „Beherrschen" sie auch (ganz oder teilweise) die Medien, zeigt es sich noch deutlicher: Die Richter haben einen (relativ) staatsfreien Lebensbereich im 8 61 Sinne des Gewaltenteilungsprinzips zu sichern. Es geht um Freiheitssicherung durch einen von der politischen Macht (möglichst) abgeschirmten Richter, um Schutz vor der staatlichen Willkür. Das erfordert nicht nur eine formelle (kein Gericht darf zugleich Verwaltungsbehörde sein), sondern vor allem auch eine materielle, sachliche Gewaltenteilung: so sollte ein ausreichender Kernbereich des Privat- und Strafrechts den Richtern zur Entscheidung zugewiesen sein. Es wird naturgemäß vereinzelt Fehlurteile geben. Die Entscheidungsqualität richterlicher Urteile ist aber durch die Unabhängigkeitsgarantie strukturell eine andere als jene 862 der Verwaltungsbehörden.
85 9 Die folgende Aufzählung ist - auch bezüglich inhaltlicher Komponenten - angelehnt an eine Katalogisierung typischer Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit durch P. Huberte , Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 465 ff. Ob sich wenigstens einige dieser Elemente zu ..Prinzipien der Verfassungsgerichtsbarkeit" erheben ließen, sei als (noch) offene Frage nur angedeutet. 86 0
Vgl. ausführlich zum Richterliche ThemenkreisUnabhängigkeit der richterlichenund Unabhängigkeit in in denden Vereinigten Staaten J. Zätzsch, Richterauswahl USA und Deutschland. 2000. 861 Im Kontext mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung steht es außer Zweifel, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies belegt ein Blick auf die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit Marbury v. Madison über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht auch in Deutschland, der im übrigen nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. November 1925 (vgl. RGZ 111. 320) begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht (zur Geschichte G. Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufl. 1919. S. 736 ff.). 86 2 Siehe auch J. Herrmann. Die Unabhängigkeit des Richters?, in: Deutsche Richterzeitung 1982, S.286ff. Kürzlich H.J.Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schran ken, in: NJ W 2001. S. 1089 ff. Bereits fr üh in rechtsvergleichender Perspektive F. Decker. Die Unabhängigkeit der Richter. Ein Bericht über den Internationalen RichterKongress in Rouen. in: Deutsche Richterzeitung 1953. Seite 158 ff. Da die richterliche Unabhängigkeit die Gefahr mit sich bringt, dass ein einmal in ein bedeutendes Amt vorge-
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Der Forderung nach einer unabhängigen Rechtsprechungstätigkeit steht die nach einer rationalen Entscheidungsfindung nahe. P. Häberle betont zu Recht, 86 3 Sie zeichne sich vielmehr durch Verfassungsrechtsprechung sei nicht ..Politik". in ihren Methoden rational nachprüfbare, oft schöpferische „Anwendung" von „Gesetz und Recht" aus. Allerdings ist Verfassungsrecht nach seinem Gegenstand und seiner Zielsetzung nicht nur beiläufig, sondern wesentlich auf die Materie des „Politischen" bezogen und wird auch in gewisser Hinsicht von daher bestimmt. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten können durch ihre Nähe zum Spannungsfeld, das den Begriff der „politischen Macht" umgibt, nicht von diesem abgetrennt werden. Hieraus ergibt sich auch kein Konflikt zu der Aussage Häberles, da diese Streitfragen ja nicht deswegen weniger oder keine „rechtliche Streitigkeiten" sind. Vielmehr bleibt der Grundsatz bestehen, diese einzig und allein nach rechtlichen Grundsätzen zu entscheiden. Es ist daher umso eher ein Wesensmerkmal von Verfassungsgerichtsbarkeit, gerade nicht ein von politischen Aspekten abgetrennter Komplex zu sein. Durch Anwendung und Interpretation des Verfassungsrechts
wenden Verfassungsgerichte ein Rechtsgebiet an, das Politik und deren immanenten Prozess näher zu bestimmen, nötigenfalls zu gestalten, aber eben auch zu begrenzen weiß. Verfassungsgerichtsbarkeit hat damit notwendig eine politische Dimension, wenn sie ihre Aufgabe sachlich und ihrer Verantwortung entsprechend wahrnehmen will. Demzufolge sei als weiteres - der rationalen Rechtsprechungstätigkeit entwicklungslogisch folgendes - Merkmal selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit das Spannungsfeldbewußtsein der höchsten Gerichte hervorgehoben. Ebenso ein demokratische ler Richtigkeit (U. Scheuner,
Charakteristikum selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Legitimation des Verfassungsgerichts. Grundsätzlich darf bei algewisser „Legitimationsketten vom Volk zu den Staatsorganen" P. Häberle) nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass in der
Regel ein vom Volk nicht direkt legitimiertes Gremium von Richtern eine Parlamentsentscheidung der gewählten Volksvertreter außer Kraft zu setzen vermag. Vernünftige Einwände hinsichtlich dieses „undemokratischen" Vorgehens werden schon gerne mit dem Beschwörung des Verfassungsdokuments und der Bezugnahme auf die darin enthaltenen Grundsätze der Staatlichkeit weggewischt. Der Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation ist im Hinblick auf seine tatsächliche Befolgung seit den Anfängen heftig umstritten, jedoch nicht zu verwechseln mit der ebenso hitzig geführten Debatte, inwieweit Verfassungsgerückter Richter dieses gegen die Demokratie missbrauchcn kann, gibt es in vielen Staaten die Möglichkeit der Richteranklage. 863 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6, S.466. 86 4
Vgl. W.J. Witteveen. The Symbolic Constitution, in: B. v. Roermund (Hrsg.), Constitutional Review - Verfassungsgerichtsbarkeit - Constitutionele Toetsing: Theoretical and Comparative Perspectives. 1993. S.79ff., 79.
864
IV. Die Bestät igung und Festigun g des Verfas sungss taates
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richtsbarkeit per se „demokratisch" ist. Bei der Legitimationsfrage geht es darum, ob sich Verfassungsgerichtsbarkeit in einer logischen, im „crescendo" einander bedingenden Abfolge legitimierender Elemente vom Volk zu sich selbst als Staatsorgan wiederfindet. In den Vereinigten Staaten ist dies klarer gewährleistet als etwa in Deutschland (Ernennung durch Wahlmänner aus den Fraktionen des Bundestags, § 6 BVerfGG ). Die neun Richter des Supreme Court werden vom Präsidenten der Vereinigten Staaten nominiert (Art. II §2 par. 2 der Bundesverfassung), der Senat muss sie bestätigen, wobei regelmäßig eine öffentliche Anhörung der Kandidaten stattfindet. 86 5 Der Chief Justice wird vom Präsidenten alleine ernannt. Weshalb also ist die „Legitimationskette" in den Vereinigten Staaten klarer? Die Bundesverfassung sieht für die Wahl des Präsidenten eigentlich eine indirekte Wahl durch ein vom Volk gewähltes Wahlpersonenkollegium (electoral College) vor (vgl. das 12. Amendment). In der politischen Realität ist die Stimmabgabe durch dieses Kollegium jedoch zur reinen Formsache geworden, da nach der Volkswahl der Wahlpersonen die zukünftigen Amtsinhaber praktisch bereits feststehen, obwohl die Wahlpersonen in ihrer Stimmabgabe durch das gliedstaatliche Recht nur selten gebunden werden. Aber auch ein anderer Ausgangspunkt, ein gedankliches „decrescendo", lässt sich für die Legitimation verfassungsgerichtlicher Tätigkeit finden. Sucht man nämlich nach der Rechtfertigung für den Verfassungsgericht!ich geprägten Verfassungsstaat, so ist sie zunächst darin zu erblicken, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird. d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten 86 6 Institution und nicht eines genuin politischen Organs. Ist keine Verfassungsgerichtsbarkeit vorhanden, so entscheidet zwangsläufig allein der Gesetzgeber, ob er sich im Rahmen der Verfassung hält oder nicht, weil es kein Organ über ihm gibt, das Verfassungsschranken überwacht. Die Verfassungsmäßigkeitsprüfung würde allein bei ihm selbst ruhen. Dies aber ist solange bedenklich, als alle parlamentarischen Kontrollmechanismen durch Mehrheitsbeschlüsse überwindbar sind. Verfassungsgerichtsbarkeit soll dabei helfen, Verfassungsstabilität zu sichern, aber auch wie bereits mehrfach angedeutet Wege zur Verfassungsentwicklung ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.
865 Vgl. auch W. H. Rehnquist, The Supreme Court. How It Was - How It Is. 1987. S. 235 ff. 86 6 Siehe auch K. Stern. Der Einfluß der Verfassungsgerichte auf die Gesetzgebung in Bund und Ländern, in: H.H. Klein/H. Sendler/K. Stern (Hrsg.). Justiz und Politik im demokratischen Rechtsstaat. Interne Studien der Konrad Adenauer Stiftung Nr. 119/1996. 1996. 867 Vgl. W. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. S. 319 ff.
86 7 868
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Das Prinzip Öffentlichkeit nennt P. Häberle zu Recht „tragendes Organisati869 onsprinzip für Status und Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit" . Hierzu tragen etwa neben der zu fordernden öffentlichen Entscheidungsverkündung gerade in den Vereinigten Staaten auch die oftmals mitveröffentlichten - und die Diskussion in der Wissenschaft wie in der Bevölkerung bereichernden - Sonder87 voten einzelner Richter bei. " Lediglich die Verkündung eines Urteils mit einer knappen Bemerkung zu den Mehrheitsverhältnissen innerhalb eines Gremiums kann nicht genügen, um insbesondere bei höchstrichterlichen Entscheidungen das Öffentlichkeitserfordernis zu wahren. Die Tragweite einer solchen Entscheidung reicht gewöhnlich über die unmittelbar am Verfahren Beteiligten hinaus, der Gerichtssaal kann selbs t bei „öffentlich er Verhandlun g" nicht al s notwendig er Multiplikator einer kontroversen Entscheidungsfindung dienen, die nur allzu oft die Befindlichkeiten unterschiedlicher Rechtsverständnisse auch in der Bevölkerung wiederspiegelt. Die der Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnende, einzigartige Interpretationsmacht, ergibt sich - soviel an dieser Stelle - insbesondere aus der Verknüpfung von drei Eigentümlichkeiten: nämlich dem Prinzip des „Vorrangs der Verfassung", der letztverbindlichen Interpretationszuständigkeit und dem Fehlen eines allgemein akzeptierten Kanons der Interpretationsmethoden. Die Frage des „Letztentscheidungsrechts". wurde bereits im Vorfeld von 1787 in den Gründungsstaaten der Vereinigten Staaten diskutiert und soll im Zuge einer Betrachtung ausgewählter spezifischer Eigenheiten der amerikanischen Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Ausstrahlungswirkung nicht unerwähnt bleiben. Diese Fragestellung hängt eng mit der Problematik zusammen, wie sich die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat überhaupt begründen lässt. Wie kann man also ein Letztentscheidungsrecht der Gerichtsbarkeit in staatlichen Ordnungen, die zumindestens auf dem Papier die Staatsgewalt dem „Volke" oder den „people" überlassen, rechtfertigen? Die Verfassung, die das Volk (als die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Landes) in der Regel über Kom-
86 8
Siehe B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 1982, S. 162 ff. 86 9 Siehe P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 317. s " Heute ergehen nur noch wenige Entscheidunge n des Supr eme Courts einst immig. Stimmt ein Richter zwar mit dem Ergebnis der von einer Mehrheit getragenen Entscheidung, nicht aber mit deren Begründung oder Herleitung überein. so verfasst er im Allgemeinen eine ..concurring opinion", in der er seine Rechtsauffasung darlegt. Ist er mit dem tatsächlichen Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine „dissenting opinion" oder/und schließt sich der eines Kollegen an. Concurrences und Dissents können sich auch nur auf Teile einer Ent sche idun g bezieh en. Beide stehe n in der Tradit ion der aus der engli schen Gerichtspraxis stammenden „seriatim opinions". Vgl. zu Bedeutung, Praxis und Geschichte der Sondervoten beim Supreme Court. K.-H. Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, 1985. S.59ff.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
petenzen, Verfahren und Begrenzungen staatlicher Gewaltausübung (jedenfalls s mitentscheiden lässt, erfährt ihren besonderen Rang und Vorrang
30 1
1
aus der
Vorgabe als normative Grundlage und verbindlicher Rahmen eben durch das Volk. Eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist demzufolge zunächst die des unabhängigen Moderators, aber insbesondere Bewahrers des Ranges und der Funktionen der Verfassung mit dem Auftrag den in ihr verbrieften Rechten und 8 72 Verfahren Geltung zu verschaffen. Darin geht schlussendlich auch ein Wesensmerkmal der Gewaltenteilung a u f . D e r „Vorabend" der Bundesverfassung in den Vereinigten Staaten bot dabei bereits eine beachtliche Begründungsarbeit: im Jahre 1783 weist der Jurist J. Iredell aus North-C arolin a auf eine Republik hin. „where the law is superior to any or all individuals, and the Constitution superior even
Der EuGH als
Verfassungsgericht.
Verfassungsrechtsprechung
Die Verfassungsrechtsprechung wird gelegentlich als eine „offene Gesellschaft" dargestellt" 75 , die sich nicht wie die anderer Rechtsbereiche zum rechtsdogmatischen Interpretationsmonopol eigne. „Lapidarformeln" hat Böckenförde - wohl im Bewusstsein, sich selbst dem Vorwurf des lapidaren Vorgehens auszusetzen - die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes wie auch anderer rechtstaatlicher Verfassungen genannt, „die aus sich selbst heraus inhaltlicher Eindeutigkeiten weitgehend entbehren" 8 7 6 . Daher prägen oft erst die Interpretationen der Gerichte ihre (immanent stets gegebene) Bedeutung. In neu gebildeten Staaten weisen sie der Institutionalisierung von Recht und Politik die Richtung, wie man an der 87 1 Zum Vorrang der Verfassung u. a. allgemein R. Wald. Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 87 2 Dazu auch E. W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit. Strukturfragen. Organisation. Legitimation, in: NJW 1999. S.9ff., 11 f. 87 3 Auf der Grundlage der Unterscheidung von ..pouvoir constituant" und ..pouvoirs constitues". 87 4 Das Zitat findet sich bei G. Stonrzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: ders.. Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates. 1989. S. 55 ff.. 64. 87 5
So P. Hiiberle. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzeitung 1975. S. 297 ff. 876 E. IV. Böckenförde. Grundrcchtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 27 (1974). S. 1529 f.
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B. Verfa ssungs erweck ung und Verfas sungsbe stäti gung
Priorität erkennen kann, die Verfassungsgerichten in den nach 1990 glücklich „gewendeten" Staaten rund um das zerfallene Sowjetreich oder auch in Südafrika zuerkannt wird.
877
Den Verfassungsgerichten kommt hierbei eine besondere Rolle zu, nachdem ihre Entscheidungen, gewiss nicht ohne Zutun einer veränderten Medienlandschaft, zunehmend zu polarisieren, die allgemeine Diskussionsbereitschaft zu bereichern wissen* 7 8 . Dabei verursacht der EuGH, außer bei den unmittelbar am Verfahren Beteiligten, noch weitaus geringere Empfindungen als die höchsten Gerichte einiger Staaten, was auch mit einer dort gewachsenen Verfassungs-Identifikation und -Sensibilität zusammenhängen mag. So sehr sich Wissenschaft und Politik 879 um einen europäischen Verfassungsbegriff müh(t)en , so beträchtlich ist der Bedarf einer weitergehenden, wahrnehmbaren Konturierung des EuGH (auch) 880 als Verfassungsgericht , um seine Bestimmung als Versicherung und Triebfeder Europas zu akzentuieren. Ein erster, stabilisierender Baustein der Brücke zwischen europäischem Bürger und europäischen Institutionen wäre mit einer Betonung der Verfassungsgericht!ichen Elemente der europäischen Gerichtsbarkeit gesetzt.
87 7 In den Niederlanden wird hingegen der politische Test an der Verfassung eher politischen Institutionen (einschließlich dem ..politisch-rechtlichen Halbblut", dem Raad van State) überlassen. Vgl. auch E. Blankenburg, Die Verfassungsbeschwerde - politisches Instrume nt und Klagemauer von Bürgern. 1997. der darauf verweist, dass ,.|e| ine an sich selbst gewöhnte Demokratie wie etwa die der Niederlande bislang an jegliche richterliche Kontrolle der Gesetze an der Verfassung verzichten zu können |glaubt|: sie muss sich dann gelegentlich von europäischen Richtern vorhalten lassen, dass ihre Institutionen nicht den inzwischen normierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtsverwirklichung entsprechen", siehe auch Benthem vs Staat der Nederlande, EGMR 23 Oktober 1985. Grundsätzlich fand die französische Gerichtsbarkeit einen starken Widerhall in der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei ist in besonderem Maße die formale Prägung durch gewisse Auslegungsmethoden und Stilelemente spürbar, vgl. dazu auch C. Back,
Über des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998), S. 58 die ff.. Auslegungsmethoden 101 ff.. I43ff: P. Pernthaler . Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. JB1 2000. S. 691 ff.. 694 f. Obgleich diese anfänglich eher historisch ausgerichtet und klar vom Vorrang und der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts, des Code Napoleon, beeinflusst waren. 87 8 Beispielhaft das gesteigerte öffentliche Interesse in Deutschland, das durch sozial relevante und kontroverse Entscheidungen und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes geweckt wurde, vgl. hinsichtlich der gesteigerten Kritik am Bundesverfassungsgericht: H.J. Vogel. Videant Judices! - Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht. DÖV 1978. S.665ff: R. Lamprecht. Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996: H.P. Schneider. Acht an die Macht! Das BVerfG als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus?, in: NJW 1999. S. 1303 ff. 87 9 Dazu oben B.II.2.f)nn). 88 0 Auf eine eingehendere Darstellung des zweiten „europäischen Verfassungsgerichts", dem EG MR . wird an dieser St elle verzichtet, vgl . abe r K. W Weidmann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof. 1985: R. Bernhardt. Europäische Menschengerichtsbarkeit, in: P.-C. Müller-Graff/H. Roth (Hrsg.). Die Praxis des Richterberufs. 1999. S. 119 ff.
IV. Die Bestäti gung u nd Festigung des Verfassungssta ates
30 3
Schon bislang war das interne Gewaltengefüge der Europäischen Union durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet. Bedingt durch diese Komplexität sowie die zunehmende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses ist die Bestimmung der angemessenen Rolle der dritten Gewalt in der Europäischen Union mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als in staatlichen Herrschaftssystemen. Die dritte Gewalt wird in der Europäischen Union durch den EuGH S!il sowie das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz (EuG) ausgeübt. Dem Gerichtshof kommt nach den Gemeinschaftsverträgen eine starke Rolle als „Hüter des Gemeinschaftsrechts" zu. In Ausführung dieser ihm übertragenen Aufgabe hat der Gerichtshof über Jahrzehnte eine bestimmende Rolle im Integrationprozess innegehabt. Insbesondere hat er wesentlich zum Ausbau der Gemeinschaft als „Rechtsgemeinschaft" beigetragen. aa) Das Rollengeflecht
des Eu GH
Trotz der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Funktionen der Gerichtsbarkeit in staatlichen Ordnungen und in der Europäischen Union ist die Rolle des EuGH jedoch auch von vielen Besonderheiten gekennzeichnet. Diese ergeben sich insbesondere aus der besonderen Fragilität des föderalen Gleichgewichts in der Europäischen Union, das stets besonders im Blickfeld des Gerichtshofs steht. Der Gerichtshof muss hier die Rolle eines Schiedsrichters zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten einnehmen. Dieser Funktion kommt nach wie vor eine hohe Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des föderalen Gefüges der Europäischen Union zu. Das Erfordernis föderaler Unparteilichkeit kann allerdings auch in Widerspruch zur Rolle des EuGH bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts treten. Eine weitere wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs liegt in der Sicherung der Einheit des Gemeinschaftsrechts. Auf diesem Gebiet hat der EuGH durch seine Rechtsprechung die Entstehung eines hoch effizienten Systems zur Sicherung !,sl
Aus der uferlosen Lit. zum EuGH: J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983; G.G. Saner, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integrati on. 1988; O. Dörr/ U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000). S. 38 6 ff.; P. Häherle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 478 ff.; \V. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas. 1998; P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestaltenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier, Der Europäi sche Gericht shof zwische n Recht un d Politik. 1997; G.Hirsch. Der EuGH im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000. S. 1817 ff.; M.P. Maduro, We the Court. The European Court of Justice and the European economic Constitution. 1998.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts gefördert. Gerade dieses System ist allerdings stets in seinen Funktionsvoraussetzungen durch die gleichzeitigen Prozesse von Vertiefung und Erweiterung gefährdet. Durch etwaige (weitere) Re form en darf jedo ch der Grundsa tz der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts im gesamten Vertragsgebiet nicht gefährdet werden. Dem EuGH obliegt zudem die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts in der Europäischen Union. Das institutionelle Gleichgewicht ist mit dem Prozess der Demokratisierung der Union und der damit verbundenen Bedeutungszunahme des Europ äischen Parlam ents noch kompl exer geworden. Der EuG H hat a uf diesen Wandel mit seiner Rechtsprechung sensibel reagiert. Es ist zu erwarten, dass die Wahrung der institutionellen Balance als Aufgabe des Gerichtshofs in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird. Dem Gerichtshof ist der Schutz der Rechte des Einzelnen gegenüber den Organen der Gemeinschaft anvertraut. Diese Aufgabe wird mit der zunehmenden Vertiefung der Integration und ihrem Vordringen in grundrechtsrelevante Bereiche noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausarbeitung eines eigenständigen Grundrechtskatalogs könnte auch eine Stärkung des EuGH bedeuten. Fraglich ist allerdings, ob auch die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten für Individualrechtssschutz ausreichend sind. Dies ist insbesondere außerhalb des Anw endu ngsb ereic hs der Geme ins cha fts Vert räge probl ematisch . Lange Zeit wurde die Förderung des Integrationsprozesses als eine wesentliche vom EuGH wahrgenommene Funktion angesehen. Es ist jedoch durchaus fraglich, ob der Gerichtshof heute noch vorrangig als ..Motor der Integration" angesehen werden kann. Zwar gehört die Fortentwicklung der Rechtsordnung seit jeher zur Aufgabe der Rechtsprechung in gewaltenteiligen Systemen. Diese Aufgabe steht jedoch unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verantwortungsspielräume der anderen Gewalten. Mit der zunehmenden Demokratisierung und Politisierung des Europäischen Integrationsprozesses haben sich hier auch die Spielräume für den Gerichtshof verengt. Vom Motor der Integration wird der EuGH vorrangig zum Hüter der Rechtsgemeinschaft. Einige Verfassungsgerichte in Mitgliedstaaten der Europäischen Union könnten bereits für sich in Anspruch nehmen, „Europäische Verfassungsgerichte" zu sein - den Vertragszielen und dem großen Ziel einer tatsächlich europäischen Gemeinschaft verpflichtet und damit gelegentlich einem europäischen Verfassungsrecht näher als vielleicht der EuGH selbst erscheint. Nun geht der Aufgabenbereich des EuGH über den allgemeinen Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus, indem er - wie erwähnt - verwaltungsgerichtliche Elemente, aber auch zivilrechtliche und zivilprozessuale Zuständigkeiten
8
"
85 2 Zivilprozessualer Art sind die Zuständigkeiten des EuGH nach dem Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ)
von 1968. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche werden ausführlich von Europa rech t, 2. Aufl 1999. Rdnrn. 709 ff.. 372 ff. m. w. N. geschil dert.
T. Oppermann,
IV. Die Bestäti gung u nd Festigung des Verfassungssta ates
30 5
auf sich vereint. Manche sprechen angesichts dieser Multifunktionalität bereits 883 vom EuGH als „Supreme Court" Europas . Freilich wurde dieser Begriff im europäischen Zusammenhang bereits sehr früh geprägt: Rückblick auf die Gru ndl egu ng des Eu GH s s 4 illustriert:
W. Hallstein hat 1970 im
..Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiziger Gedanke vor: die Verfassungsstruktur der Gemei nscha ft mit einem obersten Gericht zu krönen, das im vollen Sinn des Wortes Verfassungsorgan war. einem Gericht wie der amerikanische Supreme Court in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall, unter dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in 5 der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann."" Lässt sich Hallsteins Ehrgeiz in heutiger Betrachtung nach aristotelischer Unterscheidung als unmäßig oder maßvoll und vernünftig einordnen? Gab oder gibt es tatsächlich übergreifende Entwicklungstendenzen des EuGH zum „Supreme Court" Europas oder verlässt der EuGH bereits abgetretene Pfade hin zu einem „Verfassungsgericht eigener Natur"? Aufhellung könnte ein aktueller Vergleich mit genanntem US-amerikanischen Supreme Court bringen, insbesondere und gerade im Hinblick auf eine verfassungsgerichtliche Methodik des EuGH. Die Fragestellung, welche Elemente einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt inne wohnen (müssten ) und worauf diese weni ger theoretis ch-dogmatisch als institutionell beruhen (sollten), war bereits im unterschiedlichen Kontext 8 6 Gegenstand mancher rechtswissenschaftlichen Untersuchung " . Jedoch sind im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang bislang kaum Ansätze erkennbar, in-
88 3 So etwa T. Oppermann (1999). Rdnr. 382; II. Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssystems der EU. in: ZRP 2000. S.52ff„ 56; U.Everling, Zur Funktion des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften als Verwaltungsgericht, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker. 1993. S. 293 ff., 294. nennt den EuGH „Universalgericht". 88 4
war der zunächst Gerichtshof der EGKS. seit 1958 ist er laut Art.Von 3 f. 1952-1957 des Abkommens überEuGH gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25.3.1957 i.V.m. Art. 220 ff. EGV. 136 ff. EAGV. 31 ff. EGKSV gemeinsamer Gerichtshof der drei Gemeinschaften. 885 W. Hallstein. Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 110. 88 6 Siehe hierzu J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. Einführung und Problemaufriß, in: ders. (Hrsg.), Der Europäische Gericht shof als Verfass ungsgeric ht und Rechtssc hutzinsta nz. 1983. S. 20 f.; J. Coppel/A. O'Neill. The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: 29CMLRev. (1992), S. 669 ff.; F. Jacobs. Is the Court of Justice of the European Communities a Constitutional Court?, in: D. Curtin/D. O'Keeffe (eds.), Constitutional Adjucation in European Community and National Law, Dublin 1992; J. H. H. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously" Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, in: 32 CMLRev. (1995). S. 51 ff. 59 ff.; J. Rinze. The Role of the European Court of Justice as Federal Constitutional Court, in: Eur. Public Law 1999. S. 426 ff.: J. Schwarze, The Procedural Guarantees in the Recent Case-law of the European Court of Justice, in: D. Curtin/T. Heukels (eds.), Institutional Dynamics of European Integration. Essays in Honour of Henry G. Schermers. Vol. II. Dordrecht 1994. S.487 ff.
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wieweit gerade die amerikanische Verfassungstheorie im Rahmen struktureller Gemeinsamkeiten und trotz bestehender Unterschiede Anhaltspunkte für ein stabiles Modell europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit bieten könnte oder bereits geboten hat. Die amerikanische Fasson der Verfassungsgerichtsbarkeit kann einem fruchtbaren Rechtsvergleich dienen, soweit sich die Erfahrungen einer konstruktiven Rezeption zuführen lassen. Angesichts des Vorbildcharakters der amerikanischen Verfassung für eine Vielzahl europäischer Verfassungen liegt für die Europäische Union neben ein em Vergleich des jeweiligen Verfassung sverständn isses eben auch 88 7 eine Gegenüberstellung der höchsten Gerichte nahe. Eine Gegenüberstellung beider Gerichtshöfe sollte aber den oben angeführten Grundgedanken der Verflechtung von „Konservative", im Sinne des lateinischen conservare, und „Moderne" zum Inhalt und zur Leitlinie haben. Verfassungsgerichte können über die allgemeinen, offensichtlichen Funktionen hinaus zwei Bestimmungen erfahren, deren Existenz unbestritten, deren Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit hingegen begrenzt ist: die Verknüpfung des Schöpferischen mit dem Element des Bewahrens, nur vordergründig ein Paradoxon, tatsächlich aber verschmolzen durch das belastungsfähige Band der inneren Bedingtheit. Auch hier treffen sich Konservative und Moderne. Eine diesbezügliche Betrachtung der Methodik hat folglich den Blickwinkel methodischer Instrumente einzubeziehen, die diesen gedanklichen „Treffpunkt" mit Leben erfüllen. Hallstein selbst deutet mit besagtem Zitat bereits Sockel und Artefakt im Gesamtkunstwerk gelungener Verfassungsgerichtsbarkeit an: Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung. Die erhaltenden und innovativen Komponenten höchstrichterlichen Handelns finden gerade hierin ihren Niederschlag. Die zunehmend energischer vorgebrachte Feststellung, der EuGH sei (auch) ein europäisches Verfassungsgericht, kann eben bereits mittels einer Analyse seiner verfassungsgerichtlichen Methodik bekräftigt werden. Im Übrigen ergeben sich aus dem Verfassungsvertrag unmittelbar kaum Veränderungen für die Rolle des EuGH als (einem der) Hüter der europäischen Verfassung. s s s Dies gilt auch für das von der Debatte um eine Grundrechtsbess7 Mit Hilfe „transatlantischer Rechtsvergleichung" könnte der Versuch unternommen werden, methodische Ansatzpunkte für eine „europäische" Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen zu lassen, wobei neben jeweils srcinären Merkmalen auch die Übertragbarkeit gewisser traditioneller theoretischer, dogmatischer und organisatorischer Grundlag en der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die europäische Wirklichkeit zu untersuchen w äre. Basierend auf der theoretischen Diskussion ließe sich zudem die etwaige Möglichkeit zur Adaption zukunft sfähig er instituti oneller Charakteristika analysieren. Der EuGH selbs t hat 1999 ein Reflexionspapier veröffentlicht ( www.curia.eu.int/de/pres/persp.htm) , das die Forderung nach institutionellen Reformen zum Inhalt hat. Dazu G. Hirsch. Dezentralisierung des Geric htssyste ms der Europäischen Union?, in: ZR P 2000. S. 57 ff., H. Rösler (2000). S. 53 ff.
IV. Die Bestäti gung u nd Festigung des Verfassungssta ates
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schwerde übrig gebliebene Mehr an Individualrechtsschutz in Art. III-365 VerfV. Positiv dürften sich die Aufhebung der Säulenstruktur und die Angleichung der Rechtsformen
auswirken, die
justizfr eie Räum e insgesamt verringern werden.
Offen ist indessen, wie Veränderungen im institutionellen Gefüge, die die Rolle der Kommission schwächen, auf den EuGH rückwirken. Die Verschiebungen im institutionellen Gefüge sind in ihren Folgen derzeit noch nicht prognostizierbar. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass die Entscheidungen der Regierungskonferenz über das institutionelle System in ihren Folgen nicht ohne weiteres überschaubar sind. Die europäische wie die amerikanische Verfassungslehre beruft sich gemeinhin auf Prinzipien innerhalb methodischer und dogmatischer Untersuchungen, seien es Verfassungsprinzipien, Prinzipien der Verfassungsinterpretation" cherweise einmal solche der Verfassungsgerichtsbarkeit. Prinzipien dienen dabei der Ummantelung eines Gedankengerüstes, zuweilen auch dessen Statik.
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oder mögli-
Den genannten Problemkreisen liegt dabei eine gemeinsame Fragestellung zugrunde, die wiederum spiegelbildlich moderne und konservative Ansatzpunkte zu reflektieren weiß: Wie wirkt sich der Entwicklungsgrad einer Verfassung auf das (Selbst-)Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit aus? Höchstrichterliches *** Ausf ührl ich etwa F. C. Mayen Wer so ll Hüter der Europäischen Verfa ssung sein?, in: AöR 129 ( 2004). S. 411 ff. In diesem Kontext interessant: die dem Richteramt angemess ene Zurückhaltung schloß manches deutliche Wort in den Arbeiten etwa von G.C. Rodriguez Iglesias zur Rolle und zum Selbstverständnis des Gerichtshofes dennoch nicht aus. So schrieb er in einem Artikel über den Gerichtshof als Verfassungsgericht (vgl. ders.. De r Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht. 1992): ..Die Rolle des Gerichtshofes als sogenannter .Motor der Integration' soll nicht seiner Rolle als .Hüter der Gemeinschaftsverfassung* gegenüber gestellt werden. Es handelt sich vielmehr um einen Bestandteil seiner Rolle als Hüter der Gemeinschaftsverfassung". An anderer Stelle kritisierte er in unmissverständlicher Weise das dem Maastricht-Vertrag beigefügte sogenannte ..Barber-Protokoll". das der noch zu entscheidenden Auslegung eines Urteils des Gerichtshofes vorzugreifen versuchte, als Eingriff seitens des Verfassungsgebers in die auch in der Gemeinschaftsordnung herrschende Gewaltenteilung. Dass die mit aller gebotenen Zurückhaltung eines amtierenden Richters geäußerte Auffassung auch Wirkung haben kann, mag man aufgrund der im Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Änderung des Art. Ldes Unionsvertrages vermuten: In dem eben genannten Beitrag hatte Rodriguez Iglesias seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass Art. F des Maastrichter Vertrages - der Grundrechtsschutzartikel - zwar eine vertragliche und damit verfassungsrechtliche Bestätigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes darstellt, Art. L des Maastrichter Vertrages dem Gerichtshof die Rechtsprechungsbefugnis über Art. F aber vorenthielt. Die jetzige Änderung von Art. L im Vertrag von Amsterdam übertrug dem EuGH ziemlich genau jene Jurisdiktion hinsichtlich Art. F. die Rodriguez Iglesias damals als notwendig und systemgerecht beschrieben hatte. 889 P. Hiiberle, Europäi sche Verfas sungsle hre, 4. Aufl. 2006, S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Auflage 1995 (Neudr. 1999). S. 19 ff.: R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.
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B. Verfassungserweckung
und Verfassungsbestätigung
Auftreten kann durchau s unterschiedlich e Auspräg ungen zu r Folge haben Je nachdem ob es sich aktiv an einer Entwicklung oder einer Fort-Entwicklung beteiligt. Der US-Supreme Court hat mit zahlreichen Entscheidungen die Möglichkeit vor Augen geführt. Schaffenskraft mit Erhaltungswillen in Einklang gebracht zu haben. 89 " Im europäischen Kontext ist diesbezüglich auch dem Entwicklungsstand einer europäischen Verfassung Rechnung zu tragen. Fernerhin hat in diese Überlegungen der Gedanke einzufließen, ob Verfassungsgerichtsbarkeit selbst gänzlich ohne Verfassung im hergebrachten Sinne existieren könnte, was angesichts der Vertragsstruktur der Europäischen Union bzw. Gemeinschaften (aber auch aufgrund 4 eines „Ensembles von Teilverfassungen* (P. Häberle)]) nahe liegen könnte. Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa. Während allein eine weitgehend unabhängige Rechtsprechung der obersten Gerichte bereits tragendes Fundament abendländischer und amerikanischer Rechtskultur ist, befindet sich die Europäische Union also noch scheinbar im verfassungsgerichtlichen Konsolidierungsprozess. Wenigstens unter dem Blickwinkel eines gewohnten, einzelstaatlich geprägten Verständnisses von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Legt aber nicht gerade die Einzigartigkeit gemeineuropäischer Rechts- und Verfassungskultur wie auch ihre praktische Umsetzung eine differenzierte, optimistischere Betrachtung nahe? bb) Der Eu GH als „Mot or der europäi schen Integrat ion"? Die Rechtsprechung des EuGH erwies sich letztlich als „more powerful than intended". 89 1 Aufgrund seiner „expansiven" Rolle geriet er zunehmend unter den Zwang der Rechtfertigung. Für viele (gleichwohl nicht unumstritten) ist der EuGH ein „Motor der europäischen Integration" (U. Everling), der antreibt, nicht aber 8 92 seine Richtung bestimmt. Wird vor diesem Hintergrund die „ever closer union"
89 0
Dieser Zusammenhang wird unten in B.II, und V. illustriert. Vgl. schon A. W. Green . Political Integration by Juris prudenc e. The Work of the Court of Justice of the European Communities in European Political Integration. 1969. Kap. VII: ..The court builds a system of Community law.'*. Zum Satz ..More Pow erful Than Intended" vgl. den gleichlau tenden A ufsat z in der Financial Tim es vom 22 . August 1974. Siehe auch K.J.Alter Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence. A Critical Eval uation of Theor ies of Legal Integratio n, in: A. -M. Sla ugh te r/A . StoneSw eet /J .H .H . Weiler (Hrsg.). The European Court and Nationa l Courts. Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998. S. 227 ff.. 227: W. Dänzer-Vanotti. Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due/ M. Lut ter /J . Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everlin g, Band 1, 1995, S.205 ff; K. Lenaerls, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians in the European Community, in: Yearbook of European Law 12 (1992), S. 1 ff. 89 2 Vgl. J.H.H. Weiler Journey to an Unknown Destination. A Retrospective and Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, in: Journal of Common Market Studies 31 (1993), S.417ff. Zum Begriff ..Motor ..." U. Everling, 891
IV. Die Bestäti gung u nd Festigung des Verfassungssta ates
30 9
als begrüßenswert erachtet, fällt die Beurteilung der richterlichen Tätigkeit entsprechend günstig aus. In diesem Fall gilt die normschöpfende Rechtsprechung nicht lediglich als Usurpation politischer Vorrechte, sondern als „besonderes Verdienst" 8 9 3 und als Ausgangspunkt für einen „normative supranationalism" 895 Die Kritik am EuGH nahm in den neunziger Jahren zu. Die französische Nationalversammlung beklagte in einer Erklärung wortreich die ausgedehnte Kom896 petenzanmaßung des EuGH. Nahezu zeitgleich legte die britische Regierung ihr Memorandum zur sogenannten „korrigierenden Kodifikation" europäischen
89 4
Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union, in: Europarecht 32 (1997). S. 398 ff. , 398 f. Zur Bedeutung des EuG H als Motor der Integ ration C.-D. Ehlermann, The European Communities, its Law and Lawyers. in: Common Market Law Review 29 (1992). S. 213 ff., 218; G.F.Mancini. The Making of a Constitution for Europe. in: Co mmo n Market Law Revie w 26 (1989), S. 595 ff.; M.LVolcansek. The European Court of Justice. Supranational Policy-Making. in: West-European Politics 15 (1992). S. 109 ff.. 109. 89 3 So K. Bahlmann, Europäische Grundrechtsperspektiven, in: B. Börner u. a. (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag. 1984. S. 17 ff., 19. 894 J.H.H. Weiler. The Community System. The Dual Character of Supranationalism. in: Yearbook of European Law (1981). S. 267 ff.; siehe auch ders., The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff. De mgege nüber hat H.Rasmussen dem EuGH vorgeworfen, ohne demokratisches Mandat weit außerhalb der vertraglichen Ermächtigung zu agieren und dabei die erkennbaren Absichten der Mitgliedstaaten ignoriert. ja, deren Kompetenzen an sich gerissen zu haben, vgl. H. Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986. Rasmussens Kritik ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Zeitgleich unternahmen die Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte den Versuch, verlorenes Terrain gegenüber dem EuGH zurückzugewinnen. 895 Aus der Lit. K.J.Alter. The European Court's Political Power. The Emergence of an Authoritative International Court in the European Union, in: West European Politics
19 (1996), S. 458 ff., 462; dies.. Who Are the ..Masters of the Treaty"? European Governments and the European Court of Justice, in: International Organization 52 (1998), S. 121 ff., 132 f.; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 1997. S. 1; U.Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäisc hen Gemeinschaften nach d em Maastricht-Urteil, i n: A. R andclz hofer/ R. Scholz / D. Wilke (Hrsg.), Ge dächt niss chrif t für Eberhard Grabi tz. 1995. S. 57 ff.. 73 f. ; G. Roller. Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entscheidungen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel der Umweltpolitik, in: AöR 123 (1998), S. 21 ff., 24; H.H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JuristenZeitung 53 (1998). S. 213 ff.. 215: E. Schultz. Die Legitimitätsprobleme des Europäischen Gerichtshofes und die Auswirkungen auf seine institutionelle Autonomie, in: S. Pfahl/E. Schultz/C. Matthes/K. Seil (Hrsg.), Institutionelle Herausforderungen im Neuen Europa. Legitimität, Wirkung und Anpassung, 1998. S. 57 ff.; J.H.H. Weiler. The Transf omati on of Europe . in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff.; B. de Witte. Community Law and National Constitutional Values. in: Legal Issues of European Integration (1991/92), S. Iff. 3. 896 Assemblee Nationale, Quelles reformes pour 1'Europe de demain?, Rapport d'information no 1939, Paris 1996. S. 24.
310
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Rechts vor. Das Vereinigte Königreich strebte an. Urteile des EuGH durch die heimische Gesetzgebung zu korrigieren, wenn sie zu weitreichend erschienen.*" De r Eu GH z og das Miss tra uen der Mitglied staa ten vor allem desw weil er nicht als Hüter der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung
ege n auf sich ,
konstruierten Kompetenzordnung der Gemeinschaft erschien, nicht als ..neutraler Richter", sondern als das „Integrationsorgan der Europäischen Union". Zusicherung des Gerichtshofs, er sei sein eigener Wächter sprechung keine Bestätigung. Selbst J. H. H.
7
89
* Die
899
, fand in der RechtWeiler, beileibe kein Kritiker der
europäischen Integration (wenngleich auch selten das Florett diplomatischer Differe nzier ung führend ), merkt e kritis ch an: „De r Geric htshof nim mt seine als Schutzmann in Europa nicht wahr. Er sagt nicht nein zur Union, wenn sie ihre
Rolle
900
Kompetenzen überschreitet."
Nicht zuletzt durch diese Kritik in seiner Selbstgewissheit erschüttert, urteilte der Eu GH am 5. Okt ober 200 0 erstmals, dass die Gem Ermächtigung agiert habe.
ein sch aft jensei ts ihrer
901
89 7 Memorandum des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom 23. Juli 1996. CONF 3883/96. Anlage. Vgl. auch W. Hummer/W. Obwexer, Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat" und wieder retour? Reflexionen über das britische Memo ran dum über der EuGH vom 23. 7. 1996 zur Frage der ..korrigierenden Kodifikation" von Richterrecht des EuGH, in: EZW (1997) 10, S. 295 ff.. 301 ff. 89 8 So etwa W. Schäuble, damal. Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am 3. Dezember 1999 in der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel in Helsinki (vgl. das Amtl. Protokoll des Tages). 89 9 Dazu etwa die Editorial Comments. Qiiis Custodiet the European Court of Justice?, in: Common Market Law Review 30 (1993), S. 899 ff. 900
Interview in DIE ZEIT vom 22. Oktober 1998. ..In der Unterwelt der Ausschüsse",
S.9. 90 1 Vgl. Rs. C-378/98 Deutschland v. Europäisches Parlament (2000). Urteil vom 5. Oktober 2000 über die RL 98/43/EG (sog. Tabakwerbeverbot). Besondere Aufmerksamkeit verdient die unter Rdnr. 83 ausgeführte Begründung: ..Diesen Artikel Ii. e. Art. 100a EGV] dahin auszulegen, dass er dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewähre, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genannten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit dem in Artikel 3b EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der Gemeinschaft auf Einzelermächtigungen beruhen." Das Gericht bezieht sich auf Art. 3b EG-Vertrag, um mit der begrenzten Einzelermächtigung die Nichtzuständigkeit der Gemeinschaft festzustellen, als sei diese erst mit diesem Artikel normiert worden. Dabei war diese seit jeher das vorwaltende Organisationsprinzip der Gemeinschaft, vgl. auch BVerfGE 89. 155 (Maastricht-Entscheidung). Das war aber allem Anschein nach im Lauf der Jahre angesichts der Spruchpraxis des EuGH unkenntlich geworden. Diese hatte in den Augen eines Beobachters nämlich einen Zustand erreicht, dass „{spätestens mit Maastricht [... ] die der Kompetenzstruktur der Gemeinschaft schon bislang nicht gerecht werdende Postulierung eines ,Prinzips der (begrenzten) Einzelermächtigung' der Vergangenheit angehören" sollte (vgl. T. C. W. Bey-
er. Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, in: Der Staat 35 (1996). S. 189 ff.), obwohl diese Formel erst gerade in den Maastricht Vertrag aufge-
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
31 1
Insgesamt bediente sich der EuGH zur Funktionssicherung der Gemeinschaft einer Rechtsprechung, die homogenisierend auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wirkte. Dabei ließ er Nützlichkeits- den Vorrang vor Legitimitätserwägungen. Nach Einschätzung des früheren Richters am EuGH, G. Hirsch , hatte der EuGH in der Zwischenzeit „auf berechtigte Kritik an einzelnen Urteilen reagiert"* 12 und eine kooperativere Haltung eingenommen. Dass der Gleichklang zwischen den Organen der Europäischen Union wegen des Mangels an harmonisierten Regelungen verloren gehen könnte, erachtet der EuGH zunehmend als ein politisches Problem, auf das er hinweist, das er aber nicht mehr korrigiert. cc) Europäische Rechtsprechung als Spi
egelbild einer offene n Gesellschaft
Die Europäische Union hat zwar mit dem EuGH eine eigene Jurisdiktion, in den jeder Mitgliedstaat einen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollisionsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat. ist jeder nationale Richter auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man die Anzahl der nationalen Gesetze, die inzwischen unmittelbar oder mittelbar auf Europarecht beruhen, wird deutlich, dass nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden, häufig indirekt und ohne zu wissen, dass etwa eine nationale Regelung, die sie anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt. Der Richter ist also zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur dem nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union. Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung als Spiegelbild einer geschlossenen, national homogenen Gesellschaft diskutiert werden kann, sind mithin vergangen. In einem entsprechenden Entwicklungsprozess hat sich auch die Rolle der Richter in Europa gewandelt: die nationale Gerichtsbarkeit wurde „europäisiert" und in ein Kooperationsverhältnis zum EuGH gestellt. Sollte die Rechtsprechung ein 90 3 Spiegelbild der Gesellschaft sein - und sie ist es zumindest teilweise -, dann nommen worden war. Es war also nicht allgemein abzusehen, dass sich ein Wandel in der Auffassung des EuGH abzeichnete, dass das Prinzip durch den Maastricht-Vertrag gestärkt wurde (vgl. auch BVerfGE 89, 155 (181)). Denn der EuGH könnte mit seiner Begründung deutlich machen wollen, dass er die Vertragsänderung von Maastricht zum Anlass nimmt, dem impliziten Wunsch der Politik zu entsprechen und das Subsidiaritätsprinzip zum neuen Maßstab seiner Rechtsprechung zu machen, um somit vom „Prinzip der Funktionssicherung" abzurücken, das die Rechtsprechung in der Vergangenheit dominiert hatte. 902
G. Hirsch. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. NF 49 (2001), S. 79 ff.. 88. 9 03 Zur Frage, ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht: Sieht man als Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von J.J. Rousseau
312
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
kann sich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfahrungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat zahlreiche Facetten bekommen, unterschiedliche Rahmen zumal. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus vielen Ländern und Regionen zwischen Sizilien und dem Nordkap, zwischen den überseeischen Gebieten Frankreichs und Sofia. e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung Die Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit heutiger Prägung und der unmittelbare Gegenstand verfassungsgerichtlicher Auslegung legen den Schluss nahe. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung seien unauflöslich miteinander verbunden. Bedarf es also eines „Mindestmaßes" an Verfassung, um überhaupt verfassungsgerichtlich tätig zu werden oder kann eine Verfassung auch erst durch eine verfassungsgerichtliche Tätigkeit an einem Text oder Rechtsgebilde, das den Anforderungen an eine „Verfassung" noch nicht gerecht zu werden vermag, erwachsen? In anderen Worten: Gibt es Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Verfassung oder ist letztere zwingende Voraussetzung für verfassungsgerichtliches Tätigwerden? Das amerikanische Beispiel steht zweifellos für den Ausgangsfall: einer bestehenden Verfassung mit einer darin (erstmals) festgelegten Verfassungsgerichtsbarkeit. Im europäischen Kontext darf festgestellt werde, das ein „Verfassungsgericht" im weiteren Sinne (EuGH) zunächst „lediglich" einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) „diente" und erst künftig einem Verfassungsvertrag unterworfen wäre. Zwangsläufige Parallelität zwischen Verfassungsgericht und Verfassung ist demzufolge nicht zu konstatieren, gleichwohl ein notwendiges Maß an gleichzeitig auftretenden „Kernelementen" einer Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit.
