Zusammen sind wir stark. Damit das so bleibt, muss gute Arbeit fair bezahlt werden, auch im digitalen Wandel. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sichert das mit dem Mindestlohn sowie klaren Regeln für Leiharbeit und Werkverträge. Im Weißbuch Arbeiten 4.0 zur Digitalisierung in der Arbeitswelt haben wir Maßnahmen gesammelt – damit Arbeit auch in Zukunft zum Leben passt. www.bmas.de
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung Betr.: Titel, Doping, DEIN SPIEGEL ie meisten Paare reden heute sehr offen miteinander, etwa über sexuelle Vorlieben, nur ein Thema sparen sie oft aus: Geld. Die Frage, „Was ist Dein und was ist Mein?“, gilt als das letzte Tabu in vielen Beziehungen. Vor allem für Frauen kann das verhängnisvoll sein. „Wie viel kann ich arbeiten, ohne meinem Kind zu schaden? Darüber diskutieren junge Mütter oft und heftig. Die Frage aber, wie viel sie arbeiten sollten, um sich eine eigene Altersvorsorge aufzubauen, verdrängen sie häufig“, sagt Anne Seith, die zusammen Seith mit Silvia Dahlkamp, Isabell Hülsen und Ann-Katrin Müller recherchiert hat, warum die meisten Paare, ob gewollt oder nicht, bei der klassischen Rollenverteilung landen: Er verdient das Geld, sie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. In kaum einem anderen Industrieland sind Frauen finanziell derart abhängig von ihrem Mann wie bei uns; in kaum einem ist ihr Armutsrisiko größer. „Familienpolitische Maßnahmen wie das Elterngeld konnten an den Verhältnissen wenig ändern“, schreiben die Autorinnen, „sie werden von Gesetzen wie dem Ehegattensplitting konterkariert.“ Sie kommen zu dem Schluss: Eine Frau zu sein und Mutter zu werden, ist ein ökonomisches Wagnis. Seite 10
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m September veröffentlichte die Hackergruppe „Fancy Bears“ auf ihrer Website interne Dokumente der Welt-Anti-Doping-Agentur, darunter befanden sich auch medizinische Daten von Topathleten, die kurz zuvor bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro Medaillen gewonnen hatten. Rafael Buschmann nahm daraufhin per E-Mail mit den Hackern Kontakt auf, aber es vergingen drei Monate, bis sie Eberle, Buschmann, Henrichs zurückschrieben: ob der SPIEGEL Interesse an vertraulichen Unterlagen habe? Er hatte. Es kamen fünf Datenpakete in Hamburg an, PDF-Dateien und Word-Dokumente sowie mehrere Hundert E-Mails von Mitarbeitern der amerikanischen Anti-Doping-Agentur Usada. Lukas Eberle, Christoph Henrichs, Gerhard Pfeil und Buschmann prüften zunächst, ob das Material echt ist, dann werteten sie es aus. Die Daten liefern einen tiefen Einblick in die Arbeit der Dopingjäger, wie sie taktieren und zupacken. „Sie haben einen Job, der dem von Geheimagenten ähnlich ist“, sagt Eberle, „leider ist ihre Erfolgsquote verschwindend gering.“ Seite 96
IRIS CARSTENSEN / DER SPIEGEL
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL
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äre der Oberschenkelknochen eines Menschen stabil genug, um ein Auto zu tragen? Und falls ja, was für ein Auto? Haben wir wirklich nur fünf Sinne? Und warum landet unser Essen auch dann im Magen, wenn wir es im Kopfstand verspeisen? DEIN SPIEGEL, das Nachrichten-Magazin für Kinder, präsentiert in der Titelgeschichte 50 Fakten zum Staunen über den Körper des Menschen. Außerdem erklärt das Magazin, wie ein Buch entsteht – von der Idee bis zum bedruckten Papier. Die neue Ausgabe erscheint am kommenden Dienstag. DER SPIEGEL 3 / 2017
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Trumps Welt
JÖRG CARSTENSEN / DPA
FABRIZIO BENSCH / REUTERS
HEINRICH HOFFMANN / ULLSTEIN BILD
DAMON WINTER / NYT / REDUX / LAIF
USA Sein Drang nach Bewunderung ist übergroß. Wer ihn kritisiert, wird aggressiv angegangen. Die Ferndiagnose für das Verhalten Donald Trumps lautet: „ausgeprägt narzisstisch“. Die Welt wird lernen müssen, wie sie mit diesem Präsidenten umgeht. Seiten 82 bis 90
Nach Ihnen, bitte
Verzweifelte Fahnder
Leben im Rausch
Parteien Prominente grüne Frauen, die um die Macht kämpfen? Finden sich kaum. Ausgerechnet die Partei, die sich mehr als jede andere um die Gleichberechtigung bemüht, hat momentan ein Frauenproblem. Eine Suche nach den Gründen. Seite 38
Doping In den Monaten vor Olympia sind die Dopingjäger besonders aktiv: Sie wollen Betrüger vor den Wettbewerben erwischen. Interne Dokumente der US-Spezialeinheit, die dem SPIEGEL zugespielt wurden, zeigen, wie hilflos und ohnmächtig die Fahnder oftmals sind. Seite 96
Legenden Der Schriftsteller Hans Fallada war ein Extremist: Alkoholkrank und morphiumsüchtig, schrieb er seine Romane in den Dreißiger- und Vierzigerjahren in Rekordzeit. Eine Biografie schildert nun sein mysteriöses Leben. Seite 116
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Titelbild: Foto: Axel Martens für den SPIEGEL, Illustration DER SPIEGEL
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In diesem Heft Titel Familie Die klassische Rollenverteilung ist
ökonomisch riskant, in Deutschland aber noch weit verbreitet Debatte Das Jahr 2017 muss für den Feminismus besser werden
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Deutschland Leitartikel Die Fußfessel ist mit dem liberalen Rechtsstaat nicht vereinbar 6 Meinung Kolumne: Der schwarze Kanal / So gesehen: Ein Toast auf Wurstminister Christian Schmidt 8 Deutsche Geheimdienste warnen vor russischer Spionage / Abgasuntersuchung wieder für alle Autos / Bundeswirtschaftsministerium ist baufällig 20 Sicherheit Die politische Beißhemmung im Fall Anis Amri 24 Terrorismus Lassen sich potenzielle Attentäter mithilfe von Fußfesseln überwachen? 28 Essay Eine neue Ära der Informationskriege hat begonnen 30 Rüstung Minister Sigmar Gabriel will Waffenexporte vom Parlament genehmigen lassen 32 Europa Ein Zögling von Silvio Berlusconi soll EU-Parlamentspräsident werden 34 Kriminalität In einem Fall von betrügerischem Emissionshandel glauben die Ermittler, den Drahtzieher gefunden zu haben 36 Parteien Ausgerechnet die Grünen haben ein Frauenproblem 38 Extremismus Der Totalitarismusforscher Steffen Kailitz zum bevorstehenden Ende des NPD-Verbotsverfahrens in Karlsruhe 40 Entwicklung Die Bundesregierung plant einen radikalen Wandel ihrer Afrikapolitik 42 Recht Warum es nach Vergewaltigungsanzeigen so selten zu Verurteilungen kommt 44 Zeitgeschichte Wie Erich Honecker CSU-Chef Franz Josef Strauß in Verhandlungen um den Milliardenkredit für die DDR austrickste 48 Subventionen Die Tagebücher von Kurt Biedenkopf bringen Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich in Bedrängnis 50
70 SPIEGEL-Jahre Briefe kritischer Leser – und die Antworten der Redaktion 52
Gesellschaft Früher war alles schlechter: Rückläufige Zahl von Abtreibungen / Jogginghosen als moderne Keuschheitsgürtel Eine Meldung und ihre Geschichte Die Mutter eines behinderten Sohnes gab ihr Bundesverdienstkreuz zurück Klischees Was die EU uns an Geschenken macht – und warum es keiner merkt Kolumne Leitkultur
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Wirtschaft Maut könnte Minusgeschäft werden / Bahn wird pünktlicher / Linde-Aufsichtsrat Wolfgang Reitzle im Visier der BaFin 66 Dieselskandal Volkswagen feiert die Einigung mit der US-Justiz, doch ausgestanden ist die Betrugsaffäre noch längst nicht 68 Bergbau Die RAG hat ihr Problem mit giftigen Abwässern nicht gelöst 71
Konsum Craft-Beer-Pionier Greg Koch verrät, wie er Deutschland für Feinkostbier begeistern will 72 Landwirtschaft Die Politik hat die Gefahren durch Überdüngung lange ignoriert 74 Luftfahrt Die First Class hat ein Imageproblem – sie gilt einfach als zu teuer 76 Presserecht Die Komikerin Carolin Kebekus wehrt sich gegen Berichte über ihr Privatleben – warum eigentlich? 77
Ausland
Lesen Sie den SPIEGEL doch mal hier:
Analyse: Der vermeintliche Pressedeal des israelischen Premiers Netanyahu / Setzte Indiens Regierungspartei Trolle ein, um Gegner zu diffamieren? 80 USA Der Narzisst im Weißen Haus – wie tickt, was treibt Donald Trump? 82 SPIEGEL-Gespräch mit Trump-Berater Newt Gingrich über den zukünftigen Kurs des neuen Präsidenten 88 Affären Das Trump-Dossier und seine Folgen 90 Türkei Die Entlassungen beim Militär nach dem Putsch werden zum Problem für die Nato 92
Sport Fußball könnte auch Olympia überholen / Magische Momente: Anni Friesinger-Postma über ihren legendären Sturz bei Olympia 95 Doping Interne Dokumente zeigen, wie hilflos selbst die härtesten Fahnder gegen Betrüger sind 96
Wissenschaft Europas Grenzzäune werden Wildtieren zum Verhängnis / 500 Jahre alte Armprothese entzückt Historiker / Kommentar: Keine Schlafmittel für Babys 102 Zeitgeschichte Welches Geheimnis birgt der Nazibunker in Ludwigsfelde? 104 Netzwelt Wenige Fitnesstracker machen fit, alle schlampen mit Nutzerdaten 107 Medizin Lange Wege mit Wehen – die Schließung von Geburtsstationen macht Schwangeren Angst 108 Verkehr Seelenlos auf See – Ingenieure entwickeln das autonom fahrende Schiff 112
Kultur Nazis fälschten „entartete“ Kunst / „The Great Wall“ – China und Hollywood vereint / Kolumne: Zur Zeit 114 Legenden Eine Biografie über Hans Fallada erzählt von der Selbstzerstörung eines Schriftstellers 116 Ökonomie Nobelpreisträger Angus Deaton im SPIEGEL-Gespräch über die Armut, die der Wohlstand produziert 122 Klassik Die Karriere der HolocaustÜberlebenden Zuzana Růžičková 128 Konzertkritik Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie 130 Bestseller Impressum, Leserservice Nachrufe Personalien Briefe Hohlspiegel / Rückspiegel
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Leitartikel
Der Staat und seine Feinde Die elektronische Fußfessel für Gefährder verstößt gegen Grundprinzipien des Rechtsstaats.
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solche gelten. Die Fußfessel für Gefährder ist eine vorweggenommene Strafe, eine Strafe vor der Tat. Sie schränkt die Freiheit eines Menschen ein und verletzt seine Privatsphäre. Sie ist auch ein Stigma. Der deutsche Rechtsstaat bestraft diejenigen, die gegen ein Gesetz verstoßen haben. Das Urteil fällt ein Richter nach fairer Verhandlung. Doch um als Gefährder eingestuft zu werden, muss man nicht gegen das Gesetz verstoßen haben. Es reicht, wenn die Behörden glauben, man könnte es in Zukunft tun. Es geht um unterstellte Absichten, um die Gesinnung. Das widerspricht der Idee des Strafrechts: Verfolgt und bestraft wird, wer Böses tut, nicht, wer Böses denkt. Dieser Grundsatz wurde in den vergangenen Jahren aufgeweicht, etwa durch das BKA-Gesetz. Es bietet dem Bundeskriminalamt rund 20 Möglichkeiten zur präventiven „Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“: von der Rasterfahndung über die Telefonüberwachung bis zum Gewahrsam bei Gefahr. Die rechtlichen Möglichkeiten müssen nur ausgeschöpft werden. Im Fall Amri ist das unzureichend geschehen. Die Fußfessel öffnet die Tür zu verführerischen Gedanken. Wer könnte sie noch tragen? Auffällige Jugendliche, die später zu Schlägern werden könnten? Alkoholiker, die Auto fahren? Rechte, denen man einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim zutraut? Alle, die dem Staat und seinen Bürgern – vielleicht, irgendwann – gefährlich werden könnten? Alle seine Feinde? Ein Staat, der zwischen Freund und Feind unterscheidet, war die Kernidee des Staatstheoretikers Carl Schmitt, des Kronjuristen der NS-Zeit. Ein solcher Staat war die Basis für George W. Bushs Krieg gegen den Terror. Für die Feinde galten die Prinzipien des Rechtsstaats nicht mehr: Auch in Guantanamo wurde nicht auf Grundlage von Taten, sondern Annahmen bestraft. Denkt man die Idee der präventiven Fußfessel zu Ende, landet man in Guantanamo. Der Staat muss die Risiken für eine Gesellschaft so weit wie möglich verringern, ganz ausschließen kann er die Gefahr nicht. Die absolute Sicherheit muss eine Illusion bleiben. Zu versuchen, sie zu verwirklichen, würde bedeuten, den liberalen Rechtsstaat und seine Prinzipien zu opfern. Das Risiko ist der Preis unserer Freiheit. Er ist manchmal unerträglich hoch. Eine liberale Demokratie muss ihn zahlen. Martin Knobbe RETO KLAR