(1762) ..Der Gesellschaftsvertrag" den Staat konstituiert, so ist das Gesetz Spiegel des volonte general. Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän zu effektuieren und dem leblosen Buchstaben des Gesetzes Wirkung in der Fülle der Lebenssachverhalte zu geben. Dies führt nicht ohne Auslegung und Rechtsforlbildung zum Erfolg. In diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen Sinne und durchbricht damit in legitimer Weise die Gewaltenteilung. Die Auslegung und Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in dem der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser Leitstern kann nicht kurzschlüssig die „vox populi" sein. Nicht Populismus ist Sache der Richter, sondern Realisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft, verfaßt etwa in ..Grundgesetzen", aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren. In diesem Sinne hat die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft, wie sie sein soll, nicht unbedingt der Gesellschaft, wie sie ist. vgl. im weiteren Sinne auch Verfassungsgerichtsbarkei. Demokratie und Misstrauen. 1998.
U. Haltern.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates f)
Vergleichende Aspekte
Verfassungsgerichtsbarkeit
-
Kongruenz
313
der der
Aufgaben
Der Gedanke einer vergleichenden Lehre von der Verfassungsgerichtsbarkeit 901 fand bislang nur recht zaghafte Annäherung. Rechtsvergleichend wie rechtsgeschichtlich ist zwischen einer formell wie institutionell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie das Bundesverfassungsgericht heute darstellt, und einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterscheiden. die im Rahmen der allgemeinen bzw. sonstigen Gerichtsbarkeiten angesiedelt ist („implizite Verfassungsgerichtsbarkeit"). In letzterer Hinsicht ist beispielsweise der Supreme Court der USA, aber auch etwa das Schweizerische Bundesgericht zu nennen. Die deutsche Rechtsentwicklung tendierte dagegen schon früh zu einer auch formell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, deren erste Wurzeln man schon in der Rechtsprechung etwa des Reichskammergerichts entdecken kann.
905
einer komparativen Betrachtungrichtsb lassen sich Archety- die Rechts prepenInetablier ter Verfa ssungsge arkeitauch undunterschiedliche deren Einfiuss auf chu ng und Str uktur de s E u G H feststelle n. A usge prä gt is t dabe i d er Wi der hal l französischer Gerichtsbarkeit. 90 4 Siehe aber P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 312 ff.: H.J. Faller. Zur Entwicklung der nationalen Verfassungsgerichte in Europa, in: EuGRZ 1986. S.42 ff.; A. Weber. Verfassungsgerichte in anderen Ländern, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik. 1995. S. 61 ff.; M. Fromont, La justice constitutionnelle dans le monde. 1996. 9 05 Vgl. etwa U. Scheuner. Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhunde rt, in: C. Starck (Hrsg.), Bundes verfa ssungsger icht und Grundge setz. Festgabe aus Anlass des 2 5-jährigen B estehens des Bundesverf assungsgeri chts, Bd. 1,
1976. S. I ff. Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849. die dem damals vorgesehenen ..Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den Organstreit, bundesstaatliche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsbarkeit auf Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 1871 kannte Vergleichbares dagegen nicht. Im Kaiserreich von 1871 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet. Die Weimarer Verfassung von 1919 schuf dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Verfassungsgericht verkörperte der Weimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser Schritt gelang erst mit dem BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung bekannte sich der deutsche Verfassungsgeber nunmehr zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (Staatsgerichtsbarkeit im engeren Sinne), sondern auch und namentlich für den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz des Bürgers (Verfassungsbesc hwerde) zuständig ist . Gerade de shalb is t das BVerfG verfassungshistorisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von 1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins Werk gesetzt wurde.
314
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Anders als das Bundesverfassungsgericht Deutschlands, das durch seine institutionelle Verselbständigung gekennzeichnet ist, sind dem EuGH ähnlich wie dem US-Supreme Court Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit neben anderen Zuständigkeiten zugewiesen. Der EuGH und der Supreme Court der Vereinigten Staaten sind damit Beispiele für die in die Gerichtsbarkeit eingeordnete Verfassungsgerichtsbarkeit. 91)6 Während in der kontinentaleuropäischen Wissenschaft Arbeiten über die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit vielfach auf die Abgrenzung gegenüber dem parlamentarischen Körperschaften und den jeweiligen Regierungen beschränkt werden 91 " - eine Beobachtung, die sich hinsichtlich einer entsprechenden Einordnung des EuGH überwiegend bestätigt - geht der amerikanische Verfassungsdiskurs gänzlich andere Wege 90 8 , indem er nicht der Gefahr einer Überschätzung des Politischen ausgesetzt ist. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der anglo-amerikanischen Verfassungstradition der Staat als Gegenstand, ja Zentrum gesellschaftstheoretischer Auseinandersetzung vorübergehend annähernd verloren gegangen war. Heute zahlt sich dieser Umstand insoweit aus. als in der amerikanischen Verfassungswirklichkeit und Wahrnehmung derselben der Beitrag anderer sozialer Systeme sowie die Rolle des Individuums einen vergleichbar höheren Stellenwert einnehmen. 9 09 Freilich: Mit gutem Grund sind Einwände gegen eine allzu freimütige Übernahme von Erkenntnissen zur amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es sich doch augenscheinlich um zwei Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick wesentlich vonein90 6 Siehe da/u auch R. Wahl. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001. S. 1041 ff., 1046. 90 7 Siehe etwa K. Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske
u.a.411 (Hrsg.), und Rechtspolitik - Festschrift für Martin 1997. S. ff.: MitStaatsphilosophie Bezug auf das Bundesverfassungsgericht C. Gusy, Kriele, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. 1985: R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führ ung. 1994: dazu kritisch U.R. Haltern. Book Review of Richard Häußler. Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, in: 7 EJIL (1996), S. 137 f. 908 Siehe nur das richtungsweisende Werk von B. Ackennan, We The People 1: Foundations, 1991: vgl. auch P. W. Kahn. Legitimacy and History: Self-Government in American Constitutional Theory. 1992. 1X19 So auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkeit. Demokratie und Mißtrauen. 1997. S. 112 f.. der mit Verweis auf die Gedanken von H. Willke („Systemtheorie III: Steuerungstheor ie", 1995 sowie „Ironie des Staate s - Grun dlin ien einer Staat stheori e polyzentr ischer Gesellschaft", 1992), den Grund der differierenden kontinentaleuropäischen Gesellschaftstheorie darin sieht, dass diese seit Machiavelli durch eine außerordentliche Staatszentriertheit geprägt sei. worin der Politik eine herausgehobene Rolle zukomme, was schließlich zur Folge habe, dass es in dieser Tradition nicht leicht sei, die Rolle der Gesellschaft selbst zu erblicken und auch zu sehen, dass diese selbst Formvorstellungen entwickelt und realisiert habe.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
31 5
ander unterscheiden. Auf der einen Seite die amerikanische Methode, die in der Regel die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall hervorhebt. Dieser steht die kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Die vordergründigen Unterschiede sind jedoch de facto nicht so erheblich. H. Schiwek stellt mit Blick auf die nationalen Verfassungsordnungen hierzu richtig fest, „in beiden Fällen soll eine im einzelnen sehr allgemein gehaltene Verfassung für einen langen Zeitraum als Fundament der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen." Diese Einschätzung gilt etwa für den Europäischen Verfassungsvertrag angesichts seines Umfangs und der Detailtreue nur begrenzt, wobei der Anspruch der langen Gültigkeit durchaus gegeben ist.
91 0
Eine weitere Parallele ist hervorzuheben: Die Rolle des EuGH bei der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts kommt in ihrer historischen Bedeutung derjenigen des Supreme Courts sehr nahe. Auch ist ein Erfahrungsaustausch zwischen EuGH und Supreme Court inzwischen zur guten Gewohnheit geworden und : stellt eine wichtige Ergänzung des transatlantischen Dialogs dar.'" In einer kursorischen Aufzählung und in Ergänzung zu den obigen Feststellungen lassen sich auch bei den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit auf beiden Seiten des Atlantiks (und auch auf EU-Ebene mit Ausnahme des „VolksBezuges") durchaus einige Parallelen erkennen. So bei der - Wahr ung der Integrität der Verfassung und der politischen Existenz des Volkes (C. Schmitt) - Wahr ung der Offen heit und Verfahre nsgerec htigkeit des politischen Prozesses (J.H.Ely) - Aufrechte rhaltung des diskursiven Prozesses vo n demokratische r Selbs therrschaft und Herrschaft des Gesetzes sowie in der - Ane rke nnu ng der Personen als Freie und Gleich e und in der Währ ung der Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Kommunikation (F. Michelman)
91 0
Vgl. H. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht: dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerikanische Rcchtstheorie. 2000. S. 23. 41 1 Gelegentlich rekurriert der Supreme Court vergleichend auf gemeinsame angloamerikanische Rechtstraditionen, vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S.474 Fn. 677: allgemeine rechtsvergleichende Hinweise, mit denen der Supreme Court außerordentlich zurückhaltend arbeitet, finden sich ebenda sowie bei M. Tushnet, The Possibi lities of Compa rat ive Constit utional Law, in: Yale Law Jour nal . 108 (19 99) . S. I22 5f f, 1230 ff.; siehe auch W.H. Rehnquist, Verfassungsgerichte - vergleichende Bemerkungen, in: P. Kirchhof/D.P. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz. 1993, S.454. Kritisch gegenüber der ..Einbahnstraßenpraxis" des Supreme Courts 1991.S. 151.
M.A. Glendon, Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse.
316
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
- Ermöglichung „deliberativer Politik" (J. Habermas?12 - B ezu gna hme auf einen „Repara turm echa nism us einer deliberativ en Verfassungspraxis" (
O. Gerstenberg)91*
Gerichte als Hüter der Verfassung sind darüber hinaus Ausdruck sinnvoller Arbeitsteilung unter den Organen eines Staates wie der Supranationalen Union. Wie bereits erwähn t darf Verfassungsgerichtsb arkeit dabei helfen. Verfassungsstabilität zu sichern'' 14 . Sie soll aber auch unterschiedliche Wege zur Verfassungsentwicklung 91 5 ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten. Eine solche Verteilung der Funktionen folgt klaren Prinzipien, da sie dem Gewaltenteilungsprinzip als einem organisatorischen Grundprinzip des modernen freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsstaates wie einer Supranationalen Union, die diesen Maximen verpflichtet ist, entspricht.
91 6
Fragt man nach der Rechtfertigung für den verfassungsgerichtlich geprägten Verfassungsstaat, so ist sie - nach weitgehend „transatlantischem Verständnis" - darin zu sehen, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller („Über"-)Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird, d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs. Es darf außer Zweifel stehen, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte letztlich der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies
91 2 Vgl.J. Habermas. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 1992. S. 345 und den Hinweis auf eine Rekonstruktion der „verschiedenartigen Argum ente, die in den Rechtsetzungs prozess eingegangen sind und den Legitimationsansprüchen des geltenden Rechts eine rationale Grundlage verschafft haben. In juristischen Diskursen kommen neben den rechtsimmanenten Gründen auch moralische und ethische, empirische und pragmatische Gründe zum Zuge". 9,3
Vgl. O. Gerstenberg. Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 1997. S. 107: „Das Gericht stellt [... 1 in Form von Verfahrensordnungen eine Diskussionstruktur bereit, die die Parteien objektiv zu Teilnehmern eines deliberativen Verfahrens macht. Materiale Konfliktlösungen werden in dem Maße möglich, wie es dem Gericht gelingt, im Modus der Verfassungsauslegung den Hintergrund eines übergreifenden demokratischen Konsenses als gemeinsamen substanziellen Referenzpunkt zu rekonstruieren, der es den Parteien erlaubt, den Konflikt in eigener Regie zu lösen". 91 4
IV. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch- amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. ST3I9 ff. 915
B.-O. Bryde. Verfassungsentwicklung. 1982. S. 162 ff.
91 6
Vgl. nur die Grundsatzreferate von
K. Korinek/J. P. Müller/K. Schiaich zur Verfas-
sungsgerichtsbarkeit in: VVDStRL Heft 39 (1981), S. 7 ff.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
317
belegt die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit der Supreme Court-Entscheidung Marbury vs. Madison (1803) über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht in Deutschland, der nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. November 1925 917 begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht 91 8 , bis zur fest etablierten Normenkontrolle bei zahlreichen Verfassungsgerichten in der Gegenwart. Dieser Entwicklungsprozess kann hier nicht nachgezeichnet werden. Nur soviel sei betont: Seit die Verfassungsgerichte Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen dürfen und müssen, gibt es keinen Parlamentsabsolutismus mehr. Der Gesetzgeber hat vielmehr größte Aufmerksamkeit auf die Beachtung der Verfassungsmäßigkeit seines Handelns zu legen. 919 3.
Grundgedank en und Strukturelemente
(USA) und einer Verfassungsgemeinschaft
eines Verfassungsstaate 92 0
s
(Europäische Union)
Obgleich die beiden Verfassungsdebatten mittlerweile mehr als 215 Jahre trennen, fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die meisten wichtigen Fragen nicht völlig neu sind, sondern sich im Laufe der Geschichte wiederholt gestellt haben. Die Vereinigten Staaten fanden sich in der frühesten Phase ihrer Geschichte vielen Problemstellungen bezüglich Verfassungstheorie und -praxis gegenüber, die Parallelen mit der heutigen Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union aufweisen. Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Konvent von Philadelphia und dem europäischen Verfassungskonvent ist in der Unzufriedenheit mit der jeweiligen Ausgangslage zu sehen: die Unzulänglichkeit der Konföderationsartikel von 1776 dort, die mangelnde Tragfähigkeit der im Vertrag von Nizza im Dezember 2000 erzielten Kompromisse hier. Der geschilderte Unmut widerspiegelte sich in manchen ungelösten Fragenkomplexen. die einige interessante, zeitlich ungebundene transatlantische Paralle92 1 len - wenigstens in der Ausgangskonstellation - aufzuweisen vermögen :
91 7
RGZ 111,320. Zur Geschichte G. Mever-Anschütz. Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufage 1919. S. 736 ff. 919 Dies ist ihm in Deutschland durch Art. 20 Abs. 3 GG generell und durch Art. 1 Abs. 3 GG nochmals besonders für die Grundrechte aufgegeben. 920 Zum Begriff vgl. nur P Häberle, Europäis che Verfass ungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 645. 92 1 Ähnlich auch G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blic kwink el der USA , Vortrag an der Humbo ldt- Univ ers ität zu Berli n am 6. Juni 2002 , 918
abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im globalen Kontext. 2004, S.41 ff.. 45 f.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Wie soll etwa die faire Repräsentation gewährleistet werden? Kann eine Balance in der Vertretung der großen und kleinen Staaten geschaffen werden? Wie soll die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen ausgestaltet werden? Wieviel Macht sollte der bundesstaatlichen Verwaltung Ubertragen werden und welche Befugnisse soll die Europäische Union heute haben? Was kann die Wertgrundlage für eine politische Einheit sein? Wie wichtig ist „Identität"? Gibt es ein europäisches Pendant zu „life. liberty and the pursuit of happiness"? Es kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht auf alle Elemente eingegangen werden, die zu Recht als tragende Säulen eines Verfassungsstaates bzw. einer Verfassungsgemeinschaft gelten mögen. Die folgende Auswahl soll deutliche Unterschiede und klare Gemeinsamkeiten benennen, paradigmatisch wie impulsgebend wirken und 92 2 demzufolge der Wissenschaft Raum für Ergänzungen eröffnen. a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten Einer der umstrittensten Punkte sowohl bei den Beratungen über die amerikanische Verfassung wie auch während und nach „Nizza" war die Frage nach der Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten in den jeweiligen Organen auf Unionsebene. Wie bereits dargestellt wird die amerikanische Lösung noch heute 923 nicht ohne Pathos der „Great Compromise" genannt und bedeutet eine „aurea mediocritas" zwischen gleicher Repräsentation kleiner und großer Staaten - wie im „New Jersey Plan" gefordert - und der rein proportionalen Repräsentation der Staaten abhängig von der Bevölkerung - wie es der „Virginia-Plan" vorsah. Durch die gleich starke Vertretung aller Staaten im Senat und die Wahl der Senatoren du rch die Legisl ativen der Einzel Staaten 92 4 konnte die Zustimmung der bevölkerungsärmeren Einzelstaaten zur neuen Verfassung gesichert werden.
b)
Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten aa) Grundlage n des amerika nischen Föderal ismus
Der Föderalismus wird in der US-Verfassung nur indirekt genannt. Das überrasch t zunächst angesichts der herausragenden Bede utung der Bezieh ung zwischen 92 2 So etwa für einen gebotenen, aber angesichts der notwendigen Einbeziehung einzelstaatlicher Elemente hier zu weitgehenden Vergleich zwischen ..europäischer Rechtsstaatlichkeit" und der (in zahlreichen Ziel- und Ausgangspunkten unterschiedlich entwickelten) ..Rule of Law" (vgl. auch P. Hiiberle , Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff.). 923 j^,. p r a g e > inwieweit Kompromissfähigkeit die amerikanische Verfassungswirklichkeit beeinflusst, wird unter B.1.9 nachgegangen. 92 4 Die Wahl der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente wurde erst im Jahre 1913 mit dem 17. Verfassungsamendment durch allgemeine direkte Wahlen abgelöst.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
319
dem Bund und den Staaten . Die ame rika nisc hen Verfa ssung sväte r dürfe n als Erfinder bundesstaatlicher Ordnung heutiger Prägung gelten. Bereits im Unabhängigkeitskrieg war die Bereitschaft der Einzelstaaten eher gering, der Union die notwendigen Mittel und Kompetenzen zu überlassen, um notwendige politische Entscheidungen fällen zu können. Nach dem Friedensschluß schwand sie gänzlich dahin. Jeder Gedanke an eine unitarisch-zentralistische Lösung sollte sich schon deshalb als allzu endlich erweisen, dachte doch keine der 13 ehemaligen Kolonien ernstlich daran, die jüngst erkämpfte Souveränität wieder preiszugeben. In kontroversen Diskussionen und hart umkämpften Kompromissen entstand auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia ein neuer zukunftsweisender Föderalismus, den die Verfassung so umriß: - Die Einzelstaaten sollten sich wenig stens part iell zur „vollkom menere n Union" (more perfect union) integrieren, das heißt, der Zentralgewalt eine Anzahl genau festgelegter Aufgaben und Kompetenzen zuerkennen, - alle weiteren Befu gni sse und Funktion en würden pauschal bei den Ländern verbleiben, - die unmittelba re Ausü bun g staatlicher Gewalt auf beiden Eb ene n sollte durch voneinander unabhängige, jeweils in sich durchorganisierte exekutive, legislative und judikative Instanzen gesichert werden, - der Vorrang der Bundes- vor der Einzelstaa tshoheit war innerhalb der definierten Zuständigkeiten - Verteidigung. Regelung des Binnen- und Außenhandels - zu gewährleisten. 92 6 Alles in allem ist der endgültige Verfassungsentwurf des Konvents von Philadelphia von Kompromissen geprägt, die für die Vereinigten Staaten eine neue Form der politischen Organisation vorsahen: weder eine nationale, noch eine staatenbündische Verfassung war geschaffen worden, sondern eine Verbindung beider Formen. Die Verfassungsväter erkannten darin vor allem die Möglichkeit, die staatliche Gewalt zu verteilen, um somit einer willkürlichen Herrschaft entgegenzutreten. Wegweisend war die verfassungsrechtliche Neuheit einer doppelten Souveränität, welcher der Staatsbürger unterstellt wurde - der des Einzelstaates, in dem Zum organisatorischen Grundmodell ausführlich J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat. 1992. Siehe auch T. Lundmark, Die Bedeutung der Gliedstaaten im ame rik anis che n Verf assu ngss yste m, in: DÖV 1992. S. 417 ff. 926 Di e Federalist Papers lieferten die ideologische Begründung für das neue politische System: nicht bloß sollte es den Erhalt der frisch errungenen nationalen Einheit nach innen und außen sichern: vielmehr würde der Föderalismus eine wichtige Rolle bei dem Bemühen spielen, das Prinzip der ..checks and balances" zu verwirklichen. Eine Verfassung, so J. Madison (siehe ins beson dere die Artikel 18 ff. sowie 41 ff.), wel che die Ausü bun g öffentlicher Gewalt zwischen Bund und Einzelstaaten teile, banne die Gefahr staatlicher Allmacht, sichere die Vielgestaltigkeit des politischen und gesellschaftlichen Lebens in den USA.
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92 7 er lebte und zugleich der Souveränität des Bundes. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten wurde durch die Verfassung geregelt. Artikel I
§ 8 nennt die Zuständigkeitsbereiche des Bundeskongresses: Regelung der inneren und äußeren Wirtschaftsbeziehungen (auch interstate commerce), Schaffung und Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherstellung der Landesverteidigung. Artikel III sieht ein Oberstes Bundesgericht vor und Artikel VI bestimmt, dass die Verfassung und die auf sie folgenden Gesetze oberstes Gesetz des Landes sind ( sup re ma cy clause). Bei den Staaten verblieb eine umfangreiche police power: das Recht, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln. Die föderative Ordnung der Verfassung dient allerdings nicht allein der vertikalen Gewaltenteilung, dem System der checks and balances, sondern sie ist ein Ausdruck des pluralistischen Verständnisses der Federalists. Für sie war gerade die „Großstaatlichkeit" eine wichtige Voraussetzung für den Schutz von Minderheiten und dem Recht Einzelner: So war die in einem großen Staat auftretende Interessenvielfalt in Verbindung mit dem Repräsentativsystem eine Gewähr gegen die Gefahren des Mehrheitsprinzips. Minderheiten sollten in einem Staat so stark sein, dass sie nicht überhört werden konnten. Auch aus solchen Überlegungen resultiert die in den USA hoch geschätzte Individualität und kulturelle Identität der Einzelstaaten: Die Romantik der Schaffung einer „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" - wie in der Bundesrepublik Deutschland - spielt auch deswegen in den Vereinigten Staaten von Amerika keine 2 Rolle. Festzuhalten ist, dass die Verfassung die bundesstaatliche Struktur'' * nicht
92
Dass im Grundsatz der „zweifachen Souveränität" freilich auch Konflikte zwischen Bund und Staaten vorprogrammiert waren, hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts drastisch verdeutlicht: Die Südstaaten rechtfertigten ihre Sezession mit dem Hinweis, die Union habe die Souveränitä t der Einzelstaat en keinesfa lls beseitigt und eben jetz t, im Jahre
1860/
61. demonstrierten die ..Konföderierten" ihre Unabhängigkeit im Akte der Trennung vom bisherigen Staatsverband. Mit dem Sieg des Nordens wurde künftigen Sezessionsbestrebungen ein Riegel vorgeschoben. Seither gilt der durch eine Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1869 ausdrücklich bestätigte Grundsatz, dass kein Einzelstaat das Recht hat. aus der Union auszutreten. 92 8 Wird auch das politische System der USA als „Bundesstaat" bezeichnet, beanspruchen doch die amerikanischen Einzelstaaten ein höheres Maß an Eigenständigkeit, also eine umfassendere Kompetenzfülle als etwa die Länder der Bundesrepublik Deutschland (auch nach einer ..Föderalismusr eform" im Jah re 2006). Der Begriff „Bundes staat" beschreibt ein politisches System, in dem Gesamtstaat und Gliedstaaten einander in der Weise zugeordnet sind, dass sie zum einen als eigenständige Entscheidungszentren wirken, zum andern sich wechselseitig beeinflussen, um das ..Gesamtinteresse" eines Volkes zu befördern. In der Praxis ist diese Zuordnung vielfältig zu verwirklichen, kann das Schwergewicht der Macht stärker beim Bund oder den Ländern angesiedelt sein. So beanspruchen die Einzelstaaten der USA ein höheres Maß an Eigenständigkeit, eine umfassendere Kompetenzfülle als die deutschen Länder unter dem Bonner Grundgesetz, weshalb die Übertragung der Begrifflichkeit „Land" auf amerikanische Verhältnisse nur mit einigem Vorbehalt möglich ist.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
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explizit beschreibt. Sie ergibt sich eher indirekt aus den oben erwähnten schriftlich niedergelegten Grundprinzipien, die bis heute keiner Änderung unterworfen wurden. (1)
92 9
Charakter eines Bundesstaates
Den bundesstaatlichen Charakter des amerikanischen Gemeinwesens veranschaulichen auch der Name und die Flagge der USA. Verfassungswirklichkeit, die sich in kulturellen Errungenschaften, in Bildern und Sprache niederschlägt. Fünfzig Gliedstaaten mit jeweils eigenen Verfassungen und der das Gebiet der Bundeshauptstadt Washington umgreifende District of Columbia bilden derzeit den amerikanischen Bundesstaat. Fünfzig Verfassungen kanalisieren den Herrschaftsprozess in diesen Staaten, darunter die freilich vielfach ergänzte von Massachusetts aus dem Jahre 1780. Sie bekennen sich durchweg zu den „amerikanischen" Grundüberzeugungen des „limited government", der Volkssouveränität und individueller Bürger- bzw. Menschenrechte, was aber die bunte Vielfalt der jeweiligen Institutionenordnungen und Rechtsgestaltungen nicht ausschließt. Zusätzlich erhält die amerikanische Verfassung ihren föderalen Charakter durch das Wahlverfahren der nationalen Ämter, das die Repräsentation der Einzelstaaten auf nationaler Ebene gewährleistet und ihnen hinsichtlich des Verfahrens eine 93 0 fundamentale Autonomie überlässt. Der Modus für die Präsidentschafts wählen enthält ebenfalls föderale Elemente, „indem erstens jeder Staat so viele Elektorenstimmen erhält wie er Mitglieder im Kongress hat und zweitens", wenn ein Präsidentschaftskandidat nicht die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen erhält, fällt die Entscheidung in die Zuständigkeit des Repräsentantenhauses, wo eine Abstimmung in einzelstaatlichen Blöcken zu erfolgen hat. Mit diesem Wahlsystem versuchten die Verfassungsväter die Repräsentation und den Einfiuss der Gliedstaaten zu sichern. 929
Allerdings hat sich mit der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court das Verhältnis von Bund und Einzelstaaten an die jeweiligen Gegebenheiten über die Jahre angepasst. vgl. bereits unter B.I.7 und B.IV.2.b). 930 Die Repräsentation der Gliedstaaten ist durch die Vertretungsschlüssel für die beiden gesetzge benden K amm ern festgelegt: Im Senat ha t jede r Gliedstaat das gleiche Gewich t, d. h. unabhängig von der Einwohnerzahl ist dort jeder Staat mit zwei Senatoren vertreten. Diese insgesamt 100 Senatoren werden seit 1913 nach dem relativen Mehrheitswahlsystem direkt von der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Im Gegensatz dazu werden die Abgeordneten des Repräse ntantenhauses zwar auch in Form der Direktwahl, aber abhängig von dem Bevölkerungsanteil jedes Einzelstaates gewählt. Dabei ist jeder Bundesstaat in so viele Wahlkreise unterteilt, wie er gemäß seiner Bevölkerungszahl Abgeordnete in das Repräsentantenhaus entsenden darf. Die beiden Kammern des Kongresses, der die gesetzgebende Gewalt im politischen System der Vereinigten Staaten verkörpert, sind verfassungsrechtlich gleichberechtigt und ..demokratisch" strukturiert, d. h. die Vertreter sind in den jeweiligen Häusern gleichberechtigt und zu gleichen Teilen am Gesetzgebungsprozess beteiligt.
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Im Gegensatz zu dem streng repräsentativen Charakter der Bundesverfassung kennen 24 Staaten eine Form der Volksinitiative, und mit Ausnahme
Alabamas
haben alle Staaten die Möglichkeit von Referenden in ihrer Verfassung verankert. (2)
Funktionsweise des
US-Föderalismus
Durch die genaue Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaaten sahen die Verfassungsväter die Funktionsweise des Föderalismus gesichert. Die Zuständigkeiten des Bundes sind, wie schon erwähnt, in Artikel I § 8 katalogartig aufgelistet. 93 1 Zudem hält das 10. Amendment ausdrücklich fest, dass alle Zuständigkeiten, welche die Verfassung nicht an den Bund delegiert, bei den Einzelstaaten oder den Bürgern verbleiben sollten. Somit hatten die Gliedstaaten zwar eine „unbestrittene Domäne eigener Zuständigkeiten", doch war die Reichweite 93 2 der Bundeskompetenzen nicht eindeutig. Aufgrund dieser Ambiguitäten fiel dem US-Supreme Court bis heute die Aufgabe zu. Streitigkeiten über die Aufgaben des Bundes zu schlichten. Aufgrund der vielfach veränderten Rechtsprechung des Supreme Courts im Laufe der Geschichte Amerikas und vor allem in Folge des „New Deals", entwickelte sich, der noch i m 19. Jahrhundert maßgebend gebliebene duale Föderalismus, der die Regelung der meisten inneren Angelegenheiten unter der „police power", die fast alle sozial- und wirtschaftspolitischen Bereiche umfaßte, den Einzelstaaten überließ, zu einem kooperativen Föderalismus, der ein neues Verhältnis beider Ebenen zu einander-die Einzelstaaten hatten lediglich die administrative Verantwortung für die Ausführung nationaler Politik - umschreibt. De r kooperative Föderalismus setzt auf Koordination und Zusammenarbeit statt auf strikte Trennung und Rivalität. Schwächen der Leistungsfähigkeit von Einzelstaaten und Kommunen im Zeitalter des Sozialstaates haben diese Entwicklung stärker befördert als das Machtstreben des Bundesstaates in Washington. Ohne finanzielle Bundeszuschüsse („grants in aid") können heute die Einzelstaaten und Kommunen weder das ihrer Souveränität unterstehende Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, noch das breite Feld von Erziehung und Ausbildung sinnvoll bewältigen (Analogien etwa zum deutschen System sind unübersehbar). Damit 93 1 Sie umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche: Erhebung von Steuern. Zöllen und Abgaben zur Erhaltung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung sowie für das Allgemeinwohl: Regulierung des Außenhandels sowie des Handels zwischen den Staaten: Schaffung eines einheitlichen Einbürgerungs- und Konkursrechtes: das Militärwesen. 93 2
So standen den verfassungsrechtlich eng formulierten Kompetenzzuweisungen nach
Politikfeldern unteranderem die general welfare clause (Präambe l und Art. 1 § 8) und die necessarx and proper clause (Art. I §8 par 18) die den Bund bemächtigte ..alle zur Ausübung der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung der Vereinigten Staaten, einem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf Grund dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen", entgegen.
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aber haben Rahmenvorschriften des Bundes zur Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Gesetzgebung, Aufsichtsrechte der Bundesbehörden über die Verwendung der Subventionen, Amts-, Personal-, Sach- und Informationshilfen zwischen Verwaltungsorganen der verschiedenen Ebenen Eingang in die verfassungspolitische 9 33 Wirklichkeit der USA gefunden. (3)
Inkurs:
Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebene
Nach wie vor spielen die Einzelstaaten eine gewichtige Rolle im politischen Prozess Amerikas. 93 4 Die genannten Deregulierungen haben ihren Entscheidungsspielraum erweitert; sie haben sich darüber hinaus durch Steuererhöhungen neue Mittel verschafft, um eigenständige Politik betreiben zu können. Antiquierte Verfassungen sind in vielen Staaten ergänzt oder ersetzt worden, um die Institutionen und politischen Verfahrensweisen zu modernisieren und zu verbessern. Ihre Autonomie und politische Individualität gelten als feste Bestandteile der politischen Kultur des Landes. Und wo das „vertikale Gewaltenteilungsprinzip", die strikte Trennung also der Kompetenzen des Bundesstaates und der Einzelstaaten, im Zeichen der Kooperation an Bedeutung verliert, gewinnt die Mitwirkung am Entscheidungsprozess der Bundesgewalt durch die Einzelstaaten zusätzliches Gewicht. Ihr kommt die oben beschriebene Art der Willensbildung im US-Kongress ebenso entgegen wie die spezifische Zuordnung von Exekutive und Legislative oder die dezentralisierte Struktur des amerikanischen Parteiwesens. Letztlic h kanalisieren fünfz ig Verfassungen, die den Grundprinz ipien der checks and balances und der Separation of powers Theorien folgen, den politischen Machtprozess der Gliedstaaten. Man kann grundsätzlich von einem Abbild der Bundesinstitutionen auf der einzelstaatlichen Ebene sprechen, was aber eine gewisse Variantenvielfalt im Detail der Rechtsgestaltung und Institutionenordnung nicht ausschließt. An der Spitze der Staatsexekutiven stehen Governors, die von der jeweiligen Staatsbevölkerung auf zwei bis vier Jahre direkt gewählt werden. Ihre Befugnisse 93 3 In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterte die Reagan-Administration im Zeichen des „new federalism" noch mit dem ideologischen Ziel, die Abhängigkeit der Einzelstaaten von Washington zu verringern. Als die Republikaner in den Zwischenwahlen von 1994 erneut die Kontrolle über den Kongress erlangt hatten, setzen sie die Reagan-Politik der Übertragung von Bundeszuständigkeiten (vor allem im Wohlfahrts- und Gesundheitsbereich) auf die Einzelstaaten fort. Mit dem Hinweis, man müsse das Washingtoner ..big government" reduzieren und Sozialprogramme näher bei den Adressaten ansiedeln, planten sie den Einzelstaaten umfangreiche Garantien einzuräumen. die ihnen bei der Durchführung neu übertragener Aufgaben einen relativ großen Verwendungsspielraum zubilligen. In der deutschen Debatte über eine Verankerung des Konnexitätsprinzips auf Bundesebene im Rahmen der „Föderalismusreform" sind durchaus Parallelen zu sehen. 93 4 Vgl. auch F. Greß. Wiedererstarken der Einzelstaaten, in: Das Parlament vom 10. September 1993.
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93 5 spiegeln im verkleinerten Maße die des Präsidenten wider. Sie verfügen in den Einzelstaaten wie der Präsident auf der Bundesebene über das suspensive
Vetorecht. Mit dem jeweiligen Stellvertreter, der den Vorsitz im Senat des Staatskongresses führt, und einigen leitenden Beamten ist in gewissem Umfang die Regierungsgewalt zu teilen. Sowohl der Bund als auch die Staaten verfügen über ei n eigenes Verwaltun gssystem. Mit der offiziellen Zustimmung des Supreme Courts hat sich heute eine Art „Mischverwaltung", ein personelles Zusammen wirken als förmliche Beauftragun g der Bediensteten einer Ebene durch die andere Ebene, herausgebildet. So betraut der Bund Fachkräfte der Einzelstaaten oder Gemeinden mit der Durchführung bundesgesetzlich vorgeschriebener Inspektionen. Vom Sonderfall Nebraska abgesehen, sind die Legislativen der Staaten wie auf nationaler Ebene durchweg als Zweikammersysteme organisiert, mit Repräsentantenhaus und Senat. Verfassungsvorschriften beschränken die Dauer der Sitzungsperioden in drastischer Weise. Das Mandat der Abgeordneten ist in der Regel auf zwei Jahre beschränkt. Bei der Amtsdauer der Senatoren liegt die Grenze in zwölf Staaten bei zwei und in den restlichen 38 Staaten bei vier Jahren. In der Regel sind sie vom Volkssouverän gewählt. Bis in die sechziger Jahre waren die Möglichkeiten der Staatsparlamente, eine kontinuierliche Politik zu betreiben, stark beschränkt, da lediglich alle zwei Jahre Sitzungen stattfanden. Trotz der Parlamentsreformen, die das politische Gewicht der Legislative stärkten, leiden sie genau wie der Bundeskongress an derselben Fragmentierung - der Aufsplittung in verschiedene, relativ autonome Ausschüsse und Unterausschüsse. Insgesamt ist der „amerikanische Bürger" eingebettet in eine ausgeprägte gesellschaftliche Dimension des Föderalismus und Lokalismus, die im Laufe der weiteren Entwicklung durch die flächenmäßige Ausdehnung und den hohen Grad an gesellschaftlicher Segmentierung und politischer Fragmentierung verstärkt wurde. Bis heute ist die politische Kultur der USA geprägt durch regionale und einzelstaatliche Besonderheiten, die trotz aller vereinheitlichenden Tendenzen das amerikanische kulturelle, wirtschaftliche und politische Mosaik auszeichnen. bb) Europäischer
Föderalismus: Einzelaspekte
93 6
Eine ähnliche Situation lag auch zugrunde, als die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Verschiedene Modelle wa9 35
Als Leiter der Exekutive unterliegen ihnen folgende Aufgabenfelder: der Vollzug der Gesetze: das Kommando über die Nationalgarde: die Ernennung der Beamten des Landes (wobei dies in manchen Ländern der Bestätigung durch den Staatssenat bedarf), und sie stehen der Staatsverwaltung vor. 9 3 6 Umfassend mit föderalen Strukturen für die Europäische Union befassen sich beispielsweise A. von Bogdandy. Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer
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ren für den deutschen Staat angedacht worden; am Schluss erschien ein föderales Gebilde für die westlichen Alliierten und die Deutschen am vertrauenswürdigsten. Allerdings mochten die Verfassungsväter des Grundgesetzes (GG) sich in Herrenchiemsee nicht auf einen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild verständigen. Das GG hat damit den Föderalismus europäischen Typs bereits ziemlich klar vorbereitet: Institutionelle Verflechtungen gemäß dem Grundsatz von Macht- und Einflussteilung anstelle der US-amerikanischen -trennung.
93 7
In der Theo rieges chich te des Födera lismus ist eine reiche Vielfalt von Varianten entstand en. Vor diesem Hinte rgrund ist es nur zu verständlich, dass man sich in der Frage, welchen Grad der Föderalisierung die Europäische Union bereits erreicht hat, nicht einig ist. Während einige Beobachter bereits eine entwickelte Form des 93 9 Föderalismus attestieren 93 8 , sehen andere ihn erst auf dem Weg zur Föderation . Die Zurückhaltung, die im Umgang mit dem Föderalismusbegriff zu beobachten ist. mag zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich während des 19. Jahrhun dert s eine Vere ngung auf die Form der Bundesstaa tlichke it vollzogen hat. Wer sich dieser Begriffstradition verpflichtet fühlt, wird sich jedenfalls dann, wenn die damit einhergehenden Folgerungen (insbesondere: Souveränität des Bundes) nicht gezogen werden sollen, im Umgang mit dem Föderalismusbegriff Zurückhaltung auferlegen.Zwingend ist diese Verengung aber nicht; sie ist lediglich eine - wenn auch in den letzten zweihundert Jahren besonders
neuen Herrschaftsform. 1999: P.M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 194 ff.. 240. 93 7 Der deutsche Bundesrat wird von den Landesregierungen bestückt und zwingt die Länder damit zur Zusammenarbeit und zur Zustimmung bei bundesstaatlichen Aufgaben (..kooperativer Föderalismus"). Der ..unitarische Bundesstaat" (K. Hesse, vgl. ders., Der unitarische Bundesstaat. 1962) unterscheidet nach Kompetenzarten: er hat es aber dennoch geschafft, das Paradoxon der sogenannten „Gemeinschaftsaufgaben" in die Verfassung zu AllerdingsAusgangsbasis, befanden sich wodurch auch die deutschen LänderEinteilung in der ..Stunde Null" auf integrieren. einer gemeinsamen eine einheitliche der Länder in der Verfassung erleichtert wurde. Insofern war die Einteilung der Stimmrechte pro Bundesstaat und die Einordnung der Staatsaufgaben in Bundes- und Landeskompetenzen nur in der Sache umstritten. Vgl. auch H. BiÜcklP. Lerche. Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, in: VVDStRL 21 (1964). S. I ff.. 83. Zum Bundesstaat als Rechtsbegriff siehe bereits H. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff. 1928: vgl. auch jVf. Usreri. Theorie des Bundesstaates, 1964 sowie U. Scheuner. Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, in: DÖV 1962, S.641 ff. Zu einer „gemischten" Bundesstaatstheorie bereits P. Häberle. Europäische Verfassungsl ehre. 4. Au fl. 2006. S. 428 m. w. N. 93 8
Vgl. etwa M. Cappelletri/M. Seccombe/J.H.H. Weiler. General Introduction. in:
dies. (Hrsg.), Integration through Law, Vol 1. Book 1 S.4; K. Heckel. Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftbildung. 1998: W.Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999:/\. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. 1999. 9 3 9 So etwa J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. 23 integration 2000. S. 149.
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wichtige - Form des Föderalismus. Wagt man einen Blick auf die ideengeschichtlichen Wurzeln des Föderalismus, so geht es nicht um Souveränität, sondern um Einheitssicherung und Vielfaltgewähr, um das freie und selbstbestimmte Zusammenwirken verschiedener, vertikal gestufter Verbände. Im Lichte eines solchen Föderalismusbegriffs lassen sich gegen die Bezeichnung der Europäischen Union als Föderation kaum Einwände erheben. Föderalismus ist damit ein politisches Ordnungsprinzip, das darauf abzielt, die Existenz und Selbstständigkeit einer Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in ein höheres Ganzes zu verbinden. Die europäische Einigungsbewegung und die damit entstandene Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaften hat durchaus mitbewirkt, dass auch andere europäische Staaten zu einer Diversifizierung ihrer territorialen Gliederung gefunden haben. So entwickelte Spanien 1978 nach der Franco-Diktatur eine Staatsordnung, die auf ganz besondere „Sensibilitäten" in bestimmten Regionen Rücksicht nehmen musste. Die zweite Kammer, der „Senado" ist sowohl Parlamentskammer als auch „Kammer der territorialen Repräsentation". Auch die spanische Verfassung unterscheidet nach Kompetenzarten, allerdings werden den 94 2 autonomen Regionen keine Kompetenztitel zugesprochen. Die Zuständigkeiten der Regionen reichen daher nur soweit, wie es die Autonomiestatute der jeweiligen Region zuerkennen. Damit wird ein spezifisches Merkmal des spanischen Regionalstaates deutlich: Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat und den einzelnen Regionen ist asymmetrisch. Manche Regionen verfügen über deutlich mehr Kompetenzen als andere. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der spanische Staat nach der Ablösung von Franco sich zwar in einer
94 0 So auch jVf. Netfesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S. 507 ff. 94 1 Gleichlautend Af. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten. in: ZEuS 5 ( 2002). S. 507 ff., der ebenda weiter konstatiert: ..Föderalistische Ordnungen sind als mehrstufige politische Systeme zu begreifen, in denen an die Seite der politischen Einheit der Glieder die politische Gesamtexistenz tritt. Föderalismus ist damit Bildung eines Ganzen unter gleichzeitiger Bewahrung der Freiheit der engeren territorialen und personellen Gemeinschaften. Er dient der Selbstbehauptung der Eigenart und der Anerkennung des Eigenrechtes dieser Eigenart. Dies kann nur gelingen, wenn man - allen Unterschieden zum Trotze - im Wertverständnis und in der Formulierung der Interessen auf einen Grundko nsens aufba uen kan n." Vgl . auch W. Kägi. in: Die Juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten (Hrsg.), Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht. Festgabe zur 100- Jahr-Feie r der Bundesve rfa ssung , 1948. S. 53.: „Freiheit is t dort, wo diese Eigenart nicht durch Unitarismus und Zentralismus negiert, sondern durch Selbstgesetzgebung (Autonomie) und Selbstverwaltung der engeren Gemeinschaften respektiert und beschützt wird. Diese föderalistische Freiheit ist die Grundbedingung für die Einheit eines vielgestaltigen Staatswesens." 94 2
Im „Vortitel" der spani sche n Verfa ssung ( 1978 ) sind in Art. 2 die Unteil barkei t („unteilbares Vaterland aller Spanier") und als Konnexgarantie „das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen" niedergelegt.
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grundlegenden Umbruchsphase, nicht aber in einer der Bundesrepublik ähnlichen „Stunde Null" befand. Die Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung war demzufolge differierend. Parallel dazu hat auch das Vereinigte Königreich unter dem Stichwort der „Devolution" den Nationen (und Regionen) 1998 zu neuer politischer Macht verholfen. 94 3 Auch bei der Regionalisierung Großbritanniens mussten die historischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Während Schottland. Wales und Nordirland eigene Regionalparlamente und -regierungen erhalten haben, blieben die englischen Regionen mehr oder weniger ohne Mitspracherechte. Aber auch zwischen den drei Genannten sind die Unterschiede bemerkenswert: während Schottland selbst bei der Besteuerung Kompetenzen zuerkannt worden sind, wurde für die nordirischen Einrichtungen eine weitgehende Abhängigkeit von der Entwicklung des Friedensprozesses eingerichtet. Wales hat zwar eine eigene „Versammlung", aber insgesamt weniger Kompetenzen. Obwohl die Devolution als „Prozess" (R. Davies) bezeichnet wird 94 4 , ist mehr als fraglich, ob die englischen Regionen jemals entsprechende Kompetenzen erhalten werden. Unabhängig von der asymmetrischen Kompetenzverteilung, hat sich das Vereinigte Königreich der „europäischen" Aufteilung nach Kompetenzarten angeschlossen, und auch die zweite Kammer könnte sich zu einem Regionen-Gremium entwickeln, das dem deutschen Bundesrat ähnlich ist. Frankreich hat seit der 1982 verabschiedeten „Lois Deferre" eigene Erfahrungen mit dem Regionalismus* 15 gemacht. Hier wurde indes ein symmetrisches Modell angelegt, das den Regionen aber keine den beschriebenen Modellen vergleichbaren Kompetenzen einräumt. Auch hat der französische Senat seine ursprüngliche Rolle behalten. In der Europäischen Union hingegen stellt sich die Frage der horizontalen Gewaltenteilung weiterhin als äußerst komplex dar, sprich: eine klare, funktionale Rollenzuweisung für die Institutionen der Europäischen Union im Sinne von 9 43
Dazu M. Mey, Regionalismus in Großbritannien - kulturwissenschaftlich betrachtet.
2003. 94 4 Vgl. zu dem Zitat von Davies sowie allgemein zur ..Devolution" im Vereinigten Königreich Economic&Soeial Research Council (Hrsg.). Devolution Briefings, Devolution is a process not a policy: the new governance of the English regions Briefing No. 18, February 2005. 9 45 Zum Rcgionalismus bereits F. Esterhauer (Hrsg.), Regionalismus, 1979; vgl. auch F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa. 1990; A. Weber. Di e Bedeutung der Regionen für die Verfassungsstruktur der Europäischen Union, in: J. Ipsen u.a . (Hrsg.), Verfassungsrech t im Wandel, 1995 . S.6 81 ff.; M. Kot zur. Föderalisierung. Regionalisierung und Kommunalisierung als Strukturprinzipien des europäischen Verfassungsraums. in: JöR 50 (2002), S. 257 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen: siehe auch ders., Kulturföderalismus in Deutschland - Kultzrregionalismus in Europa, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003, S. 61 ff.