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s gibt Erfindungen, die ihre Erfinder später bereuen. Michail Kalaschnikow, der Entwickler des berühmten Sturmgewehrs, soll dazugehören, oder Robert Propst, der Designer des „Office Cubicle“, der umsteckbaren Bürowabe. Er hat die letzten Jahre seines Lebens damit verbracht, sich dafür zu entschuldigen, welch grauenhafte Arbeitslandschaften er ermöglicht hat. Auch die Brüder Robert und Kirkland Gable, zwei Psychologieprofessoren, zeigten sich beschämt, was aus ihrer Idee wurde. Sie hatten in den Sechzigerjahren ein Gerät entwickelt, mit dem jugendliche Straftäter überwacht wurden. Die elektronische Fußfessel sollte helfen, die Täter wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wer sich an Auflagen hielt, wurde belohnt, etwa mit einer Karte für ein Baseballspiel. Heute tragen in den USA zum Beispiel entlassene Sexualstraftäter den Empfänger am Bein. Bewegen sie sich etwa außerhalb eines bestimmten Gebiets, kommt die Polizei. Die Fußfessel ist zu einem Instrument der Überwachung und Bestrafung geworden, sie dient auch der Warnung: Seht her, dieser Mann könnte Böses im Schilde führen! Nun sollen nach dem Willen der Großen Koalition in Deutschland auch Menschen, die der Staat für mögliche künftige Straftäter hält, eine solche Fessel tragen. Nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz ist der Ruf nach schärferen Gesetzen verständlich. Ein terroristischer Anschlag erschüttert einen Staat in seinen Grundfesten. Er konnte das Leben seiner Bürger und Gäste nicht schützen. Der Vertrauensverlust ist das Schlimmste, was ihm passieren kann. Deshalb ist es richtig zu fragen, warum gegen den Attentäter Anis Amri nicht die Abschiebungsanordnung nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes erlassen wurde. Warum ihn die Behörden an der langen Leine ließen. Warum sie seine Gefährlichkeit unterschätzten. Gesetze müssen konkretisiert werden. Gefährlich wird es, wenn die vorgeschlagenen Reformen den Rechtsstaat infrage stellen. Die Kategorie Gefährder steht in keinem Gesetz, sie ist ein Arbeitsbegriff der Polizei. Sie bezeichnet eine Person, der man „politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung“ zutraut. So pauschal, so schwammig. Wen sie als Gefährder einstuft, entscheidet jede Landespolizei selbst. Viele Gefährder wissen nicht einmal, dass sie als
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Meinung Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Mitleid mit Simone Peter Mir ist vergangene Woche etwas passiert, was mir zu denken gegeben hat: Ich habe Mitleid mit Simone Peter bekommen. Die GrünenChefin hat nach dem Polizeieinsatz in Köln Zweifel geäußert, ob alles mit rechten Dingen zugegangen sei, wofür sie sehr kritisiert wurde. Auch die eigenen Leute fielen über sie her. Weil Peter immer so redet, als würde sie nur Ausrufezeichen kennen, halten sie viele für eine schreckliche Nervensäge. Dennoch fand ich die Reaktion übertrieben. Darf man als Grüner nichts mehr gegen die Polizei sagen? Die Grünen überbieten sich gerade darin, weniger grün zu erscheinen. Katrin Göring-Eckardt will jetzt im Nachhinein die Identität von Flüchtlingen überprüfen lassen. Katrin Göring-Eckardt! Die Frau, die gesagt hat, dass wir für jeden Flüchtling dankbar sein können, weil „wir Menschen geschenkt“ bekommen. Wenn das so weitergeht, sind auch die Ökos bald dafür, dass es mehr Schweinefleisch in Kantinen gibt und man den Tunesiern die Entwicklungshilfe streicht, wenn sie nicht bei der Abschiebung spuren. Ich habe nichts dagegen, wenn Politiker zur Einsicht gelangen, dass sie falschlagen. Aber auch bei Parteien gibt es Traditionen, die man respektieren sollte. So wie es sich als guter Sozialdemokrat gehört, in der Gewerkschaft gewesen zu sein, war man bei den Grünen immer stolz, im Häuserkampf dem Bullenstaat die Stirn geboten zu haben.