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Legislative und Exekutive. Derzeit ist das Europäische Parlament, wenn überhaupt, ein nur unzureichender Gesetzgeber. Das vornehmste Recht aller Parlamente, nämlich über den Haushalt zu befinden, steht ihm (allein) nicht zu. Das Prinzip der Kodezision ist nur unzureichend entwickelt und erstreckt sich nicht einmal auf alle Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Der Ministerrat teilt sich in eine legislative und eine exekutive Funktion zugleich, was das institutionelle System der Europäischen Union vor allem intransparent macht. Die Kommission hat zwar ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben und implementiert die Ratsentscheidungen, übt aber im Wesentlichen keine exekutive Gewalt aus, die einer politisch-parlamentarischen Kontrolle unterläge. Auf die in ihrer Art spezifischen, institutionellen Strukturen der Europäischen Union, wie sie historisch gewachsen sind, ist mithin das klassische Montesquieu sehe Prinzip der Gewaltenteilung nicht anwendbar, und ein Teil des beklagten Legitimationsdefizits der Europäischen Union ergibt sich aus dieser Tatsache. Worin liegt nun die Konsequenz dieser kurzen Betrachtungen? Dass eine föderale Lösung den Interessen der meisten Mitgliedstaaten am ehesten entgegenkommt, dürfte sicher sein: Denn der verfassungsrechtlich gesicherte Verbleib von Kompetenzen auf der Ebene des Nationalstaates beugt einem wie auch immer gearteten „europäischen Zentralismus" am ehesten vor. Allerdings wird gerade nach unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Staaten eine „europäische"und wohl auch „asymmetrische" föderale Lösung am ehesten in Betra cht kommen. Be griffsschö pfunge n wie „differenzierte Integrat ion" 94 6 , „variable 91 7 91 8 Geometrie" oder „Europa ä la carte" deuten darauf seit längerem hin. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die politische Theorie eine Vielzahl föderaler Typen mit je unterschiedlicher Prägung kennt, eröffnen sich allerdings auch nicht unerhebliche Spielräume. Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den Typ föderalistischer Verbundenheit, der Europäische Union und Mitgliedstaaten ausmacht, näher zu kennzeichnen. Die den in Deutschland vorherrschende Auffassung ist in diesem Zusammenhang geneigt, Integrationsverbund weiterhin als Ausprägung eines bündisch verfassten Zusammenschlusses anzusehen. Europäischer Föderalismus lässt sich insofern mit Nettesheim als „konsoziativer Föderalismus" treffend kennzeichnen 91 9 („Föderation von Staaten"). Zudem liegt die Befugnis zur Verfassungsfortschreibung nach Art. 48 EGV weitgehend, allerdings schon nicht 94 6 Dazu m.w . N. H. Schneider, Die Zukunft der differenzierten Integration in der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, in: integration 4/2004. S. 259 ff. 94 7 Vgl. etwa U. Rüge. Europa variable Geometrie. Die erweiterte Union braucht eine Avantgarde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 3/2003, S.3I4ff. 94 8 Vgl. etwa F. Breuss/S. Griller (Hrsg.), Flexible Integration in Europa. Einheit oder .Europa a la carte'?, 1998. W9
Vgl. M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S.507ff.; H.Schneider. Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - oder was sonst?, in: 23 integration 2000. S. 171 ff. Anders als im
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mehr ausschließlich in den Händen der Glieder; auch haben die Mitgliedstaaten im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man ist sich im übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren, muss seine Form als ..Föderation von Bürgern und Staaten" erhalten. Einen Umschlag in die Form bundesstaatlichen Föderalismus gilt es, so die überwiegende 95 0 Auffassung, gegenwärtig zu verhindern. cc) Ergän zunge n aus verglei chende r Sicht Das Wort „Föderalismus" stellt generell seit jeher einen vom Verständnis außerordentlich unterschiedlich interpretierten Begriff dar, der gerade auch im Rahmen der europäischen Einigung immer wieder für Unruhe sorgt(e). Noch kurz vor der Konferenz von Nizza wies der französische Außenminister darauf hin. Frankreich wolle kein „föderales" Europa, während sein deutscher Kollege zuvor große Vorteile in einer föderalen Struktur des zukünftigen Europas gesehen hatte. Die Trennschärfe in der Einschätzung, ob lediglich unterschiedliche politische Auffassungen oder begriffliche Missverständnisse gegeben sind, ist diesbezüglich oftmals schwer herzustellen. Die Vereinigten Staaten stan den 1787 vor der Frage, die die Europä er heute bewegt. Wie kann eine verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden, die für die einzelnen Staaten ausreichend Raum für „nationale" Politik bestehen, gleichzeitig aber ein nach außen handlungsfähiges Gebilde entstehen lässt? Die Philadelphia Convention brachte - obwohl nur mit dem Mandat für die Entwicklung einer Freihandelszone versehen - eine Bundesverfassung auf den Weg, die auch in dieser Hinsicht Grundsteine für ein Vorbild demokratischer Verfassungen legte. Schon damals lagen jene, die den Bundesstaat bzw. „Staatenverbund" im weiteren Sinne in den Mittelpunkt stellen wollten, mit jenen im Streit, deren Anliegen ein gesunder Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten war. Der Blick auf die US-Verfassung kann den Europäern bei dieser Diskussion aber hilfreich sein: In der US-amerikanischen Verfassung ist festgelegt, dass nur ausdrücklich genannte Kompetenzen dem Bund zustehen, alle anderen den Glied staat en. So heißt es im 10. Am end men t: „Th e powers not delegate d to ..bundesstaatlichen Föderalismus" fließt die verfassunggebende Gewalt der Glieder in der konsoziativen Föderation nicht aus der Verfassung des übergreifenden Verbands (hier: der Europäischen Union); anders als im ..bundesstaatlichen Föderalismus" haben die Glieder auch ihre Souveränität bewahrt. 950
Siehe nur die Beiträge von: I. Pernice/ P.M. Huber IG. Lübbe-Wolff IC. G raben war-
te r. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: 60 VVDStRL 2001, S. 148/194/ 246/290 m.w.N.
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the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the states, are reserved to the states respectively, or to the people." Damit ist das im Maastrichter 95 1 (Art. 5 EGV) im Grunde nichts Vertrag festgeschriebene „Subsidiaritätsprinzip" anderes als die (mildere) europäische Version des 10. Amendments. J. Madison und A. Hamilton hatten bereits damals die mögliche Entwicklung eines zu mächtigen Zentralstaats erkannt. Allerdings: Nur wenige Jahre später bei der Verabschiedung des „Alien and Sedition Act" (1798), erwies sich der Grundsatz als wirkungslos. Ein früher Hinweis auf die Wirkkräfte der Verfassungswirklichkeit und ein Umstand, der gelegentlich bei der innereuropäischen Diskussion Berücksichtigung finden dürfte.
In einer weiteren Frage offenbaren sich Ähnlichkeiten zwischen dem Amerika des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem heutigen Europa, nämlich im (nur auf den ersten Blick paradoxen) Grundsatz nach außen mit einer Stimme zu sprechen, im Innern aber von seiner Vielfältigkeit zu leben. Der Begriff des „Föderalismus" taugt im Rahmen dieser Debatte nur begrenzt, da sich die begrifflichen Gegensätze bis heute erhalten haben. 95 2 Gleichwohl haben die prinzipiellen Überlegungen, die vor über 200 Jahren in Amerika angestellt wurden, ihre Bedeutung bei der Beantwortung dieser Frage nicht verloren. Der sogenannte „duale Föderalismus" der USA hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt, aber er verteilt die Kompetenzen zwischen den staatlichen Ebenen noch immer nach Politikfeldern. Er hat die Trennung auf der Legislativebene durch die Volkswahl der Mitglieder der zweiten Kammer, des Senats, durchgehalten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Verabschiedung der USamerikanischen Verfassung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als alle Gliedstaaten sich in einer strukturell sehr ähnlichen Situation befunden haben. Insofern hatten die Vertreter in der Convention eine gemeinsame Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung.
95 1 Dazu aus der Lit.: H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. 1993; P. Hiiberle. Das Prinzip der Subsidiar ität aus der Sicht der vergle ichend en Verfa ssungsl ehre, in: AöR 119( 1994 ). S. 169 ff.: MZuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, in: Melanges en hommage ä F. Schoc kweil er, 1999. S. 635 ff. Im Entw urf des Ver fV wur de die Legalde finit ion des Subsidiaritätsprinzips präzisiert (Art. 1-9 Abs. 3). 95 2 Die Anwendung der deutschen Bedeutung des „Föderalismus"-Begriffs auf das politische System der Vereinigen Staaten ist grundsätzlich problematisch, obwohl die amerikanischen Verfassungsväter sich selbst als „Federalists", die neu geschaffene Herrschaftsordnung als „federal system" und die Zentralgewalt in Washington als „federal government" bezeichneten. Denn wo das verfassungsrechtliche Denken der Deutschen mit ..Föderalismus" Autonomiebestrebungen der Länder verbindet, meinen Amerikaner Zentralisierungstendenzen. wenn von federalism die Rede ist. Wo im deutschen Sprachgebrauch der Begriff Föderalismus ein universales Gestaltungsprinzip meint, den Zusammenschluß im gesellschaftlichen, staatlichen oder internationalen Raum mit sehr verschiedenen Ordnungsstrukturen, erscheinen im amerikanischen Sprachbereich die Begriffe „Bundesstaat" und „Föderalismus" fast identisch.
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Schließlich: Die wichtigste Konsequenz der Amerikaner aus der Ineffizienz der Unionsorgane unter den Konföderationsartikeln war die deutliche Stärkung der bundesstaatlichen Ebene. Eine Beobachtung, die für die Europäische Union lediglich dünne, wenn nicht marginale Parallelen eröffnet. c)
Das Prinzip der Gew altenteilung aa) Vorbemerkung
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Maßstab für die politische Machtvertei95 3 lung. die Hemmung und Mäßigung der Macht , aber auch für die sachgerechte Zuteilung des Entscheidungsgegenstandes an das entscheidende Organ, für die 95 4 Konstituierung, Zuordnung und Balancierung von Hoheitsgewalten . In ihrem 95 5 menschenrechtlichen Ursprung handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbe95 6 ziehungen zwischen Bürger und Staat : Die tatsächlichen Mächtigkeiten werden auf eine freiheitsberechtigte Gesellschaft einen freiheitsverpfiichteten Staat aufgeteilt. Sodann gewinnt der Bürger derund Staatsgewalt gegenüber Waffengleichheit durch die Einrichtung einer dritten Gewalt, die seine Rechte als rechtsgebundene. unabhängige Rechtsprechung gegenüber Gesetzgebung. Regierung und Verwaltung durchsetzt. In konkreteren Verfassungsgedanken findet das Prinzip der Gewaltenteilung jeweils seine Ausprägung 95 7 : Die Gewaltenteilung zum Schutz der Menschenrechte mäßigt und begrenzt Staatsgewalt im Dienst der Individualrechte und nimmt dabei die Ent wic klu ng der Grund rec hte von der bloß en Abwe hr der Staatsall mach t hin 95 s zum positiven Leistungsrecht auf. Das Bund esstaatsprinzip, das den Rechtsstaat weniger von der Staatsgewalt und mehr vom Staatsgebiet her organisiert, stellt 95 3 Siehe zu dieser Definition nur das deutsche Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 3. 225 (247); 34. 52 (59); 49. 89 (124). Zum amerikanischen Verständnis aus der deutschsprachigen Lit.: P.E. Quint. Gewaltenteilung und Verfassungsauslegung in den USA. in: DÖV 1987. S. 568 ff.: D. P. Currie , Die Gewalte nteil ung in den US A. in: JA 1991. S. 261 ff. Vgl. allgemein bereits D. Tsatsos . Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung. 1968. 95 4 Vgl. allgemein K. Hesse , Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschla nd. 20. Aufl. 1995. Rn .4 75 ff ., 482; E. Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts. Bd. I. 1987. § 24 Rn. 50. 9 55 Vgl. auch Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789); Titel III Art. 1 -5 der Französischen Verfassung von 1791. 956 Vgl. bereits R. Thoma . Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des 50-jähr igen Besteh ens des Preußischen Oberverw altungsge richts . 1925, S. 183 ff., 187 Fn.4. 95 7 Vgl. umfassend P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsent-
wicklung , Schriftenr eihe Europäisch Europae - Band 1. 2000. S. 37 ff.
es Verfassungsrecht
. Band 4. Forum Constitution is
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neben die horizontale auch eine vertikale Gewaltenteilung. Innerhalb des Demokratieprinzips wirkt das Prinzip der Gewaltengliederung mäßigend und ordnend insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen „Gewaltenmonismus" beanspruchen kann, der vielmehr - wie jeder Gewalt - ein Kernbereich der Aufgaben vorbehalten ist, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung 95 9 und seinem Verfahren am besten erfüllen kann. Hat die Verfassung vor allem eine übermächtige Staatsgewalt in Grenzen zu weisen, bedeutet Gewaltenteilung Hemmung und Mäßigung der Macht; das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol 96 0 findet in der Gewaltenteilung sein notwendiges Korrelat. Steht die Verfassung hingegen mehr vor der Aufgabe, innerhalb eines rechtlich hinreichend gebundenen Verfassungsstaates Aufgaben und Organe je nach deren Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise so einander zuzuordnen, dass die staatlichen Entscheidungen „möglichst richtig" getroffen werden, so wird die Gewaltenteilung 96 1 zum ordnungsstiftenden und ordnungsvertiefenden Prinzip. bb) Die Ausge stal tung in den USA In der amerikanischen Verfassung ist das Prinzip der Gewaltenteilung („Separa96 2 tion of powers") als zentrales Element hervorzuheben. Artikel I der Verfassung gewährt dem Kongress die Gesetzgebungskompetenz. Artikel II beschreibt eher diffus die Exekutivgewalt des gewählten Präsidenten und Artikel III legt wie bereits geschildert die Judikati vfunkti on des Supreme Court, der Einzelstaatsgerichte und der unteren Bundesgerichte, die im einzelnen vom Kongress bestimmt werden, fest. Schließlich normiert Artikel IV das gewaltenteilige Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten. Ebenso wichtig wie die grundlegende Teilung der Staatsgewalten in Legislative. Exekutive und Judikative ist aber in der Theorie auch die gegenseitige Kontrolle dieser drei Kräfte („checks and balances"). So wird die Gesetzgebung durch zwei Häuser des Kongr esses vollzogen, da die Verfassungsväter die erheblichste Gef 96 3 im potentiellen Gewaltmissbrauch sahen.
ahr
958 K. Stern . Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992. § 108 Rn. 38. 959 Vgl. P. Bodura, Die parlamentarische Demokratie, in: Handbuch des Staatsrechts. Bd. 1. 1987 , §2 3 Rn. 6; das Prinzip deutlicher dem Demokra tiepr inzip unterordnend £.\V. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, daselbst. § 22 Rn. 87 ff. Siehe auch BVerfGE 68. I (86).
960
E. Schmidt-Assmann (1987), § 24 Rn. 47.
96 1
Vgl. wiederum BVerfGE 68. I (86).
> 1
*
Vgl. etwa D. Currie. Die Gewaltenteilung in den USA, in: Juristische Arbeitsblätter
1991. S. 261 ff. 9 63 Dazu etwa
G. Gunther. Constitutional Law. 11 * ed. 1985. S. 336.
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Die amerikanische Herrschaftsordnung zeichnet sich folglich nach Meinung vieler Beobachter auf den ersten Blick durch die strikte Verwirklichung des klassischen Gewaltenteilungsprinzips von Exekutive und Legislative aus. Die politischen Theorien eines J. Locke und C. de Montesquieu scheinen auf dem Boden der Neuen Welt stärker beherzigt worden zu sein als in Europa, oder, wie dies E. Fraenkel beschrieben hat, die Amerikaner haben die „wesentlichen Merkmale der englischen Verfassung, wie sie aus der .Glorreichen Revolution 96 4 von 1688/89' hervorgegangen waren, reiner erhalten." Diese Behauptung hält bei genauerer Betrachtung nur bedingt stand, allein 96 5 schon wegen Stellung und Rolle des US-Vizepräsidenten. Den Vätern der USVerfassung ist es wohl eher um eine Institutionentrennung mit wechselseitig 96 6 teilnehmender Gewaltenausübung gegangen. Das politische System der USA beruht demnach also nicht so sehr auf der Gewaltenteilung im klassischen Sinn, als vielmehr auf der Trennung der Staats- und Verfassungsorgane, also der politischen Institutionen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident einerseits. Repräsentantenhaus und Senat andererseits, zwar unabhängig voneinander amtieren, aber an den Grundfunktionen der Staatsgewalt, der Gesetzgebung und Verwaltung, wechselseitig teilhaben und gemeinsam an deren Erfüllung mitwirken. Sichtbarsten Ausdruck findet die Institutionentrennung zum einen in der Stellung des Präsi96 7 denten gegenüber beiden Häusern des Kongresses. Sie tritt zum anderen in der gleichfalls verfassungsmäßig festgelegten Legislaturperiode der beiden parlamentarischen Häuser in Erscheinung, die vom Präsidenten auch dann nicht verkürzt werden kann, wenn der Kongress schiere Obstruktionspolitik betreiben, das heißt, 96 s die Arbeit der Exekutive in jeder Hinsicht blockieren würde.
964 E. Fraenkel hier/u umfassend in seinem mittlerweile klassischen Werk ..Das amerikanische Regierungssystem", 3. Aufl. 1976. 96 5 Als Stellvertreter (bei Amtsunfähigkeit) und potentieller Nachfolger des Präsidenten ist er Teil der Exekutive; als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen leiten und bei Stimmengleichheit den Ausschlag zugunsten einer Entscheidung geben kann, gehört er auch zur Legislative. Von strikter Gewaltentrennung lässt sich im Falle des Vizepräsidenten gewiß nicht reden. 96 6 So in der Konsequenz auch R. Neustadl. Presidential Power & The Modern Presidents, 1990. '*'7 Sie gründet sich auf die Volkswahl, auf den Umstand also, dass unter allen Wahlbeamten Amerikas allein der Chef des Weißen Hauses sein Herrschaftsrecht aus der Wahl durch die gesamte Bürgerschaft ableiten kann, und darauf, dass die Verfassung dem Präsidenten eine Amtsperiode von vier Jahren zuweist, die auch von oppositionellen Mehrheiten im Kongress nicht beschnitten werden kann. 968
Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von enormer Bedeutung ist und eine wichtige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten
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In einem bemerkenswert scharfen Bruch mit überkommenen Vorstellungen formulierten die Verfasser der „Federalist Papers" die Einsicht, dass - im Gegensatz zu einer Monarchie - in der Republik nicht die Exekutive der dominierende Machtarm sein müsse, sondern die Legislative. Der amerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt, Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht 96 9 für die Handelsgesetzgebung. Die amerikanischen Verfassungsväter haben die Gefahren erkannt, die einer strikten Anwendung der Gewaltentrennungslehre innewohnen. So kann die exklusive Betrauung jeweils eines Staatsorgans mit bestimmten Aufgaben die Ausübung unkontrollierter Herrschaft fördern, die strikte Isolierung der Gewalten voneinander die Lähmung des politischen Willensbildungs- und Herrschaftsprozesses befördern. Die Montesquieusche Lehre ist deshalb von den Gründervätern so interpretiert und in Verfassungsvorschriften umgewandelt worden, dass Blockierungen des politischen Prozesses bzw. überzogene Machtansprüche einer Gewalt zwar immer wieder auftauchten, aber stets wieder gezügelt werden konnten. J. Madison bemerkte dazu: „Wenn Montesquieu sagt, es kann keine Freiheit geben, wo gesetzgebende und vollziehende Gewalt in ein und derselben Person oder in ein und derselben Körperschaft vereinigt sind, oder, wo die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und von der vollziehenden Gewalt getrennt ist, so meint er damit keineswegs, dass die drei Zweige der Regierung untereinander auf ihre spezifische Tätigkeit nicht ein gewisses Maß von Einfluss ausüben 97 0 oder einander nicht wechselseitig kontrollieren sollten." Amerikanische Politik ist stets von der Rivalität zwischen Kapitol und Weißem Haus geprägt worden. Einer Rivalität, die nicht zuletzt der teils unscharfen verfassungsrechtlichen Zuweisung oder Abgrenzung von Kompetenzen zuzurechnen ist. Regierung und Parlament wurden und werden geradezu eingeladen, sich um die Führung der Politik (im besonderen Maße der Außenpolitik) zu streiten. Der Gang der amerikanischen Geschichte ist durch zyklische Wechsel zwischen der Vorherrschaft einmal des Kapitols, dann wieder des Weißen Hauses gekennzeichnet. der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar. Die Verfassung der USA gebietet gemäß Artikel I, § 6. par 2 auch strikte Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und (Parlaments-)Mandat. 969 Ein Umstand, der aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle beansprucht. 970 Siehe Federalist, Artikel 47
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Bereits in den Gründerjahren entzündeten sich Konflikte zwischen den Gewalten bei der Umsetzung außenpolitisch relevanter Verfassungsnormen in die Regierungspraxis. Sie haben sich bis in die Gegenwart im Kompetenzstreit um Rechte im Bereich der Kriegführung (war power) und Befugnisse hinsichtlich des Eing ehen s intern ation aler Vertrags Verpflichtungen (treaty power) fortgesetzt. cc) Die Ausges taltu ng in der Europ äisch en Union
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Der europarechtliche Gedanke einer Duldung verwobener. nebeneinander geltender Rechtsordnungen scheint dem Verfassungsrecht zunächst fremd. Eine Verfassung sucht die verschiedenen Rechtsquellen in einem Geltungssystem derart zu ordnen, dass regelmäßig nur einer der - potentiell kollidierenden - Rechtssätze gilt. Sie unterscheidet zwischen der verfassunggebenden und der verfassten Gewalt, um jede Revolution durch staatliche Organe als Verfassungsbruch zu entlarven. Sie hebt die verfassunggebende von der verfassungsändernden Gewalt ausdrücklich ab, um die Kontinuität der Verfassungsentwicklung in Inhalt und Verfahren zu gewährleisten. Sie ordnet die verschiedenen Gesetze in einem Rangverhältnis und deren Aussagen nach Spezialität und Priorität. Die Verfassung duldet traditionell keine gleichrangigen, konkurrierenden Normen. „Schonender Ausgleich" und „praktische Konkordanz" harmonieren innerhalb des Verfassungsrechts, nicht zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht oder Verfassung und Vertragsrecht. Gleichwohl: das moderne Verfassungsrecht anerkennt mittlerweile eine „offene Staatlichkeit" 97 3 , die den Staat zur Völkerrechtsfreundlichkeit und zur Mitwirkung 97 1 Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative im Umfeld des Vietnam-Krieges in den sechziger und siebziger Jahren belegen dies. Was die treaty power anbelangt, das verfassungsrechtlich verbriefte Zustimmungsrecht des Senats zu in-
ternationalen Verträgen, so hat die Exekutive im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, den Senat dadurch zu unterlaufen, dass sie statt Verträgen (treaties) Regierungsabkommen (executive agreements) geschlossen hat, die keiner Senatsmitwirkung bedürfen. Selbst so folgenträchtige Abkommen wie die von Jalta und Potsdam im Jahre 1945 sind dem Senat nicht zur Abstimmung vorgelegt worden. Auch in den folgenden Jahrzehnten haben die Regierungen der USA zahlreiche militärische Geheimabkommen mit anderen Staaten getroffen, von denen der Kongress zuweilen nichts gewußt hat. 97 2
Vgl. statt vieler R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus, Rechtsbindung, in: P.-C. Müller-Graff/E. Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union. 1998, S.99ff.: H.-D. Horn. Über den Grundsatz der Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspektive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. 2. Aufl. 1962. S. 106. Siehe des weiteren M. Sinwi . Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Zum „institutionellen Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003. S. 217. 9 73 So etwa bereits K. Vogel. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die inter natio nale Zusa mme nar bei t. 1964. S. 33 f.. 42 f. Siehe im euro päis chen Kon text auch
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97 4 an der Europäischen Union verpflichtet . In Deutschland beauftragt Art. 23 GG die staatlichen Organe, diese offene Staatlichkeit des Grundgesetzes in Richtung 97 5 Diese Offenheit auf die europäische Integration nachhaltig fortzuentwickeln. für die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt in Deutschland durch europäische Organe hat zur Folge, dass neben die staatliche Gewalt eine europäische Gewalt tritt, die ihre Legitimation, ihre Untergliederung und Mäßigung nicht nur im Binnenbereich des deutschen Verfassungsrechts findet. Vielmehr entsteht eine zur Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen berechtigte europäische Gewalt, deren Ziele und Handlungsweisen konträr zu denen des einzelnen Mitgliedstaates stehen können. Dementsprechend gehören Rechtskonflikte zwischen der Gemeinschaft und einem Mitgliedstaat zum europäischen Rechtsalltag. Nicht zuletzt deshalb steht die europäische Rechtsgemeinschaft vor der Aufgabe, diese Gewalten einander zuzuordnen, aufeinander abzustimmen und auf ein gemeinsames Maß auszurichten.
Der klassische Gedanke der Gewaltenteilung findet einen neuen Anwendungsbereich. Angelpunkt der klassischen Gewaltenteilung ist das Gesetz. Dieses wird innerhalb der Europäischen Union vom Rat beschlossen und dort über die Parlamente der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Würden nun die Mitgliedstaaten von der Kontrolle dieser Rechtsetzung durch einen ausschließlichen Entscheidungsvorbehalt der Europäischen Gemeinschaft ausgenommen, so wäre die demokratische Legitimationsgrundlage geschwächt. Allerdings sind die Gemeinschaftsorgane ihrerseits funktionenteilend organisiert und haben im EuGH ein Gericht, das allen Maßstäben eines Rechtsprechungsorgans genügt. 97 6 Dieses Gericht ist funktionell mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten verschränkt und teilweise funktional in die mitgliedstaatliche 97 7 Gerichtsbarkeit eingegliedert. Die mitgliedstaatliche Rechtsordnung und die Gemeinschaftsrechtsordnung stehen ebenso wie die mitgliedstaatliche und die gemeinschaftsrechtliche Gerichtsbarkeit „nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander", sondern sind „in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander
P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe Europäisc hes Verfassungsr echt, Band 4. Foru m Constitutionis Europa e - Band I, 2000. S. 37 ff. 97 4 Vgl. P. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze. Handbuch des Staatsrechts VII. 1992. § 160 Rn. 16. 9 5
Vgl. dazu K.-P. Sommermann, Staatsziel ..Europäische Union", in: DÖV 1994. S. 596 ff.; C.Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, S. 489 ff.. 493. 976 97 7
Vgl. nur BVerfGE 73, 339 (367 ff.) - Solange II. Vgl. insbesondere Art. 234 EGV. sowie BVerfGE 73, 339 (368).
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978 verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet" . Damit ist der Auftrag der Gewaltenzuordnung, Gewaltenbalancierung und Gewaltenkooperation
definiert.
97 9
In der vertikalen Gewaltenteilung steht die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union von denjenigen der Mitgliedstaaten bzw. subnationalen Einheiten im Vordergrund: bei der horizontalen Gewaltenteilung handelt es sich um die funktionale Rollen der EU-Institutionen, d. h. um die Frage, welche Institution ist das legislative, welche das exekutive Organ und wie stehen die Organe zueinander. Grob gesagt geht es um den „politischen Überbau", dessen klare Ausgestaltung den latenten und immer heftiger werdenden Vorwurf des Legitimationsdefizits der Europäischen Union entkräften soll. Ein erster Schritt hierzu war sicherlich die Verabsch iedung der „Europäisch en Grund rechtsch arta", der jedo ch nicht als 98 0 ausreichend erachtet werden kann. Aus unionsrechtlic her Sicht ruht di e Europäisc he Union nach Art. 6 Abs. 1 EUV, aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die Europäische Gemeinschaft gemäß einem allgemeinen Rechtsgrundsatz auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, als dessen Teil sich der Grundsatz der Gewaltenteilung auffassen lässt. Zwar meidet der EuGH (noch) den Begriff der Gewaltenteilung. Er hat aber mit dem „institutionellen Gleichgewicht" ein dem Grundsatz der klassischen Gewaltenteilung verwandtes Prinzip im Gemeinschaftsrecht entwickelt. Während das „institutionelle Gleichgewicht" die horizontale Aufteilung von Funktionen und Macht zwischen den Organen und Einrichtungen anspricht, greift das Subsidiaritätsprinzip ein Element der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf. Es liegt nahe, die auf gemeinschaftlicher Ebene aufgefundenen gewaltenteilenden und -hemmenden Regelungen und das im Grundgesetz (GG) verankerte Prinzip der Gewaltenteilung als einen einheitlichen Rechtssatz aufzufassen. der sowohl die Gemeinschaftsrechtsordnung als auch die innerstaatliche Rechtsordnung erfasst und umspannt. Es handelt sich nicht um ein gemeinschaftsrechtliches Gewaltenteilungsprinzip auf der einen und um ein mitgliedstaatliches
978
BVerfGE ebenda. Der Rechtsmaßstab dieser Kooperation weist dem Europäischen Gerichtshof die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages zu und sichert durch den Gerichtshof eine möglichst einheitliche Ausl egung und Anwe ndung des Gemeinschaftsrechts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrages, vgl. BVerfGE ebenda. während die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte die Rechtsverantwortung für ihr Europaverfassungsrecht und die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsanwendungsbefehls tragen. So wird für das Verhältnis von Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaat ein Gewaltenmonismus auf der einen oder anderen Seite vermieden. 979
9 8 0 Vgl. U. Guerot, Eine Verfassung für Europa. Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2/2001. S. 28 ff.
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Gewaltenteilungsprinzip auf der anderen Seite, sondern um einen übergreifenden gemeineuropäischen Rechtssatz. Die Trennung zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und „autonomer" Gemeinschaftsrechtsordnung wird damit zumindest partiell überwunden. Die auf Gewalten- und Funktionentrennung zielenden Regelungen des Gemeinschaftsrechts und des innerstaatlichen Rechts sind Ausdruck eines rechtsordnungsüber98 1 greifenden Grundsatzes der Gewaltenteilung. d)
Identität und der Begriff der Nation
Ihren Appell, die Union nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, begannen die „Federalists" mit einem inhaltlichen wie nahezu literarischen Paukenschlag: Es sei dem amerikanischen Volk vorbehalten, auf seinem Territorium eine Menschheitsfrage zu entscheiden, nämlich die, ob „[...) menschliche Gemeinschaften wirklich dazu fähig [sindj, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten", oder ob sie „für immer dazu verurteilt sind, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von 9s: Zufall und Gewalt abhängig zu sein." In Amerika stand erstmals das Experiment einer großräumigen Republik an. die sich noch dazu nicht dem Zufall, sondern dem erklärten Willen der Bevölkerung verdanken sollte. Das Modell vom Gesellschaftsvertrag, mittels dessen sich die Bürger eine frei vereinbarte Ordnung geben, hatte erstmals die Chance, Wirklichkeit zu werden.
' ,s l Die rechtsordnungsübergreifende Natur insbesondere des Grundsatzes der Gewaltenteilung erweist sich nicht zuletzt im vertikal gewaltenteilenden Subsidiaritätsprinzip. das auch eine Gewaltenbalance zwischen europäischen und staatlichen Organen schaffen will. Es weist über die jeweilige Rechtsordnung hinaus und setzt notwendigerweise die Existenz einer vorrangig und einer subsidiär zur Rechtsetzung berufenen Ebene voraus. Neben dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der den Grundsatz der Gewaltenteilung einschließt, findet man bei einem Abgleich von Art. 6 Abs. 1 EUV und etwa Art. 23 Abs. 1 Satz I GG das Demokratieprinzip und die Grund- und Menschenrechte, deren Beachtung wechselseitig von der jeweils anderen Rechtsordnung eingefordert wird. Das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip sowie die Grund- und Menschenrechte sind ebenfalls rechtsordnungsübergreifende Rechtssätze, vgl. zum Rechtsstaatsprinzip auf dessen vergleichende Darstellung etwa mit der US-amerikanischen ..Rule of Law" in dieser Arbeit verzichtet werden muss, insb. P. Hüberle , Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff. m. w. N.; vgl. allgemein aus der Lit. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. 1986; ders., Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II. 2001. S. 379 ff.; K.Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. 1997; E.Sarcevic, Der Rechtsstaat. 1996. Zur europäischen Ebene bereits E.-W. Fuss. Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Gemeinschaften. in: DÖV 1964. S. 577 ff.: vgl. auch D. Buchwald, Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union, in: Der Staat 37 (1998). S. 189 ff.; J. Schwarze. Rechtsstaatliche Grundätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Festschrift für G.C. Rodriguez Iglesias, 2003. S. 147 ff. 98 2 Vgl. The Federalist, I. Artikel (Hamilton).
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
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Indem die „Federalists" auf diesen Sachverhalt hinwiesen, appellierten sie an den amerikanischen Bürgerstolz. Damit hatten sie der Diskussion von vornherein eine Richtung gegeben, die kleinliches Kalkül geradezu verbot. Es ging nicht nur um das vordergründige Selbsterhaltungsinteresse, sondern darüber hinaus um eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Dimension. Wie immer das Ergebnis dieser Entscheidung zu beurteilen ist - wer sich an einem Geschehen beteiligt weiß, mit dem ein Meilenstein in der Geschichte gesetzt wird, dem ist damit ein Motiv gegeben, über den bloßen Augenblick, über das eigene kleine Leben hinaus zu denken. Mag man auch solchen Stolz auf das Mitwirken im Weltgeschehen als eine nur etwas subtilere Form der Befriedigung des Eigeninteresses deuten - auf jeden Fall verkörpert sich darin ein wenig mehr als die Sorge um das bloße Alltagsgeschäft, und dieses „Mehr" ist es wohl auch, das Begeisterung zu wecken vermag. Große Ideen mobilisieren gelegentlich auch große Emotionen, und auf diese ist man bei der Durchsetzung von über den Tag hinausweisenden Zielvorstellungen nicht weniger angewiesen als auf einen klaren, nüchternen Verstand. Doch die „Federalists" beließen es nicht bei der Beschwörung der großen Idee, sie bedienten mit ihrer Argumentation auch eine der verlässlichsten innermenschlichen Kräfte: die Selbstbezogenheit. Indem sie versprachen, dass sich gerade durch das neue System das Eigeninteresse der Einzelstaaten und ihrer Bürger frei entfalten könne, forderten sie kein fundamentales Umdenken, sondern empfahlen ein neues Mittel für einen alten Zweck. So sind die Vorteile, die die Autoren einer neu konsolidierten Union zuschrieben, auch unmittelbar evident, weil von der Art, wie sie im Überlebenskampf zählen: Die Union der Staaten ermöglicht 4 wirtschaftlichen Wohlstand und eine effizientere Sicherheitspolitik.''"
9 83
Vgl. auch A und W.P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.). Hamilton. Alexander. Die
Federalist-Artikel. 1994. S. xxviiff., xlivf. sowie großräumigen Politik, in FAZ vom 27. 11.1997. S. 11.
B. Zehnpfennig. Das Experiment einer
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Zu den ökonomischen Vorteilen zählt der Wegfall der Zollschranken, eine bessere Erschließung von Ressourcen, das Auffangen von Angebots- und Nachfrageschwankungen im gemeinsamen Markt und die Belebung des Außenhandels durch ein Warenangebot, das aufgrund der freien Rohstoff- und Warenzirkulation in der Union preislich und qualitativ auch für andere Nationen attraktiv wird. Was die Sicherheitspolitik angeht, so sahen die ..Federalists"in einer engen Union den Garanten für Frieden zwischen den Staaten wie auch zwischen der Union und anderen Nationen: schon die gemeinsame Stärke sollte andere davon abschrecken, nach dem bewährten Prinzip des ..divide et impera" zu verfahren und die Staaten gegeneinander auszuspielen. Bloße militärische Allianzen lehnten die Autoren allerdings ab. Wer erst im Krisenfall als Einheit auftritt, hat vorher vielleicht politische Fakten geschaffen, die dann ein gemeinsames militärisches Vorgehen unmöglich machen, vgl. hierzu A. und W. P Adams. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hamilton. Alexander. Die Federalist-Artikel. 1994. S. xxvii ff. sowie M. Diamond. Democracy and The Federalist: A Reconsideration of the Framers' Intent. in: American Political Science Review 53 (1959). S. 52 ff. In weiterem Kontext E.F. Miller, What Publius Says about Interests. in: Political Science Reviewer 19 (1990). S. 11 ff.
1
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Das amerikanische Nationalgefühl ist zweifelsohne - und nicht erst seit dem 11. Sep tem ber 2001 („United we sta nd." „We are all Ameri can s.") - eines d er stabilsten Bindeglieder innerhalb der Bevölkerung. Was die Menschen allgemein primär eint, nämlich eine Bedrohung von außen, spielte auch zu Zeiten der Verfassunggebung eine bedeutende Rolle. Schließlich hatten die Siedlerden Unabhängigkeitskrieg unter Einsatz ihres Lebens gewonnen. Ein weiteres einigendes Element für das Identitätsgefühl war sprachlicher Natur, da sich trotz der Vielsprachigkeit der aus allen Teilen Europas kommenden Einwanderer Englisch als die „lingua franca" durchsetzte. Schließlich verband die Siedler auch die Immensität der gemeinsamen Aufgabe, den weiten Kontinent zu erschließen, sich die Chancen nutzbar zu machen und die Gefahren zu überwinden. Gleichwohl wäre es ein Mythos, anzunehmen, das amerikanische Volk sei gleichsam mit unteilbarer 98 5 Identität und Souveränitätsbewusstsein „geboren". Europäern fehlt die gemeinsame Sprache. Die „finalite politique", das Ziel einer Föderation von Nationalstaaten (zum Unterschied der „föderierten Nation" der USA) ist begründet auf dem (nie gänzlich illusionsfreien) Motto der „Einheit in 98 6 Vielfalt". Trotzdem darf von einer „europäischen Identität" gesprochen werden. Letztere zu definieren ist zum ersten Mal in dem Dokument des Europäischen Rates in Kopenhagen 1978, sodann mit der Einsetzung des Adonnino Ausschusses in Fontaineb leau 1984 versucht worden. Die Zielse tzung war freil ich nicht, nationalstaatliche Identitäten in einem europäischen „melting pot" zu verschmelzen. Aber ebenso wie „life, liberty and the pursuit of happiness" (vgl. die Declaration of Independence, 1776) das umfassende amerikanische Lebensprinzip wurde, sind die Europäischen Gemeinschaften mit den Zielen Frieden, Wohlstand. Solidarität, Freiheit, und der Absicht. Europa eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu geben, ins Leben gerufen worden. 98 7 9 85
Siehe auch
G. Burghordt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-
winke USA . Brothers. Vortrag an Humb oldtGeneration. -Uni vers ität zu Ch. Berlin am 6. Juni.So200 2. sowie J. Ellis.l der Founding Theder Revolutionär^ 2002. „Generations: vereignty did not reside with the federal government or the individual states; it resided with The People. What that meant was anyone's guess, since there was no such thing at this 4 formative stage as an American .people ; indeed. the primary purpose of the Constitution was to provide the framework to gather together the scattered strands of the population into a more coherent collective worthy ofthat designation." Dem großen ..amerikanischen" Europäer A. Einstein wird inflationär folgender Satz zugeschrieben: „America is not a State, it is a continent. The Americans are not a people but the result of permanent immigration which has not yet come to an end." 986 Vgl. H. Haarmann (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, 1995; M.Schauer, Europäische Identität un d demokratis che Tradition. 1996: D.Scholz, Europa - vom Mythos zur Union. Gedanken über die europäische Identität und die Aufgaben Europas nach Maastricht II. 19%. Vgl. auch E. Pache. Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: DVB1.2002. S. 1154ff: XV. Graf Vitzthum. Di e Identität Europas, in: EuR 2002. S. I ff. 98 7 Der europäische Verfassungskonvent stand letztlich auch in diesem Kontext vor der Aufgabe. Europa den Bürgern näher zu bringen, die Identifizierung des Einzelnen
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Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs verleiten zur Annahme, hier sei europäische Identität raumgreifend und in den Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Eine ähnliche Grundstimmung atmet das jüngste Europa-Manifest des Philosophen J. Habermas™* Man orientiert sich allerdings an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - gekoppelt mit einem ungebrochenen Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates und unverho hlener Skepsis gegenüb er je ne m des freie n Mar ktes . Den alte n Kontinent als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich für Europa-Idealisten geradezu auf. Diese Haltung wirft jedoch Fragen auf: Unterscheidet sich Europa wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es sich durch diesen Gegensatz selber charakterisieren und die viel gesuchte Identität finden kann - im „Alles-nur-nichtAmerikaner-Europäer"? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle der Karikatur eines „Neoliberalismus" nach Wildwestmanier - in seiner gegenwärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv r genug, um identitätsstiftend sein zu können? W ie stark ist denn eine europäische „Hochkultur", die gegen den Angriff des amerikanischen „Primitivismus" durch protektionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den Holocaust wirklich mehr „sensibilisiert" als ein Amerika, das während mehr als 200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten bekämpft und besiegt und sich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige europäische Identitätssuche tendiert in eine Sackgasse zu münden. Das Misstrauen gegenüber Amerika mag in einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren sowie in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutschfranzösisches Direktorat für Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen. Die Aufnahme der neuen Mitglieder hat die Union bereits in wichtigen Teilbereichen belebt und sie aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Es wird für Frankreich schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich ebenfalls in einer neuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen und Zweckbündnisse schließen wird. Großbritannien hat dies in der Irak-Krise bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer Weltmacht Europa träumen, die mit Amerika „auf gleicher Augenhöhe" stehen könnte, finden im Konventsentwurf wenig Konkretes. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip Einstimmigkeit unterworfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär. mit dem Einigungswerk zu erleichtern, den europäischen Bürger zum „stakeholder" der gemeinsamen Zukunft zu machen. Ein symbolträchtiger Anfang war mit europäischer Hymne. Flagge und dem Euro gelungen. 988
Vgl. J. Habermas (mit J. Derrula ), Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom 31. Mai 2003. auch in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff.
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Die Mitgliedstaaten sind in ihre n Verfassungswerten, den gemeinsam en Verfassungsüb erlief erungen und der jeweiligen national en Identität 98 9 zuweilen ausgeprägter typisch europäisch als die Europäische Union, die sich unter dem mehr oder weniger sanften Diktat der Wirtschaftsgemeinschaft eher am Globalen ausrichtet. P. Häberle sieht in „Europa i. e. S. der Europäischen Union bzw. der Römischen Verträge (1957) sowie der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997), f... 1 durchaus schon ein Ensemble von Teilverfassungen" verwirklicht, wobei eine „VollVerfassung" im Sinne des klassischen Verfassungsstaates schon daran schei99 0 tere, dass Europa kein „Staat" sei. Gleichwohl ist im gemeinschaftsrechtlichen Kontext der Verfassungsbegriff - wie oben dargestellt - von seinem traditionellen Staatsbezug zu lösen'" 1 und einer neuen Wirklichkeiten gewachsenen Definition zuzuführen. Ein Erwachsen in eine erneute „Verfassungsmoderne" auf den Fundamenten, unter der „Elternschaft" europäischer Verfassungsleitbilder, aber insbesondere auch im Bewusstsein amerikanischer Verfassungsgestaltung. Ein identitätsstiftendes Moment erscheint diesbezüglich nicht ausgeschlossen. Eine weitere Frage (die aufgrund ihrer vordergründigen Loslösung vom gemeinschaftsrechtlichen Ansatz eher als Inkurs dient) im Kontext der unterschiedlichen Grundverständnisse umfasst die jeweilige Betrachtung der „Nation". Hierbei ist zunächst zu konstatieren, dass die Nation in Europa während etwa zweihundert Jahren in gewisser und freilich höchst eingeschränkter Weise an die Stelle der Religion getreten ist. Die - wie berei ts erwähn t - im 17. Jahrh und ert der Staatlichkeit unterworfene Religion wurde als kriegsauslösendes Element gebannt. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen, sondern zwischen den Nationen statt, aber die kriegsrelevanten Mechanismen waren durchaus vergleichbar. Die „Nation" war durch die Romantik ursprünglich als ein eher kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die 99 2 als zu intellektuell empfundene Aufklärung. Die romantischen Gegenwerte zur Aufklärung fanden im kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag. Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die fran-
''s,< Aus der Lit. zur ..nationalen Identität": A. Bleckmann. Die Wahrung der nationalen Identität im Unionsvertrag, in: JZ 1997, S. 265 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: A. Randelzhofer/R. Scholz/D. Wilke (Hrsg.). Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. 1995, S. 157ff: U.Haltern. Europäischer Kulturkampf. Zur Wahrung „nationaler Identität" im Unionsvertrag, in: Der Staat 37 (1998), S. 591 ff.; K. Doehring, Die nationale „Identität" der Mitgliedstaaten der EU. in: O. Duc u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling. 1995, Band I. S. 263 ff. 990 Siehe P. Häberle, Verfassung als Kultur, in: JöR 49 (2001), S. 125 ff., 132. 99 1
So auch P. Häberle, ebenda. Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus. von der Vernunft, vom Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft wurde in der Romantik 99 2
die Emotion betont, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige. das Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die Gruppe.
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zösische Revolution nun aber einen identitätsstiftenden Rahmen. Der König, der als staatliche Identifikationsfigur („L'Etat c'est moi") gedient hatte, war abgesetzt worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation in ein politisches umgewandelt, das nun plötzlich zur Bildung von „Nationalstaaten*' beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas (England, Frankreich. Spanien) wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser Form. Etwas gänzlich konträres ereignete sich in Amerika: formal wurde freilich ein Nationalstaat gegründet. Angesichts des umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle allerdings nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unterschied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und vor allem in moralischen Kategorien manifestieren. Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begründet sich weitgehend religiös und moralisch. Im Verständnis der Vereinigten Staaten spielte das „Gute", für das diese Nation steht, von allem Anfang an eine zentrale und religiös begründete Rolle. In diesem Zusammenhang erweist es sich als banale Konsequenz: Wenn es das „Gute" gibt, muss es aber auch das „Böse" geben. Nach außen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten identifiziert, und dies auch schon lange bevor die „Achse des Bösen" erfunden worden ist. Nach innen werden „böse" Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum „Guten". Hier liegt ein weiterer Grund für die Inkompatibilität von „existentieller Zugehörigkeit" nach europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität. e)
Das Demokratieprinzip - Anmerkungen
Die Verfassungsurkunde der USA enthält an keiner Stelle das Wort „demokratisch", eine Unterlassung, die nicht zuletzt aus einer unterschiedlichen Nutzung >x der Terminologie im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verstehen ist/" Laut E. Fraenkel verstand man zur Zeit der Schaffung der Verfassung unter dem Wort „demokratisch" lediglich eine unmittelbare Demokratie, wie sie in antiken w Von überragend kultureller Bedeutung für die Etablierung des demokratischen Gedankens ist neben aller wissenschaftlicher Ansätze bis heute die Lyrik W. Whitmans. Sein in erweiterten Ausgaben erschienenes Haupwerk „Leaves of Grass" (erste Ausgabe 1855. Ausgabe letzter Hand 1891 -92) feiert ausdrucksstark den freien Menschen und das Ideal der amerikanischen Demokratie. Whitmans Werk beeinflusste überdies die Lyrik Europas, besonders des Expressionismus. Er selbst sah manche seine Wurzeln wiederum
dort, unter anderem bei Homer. Shakespeare un d Goethe und im Pathos der italienischen Oper. Hierzu D. Reynolds. Walt Whitmans America. A Cultural Biography, Neuausg. 1996.
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Stadtstaaten bestanden hatte und in einzelnen Schweizer Kantonen existierte. Eine auf dem Repräsentativsystem aufgebaute, das Prinzip der Volkssouveränität
99 4
zum Mindesten theoretisch respektierende Verfassungsform nannte man ..Republik". Nur unter Berücksichtigung dieses Sprachgebrauchs ist es voll verständlich, warum bei der Beratung und Ratifizierung der Verfassung mit solchem Nachdruck darauf hingewiesen wurde, dass die USA zwar ein „republikanisches", aber kein 99 5 „demokratisches" Staatswesen darstellen sollten. Das demokratische Element im Prozess der politischen Willensbildung der USA wird durch die Tatsache gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu Kontinentaleuropa die demokratischen Kräfte sich nicht gegen monarchische, aristokratische, bürokratische und militärische Kräfte durchzusetzen, sondern ausschließlich mit der Opposition einer sic h in ihren Eigentumsrecht en bedroht fühlenden wir tschaftlichen Elite zu rechnen hatten. Zudem war der letztliche Sieg der demokratischen Kräfte nicht durch theoretisch abgeleitete Vorstellungen eines „Gesamtwillens" beeinfiusst, der die Geltendmachung von Partikularinteressen grundsätzlich ausschließt. sondern als eine Erscheinungsform der Wahrnehmung der individuellen Interessen der sozial nicht differenzierten Siedler des neuerschlossenen Grenzraums („frontier") in Erscheinung trat. Die schrittweise Demokratisierung des amerikanischen Regierungssystems hat dessen rechtsstaatlichen und pluralistischen Charakter nicht beeinträchtigt (- eine Erkenntnis, die im Lichte aktueller amerikanischer Außenpolitik und darin strategisch verankerter „Demokratisierungs-Missionen" auch spiegelbildlich Aktualität beanspruchen könnte). Ebensowenig wie die Doktrinen Rousseaus den ursprünglichen Verfassungstext bestimmt haben, konnten die Theorien der Französischen Revolution die Fortentwicklung der Verfassungsordnung maßgeblich leiten. Allerdings verbergen sich (auch) in den USA hinter dem Bekenntnis zur Demokratie zuweilen widerstreitende politische (und in der Demokratietheorie inflationär behandelte) Haltungen: Eine plebiszitäre Vorstellung der Demokratie, die von der These ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit einen Ausfluss eines einheitlichen nationalen „Gemeinwillens" darstellen und von ihm getragen werden solle, und eine pluralistische Vorstellung der Demokratie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit die Resultate aus dem Kräftespiel der verschiedenen Gruppen994 E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, i960. S.39ff. sowie //. Wasser; Die Vereinig ten Staat en von Ame ri ka. Porträ t einer Weltma cht. 2. Auf lag e 1982 unter häufiger Bezugnahme auf Fraenkel. 9 95
Nach der Konzeption der amerikanischen Verfassung kann das Gemeinwohl nur durch das freie Zusammenspiel der Einzelinteressen erreicht werden. Hierzu sind Spielregeln erforderlich, die - zum Mindesten in der ersten Periode der amerikanischen Verfassungsgeschichte - sehr viel stärker durch rechtsstaatliche und pluralistische als durch demokratische Gedankengänge bestimmt waren.
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willen darstellen und von diesen gebilligt werden solle. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert respektive seit den Tagen, in denen die „Federalist Papers" verfaßt wurden, haben in den USA diese beiden Anschauungen der Demokratie wiederkehrend miteinander um die Vorherrschaft gerungen. Zuweilen hat dieses Ringen zu einer Art „Arbeitsteilung" geführt und bewirkt, dass die Ideologie der Demokratie auf der plebiszitären und die Soziologie der Demokratie auf der pluralistischen Grundvorstellung vom Wesen der Demokratie aufgebaut war.
99 6
Die Frage, ob die Verfassung der USA eine republikanische oder eine demokratische ist. beantwortet R.A. Dahl wie folgt: „Madison meint Demokratie, wenn er repräsentativ, direkt oder indirekt durch das Volk gewählte, republikanische Regierung sagt." 99 7 In Europa besteht „demokratische Identität" in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität weniger in diesem Bereich als darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne zu berufen vermag, und die man als Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. Demzufolge erhalten Recht und Justiz in den Vereinigten Staaten eine gänzlich andere Funktion als in Europa, nämlich letztlich eine in weiten Teilen politische. 99 8 In Europa bedeutet übrigens „Politik" unter anderem, dass in den politischen Instanzen, insbesondere in den Parlamenten um die Gesetzgebung gestritten wird: die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staaten wird um Rechte gestritten: der Staat schafft hierfür nur den äußeren Rahmen. Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt - horizontal - in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründervätern dieser Nation die Vorstellung eines „vernünftigen Gemeinwillens" fremd war, der in Europa der Staatsbildung weitgehend zugrunde liegt. Die „founding fathers" wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken. Die Frage nach den Erscheinungsformen des Demokratieprinzips in der Europäischen Union wird oftmals mittels der Benennung der Defizite beantwortet. 996
Vgl. zu alledem
E. Fraenkel. Das amerik anisch e Regierungssystem,
i960. S. 39 ff.
99 7
Vgl. R.A. Dahl. How Democratic Is the American Constitution. 2002. S. 5. 161. 99 8 Vgl. auch G. Haller. Recht - Demokratie- Politik. Zum unterschiedlichen Verständnis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks. Referat anlässlich der Tagung ..Die USA - Innenansichten eine Akademie in Bayern. München,
r Welt macht ", 7. /8 . Februar 2003 an der Katholischen http://www.grethaller.ch/kaih-ak-muenchen.html.
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Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar Schlaglichter geworfen werden sollen.
99 9
, weshalb lediglich einige
Zum einen: Der Inhalt einer Verfassung, ihr Entwicklungsstand bestimmt sich auch nach der Intensität von Gestaltungswillen und -vermögen der sie umgeKl00 benden oder schaffenden Organe , insbesondere aber einer sie einfassenden 10 1 „demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit" " . Die nationalstaatlichen Regierungen, die auch die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union unter ihrer Kontrolle haben, sträuben sich weitgehend gegen 1002 eine Verminderung ihres Einflusses. Solange der Union jedoch eine eigenständige demokratische Legitimation fehlt, könnte der Einfluss der Regierungen auch aus normativen Gründen nicht rasch zurückgedrängt werden. Ohne europäische Medien, europäische Parteien und eine europäische öffentliche Meinung lässt sich das europäische Demokratiedefizit auch nicht durch bloße Verfassungsreformen abbauen. Zum Zweiten besteht der Kern des viel beklagten „europäischen Demokratiedefizits" indes darin, dass - bei wachsendem Anteil europäischen Rechts, das auf die nationalstaatliche Ebene durchgreift-die in den Mitgliedstaaten geltenden Partizipationschancen tendenziell entwertet werden. Die nationalen Parlamente sind nur noch begrenzt zuständig für die Entscheidungen, denen die Bürgerdann unterworfen sind; die nationalen Regierungen sind nur noch begrenzt zur Verantwortung zu ziehen; die Rechte und Kompetenzen der Länder (in den Bundesstaaten unter den Mitgliedstaaten) sind weder gegenüber „europäischem Zugriff' noch gegenüber der jeweil s eigenen Bund eseben e gesichert. 99 9 Vgl. etwa A. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip. in: JZ 2001, S. 53 ff.. 57: D. Tsatsos , Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion. in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl tt. a. (Hrsg.). Europäische Demokratie, 1999: D. Thürer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: O. Due u. a. (Hrsg.). Festschrift für U. Everling. 1995. Band 2. S. 1561 ff.: M. Kaufmann. Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften und Staa tspr axis 1992, S. 349 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 29 (1993). S.449 ff.; H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische Legi tima tion , in: AöR 120 (1995 ), S. 269 ff.; D. Murswiek. Maastricht und der pouvoir constituant. in: Der Staat 32 (1993), S. 191 ff. 1000 Es stellt sich allerdings die Frage, welchem Organbegriff Institutionen zuzuordnen sind, die eine Verfassung erst schaffen: Verfassungsorganc werden selbst in der Regel erst durch eine Verfassung gebildet. 1001 p Hüberle sieht diese demokratische - pluralistische - Öffentlichkeit als Beteiligte an Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 235 ff. und in: Verfassung als öffentlicher Prozess. 2. Aufl. 1996. S. 198 ff.). 1002 Vgl. F. Scharpf. Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschr ift. 1985. S. 323 ff.
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Zur Evaluation"" 3 : auf europäischer Ebene sind die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger vom Umfang betrachtet mager und angesichts ihrer Relevanz dürftig. Auf Sachentscheidungen ist den Bürgern keinerlei Einfluss eingeräumt; unter personellen Gesichtspunkten entsprechen die gewährten Möglichkeiten kaum dem Kriterium der „meaningful elections". Auch der Differenzierungsgrad der Beteiligungsmöglichkeiten ist gering. Es findet keine Differenzierung nach Stadien des Entscheidungsprozesses statt; hinsichtlich der Entscheidungsebenen ist eher ein Minus zu konstatieren, da die europäische Ebene die Chancen effektiver Beteiligung auf mitgliedstaatlicher Ebene verringert. Nur nach Sektoren gibt es eine gewisse Differenzierung, wenn auch nur informell: Über Anhörungen und den Zugang zu europäischen Politiknetzwerken gelingt es sektoralen Eliten, aber auch NGOs durchaus, den europäischen Entscheidungsprozess - ggf. sogar im Stadium des agenda-setting - zu beeinflussen. Zudem ist das Kriterium der Kontestierbarkeit nur marginal erfüllt. Der EuGH kann zwar gegen die Mitgliedstaaten 1(104 angerufen werden, kaum jedoch gegen europäische Entscheidungen. Die Mitgliedstaaten bleiben abseits der EU-Regelung sbereiche weitgehend autonom. Mangels vertraglicher Kompetenzabgrenzung sind ihre Autonomiebereiche indessen nicht „gesichert"; auch verringert sich die Schutzwirkung mitgliedstaatlicher Autonomiegarantien gegenüber ihren Untereinheiten. Dagegen werden individuelle Autonomieansprüche gegenüber mitgliedstaatlicher Politik durch Deregulierung sowie dank des Wirkens des EuGH tendenziell gestärkt. Über das nationalstaatliche Veto sowie das Bemühen der Kommission um Einbeziehung organisierter Interessen ist die Inklusivität des europäischen Entscheidungssystems vergleichsweise hoch. Allerdings verfügen Bürger(-gruppen) und Interessenten über keine zuverlässige (einklagbare) Möglichkeit, Inklusion zu erlangen. Das Kriterium der „politischen Gleichheit" (ob nun wünschenswert oder nicht) ist definitiv nicht erfüllt. Weder im Europäischen Parlament noch (vermittelt) im Rat sind die europäischen „Völker" mit gleichem Stimmrecht vertreten. Auch hinsichtlich der Angemessenheit des Entscheidungssystems für die Gesellschaftsstruktur sind Defizite zu vermelden: Das System berücksichtigt die große Heterogenität und mehrdimensionale Segmentierung nur unzureichend.
1005
1003 Vgl. auch H. Abromeit , Ein Maß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich. Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. März 2001, 2001. lom
Siehe aber Art. 230 EGV. loos pQ,- // Abromeit, Ein Maß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich. Vortrag am Ins titut für Höher e Studie n in Wie n am 15. März 20 01. 200 1. gilt das in zweierlei Hinsicht: „(1) Tiefe Segmentierung der Gesellschaft legt .konsoziative' Entscheidungsstrukturen an der Spitze nahe. In der Tat verfügt nach Ansicht etlicher Beobachter die EU über alle wesentlichen Merkmale einer konsoziationalen Politie. vom .power-sharing at the top' über das Prinzip der Proportionalität bis hin zur Autonomie der Segmente. Bei
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Die bisherigen Demokratisierungsversuche laufen weitgehend auf Parlamentarisierung (und damit den Abbau der konsoziativen Elemente hinaus, setzen sie doch majoritäre an die Stelle von Konsenspolitik). Mehrheitsentscheidungen im Entschei dungszent rum werden aber weder der Heterogenitä t der Gesellschaft noch der Mehrdimensionalität der Segmentierung noch gar der „variablen Geometrie" europäischer Politik gerecht. Die europäische Demokratie ist vor allem die Aufgabe der Bürger und der Politik in den Mitgliedsstaaten. Eine europaweite bzw. europäische Öffentlichkeit - von Fachleuten. Wirtschaft und Verbänden abgesehen - gibt es bisher in breiten Bürger- und Wählerschichten kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird - insbesondere angesichts der kommenden Erweiterungen der Union. Ohne eine europäische Öffentlichkeit würde aber auch eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments nicht vielmehr Demokratie als lediglich formale Zurechnung erreichen. Die Charakterisierung des Demokratiedilemmas der Europäischen Union als Demokratiedefizit legt es nahe, das Defizit durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments zu reduzieren. Weniger formal erscheint es, weiterhin darauf abzustellen, dass in den Öffentlichkeiten der Mitgliedsstaaten und in ihren Parlamenten europäische Probleme und Fragen immer und transparent auf der Tagesordnung stehen, um die „Rückkoppelung" europäischer Politik an die Volksvertretungen der Mitgliedsstaaten zu gewähren. Das wohltuende Bestehen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts 1006 auf „lebendiger Demokratie" in den Mitgliedsstaaten ist wahrscheinlich noch auf lange Zeit wichtiger für Europa als Straßburg oder rechtliche Dispute über Kompetenzvorschriften in Luxemburg. Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele Demokratien pluralistischer, offener, sachlicher, weniger hierarchisch, fairer geworden. Von der Fortdauer dieser nationalstaatlichen Veränderungen hängt unsere Zukunft ab. Am Ende des Verfassungskonvents von Philadelphia im Jahne 1787 wurde laut einer inflationär zitierten Anekdote B. Franklin von einer Mrs. Pawel gefragt: „Was haben wir denn nun, Doktor, eine Republik oder eine Monarchie?" Franklins genauerem Hinsehen hapert es aber nicht nur an der Proportionalität; es fehlt vielmehr ein entscheidender Aspekt des Konsoziationaüsmus. nämlich die systematische Einbeziehung auch, wenn nicht gar vor allem der mc/iMerritorialen Gesellschaftssegmente. Das europäische Elitenkartell ist eindimensional territorial und damit .föderativ': Machtteilung. Proportionalität und Autonomie gelten nur für die Mitglied.v/««/en: Eliten aus den übrigen Segmenten sind nicht einbezogen, verfügen über keine Einspruchsrechte, setzen ihre Ansprüche am besten durch Liaison mit der einen oder anderen Regierung durch. (2) Der europäische Konsoziationaüsmus ist einseitig .bürokratisch' und gilt vor allem angelsächsischen Beobachtern als größtes Demokratisierungshindernis." 1006 ..Maastricht-Entscheidung" (BVerfGE 89. 155).
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
349
Antwort war: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt" („A republic if you can keep it"). Diese Aufgabe ist eine dauernde - auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Falle Amerikas hat es u. a. einen Bürgerkrieg gebraucht, und dann noch viele Jahrzehnte, um eine integrierte Republik zu erreichen. f)
Inkurs:
Verbreitung direkt demokratischer Elemente
Als prominentes Beispiel mit weit zurückreichender Tradition der Direktdemokratie dürfen die amerikanischen Bundesstaaten angesehen werden, in denen teilweise seit der Gründungszeit direktdemokratische Mitbestimmungsformen praktiziert werden. Sie gelten daher wie die Schweiz als Pioniere der Direkten Demokratie."® 7 Geografisch zeigt sich der Schwerpunkt in den USA vor allem im Westen und Mittleren Westen. 1008 Nationale Referenden sind in der amerika nischen Verfassung nicht vorgesehen. Auf der Ebene der bis Bundesstaaten hatlokale sich dagegen das Instrumentarium der Direkten Demokratie, hinab auf die Ebene, weitgehend durchgesetzt. In allen Bundesstaaten sind darüberhinaus auch Anordnungen von Volksabstimmungen aufgrund von Behördenbeschlüssen möglich („legislative referendum"). In einer aktuellen Bewertung europäischer Staaten rangiert die Schweiz an oberster Stelle, Liechtenstein folgt gemeinsam mit Italien. Slowenien und Lettland in der zweiten Kategorie. 10119 Eine weitere Gruppe bilden Irland. Dänemark und Litauen, bevor in einer nächsten, niedrigeren Stufe die Slowakei, die Niederlande, loogjk t zahlreiche Studien und Untersuchungen zur Direkten Demokratie in den amerikanischen Bundesstaaten, vgl. etwa R.J. Ellis, Democratic Delusions. The Initiative Process in America, 2002; L LeDuc, The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective. 2003: in Global L. LeDuc!R.G. (Hrsg.), Democracies. Elections and Voting Perspective. Nieini!R 1996: Norris S.L. Piott. Comparing Giving Voters a Voice. The Origins of the Initiative and Referendum in America. 2003: J. F. Zimmerman, The Referendum. The People Decide Public Policy, 2001: C. Stelzenmüller, Direkte Demokratie in den Vereinigten Staaten vo n Ame rik a. 1994: LJ. Sabato!H.R. Ernst!B.A. Larson (Hrsg.), Dangerous Democracy? The battle over ballot initiative in America. 2001; vgl auch den Überblick zu direktdemokratischen Institutionen in den Gliedstaaten bei S. Xtöckli. Direkte Demokratie in den USA. in: JöR 44 (1996). S. 565 ff. loos z w j s c h c n 1904 und 2002 nah men Or egon mit 325 Ab stim munge n. Californ ien (279). Colorado (183), North Dakota (168) und Arizona (154) die Spitzenposition nach Zahl an Volksabstimmungen auf Bundesstaatenebene ein. vgl. D.M. Waters, Initiative and Referendum Almanac, 2003. ioo aps initiative&Referendum Institut in Amsterdam hat die 15 EU-Mitgliedsstaaten. die (damals ) 13 Beitrittskandidaten sowie die vier EFTA -Lä nder Island. Norwegen. Liechtenstein und die Schweiz hinsichtlich ihrer direktdemokratischen Qualitäten bewertet und rangiert. Als Qualifikationskriterien wurden die folgenden drei festgelegt: Existieren direktdemokratische Verfahren auf nationaler Ebene? Können solche Verfahren vom Volk lanciert werden, etwa in Form von Initiativen und Referenden? Sind obligatorische Rc-
350
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Frankreich. Spanien, Österreich und Portugal zu finden sind. Nach Großbritannien. Finnland, Estland und Belgien folgt erst Deutschland in einer Kategorie mit Island, Griechenland und der Tschechischen Republik. Die Schlusslichter sind nach Rumänien, Bulgarien und Malta letztlich Zypern und die Türkei. Auf der Landkarte zeigt sich kein eindeutiger geografischer Schwerpunkt der Direkten Demokratie in Europa. Richtung Balkanländer und Osten mag vordergründig eine zurückhaltendere Einstellung zur Direkten Demokratie herrschen. Aber auch das ist kein durchgängiges Schema, da beispielsweise Lettland, die Slowakei und Slowenien zu den Staaten mit gut ausgebauten direktdemokratischen Rechten gehören. Insgesamt kann im 20. Jahrhundert eine kontinuierliche Zunahme der direktdemokratischen Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene festgestellt werden. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits wurden in vielen Staaten im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Rechtsgrundlagen für direkte Volksbeteiligung geschaf-
10,0
1011
fen. wurdegemacht. aber auch in Staaten, die dieses bereits kannten, vermehrt Andererseits davon Gebrauch Gerade in Europa habenRecht die staatlichen Neuordnungen im früheren Einflussbereich der Sowjetunion zu einer hohen Zahl von Abstimmungen über neue Verfassungen geführt. Eine zweite Abstimmungswelle ist schließlich mit dem europäischen Integrationsprozess verbunden, indem vor allem über den Beitritt zur Europäischen Union und über verschiedene europäische Verträge und insbesondere über die Einführung des Euro abgestimmt wurde. Der Europäische Verfassungsvertrag hat(te) bekanntlich weitere Volksabstimmungen auf nationaler Ebene zur Folge.
g)
Das
Verhältnis zwischen Recht und ..Moral", Souveränitätsverzicht
Nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg verdeutlichte aber erneut, wie unterschiedlich Europa und die Vereinigten Staaten das Verhältnis zwischen Recht und Moral handhaben. Die Aufklärung hat im europäischen ferenden vorgesehen? Im Ranking des Jahres 2003 rangierte Liechtenstein aus der Sicht des IR1 noch gemeinsam mit der Schweiz in der ersten Kategorie, wurde aber aufgrund der Erfahrungen rund um die Volksabstimmung vom 16. März 2003 zurückgestuft. (Den Ausschlag für diese Zurückstufung dürfte die herausragende Stellung des Staatsoberhauptes geben, dem es freigestellt ist. vom Volk beschlossene Vorlagen zu sanktionieren. Im Zuge der Auseinandersetzung über die Verfassungsrevision drohte das Staatsoberhaupt auch tatsächlich damit, die ihm nicht genehme Gegenvorlage im Falle einer Volksmehrheit nicht zu sanktionieren.) Siehe zu alledem IRI Europe (Hrsg.). IRI Europe Country Index on Citizenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 European States. 2003 sowie 2004. 10.0
In den Doppeldekaden ist die Zahl der Volksabstimmungen von rund 50 (1901 1920) auf etwa 350 (1981 -2000) gestiegen. 10.1 Vgl. L LeDuc. The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective. 2003. S. 20 f.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
Rechtsdenken Recht und Moral getrennt. Die politische Auseinandersetzung über die Gesetzgeb ung stell t zwar verschiedene Moralvorstellungen gegeneinander,
35 1
und
diese werden in der Regel ausdiskutiert. Das daraus hervorgehende Recht ist jedoch moralisch neutral. Auch der Straftäter hat seine Würde, er ist nicht moralisch verwerflich, sondern nur rechtlich strafbar. Weltweit ist dieser aufklärerische Gedanke in den Menschenrechten umgesetzt worden. Das US-amerikanische Rechtsdenken scheidet demgegenüber Recht und Moral weit weniger extensiv. US-amerikanische Straftäter gelten als „moralisch schlecht." das US-Strafrecht kennt im Gegensatz zu Europa auch deutlich den Rachegedanken. 1012 In Europa hat auch der Souveränitätsverzicht der Staaten die Überwindung des moralischen Rasters von „gut und böse" ermöglicht. Wenn westeuropäische Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig nicht als „böse". Diese Kategorie ist definitiv überwunden. Ohne Souveränitätsverzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von „gut" und „böse". Dieser Zusammenhang ist wieder höchst aktuell geworden, indem die „Koalition der ,Willigen" 10,3 nämlich eine moralische Kategorie darstellt, die mit .gut und böse' operiert.
Dies hat aber unter anderem zur Folge, dass der Intensitätsgrad der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten für nicht wenige gleichbedeutend ist mit dem Intensitätsgrad der Akzept anz durch di e Staatengeme inschaf t ganz allgemein. Aus US-amerikanischer Sicht trifft dies zu. Aus europäischer Sicht ist es aber keineswegs richtig, im Gegenteil: gerade in der deutschen (politischen wie öffentlichen) Diskussion geht man - zusammen mit zahlreichen Staaten in anderen Kontinenten - davon aus, dass man sich zunehmend auf eine Völkerrechtsordnung einigen wolle, auch indem man sich zunehmende Souveränitätsverzichte leisten würde. Von Interesse ist nicht nur im Hinblick auf aktuelle Friktionsfelder im transatlantischen Verhältnis die zentrale Bedeutung des Völkerrechts und des Souveränitätsverzichtes, beides alte europäische Errungenschaften. Der Souveränitätsverzicht der Staaten zugunsten einer völkerrechtlichen Ordnung wurde in Europa im Westfälischen Frieden 1648 begründet. Ein in seiner Wirkkraft ähnlich „glücklicher globaler Moment" ereignete sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Erstmals findet ein Prozess statt, der zu einer bislang tragfähigen
"" 2 Vgl. bereits P. Hiiberle . Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität. in: AöR 92 (1967), S. 259 ff. Siehe auch S. Oeter , Souveränität und Demokratie als Problem in der Verfassungsordnung der EU. in: ZaöRV 55 (1995), S. 659 ff. 1013 Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ist das US-amerikanische Nationalgefühl zutiefst getroffen worden. In der Folge betrachteten die Vereinigten Staaten das in ihrer Nation verkörperte ..Gute" als so bedroht, dass alle anderen, universell geltenden Werte daneben zurücktraten, so auch die Menschenrechte von Gefangenen, die des Terrorismus verdächtigt werden (Stichworte wie „Guantanamo" und ..Abu Ghraib" sollen an dieser Stelle genügen).
352
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Friedensordnung führt, und zwar aufgrund des Souveränitätsverzichtes von Staaten, und nicht - wie vormals etabliert - als Resultat von Kriegen, etwa mittels Anordnungen der siegreichen Kriegspartei(en). Die Unterordnung der Macht unter das Recht hat sich in der Europäischen Union zum ersten Mal institutionalisiert und bildet letztlich das Fundament der europäischen Integration. Manche heutige transatlantische Auseinandersetzung fand vergleichbar bereits während des Kalten Krieges statt, aber es war öffentlich weniger sichtbar, da sich die USA relativ „europäisch" zu verhalten wussten. Differenzen innerhalb der „westlichen Staatengemeinschaft" galt es weitgehend zu vermeiden. Seit 1989/90 ist jedoch in Washington ein Paradigmenwechsel festzustellen. Seit dem ersten Golf-Krieg wird die Liste der völkerrechtlichen Verträge immer länger, bei welchen die USA Abstinenz üben. Die Vereinigten Staaten sind offensichtlich immer weniger bereit, einen Souveränitätsverzicht zugunsten des Völkerrechtes zu leisten und sich in eine weltweite Ordnung einzugliedern. Der europäische Weg, die Macht ins Recht einzubinden, wird von den USA spiegelbildlich, gleichwohl retrograd begangen. 1014 Für Europäer ist der erste, ursprüngliche und individuelle Souveränitätsverzicht zugunsten des Staates etwas so Selbstverständliches, dass dieser Gedanke im Bewusstsein meist nicht einmal mehr als eine eigene Kategorie existiert. An dieser Stelle greift erneut der Begriff der staatspolitischcn Identität der Europäer. Es ist dieser Kernpunkt der europäischen Ideengeschichte, den Generationen von Auswanderern in die Neue Welt im Namen einer „neuen Freiheit" ablehnten, um von nun an dieselbe Fragestellung aus einem Blickwinkel anzugehen, der sich nahezu diametral vom europäischen unterscheidet. In Europa erreicht man Freiheit und Sicherheit durch den ursprünglichen und individuellen Souveränitätsverzicht zugunsten der Staatlichkeit. In den Vereinigten Staaten geht man von einem anderen Freiheitsbegriff aus: man erstrebt die Freiheit von dieser Staatlichkeit. Auch in aktuellen (außen)politischen Fragen geraten die beiden transatlantisch unterschiedlichen Freiheitskonzepte in Konflikt, ohne dabei einer gewissen Logik zu entbehren. Mit dem Konzept der „Koalition der Willigen" erheben die 1014
Vgl. zu den Grundfragen des transatlantischen Verhältnisses (insb. mit Blick auf den Konflikt um das iranische Nuklearprogramm) K. T. zu Gutrenberg . Transatlantische Festigkeit gegenüber Iran. Keine Alternative zur einheitlichen Verhandlungsstrategie, in: NZZ vom 14. 9.2 005 , S. 5 sowie K.-T. zu Gurtenberg/R. Mützenich. Locken und Abschrecken. Nur gemeinsam und mit einer Doppel-Strategie können Europa und die USA Iran zur Aufgabe des Atomprogramms bewegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. 11.05, S. 2 und zuletzt dies., Es ist an Teheran, den nächsten Schritt zu tun. Iran ist es im Atomstreit nicht gelungen, die internationale Gemeinschaft zu spalten, in: Financial Times Deutschland vom 12.6.2006: zudem: K.-T. zu Guttenberg, Vertrauen statt Marktgeschrei, in: Bayernkurier vom 28. 1.2006: siehe auch die Bundestagsreden des Verf. vom 16.12.2005. vom 15. 3.2 006 . vom 1 0. 3. 200 6 sowie vom Sitzungstages).
6.4 . 2006 (BT-Plena
rprotokol le des jeweiligen
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
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Vereinigten Staaten nämlich eine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die völkerrechtliche Ebene. Hinsichtlich des Souveränitätsverzichts ist eine klare Analogie feststellbar: Nachdem die amerikanische Interpretation von „Freiwilligkeit" im individuellen Bereich bedeutet, dass sich das Individuum keinen rechtlichen, und somit für alle gleichermaßen geltenden Vorgaben unterziehen will (um nicht auf seine souveräne „Ur-Freiheit" zugunsten einer gemeinsamen Rechtsordnung zu verzichten, wollen sich offensichtlich auch die Vereinigten Staaten in Zukunft offenbar keinen Vorabsprachen mit ihren Alliierten mehr unterziehen (da sie uneingeschränkte und absolute Souveränität beanspruchen und wenig Bereitschaft zeigen, auch nur den geringsten Verzicht auf diese Souveränität einzugehen). „Freiwilligkeit" nach amerikanischem Muster ist der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsverzicht, genau so wie die Freiwilligkeit im Sinne der „Koalition der Willigen" nach US-amerikanischer Vorstellung der Gegenbegriff zum Souveränitätsverzicht der Staaten darstellt. h)
Finalität - die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung
Die im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union lebhaft, zuweilen unmäßig geführte Diskussion über die „Grenzen Europas" und die Finalität der Europäischen Union bietet ebenfalls Anlass zu einem Blick auf den amerikanischen Umgang mit vergleichbaren Fragestellungen. So wie heute nicht klar ist, wo die Europäische Union ihre geographischen Grenzen finden wird, war auch zum Zeitpunkt der amerikanischen Verfassunggebung nicht absehbar, wie groß der amerikanische Staat eines Tages werden könnte. Die Amerikaner entschieden sich dafür, diese Frage offen zu lassen, und in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Territorium Mitglied der Union werden kann. Die Expansion auf dem nordamerikanischen Kontinent zählt zu den wichtigsten Determinanten der US-Geschichte. Zwei Aspekte dieses Prozesses griffen ineinander: die Sicherung der eigenen Vorherrschaft gegen europäische Kolonialmächte (Monroe-Doktrin, 1823) und das ständige Verschieben der Siedlungsgrenze 10,5 („frontier") nach Westen. Auch wenn das Leben der Siedler nur wenig mit dem
1015 Durch die Abtretung aller einzelstaatlichen Landansprüche an den Kongress. die rechtliche Vorbereitung weiterer Einzelstaatsgründungen ( Northwest Ordinance) und den Kauf Louisianas von Frankreich (1803) war die Voraussetzung für die Erschließung des Westens geschaffen worden. Mit der Annexion von Texas (1845), dem Kompromiss mit England über Oregon und die nach dem Krieg mit Mexiko (1846-48) vorgenommene Angliederung Kaliforniens und New Mexikos war Mitte des 19. Jahrhunderts die kontinentale Expansion abgeschlossen. Dazu etwa das klassische Werk von S.E. Morison u. a., The Grow th of the Amer ica n Republi c, 2 Bde.. 1930: vg l. auch A.M. Schlesinger, T h e Cycles of Amer ican History. 1986 ; historische Abrisse aus der deutschspra chigen Lit:
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
„Mythos des Westens" geniein hatte und die Bedeutung der „Frontier" für die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft gelegentlich überschätzt worden ist, spielt sie für die „kollektive Identität" der Amerikaner bis heute eine wichtige Rolle. Auch wenn sich die „Erweiterung" der USA bis an den pazifischen Ozean zugegebenermaßen durch den Zukauf bzw. die Einvernahme im Wesentlichen leerer Territorien vollzogen hat: Der Akzeptanz der Grundwerte und Gesetze der Union (etwa im Falle von Utah und Texas) kam dennoch zentrale Bedeutung zu. Hier darf durchaus eine Parallele zu der von der Europäischen Union verlangten Erfüllung der „Kopenhagener Kriterien" seitens der Beitrittskandidaten gesehen werden. Damit stellt die Europäische Union ebenso wie die USA die Bedeutung gemeinsamer Werte, Rechtsnormen und Wirtschaftsverfassungen in den Mittelpunkt. Insoweit sich die USA an ihr eigenes „Erweiterungskonzept" gehalten haben, ist es ihnen gelungen, ganz unterschiedliche Territorien in ihr föderales System zu integrieren. Die Geschichte der USA zeigt zwar, dass es vermessen ist zu glauben, man könne aus einem notwendigerweise begrenzten historischen Blickwinkel heraus die zukünftigen Grenzen eines politischen Gemeinwesens absehen und festlegen, gleichwohl lässt sich aus diesem Argument im Umkehrschluss keine eigene Erweiterungsdynamik festschreiben. i)
Ausgewählte
institutionelle Aspekte
Wer Amerika begreifen will, bemerkte A. de Tocqueville , muss vor allem seine politischen Einrichtungen verstehen. Weil aber die politischen Einrichtungen eines Gemeinwesens nur soviel wert sind, wie der in ihnen vorhandene Geist, kann man die Amerikaner nur begreifen, wenn man „die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten und [... 1 die Gesamtheit der Ideen, aus denen sich die geistigen Gewohnheiten bilden" 1016 zu verstehen sucht. Die amerikanische Präsidialdemokratie unterscheidet sich in vielfältiger Hinsicht von der in Europa, zumal in Deutschland vertrauten parlamentarischen Regierungsweise. Sie setzt auf Institutionentrennung, also auf die Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und parlamentarischem Mandat, wo hingegen im parlamentarischen Herrschaftssystem die Institutionen personell und funktional miteinander verzahnt sind. Mitglieder der Regierung normalerweise auch ein Mandat innehaben und Regierung wie Parlament wechselseitig unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen ihren Sturz bewerkstelligen bzw. eine Auflösungsorder erwirken können. Das amerikanische System setzt dagegen auf Koordination der getrennt organisierten Institutionen im politischen Willensbildungs- und EntH.R. Guggisberg. Geschichte der USA. 2. Aufl. 1988;
P. Lösche. Amerika in Perspektive.
Politik und Gese llsc haft der Verein igten Staaten. 1989. 11116 A. de Toqueville. Über die Demokratie in Amerika, Neuauflage 1976. S. 332.
IV. Die Best ätigu ng und Festig ung des Verf assun gssta ates
35 5
scheidungsprozess. Solche „formalen" Gegensätzlichkeiten zeitigen politische Konsequenzen: Die Vereinigten Staaten kennen im Allgemeinen weder Regierungskrisen im europäischen Sinne noch den bei uns häufig beklagten Prozess der Entmachtung des Parlaments durch den Exekutivapparat, weisen also insgesamt ein hohes Maß an politischer Stabilität auf. Zudem: die USA haben mit dem Präsidenten einen Akteur, der mit Stimme spricht und über ein Entscheidungsinstrumentarium voll verfügt. Entscheidungen herbeizuführen ist auf beiden Seiten des Atlantiks langwierig; bei der Ausführung sind die USA indessen der Europäischen Union weit voraus. Dies ergibt sich nicht zwingend aus der Verfassung selbst, nach der dem Präsidenten, indirekt gewählt, kein umfassendes Machtmonopol zugedacht war, sondern ist ein Ergebnis der Verfassungsentwicklung. Der Gedanke, ob Europa mit einer vergleichbaren Exekutivspitze zu versehen sein könnte, ohne dass dabei die Frage der Direktlegitimation unbedingt im Vordergrund stehen müsste, bleibt auch nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrages aktuell. Zweitens ist der Kongress kein Parlament, das die Exekutive wählt und stützt, sondern ein eigenes 1017 Machtzentrum, mit dem das Weiße Haus ständig verhandeln muss.
einer
Ein interessanter transatlantischer Vergleich offenbart sich im Bereich institutioneller Fortentwicklungen. Als Beispiel dürfen hierbei das erst 1913 durch den Federal Reserve Act errichtete Federal Reserve System und das Europäische Zentralhank (EZB) - System dienen. 1018 Die heute mit globaler Wirkkraft versehene Währung „Dollar" ist nicht, um mit R. Scliuman zu sprechen, „auf einen Schlag" entstanden. Zwar hatten die USA seit der Gründung eine „gemeinsame" Währung. Selbige bestand jedoch noch bis Ende des Bürgerkriegs aus etwa 10.000 unter"" Der ame rik ani sch e Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislat ive der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt. Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht
für die Handelsgesetzgebung, was aktuell bei der Frage von
Trade Promotion Authority,
insbesondere für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle darstellt. Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von enormer Bedeutung ist (- der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses R. Lugar spielte eine in der europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, gleichwohl höchst bedeutsame Mittlerfunktion im europäischen Erweiterungs- und Annäherungsprozess -) und eine wichtige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zustimmungsbedürftigkeil durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar. iois Vgl. auch G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinke l der USA. Vort rag an der Hum bold t-U nive rsi tät zu Berlin am 6. Juni 2002. Di e in vielen Verfassungsstaaten eingerichteten Rechnungshöfe vergleicht Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, in: VVDStRL 55 (1996). S. 231 ff.
H. Schulze-Fielitz,
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schiedlichen Banknoten. Erst im Jahre 1914 wurden sie durch „Federal Reserve Notes", den „einheitlichen" Dollar, ersetzt. Ebenso gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Federal Reserve und dem EZB System: Das ..Board" besteht aus sieben Mitgliedern (das EZB Direktorium aus sechs) und zwölf Vertretern regionaler Distrikte (auch die EZB zählt gegenwärtig in ihrem Erweiterten Rat zwölf stimmberechtigte nationale Zentralbankpräsidenten), wobei der Präsident der „New York Fed" „geborener" Stellvertreter des „Fed Chairman" und permanent stimmberechtigt ist, während durch ein Rotationsverfahren nur vier weitere der zwölf regiona len Vertreter für jewei ls ein Jahr ein volles Stimm recht habe n. Der wesentliche Unterschied in diesem Kontext zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ist allerdings verfassungsgeschichtlicher Natur: während die monetären Zwänge erst 126 Jahre nach der Verfassungsgebung zur Gründung des Zentralen Währungssystems der USA führten, hat sich die Europäische Union eine „einheitliche" Währung und ein voll strukturiertes Zentralbanksystem zugelegt. bevor der Prozess der Verfassungsgebung im eigentlichen Sinne überhaupt eingesetzt hat. j)
Europäische Grundrechtecharta - Bill of Rights
1 19 Der Diskussionsprozess um die Europäische Grundrechtecharta " verdeutlicht bemerkenswerte Parallelen zu der amerikanischen Grundrechtsdebatte im 18. Jahrhundert 1020 - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen hinsichtlich der Reihenfolge von Verfas sung zu übergreifend em Grundrechtekatalog. Der europäische Grundrechtskatalog ist im Gegensatz zur „Bill of Rights" des Jahres 1789 und etwa auch des 13. Verfassungszusatzes von 1865 (Abschaffung der Sklaverei) inhaltlich schon vor einer „europäischen Verfassung" einvernehmlich beschlossen worden.
Auch in Europa polarisierten die Begriffe „Föderation" und „Verfassung" diese gegensätzlichen Zielvorstellungen wie seinerzeit - mutatis mutandis - den Konflikt zwischen „Föderalisten" und „Antiföderalisten" in der Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten. So sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass es im Verfassungskonvent von 1787 gerade auch um den Übergang von dem noch lockeren vertraglichen Staatenbund von 1781, der sich allerdings auch schon „United States of America" nannte, zu einem relativ stark zentralisierten Bundesstaat ging, von den „Articles of Confederation and Permanent Union of the States ..." zur noch lückenhaften „Constitution for the United States of America". Der Konvent von 1787 war noch der Auff assu ng, die Individualrechte seien ausreich end durch 1021 die einzelstaatlichen Verfassungen gewährleistet. Vervollständigt wurde diese 1019
Vgl. oben B.II.2.0Ü).
1020
Siehe hier/u bereits ausführlich oben unter B.I.4.e).
Die „Föderalisten" plädierten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte. Hamilton. Madison un d Jay vertraten in den Federalist Papers die Ansicht. Gerechtigkeit 1021
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35 7
föderative Unionsverfassung zunächst schrittweise bis 1804 - insbesondere mit der „Bill of Rights" - und endgültig erst nach dem Bürgerkrieg mit den bürgerrechtlichen „Amendments" 13 bis 15 (1865 bis 1870). Erst dann waren nicht nur die Unionsregierung sondern auch die einzelstaatlichen Regierungen an die Bill of Rights gebunden. k) Wertegemeinschaft Europa und USA „ever closer union " und „ ever stronger union" Während der europäische Einigungsprozess die Union auf den Raum des ganzen Kontinents bis an die Grenzen Asiens und an den Nahen Osten auszudehnen imstande scheint und die Europäer vor neue, nicht nur wirtschaftlich-soziale sondern auch sicherheitspolitische Chancen und Risiken stellt, werden in der Diskussion über die Zukunft Europas die Fragen nach den gemeinsamen Werten und Zielen der europäischen Völker immer bedeutender. Bereits J. Monnet hatte mit seiner Formel der „ever closer union" diese Richtung vorgegeben und damit auf das amerikanischen Prinzip einer „ever stronger union" ( J . Madison) eine charakterisierende Antwort formuliert. Dass sich die Union von einer Wirtschaftszu einer Wertegemeinschaft mit weit mehr als nur wirtschaftspolitischen Aufgabenstellungen entwickelt und entwickeln soll, ist breiter Konsens, geplant war diese Entwicklung bei aller Legendenbildung nicht. Das vielfältige Mosaik aus Institutionen und Verträgen auf dem europäischen Kontinent ist hierfür beredter Ausdruck. Neben der Westbindung durch das transatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) sei hier nur auf die OSZE und vor allem den Europarat hingewiesen. Letzterer, u. a. eingesetzt für Demokratie und Menschenrechte in Europa und mit Mitgliedern weit über die europäische Union hinaus bis hin zu Russland, kann in der Frage der Grund- und Menschenrechte mit der europäischen Union in einen Konflikt geraten, sollte sich die Grundrechtecharta bzw. der Grundrechtekatalog im Verfassungsvertrag negativ auf die Menschenrechtskonvention der Straßburger Organisation auswirken. Welche Werte letztlich die Menschen in der Europäischen Union verbinden sollen, wird noch Inhalt zahlreicher Debatten. Sicherlich prägen Traditionen und Kulturgeschichte der Völker diese Werte entscheidend mit. Über die Frage religiöser Werte entbrannte unlängst mit dem Aufnahmegesuch der Türkei und dem Beginn der Beitrittsverhandlungen ein heftiger Streit zwischen den Befürwortern einer christlichen und denen einer streng „überreligiösen Verortung" 10 der europäischen Union. "
und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert: grundrechtliche Abwehrrechte seien überllüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
„Frieden, ihre Werte, das Wohlergehen ihrer Völker fordern" und letztlich „nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschafts1023 . So definiert bereits wachstums und sozialer Gerechtigkeit" Giscards Entwurf die Ziele der europäischen Union. Vielleicht werden die aus der Nachhaltigkeit abgeleiteten Prinzipien der Solidarität und Generationengerechtigkeit einmal die europäische Antwort auf das amerikanische Axiom und Ziel „life, liberty and the pursuit of happ ines s" (Articles of Confede ration , 1776 ).
V.
Zwei Verfassun
ggebungs prozesse:
ein Resüm ee
Es besteht eine merkwürdige Divergenz zwischen den Erwartungen und Forderungen jener „Europäer der ersten Stunde", die sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für die politische Einigung Europas eingesetzt und das Projekt entworfen haben, und denen, die heute vor der Aufgabe stehen, das auf den Weg gebrachte Projekt fortzusetzen. Auffallend ist nicht nur das „Decrescendo" der rhetorischen Stimmlagen, sondern auch der Kontrast in den Zielsetzungen. Während die „erste europakreative Nachkriegsgeneration" die „Vereinigten Staaten von Europa" im Munde führten und den Vergleich mit den USA nicht scheuten, hat sich die gegenwärtige Diskussion von solchen Vorbildern weitgehend gelöst Selbst der Terminus „Föderalismus" gilt manchen als anstößig.
1024
1 25
" .
Mit Habermas ist zu fragen, ob dieser Wechsel des politischen Klimas nur einen gesunden Realismus - als Ergebnis eines jahrzehntelangen Lernprozesses - ausdrückt oder eher einen kontraproduktiven Kleinmut, wenn nicht gar schlichten Defätismus.
1026
Freilich lässt sich unsere heutige europäische Situation kaum plausibel mit jener der Federalists oder der Mitglieder der Assemblee nationale am Ende des 18. Jahrhunderts vergleichen oder eine klare Kohärenz herstellen. Damals waren die Verfassungsväter in Philadelphia und die revolutionären Bürger von Paris Initiatoren und Teilnehmer einer geradezu unerhörten, bislang nicht erfahrenen Praxis. 1022 Hier/u beispielsweise auch K.-T. zu Gullenberg, Turkey and the EU. We Need an Option Short of Füll Membership, in: European Affairs 6 (2005). S.39ff.; ders.. Offer Turkey a .Privileged Partnership" Instead. in: International Herald Tribüne vom 15.12.2004: ders.. Privilegierte Partnerschaft. Jenseits von Entweder-oder: Eine Alternative zum EUBeitritt der Türkei, in: Die Welt vom 3. 1.2004. 1023 CONV 528/03. 1024
Vgl. auch J. Habermas. Warum braucht Europa eine Verfassung?, in: DIE ZEIT vom 28.06.2001, S. 7. 1025
Anders aber
T. R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the
End of American Supremacy, 2005. 1026 Siehe J. Habermas (2001).
V. Zwei Verfass unggebungsp rozesse: ein Resüm ee
359
Die These von L Kühnhardt, dass eines der Hauptmotive bei der europäischen Verfassunggebung das Streben nach Unabhängigkeit gegenüber der USA sei, so wie diese sich mit ihrer Verfassung 1787 endgültig von Großbritannien und Europa emanzipieren wollten, lässt sich nur schwerlich als zulässige historische Analogienbildung interpretieren. 10 2 Die sozialen, kulturellen, politischen Kontexte, in die die beiden Konvente eingebettet waren bzw. sind, machen jedoch die gravierenden Unterschiede umso deutlicher: Während die „founding fathers" der USA eine Verfassung für etwa drei Millionen Menschen schmiedeten und hierbei große Handlungsfreiheiten genossen, wurde im EU-Konvent über eine Verfassung für über 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger nachgedacht, von denen viele ganz unterschiedlich Ideen darüber haben, wie die Verfassung Europas aussehen sollte. Der EU-Verfassungskonvent war im Übrigen der erste Konvent des Internetzeitalters und unterschied sich schon von daher (im Hinblick auf teilweise ausufernde Versuche der Einflussnahme über dieses Medium) ganz grundsätzlich von früheren Konventen. Der Vergleich der Verfassunggebungsprozesse bleibt dennoch ein adäquates Mittel der Analyse des europäischen Verfassungsprozesses. Zwar steht die systematische Erforschung verfassungsgeschichtlicher Vergleichserfahrungen noch am Anfang, sie dürfte jedoch zukünftig gerade nach den Erfahrungswerten im europäischen Verfassungsprozess zunehmend forschungsrelevant werden. Von den konföderierten Postkolonialstaaten mit ihrer gemeinsamen Geschichte unterscheiden sich die Nationen Europas mit ihren unterschiedlichen Traditionen. Kulturen und Wertvorstellungen, den vielfältigen Landessprachen und den historisch gewachsenen, verfassten Demokratien. Dennoch eint beide Prozesse die Unzufriedenheit mit der Ausgangslage: die existierenden Institutionen erwiesen und erweisen sich für kommende Aufgaben als zunehmend handlungsunfähig. So scheitert die Europäische Union wie schon damals die Konföderation beispielsweise in der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (wie etwa im Fall der Irakkrise, in der die Europäischen Union - unter bemerkenswerter Mithilfe des deutschen entwickeln konnte). Bundeskanzlers - keine gemeinsame diplomatische Strategie 1.
Vergleichende
Anm erku nge n zum Konventsv erfahren
Der Europäische Konvent hat vom 28. Februar 2002 bis zum 18. Juli 2003 über die zukünftige Gestalt der Europäischen Union beraten. Der Konvent basierte als neuartiges, bislang nicht in den Europäischen Verträgen kodifiziertes Gremium auf den Erfahrungen, die im Rahmen des ersten Konvents zur Ausarbeitung einer 1028 Europäischen Grundrechtecharta gesammelt wurden. 1027
L. Kühnhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Strukturentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003. 1028 Vgl. zu Struktur und Arbeitsweise des Konvents auch J. Meyer!S. Hartleif, Di e Konventsidee, in: Zeitschri ft für Par lament sfrage n. 2/ 200 2. S. 268 ff.: P. Zimmermann-
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Im Schrifttum wird der Europäische Konvent auch als ein „parlamentarisiertes Vorbereitungsgremium" für die derzeit laufende Regierungskonferenz charakterisiert. Dementsprechend handelt es sich beim Konvent weder nach seiner Zusammensetzung noch nach seinem Mandat um eine „souveräne" verfassungsgebende 1029 Versammlung im herkömmlichen Sinne. Vielmehr basiert die nunmehr zum zweiten Mal angewandte Konventsmethode auf dem Wunsch der Mehrheit der maßgeblichen Akteure auf europäischer Ebene, bisherige, oftmals als intransparent empfundene Entscheidungsmechanismen bei den in der Vergangenheit vorgenommenen Änderungen der Europäischen Verträge, wie sie bei den bisherigen, gemäß Art. 48 EUV zur Vertragsänderung ermächtigten Regierungskonferenzen zu beobachten waren, zu überwinden und gleichzeitig den Aspekt einer stärkeren Betonung der Bürgerbeteiligung hervorzuheben. Verfahrenstechnisch handelt es sich vor diesem Hintergrund um ein Gremium, das - anders als eine verfassunggebende Versammlung im klassischen Sinne - lediglich Vorschläge zur Neufassung der bisherigen europäischen Verträge unterbreiten sollte. Die Letztentscheidung oblieg t gem äß Art. 48 EUV nach wie vor der Konfe renz der Reg ieru ngen de r Mitgliedstaaten und den mit der Ratifizierung betrauten mitgliedstaatlichen Parlamenten (bzw. ü ber ein Refer endum der jeweiligen Bevölkerung). Nicht nur in verfahrenstechnischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht bestehen deutliche Unterschiede zwischen Europäischem Konvent und verfassunggebender Versammlung im herkömmlichen Sinne. So ist nicht die Neuschaffung einer (europäischen) Verfassung Aufgabe des Europäischen Konvents gewesen, sondern es ging um die „Weiterentwicklung des europäischen konstitutionellen Korsetts" 1030 . Gleichwohl gibt es auch Stimmen im Schrifttum, die auch in dem Konventsverfahren und dem hieraus resultierenden Arbeitsergebnis Anhaltsp unkte für einen verfassunggebenden Prozess erblicken, der in eine staatliche KonstitutioI0 M 1032 nalisierung Europas münden könnte. Dabei besteht - wie bereits dargestellt zumindes t im juristischen wissensc haftlichen Schrifttum weitgehend Einigkei t darüber, dass auch der - zum jetzigen Zeitpunkt absehbaren - künftigen Europäischen Union keine Staatsqualität zukommen wird. Demgemäß handelt es sich bei der jetzt vorliegenden „Europäischen Verfassung" nach fast einhelliger Auffassung um keine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne, sondern nach Überzeugung der
Steinhart, Der Konvent: Die neue EU-Methode, in: Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. 2001. S.65 ff. 1029 Vgl. etwa T. Oppermann . Eine Verfassung für die Europäische Union, in: DVB1. 2003. S. 1165 ff. 1030 S. Hohe. Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1.2003, S. 1 ff., 15. 1031 D a z u etwa H.-G. Dederer, Die Konstitutionalisierung Europas, in: Zeitschrift für Gesetzgebung. 2/2003, S. 97 ff. Weitergehend W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine
innovative Integrationsmethode, in: Integration, 2/202 (2002), S. 83 ff., 91 f. 1032 Vgl. oben unter B.II.2.f)nn)(2)(d).
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Verfechter eines erweiterten Verfassungsbegriffs um ein Vertragsdokument eigener Art, welches - wie schon die bisherigen Verträge! - die Verfasstheit eines supranationalen Gebildes mit von den Mitgliedstaaten abgeleiteter, auf den Bürger direkt einwirkender (supranationaler) Hoheitsgewalt zum Gegenstand hat und damit allenfalls in materieller Hinsicht eine „Verfassung" darstellen kann.
10
"
Der nun vorliegende Verfassungsfbzw. Grundlagen-)vertrag als solcher stellt in diesem Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union lediglich eine (von bereits vielen vollzogenen) Etappe(n) dar und bildet damit weder Beginn noch Endpunkt dieser Entwicklung. Er unterscheidet sich deshalb auch funktionell von herkömmlichen Staatsverfassungen wie etwa der amerikanischen Bundesverfassung. die jeweils mit ihr er Sch affu ng durch ein verfassungge bendes Grem ium eine eigene, auf Vollständigkeit angelegte nationalstaatliche Verfassungsordnung „per Federstrich" in Kraft setzten. Während eine Staatenverfassung daneben ein staatliches Gemeinwesen auf der Grundlage des pouvoir constitutum, des Volkes, schafft, begründet der Verfassungsvertrag ausdrücklich eine „zwischenstaatliche Europäische Union der Bürger und der Staaten". Dieser zentrale funktionelle Unterschied zwischen „EU-Verfassung" und Staatsverfassung kann auch nicht dadurch überdeckt werden, dass es - ebenso wie zwischen dem deutschen Grundgesetz (GG) und dem Verfassungsvertrag - zwischen beiden Dok umente n vielfältige „mater ielle Schn ittmengen" wie etwa Grundrechtskatalog, bestimmte Staats- bzw. Unionsziele oder aber bestimmte institutionelle Bestimmungen gibt. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang immer die genannten funktionellen Unterschiede zwischen einem Staatswesen auf der einen und der supranationalen, zwischenstaatlichen Organisation auf der anderen Seite, denen insbesondere die entsprechenden institutionellen Bestimmungen stets Rechnung zu tragen haben. So ergibt sich etwa aus dem supranationalen, zwischenstaatlichen Charakter der Europäischen Union das besondere, durch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts geprägte europäische Institutionengefüge, bestehend aus Europäischer Kommission, Rat. Europäischem Rat und Europäischem Parlament, welches auf nationaler Ebene weltweit keinerlei Pendant
einen
findet.
Schon aus diesen Besonderheiten des vom Europäischen Konvent vorgelegten Dokuments wird die strukturelle Andersartigkeit auch dieses Gremiums im Vergleich zu verfassungsgebenden Versammlungen, wie sie etwa der Konvent um Philadelphia darstellte, deutlich. Auch wenn mit dem künftigen Vertrag über eine Verfassung für Europa der Prozess der Konstitutionalisierung der Europäischen Verträge vorangetrieben wird, ist dieser Prozess nicht mit der Verfassunggebung für einen Nationalstaat gleichzusetzen und mit der Arbeit des Konvents auch nicht abgeschlossen.
1033 So aber doch H.-G. Dederer ( 2003). S. 97 ff., vgl. zur damit zusammenhängenden Funktionswandlung des Staates auch 5. Hobe (2003), S. 1 f.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Eine derartige nationalstaatliche Konstitutionalisierung der bis dahin nur lose verbundenen amerikanischen Staaten war demgegenüber Aufgabe des Konvents von Philadelphia. Der Verfassungskonvent von Philadelphia bereitete im Jahre 1787 die amerikanische Bundesverfassung, vor. Die 55 Delegierten waren Entsandte der lediglich in der durch einen Bundesvertrag begründeten Konföderation von 1777 miteinander verbundenen amerikanischen Staaten. Obwohl zunächst nur zu dem Zwecke zusammen gerufen, Vorschläge zur Verbesserung der Konföderationsartikel des Bundesvertrags auszuarbeiten (hier besteht wenigstens eine „Initialanalogie"), entwarfen sie eine Bundesverfassung für die künftigen Vereinigten Staaten. 1034 Mit Inkrafttreten dieser Verfassung wurde aus einem losen Staatenbund ein neuer Bundesstaat, der - wie beschrieben - u. a. auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität beruht. Die Bundesverfassung trat nach ihrer Ratifizierung durch alle Einzelstaaten im Jahre 1788 in Kraft und begründete damit völkerrechtlich einen neuen Staat. Der Ausgangspunkt der Verfassungsreformer in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts ähnelte dem der Europäer heute. Die Zusatzartikel zu den „Articles of Confederation" mussten durch die gesetzgebenden Gewalten der damals 13 Staaten einstimmig angenommen werden. Dies brachte zwei unüberwindliche Hindernisse mit sich: zum einen die Maßgabe der Herstellung von Einstimmigkeit. wodurch ein kleiner Staat wie Rhode Island die Möglichkeit erhielt, eine von allen anderen Staaten gewünschte Reform zu torpedieren, und zum anderen die unwahrscheinlich anmutende Vorstellung, dass die gesetzgebenden Gewalten der Staaten sich einem Projekt anschließen würden, mit dem ihre eigene Machtposition erheblich geschwächt würde. Die Verfassungsväter ersannen einen theoretisch wirksamen und zugleich politisch nützlichen Ausweg aus diesem Dilemma. Die in den Artikeln der Konföderation enthaltene Einstimmigkeitsklausel sollte verschwinden. Der Staat Rhode Island hatte sich sogar „geweigert", überhaupt eine Delegation nach Philadelphia zu entsenden, sodass es letztlich absurd erschien, das Gelingen des Reformprojekts vom Veto dieses Staates abhängig zu machen. Durch die Aufgabe des Prinzips der Einstimmigkeit war es nun auch leichter möglich, auf die Bedingung der Annahme der Verfassung durch die Legislativen der Staaten zu verzichten. Statt dessen bat der Verfassungskonvent diese lediglich, jeweils einen Konvent zur Ratifizierung der Verfassung wählen zu lassen - bestimmte Gremien, die, so die Argumentation, das Volk unmittelbarer repräsentierten als die Legislative und so die Verfassung der Vereinigten Staaten als Ausdruck der Souveränität des Volkes verankern würden. Um die Entscheidung über die Verfassung eindeutig ausfallen zu lassen, durften diese Gremien nur über die gesamte Verfassung abstimmen, nicht über einzelne Artikel oder Bestimmungen. Natürlich durften sie auch Än-
1034 Vgl. H. Dippel. Das Zeitalter 2001. S. 18 ff.
der Revolution (1763
-1 78 9) , in: Geschichte der USA.
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derungsvorschlüge einbringen. Die Föderalisten aber kämpften hartnäckig und erfolgreich dafür, dass seitens der einzelnen Staaten nicht die vorherige Annahme dieser Änderungsvorschläge zur Bedingung für die Annahme der Verfassung an sich gemacht wurde. Dieses Verfahren brachte zwei große Vorteile mit sich. Zum einen kam so eine vollkommen eindeutige Entscheidung zu Stande, was dem Pro1035 zess der Verfassungsgestaltung weitreichende Rechtmäßigkeit verlieh. Z um zweiten bekräftigte der direkte Bezug auf die Souveränität des Volkes nachdrücklich, dass es sich bei der Verfassung tatsächlich um das „Supreme Law of the Land" handelte - durch bloße Zustimmung des Kongresses und der Legislativen der Staaten hätte dies nicht erreicht werden können. Der gesamte Prozess von der ersten Sitzung des Verfassungskonvents in Annapolis im September 1786 bis zur Ratifizierung durch den 11. Staat, New York, im Juli 1788 nahm weniger al s zwei Jahre in Anspru ch. Ma n könnte kritisch anmer ken, dass die Annahme der ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung den Prozess um weitere drei Jahre verlängerte, aber in Wirklichkeit stellten die Bill of Rights - wie oben bereits erwähnt - eher den Abschluss als einen wesentlichen Bestandteil des Prozesses dar. In ihrer Gesamtheit bleibt die Klarheit. Schnelligkeit und Effizienz dieser Pioniertat im Bereich der „Verfassungsschöpfung" beeindruckend. Man vergleiche dies wiederum mit dem wesentlich weitschweifigeren, langwierigen, auf Verhandlungen beruhenden und öffentlichen Charakter der Beratungen in Europa. Fraglos ist dabei zu berücksichtigen, dass es wesentlich schwieriger ist, die Interessen und Sorgen so vieler verschiedener Nationalstaaten und Vertreter von über 400 Millionen Menschen unter einen Hut zu bringen. Andere Unterschiede sind indes nicht weniger hervorstechend. Der amerikanische Verfassungskonvent traf sich geheim und hinter verschlossenen Türen. Selbst nach der frühen Abreise einer Handvoll Delegierter, die abweichender Meinung waren und den sich anbahnenden Verfassungscoup leicht hätten zu Fall bringen können, drang nichts von den Verhandlungen nach außen. Der Konvent für die Zukunft Europas hingegen stand nicht nur unter regelmäßiger Beobachtung der Medien und veröffentlichte auf seiner Webseite verschiedene Entwürfe und Protokolle, sondern arbeitete auch aktiv mit einer großen Zahl verschiedener nichtstaatlicher Organisationen und höchst aktiver Interessengruppen zusammen. Dies zeigt einen modernen Pluralismus, der weit über alle „expansiven" Gedanken J. Madisons hinausreicht. Der Einfluss dieser Vereinigungen ist allzu deutlich in der Liste der sozialen Rechte und (in Teilen) wohlmeinenden Leerformeln über die Ideale Europas zu erkennen, die der Verfassungsentwurf enthält. Hinzu kommt die Debatte über die Frage, ob ein Europa, das wesentlich säkularer ist als
1035
Diese wurde sogar seitens Rhode Islands und North Carolinas zugestanden - diese beiden Staaten hatten die Verfassung zunächst abgelehnt und damit sogar kurzzeitig die Union verlassen.
364
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
die Vereinigten Staaten, sich in seiner Verfassung auf das Erbe des christlichen 6 Abendlandes berufen darf. "' Die tiefere Ursache der Unterschiede zwischen dem reibungslosen Ablauf der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts und der langwierigen Arbeit der Europäer heute aber ist letztlich in der grundsätzlich vorhandenen Mehrdeutigkeit des europäischen Verfassungsvertragsentwurfs und allgemein des gege nwärtigen europäischen Konstitutionalismus zu finden. Durchaus schwer vorstellbar ist, wie die politische Identität des neuen Gebildes „unter" dem Verfassungsvertrag aussehen soll. Kritiker behaupten, dass diese neue politische Vision der Gemeinschaft chronisch elitär, bürokratisch und technokratisch ist und dass das im Entstehen begriffene neue Europa niemals in der Lage sein wird, patriotische Gefühle unter den Bürgern zu wecken, deren Leben es bestimmt. Der Verfassungsentwurf enthält nur marginale Aspekte, die diesen 1037
Vorwurf entkräften könnten. 2.
Vergleichende
Anme rkun gen zu den Konventser gebnissen
Der Entwurf einer Verfassung für Europa käme wohl auch deshalb den Verfassungsvätern Amerikas vertraut vor, weil er das Potential in sich trägt, die Fehler der im November 1777 verfassten Artikel der Konföderation heraufzubeschwören. In einem „transatlantischen Vergleich" bewegt sich der Verfassungsvertragsentwurf irgendwo zwischen den 1776/77 formulierten Articles of Confederati on und der ein Jahrzehnt später verabschiedeten Bundesverfassung der Vereinigten Staaten. So hat die Europäische Union keine Steuerkompetenzen, ebenso wenig wie damals der Kontinentalkongress nach den Artikeln der Konföderation. Die Kompetenzen derreichen Europäischen Union Bereich Sozialpolitik hingegen weit über das im hinaus, wasder dieWirtschaftsAmerikanerund in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts und wohl auch nach Ratifizierung der Verfassung der Vereinigten Staaten für möglich hielten. So behielten die amerikanischen Bundesstaaten nach den Artikeln der Konföderation die volle Souveränität über die
1036 u
Hier/u ausführlich unter C. II.
" Vielleicht sähe es ander s aus, wenn die Mitgli edsta aten sich dazu entschlos sen h ätten. einen allgemeinen Volksentscheid über die endgültige Version des Verfassungsvertrags anzuberaumen, anstatt sich in einem bunten Sammelsurium von Verfahren zu verheddern, bei denen einige Staaten den Gesetzgeber entscheiden und andere eine Volksabstimmung durchführen lassen wollen. Natürlich würde ein Verfahren ä la amerikanische Volkssouveränität im Jahr 1787 erhebliche Probleme mit sich bringen (obwohl die meisten europäischen Länder in dieser Beziehung wesentlich mehr Erfahrung haben als damals die Vereinigten Staaten), vgl. ausführlich A. Maurer!S. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003.
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polizeilichen Aufgaben in ihrem Staat. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb die Postzustellung die einzige Zuständigkeit des Bundes, von der die Amerikaner normalerweise direkt etwas mitbekamen. Trotzdem besaß der Kontinentalkongress reale Kompetenzen in Bezug auf Krieg und Diplomatie, die klassischen Merkmale echter Souveränität. Der europäische Verfassungsvertragsentwurf hingegen beschränkt sich darauf, das neue Amt eines europäischen Außenministers zu schaffen, ohne die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, ihre eigene und unabhängige Außenpolitik weiter zu betreiben, in irgendeiner Weise einzuschränken. Die Bewegung zur Reform der Artikel der Konföderation Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts war unter anderem deshalb entstanden, weil der Kongresses sich als unfähig erwies, seine Aufgaben im Bereich der nationalen Sicherheit zu erfüllen, die eindeutig in seine Zuständigkeit fielen. Es erscheint weiterhin schwer vorstellbar, dass die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich einer Bewegung anschließen, deren Ziel die Zentralisierung solcher Kompetenzen in der Union ist. da die europäischen Nationalstaaten sich vielfach ihrer (singulären) Rolle auf der weltpolitischen Bühne bewusst sind (Großbritannien und Frankreich dürfen als Beispiel genügen). Der Verfassungsvertrag fällt also in vielerlei Hinsicht weit hinter den Zielsetzungen zurück, die vor mehr als zwei Jahrhunderten in Philadelphia formuliert wurden, und letztlich bleiben Verlauf und Eigenschaften der verfassungsmäßigen Veränderungen in Europa das, was T.Jeffersons Nachfolger J. Madison di e „Geheimnisse der Zukunft" nannte. Es wird sich zeigen, ob der verschlungene Pfad und sich in die Länge ziehende Prozess des Entwurfs, der Verhandlung, der Verabschiedung und Ratifizierung des fertigen Verfassungsvertrages letzten Endes etwas anderes hervorbringen wird als den klaren und eindeutigen Beschluss, zu dem die Beratungen der Amerikaner zwischen 1787 und 1791 gelangten. Während dieser Debatten musste man sich von der Vorstellung verabschieden, dass Souveränität nur an Regierungen übertragen werden kann. Es erwies sich, dass alle rechtmäßig eingesetzten Regierungen - d. h. die der Bundesstaaten und des Bundes - ihre Daseinsberechtigung aus dem Willen des Volkes bezogen. Unabhängig von möglichen weiteren Zielen einer „europäischen Verfassung" wird wohl der ursprüngliche Grundsatz der Volkssouveränität unangetastet bleiben. Über diese und weitere Aspekte des historischen Vergleichs hinaus stellt sich die Frage, ob das europäische Verfassungsprojekt auch Ursachen für die momentan angespannten Beziehungen zwischen Europa und den USA deutlich machen kann. Vor mehr als dreißig Jahren wurden auf amerikanischer Seite die ersten Bestrebungen in Richtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Vorboten eines vereinigten Europa angesehen, das seinem Retter und Verbündeten 1038 jenseits des Atlantik nacheifern würde. Heute darf man angesichts der Folgen 1038
Vgl. m.w. N. J. Rakove, Europe's Floundering Fathers. in: Foreign Policy, 138/2003. S. 28 ff.: mit einigen (historisch) vergleichenden Gedanken R. R. Polmer . Das Zeitalter der demokratischen Revolution. 1970.
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des Krieges im Irak, der Abkühlung der Beziehungen zwischen den USA und einiger europäischer Staaten sowie der Politik der Regierung G. W. Bush vielleicht fragen, ob der Prozess der Entstehung einer Verfassung auf beiden Seiten des Atlantik tatsächlich ein Beleg dafür ist, wie viel Amerikaner und Europäer gemeinsam haben oder eher dafür, wie umfangreich und beständig die Unterschiede sind. Ma ncher historischen Betrachtung zufolge beseitigte ei nst die amerikanis che Föderation die Rivalitäten, die in Europa noch durch Krieg und Diplomatie im Gleichgewicht der Mächte ausgefochten wurden. Es wäre nicht ohne Pikanterie, wenn es den Europäern also in absehbarer Zeit gelänge, eine Verfassung für eine Union zu schaffen, von der sich bis heute nicht wenige ein Gegengewicht zur derzeit größten (benevolenten) „Hegemonialmacht" der Welt erhoffen. Im Vergleich zu den in Artikel I § 8 der US-Verfassung enthaltenen genauen Festlegung der Machtbefugnisse des Kongresses erscheint die Vorstellung von vage definierten ..Kompetenzen" dürftig. Gleichwohl können die ..Föderalisten" Europas mit Recht anfuhren, dass der europäische Verfassungsentwurf die im Rahmen der derzeitigen Vertragswerke bestehenden Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeiten der Europäischen Union deutlich verringert. Darüber hinaus erweitert die Verfassung die Bereiche, innerhalb derer die Kommission und der Rat Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen können, und reduziert die Möglichkeiten einzelner Staaten, ihr Veto gegen bestimmte Handlungen einzulegen. Indessen verbleibt ein wesentliches Merkmal der Souveränität - die Gestaltung des Steuersystems - im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, ebenso wie die Umsetzung der nicht enden wollenden Flut an Verordnungen aus Brüssel den Mitgliedstaaten obliegt. In diesem Sinne scheint der Entwurf einer Verfassung für Europa den „Articles of Confederation" ähnlicher als der amerikanischen Verfassung von 1787. Die Aufgabe der Konsolidierung der politischen Führung Europas ist heute im Vergleich eine weitaus vielschichtigere als die Bestimmung, der sich die Verfassungsväter Amerikas damals in Philadelphia gegenübersahen. Dies soll keines falls die Erfol ge des Jahre s 1787 sch mäl ern - wesha lb eine Betrac htung der jeweilige n Konv entsmitglieder ver messen, aber gleichwohl bezei chnend ist : Im Entstehungsprozess der amerikanischen Verfassung beeindruckt nicht nur die große Ernsthaftigkeit, mit der ihre Verfasser sich dieser Aufgabe widmeten, sondern auch die bemerkenswert einfallsreiche und kritische Weise, in der sie ihre profunde Kenntnis der Geschichte und politischen Philosophie mit ihren eigenen Erfahrungen verknüpften. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen in den Augen 1039 mancher um einen „zusammengewürfelten Haufen rustikaler Provinzler" handelte, die an der Peripherie der europäischen Welt lebten, lässt ihren Erfolg umso erstaunlicher erscheinen.
1039
31.
So J. Rakove . Europe* s Flound eri ng Fathe rs. in: Fore ign Policy. 138/2 003. S. 28 ff..
V. Zwei Verf assun ggebu ngsp rozes se: ein Res üme e
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Allerdings boten sich ihnen auch einige Vorteile, die ihnen die Arbeit an einer Bundesverfassung erleichterten. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten der Union zu keinem Zeitpunkt souverän im eigentlichen Wortsinn gewesen waren. Weder 1776 noch 1787 konnte man die amerikanischen Bundesstaaten als unabhängige souveräne Staaten betrachten, im Gegensatz etwa zu den Nationalstaaten des modernen Europa. Auch wenn sie einige grundlegende Hoheitsrechte ausübten, darunter die Befugnis zur Verabschiedung von Gesetzen und Erhebung von Steuern, beanspruchten sie zu keinem Zeitpunkt Souveränität im internationalen Sinn. Bereits zu Anfang der Revolutionskrise im Jahr 1774 besaß der Kongress das Monopol über die Bereiche Krieg und Diplomatie. So war auch die für den „romantisch-raubgierigen" Nationalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts so typische Hinwendung zum Nationalstaatsgedanken in den amerikanischen Staaten weitgehend unbekannt. Der Gegensatz zu Europa könnte an sind dieserNationalstaaten, Stelle kaum größer sein. Alle Mitgliedstaaten der und Europäischen Union die politische Souveränität ausüben deren Völker selbstbewusst ihre eigene Geschichte bewahren. In vielen dieser Länder könnte ihr im Vergleich mit den Vereinigten Staaten relativ neuer Status als Selbstverwaltungseinheiten (ein Umstand, an den allzu selten erinnert wird) den Widerstand gegen die Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an die Brüsseler Bürokratie und in vielerlei Hinsicht „ferne" Abgeordnete des Europäischen Parlaments eher verstärken als abschwächen. Jeder europäische Nationalstaat pflegt eigene außenpolitische Beziehungen, und jedem dieser Staaten sind die Folgen bewusst, die entstehen können, wenn die Wahrung der eigenen Interessen nicht länger in gewohnter Weise möglich ist. Zudem sind die europäischen Völker Erben einer Geschichte, die ein so hohes Maß an Leidenschaften und Erinnerungen birgt, dass das noch am ehesten heranzuziehende Gegenbeispiel in den Vereinigten Staaten dagegen völlig verblasst: nämlich die Bewahrung des Erbes der Südstaaten, welches sich typischerweise in der Zurschaustellung von Flaggen und Devotionalien der Konföderierten sowie in der eigentümlichen Weigerung äußert, anzuerkennen, dass es im amerikanischen Bürgerkrieg zuvörderst um die Abschaffung der Sklaverei ging. Diese Bezugnahme auf nationale Interessen und Identität lässt sich auch über diese Staaten hinausreichend hinsichtlich zweier wichtiger Bestandteile des Entwurfs eines Verfassungsvertrags für Europa verdeutlichen. Erstens werden die Mitgliedstaaten ungeachtet der Schaffung des Amtes des Außenministers der Europäischen Union, der gleichzeitig als einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission fungieren soll, kaum ihr Recht auf Betreibung srcinärer Außenpolitik an die Europäische Union vollumfänglich abgeben. Der Verfassungsentwurf ist an dieser Stelle sehr unklar, aber auch die Überarbeitung des Entwu rfs im Rah men einer Regierungskonferenz der Mitglied-
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Staaten hat die Aussichten auf die Betreibung einer „europäischen Außenpolitik" kaum verbessert. 1040 Zum Zweiten lohnt ein Blick auf das Dilemma, das durch das Verfassungsvertrags-Verfahren an sich entstanden ist. Letztlich handelt es sich um Verhandlungen zwischen Nationalstaaten und ihren Regierungen, für die als formale (und „projektgefährdende") Anforderung die Herstellung von Einstimmigkeit besteht. Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union selbst hat eine der wichtigsten Kriterien der Amerikaner für die Herstellung der vollständigen Verfassungsmäßigkeit einer Verfassung erfüllt. Er traf sich ursprünglich als unabhängiges Gremium, das keine anderweitigen Zuständigkeiten oder Verpflichtungen hatte und theoretisch frei und ohne Rücksichtnahme auf einengende politische Loyalitäten bestimmen konnte, wie die politische Zukunft am besten gestaltet werden sollte. Ab diesem Zeitpunkt aber unterlag der weitere Prozess den Manipulationsversuchen der Regierungen der Mitgliedstaaten, und die Rolle der europäischen Völker bei der Annahme der Verfassung versank zunächst in Ungewissheit. Die Unterschiede zwischen der revolutionären Situation der Amerikaner im 18. Jahrhundert und der Situation, der sich Europa heute gegenüber sieht, sind grundsätzlicher Natur. Die amerikanische Verfassungsbewegung war in ihren Ursprüngen und Zielen durch und durch revolutionär: revolutionär in ihrer Zurückweisung des britischen Autoritätsanspruchs im Jahr 1776. revolutionär in ihrer Bereitschaft zur Schaffung republikanischer Regierungen in den einzelnen Staaten und selbst dann noch bewusst revolutionär, als die Verfassungsväter versuchten, die Lehren, die sie aus der Unabhängigkeit gezogen hatten, auf das Problem der Bildung einer nationalen Regierung zu übertragen. Die Begeisterung der Europäer für die Revolution im eigentlichen Sinne war gewissermaßen mit dem „annus mirabilis" 1989 vorüber, genau zweihundert Jahre nach ihrer Geburt in Paris. Zudem 1 11 hat das Projekt der europäischen Integration " stets den Eindruck vermittelt, eher die Koordination unterzu den Staaten Integration erreichen wollen. Der verbessern rhetorischedenn Reiz,die dereigentliche hinter der politische Tatsache steckt, dass man diesen neuen Schritt im Integrationsprozess als „Verfassung" 1040
Vielleicht wäre eine solche Änderung möglich gewesen, wenn nicht der Krieg im Irak die Arbeit des Konvents unterbrochen hätte. Dieses Ereignis erinnerte die Akteure schmerzlich daran, wie weit man noch vom Ideal einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik entfernt ist. Die Vorstellung, dass Briten. Italiener. Spanier oder Polen sich bereitwillig einer (damaligen) Außenpolitik anschließen würden, die den (damaligen) Absichten der Franzosen und Deutschen entsprochen hätte, erscheint auch für zukünftig wechselnde Gestaltungen und Konstellationen vergleichbar abwegig. 1041 „Es gibt keine Hoffnung für Europa ohne Integration." ( J. F. Dulles , Memo of Discussion at the 159 lh Meeting of the National Security Council. 13.8. 1953, in: FRUS 195 2- 195 4. Bd. VII. 1. S. 502.) Diese Einschätzung kursierte in den Administrationen der amerikanischen Präsidenten Truman un d Eisenhower von 1945 bis 1961. Erste An sä tze der
Europäer, das traditionelle System der Nationalstaaten zu überwinden, fanden nachhaltigen positiven Widerhall in den Vereinigten Staaten.
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bezeichnet, hat ihren eigentlich graduellen Charakter nur abzuschwächen, aber nicht zu ändern vermocht. Trotzdem: im Hinblick auf die Zukunft einer europäischen Verfassung mag man sich der bisherigen Erfahrungen erinnern, um mit einer gewissen Gelassenheit den nun anstehenden Ratifikationsprozess zu begleiten. Andere werden gerade dadurch in ihrer demokratietheoretischen Skepsis gegenüber der Europäischen Union gestärkt werden. Wichtiger noch ist zunächst einmal, dass es keinen Determinismus hinsichtlich des Ausgangs der anstehenden Ratifikationsvoten gibt, der sich aus irgendeiner Tradition der politischen Kultur eines der 25 (bald 27) Mitgliedsländer ableiten ließe. Und selbst wenn sich im ersten Anlauf die Ratifikationshürde als zu hoch für die Realisierung der ersten europäischen Verfassung erweisen sollte: Nach aller Erfahrung in und mit der Europäischen Union könnte es am Ende immer noch den Weg des Umwegs geben, um zum Ziel zu gelangen - wie so oft in der Vergangenheit, auch wenn alle Demokratiedogmatiker und Integrationstheoretiker sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht fühlen mögen. Europa ist eben insbesondere durch Krisen gewachsen und wieder und wieder durch Krisen gestärkt sowie gewissermaßen bestätigt worden.
3.
Lehren für die Europäisc he Union aus dem Vergleich der Verfassunggebungsprozesse
Eine wichtige Lehre aus dem Vergleich beider Verfassunggebunsprozesse ist, nicht von der Verfassung als absoluter und einziger Quelle einer stabilen Demokratie bzw. einer stabilen Ordnung der verfassten Einheit auszugehen. Das in der jeweiligen Verfassungswirklichkeit demokratisch verfasster Länder gegebene Verhältnis von Markt. Parlamentarismus, Sozialstaatlichkeit und den darin enthaltenen Chancen zu einer lebendigen Demokratie ist vielmehr von Faktoren abhängig, die über bloße hinausweisen: der politischen Kultur. der Öffentlichkeit undVerfahrensregeln von dem Bedürfnis der Bürger,von in Freiheit und Frieden 1042 leben zu wollen. Auf der anderen Seite sollte in aller Trivialität die Geschichte der US-Verfassung und ihre Popularität nach noch 215 Jahren den Europäern Mut machen, visionär zu sein und in der Verfassungsdiskussion langfristig zu denken. Dazu gehört neben Geduld Kompromissfähigkeit. Die langfristige Dynamik einer Verfassung (auch eines Verfassungsvertrages) sollte nicht unterschätzt werden: können Ziele heute nicht erreicht werden, so muss das nicht das Ende eines großen Verfassungs- und Integrationskonzeptes bedeuten. Nichts spricht dagegen, dass die Verfassung Europas zu einem späteren Zeitpunkt noch verändert wird und verändert werden kann. Im Einzelnen sei an den „Great Compromise" erinnert: oft ist der „langfristige Nutzen eines Kompromisses zugunsten der schwächeren
1042
Vgl. auch R.A. Dahl. How Democratic Is the American Constitution. 2002. S. 3.
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B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
Mitglieder einer Gemeinschaft viel größer, als der kurzfristige Verlust an Macht 1043 und Einfiuss auf Seiten der Stärkeren" . In der Frage der Grundrechte sind die Europäer den Amerikanern im Zeitpunkt des Verfassunggebungsprozess voraus: sie wurden bereits beschlossen. Eine weitere Ursache für die Verankerung der US-Verfassung im Bewusstsein der Öffentlichkeit war die andauernde Rezeption des Verfassunggebungprozesses, beginnend mit der öffentlichen Diskussion der Verfassungsfrage durch die Federalists. Dies sollte europäische Verantwortungsträger animieren noch stärker in die Öffentlichkeit zu treten als dies etwa en gros durch die Konventsmitglieder geschah und für ein höheres Maß an Transparenz aller europäischen Institutionen einzutreten. Im Hinblick auf die EU-Erweiterung sollte zudem gewährleistet werden, dass sich aufgrund der Größe der Union nicht die Perspektivlosigkeit eines 2-Parteiensystems einstellt, wie es in den USA der Fall war. Die Gefahr ist allerdings evident, dass viele der Parteien, die heute im Europäischen Parlament tätig sind, durch die Vielfalt ihrer Werte und Programmatiken zu regionalen Splittergruppen degradiert werden und langfristig an Bedeutung verlieren. Gerade hier zeigt sich letztlich die Tragfähigkeit des Modells der europäischen „Einheit in Vielfalt". Zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit und des dynamischen Motors Europas mit seinem komplexen Institutionengefüge sollte Europa mit einem lernenden Blick über den Atlantik an der Verbesserung seiner Implementationsprozesse arbeiten, also seine Fähigkeit verbessern. Entscheidungen schnell durchzuführen, insbesondere mit Nachdruck die Herstellung außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit (entsprechend eines der Leitmotive der Federalist Papers) betreiben. Die Einb erufu ng des Verfassungskon vents von Philadelph ia am 21. Februar 1787 hatte nicht etwa die Ausarbeitung einer die Konföderationsartikel ersetzenden neuen Verfassung zum Gegenstand, sondern beschrieb das Mandat einschränkend als „for the sole and express purpose of revising the Articles of Confederation". Erst die außerordentliche Qualität der „Founding Fathers" und die Bereitschaft zum historischen Kompromiss ermöglichten die Einigung auf eine bundesstaatliche Verfassung. Dank der „Popularisierung" der föderalen Prinzipien in den „Federalist Papers" nach Abschluss des Konvents erwies sie sich als ratifizierungsfähig. Wie beschrieben hing diese Ratifizierung in elf Staaten teilweise an einem seidenen Faden, während zwei Staaten (Rhode Island und North Carolina) erst später, nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung hinzutraten. G. Burghardt fragt zu Recht: „Sollten sich unsere Verfassungsväter von dieser 1044 Ratifizierungsformel inspirieren lassen?" 1043 G. Burghardt. The Development of a European Constitution from the US Point of View. Ber lin. Vor lesung vom 6. Juni 200 2 an der Humb oldt -Uni vers ität Berl in, ww w .eurunion.org/news/speeches/2002/020606gb.htm. 1044 G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. S.42.
V. Zwei Verfass unggebungsp rozesse: ein Resüm ee
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Gedankliche Parallelen sind zahlreich, wenngleich nicht immer kohärent. So ist es mehr die Einsicht in die nationale Unvollkommenheit, die die Zustimmung zum Projekt Europa befördert, als wahre Überzeugung. Einer der hierfür bestimmenden Auslöser lässt sich allerdings nicht mit den Zuständen des vorkonstitutionellen Amerika vergleichen - nämlich die überbordenden Komplexität und Unüberschaubarkeit der real existierenden Europäischen Union. Ein weiterer Punkt: Der amerikanische Bürger konnte sich von Anfang an als Subjekt in einem Prozess fühlen, der argumentativ begleitet wurde, Selbstbetroffenheit erzeugte und dahe r auch von einer psychischen Dyna mik getragen war. Der europäische Bürger, mit argumentativen Begründungsversuchen für Entscheidungen auf EU-Ebene nicht eben verwöhnt, empfindet wenig eigene Betroffenheit und bringt daher auch nur ein geringes Engagement für einen Prozess auf. dem er sich zunehmend als Objekt ausgesetzt sieht. Ein Mehr an öffentlicher Diskussion und kompetenter Argumentation wäre hier sicher nützlich, zumal der Zusammenhang zwischen Verfahren und Reaktion vielleicht doch anders ist als gemeinhin vermutet: Möglicherweise wird nicht so wenig argumentiert, weil das Interesse so gering ist, sondern das Interesse ist so gering, weil die Bürgersich nicht hinreichend ernst genommen fühlen. Demzufolge ist eine weitere Lehre aus den Erfahrungen des Jahres 1787 für die heutigen Konstellationen, dass man für politische Ziele dieser Größenordnung gewisse Wagnisse eingehen muss. Wenn eine wirkliche Verfassung der Völker und Nationen das ist, was man dem Versprechen G. d'Estaings nach erreichen will, wird eine Reihe ausgehandelter Verträge nicht ausreichen. Das Interesse der Menschen am Europäischen Parlament ist marginal, wie der Wahlbeteiligung oder der Berichterstattung über das Parlament in den Medien unschwer zu entnehmen ist. Die Schaffung des Amtes eines ständigen Präsidenten des Rates und eines europäischen Außenministers wird zweifellos erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung der Politik und Koordinierung der Arbeit zwischen Rat, Kommission und Parlament haben. 1045 Legitimität für die europäische Integration und für die Politik insgesamt erwächst aus Prozessen, aber mindestens ebenso stark aus der inneren Annahme der inhaltlichen Ergebnisse des Konvents durch die Unionsbürger. Es ist demzufolge unumgänglich, dass nunmehr, nach dem Abschluss der Beratungen des Verfassungskonvents und im Rahmen des Ratifizierungsprozesses, eine europaweite öffentliche Diskussion über die Chancen und Erfordernisse eines sich langsam herausbildenden „europäischen Verfassungspatriotismus" beginnt. Die Vereinig-
1045 Aber die politischen Wirkkräfte dieser neuen Ämter sind in ähnlicher Weise problematisch. Es geht letztlich um einen Präsidenten, der die durch den Rat miteinander
verbundenen Regierungen repräsentiert, aber nicht die Völker, die diese Regierungen vertreten.
372
B. Verfa ssungser weckung und Verfass ungsbestät igung
ten Staaten von Amerika können insoweit und in vernünftig gezogener Analogie durchaus zum Vorbild erwachsen. Die amerikanische „Revolution" hat keine herausragenden philosophischen 1046 Entwürfe hervorgebracht. Ihre Bedeutung für die Verfassungsgeschichte und die Geschichte der politischen Ideen liegt in der gelungenen Synthese europäischer Denkmodelle mit der politischen Praxis. Einer Synthese unterschiedlicher Schattierungen des europäischen Denkens, insbesondere der Aufklärung sowie der englischen politischen Tradition unter den eigentümlichen Bedingungen der amerikanischen Umgebung, die dem Einzelnen eine höhere Möglichkeit zur Selbst1017 bestimmung und Selbstentfaltung eingeräumt haben als diejenigen Europas. Die Lehren herausragender Vertreter der europäischen Aufklärung und des Naturrechts diente im ausg ehen den 18. Jahr hund ert bereits der Beschreib ung der amerikanischen Realität, wohingegen es im zeitgleichen Europa weitgehend den Charakter eines normativen Postulats behielt. Alexis de Tocqueville hat trotz aller kurz skizzierten Schwierigkeiten bereits 1833 die ungeheure Kraft und Dynamik der „Demokratie in Amerika" beschrieben. Europa, vielleicht die transatlantische Gemeinschaft wartet heute, mehr als 50 Jahre nach Beginn des europäischen Einigungsprozesses, immer noch auf den „amerikanischen de Tocqueville". Möglicherweise wird ein solcher erst aus einem tragfähigen Ergebnis des jüngsten europäischen Verfassungsprozesses die 8 erforderliche Inspiration schöpfen.""
1046
Dahingegen darf mit der notwendigen Bescheidenheit durchaus von einem Aufkeimen eines europäischen Pendants der „Federalist Papers" gesprochen werden. Die zahlreichen Beiträge der letzten Jahre zur Zukunft Europas, insbesondere die Schriften von Pernice. Häberle oder auch die Vortragsreihe des „Forum Constitutionis Europae" könnten mit einer (verbesserungswürdigen) Begleitung in der breiten europäischen Öffentlichkeit ein entsprechendes Werk abgeben. 1047 Den Gedanken der Verknüpfung praktischer Absicht mit den europäischen Strömungen der Geistesgeschichte betont auch W. Reinhard. Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. Frenske/D. Mertens/W. Reinhard/ K.Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausg. 1996. S. 241 ff.. 366. 1048
Lediglich J. H. H. Weiler dürfen zarte, der Selbstdarstellung nicht abgeneigte Gehversuche auf dem steinigen Weg zu diesen Höhen attestiert werden, vgl. etwa ders.The Const ituti on of Europe . 1999.
C. Der Gott esbe zug in den Verfassungen Europas und der USA I. Einleitung Wenige Themen haben während der Beratungen des Europäischen Konvents eine so breite europäische Öffentlichkeit erreicht wie die Frage des Gottesbezugs 1 in der Präambel des „Vertrages über eine Verfassung für Europa". Wie schon im ersten Konvent zur Erarbeitung der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union" rief die kontroverse und langwierige Diskussion über die Wertebasis der Europäischen Union im Konvent unter der Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsident V.Giscard d'Estaing vielfältige Reaktionen der politisch Betei2 ligten, der Medien , der nationalen und europäischen Kirchenverbände' und der 4 europäischen Zivilgesellschaft hervor.
1 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Vortrag des Verf. in Wilton Park im Mai 2(X)4. für den die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wichtige Grundlagenarbeit geleistet haben (WD vom 3.5. und 13.5.2004). Vgl. nunmehr auch C. Mirabelli. The religious element in the Constitution for Europe. in: H.-J. Blanke/ S. Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 133 ff. 2 So z. B. Frankfurter Rundschau v. 13. 11.2002: ..Die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit. des Guten und des Schönen"; FAZ v. 16. 11.2002: „Gott in Europa": Süddeutsche
Zeitung ..Segen lässtv.auf warten"; Die Welt v.bisher 30. 1.2003: Europa!",v.28.1.2003: Schwä bische Zeitung 5.2.sich 20 03: ..Go tt kommt ni cht ..Gottloses vor" - ein Interview mit J. Meyer. FAZ v. 8.2.2003: „Vatikan vermisst Bezug auf Gott in den Entwürfen", Bayern Kurier v. 13.2.2003: „Europa streitet über Gott"; M. Wissmann. Ganz ohne Gott geht es nicht, in: FAZ v. 11.4.2003: FAZ v. 5.6.2003: ..Kritik in der Union am Konventsentwurf'; W. Schäuble, Für die Würde der Welt, in: Der Tagesspiegel v. 18.6.2003. 1 Vgl. die Gemeinsame Stellungnahme des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu m Konvent zur Zukunft Europas v. Mai 2002: Gemeinsame Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe und des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland anlässlich der Anhörung der Europaausschüsse des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zum Europäischen Verfassungskonvent am 26.6.2002: Mitteilung des Präsidenten der Kommission der Bischofskonferenz der Europäischen Gemeinschaft (COMECE), Agence Europe v. 1. 11.2002. S.4. Bischof J. Homeyer. Ja. der Gottesbezug wird kommen, in: Rheinischer Merkur v. 15.5.2003. Pressemitteilung des Exekutivausschusses der COMECE v. 19.6.2003: ..Reaktion auf den EU-Verfassungsentwurf 4 Kritik an einem exklusiven Hinweis auf das Christentum wurde z. B. vom Europäischen Netz gegen des Rassismus (ENAR ) geäußert. Agence Europe vom 14. 11.20 02. Ahn-
374
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Erwähnenswert erscheint eine Einschätzung P. Hüberies : „Soweit textlich vorhanden, repräsentieren Verfassungspräambeln (oder sonstige Verfassungsklauseln) mit Gottesbezügen keineswegs eine ,überwundene', anachronitische, »atypische' Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Verfassungsstaates." 5 Auch aus diesem Grunde erscheint eine rechtsvergleichende Betrachtung im Rahmen zweier Verfassungshistorien nahezu geboten. Im Folgenden wird sowohl die Debatte um die „invocatio Dei" im Verfassungsvertrag eine nähere Untersuchung erfahren als auch ein vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft sich schließlich mit einer Darstellung der Gottesbe züge der jeweiligen Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks sowie mit einer Betrachtung etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen 6 der deutschen Bundesländer.
II. Der Gottesbezug in den Verfassungen Eu rop as Ausgangspunkt soll der (umstrittene) zweite Absatz der Präambel des am 18. Juli 2003 vorgeschlagenen Verfassungsvertragstextes sein: „Schöpfe nd aus den kulturellen, religiös en und humanistischen Über lieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".
1. Bisherige Regelu ngen im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft Das geltende primäre Gemeinschaftsrecht enthält keinen Bezug auf Gott oder das Christentum. Spezielle Regelungen existieren dagegen zur Stellung der Kirchen und zu den Religionen in Europa, darunter insbesondere:
lieh äußerten sich der Humanistische Verband Deutschlands (HVD. www.humanismus.de) un d European Humanist Federation (EHF. www.humanism.be) . Eine spezielle Anhörung zum Thema „Wertegemeinsc haft: Die Rolle der Kirchen in der Europäischen Unio n" führte der Europaausschuss des Landes Schleswig-Holstein am 23.8.20()2 durch. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen veranstaltete am 1./2.2.2003 eine Tagung zum Thema „Der Status der Religionsgemeinschaften im künftigen Europa". Vgl. auch M.H. Weninger, Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen. Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, 2007. ?
P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 276. Siehe auch bereits P. Häberle , „Gott" im Verfassungsstaat?, 1987 (nunmehr in: ders.. Rechtsvergleich ung im K raftfe ld des Verfass ungsstaates, 1992. S. 213 ff.) sowie 6
ders.,
Ver fass ungsl ehre als Ku ltur wis sens cha ft, 2. Aufl. 1998. S. 951 ff. mit der dort zitierten Kommentarlit.
375 C. Der Gotte sbez ug in den Verfassun
gen Euro pas und der USA
- Art. 13 EGV. der den Rat ermäc htigt , auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrung zu treffen, um Diskriminierungen unter anderem aufgrund der Religion oder der 7 Weltanschauung zu bekämpfen ; - das Gemeinsc haftsgr undrec ht de r Religionsfreiheit als vom EuGH entwickelter allgemeiner Rechtsgrundsatz 8 , - die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemein schaf ten zum Vertrag von Amsterdam (Erklärung Nr. 11), mit der die Europäische Union sich verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen sowie weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren 9 Rechtsvorschriften genießen, zu achten und nicht zu beeinträchtigen . 2.
Die Europäische
a)
Grundrechtecharta
Gottes bezug
Breiten Raum nahm die Frage eines expliziten Gottesbezugs während der Beratungen des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta im Jahr 2000 ein Aufgabe des vom Europäischen Rat in Köln eingesetzten Gremiums war die Zusammenfassung der auf EU-Ebene geltenden „Freiheits- und Gleichheitsrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des 1 Gemeinschaftsrechts ergeben.'" Im Zuge der damit untrennbar verbundenen
10
7 Vgl. A Epiney, in: C.Callies/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EUV und EGV. 2. Aufl., 2002, Art. 13 EGV Rn. I: G.Jochum, Der neue Art. 13 EGV oder ..political corree tnes s" auf eur opäi sch? , in: ZR P 1999, S. 280 ff.: S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta, in: A. Duschanek/S. Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa - Die Europäische Union nach Nizza, 2002. S. 147 ff. 8 Erstmalig anerkannt in: EuGH. Urteil vom 27.10.1976 (Paris/Rat), Rs. 130/ 75 - Slg. 1976. S. 1589: vgl. auch /. Pernice. Religionsrechtliche Aspekte im europäischen Gem ein scha fts rec ht, in: JZ 1977. S. I I I ff.
'' Die Erk lär ung Nr. 11 ist nach Artikel 31 Abs. 2 des Wie ner Über ein kom men s über das Recht der Verträge verbindlich und bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Für das deutsche Recht ist die Erklärung vor allen mit Blick auf Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von Bedeutung, der den Religionsgemeinschaften ein Organisations- und Selbstverwaltungsrecht zugesteht, denn gemäß der Erklärung bleibt diese Regelung durch das Gemeinschaftsrecht unberührt. 10 Hierzu ausführlich J. Meyer!M. Engels. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), 2001. Vgl. auch J. Henard. Ehre sei Gott ... in der EU. Deutschland besteht darauf, in: Die Zeit vom 2.11. 2000. S.9. Im weiteren Sinne W. Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, in: EuR 2000. S. 261 ff.
" Schl ussf olger ung Europ äisch er Rat (Köln). Anhang I V: Beschluss des Europäi schen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der EU, 4.6. 1999.
.
376
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Wertedebatte diskutierte der Grundrechtskonvent die Frage eines Gottes- bzw. Religionsbezugs in der Präambel der Grundrechtecharta mit großer Intensität. Die vom Präsidium unter der Leitung von R. Herzog vorgeschlagene Ausgangsformulierung des „kulturellen, humanistischen und religiösen Erbes" stellte sich während der Beratungen des Grundrechtskonvents als nicht konsensfähig heraus. Insbesondere die französische Regierung und die der Fraktion der Sozialistischen Partei Europas (SPE) angehörenden Konventsdelegierten sprachen sich gegen eine Bezugnahme aus, während die Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP) den Hinweis auf das religiöse europäische Erbe nachdrücklich einforderten. Im Ergebnis blieb die politische Auseinandersetzung über den Religionsbezug im ersten Konvent ungelöst. Die letztendlich verabschiedete und in Nizza feierlich proklamierte Charta beginnt mit einer aus sechs Absätzen bestehenden Präambel. Im zweiten Absatz der deutschen Sprachfassung heißt es: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität".
Dieser explizite Religionsbezug ist eine Besonderheit der deutschen Übersetzung und fehlt in den übrigen Sprachfassungen der Charta. Beispielsweise ist in der französischen Version der Chartapräambel statt dessen die Formulierung „patrimoine spirituel et moral" gewählt worden. Ebenso spricht die englische Fassung vom „spiritual and moral heritage". Die deutsche Übersetzung der Begriffe „spirituel" bzw. „spiritual" mit „religiös" muss wohl als Versuch gewertet werden, in der schwierigen Endphase der Chartaberatungen die divergierenden Positionen zu überbrücken. Die Sonderstellung der deutschen Fassung hat entsprechend 12 intensive Kommentierungen provoziert , wenn auch alle Sprachfassungen der Charta gleichermaßen Gültigkeit haben. b)
Kirchen und Religionen
Über ihre Präambel hinaus enthält die Grundrechtecharta die folgenden speziellen Regelungen zu den Kirchen und Religionen in Europa: - die Geda nken -, Gewiss ens- u nd Religions freiheit in Art. 10 Abs. 1 EuG RC, der 13 der Regelung des Art. 9 Abs. 1 EMRK entspricht , - das Recht der Eltern auf religiöse Kind ererzie hung in Art. 14 Abs. 3 EuG RC 1 4 ; 12 Vgl etwa P. Beres, Die Charta - Ein Kampf für die Werte der Union, in: S.Y. Kaufmann (Hrsg.). Grundrechtscharta der Europäischen Union. 2001. S. 21 f.: H.M. Heinig, Die Religionen, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2001. S.440ff„ 457; G. Robbers. Rcligionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechtscharta, in: H.W. Arndt/M.-E. Geis/D. Lorenz (Hrsg.), Kirche-Staat-Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag. 2001. S. 425 ff.. 431.
377 C. Der Gotte sbez ug in den Verfassun
gen Euro pas und der USA
- das V erbot der Diskri minier ung aufgru nd Religion oder Weltans chauun g in 15 Art. 21 Abs. 1 EuGRC, der sich an Art. 13 EGV und Art. 14 EMRK anlehnt , - die Pflicht zur Acht ung der Vielfalt der Religionen nach Art. 22 EuGRC . Im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents ist die EU-Grundrechtecharta mit ihren Bestimmungen als Teil II aufgenommen und wird bei Annahme durch die Regierungsko nferenz und Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten rechts 16 verbindliches und einklagbares Primärrecht werden. 3.
-
Der Entw urf des Europäi schen Konvents
Allein drei der insgesamt 27 Plenartagungen des Konvents waren der Diskussion 17 über die Werte und Ziele der Europäischen Union gewidmet. Da Konventspräsident Giscard d'Estaing sich trotz der Skepsis des Konvents die Formulierung der Verfassungspräambel selbst vorbehielt und seine Erstfassung erst in der Endphase 18
der Beratungen präsentierte , wurde die Kontroverse zum Gottesbezug zunächst ohne konkrete Textvorlage des Präsidiums geführt. Bereits im November 2()02 hatte die EVP einen kompletten Verfassungsentwurf erarbeitet. 1 ' Im Einklang mit diesem Entwurf brachte J. Wiirmeling, stellvertretender Konventsdelegierter des Europäischen Parlaments, im Januar 2003 den Vorschlag in den Konvent ein. an zwei Stellen der Verfassung einen Gottes20 bzw. Religionsbezug aufzunehmen : Zum einen sollte der Hinweis auf das geistigreligiöse Erbe Europas Eingang in die Präambel finden, zum zweiten sollte an spä13 Vgl. zur Kommentierung von Art. 10 EuGRC z. B. N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2003. Art. 10 Rn. 1; ebenso die neuen Erläuterungen. CONV 828/103 v. 18.7.2003. 14
Hierzu besteht
mit Ar t. 2 S. 2 Zusatzprotokoll
Nr. I ein EMR K-Re fere nzre cht.
vgl. auch N. Bernsdorff (2003), Art. 14 Rn. 21. 15 Vgl. S. Hölscheidt. in: J. Meyer (Hrsg.). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 21 Rn. 32. 16 Die Charta entfaltet bereits heute Ausw irkungen: Trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit haben mehrere Generalanwälte des EuGH in ihren Schlussanträgen auf sie Bezug ge nom me n. Auch das EuG weist in eine m Urteil auf Art. 41 Abs. 1 de r Cha rta hin. Im Einzelnen hierzu S. Hölscheidt JE. Mund, Religionen und Kirchen im europäischen Verfassungsverbund. in: Europarecht. 2003, S. 1083 ff. ' Plenartagungen am Tl. 2., 18. 3. und 26. 3.2 003 . Die Wortprotokolle sind unter http://www.europarl.eu.int./europe2004/index/de.htm. abrufbar.
dieser Sitzungen
18
CONV 722/03 v. 28.5. 2003. ..The Constitution of the European Union" vom 10. 11.202. EPP-Convention Group Meeting in Frascati, abrufbar unter www.epp-ed.org. 20 ..Religiöse Bezugnahme im Verfassungsvertrag", CONV 480/03 vom 31. 1.2003. Mitunterzeichne r waren u. a. die deutschen Konventsmitglieder MdEP E. Brök und Minister19
präsident E. Teufel sowie MdB Bundestages.
P. Altmeier als stellvertretender Delegierter des Deutschen
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C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
terer Stelle in Anlehnung an die polnische Verfassung die folgende Formulierung ausgenommen werden: „Die Werte der Europäischen Union umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit. Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten".
Im Februar 2003 reichten daraufhin drei Konventsmitglieder eine von 163 Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterzeichnete Entschließung ein, in der die Delegierten forderten, dass die europäische Verfassung keinen direkten oder indirekten Hinweis auf eine bestimmte Religion oder einen bestimmten Glauben enthalten dürfe. 21 Ebenso kritisch äußerten sich die Delegierten Frankreichs und zahlreiche Mitglieder der SPE-Gruppe im Konvent. Vor dem Hintergrund der gespaltenen Haltung des Konventsplenums legte Giscard d'Estaing im Mai den folgenden Vorschlag für Absatz 2 der Verfassungspräambel vor: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas. die - aus griechischer und römischer Zivilisation hervorgegangen und erst durch das geistige Streben, von dem Europa durchdrungen war und das noch heute in seinem Erbe fortlebt, und dann durch die Philosophie der Aufklärung geprägt - die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".
Obgleich der ehemalige französische Staatspräsident seine ablehnende Haltung gegenüber einer ausdrücklichen Anrufung Gottes in der Verfassungspräambel im Konvent und auch bei einer Privataudienz mit Papst Johannes Paul II. im Oktober 2002" deutlich gemacht hatte, rief dieser Textvorschlag im Konvent Überraschung und den erklärten Widerstand der Gruppe der Befürworter eines Gottesbezuges hervor. Besonders der Hinweis auf die griechische und römische Zivilisation in Verbindung mit dem Zeitalter der Aufklärung wurde von zahlreichen Delegierten als historisch verkürzt und unausgewogen kritisiert. In der Plenarsitzung des Konvents am 30./31. Mai 2003 betonte MdEP A. Tajani, dass die jüdisch-christlichen Wurzeln eine historische Tatsache seien, die Europa maßgeblich geprägt hätten. Die polnische Parlamentsdelegierte M. Fogler brachte ihre Unzufriedenheit über den Entwurf der Präambel zum Ausdruck und forderte ebenfalls die Aufnahme eines Verweises auf das jüdisch-christliche Erbe. In der folgenden Plenarsitzung vom 4. bis 6. Juni 2003 wurde die Forderung nach einem Bezug auf Gott, das jüdisch-christliche Erbe oder das Christentum 21
„Achtung der Grundsätze der Religionsfreiheit unter religiösen Neutralität des Staates". CONV 587/03 vom 26.2.2003. 2 2 Vgl. auch FAZ vom 16. 11.2002: „Gott in Europa", DIE WELT vom 30.1.2003: „Gottloses Europa", DIE ZEIT vom 30. 1.2003: ..Zum Erfolg verdammt".
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gen Euro pas und der USA
mit Nachdruck erhoben. MdEP E. Brök und Ministerpräsident E. Teufel erklärten, dass die griechische und römische Zivilisation nicht ohne den Glauben an Gott und andere Religionen aufgezählt werden könne. Der Delegierte des polnischen Parlaments, E. Wittbrodt , hob hervor, dass das Christentum einer der wichtigsten Einflüsse in der europäischen Geschichte sei. Sowenig das Christentum die Rechte anderer verletze, dürfe eine dogmatische Säkularisierung die Rechte die Religion verletzen. Der italienische Regierungsvertreter F. Speroni unterstrich den entscheidenden Beitrag des Christentums zu Europa. Der Delegierte der irischen Regierung, D. Roche , forderte den Konvent dazu auf, die christliche Tradition Europas nicht zu übersehen. Gleichzeitig lehnten zahlreiche Mitglieder die Erwähnung des Christentums in der Präambel ab. MdEP O. Duhamel kritisierte die Versuche, das Christentum oder die christlichen Wurzeln in die Präambel einzubeziehen. Jeder, der mehr als die Erwähnung der religiösen Überlieferungen verlange, übersehe, dass es vielen Delegierten bereits schwer falle, die vom Präsidium vorgelegte Formulierung zu akzeptieren. Auch MdEP A. van Lancker lehnte einen Bezug auf das Christentum strikt ab. Der spanische Parlamentsdelegierte J. Boreil Fontelles erklärte, die Balance der von Giscard vorgelegten Formulierung zwischen säkularen und religiösen Werten sei das Äußerste, was der Konvent erreichen könne. a)
Änderungsanträge
Als schriftliche Reaktion auf den von Giscard verfassten Präambeltext wurden 23 insgesamt 18 Änderungsanträge zur Präambel eingebracht. Für den zweiten Präambelabsatz wurden insbesondere folgende Textalternativen vorgeschlagen: - von MdEP E. Brök für die EVP-Gruppe: ..Drawing inspiration from the cultural. religious and humanist inheritance of Europe. which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual and for example judco-christian impulse always present in its heritage and later by the philosophical currents of the Enlightenment. has embedded within the life of society its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law. and the respect for conscience and belief |... 1",
- von der polnisc hen Regierungsv ertreteri n D. Hühner. „|... ] which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual. notably Christian impulse always present in its heritage | ...1";
- von den polnische n Parlamentsvertre tern E. Wittbrodt un d M. Fogler:
23
Eine Übersicht aller Änderungsanträge ist unter http://europeanl-lconvention.eu.int /amendments zusammengestellt. Die Anträge lagen dem Konvent lediglich in Originalsprache vor.
380
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„|...] which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome, characterised by spiritual impulse always present in its heritage, and by the philosophical currents of the Christianity. the Renaissance and the Enlightenment (...] Believing that reunited Europe will ever base on fundamental values, as tolerance and human dignity, which are the values of those who believe in God as the source of truth. justice, good and beauty. and of those who do not share such a belief, but respect these universal values arising from other sources [... ]"; - von den maltesischen Delegierten P. SeraciuoInglott, M. Frendo u n d J. Inguanes: „|... ] which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual impulse always present in its heritage. notably Judaeo-Christian. and later by the philosophical currents of the Renaissance and the Enlightenment. has embedded within the life of society its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law, freedom of conscience and belief in God"; - von MdEP./.
Wiirmeling u.a.:
..Drawing inspiration from the cultural. judeo-christian and humanist inheritance of Europe. which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual impulse always present in its heritage and later by the philosophical currents of the Enlightenment. has embedded within the life of society its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law. respecting conscience and belief in God"; - von dem Vertreter
des Bundesra
tes. Ministerprä
sident
E. Teufel:
,.[...] Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferung Europas. die - aus der griechischen und römischen Zivilisation sowie aus dem Gottesglauben des Christentums und anderer Religionen hervorgegangen und erst durch das geistige Streben (... ]"; - vom stellvertretenden Delegierten der französischen Nationalversammlung J.
Fl och :
„[
] S'inspiran t des Heritages
culturels, religieux.
laics et humaniste s de l'Europ e
1-.]"; - v o m M d E P O. Duhamel u. a.: „(...] S'inspirant des Heritages culturels. et spirituels de l'Europe 1... I"; - vom
irischen
Par lam ent s Vertreter
P. de Rossa:
..Drawing inspiration from the diverse religious, cultural and humanist inheritance of Europe I...]"; Auf der Gru ndla ge diese s Sti mmu ngsb ild es wur de dem K onve ntsp lenu m in der Plena rsit zung am 12 ./13 . Juni 200 3 eine überarbeite te Prä ambel versi on vo rgelegt. Da rin verzichtet e das Pr äsi diu m auf die Erw äh nu ng der grie chis che n und römi sche n Zivilisation sowie den Bezug zur Auf klä run g. Der Hinw eis au f die kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas wurde beibehalten und durch den Zusatz „deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind"
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gen Euro pas und der USA
ergänzt. Nicht aufgenommen wurden ein expliziter Gottesbezug, ein Hinweis auf das Christentum oder das (jüdisch-)christliche Erbe. Dieser Version stimmte der Konvent im Zuge des politischen Gesamtkompromisses zu. b)
24
Die Beratungen der Regierungskonferenz
In der im Oktober 2003 eröffneten Regierungskonferenz wurde die Frage des Gottesbezugs erneut aufgegriffen. Beim Treffen der EU-Außenminister am 28./ 29. 11.2003 in Neapel war die Frage der Präambel und insbesondere des Bezugs auf die christlichen Wurzeln Europas Gegenstand eingehender Beratungen. Ein Konsens konnte dabei nicht erzielt werden. Zur Vorbereitung des Europäischen Rates in Brüssel am 12. /13 . Dez emb er 20 03 schlussfolg erte die italienisc he EURatpräsidentschaft deswegen, dass „einige Delegationen es nach wie vor für wichtig hielten, dass in der Präambel auf die christlichen Werte Bezug genommen wird" während „die übrigen Delegationen der Ansicht waren, dass der Text des Konvents den unterschiedlichen Anliegen in ausgewogener Weise Rechnung trage". 25 c)
Bewertung
Aus dem Streit hervorgegangen ist ein durch und durch säkularer, laizistischer Text, der angesichts der europäischen Realität möglicherweise zu Recht auf eine „Invocatio Dei", eine Anrufung Gottes, verzichtet und sich stattdessen auf den Geist der Antike, des Humanismus und der Aufklärung beruft. Nur beiläufig wird auf das religiöse Erbe Europas verwiesen, ohne dass dabei die jüdische, christliche und muslimische Tradition in irgendeiner Weise erwähnt wird. Von religiöser Gegenwart ist überhaupt nicht die Rede. Über die Hintergründe dieser Zurückhaltung lässt sich nur rätseln: Sorge um den laizistischen Staat, Rücksicht gegenüber multireligiösen Gesellschaften oder schlicht Angst vor dem Erstarken des Fundamentalismus? Ehrenwerte Gründe allesamt, die aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein Text vorliegt, der, obwohl er modern sein will, seltsam unzeitgemäß wirkt; ein Text, der weder den eigenen Traditionen noch den Erfordernissen der Gegenwart wirklich gerecht wird. Europa, das alte wie das neue, verdankt sich nicht nur der griechischen Antike und nicht nur der franz ösisch en Aufk läru ng, sondern eb enso sehr jen em Mittelalter, in dem jüdische, christliche und muslimische Denker, allein oder gemeinsam, über den Widerspruch von Glaube und Vernunft nachgedacht und damit jene Aufklärung mit vorbereitet hatten, die bis heute als der große Widerpart des Religiösen gilt. 24 25
Vgl. das Plenarprotokoll der Sitzung vom 12./ 13. Juni 2003, Fn. 17. Siehe hierzu das Dokument der Regierungskonfere nz CIG 60/ 03 A DD 2 v. 11.12.2003
.
382
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Europa, das alte wie das neue, ist ein Kontinent, dessen Schicksal - im grausamsten wie im erhabensten Sinne - von Religion und Religionen bestimmt wurde und es vielfach noch immer wird. Dies zu negieren oder zu verdrängen, heißt, einer Geschichtsvergessenheit Vorschub zu leisten, die sich bis in die Zukunft hinein rächt. Und schließlich ist auch Europa, das neue mehr noch als das alte, Schauplatz jener Entwicklung, die man die „Rückkehr des Religiösen" nennt und die gegenwärtig daran ist, die Gesellschaften, nicht nur die amerikanische, nachhaltig zu verändern. Von alledem kann in einem Verfassungstext selbstverständlich nicht ausdrücklich die Rede sein. Durch den weitgehenden Verzicht auf religiöse Referenz erweckt diese europäische Präambel indes den Verdacht, dass man sich der Bedeutung der Religionen als konstituierender Elemente auch des neuen Europas entwed er nicht bewusst ist oder sie willentlich unterschlägt. Damit geht etwas ganz Wesentliches verloren. Religion, sei es nun als Suche nach einer neuen Spiritualität oder als Flucht in fundamentalistische Gewissheiten, hat seit einigen Jahren enormen Auftrieb. Die Aufklärung und die mit ihr einhergehende Entzauberung der Welt sind an Grenzen gestoßen, die Bedürfnisse der Menschen nach dem Unbegreiflichen, dem Göttlichen neu erwacht. Unter dem Eindruck der rasanten technologischen Entwicklung hat sich das Bewusstsein sowohl für „die Grenzen menschlicher Macht" 2 6 als auch für die Notwendigkeit umfassender Orientierung geschärft. Ethisch-religiöse Positionen sind in den existenziellen Debatten der Gegenwart gefragter denn je. Wer dies, willentlich oder nicht, übersieht, vernachlässigt nicht nur menschliche Grundbedürfnisse, sondern schafft ein Vakuum, in dem Fundamentalismen aller Art gegenüber dem Humanismus und der Aufklärung ein leichtes Spiel haben. Nur beiläufig wird in der EU-Verfassung auf das religiöse Erbe Europas verwiesen. Von einer religiösen Gegenwart ist gar nicht erst die Rede. 27 4.
Der Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittsk andid aten) der Europäischen Union sowie in den deutschen Bundesländern
Von den derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen die Verfassungen Dänemarks. Griechenlands, Irlands, der Bundesrepublik Deutschland und im Falle Großbritanniens die Verfassungsprinzipien ausdrücklich einen Got26
Wie es etwa in der Präambel zur neuen Zürcher Kantonsverfassung heißt.
2
Möglicherweise vorausblickend bereits H. Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen, 1844: „Die Jungfrau Europa ist verlobt / Mit dem schönen Geniusse / Der Freiheit, sie liegen einander im Arm. / Sie schwelgen im ersten Kusse. / Und fehlt der Pfaffensegen dabei. Die Ehe wird gültig nicht minder - / Es lebe Bräutigam und Braut. / Und ihre zukünftigen Kinder!" 28 Auf eine wörtliche Wiedergabe wird verzichtet. Siehe aber zum Thema Gottesklausel in der Bundesrepublik Deutschland umfassend (insbesondere mit dem wichtigen Verhältnis
28
383 C. Der Gotte sbez ug in den Verfassun
gen Euro pas und der USA
tesbezug auf. Teilweise wird der Gottesbezug nur indirekt deutlich, etwa wenn auf eine bestimmte Konfession (Finnland: evangelisch-lutherische Kirche, Malta: römisch-katholisch-apostolische Kirche) hingewiesen wird, die Bekräftigung eines Amtseides durch eine religiöse Beteuerung (Niederlande, Österreich) erfolgt bzw. erfolgen kann oder durch die Nennung von Heiligen, die einen Staat maßgebend mitgeprägt haben (Slowakische Republik: Heilige Slawenapostel Cyrillus und Methodius). Die Verfassungen der Beitrittskandidaten bzw. zuletzt beigetretenen Staaten zur Europäischen Union enthalten teilweise nur konkludent einen Gottesbezug, durch die Möglichkeit der Anrufung Gottes bei Ableistung des Amtseides (Rumänien). Die Türkei weist in der Präambel ihrer Verfassung auf das Prinzip des Laizismus (strikte Trennung von Staat und Religion) hin und beinhaltet folglich keinen Gottesbezug. 29
a)
Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
30 - In der „Koordinierte n Verfassung Belgiens" findet sich kein Gottesbezug. Auch der Eid. den der König bei der Thronbesteigung ablegt, enthält keine religiöse Beteuerung (Art. 80 Abs. 2).
- Die Verfas sung der Republi k Bulgari en 31 kennt keinen Gottesbezug. In Art. 13 (Religionsfreiheit) wird in Abs. 3 lediglich erwähnt, dass die traditionelle Religion in Bulgarien das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis ist.
zwischen Präambel und Art. 1 Abs 1GG) P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 951 ff., ders.. „Gott" im Verfassungsstaat?, 1987 (nunmehr in: ders.. Rech tsvergleichun g im Kra ftfeld des Verfassungs staates, 1992. S. 213 ff.) mit der dort zitierten Kommentarliteratur. Vgl. auch E.L Behrendt. Gott im Grundgesetz. 1980: D. Blumenwitz, Gott im Grundgesetz, in: E.L. Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christentum. Bd. I, 1982. S. 127 ff. 29 Bemerkenswert ist im Kontext des Gottesbezuges auch das Beispiel der Schweiz. Als man dort Mitte der neunziger Jahre eine Revision der Bundesverfassung in Angriff nahm, gab ein Punkt besonders zu reden: sollte in der Präambel der Name Gottes angerufen werden? Obwohl die Fronten nicht ganz eindeutig verliefen, hat sich schließlich das Althergebrachte durchgesetzt. Mit der Berufung auf den „Namen Gottes des Allmächtigen" und die „Verantwortung gegenüber der Schöpfung" bekennt sich die Verfassung zu einer Schweiz, die sich ihres religiösen Fundaments bewusst ist und sich als Teil jener Schöpfung versteht, wie sie die jüdisch-christliche Tradition beschreibt. Die Präambel der schweizerischen Bundesverfassung geht, implizit zumindest, davon aus, dass es sich noch immer um den christlichen Gott handelt, obwohl die ethnisch-religiösen Verhältnisse des Landes längst in eine andere Richtung weisen. 30 31
Ver fass ung vom 17. Feb ruar 1994. zuletzt Vom 12. Juli 1991.
geän dert am 17. De ze mb er 2002 .
384
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
- Die Verfassung des Königrei chs Dänema rk 3 2 enthält in Kapitel VII, das die „Verfassung der Volkskirche" durch Gesetz festlegt (§ 66), in § 67) den folgenden Wortlaut: „Die Bürger haben das Recht, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen, um Gott auf diese Wei se zu diene n, die ihrer Übe rz eug ung entspr icht: es darf je doc h nichts gelehrt oder unternommen werden, was gegen die Sittlichkeit oder gegen die öffentliche Ordnung verstößt."
§68 bestimmt, dass niemand verpflichtet ist, persönlich Beiträge zu einer anderen als der von ihm selbst befolgten Art der Gottesverehrung zu leisten. Im Folgenden (§§ 69, 70) wird festgelegt, dass die Verhältnisse der von der Volkskirche abweichenden Glaubensgemeinschaften näher durch Gesetz geregelt werden. Fe rner: niem and kann u. a. wegen seines Glau ben s von bürgerlichen oder politischen Rechten ausgeschlossen werden oder sich der Erfüllung der 33 allgemeinen Bürgerpflichten entziehen. - Der Verfassung Estlands 34 ist, wie al len Ve rfassungen der Länder des Baltiku ein Gottesbezug unbekannt.
ms,
- Finnlands Grundgesetz 3 5 weist ebenfalls keinen Gottesbezug auf. Das 6. Kapitel (§ 76) des Grundgesetzes weist jedoch auf die Organisation und Verwaltung der evangelisch-lutherischen Kirche hin. die gesetzlich näher festgelegt sind. - Die Verfa ssung der Republik Frankreic h 36 kennt als „klassisches" Beispiel eines laizistischen Staates keinerlei Gottesbezug. - Die Verfassun g der Republik Griech enlan d leitet:
37
wird mit folgenden Worten einge-
„Im Namen der Heiligen Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit [...J"
Der II . Abschn itt der Verfa ssung , der die Be ziehu ngen zw ische n Staat und Kirche näher regelt, bestimmt in Artikel 3 Abs. 1: „Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi. Indem sie als Haupt unseren Herrn Jesus Christus anerkennt, bleibt die orthodoxe Kirche Griechenlands in ihrem Dogma mit der Großen Kirche in Konstantinopel und jeder anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses unzertrennlich verbunden und bewahrt wie jene unerschütterlich die heiligen apostolischen und die von den Konzilen aufgestellten Kanones sowie die Heiligen Überlieferungen. Sie ist autokephal
12 33 34 35 36
Verfassung vom 5. Juni 1953. Ähnlich die Regelung in Kap. VIII § 71 Abs. 1 der Verfassung: Vom 28. Juli 1992: Beschlossen am 1 I.Juni 1999, in Kraft getreten am 11. März 2000. Vom 4. Oktober 1958. zuletzt geändert am 24. September 2000.
Beschlossen von dem 5. Verfassungsändernden Parlament am 9 Juni 1975 und in Kraft getreten am 11. Juni 1975, zuletzt geändert am 16. April 2001. 37
385 C. Der Gotte sbez ug in den Verfassun
gen Euro pas und der USA
und wird geleitet von der Heiligen Synode der sich im Amte befindlichen Bischöfe und der aus deren Mitte hervorgehenden Dauernden Heiligen Synode, die sich nach den Bestimmungen der Grundordnung der Kirche zusammensetzt unter Beachtung der Vorschriften [...]" Art. 13 der Verfassung Griechenlands enthält den Grundsatz der Religionsfreiheit und das Verbot des Proselytismus (= Abwerbung eines orthodoxen Gläubigen für eine andere Konfession). Art. 105 führt ins Einzelne gehende Bes tim mung en über den Heiligen Berg Athos auf. - Bede utsa m im Rah men der 38
der Republik Irland.
Aufga benst ellun g i st die Präambe
l der Verfa ssung
Sie hat folgenden Wortlaut:
„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt und auf die. als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir. das Volk von Irland. in Demut alle unseren Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn. Jesus Christus. der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat [...]" Art. 31 Abs. 4 der Ver fass ung bes tim mt, dass je de s Mitglied des Staat srate s b ei dessen erster Sitzung, an der es teilnimmt, folgende Erklärung abgibt und sie unterzeichnet: „In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig, dass ich meine Pflichten als Mitglied des Staatsrates treu und gewissenhaft erfüllen werde." 39 Art. 3 4 Abs . 5 Nr. 1 und 2 bes tim mt, dass je de r nach der Ver fa ssu ng ern ann te Richter folgende Erklärung mündlich und schriftlich in Gegenwart des Präsidente n und der Ric hter der obers ten Geri cht e abz uge ben hat: „In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig, dass ich das Amt des obersten Richters (oder welches Amt es sein mag) gegenüber jedermann ordnungsgemäß und treu, nach bestem Wissen und Können, ohne Furcht oder Begünstigung, Zuneigung oder Böswilligkeit ausüben will und dass ich die Verfassung und die Gesetze einhalten will. Gott möge mich führen und mir bestehen." Auc h hier sieht
die Verf ass ung ein e „neut ral e" Erklä run g nicht
A b s . 6 N r. I lit. a)
vor. Art . 40
S a t z 3 b es ti mm t, da ss u. a. Ve rö ff en tl ic hun ge n od er Ä uß e-
rungen gotteslästerlichen Inhalts Vergehen sind, die nach dem Gesetz bestraft werden.
38
Vom I.J uli 1937, zuletzt
geänd ert am 7. Nove mber 2002.
Das deutsche GG sieht eine „neutrale" Erklärung ohne die Anrufung Gottes vor. vgl. etwa Art. 56 Satz 2 GG. 39
386
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Art. 44 der Verfassu ng behand elt einge hend die Relig ion. Zitiert sei Abs. 1: „Der Staat anerkennt, dass dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt. Er erweist seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die Religion." Die Verfassung Irlands schließt letztlich mit den Worten: „Zur Ehre Gottes und zum Ruhme Irlands." - Die Verfass ung der Republik Italien
40
enthält keinen Gottesbezug.
41
- Die Verfassun g Lettlands enthält, wie die Verfassungen seiner Nachbarstaaten, keinen Gottesbezug. - Die Verfassun g der Republik Litauen 42 kennt, wie angedeutet, keinen Gottesbezug. Allerdings ist in Art. 43 eingehend die Religionsfreiheit geregelt und das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat fest geschrieben. - Die Verfassung des Großh erzo gtums Luxemburg 4 3 enthält ebenfalls keinen Gottesbezug; das gilt auch für den Eid des Großherzogs bei der Thronbesteigung (Art. 5), der Mitglieder der Abgeordnetenkammer (Art. 57) und der Zivilbeamten (Art. 110). - Die Verf assu ng der Republik Malta 44 enthält keinen ausdrücklichen Gottesbezug, betont jedo ch in Kapitel I Abschnitt 2 Absatz 1. dass die Religion auf Malta die römisch-katholisch-apostolische ist. deren Bischöfe hätten des Recht und die Pflicht zu verkünden, welche Grundsätze der Glaubenslehre entsprechen und welche damit unvereinbar sind (Abs. 2). Römisch-katholisch-apostolischer Religionsunterricht ist an den Schulen verbindliches Fach (Abs. 3). Allerdings sieht der Amtseid für den Präsidenten, den Premierminister, den Minister und andere hohe Amtsträger eine Eidesformel vor, die fakultativ eine religiöse Bekräftigung („So help me God") enthalten kann. - Kein Gottesbezu g fin det sich in der Verfas sung des Königreic hs der Niederlande 45 . Lediglich in den Zusatzartikeln der Verfassung, hier: Art. 44, ist der Eid festgelegt, den der Regent abzulegen hat und der mit den Worten schließt: „So wahr mir Gott, der Allmächtige helfe!". Erlaubt ist auch die Formel: „Das gelobe ich!". Dasselbe gilt für den Eid des Königs auf die Verfassung (Art. 53) und das Gelöbnis des Vorsitzenden der Generalstaaten und von dessen Mitgliedern (Art. 54). - Das Bund esve rfassu ngs-G esetz der Republik Österreic h 46 kennt keinen Gottesbezug. Lediglich Art. 62 Abs. 2 und Art. 70 Abs. 1 Satz 1 lassen eine religiöse 40
Vom 17. De ze mbe r 1947, zuletzt geän dert am 30. Mai 2003.
41
Vom 7. August 1992. zuletzt geändert am 30. April 2002. Vom 25. Oktober 1992.
42 43 44 45
Vom 17. Okt obe r 186 8. zuletzt geänd ert am 19. Deze mbe r 2003. Vom 13. Dezember 1974. Vom 17. Apr il 1983, zule tzt geänd er t am 10. Juli 1995.
Vom 10. November 1920. in der Fassung vom 7. Dezember 1929. zuletzt geändert am 28. Juni 2002. 46
387 C. Der Gotte sbez ug in den Verfassun
gen Euro pas und der USA
Beteuerung für das Gelöbnis des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Mitglieder der Bundesregierung zu. - Die Verfassun g der Republik Polen 47 hat einen Kompromiss gefunden, indem in der Präambel alternativ entweder auf Gott oder andere Instanzen bzw. universale Werte Bezug genommen wird. - Das gleiche wie für die Verfassung Polens gilt für die Verfassung der Republik Portugal" 8 : Sie enthält keinen Gottesbezug. - Auch in der Verfas sung der Republik Rumänie n 49 findet sich kein Gottesbezug. Allerdings hat der zum Präsidenten gewählte Kandidat in gemeinsamer Sitzung von Abgeordnetenkammer und Senat seinen Amtseid abzugeben, der mit den Worten endet: „So wahr mir Gott helfe!". Ein Absehen von dieser religiösen Beteuerung sieht die Verfassung (Art. 82 Abs. 2) nicht vor. Dasselbe gilt für den Amtseid des Premierministers, der Minister und der anderen Mitglieder der Regierung (Art. 103 Abs. 1 i.V. m. Art. 82 Abs 2). 50
- Gottesbezug Der Text derauf. Verfass ung des Königreich Schw eden weist ebenfalls Die Staatskirche wurde durchs das verfassungsändernde Gesetz keinen Nr. 1998:1700 abgeschafft . - Die Verfa ssung der Slowa kisch en Republik 51 erwähnt zwar in der Präambel u. a. das „geistige Erbe der Heiligen Cyrillus und Methodius ", der Slawenapostel, sieht aber im Übrigen von einem Gottesbezug ab. - Die Verfas sung der Slowenisc hen Repub lik 52 enthält keinen Gottesbezug. - Auch in der Verfassun g des Königreichs
Span ien
53
findet sich kein Gottesbezug.
- Ein Gotte sbezu g findet s ich ebenf alls nicht i n der Verfassun g der Tschechische n Republik 54 . - Ebe nso i st in der provisorisc hen Verfassu ng der Repub lik Ungarn 55 kein Gottesbezug enthalten. - keine Das Vereinigte Königreich Dieser (Gro ßbri tann ienhat) dazu besitztgeführt, als einzige s EU-Mi tglie d Verfassungsurkunde. Umstand fälschlicherweise anzunehmen, Großbritannien habe keine geschriebene Verfassung. Allerdings ist die britische Verfassun g nur teilweise schriftlich fixiert: die Verfassun gstexte sind nicht in einem einzelnen Dokument niedergelegt, sie sind im Laufe der 47 48 49 50 51 52 53
Vom 2. April 1997. Vom 2. April 1976. zuletzt
geän dert am 12. Deze mbe r 2001 .
Vom 21. November 1991. Vom I.J anua r 19 75. zuletzt geändert am 27 . Mär z20 02. Vom 1. Sep tem ber 1992, zuletzt ergänzt vom Vom 23. Dezember 1991.
11. April 2002.
Vom 29. Dezember 1978. zuletzt geändert am 27. August 1992.
54 55
Vom 16. De ze mbe r 1992. zuletzt geänder t und in Kra ft getreten am 1. Mär z 2004 . Vom 20. August 1949, in der Fassung vom 24. August 1990.
388
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Jahrhunderte vielmehr gewachsen. So enthält etwa die Magna Charta Libertatum (1215) mehrfach ausdrückliche Bezugnahmen auf Gott (etwa Einleitung und Nr. 1). - Die Republik Zypern enthält i n ihrer Verfa ssung 56 keinen Gottesbezug. Sie macht allerdings z. B. in Art. 2 Abs. 1 und 3, Unterabsatz 4, umfang reich e Ausführungen zu den beiden religiösen Gruppen („religious groups"): griechischorthodoxe und türkisch-moslemische Bürger. b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union57 - In der Verfassu ng der Republik Kroatien* s findet sich keine Bezugnahme auf Gott. - Die Republik Türkei hat sich in der Präa mbe l seiner Verfa ssung 59 nach französischem Vorbild dem laizistischen Prinzip verschrieben. Dementsprechend findet sich in der Verfassung kein Bezug zu Gott. c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland Abgesehen von den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg sowie des Landes und Schleswig-Holstein beziehen sich alle Verfassungen der sog. „alten" Bundesländer auf Gott. In der Verfassung des Saarlandes findet sich ein direkter Gottesbezug in den Erziehungszielen für die Jugend. Von den Landesverfassungen der fünf „neuen" Länder, die sämtlich über eine Präambel verfügen, beinhalten ausdrücklich nur Sachsen-Anhalt und Thüringen eine Bezugnahme auf Gott, nämlich indem sie den Mitgliedern der Staatsregierung die Anrufung Gottes ermöglichen. - In einen „Vorspruch" enthält die Verfassun g des Landes Bade n-Wür ttemb erg 61 einen Gottesbezug. Der „Vorspruch" hat folgenden Wortlaut: ..Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern [...]" 56
Vom 16. August i960.
5
Hier beschränkt sich die Darstellung auf solche, die wenigstens Beitrittsverhandlungen führen. 5S 59
Vom 21. Dezember 1990. zuletzt geändert am 23. April 2001. Vom 13. Sep tem ber 1982, zuletzt geänder t am 27. Deze mbe r 2002.
60 Vom 11. Nove mbe r 1953 ( GBl . S. 173), zulet zt g eände rt dur ch Gese tz vom 23. Mai 2000 (GBl. S. 449). 61
Dazu im einzelnen W. Weinhold, Gott in der Verfassung - Studie zum Gottesbezug in Präambeltexten der deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderverfassungen seit 1949. 2001. S.40 ff.
6
"
389 C. Der Gotte sbez ug in den Verfassun
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In Art. 1 Abs. I, Halbsat z 2 beru ft sich die Verfassung auf die „Erfü llu ng des christlichen Sittengesetzes", Art. 3 Abs. 1 Satz 3 bestimmt, hinsichtlich der Feiertage sei die christliche Überliefe rung zu wahren. In Abschnitt II widmet die Art. 3 bis 10 der Religion und den Religionsgemeinschaften. In Art. 12 Abs. 1 ist als Erziehungsziel u. a. angegeben, die Jugend „in der Ehrfurcht vor Gott, im Geist der christlichen Nächstenliebe (...]" zu erziehen. Im Amtseid (Art. 48 Satz 2) ist die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" vorgesehen; sie kann allerdings entfallen (Art. 48 Satz 3). - Die Verfa ssung des Freistaa tes Bayern (z. B. Präambel u.ä.) zu Beginn aus:
62
führt ohne nähere Kennzeichnung
..Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen 1... 1 geführt hat I...
Nach Art. 131 Abs.2 BV gehört zu den obersten Bildungszielen u.a. die Ehrfurcht vor Gott. - Die Verfass unge n der Länd er Berlin 64 und Brandenburg 65 kennen keinen Gottesbezug. - Auch die Stadtstaa ten und Hansestäd te Bremen und Ham bur g 66 enthalten in ihren Verfassungen keinen Gottesbezug. - In der Verfassun g des Lande s Hessen 67 findet sich ebenfalls kein Gottesbezug. Art. 56 Abs. 4 legt allerdings als eines der Erziehungsziele den selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit u. a. durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, also einen fundamentalen christlichen Wert, fest.
68
- Ebensowenig kennt einen Gottesbezug.
6
die Verfassung des
Landes Mecklenbur
g-Vorpom mern
''
70
62 Vom 8. Febru ar 1946 (GVB1. S. 15. Dezember 1998 (GVB1. S.99I).
333) . in der Fas sung der Bek ann tma chu ng vom
63
Vgl. W. Weinhold (2001), S.42ff. Vom 23. Novembe r 1995 (GV BI. S.7 79) , zuletzt ge ändert durc h Ge setz vom 3. April 1998 (GVBI. S. 82). 65 Vom 20. August 1992 (GVBI. S.298), zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. April 1999 (GVBI. S. 98). 66 Verfa ssung der Freien Hansestadt Bremen vom 21.Ok tob er 1947 (GBl. S. 25 I) , zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Februar 2000 (GBl. S. 31); Ha mburg: Verfa ssung der Freien und Hans esta dt Ha mbu rg vom 6. Juni 1952 (GV BI. S. 117 ), zuletzt geände rt durch Gesetz vom 20. Juli 1996 (GVBI. S. 133). w
67
Vom 1. Dez embe r 1946 (GVB I. 20. März 1991 (GVBI. S. 102).
S. 229).
zuletzt ergänzt
durch
Geset z vom
68
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 57 f.
69
Vom 23. Mai 1993 (GVBI. S. 272). zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. April 2000
(GVBI. S. 158). 70
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 94 ff.
390
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
- Die Niede rsächsi sche Verfassun g 71 enthält in der Präambel folgenden Wortlaut: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben \... ]"
7;
Art. 31 Satz I führ t den Wortlaut des Amtsei des für die Mitgliede r der Landesregierung an. der keine religiöse Beteuerung vorsieht, allerdings in Satz 2 diese Möglichkeit („So wahr mir Gott helfe") fakultativ vorsieht. - In ihrer Präambe l führt die Verfas sung des Landes Nordr hein-W estfale n 73 aus: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen, verbunden mit allen Deutschen, erfüllt von dem Willen, die Not der Gegenwart in gemeinschaftlicher Arbeit zu überwinden, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen. Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen, haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen 74 diese Verfassung gegeben: 1... I"
Art. 7 Abs. 1 gibt al ler Erzieh ungszi el u. a. „Ehrf urch t vor Gott" an. Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung (Art. 53 Satz 1) kann mit der religiösen Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" geleistet werden (Satz 2). - Die Verfass ung von Rhei nlan d-Pfa lz 75 beginnt in ihrem „Vorspruch" mit den Worten: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und aller menschlichen Gemeinschaft. [.. . ]" 76
Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung sieht die üblich religiöse Bek räftig ung vor (Art. 100 Abs. 1). allerdings is t die Benut zung der Eidesformel frei gestellt (Art. 100 Abs. 2 i.V. m. Artikel 81 Abs. 3 Satz2). - In der Verfassun g des Saarland es 77 findet sich eine Bezugnahme auf Gott nicht zu Beginn (die Verfassung enthält keine Präambel), sondern in Art. 30. Danach ist die Jugend u. a. in der Ehrfurcht vor Gott und im Geist der christlichen Nächstenliebe zu erziehen. Für die Ablegung des Amtseides der Mitglieder der Landesregierung ist die übliche religiöse Beteuerung vorgesehen, auf die jedoch verzichtet werden kann.
71 Vom 19. Mai 1993 (GVB1. S. 107), zuletzt geände ber 1997 (GVB1.S.480).
72
rt durch Gese tz vom 21. Nove m-
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 58. 63 ff.
73
Vom 28. Juni 1950 (GV-NW S. 127). zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. November 1992 (GV-NW S.448). 7i Vgl. W. Weinhold (2001), S.49ff. 75
Vom 18. Mai 1947 (VO B1. S. 209) . zuletzt geänd ert durch Gese tz vom 8. Mär z 200 0 (GVB1.S.65). 76
Dazu ausführlich
W. Weinhold (2001), S.44ff.
Vom 15. Dez emb er 1947 (AB l. S. 1077). zuletzt geänd ert durch Ge setz vom 25. August 1999 (ABl. S. 1318). 77
III. Gottesbe zug und US-Ver fassung
391
- Die Verf assu ng des Freista ates Sachsen 7 * sieht für die Mitglieder der Staatsregierung vor, den Eid mit der bekannten religiösen Beteuerung zu bekräftigen. Ein ausdrücklicher Gottesbezug findet sich in der Verfassung nicht, allerdings bestimmt Art. 101 Abs. I als Erziehungsziel der Jugend u.a. die Erziehung zur „Nächstenliebe", einem tragenden Wert der christlichen Glaubenslehre. - In der Präambel der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt folgende Sätze:
79
finden sich
..In freier Selbstbestimmung gibt sich das Volk von Sachsen-Anhalt diese Verfassung. Dies geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verant80 wortung vor den Menschen I...]"
Art. 66 Abs. 2 der Verfassung sieht vor. dem Amtseid der Mitglieder der Landesregierung die religiöse Bekräftig ung „So wahr mir Gott helfe" hinzuzu fügen. Der Amtseid kann auch ohne diese Bekräftigung geleistet werden. - Die Verfassung Schleswig-Holsteins
81
wiederum weist keinen Gottesbezug auf.
- Hinge gen weist die Verf assu ng s 2des Freistaates einen direkten Gottesbezug auf :
Thü rin gen in ihrer Präa mbel
..In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums ... gibt sich das Volk des Freistaates Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung f..]".
III. Gottesbezu g und US-Verfassung; die Rechts prechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion Ein Blick in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika offenbart, 83 dass darin der Begriff „Gott" unmittelbar nicht enthalten ist. Mittelbar lässt sich dieser Bezug jedoch in Verbindung mit dem 1. Amendment der Verfassung 78
Vom 27. Mai 1992 (GVBI. S. 243).
79
Vom 16. Juli 1992 (GVBI. S.600).
80
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 87 ff.
81
Vom 13. Juni 1990 (GVOB1. S. 393), eeändert durch Gesetz vom 27. September 1998 (GVOB1. S. 280). 10
Vgl. zu den Gottesklauseln in der Verfassung von Thüringen auch P. Häberle . Die Schlussphase der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, in: JöR 43 (1995), S. 355 ff. 83 Vgl. auch eine im Au ftr age des Verf. entwickelte Ausarbeitun g der Wissenscha ftliche n Dienste des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 2004. Wegen eines Gerichtsverfahrens in Alabama kam es in den vergangenen Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer (erneut) hitzigen Kontroverse über den Einfiuss Gottes und der Religion auf staatliches Handeln. R. Moore, ein Richter des obersten Gerichtshofs des Staates Alabama, wurde von der ACLU (American Civil Liberties Union) verklagt, nachdem er im Justizgebäude Montgomerys (Alabama) ein in Granit gehauenes Monument der Zehn Gebote aufstellen ließ. Das 11. Bezirks-Berufungsgericht der Vereinigten Staaten in Alabama entschied nach anony-
392
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
herleiten. Hierin ist zum einen das Verbot enthalten, ein Gesetz zu erlassen, das eine Religion (als Staatsreligion) einrichtet, auf der anderen Seite untersagt die Regelung, die freie Religionsausübung zu beeinträchtigen. Im Verlauf der Verfassungsgeschichte der USA wurde das I. Amendment, dessen zwei Bestandteile in ihrem gegenseitigen Verhältnis bislang nicht zufrieden stellend geklärt werden konnte, über einen längeren Zeitraum hinaus als striktes Trennungsgebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Entscheidend zu dieser Auslegung hat die Rechtsprechung des Supreme Court beigetragen. Seit geraumer Zeit deutet sich allerdings ein Wandel an. der von strikter Trennung zu „wohlwollender" Neutralität tendiert. Insgesamt ist aber festzustellen, dass die Rechtsprechung uneinheitlich und schwankend ist. Diese für einen deutschen Beobachter paradoxe Erscheinung ist insofern überraschend, als in den USA im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland religiöse Anschauungen im politischen 4 Bereich überall gegenwärtig sind." Hingewiesen seiwe an trust" diesereinerseits Stelle nur auf die Aufschrift auf Münzen und Geldscheinen: „In God (wohl die kraftvollste Alternative, da der „Alltagsgottesbezug" jegliche Nichtnennung in Texten zu überstrahlen weiß), andererseits ist die amerikanische Flagge in fast jeder Kirche auffallend sichtbar aufgestellt 85 , die Mili tärse e 1 sorge ist eingeric htet, die Be nut zun g der Heiligen 86 Schrift bei Eidesleistungen ist weithin üblich. In zahlreichen weiteren Bereichen erscheinen Anspielungen auf Gott: So enthält beispielsweise der „Pledge of Allegiance" die Worte „one nation under God". Dies könnte zumindest darauf hindeuten. dass die „wall of Separation" nicht ansatzweise so hoch ist, wie T. Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, mit der zitierten Formulierung offenbar angenommen hat. Aber: Obgleich sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten also keine direkte Erwähnung Gottes, eines Schöpfers oder einer höheren Macht findet, so eröffnet die „Declaration Independe (1776)(„Creator"): als erneut im besten Rechtsquelle denofBezug zu einemnce" Schöpfer
Sinne grundle gende
mer Abstimmung, dass das Monument entfernt werden müsse (diese Entscheidung wurde i.Ü. nicht vom US-Repräsentantenhaus unterstützt. Dieses stimmte bei einer Abstimmung mit 260 zu 161 Stimmen gegen eine Budgetieru ng jeglic her Zwa ngs maß nah men im Zusammenhang mit den Zehn Geboten). Eine von Richter Moore beim US-Supreme Court gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung wurde nicht zur Entscheidung angenommen. In einem Verfahren in dem es um die Worte „one nation under God" in der Pledge of Allegiance geht, wurde jedoch die Zulässigkeit der Klage bejaht. 84 Vgl. nur die instruktive Darstellung von K. Ege, Staatstränke für die durstige Christenheit - die Regi erung , die Gläubig en und die Toleranz , in: Freitag 15 vom 6. April 2001. 85 Vgl. E. Geldbach. Religion und Politik: Religious Liberty, in: K.M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in US A - Über den Einfl uss der Religi on. 1988. S. 230 ff.. 240. 1,6
Dazu auch A. von Campenhausen. Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.). Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd 1.2. grundlegend neu bearbeitete Auflage. 1994. S.65 f.
III. Gottesbe zug und US-Ver fassung
393
"We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life. Liberty, and the pursu it of Happiness. [WJhenever an y Form of Gover nment beco mes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it."
1.
Die Frage nach einem „Gottesbezug
44
in der
Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika
Zurück zum benannten 1. Amendment vom 15. Dezember 1791, in dessen ersten Halbsatz die Religion angesprochen ist: „Congress shall make no law respecting 87 an establishment of religion. or prohibiting the free exercise thereof." Die genannte Verfassungsbestimmung besteht aus zwei deutlich sich voneinander abhebenden Bestandteilen, der „establishment clause" einerseits und der „free exercise clause" andererseits, deren gegenseitiges Verhältnis unklar und umstritten ist; beide Bestandteile des Zusatzartikels sind auch in ihrer Interpretation seit langem heftig in Rechtsprechung und Literatur umkämpft. Der erste Halbsatz wurde über einen längeren Zeitraum als striktes Trennungsgebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Maßgeblich hat dazu die Rechtsprechung des Supreme Court, beigetragen. In den letzten Jahren ist allerdings eine behutsame Änderung der Rechtsprechung zu beobachten, die nicht mehr von einer strengen Trennung ausgeht. Maßgebend dazu beigetragen haben die vielfältigen traditionsreichen Verschränkungen christlicher Religionsgemeinschaften und Kirchen mit staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen. a)
Entstehung und Entwicklung der „Establishment Clause"
Um die Entstehung und Entwicklung der „establishment clause" richtig zu erfassen, darf nicht unbeachtet bleiben, dass diese in ihrer Entstehungszeit (1789/ 91) kein Bild rechtlicher und tatsächlicher Realitäten wiedergab, vielmehr war sie ein Durchbruch zu mehr staatlicher Toleranz in Glaubensfragen, wie sie sich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet hatte. Das Grundrecht auf freie Religionsausübung bestand bereits in den Verfassungen aller Neuenglandstaaten, allerdings gab es in keiner Verfassung der 13 ursprünglichen Einzelstaaten eine 88 Norm, die die Trennung von Staat und Kirche beinhaltet hätte. Am Vorabend der amerikanischen Revolution gegen das englische Mutterland bestanden in den meisten Kolonien „establishments of religion" in verschiedener 87 Zur Entwicklung und den Hintergründen des 1. Amendments zur US-Verfassung siehe aus der deutschsprachigen Lit. E. Vollrath. Die Trennung von Staat und Kirche im Verfassungsverständnis der USA. in: K.M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über
den Einfi uss des Reli giösen . 1988. S. 216 ff.. 217 ff. 88
Vgl. E. Vollrath (1988), S. 216 f.
394
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Gestalt. In den südlichen Kolonien etwa war die Anglikanische Kirche Staatskirch e 89 , sie war im Wortsinne „established". Die vier nördlichen Kolonien kannten keine Form des „establishments", die übrigen Kolonien etablierten die christliche Religion oder den Protestantismus im Allgemeinen. Die Revolutionsä ra veränderte das Verhältnis zwischen Staat und Kirc he freilich grundlegend. Der Begriff des Establishments war zunehmend mit der anglikanischen Kirche in Zusammenhang gebracht worden und wurde als Ausdruck englischer Unterdrückung empfunden. Nachdem 1773 im Quebec Act die bestehenden Rechte des katholischen Klerus bestätigt worden waren, wuchs die Abneigung gegen ein „establishment" weiter an. Die Entwicklung in den einzelnen Staaten hin zu einer Trennung zwischen Staat und Kirche vollzog sich unterschiedlich und zeigt ein uneinheitliches, zuweilen verwirrendes Bild. 90 Auf einhellige Ablehnung stieß eine Staatskirche anglikanischer Prägung. Ebenso war auf Dauer die Erhebung von Abgaben zu Gunsten der verschiedenen Kirchen selbst auf paritätischer Grundlage nicht beizubehalten. Ferner ist kein einheitlicher Sprachgebrauch und kein übereinstimmendes Verständnis davon festzustellen, was „establishment" letztlich besagen will. Es kann sich auch kein Anhaltspunkt aus der zunächst vorgesehenen Formulierung des Verbots einer „national religion" wie auch aus dem unbestimmten Artikel „an" (sc. establishment of religion) für das Gebot der Errichtung einer einzigen Staatskirche gewinnen lassen. Immerhin lässt sich das „establishment"als eine klare Trennung der Sphären Staat und Kirche deuten, wenn auch nicht im Sinn einer derart strikten Tren nung, w ie sie der oberste Gerichtsh of judizie rte. 91 Die Verflechtungen von Staat und Kirche (z. B. durch staatliche Kirchenftnanzierung in einigen Einzelstaaten) blieben sogar noch nach Inkrafttreten der „Bill of Rights" bestehen, da diese als Adressaten die Bundesebene, nicht die Einzelstaaten hatten. Richtete sich, sich wie die oben erwähnt, mit das dem 1. Amendment zunächst den Zentralstaat, änderte Rechtslage 14. Amendment von gegen 1863. Dieses Amendment inkorporierte nach überwiegender Auffassung und der Rechtsprechung des obersten Gerichts zur „due process clause" Mitte des 20. Jahrhundert die meisten Regelungen der „Bill of Rights", darunter auch die „establishment clause". Die Freiheitsgarantie der „due process clause" stellt nicht nur eine subjektiv- rechtliche umfassende rechtstaatliche Garantie verfahrensrechtlicher, sondern auch materiellrechtlicher Prägung dar. Mit der „due process clause" erreichten die Freiheitsrechte der ersten zehn Amendments, darunter die subjektiv89
Vgl. E. Voll nah (1988), S. 220.
90
Vgl. umfassend W. Heun, Die Trennung von Kirche und Staat in den Vereinigten Staaten von Amer ika, in: K-H. Käs tne r/K .W . Nö rr /K . Schiaich (Hrs^.), Festschrif t für Martin Heckel. 1999 S. 341 ff.. 343 ff. 91 Dazu W. Heim (1999), S. 347 f.;
E. Vollrath (1988), S. 216 f.
III. Gottesbe zug und US-Ver fassung
395
rechtliche Religionsfreiheit des erwähnten Amendments, die Gliedstaaten der USA. Als Ausprägung der „due process clause" werden alle jene Teile der „Bill of Rights" verstanden und auf die Gliedstaaten mit Hilfe dieser Klausel übergeleitet, denen nach der Rechtsprechung des Supreme Courts eine grundlegende Bedeutung für das der Bundesverfassung unterliegende Freiheitskonzept der „ordered liberty" zukommt. 92 b)
Inhalt und Reichweite der „Establishment Clause" nach der Rechtsprechung des Supreme Court
aa) Die Ver treter einer Trennung und eine r Zusam mena rbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Die Rechtsprechung des obersten Bundesgerichts der USA ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich zwischen zwei gegenläufigen Positionen zur Auslegung der Establishment- Klausel bewegt. Einerseits ist der so genannte „Trennungsansatz" („Separation") hervorzuheben. Dieser verbietet eine Unterstützung von Religionsgemeinschaften in jedweder Form, unabhängig davon, ob alle Gruppen gleichermaßen begünstigt oder nur bestimmte Glaubensrichtungen bevorzugt werden. Nach dieser „Trennungsrechtsprechung" ist Religion eine auf den privaten Bereich beschränkte Erscheinung, die öffentliche oder gar staatliche Angelegenheiten nicht oder zumindest so wenig wie möglich beeinflussen sollte. Diese Rechtsprechung lässt sich dahin gehend zusammenfassen, dass die genannte Klausel „eine Trennungswand zwischen Kirche und Staat" darstellt. Auf der anderen Seite sind die Vertreter der Einstellung zu nennen, die eine Zusammenarbeit („accomodation") zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so lange und insoweit für zulässig erachten, als der Staat nicht eine bestimmte Religionsgemeinschaft gegenüber anderen bevorzugt (sog. „accomodationists" bzw. „nonpreferentialists"). Letztgenannte Richtung hat in den 80er Jahren des
9
~ Vgl. G. Klings, Von strikter Trennung zu wohlwollender Neutralität - Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten und die gewandelte Auslegung der religious clauses der USVerfassung. in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2000. S. 505 ff., 509 ff. mit Fn. 22. Gegen die Einbeziehung der Einzelstaaten in die „establishment clause" ist eingewandt worden, diese stelle kein Freiheitsrecht dar. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verbot des „establ ishment" unzwei felhaft mit dem Freiheitsrecht der Religionsfreiheit zusamme nhäng t, das sich gegen jede Einwirkung des Staates auf religiöse Freiheit richtet. Daneben war das Verbot auch von einer eher säkular geprägten Auffassung beeinflusst. der das Individuum und auch den Staat vor religiösen Einflüssen schützen wollte; letztlich sieht diese Auffassung sowohl den Staat durch eine Beeinflussung seitens der Kirche als auch diese durch eine Einflussnahme des Staates gleichermaßen als gefährdet an. vgl. T.M.Gannon. Di e katholischen Bischöf e in der amerika nische n Polit ik der 80er Jahre, in: K. M. Kodalle (Hr sg.) . Gott und Politik in USA Übe r den Einfl uss des Reli giöse n. 1988. S. 155 ff.. 167 ff.
396
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
vergangenen Jahrhunderts Unterstützung von Verfassungshistorikern erhalten, die 93 zweierlei Aspekte herausgearbeitet haben : - Die Verfa ssung sväte r der USA haben in der Esta blish ment -Klau sel nur die Gründung einer Staatskirche und die Begünstigung von Bewerbern bestimmter Konfessionen bei der Besetzung öffentlicher Ämter verbieten wollen. - Teilweise wird auch die Auf fas sun g vertreten, di e Estab lishme nt-Kla usel habe nur untersagen wollen, die zur Zeit der Verfassunggebung bestehenden staatskirchenrechtlichen Gegebenheiten der Gliedstaaten zu beeinträchtigen. bb) Zusa mmen fasse nder Überblick über die Rechtsprechung des Supreme Court Nach der grundlegenden Entscheidung des Gerichts aus dem Jahr 1947 (sogenannte Everson- Entscheidung)94 beinhaltet die mehrfach erwähnte EstablishmentKlausel die strikte Trennung von Staat und Religions- bzw. Glaubensgemeinschaften und Kirchen, zum anderen untersagt sie zugleich aber auch eine Religionsfeindlichkeit des Staates. Die Spannung zwischen dem Recht auf freie Religionsausübung und dem Verbot der Errichtung einer Staatskirche versucht das Gericht durch das verbindende Element der „wohlwollenden Neutralität" zu überbrücken. Teilweise enthält die Rechtsprechung Elemente, die stärker den Trennungsgedanken, dann wieder solche, die mehr die Offenheit gegenüber der Religion betonen. Eine - alle Fälle befriedigende - Lösung ist bis heute nicht gefunden worden, vielmehr werden die bestehenden rechtlichen Probleme an Hand des jeweils zu entscheidenden Einzelfalls gelöst. Prüfungsmaßstab der Establishment-Klausel durch den Supreme Court ist der 95 bekannte, aber zugleich auch problematische „Lemon - Test" . Dieser enthält 96 drei Elemente und verlangt: - Mit staatlichem Hand eln darf nur ein säkularer Zweck verfolgt werden (subjektives oder finales Kriterium), - das Staatsha ndeln darf primär weder in der Förde rung noch in der Beeint rächtigung der Religion bestehen (objektives, ergebnisoffenes Kriterium), - aus einem Tätigwerd en des Staates darf sich keine übermäß ige Verflechtung von Staat und Religionsgemeinschaften ergeben (objektives, handlungsbezogenes Kriterium). Festzustellen ist, dass auch der „Lemon-Test" zu keiner klaren, eindeutigen Rechtsprechung geführt hat. Besonders einschneidend wirkt sich die Interpretation der Establishment-Klausel im Bereich der öffentlichen Erziehung aus. 93
Ausführlich G.
94
Everson v. Board ofEducation (1947)U.S. Reports Bd. 330. S. I.
Krings (2000), S. 511 f. m. w. N.
95 96
Dazu insbesondere G. Krings (2000), S. 515 ff., 523 ff. Lemon v. Kurtzmann (1971) U.S. Reports Bd. 403. S.602.
III. Gottesbe zug und US-Ver fassung
397
97 Jede Form der Hinnahme religiöser Ausdrucksformeln (Schulgebet , Lesen der 9 1 Heiligen Schrift ' etc.) wie auch staatlicher Unterstützung wird als unvereinbar
mit der genannten Klausel angesehen. Ferner wurden vom Supreme Court ein 19 Moment der Stille zum individuellen Beten' , das Anbringen des Dekalogs in Klassenzi mmern als Ve rletzung der genannten Kl ausel angesehen. Dasselbe Verbot gi lt 1(10 etwa für die gesetzliche Unterbindung der Evolutionslehre Darwins einerseits, andererseits ist der Unterricht in (streng) biblischer Abstammungslehre verboten. Ebenso hat das Gericht bestimmte Freizeiten im Rahmen der regulären Unterrichtszeit zur Ermöglichung des Religionsunterrichts als Verletzung der Klausel angesehen. Offenbar ist diese missverständliche Rechtsprechung darauf zurückzuführen. dass Kinder im besonderen Maß für religiöse Einflüsse empfänglich sind und diese Einflussnahme verhindert werden soll. Die staatliche Ermöglichung religiöser Ausdrucksformeln haben staatliche Stellen dagegen - letztlich aus historischen Gründen - nicht beanstandet. Dasselbe gilt z. B. für das Gebet vor der 101 Eröffnung von Parlamentssitzungen in den Einzelstaaten , die Ausstellung von 102
Krippen als Teil einer öffentlich städtischen Weihnachtsdarstellung wurde das Zeigen religiöser Symbole in Gerichtsgebäuden verboten.
1 3.
"
Dagegen
Einen weiteren großen Bereich der erwähnten Klausel stellen die öffentlichen Subventionen für private religiöse Aktivitäten dar. aber auch hier ist keine eindeutige Linie in der Rechtsprechung zu erkennen. So ist z. B. (religiöser) Er10 4 gänzungsunterricht außerhalb des Schulgeländes erlaubt , aber innerhalb des 10 5 Geländes verboten . 1997 is t der Sup rem e Cou rt jedo ch von dieser Rechtsprechung in einem Einzelfall abgewic hen. 10ft Ferner: Der Sta at da rfe ine r konfessionell geführten Privatschule die Kosten für die Durchführung staatlicher Prüfungen erstatten, sofern die Prüfungsaufgaben nicht von Lehrern der Privatschule stammen. Nicht beanstandet hat das oberste Bundesgericht auch die Förderung von Schulen und Aktivitäten in Form von Steuerabzügen und Steuerbefreiungen. Keine klare Rechtsprechung zur Establishment-Klausel ist auch im Bereich öffentlicher Subventionen für private religiöse Aktivitäten zu erkennen. Immerhin ist festzustellen, dass sich das Gericht in vielen seinen Entscheidungen, so auch den beispielhaft 97
Engel v. Virale (1962) U.S. Reports Bd. 370. S. 421. Abbington School District v. Schempp (1963) U.S. Reports Bd. 374. S. 203. 99 Wallace v. Jaffree (1985) U.S. Reports Bd. 472, S. 28. 100 Epperson v. Arkansas (1968) U.S. Reports Bd. 393. S. 97. 101 Marsh v. Camhers (1983) U.S. Reports Bd. 463. S. 783. 98
102 Lynch v. Donelly (1984) U.S. Reports Bd.465, S.668. sowie County of Allegheny v. American Ciliv Liberties Union Greater Pittsburgh Chapter (1989) U.S. Reports Bd. 492. S. 573. 103 Vgl. auch W. Heun (1999), 350 ff. sowie G. Krings (2000), S. 515 ff.
104
Zorach v. Clausa,i (1952) U.S. Reports Bd. 343. S. 306.
105 106
McCollum v. Board of Education (1948) U.S. Reports Bd. 333. S. 203. Employment Division v. Smith (1990) U.S. Reports Bd. 494. S. 872.
398
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
angeführten, vom Trennungsprinzip leiten lässt. wonach „die Regierung ganz vom Bereich der religiösen Unterweisung ausgeschlossen ist und Kirchen von staatlichen Angelegenheiten." Der „Lemon-Test", der dieses Ziel erreichen soll, wird in widersprüchlicher Weise angewendet. Vor allem sind es die oben erwähnte zweite und dritte Stufe, die offensichtlich einander so entgegengesetzt sind, dass sie kaum zugleich verwirklicht werden können. In seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Supreme Court demzufolge auch Aspekte, die im „Lemon-Test" nicht vorkommen, 10 7 das Ergebnis aber entsprechend entscheidend beeinflussen. Neben den für eine strikte Trennung zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft maßgebenden Gründen, der Gefahr politischer Zerreißproben, der religiösen Indoktrination durch den Staat sowie der Gefahr der Verwicklung des Staates in religiöse Angelegenheiten oder einer Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Glaubensrichtung, die gerade vermieden werden soll, sind es vor allen Gesichtspunkte der Neutralität gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen, individuelle Gleichbehandlung sowie die Bedeutung des Allgemeinwohls, von der sich das oberste Bundesgericht und die Gerichte der Gliedstaaten, wie immer wieder betont wird, in ihrer Rechtsprechung leiten lassen; in der Rechtsprechung wird dies allerdings nicht oder nur unzureichend deutlich. Hinzu kommt das Dilemma, dass dem Staat auf Grund der Religionsfreiheit Einschränkungen der freien Religionsausübung untersagt sind. Der Prüfungsmaßstab der Religionsausübungsklausel war bis 1990 dreistufig aufgebaut, wurde jedoch entscheidend von einer Abwägung zwischen den mit der Regelung verfolgten staatlichen Zwecken und dem Individualinteresse an freier Religionsausübung beeinfiusst. In seiner neuesten Recht sprech ung - etwa ab 1990 - hat der Suprem e Court allerdin gs die Abwägung und das Erfordernis eines überwiegenden staatlichen Interesses fallen gelassen und akzeptiert nun eine Einschränkung der Religionsausübung, sofern sie auf einem „gültigen und neutralem Gesetz von allgemeiner Anwendbarkeit" beruht. Vorschläge für eine Lösung der Spannung zwischen der Establishment-Klausel und der freien Religionsausübung waren in der Vergangenheit nicht in Übereinstimmung zu bringen: daran hat sich auch in der Gegenwart nichts Wesentliches geändert. Überwiegend tendieren derartige Vorschläge dahin, je nach der Fallgestaltung entweder zu einem Vorrang der Trennungskonzeption (im Sinn des „Lemon-Tests") oder zum Vorrang der Religionsfreiheit zu gelangen. Allerdings ist nicht festzustellen, dass die Rechtsprechung bisher eindeutig einer der beiden Alternativen zuneigt. Keine allgemeine Zustimmung haben auch die bisherigen Versuche gefunden, die erwähnten Widersprüche des „Lemon-Tests" aufzulösen. Allerdings haben sich die Schwerpunkte der Rechtsprechung durch die Besetzung vakanter Richtersteilen am Supreme Court mit konservativen Juristen unter 107
Zur Kritik am „Lemon-Test" ausführlich
G. Krings (2000).
III. Gottesbe zug und US-Ver fassung
399
den Präsidenten Reagan und Bush „senior" wie „junior" insoweit verschoben, als jetzt der Trennungsgedanke weniger stark betont, auf der anderen Seite aber die Religionsfreiheit stärker eingeschränkt wird. Die grundlegenden Schwierigkeiten werden damit allerdings auch nicht zufriedenstellend gelöst, zumindest so lange nicht, wie das mehrfach erwähnte Spannungsverhältnis zwischen strikter Trennung von Staat und Glaubensgemeinschaften einerseits und der Religionsfreiheit andererseits anerkannt wird. 108 2.
Gotte sbezu g in den bundesst aatlichen
Verfassungen
Bemerkenswerterweise nimmt jede Verfassung der einzelnen US-amerikanischen Bundesstaaten, im Gegensatz zur Verfassung der USA. ausdrücklich Bezug auf Gott. In den meisten bundesstaatlichen Verfassungen findet sich ein Gottesbezug bereits in der Präambel. 109
Neben Alaba ma (Verfassung von 2 1901 ) gilt dies für Alaska (1956)"°, Ari1, 4 zona (1911)'", Arkansas (1874)" , California (1879)Colorado (1876) und l,s Connecticut (1818) . 6 Ebenso für Delaware (I897)" , Florida (1885)" 7 , Georgia (1777)" 11 9 12 (1959) , Idaho (1889) °, Illinois (1870)' 2 ' und Indiana (185l) 12 2 .
8
108
In der Wertung ähnlich W. Heun (1999). S. 355 ff. „We the people of the State of Alabama, invoking the favor and guidance of Almighty God. do ordain and establish the following Constitution |... 1". 11 0 „We. the people of Alaska, grateful to God and to those who founded our nation and pioneered this great land (...]". 111 „We, the people of the State of Arizona, grateful to Almighty God for our liberties, do ordain this Constitution 1...]". 112 „We, the people of the State of Arkansas, grateful to Almighty God for the privilege of choosing our own form of government [... J". 113 „We. the People of the State of California, grateful to Almiehty God for our freedom [...]"• 10 9
114 „We, the people of Colorado, with profound reverence for the Supreme Ruler of Uni verse [. ..] ". 115 „The People of Connecticut, acknowledging with gratitude the good Providence of God in permitting them to enjoy [... 1". 1,6 „Through Divine Goodness all men have. by nature. the rights of worshipping and serving their Creator according to the dictates of their consciences [...]". 117 „We, the people of the State of Florida, grateful to Almighty God for our constitutional liberty establish this Constitution 1... 1". 118 „We, the people of Georgia, relying upon protection and guidance of Almighty God. do ordain and establish this Constitution [...1". 11 9
tution."
„We, the people of Hawaii, Grateful for Divine Guidance [...] establish this Consti-
, Hawaii
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
4 00
Eine „invocatio Dei" beinhalten zudem die Präambeln der Staaten Iowa (1857)
123
(1820)
1 2 7,
, Kansas (1859)' Maryland (1776)
Auch in Michigan (1908) ouri (1845)'
33
24
, Kentucky (I891)'
,2S 130
, Montana (1889)
25
, Louisiana (I921)
und Massachusetts (1780) , Mi nn es ot a ( 1 8 5 7 ) 134
m
126
, Maine
1 2 9.
, Mississippi (1890)'
und Nebraska (1875)
135
32
. Miss-
weisen jeweils die
Präambeln Gottesbezüge auf. 136
Parallelen zeigen sich in den Präambeln der Verfassungen von Nevada (I864) New Jersey (1844)
137
, New Mexico (191l)
138
, New York (1846)
139
, North Carolina
12 0 „We, the people of the State of Idaho, grateful to Almighty God for our freedom. to secure its blessings [... ]". 121 „We. the people of the State of Illinois, grateful to Almighty God for the civil, political and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy and looking to Hirn for a blessing on our endeavours." 122 „We. the People of the State of Indiana, grateful to Almighty God for the free exercise of the right to chose our form of government." 123 „We, the People of the State of Iowa, grateful to the Supreme Being for the blessings hitherto enjoyed. and feeling our dependence on Him for a continuation of these blessings establish this Constitution." 124 „We. the people of Kansas, grateful to Almighty God for our civil and religious Privileges establish this Constitution." 125 „We, the people of the Commonwealth of grateful to Almighty God for the civil, political and religious liberties 1 ...J". 12 6 „We. the people of the State of Louisiana, grateful to Almighty God for the civil, political and religious liberties we enjoy." 127 „We the People of Maine [... 1 acknowledging with grateful hearts the goodness of the Sovereign Ruler of the Universe in affording us an opportunity I... | and imploring His aid and direction." 12 8
the (...1". people of the State of Maryland, grateful to Almighty God for our civil and religious„We. liberty 12 9 „We I...] the people of Massachusetts, acknowledging with grateful hearts. the goodness of the Great Legislator of the Universe [... ] in the course of His Providence. an opportunity and devoutly imploring His direction [...]". 13 0 „We. the people of the State of Michigan, grateful to Almighty God for the blessings of freedom I... J establish this Constitution." 131 „We, the people of the State of Minnesota, grateful to God for our civil and religious liberty, and desiring to perpetuate its blessings 132 „We. the people of Mississippi in Convention assembled. grateful to Almighty God. and invoking His blessing on our work." 133 „We. the people of Missouri, with profound reverence for the Supreme Ruler of the Universe, and grateful for His goodness I... 1 establish this Constitution [...]". 134 „We, the people of Montana, grateful to Almighty God for the blessings of liberty establish this Constitution !...]". 135
tion."
„We. the people. grateful to Almightv God for our freedom. establish this Constitu-
,
III. Gottesbe zug und US-Ver fassung (1868)
1,40
f
Ml
North Dakota (1889)
, Ohio (1852)
142
401 143
und Oklahoma (1907)
. das die
„invocatio" allerdings nicht mit der Einleitungsformel „we, the people" verbindet. Schließlich erscheinen Gottesbezüge in den Präambeln der Staaten Pennsylvania (1776) ta (1889) (1848)
151
147
144
45
, Rhode Island (1842)'
, Texas (1845)
148
und Wyoming (1890)'
, South Carolina (1778)
, Utah (1896) 52
149
, Washington (1889)
U6
, South Dako-
150
, Wisconsin
.
Inhaltlich wie sprachlich bemerkenswert sind die Präambeltexte von Vermont (1777)'» und West Virginia (1872)
1S4
.
13 6
„We the people of the State of Nevada, grateful to Almighty God for our freedom establish this Constitution [...]". 137 „We. the people of the State of New Jersey, grateful to Almighty God for civil and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy. and looking to Hirn for a blessing on our endeavors [...)". 13 8 „We, the People of New Mexico, grateful to Almighty God for the blessings of liberty [...]". 13 9 „We, the people of the State of New York, grateful to Almighty God for our freedom. in order to secure its blessings I... 1". 14 0 „We the people of the State of North Carolina, grateful to Almighty God. the Sovereign Ruler of Nations. for our civil, political. and religious liberties. and acknowledging our dependence upon Him for the continuance of those [... 1". 141 „We, the people of North Dakota, grateful to Almighty God for the blessings of civil and religious liberty, do ordain [... 1". 14 2 „We the people of the State of Ohio, grateful to Almighty God for our freedom. to secure its blessings and to promote our common [...]". 143 „Invoking the guidance of Almighty God. in order to secure and perpetuate the blessings of liberty [... 1 establish this 1... J". 144 „We, the people of Pennsylvania, grateful to Almighty God for the blessings of civil and religious liberty, and humbly invoking His guidance 1... |". 145 „We the People of the State of Rhode Island grateful to Almighty God for the civil and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy, and looking to Him for a blessing [...]". 14 6 „We. the people of the State of South Carolina, grateful to God for our liberties, do ordain and establish this Constitution." 147 „We. the people of South Dakota, grateful to Almighty God for our civil and religious liberties (...J establish this Constitution." 14 8 „We the People of the Republic of Texas, acknowledging, with gratitude. the grace and beneficence of God 1... ]". 14 9
„Grateful to Almighty God for life and liberty, we establish this Constitution." „We the People of the State of Washington grateful to the Supreme Ruler of the Universe for our liberties. do ordain this Constitution 1...]". 151 „We, the people of Wisconsin, grateful to Almighty God for our freedom. domestic tranquility [...]". 15 0
152 „We, the people of the State of Wyoming, grateful to God for our civil, political. and religious liberties [... J establish this Constitution [... 1".
402
C. Der Got tes bez ug in den Verf assun gen Europa s und der USA
Lediglich in vier Staaten ist der Gottesbezug nicht im Text einer Präambel enthalten. In Oregon (1857) 15 5 und Virginia (1776)" 6 ist die jeweilige „Bill of 15 7 und Tennessee (1796) Rights" zu bemühen. In New Hampshire (1792) sich der Gottesbezug „eingebettet" in die Verfassungsartikel.
IV.
Das US- Mod ell ein Vorbild
15 8
findet
für Eur opa ?
Kann das US-amerikanische Modell des „wall of Separation" zwischen Staat und Religionsgemein schaften Vorb ild für Europa sein? 15 9 Die Vielzahl der Religionen und Weltanschauungen ist ein Integrationsproblem auch in Europa. Das mag auch für Europa zunächst nahe legen, strikte Trennung zu suchen. Aber die Doktrin der „wall of Separation" lässt sich nicht durchhalten, das zeigt gerade auch die heterogene Rechtslage in den Vereinigten Staaten. Vielfältig ist die Mauer durchbrochen. Wo sie hält, drängt sich bisweilen der Verdacht der Diskriminierung des Religiösen auf. wenn etwa weltlich geführte Privatschulen staatlich gefördert werden, religiös geführte aber nicht. Das amerikanische Modell lebt zudem von einer sozialen Intensität der Religion, die sich in Europa kaum (noch) findet. Manchmal wird dennoch das amerikanische Religionsrecht als Modell für Europa empfohlen. Amerika steht für strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und für strikte Gleichheit aller Religionsgemeinschaften auf einem „Marktplatz der Religionen". Keiner Religionsgemeinsch aft darf der Staat, selbstverständl ich auch nicht in Europa, den Zugang zu angemessener Religionsausübung versperren. Die Auseinandersetzung der kommenden Jahre wird die religionsrechtliche Gleichheit zu einem Hauptgegenstand haben. Diese Auseinandersetzung kommt wesentlich aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Religionsrechtliche Gleichheit verlangt aber nach mehr als bloß dem freien Marktplatz der Religionen. 153
„Whe rea s all gove rnme nt ough t to (
] enab le the indivi duals wh o com pos e it to
enjoy their natural rights, and other blessings which the Author of Existence has bestowed on man [... J". 154
..Since through Divine Providence we enjoy the blessings of civil, political and religious liberty. we, the people of West Virginia, reaffirm our faith in and constant reliance upon God [... j". 155 Bill of Rights, Article I. Section 2: ..AU men shall be secure in the Natural right. to worship Almighty God according to the dictates of their consciences." 15 6 Bill of Rights. XVI: „|...| Religion, or the Duty which we owe our Creator [...] can be directed only by Reason. and that it is the mutual duty of all to practice Christian Forbearance. Love and Charity towards each other 1... J". 157 Part I. Art. I. See. V: „Every individual has a natural and unalienable right to worship God according to the dictates of his own conscience." 1511 Art. XI. III: „That all men have a natural and indefeasible right to worship Almighty God according to the dictates of their conscience I... J". 15 9
Zu dieser Frage ausführlich G. Robbers. Europäische Verfassung und Religion, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderheft I /2003. S. 66 ff.. 67 f.
Nachwort Gemeinsam bilden Europa und die USA die weltweit bedeutendste Einflusssphäre von Demokratie, Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Dennoch sind USA und Europa vornehmlich Mächte des Status quo, denen in erster Linie an der Bewahrung ihrer eigenen Werte gelegen ist. Obgleich beide ein sich in hoher Rasanz wandelndes Verständnis globaler Zusammenhänge federführend mitbestimmen, steht einer Verwirklichung gemeinsamer Hoffnungen ein - trotz aller gemeinsamen Wurzeln - durchaus unterschiedlicher Konservatismus entgegen, der sich aus den eigenverantwortlich materialistischen Grundprägungen beider Gesellschaften nährt.Verhältnis Das Spannungsfeld und nicht Moderne auch im transatlantischen anzuführen Konservatismus ist schon deswegen reizlos als auch die Koppelung beider Ausrichtungen zunehmend deutlich wird. Auch im weiten Feld des in der Praxis erprobten Verfassungsverständnisses. Todesstrafe, genmanipulierte Lebensmittel, aber auch die Notwendigkeit militärischer Interventionen lassen (bei allen benevolenten Hegemonialstrukturen) eine wachsende gegenseitige Einflussnahme und in vielen Teilbereichen Abhängigkeit erkennen. Ein Mischverhältnis aus Emanzipierung und Fügung. Freilich bleiben die latente Amerikanisierung und deren fundamentale Ablehnung als dynamische Gegenpole erhalten. Kulturell lassen sich jedoch auch Tendenzen der Entfremdung ausmachen. Je mehr sich Europa und die Vereinigten Staaten gesellschaftlich, politisch, letztlich in der Verfassungswirklichkeit gleichen, desto lauter werden die Stimmen der Ablehnung eines Assimilierungsprozesses. Die Europäer, insbesondere die Einzelstaaten sträuben sich gegen eine Strömung, die sie als fremden Eingriff fremder Ideen in ihre traditionelle Identität betrachten. Illustrativ steht hierfür Frankreich, das durch gesellschaftspolitische Einzelmaßnahmen Druck ausübt, um die so verstandene kulturelle Einzigartigkeit des Landes zu bewahren. In Deutschland wird die neue Distanz auf einer anderen Ebene sichtbar. Das Selbstbewusstsein, auf internationaler Ebene ohne die betonte Fessel der Vergangenheit als Streitschlichter Profil zu gewinnen - etwa im nahen Osten (ein Einfluss über den Frankreich beispielsweise nicht mehr verfügt) -, zeugt von einem ausgeprägten Willen zur Emanzipation. Beide - die Vereinigten Staaten und Europa - eint die Idee eines neuen, gewaltlosen und positiv einzuschätzenden „Verfassungsimperialismus": die Grenzen des Friedens, der Stabilität und der Demokratie nach Osteuropa und die restliche Welt wenigstens in der Respektierung auszuweiten, ist eine Anforderung, die Europa
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Nachwort
und die USA langfristig nur gemeinsam meistern können. Die ähnliche Interessenlage dies- und jenseits des Atlantiks kollidiert mit der Unterschiedlichkeit der Gefühlslage. Beides ist Grundlage einer Kultur. „Dass Verfassung sich überall bilde, wie sehr ist's zu wünschen! Aber ihr Schwätzer verhelft uns zu Verfassungen nicht"
(J. W. v. Goethe! F. Schiller. Xenien)'
1 Vgl. E.Trunz (Hrsg.). „Der Patriot": „Dass usw.": Xenien. Goethes Werke. Bd. 1. Hamburger Ausgabe. 1998. S.216.
Zusammenfassung A. Am 18. Juni 2(X)4 wurd e europä ische Ve rfassu ngsge schic hte gesc hrieb en. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein Rückblick darf sich demzufolge keineswegs auf die Debatte der letzten Jahre beschränken. Bezeichnenderweise schien zunächst nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europä er zu bestehen . Dort wurde der Verfassungskonv ent in den Medie n wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia verglichen. Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als ..Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das nun vorliegende Ergebnis der Konventsberatungen, das landläufig als „EUVerfassung" bezeichnet wird, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen. Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerikanische Verfassung als Vorbild. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der pluralistischen Beeinflussung der gemeineuropäischen Verfassungsbemühungen fast geboten. Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zurückblicken, die andere fertigte sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen ihren eigenen Typus ohne dabei jüngste und srcinäre Entwicklungen außer Acht zu lassen. B. Zielsetzung und Schwerpunkt der Arbeit ist eine vergleichende Untersuchung der konstitutionellen Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union. Unter Zugrundelegung des Begriffspaares „Verfassungserweckung" und „Verfassungsbestätigung " werden zunächst Eckpu nkte und Grundla gen der jeweilig en Verfassungsgeschichte dargelegt und das US-amerikanische wie das „europäische" Verfassungsverständnis beleuchtet. I. Die Erörterung der amerikanischen Verfassungsgeschichte beginnt mit einem Hinweis auf Erscheinungsformen des europäischen kulturellen Einflusses,
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Zusammenfassung
um u.a. über die „Fundmental Orders of Connecticut", den partiellen Emanzipationsschritt der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „Articles of Confederation" zum Verfassungskonvent, der Ratifizierungsdiskussion und der Debatte zwischen Federalists und Antifederalists zu gelangen. Die Schilderung einiger Axiome amerikanischen Verfassungsverständnisses korrespondiert mit einer Strukturierung der weiteren Verfassungsgeschichte der USA. in deren Verlauf sich das gesamte Ausmaß „konstitutioneller Selbstfindung" und „kultureller Selbstverwirklichung" widerspiegelt. II. Die umfängliche Darlegung der europäischen Verfassungsentwicklung reicht von der Gründung der Paneuropa-Bewegung in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zur (andauernden) Ratifikationskrise im Zuge des seit Ende 2003 vorliegenden Europäischen Verfassungsvertrages. Neben einer chronologischen Aufstellung und inhaltlichen Beurteilung einer Vielzahl von Verfassungsentwürfen wird zum einen den Ansätzen aus der Mitte des Europäischen Parlaments (19 84 und 1994) sowie dem ersten „Kon vent " zur Grun drec htec har ta breiterer Raum gegeben. Die juristische Betrachtung wird durch die Leitbilder und „europäischen Ideale" in der politischen Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende ergänzt, um letztlich auch das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und jüngster politischer Diskussion näher zu begründen. Bevor sich abschließend der Arbeitsweise und den Ergebnissen des Europäischen Verfassungskonvents angenommen wird, versucht die Arbeit in einem denknotwendigem Zwischenschritt die vielfach gestellten und beantworteten Fragen nach der Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge sowie nach einem „europäischen Verfassungsverständnis und -begriff* zusammenfassend zu erläutern und durch einige Überlegungen anzureichern. III. Aus den frühen europäischen Wurzeln amerikanischen Rechtsdenkens sowie aus der Betrachtung des Einflusses der amerikanischen Verfassung und des dortigen Verfassungsverständnisses auf heutige europäische Rechtskultur(en) lässt sich im Ergebnis das Erwachsen eines „transatlantischen Verfassungsfundamentes" konstatieren. IV. Ihre Festigung und Bestätigung fanden und finden der US-amerikanische Verfassungsstaat sowie die europäische Verfassungsgemeinschaft im Besonderen durch Verfassunggebung. Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien. Drei Themenkomplexe, die ebenfalls einer transatlantisch vergleichenden Analyse unterzogen werden. Die Arbeit unterscheidet zwischen „gebundener" und „kreativer" Verfassunggebung, wobei unter der ersten Alternative die kodifizierten Wege zur Verfassungsergänzung und -änderung zu verstehen sind. Während aus US-amerikanischer Perspektive die Verfassungs-,Amendments" als „Abbilder einer Verfassungsergänzu ng" und „Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte" eine tiefgehende Untersuchung erfahren, werden mit Blick auf die Europäische Union unterschiedliche
Zusammenfassung
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gemeinschaftsrechtliche Elemente und Verfahrensmodelle zur Vertrags- bzw. Verfassungs(Vertragsänder ung aufgezeic hnet. Die Begrifflichkeit „kreative Verfassunggebung" zielt auf die verschiedenartigen Optionen der Verfassungsinterpretation ab. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts der Arbeit steht hierbei eine komparative Erörterung der Rolle der jeweiligen obersten Gerichte. Die „Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit" ist freilich in den Vereinigten Staaten anzusie deln. Allerd ings läss t sich in Anleh nun g an di e Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit auch von einem „europäischen Marbury vs. Madison" sprechen. Dem US-Supreme Court als „ständigen Verfassungskonvent" und „erheblichen Faktor von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels" wird der Europäische Gerichtshof als „Verfassungsgericht" und in seiner (Verfassungs-)Rechtsprechung als „Spiegelbild einer offenen Gesellschaft" gegenübergestellt. Schließlich werden Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates und der europäischen Verfassungsgemeinschaft miteinander verglichen. Beispielhaft zu nennen sind die Erörterung der Kompetenzverteilung zwischen Union und Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks, die jeweilige Ausgestaltung des Prinzips der Gewaltenteilung, die Begrifflichkeiten „Identität" und „Nation" sowie das Demokratieprinzip in der respektiven Vorstellung. V. Vergleichende Anmerkungen zu den jeweiligen Konventsverfahren und Konventsergebnissen (amerikanische Bundesverfassung von 1789 und Europäischer Verfassungsvertrag von 2003/4) beschließen mit der Frage nach den Lehren für die Europäische Union resümierend die umfassende Analyse zweier Verfassunggebungsprozesse. C. Hohe emotionale Wogen während des europäischen Verfassungskonvents schlug die Debatte um die Formulierung eines Gottesbezugs. Neben einer näheren Untersuchung der Diskussion um die „invocatio Dei" im Verfassungsvertrag wird auch hier ein vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft sich mit einer Darstellung der Gottesbezüge in den Verfassungen der jeweiligen Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks und (ergänzend) mit einer Betrachtung der Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion sowie etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen der deutschen Bundesländer. Im Anhang finden sich Bewertungen und Positionen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den Beratungen des Europäischen Verfassungskonvents sowie zum Entwurf des Verfassungsvertrages. Zudem werden die Amendment-Vorschläge zur amerikanischen Verfassung dokumentiert, die den Kongress passi erten Je do ch nicht von den Staaten ratifiziert wurden.
Anhänge Anhang 1 Genieinsame Positionen von CDU und CSU zum Stand der Beratungen des EU-'Verfassung?-Vertrages 20. Juni 2003 I. CDU und CSU begrüßen den Abschluss der Arbeiten des Konvents an den Teilen I und II der geplanten EU-Verfassung. Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die Weiterentwicklung der Europäischen Integration und für eine bessere Wahrnehmung der berechtigten Interessen von Bund. Ländern und Gemeinden. Er trägt in wichtigen Bereichen die Handschrift von CDU und CSU und ihrer Vertreter im Konvent. II. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass im Rahmen des Konvents Fortschritte bei der Antwort auf die aktuelle Reformkrise der EU erzielt werden konnten: - Erstmals ist es gelungen, eine klare Kompete nzordn ung über die Zuständigkeiten der Europäischen Union mit einer Einteilung und Auflistung der Kompetenzkategorien festzulegen. Außerdem muss die Europäische Union dort, wo sie zuständig ist. die Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachten. Damit sind allgemeine Zielformulierungen nicht mehr kompetenzbegründend. - Alle diese Festlegungen unterliegen einer Kontrolle durch die nationalen Parlamente - und über ein Klagerecht beider Kammern der nationalen Parlamente - durch den Europäischen Gerichtshof. - Alle Teile des Verfassungsve rtrags haben die gleiche Rechtsqualität. - Durch den Verfassungsvert rag wird die EU stärker als bisher als Werte gemei nscha ft definiert.
- Die verbindliche Auf nah me der Grund recht e-Cha rta stärk t die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den europäischen Institutionen. - Die stärkere politis che Anbindun g der Kommiss ion an das Europäisch e Parlament bei der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Stärkung der Mitspracherechte des Europäischen Parlaments machen die EU demokratischer. - Die Einrichtung eines öffentl ich tagenden Legislativrates und die - durch die Bestimmung von Kompetenzkategorien - übersichtlichere Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten verbessern die Transparenz Europas. - Mit der Reduzierung der Größe der Kommi ssion, der Sch aff ung eines Außenministe rs und eines Präsidenten des Europäischen Rates und dem verstärkten Übergang zur Mehrheitsentscheidung wird die EU handlungsfähiger. - Zur Abgrenzun g der Hand lungsb efugn isse der EU wi rd das Subsidiaritä tsprinzip gestärkt und seine Durchsetzung durch die Schaffung eines Frühwarnsystems und eines Klagerechts zugunsten der nationalen Parlamente verbessert.
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- Bei wicht igen nationalen Politik felde rn (z. B. Bildu ng. Kultur) wird in der Ver fas sung ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot verankert. - Die Verfassung achtet erstmal s rechtsverbindlich die regionale un d kommun ale Selbstverwaltung sowie den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften. - Durch die Einf ühru ng der doppelten Mehrhei t (Mehrheit der Staaten. 6 0% der Bevölkerung) werden die Bevölkerungsverhältnisse in der Europäischen Union besser berücksichtigt und die Entscheidungsfähigkeit des Rates verbessert. III. Auf der anderen Seite ist es nicht gelungen, die Kompetenzen auf europäischer Ebene zurückzufuhren. - Die allgemeinen und speziellen Koordinierungszuständigkeiten der EU in der Wirtsch aft s- und Sozial politi k sind in T eil I unge nau form ulier t. Art. 1-14 sollte präzise r gefasst werden. Es muss verhindert werden, dass es zu einer zentralen Steuerung der Wirtschaftpolitik kommt. Entscheidend ist jedoch, dass die einschlägigen Einzelermächtigungen in Teil III maßgeblich sind, die praktisch unverändert dem derzeitigen EG-Vertrag entsprechen. - Verhältnis Bei den Eigenmitteln müs sen zueinander nich t nur (z. dieB.finanz iellenderObe rgr enze n, sondern auch das der Eigenmittelquellen der Anteil Mehrwertsteuer oder der BSP-Quelle an den Eigenmitteln) der Einstimmigkeit unterliegen, um die finanziellen Risiken für Deutschland zu begrenzen. - Beim Klage recht der nationa len Parlam ente gehen wir davon aus. dass dieses Recht auch die Rüge von Verletzungen der Kompetenzordnung umfasst. - Es mus s nötig enfal ls im Verhäl tnis zwi sche n Bund und Länd ern sichergestellt werden, dass sich das Recht der Länder, bei Betroffenheit ihrer Zuständigkeiten Deutschland im Ministerrat zu vertreten, nicht nur auf den Legislativrat beschränkt. - Der Europäisc he Ra t kann in Fällen, in denen der Verfassu ngsvertrag Einstimmi gkeit vorsieht, durch einstimmigen Beschluss zur Mehrheitsentscheidung übergehen, wobei die nationalen Parlamente davon lediglich unterrichtet werden. Nachdem spätere gemeinschaftsautonome Änderungen des Vertrags für die nationalen Parlamente bei ihrer Zustimmung voraussehbar sein müssen (BVerfG). ist innerstaatlich bei der Ratifizierung sicherzustellen, dass die Bundesregierung ihre Zustimmung von der vorherigen Zustimmung des Parlaments abhängig macht. IV. Zu den Teilen III und IV des Verfassungsvertrags wird der Konvent seine Beratungen in den nächsten Wochen abschließen. CDU und CSU sind sich einig, dass dabei folgende gemeinsame Positionen vertreten werden: - Die Zuständigkei t der Mitgli edssta aten für das Maß der Einw and eru ng und den Zuga ng zum Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige soll festgeschrieben werden.Nötigenfalls sind diese Bereiche in der Einstimmigkeit zu belassen. - Die Binnenmarktklau sel muss präzis iert un d auf Maßna hmen beschränkt werden, welche primär und unmittelbar die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. - Zur Erweite rung der Spiel räume der Mitgliedsstaaten zur Gestal tung einer eigenständigen Strukturpolitik soll das Wettbewerbsrecht dahingehend geändert werden, dass Beihilfen generell mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, soweit sich die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse „spürbar" zuwider läuft.
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- In den sozial politisc hen Besti mmun gen mus s klargestellt werde n, dass die Zuständi gkeit der Mitgliedsstaaten für die Organisation. Finanzierung und Leistungen der sozialen
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Sicherungssysteme sowie ihre umfassende Zuständigkeit für die Sozialhilfe zu wahren ist. In der Energiepolitik sollte es bei der bisherigen binne nmarkt bezog enen Zuständigkeit bleiben. Eine neue Zustä ndigk eit der EU für die Best imm ung der Ausgestalt ung v on Leist ungen der Daseinsvorsorge sollte nicht in den Vertrag aufgenommen werden. Die Quersc hnit tsb esti mmun g in Artikel III-O soll so präzisie rt werd en, dass eine Umgehung der Regelung in Artikel 1-3 Abs. 5 des Vertrages ausgeschlossen ist. Allgemein ist darauf zu achten, dass nicht auch über die Bestimmung in III-O die offene Methode der Koordinierung verankert wird. Bei Ände runge n der Verfa ssung i st bei Kompeten zbegr ündung en und -än der ung en am Prinzip der Einstimmigkeit und der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten festzuhalten.
V. Nach Vorlage des Gesamtentwurfs werden CDU und CSU eine endgültige Bewertung vornehmen und das weitere Vorgehen in Bezug auf die Regierungskonferenz festlegen.
Anhang 2 Bewertung der CDU/CSU-Fraktion vom 19. Juni 200 4 „Vertrag über die EU-Verfassung" Ergebnisse der Regierungskonferenz vom 17./18. Juni 2004
Die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union hohen an diesem Wochenende den Entwurf eines Vertrages für eine europäische Verfassung verabschiedet. Als völkerrechtlicher Vertrag bedarf er der Ratifizierung durch alle 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, um in Kraft treten zu können. Dabei bestimmt sich die Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten. In Deutschland bedeutet dies, dass Bundestag und Bundesrat dem Vertrag über eine europäi sche Verf assung mit einer jeweiligen 2/ 3-Me hrhe it zus tim men müs sen (Art. 23 Abs. 1 S. 3 iVm Art. 79 Abs. 2 des Grundg ese tzes ). Die neue EU-Verfassung besteht im Kern aus einer Zusammenfassung des EU- und des EG-Vertrages sowie der Grundrechtecharta. Dabei ist es gelungen, in Weiterentwicklung der bisherigen Verträge erstmals eindeutige Kompetenzkategorien festzulegen. Allgemeine Zielformulierungen sind ausdrücklich nicht kompetenzbegründend. Außerdem gilt in der EU das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach sie nur dann handeln darf, wenn es dafür eine ausdrückliche Ermächtigung im Verfassungsvertrag gibt. Die Verfassung ist in vier Teile gegliedert: Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Europäischen Union. Dazu zählen u. a. die Ziele der EU, die Kompetenzkategorien. Vorschriften zur Ausübung der Kompetenzen sowie grundsätzliche Festlegungen zu den Organen und zu bestimmten Politikbereichen wie beispielsweise der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) sowie Innen und Justiz. Daran schließt sich der zweite Teil
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der Verfassung an. der die Grundrec htech arta beinhaltet. Diese war am 2. Oktobe r 200 0 vom Europäischen Rat in Nizza durch feierliche Erklärung angenommen worden, wird jetzt durch Inkorporation in den Verfassungsvertrag verbindliches Recht. Der Teil drei ist der eigentliche Kern der Verfassung, beschreibt er doch sehr detailliert die einzelnen Politikbereiche, in denen die EU handeln darf (begrenzte Einzelermächtigungen). Teil vier beinhaltet die Schlussbestimmungen. Eine Prä ambe l leitet die Verf assu ng ein. in der u. a. ein ausdrüc klic her Verweis auf das religiöse Erbe Europas aufgeführt ist (..Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas,..."), aus dem sich als universelle Werte die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Demokratie. Gleichheit. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben. Dies ist bereits ein großer Fortschritt gegenüber dem Status quo. da bislang ein solcher Wertebezug in den europäischen Verträgen fehlt. Wir hätten uns aber einen klaren Gottesbezug (invocatio dei) und einen Verweis auf die prägende Wirkung des Christentums (christliches Erbe) gewünscht. Frankreich und Belgien haben dies mit Verweis auf ihre strikte Trennung von Staat und Kirche abgelehnt. Di e Srinwiengewichtung im Rat war bis zuletzt der umstrittenste Punkt in den Verhandlungen der Regierungskonferenz. Der Europäische Rat im Dezember letzten Jahres scheiterte an dieser Frage, da Spanien und Polen dem im Konventsentwurf niedergelegten neuen Prinzip der doppelten Mehrheit nicht folgen wollten. Sie sahen darin eine deutliche Verschlechterung ihres Stimmengewichts im Rat gegenüber dem bestehenden Nizza-Vertrag, nach dem sie trotz erheblich geringerer Bevölkerungszahl fast ebenso viele Stimmen haben wie die großen Mitgliedstaaten Deutschland. Großbritannien. Frankreich und Italien. Kernpunkt der doppelten Mehrheit ist, dass es für die Annahme eines Kommissionsvorschlags eine festgelegte Anzahl von Staaten geben muss, die einen bestimmten Bevölkerungsanteil. bezogen auf die Gesamtbevölkerung der EU. erreichen müssen. Der Konvent hatte vorgesehen, dass 50% der Staaten, die 60% der Bevölkerung der EU repräsentieren, einem Vorschlag zustimmen müssen. Die Regierungskonferenz hat sich dagegen auf folgende Verteilung geeinigt - nicht zuletzt auch, um Spanien und Polen entgegenzukommen und damit die Einigung auf die Verfassung möglich zu machen: 55% der Mitgliedstaaten müssen für einen Vorschlag stimmen, die zugleich 65% der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Zusätzlich muss die zustimmende Mehrheit mindestens 15 Mitgliedstaaten umfassen. In einer EU mit 25 Mitgliedstaaten entspräche dies zwar einer geforderten Mehrheit von 60% der Staaten. Allerdings wird die EU bis zum voraussichtlichen Inkrafttreten der Verfassung (2007) auch die Länder Bulgarien und Rumänien umfassen. Dann entsprächen die 15 für eine erforderliche Mehrheit notwendigen Länder in etwa 55%. Darüber hinaus muss eine blockierende Minderheit aus mindestens vier Staaten bestehen, damit nicht die drei bevölkerungsreichsten Länder einen Mehrheitsbeschluss aufhalten können. Bei Mehrheitsbeschlüssen ohne Vorschlagsrecht der Kommission (z. B. in der Justiz- und Innenpolitik oder in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) gelten höhere Schwellen für das Erreichen der qualifizierten Mehrheit: hier müssen 72% der Staaten mit zusammen 65% der EU-Bevölkerung zustimmen. Das jetzt verabschiedete Abstimmungsverfahren soll am 1. November 2009 in Kraft treten. Bis dahin gelten die Regeln des Vertrages von Nizza. Zur Frage der Größe der Kommission liegt folgende Einigung vor: Bis 2014 wird der Kommission jeweils ein Staatsangehöriger aus jedem Mitgliedstaat angehören. Ab 2014 wird die Zahl der Kommissare reduziert. Ihre Zahl soll 2/3 der Mitgliedstaaten
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entsprechen - einschließlich Kommissionspräsident und Außenminister. Dabei wird ein System strikt gleichberechtigter Rotation angewandt. Als Entgegenkommen an kleinere EU-Staaten wird die Mindestzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament (EP) auf sechs erhöht. Gleichzeitig wird die Höchstzahl an Abgeordneten pro Mitgliedstaat von 99 auf 96 Abgeordnete gesenkt. Deutschland (als einziges Land, das diese Höchstzahl erreicht) muss damit drei Sitze abgeben. Die Zahl der EP-Abgeordneten steigt von jetzt 732 auf 750. Im letzten Moment wurde in den ersten Teil der Verfassung doch noch die Preisstabilität in den Zielkatalog der EU aufgenommen, wie dies seit 1957 im EG-Vertrag immer der Fall gewesen war. Leider hatte der Konvent gegen unseren Willen diese Zielbestimmung fallen gelassen. Nun allerdings ist die Preisstabilität in Art. 3 (..Ziele") ausdrücklich erwähnt. Insbesondere auf Drängen Großbritanniens verbleiben wichtige Teile von einzelnen Politikbereichen in der Einstimmigkeit. Dies gilt für die gesamte Bandbreite der Steuerpolitik sowie im Grundsatz auch für den Bereich Innen und Justiz. Hier wird die Möglichkeit einer ..Notbremse" eröffnet, wenn ein Mitgliedstaat Bedenken gegen den Entwurf eines mit qualifizierter Mehrheit anzunehmenden Rahmengesetzes hat. Das Recht festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige zum Zweck der Arbeitsaufnahme in einen Mitgliedstaat einreisen dürfen, verbleibt in nationaler Zuständigkeit. Auch der Beschluss über die Eigenmittel der EU sowie die mehrjährige Finanzplanung bedürfen nach der neuen Verfassung der Einstimmigkeit. Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU durch die Schaffung des Amtes eines .Außenministers, an Handlungsfähigkeit und Effizienz gewinnen. Der Außenminister führt den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten, eine Rotation im Vorsitz findet also hier nicht statt. Dem Außenminister untersteht ein Europäischer Auswärtiger Dienst, für dessen Einrichtung die Vorbereitungen bereits ab Unterzeichnung des Verfassungsvertrages beginnen werden. Der Außenminister der EU ist gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission. In der Verfassung findet sich erstmalig ein expliziter Verweis auf die NATO, der sicherstellt, dass die Zusammenarbeit in den Verteidigungsfragen die Verpflichtungen im Rahmen der NATO nicht berührt und dass bei der Landesverteidigung die NATO Vorrang vor rein europäischen Verteidigungsanstrengungen hat. Die NATO wird ausdrücklich als das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung für die Staaten angesehen, die NATO-Mitglieder sind. Zum Stabilitätspakt: Die Kompetenzen der EU-Kommission gegenüber Mitgliedstaaten, die die 3%-Defizitgrenze überschreiten, werden entgegen dem Konventsentwurf auf den Status quo zurückgeführt. So werden von der Kommission als notwendig erachtete Maßnahmen zur Defizitrückführung auch weiterhin nur als ..Empfehlungen" qualifiziert mit der Folge, dass diese einfacher zu ändern und zurückzuweisen sind als dies bei einem - wie vom Konvent ursprünglich vorgeschlagenen - formellen Vorschlag der Kommission der Fall gewesen wäre. Begründet wird dies damit, dass die Wirtschaftspolitik auch weiterhin in der nationalen Kompetenz verbleibe, so dass ein formelles Vorschlagsrecht der Kommission systemwidrig wäre. Die Staats- und Regierungschefs haben zudem eine Erklärung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt angenommen, die der Verfassung beigefügt wird. Darin bekennen sie sich erneut zu den Bestimmungen des Paktes und zu dem Erfordernis
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einer soliden Haushaltspolitik. Sie bekräftigen das Ziel, in guten Zeiten schrittweise einen Haushaltsüberschuss zu erreichen, um in Zeiten des Wirtschaftsabschwungs über den notwendigen Spielraum zu verfügen.
Schlussbewertung
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Verhandlungen von 25 Mitgliedstaaten unsere Vorstellungen über den Inhalt des Verfassungsvertrages nicht in Reinform durchzusetzen waren. Allerdings übertreffen die erzielten Fortschritte bei weitem die nicht befriedigend geregelten Fragen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es von großer Bedeutung, im Zusammenhang mit dem Ratifizierungsverfahren die neuen Rechte des Bundestages bei der Subsidiaritätskontrolle zu klären, die innerstaatlichen Abläufe hierfür zu regeln und insgesamt die Beteiligung des Bundestages bei der europäischen Gesetzgebung zu verbessern.
Anhang 3 Amendment-Vorschläge, die den Kongress passierten, jedoch nicht von den Staaten ratifiziert wurden 1) Artikel I der 1789 vorgeschla genen zwölf Ame ndme nt- Art ike l, wovon Artikel III bis XII die heute als „Bill of Rights" bekannte Grundrechterklärung bilden: „Article the first After the first enumeration required by the first article of the Constitution, there shall be one Representative for every thirty thousand. until the number shall amount to one hundred. after which the proportion shall be so regulated by Congress. that there shall be not less than one hundred Representatives, nor less than one Representative for every forty thousand persons, until the number of Representatives shall amount to two hundred: after which the proportion shall be so regulated by Congress. that there shall not be less than two hundred Representatives. nor more than one Representative for every fifty thousand persons." 2) In der zweite n „Sitzu ng" des 11. Kongre sses schlug der Kongre ss folgenden Ame ndment-Artikel vor. der nicht die erforderliche Mehrheit der Einzelstaaten fand: ..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled, two thirds of both houses concurring. That the following section be submitted to the legislatures of the several states. which. when ratified by the legislatures of three fourths of the states, shall be valid and binding. as a part of the Constitution of the United States. If any Citizen of the United States shall aeeept. claim. reeeive or retain any title of nobility or honour. or shall. without the consent of Congress, aeeept and retain any present. pension. office or emolument of any kind whatever, from any emperor. king. prince or foreign power, such person shall cease to be a Citizen of the United States, and shall be incapable of holding any office of trust or profit under them. or either of them."
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3) Das folgende Amendment, dessen Bezugspunkt die Sklaverei bildete, wurde in der zwei ten „ses sio n" des 36. Kong res ses am 2. Mär z 1861 vorges chlag en, nac hde m es den Senat und vorher das Repräsentantenhaus (am 28. Februar 1861) passiert hatte: ..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled. Thal the following article be proposed to the Legislatures of the several States as an amendment to the Constitution of the United States, which, when ratified by three-fourths of said Legislatures, shall be valid. to all intents and purposes. as part of the said Constitution, viz: Article Thirteen No amendment shall be made to the Constitution which will authorize or give to Congress the power to abolish or interfere. within any State, with the domestic institutions thereof. including that of persons held to labor or Service by the laws of said State." Interessanterweise handelt es sich hierbei um das einzige „proposed". aber nicht ratifizierte Amendment, das vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Diese Unterschrift wird allerdings allgemein als unerheblich erachtet, nachdem die Verfassung bei einer Zweidrittelmehrheit im Kongress die Weitergabe an die Staaten zur Ratifizierung vorsieht. 4) In der ersten „Sitzung" des 68. Kongresses wurde am 2. Juni 1926 ein AmendmentVorschlag eingebracht, der sich gegen Kinderarbeit richtete. Obgleich Senat und ..House" (am 26. April 1926) mit der notwendigen Mehrheit durchlaufen wurden, ratifizierten lediglich 28 Staaten folgenden Entwurf: .Joint Resolution Proposing an Amendment to the Constitution of the United States. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled (two-thirds of each House concurring therein). That the following article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which, when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States, shall be valid to all intents and purposes as a part of the Constitution: Article-. Section I. The Congress shall have power to limit, regulate, and prohibit the labor of persons under eighteen years of age. Section 2. The power of the several States is unimpaired by this article except that the operation of State laws shall be suspended to the extent necessary to give effect to legislation enacted by the Congress." 5) Ein Amendment, das die Gleichberechtigungsfragen zwischen Mann und Frau zum Inhalt hatte wurde in der zweiten „session" des 92. Kongresses am 22. März 1972 vorgeschlagen. Trotz der erforderlichen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus (12 Oktober 1971) und trotz einer Verlängerung der siebenjährigen Ratifikationsfrist bis zum 30. Juni 1982 in der zweiten „session" des 95. Kongresses, fand das nachfolgend zitierte Amendment am Stichtag nicht die erforderliche Dreiviertelmehrheit: .Joint Resolution Proposing an Amendment to the Constitution of the United States Relative to Equal Rights for Men and Women. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled (two-thirds of each House concurring therein). That the following
Anhänge article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its Submission by the Congress: ArticleSection 1. Equality of rights under the law shall not be denied or abridged by the United States or by any State on account of sex. Section 2. The Congress shall have the power to enforce, by appropriate legislation. the provisions of this article. Section 3. This amendment shall take effect two years after the date of ratification." 6) Schließlich schlug der 95. Kongress in seiner zweiten „Sitzung" am 22. August 1978 mit der erforderlichen Mehrheit (das ..House" wurde am 2. März 1978 passiert) ein Amendment vor. das Wahlrechtsfragen für den District of Columbia zum Inhalt hatte. Erneut fehlte es innerhalb der siebenjährigen Frist an der erforderlichen Dreiviertelmehrheit der Bundesstaaten. Der Amendmentvorschlag hatte folgenden Wortlaut: ,Joint Resolution Proposing an Amendment to the Constitution To Provide for Representation of the District of Columbia in the Congress. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congr ess assemble d (two-thirds of each House concu rring therein), That the following article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its Submission by the Congress: ArticleSection I. For purposes of representation in the Congress. election of the President and Vice President. and article V of this Constitution, the District constituting the seat of government of the United States shall be treated as though it were a State. Section 2. The exercise of the rights and powers conferred under this article shall be by the people of the District constituting the seat of government. and as shall be provided by the Congress. Section 3. The twenty-third article of amendment to the Constitution of the United States is hereby repealed. Section 4. This article shall be inoperative, unless it shall have been ratified as an amendment to the Constitution by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its Submission."
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464
Literaturverzeichnis 464
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Zweig. S.: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, (postum) 1944
Sachwortverzeichnis Abhängigkeil - zwische n Verfassungs gerichtsbar keit und Verfassung 312 Ad-hoc-En twurf Amen dmen ts
65 - 6 7 . 81, 119
37, 44, 222. 256. 277, 280
- als Abbilder einer Verfassungse rgänzung 22 2 - als Spiegelung ameri kanisch er Kulturgeschichte 222 - Inte rpreta tion von 243 Amendment A^crf ahren 229 -2 43, 24 8
- a l s Vo rbi ld
24 5-
48
19 .11 2, 194 .22 1
- Einflusspotentiale 194 - Flex ibil ität der 40 .4 9, 22 3 amerik anische Rechtskultur 308 ame rik ani sche Revolu tion
26, 194, 197,
368. 372, 393-394 amerikanische Verfassung siehe US-Verfassung Antifederalists 31.33-35 Argentinien 44 Articles of Confederation
24. 27 -3 1, 33,
43,46.224,317, 331,356.358.362,366. 37 0 Atlantische Deklaration 209 atlantische
Rechtskultur
- verfass ungskonf orme A. Australien 44.265.291
220
Aufklärung 21 -2 4. 194. 216. 342, 350, 372, 378. 380. 381
262. 294
Aut ono mie 138. 148. 16 3, 294 . 321, 323, 326. 347 - institutione lle A. 294 Begrenzungsfunktion
American Revolution siehe amerikanische Revolution ameri kanisch e Bunde sverf assung 16, 19. 24.51,101,142,187, 195.222-225,239. 248. 271. 273. 280. 317-358. 361. 362, 364-369. 370. 391-399 - als dynami scher Evolutionsprozess
Auslegun g 43, 47. 232, 235, 239. 243-244. 261, 264, 268. 274, 277, 283. 286. 289.304,312
siehe
Verfassungs-
funktionen
Belg ien 67, 113, 15 7, 161, 162. 220. 350. 38 3 Bil l of Rights (1689) 20 .3 7. 15 7 Bil l of Righ ts (1789 ) 36 -3 8. 87. 222, 226 , 227. 230, 246, 356. 363. 394 Bill of Rights of Virginia (1776) 3 5 - 3 6. 194.402 Bin nenm ark t 32. 52. 54, 72, 78, 175. 204. 212
Bulg arie n 157, 185 ,191 .35 0.3 83 Bund für Europäische Cooperati on 54 Bundesgesetzgebungskompetenz 281 Bundesgewalt 32,281.323 Bundesr epublik Deutschland 63, 65, 67, 68.79,92. 105, 108. 156. 161. 162. 170. 177, 204. 209. 210, 213, 253. 265. 289. 291, 296. 299. 320, 324. 336, 341, 350. 354. 382. 388. 392. 403 Bund esst aat 16. 24. 28. 34. 45. 47 . 49. 57,62.65. 104, 129, 171, 181. 195. 266. 318-331. 346, 349. 356, 362, 365. 370 - europäischer B. 58 ,6 1, 103 Bundesstaatsprinzip 331 Bundesstaatsstreitigkeit 293 Bundesv erfassun gsgerich t 313,314, 348
150, 269. 296.
466
Sach wort ver/ci chnis
Bürg erk rieg
43. 226. 235. 282, 283. 349.
355.357,367
Dezentra lisierung
Bürge rrech te
115. 124. 158. 194. 289
Charta der Grundrechte der Europäischen Union siehe Europäische Grundrechtecharta chec ks and bal anc es 33 2 Christentum
- der Verfassungsinte
275. 288. 320. 323.
21,374
coerci ve power
48
Drei-Elemente-Lehre
129
Ef fi zi en z 80. 96, 108, 163, 172, 178, 331 EGKS siehe Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Menschenrechte (EGMR)
217
Einheitliche
16 ,3 40 .3 70
Europäische
Akte
(1986)
75-76. 78. 189.212
21. 157, 271
Conseil Constitutionnel counter-majoritarianism
divided government
Einheit in Vielfalt
46
Co mmo n Law
269
EGMR siehe Europäischer Gerichtshof für
Civil War siehe Bürgerkrieg Cod e Civil (1808)
rpretation 31, 163
Einheitlichk eit der Lebensverhältnisse
269
Einmannexekutive
289
320
32
EMRK siehe Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
Dä ne ma rk 75, 101, 116. 158. 161, 190. 192, 349. 384 Declaration des droits de Thomme et du citoyen
44
Decl arat ion of Ind epe nden ce
17. 23, 25,
27, 30.43,45. 195. 228. 272. 340. 392 -
Präambel
26
delibe rativ e Politik deliberative
raxis
316
Demok ratie 20.24. 38 .4 4, 49 -5 1. 57. 96. 98. 136. 160-163, 172, 216. 254. 266. 286, 289. 291.357,369.403 - direk te D. 349 - egalitär e D.
Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951)
61
Erk lär ung von Lae ken
Demokr atiep rinzi p
147 . 203, 289. 332,
343-349 demokra tische Legitimation 80, 81, 1 52, 154. 159. 163. 250. 298. 336. 343-349 demokrat ische Selbsthe rrschaf t 315 demokrat ische Verfass ungstheorie 250 Demokr atisie rung 304
76, 108. 279. 304. 344.
138, 144. 1 66. 174
354
Establishm ent Clause Estland
EU-Bürger EuGH
39 1- 39 9
350.384 siehe Unionsbürger
siehe
(EuGH)
Europäischer
Gerichtshof
90.303 41,
44.
51,
195 .
197 -2 21 .
248-260. 291, 305. 308. 308-312, 329. 340-343. 345, 350, 355. 374. 377, 381 Euro pa a la carte
152, 343
159 . 308.
312, 342
Europa
219
- reprä sentat ive D. 37 Demokra tiedefi zit 84 .9 8, 119. 131, 134 .
348 - der Union
20. 23, 29, 36. 40. 274. 291. 343
Ensemb le von Teilverfassungen
Erweiterungsdynamik
316
Verfassungsp
Engla nd
328
Euro pa der Nati onen
106
Euro pa der Regio nen
108
Europa der zwei Geschwi ndigkeiten Europäische
Atomgemeinschaft
191
(EAG)
67, 204 Europäische
Geme insch aft
185 . 198 . 208.
Europäis che Gemeinschaften 127. 142, 148. 326. 340
68 -6 9. 1 20.
337, 374
467 Sach wor t ver/cich nis
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (E GK S) europäische
16. 64. 67. 198, 20()
Gespr ächskul tur
Europäische
188
Grundr echte chart a
87, 115 ,
139, 356. 357. 359, 375 euro päis che Ideale 111 Europäische Kommissi on
67, 72, 80. 87,
90. 92. 96. 107. 109. 113, 115, 123, 140. 160. 166. 170. 177, 220, 251. 257, 258. 307, 328. 347. 361, 366. 371, 375 Europäische Menschenrechtskonvention (E MR K) 64. 67. 73, 8 9. 94. 124. 126. 133,376 europäis che Öffentlic hkeit
94, 1 19, 139 .
155, 174. 190. 348. 373 Europäische Parlamentari er-Union Europäische Politische Gemeinschaft (EPG)
60
(EPZ)
Politische
Zusammenarbeit
78.208.209
Europäische
Sicherheits-
gungspolitik
(ESV P)
und
Verteidi-
Rechtsetzung
251
europäische
Rechtsgemein
schaft
120.127 .
Rechtskultur
Eu ro pä is ch e Un io n
194 , 217
7 6 - 8 4 . 8 7 - 1 2 4 . 130.
131-140. 142-144. 148. 150-154. 165. 170-193, 198. 215, 221. 248-260. 306. 311,317-358. 358-372, 375 - als Rech tsor dnung sui gene ris
110, 129.
143,160 - Doppelchara kter als Staaten- und
Bürger-
154
- Leitmottoder
185 -18 8
- Politis ierung der - Staatsqualität
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
67,120,204.206
Europäische
Zentralbank
europäische r Dem os
(EZB )
355
155
Europäische r Gerichtsho f (EuG H) 81. 90. 117, 120, 124. 170, 221, 254. 290. 294. 311,316, 336. 347, 375 - als Hüter 30 6
der europäisch en Verfassung
der
10 0- 11 8. 30 4
- Verf assungsfähi gkeit der
Europäis cher Konvent
europäischer
301
16, 68. 99. 13 5-
132, 152,
Verfassungsverbund
europäisc hes Denken 52, 372 Europäisches Parlament 60, 69, 70 - 75 . 76,78. 80-84. 88. 90. 95. 104, 109. 111. 113, 119. 123. 131, 139. 160, 166. 169. 177 ,18 1,2 51, 253, 257 - 260. 304, 328, 347, 348, 361, 367, 370, 371, 375-381 Europäisches Währungssystem 210 Eur opa rat 59.6 0.6 1 -6 4, 65 .9 0. 1 48. 35 7 122.311,335 53-59
Europaverständnis ever closer union ever strong er union
117
11 7-
118. 120
Europa-Union
140
- Vertiefung der 185 .25 2, 304 europäische Verbunds verfass ung
- als Verf assun gsger icht
Europarecht
130 .36 0
- supra natio nale r Char akte r der 155,251,361
303
- als Motor der europäisch en Integration 171.304.308
140. 147. 159. 164. 166-180. 181, 184. 317, 359.359-372,373-375,377-382
303. 304. 336
union
Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 65,67,69,200
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 64 .9 0
214
europäische
europäische
306. 360, 365. 369 Europäische Verfassungsgeri chte 304 Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit 141,305
- als Hüter des Gemei nschaf tsrec hts
65.67,200
Europäische
europäi sche Verfa ssung 17, 77, 86. 95. 100. 132. 144. 148, 154. 164, 180. 186.
217-219 308. 35 7- 35 8 357
E VG siehe Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)
468 EWG
Sach wort ver/ci chnis siehe
Europäische Wirtschaftsge-
Gemeinschaftsgr
meinschaft (EWG)
undrechte
Gemeinschaftskompetenzen
89. 375 97
EWG-V ertra g 126, 170 EWR-Vertrag 127
Gemeinschaftsmethode 109 Gemeinschaftsmodell 109
EZ B siehe Europäische Zentralbank (EZB)
Geme inscha ftsre cht
66. 122 , 124 . 254.
255. 303,315,336. 374, 375 Federal Reserve 35 5- 35 6 Federalist Paper s 3 3 - 3 5 , 37, 77, 173 . 334. 345, 370 Federalists
- Aus leg ung des G.
304
Gemei nschaf tsvert räge
59. 77. 79. 84. 96.
99. 303. 304 31 - 3 5 . 320. 338. 358. 370
Fina litä t 80. 85, 103, 353-354
106.
- Verf assu ngsqua lität der G.
153, 1 85.
Generationengerechtigkeit
358
Finnland 113,158,161,192.350.383,384 Föde rali smus 31, 33, 42, 104. 108, 163. 216.240. 271,318-331,358
Gesellschaftsordnung 389
- cooperative federalism 42, 322 - du al feder alism 42, 322
- f ödera tive G.
- kons oziati ver F. 328 Föderalismusbegriff 325
Gewaltenmonismus
- status negativus, activus und positivus 20 Freiheitsbegriff 352 Fundame ntal Order s of Connec ticut 27
24-
GASP siehe Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
78.96.97,214
Gemeinschaft der Vereinigten schen Staat en 76 - 77
Europäi-
Gesells chaftsve rtrag Gewal tenbala nce
23. 338
129 , 290, 293. 337 49
Gewaltenkooperation
Föder ation 58, 60. 65. 93, 110. 325, 326. 328. 340. 356 - von Nationalstaaten 103 .15 4 Fran kreic h 21. 26. 44. 56. 57, 60. 65. 67, 92. 106. 158, 159. 161, 162, 163, 173, 177. 186. 189. 194. 203. 205. 210. 214. 265. 291, 327. 329. 341, 343, 350. 365. 378.384.403 fran zösis che Revolution 22. 14 4. 343. 344 freie Religionsausübung 39 2- 39 9 Fre ihei t 26. 28. 36, 37. 47. 59. 126. 142, 194. 216. 285. 297. 331, 334. 340. 369. 376,394
131
Gemeinschaftsziele 251
337 332
Gewaltenteilun g 24, 28. 31. 37. 49 .6 1. 69 . 72,97, 154. 160. 195.251,252.266.271. 297. 301, 316. 328. 331-338. 362 - horizo ntale G. 111 .11 4,3 27 - rechtsordnungsübergreifender satz de rG . 338 - verti kale G. 33 7
Grund-
111, 114. 320. 323, 332.
Gewaltenverschränkung 49 Gewaltenzuordnung
337
Glei chhei tspri nzip
26. 216. 284. 286. 375
Gliedstaatsverfassung
122
Gottesbezug
373-402
- in den bundesstaatlichen Verfassungen der USA 402 - in den (Te il)ve rfas sunge n der EU 374-382 - in den Verfassungen der daten zur EU 388
Beitrittskandi-
- in den Ver fass unge n der deuts chen Bundesländer 388 - in den Verfassungen der EU-Mitg liedstaaten 383-388 - in der Verf assun g der Vereinigten Staaten von Amerika 39 3- 39 9
469 Sach wor t ver/cich nis
Great Comp romi se Grenzen Europas
27, 31, 318. 369
institutionell e Verflechtung 325 institutionelles Gleichgew icht 304. 337,
siehe auch Finalität
Gri eche nlan d 21, 155, 157, 161, 195 ,3 50. 381,382, 384 Gro ßbri tan nie n 54, 155, 156. 163, 190. 191, 203. 206. 210. 259. 327, 341, 350. 359. 365. 382. 387 Gru ndge setz 145. 146. 158 Gru ndge setz (GG ) 70. 155. 156, 159 .2 49. 254. 268. 301. 325, 336. 337. 361 Grundre chte 23, 27, 35, 36 ,4 3, 45 , 61. 69. 70. 73, 81, 87-94. 115, 124. 126, 133, 134, 139. 147. 154. 156, 174. 187,219. 230. 266, 271, 283, 286, 290. 301. 304. 331, 356-357. 361, 370. 375-382, 393 Grundrechtecharta siehe auch Europäische Grundrechtecharta Grundre chtekonve nt
87 - 94 .
137 .
167 ,
36 1 Institutionentrennung 333, 354 Integ rati on 54, 65. 68. 77. 84. 87. 93. 98. 102. 116, 119. 124, 134. 151-154. 160. 171, 182. 186. 188, 198. 199.252. 254. 259. 275, 304. 336. 352, 368. 371 - der EuGH als Motor - differen zierte I. 328 - eur opä isc he I.
16. 54. 72, 80. 98. 11 1
- in den US A
51
- politisc he I.
64
Integrationsdefizit 51 Integrationsfähigkeit Integrationsfunktion
96 siehe
Verfassungs-
funktionen
375-377 Grundrechtsbeschwerdc 307
Integralionsmethode
65
Gru ndve rtr ag
Integralionsprozess
368
87. 99. 117, 138, 180
- euro päis che r I. Haag er Kongress
Hegemonialinter 36 6
essen
Herman-E ntwurf(199 Herme neutik
Integrität - des demokra tischen Prozesses
37
205. 209, 211, 341. 4)
siehe
auch Verfassungshermeneutik Humanismus
157
381,382
Identifikationsfunktion
siehe Verfassungs-
funktionen
39, 62, 93, 106, 112,
Integrität der Verfassun g Intergouver nementalit ät 252
79- 84. 119
196. 262, 264, 291,
Hum an Righ ts Act (19 98)
98, 10 1, 118. 189. 204,
207. 303, 304. 350
58. 60
habeas corp us 21 Habeas Cor pus Act (1679)
Iden titä t
der europäisc hen I.
30 8
116, 118,
124, 130. 174. 187. 189. 216. 218, 252, 318. 338.352. 367,403 - demokra tische I. 345
43
315 75 ,8 1, 113 , 155 ,
Interp retati on 48. 122, 147 ,19 6.2 43- 244 . 251, 263, 266. 277. 291, 299. 315. 316, 39 3 Interpretation siehe auch Verfassungsinterpretation Intcrpretationsmacht 300 Interpretationsmethoden 300 Interpr etations monopol 196. 265. 291. 30 1 inv oca tio De i 373 -3 91, 399 -4 02. auch Gottesbezug
siehe
- kollektive I.
354
Iran
- kultu relle I.
320
Irland
- politische 1. 364
Island
Identitätskrise Individualität
Italien 58 .6 7. 95 , 155, 156. 163. 175. 220. 349. 379. 381.386
116 320. 323
197 158, 190. 192. 34 9, 37 9. 382. 385 350
470 Japan
Sach wort ver/ci chnis I97
judicial activism judic ial restraint judicial review
269 195, 27 7- 27 8. 280
judicial supremac y jüdisch-christlic
Konsen s 26, 27 .4 7, 75. 91. 176. 239, 276. 292. 348
229
- am Vorabe nd der Bund esv erf assu ng 27. 40 Konsensprinzip 296 Konsensverfahren 257 Konservatismus 51.403 Konstitutionalisierung 53, 76. 87, 95. 97. 110, 118. 119. 125. 142, 143. 181, 196. 197. 264. 360. 361 Kons titut ional ismus 195, 197. 247. 263.
276. 280
hes Erbe
Kanada 44,264,291 Koalition der Willige n Kolonialcharten 21 Kolonialgebiete 58 Kolonialmächte 353
378 ,38 1
352
Kommission 61, siehe auch Europäische Kommission Kompe tenza bgren zung 48. 61, 73, 101 . 109. 115, 133, 186. 334, 337. 347 Kompetenzausweitung 92 Komp ete nze n 32, 43. 48. 60. 65. 73. 77. 80. 108. 115, 123, 148, 161. 169. 171. 177. 186. 232. 234. 240, 260. 278. 281. 286. 290-301. 310. 346. 364. 366 Komp ete nzka talo g 110. 114, 115. 186 Kompete nz-Kom petenz 129 . 132 Kompete nzordnung 147 . 310 Kompetenzstreitigkeiten 171 Kompetenzüberschreitung 170 Kompetenzübertragung 252 Kompetenzverlagerung 248 Kompetenz verteil ung 61. 69. 75. 77. 81. 84. 109. 128. 160-163.318.318-331 Komplem entär verfas sung 131 . 151 Kom pro mis s 31, 33, 35. 41. 47, 63, 175. 180. 181. 224. 253. 282. 317, 319. 369. 370. 381 - als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständni sses 4 7 - 4 8 - als konstitutive s Str uktu rpr inzi p 41 - als politische Leb ens for m 41 Konf öder atio n 15, 38, 359. 362. 364 Konföderationsartikel siehe auch Articles of Confederat ion 24 Kongr ess 28. 31. 35. 48, 112, 199. 269. 271. 273, 275. 280, 332, 334. 355. 363,366. 367
222.
290.364 konstitutionelle Mode rne 30 konstitut ionelle Selb stfi ndung 4 5 - 4 7 Kontinentalk ongress 23, 27, 365 Kontrollkompetenz 234 Konvent - zur Ände rung des Europäisc hen Verfassungsvertrages 257 - zur Totalrevision bzw. Än der ung der USVerfassung 231 Konvent von Philadelphia 16. 29 - 33 , 38, 47, 224, 235, 317, 319. 348, 356, 359-372 Konventsmethode 256 Konv ents verf ahre n 140, 166. 257, 3 5 9 36 4 Kooperationsverhältnis 294. 311 Kroatien 191,388 Kultur 19. 186,218. 221. 263 ,3 59. 404 - politisc he K. 196. 264. 323. 369 - wechsels eitig e Impul se 20 kulture lle Selbstverw irklic hung kulturelle Veränderun g 41 kultureller Wandel 270 kulture lles Erbe 46. 376 Kulturtransfer 219
Legalismus
45
290
Legiti mation 39 .6 4. 71 ,7 6, 132. 152, 160. 299 Legit imati onsdef izit 80. 118. 328. 337 Legitimationsfunktion funktionen
siehe Verfassungs-
471 Sach wor t ver/cich nis
Lettland
158.349.386
Letztentscheidung
Liechtenstein 349 limited governme nt Litauen
Normenkon trolle
srecht
266. 300
274. 293, 317
North Atlantic Treaty Organisation (NATO) 60. 203. 205.210.212, 357
321
Norwegen
195
157.349.386
Locarno-Pakt
57
OECD
Lokalismus
324
Luxemburg
67.157,161,386
siehe Organisation for Economic
Co-operation and Development (OECD) off ene Gese llscha ft
266. 276. 301, 311 -
312 Magna Charta
37, 156 .38 8
offe ne Staatlichkeit
335
Malta 97.158,350,383.386 Marbury vs. Madison 271 -2 77 ,2 78 . 280.
Öff entl ichk eit
296.317 - europäi sche s M.
Organisation for Economic Co-operation
Marshallplan
128
174. 190. 300. 346. 348. 369, 373 and Development
199
(OE CD)
206
Organisation für Sicherheit und Zusammen-
Mayflow er Compac t 36, 45 Mehrheit sprinzip 148 . 220, 320 Men sche nre cht e 20. 35. 59. 64. 80, 1 11. 118. 133, 254. 321,331,351,357 Minde rhei tensc hutz Mischverwaltung
43, 50. 283. 293. 320
324
Misstraue nsvotum
arbeit in Euro pa (O SZE ) Organisationsfunktion
148, 357
siehe Verfassungs-
funktionen
srcinal meanin g Öste rrei ch
30. 229
92. 159 . 161 . 163 . 289. 291.
296. 350. 381.386
81. 162
- konstru ktives M. Monnet-Methode
51 .9 4. 119. 139, 155, 160.
OSZE siehe Organisation für Sicherheit und
162
Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
98 Pan-Europa-Bewegung
Nation 15. 38. 50. 195. 34 2- 34 3 natio nale Inter essen 108, 167, 176. 201. 367
Parlamentarismus
Nationali smus 57, 367 Nation alstaa t 57 , 62 , 103, 107, 108, 132,
Personalität
149. 160. 200. 218. 252. 328. 340. 343. 367
Parlamentsabsolutismus Partikularisierung
53-59,61
156.369 317
47
217
Peti tion of Ri gh t( 162 7)
37
Philadelphia Convention
siehe Konvent von
Philadelphia
NATO siehe North Atlantic Treaty Organisation (NATO)
Pluralism us
15. 19, 51. 293 ,32 0,3 44. 363
NATO-Doppelbeschluss
pluralistische
Öffentlichkeit
Natur recht
210
23. 26. 35. 50. 219. 372
Polen
157.163,178.192.387
neces sary and prope r claus e 32. 281 New Deal 4 2- 4 4 . 268. 287. 322
political question doctrine
New England Confede ration 25 Niederla nde 2 1.2 6.6 7,1 58. 189 . 191.220.
politisc he Veran twortli chkeit
349, 383, 386 Nordirland 163,327 normative supranati onalism
309
346 237, 240. 244,
269. 285-288 Portugal
154
155, 157, 161 . 192 ,19 5. 350 .3 87
Post-Nizz a-Prozess
135 - 13 8, 159
pouvoir constituant 36 1
118 , 131, 14 9, 23 2.
472
Sach wort ver/ci chnis
Prä ambe l
26, 38. 47. 78, 124. 133, 1 58.
182, 185-188. 267, 373. 374. 376-382, 383-391.399.40() praktische Konkordanz
Repräsenta tion 32 1
28. 152 , 216. 31 7- 31 8.
Präsidialdemokratie 49.217.354
Repräsentativsystem 320. 344 Repräsentativverfassung 50 Republi kanismus 22, 33, 342
Präsidialsystem
richterliches
Prüfungsr echt
291,317 Richterrecht
261
335
195
Prinzipien der Verfassungsinterpretation 261,307 pur suit of happiness
23, 318 .34 0.3 58. 393
Ratifikation 35, 69. 80, 100. 18 8- 19 2. 236-242. 243, 244, 257. 260. 369 Ratifikationskrise
Richtlinienkompetenz
162
Römische Verträ ge
67 -6 8, 204. 342
Rule of La w Rum äni en
291 185. 191, 350. 383, 387
188-192 Säulenmodell 79
Ratifizierung - der amerikanischen Bundesverfassung 33-35. 362, 370
Schottland
163,327
Schuman-Plan 65 Sc hw ede n 135, 158, 161, 192, 387
- der amerikanischen Bundesverfassung] 36 4
Schwei z 49, 70, 17 3,231, 313,
- des Europäischen Verfassungsvertrages 182, 188. 250. 252, 360. 371. 377
Selbstbestimmungsrecht
- von Ame ndme nts
Sklaverei
rationale 298
self-restraint
229
Rechtsprechungstätigke
it
284.
Recht und Moral 350 Rechtskultur 51.142.286 Rec htsp rec hung 20. 128 . 170. 273. 280. 283, 287. 304. 308. 308-311. 313. 322, 331,392. 396-399 - als Spiegelbild einer offenen Gesellschaft 301 Rechtssicherheit Rechtsst aat
124,272
20, 219. 271, 289. 291, 331
- sozi aler R.
266
Recht sstaa tlich keit Refer endum
57. 94. 147 .29 3,3 37
80. 116 . 159. 18 8- 19 2. 322,
Reichskammergericht
163 313
26. 124. 1 86. 342, 343, 374.
376-382. 383-388. 389. 391-399.402 Religionsbezug 376 Religionsfreiheit 227, 283. 375
226-229.288 157,349.383.387
Slowenien
157.349.387
Solidarität
217.340.358.376
Souveränität
15. 23 .2 6. 28 .3 1. 67 . 80. 93.
105. 112. 123. 127. 130. 131. 144. 149. 181, 195. 200. 204, 252, 271. 319. 325. 340. 350-353, 362-369 - d o p p e l t e s . 31 9 - we the peo ple 38 Souve ränit ätste ilung Souveränitätsverzicht Sowjetunion
105, 108 350-353
siehe UdSSR
21. 26, 29 . 155, 158, 162, 163,
178. 220. 326, 343, 350, 387 Spinelli-Entwurf Sprache
Regionalautonomie
344. 349
195
32, 235. 282, 356. 367
Slowakei
Spa nie n
349, 360
Religi on
265, 278. 289.
70-75,77,81
21,92,132,218.340
Staatenb und
24. 27. 33 ,4 6. 63, 1 04. 129.
356. 362 Staatenunion Staatenverbund
174 329
staatlic her Verbund Staatsgebiet 130.331
152
473 Sach wor t ver/cich nis
Sta ats gew alt
24. 68. 129, 130. 145, 153.
160. 219. 271. 276. 293. 299. 300. 316.
UdSSR
55.63,79.211.213,350
Umweltschut z
64. 78
331,332, 333 Staatsorganisation 147 - Re gel n der S. 35 Staatsphilosophie 27,36.149
Unabhängigkeitserklärung on ofIndependence Ungarn 158.387
Staatsrecht 49,121.216.232 Staatsreligion 392
Unio nsbü rger
Staats volk
Union Europäis cher Föderalisten
Subsidiarität
Unionsbürge rschaft
266
- for melle Voraussetzungen 61. 72, 81. 93, 11 5.
124, 139. 330. 337 Europa
105 .11 0
supranationa le Befug nisse supr anat iona le Institutionen
64 54. 109
supranation ale Integr ation supranationa le Integrations
199 -2 04 verbände
supranationa le Organisationen Supr anat iona le Union
151
69
185.218. 253. 361 siehe US-Supreme Court
supr eme law of the land susp ensi ves Vetorecht Teilrevision
Unionsvolk 250 United States of Europe siehe auch Vereinigte Staaten von Europa USA 16 -5 1, 59. 63. 68. 70. 112, 188, 197-217, 221-248, 265, 284. 285-290. 291-301.317-372, 391-404 US-Kongress
siehe Kongress
Verfassun gskonvent
221,
Verantwortungs- und Solidargemeinschaft
232
Teilve rfass ungen 159. 308. 312, 342 Textstufenanalyse 181
148 Verbraucherschutz
Totalrevisi on transatlantische
Verbund-Föderalismus
222, 231. 232, 256 Verfassungsrezeption
201
US-Supr eme Court 43, 221, 22 7- 24 8. 260. 269, 271-290. 294. 296-301, 305. 308. 313, 314, 322, 332, 391 -399 - als ständiger 27 1
45. 276 161. 259, 324
154
59. 96
- als Geburt shelfe r Europas
148. 151, 249. 316
Supra nation alitä t 62, 72, 75, 79. 113, 123. Supreme Court
154
- materiell e Vora usset zungen Unionsvertrag
Südafrika 302 Superstaat
78. 80. 98
Unio nsve rfa ssun g 41, 1 22, 151. 250. 357
218
Subsidiar itätspri nzip
60
71, 73, 76. 80. 84. 92. 112.
118. 172. 174, 250. 371
130 ,13 2,1 51, 152. 250
Staatszielbestimmungen
siehe Declarati-
194
transatlantischer Dialog 315 transatla ntisches Verf assungsfundament 219-221 trans atlan tisch es Verhä ltnis 17. 179. 197, 199-215. 351-353.403 Tra nspa ren z 76, 80, 81, 96. 98. 116, 136, 172,370 Tre nnun g von Staat und Religi on 383, 391-399.402 Tschec hische Republik 159. 192. 350. 387 Türk ei 190. 197. 350 . 357, 383, 388
78 163
Vereinigte Staaten von Amerika
siehe US A
Vereini gte Staate n von Euro pa
54. 59. 61.
67, 185, 358 Verfahrensgerechtigkeit Verfa sstheit
315
der Union
52, 85, 96, 142,
180. 361 Verfassung
404
- einzelstaatliche
V.
27. 32 .4 5. 225. 323,
356.402 Verfassungen
der Einzel staaten
399-402 verfas sunggebend e Gewalt
39, 249
23 - 29 .
474
Sach wort ver/ci chnis
Ver fas sun ggeb ung 71, 221-317. 327. 358-372
83,
144,
149,
- Begre nzungs funkt ion 126, 133
73, 80. II I, 114 ,
- amerikanische V. 221 ,3 53 - eur opäi sche V. 155
- Identifik ationsfunkti 134
- ge bunden e V.
-Int egra tions funkt ion 250
116- 118.
- Legitimations funktion 123. 131.284 - Organisa tionsfunkti on 118. 133
66, 81, II I. 1 16,
- kreativ e V. - nationale
222
26 0- 31 7
Erfah rungsw erte
159
Verfassunggebung in der Supranationalen Union
249
Verfa ssunggeb ungsproz ess
17, 100. 173 .
358-364. 369-372 Verfassungsänderung
28. 81, 22 2- 26 0.
299.316
on
111 , 11 6- 11 8,
66, 73, 111. 114,
Verf assungs gemeins chaft
188 . 221
- Struktur elemente der V.
317
Verf assung sgeri chtsba rkei t
141, 195. 260,
268. 271.284-317
Verfa ssungsände rungsve rfahre n 81. 141 Verfa ssungsbeg riff
- Funktio nen der V.
28 4. 29 0- 30 1
46. 120. 122. 14 0- Gebur tsstunde der V. 271 - Interpretat ionsmonopol der V.
163.342 - erw eite rte r V.
361
- eur opäi sche r V. - f orme lle r V.
- Kompetenzen
142. 270. 302
der V.
- Prinzi pien der V.
146
- selb stä ndi ge V.
307 27 8. 284 .2 97 -3 01
146
- vergl eichen de Lehr e von der V.
- nor mat ive r V.
122. 145. 153
Verfassun gsgeschichte
- normative r staatsbez ogener V.
149
V.
150 ,15 2
Verf assu ngsbe stät igung Verfassungsdilemma
- ameri kanis che V. - euro päisc he V.
150
- postnationaler
19, 40. 41, 188
20,18 2,22 2.246 .392 16. 51
- tra nsatla ntisc he V.
220
Verfa ssungsher meneuti k
Verfassungsentwicklung 19.20.41.42,51. 142, 221.252. 256. 299.316. 355
260-317 Verfassungsinterpreten
- als lineare r Proze ss
- Kreisla uf der V.
119
- als mehr poli ges Syst em
119
- Kontinui tät der V. 335 Verfassungsentwurf des Europäischen Par70-75.76
Verfassungsentwurf des Europäischen Par89
Ver fass ungsf ähig keit
30. 241, 248.
268 269
- offene Gesellschaf t der V. 26 6. 26 8. 276 Verfassungskontrolle
195
Verfassungskonvent
siehe
Europäischer
Konvent od. Konvent von Philadelphia Ver fass ungsk ultu r
19. 197. 221. 245. 268.
270. 291.308
Verfassungs ergänzung 246.256 Verfassungserweckung
196 . 264, 291
Verfassungsimperialismus 403
151
Verfass ungsinterpre tation
laments (1994)
313
144 . 173, 372
Verfassungsdynamik 369
la men ts (1 984 )
196,26 5
29 0- 30 1
- ma terie ller V.
- of fe ne r V.
134,
222.22 9. 238.245 .
Verfass ungslehre
151 . 264. 269
- amerik anisch e V. 19 140. 152. 185
- Vorau ssetz ungen der V. 146. 147 Verfassungsfunktionen 66. 111 -11 8. 284
- de utsc he V.
233, 307
266
- e urop äis che V.
307
Verfassungsleitbilder 342 Verfassungsmoderne 342
475 Sach wor t ver/cich nis
Verfassun gsorgane 33 3
51. 219 ,26 9,2 80. 305.
Verfassungsorganqualität 297 Verfassungspatriotismus 156 - amerikanischer
V.
Vertra g von Ams ter dam 133, 342, 375 Vertra g von Lissa bon Vertrag von Maastricht
49
- Entst ehung des V.
24- 38
192 75. 77 - 79 . 8 0. 85.
119. 123. 133, 190. 258. 330. 342
40 .4 9
- euro päis che r V. 117, 371 Ver fas sungs prin zipi en 18. 28. 142, 194. 222, 293, 307. 382 Verfa ssungssc höpfung 159 . 363 Verfassungssta at 18. 134 . 151 . 160 .22 1. 266, 299.316, 374 - a merikani scher V.
84. 88. 99. 124.
- Grundgedanken und Strukturelemente desV. 317
Ver tra g von Ni zz a 96. 99. 116. 124. 1 35. 175. 178. 190. 191.317 Völk err echt 26. 74. 79. 121, 125, 126, 129-130. 148. 151. 153,219. 249. 250. 253, 255. 351 Völkerrechtsfreundlichkeit 335 Volksbegehren 161 Volkse ntschei d 34. 159. 161 Volks souv eränit ät 24 .2 6. 28. 39. 10 1. 181. 195, 216. 273, 282, 290. 321, 344. 362. 36 5
- verfassungsgerichtliche Interpretationspotenti ale im V. 291
Wahlprüfungsverfahren
Ver fas sung sthe orie 250.317
122, 146, 147, 170.
Wahlrecht 31,123,226,236 Wä hr un g 54, 18 8. 208. 210. 355
- ame rikanisc he V.
306
Währ ungsuni on Wales 163,327
Verfassungstypen
122
Verfassu ngsver ständn is
36. 140 -16 3,1 84.
245, 270. 306.403 - amer ikan isc hes V.
47, 194. 247
293
77, 85
Wandelverfassung 122 Wertegemeinschaft 116
- einh eitli ches V.
142
- eur opäi sche s V.
51
- zwis chen Euro pa und USA 357 Weste rn Civiliz ation 21 Westeuropä ische Union (WE U) 78. 212.
185
W E U siehe Westeuropäische Union (WEU)
- for mal es V.
21 4
185
- fu nkti onel les V.
- ge mis cht es V. 141, 142 - staat szentr ierte s V. 185 - über grei fend es V.
142
Widerstandsbewegungen 57-59 Wieder vereinig ung 79. 213, 268 Wieder vereinig ung Europas 97
Ver fass ungsv ertr ag
16. 70. 76. 85. 99.
Wirtsc hafts- und Währ ungsu nion
101
100. 109, 116. 135, 147. 154, 164. 170. 174, 179. 180-192,221,249-260,306, 312. 315, 350, 355. 357. 361. 364. 372, 66. 146 . 293
Verfassungs-Vorverständnis
154-163
Verfassun gswirklichke it 330, 369.403 Verhältnismäßigke Vernunftrecht 23 Versteinerungstheorie
356 HO, 151 , 16 9- 17 1. 279.
356. 365
374-382 Verfassung svorrang
Zentralbanksystem Zentrali sierung
itsprinzip 295
194. 314, 321. 124 . 219
Zent ral ismu s
33. 74. 106. 319. 328
Zivilgesel lschaft
47. 81. 88. 172 , 373
Zivilisationsprozess
192
Zollunion 70.78 Zweikammerlegislative 32 Zwei kamme rsys tem 28. 47. 251. 324 Zypern 97.157.350.388