Kittihawk
Man kann überall eine Abwendung von den alten Idealen beobachten. Die Linkspartei versucht gerade in Person ihrer Fraktionsvorsitzenden, die AfD zu überholen. Merkel ist mitschuldig an dem Anschlag in Berlin, die Flüchtlingspolitik war ein Fehler: Wenn man nicht wüsste, dass Sahra Wagenknecht spricht, könnte man glatt denken, man hätte Beatrix von Storch vor sich. Auch die Mauer und damit den Schusswaffengebrauch an der Grenze hat Wagenknecht früher verteidigt, das ist eine weitere Schnittmenge. Wer weiß, vielleicht kommt bald die Partei „AfD/Die Linke“. Mit Fusionen kennt man sich bei der Linkspartei ja aus. Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass sich alle immer ähnlicher werden. Politik lebt davon, dass man als Wähler die Auswahl hat, das unterscheidet die Demokratie von anderen Regierungsformen. Wenn im Bundestag vier mehr oder weniger linke Parteien sitzen, ist es kein Wunder, dass ein Teil der Leute den Eindruck bekommt, es brauchte wieder eine richtige Opposition. Genauso falsch wäre es aus meiner Sicht, wenn alle plötzlich das Gefühl hätten, sie müssten nach rechts schwenken. Bei Schwerkranken soll künftig die Kasse die Kosten fürs Callgirl übernehmen, das hat jetzt die pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Elisabeth Scharfenberg, gefordert. Sex auf Krankenschein: Ich bin dafür! Auf so eine Idee können nur die Grünen kommen, gottlob. Das hat mich wieder etwas beruhigt. An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Markus Feldenkirchen und Jan Fleischhauer im Wechsel.
Der Flexaner So gesehen Ein Toast auf Bundeswurstminister Christian Schmidt In einer Zeit der Nahrungsverweigerer und Magenverkleinerer ist es schön, Christian Schmidt in der Regierung zu haben. Der Bundesernährungsminister von der CSU nimmt sein Amt wörtlich. Er ernährt sich, und zwar gerne. Wenn demnächst in Berlin die Grüne Woche beginnt, wird Schmidt bei seinem Messerundgang wieder genüsslich in jedes Würstchen beißen, das man ihm anreicht. Schinken, Käse und Fisch sind auch willkommen. Schmidt verweigert sich allen aktuellen Ernährungsmoden, die ja im Wesentlichen nicht aus Nahrungsverzehr, sondern aus Nahrungsverzicht bestehen, von zuckerarm und fettreduziert bis Low Carb und glutenfrei. Während die Bio-Bewegung nächsten Samstag unter dem Motto „Wir haben es satt“ durch Berlin ziehen will, hält er sich lieber an „Futtern wie bei Muttern“. Das ist unmodern und wohl auch nicht immer sehr gesund. Aber im Gegensatz zu Greenpeace, Foodwatch und Anton Hofreiter von den Grünen kommt Schmidt dankenswerterweise nicht auf die Idee, anderen Leuten vorzuschreiben, sie müssten sich genauso ernähren wie er selbst. In einem Interview hat sich Schmidt einmal versehentlich als „Flexaner“ bezeichnet. Da lachte die biovegane Szene, denn wie jeder fortschrittliche Mensch weiß, muss es natürlich „Flexitarier“ heißen. In Wahrheit jedoch hat Schmidt ein wunderbar passendes Wort geschaffen: So wie dem „Veganer“ das Tier am Herzen liegt, liebt der „Flexaner“ den Menschen so, wie er isst. Alexander Neubacher
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VOM SCHWIMM-CHAMPION ZUR WELTWEITEN EXPORTEURIN Jeder Sportler strebt nach Erfolg, so auch die brasilianische Schwimmerin Fabiola Molina, die 2005 ihr Online-Unternehmen für Bademode gründete. Mit der Nachfrage wuchs der Bedarf für einen weltweiten Export. Dank FedEx Express und seinem globalen Netzwerk in über 220 Ländern und Regionen konnte Fabiola mit ihrem Unternehmen expandieren. Jetzt freuen sich Schwimmerinnen und Schwimmer auf der ganzen Welt über die Qualität und das Design ihrer bunten Bademode. FedEx connects you to a world of opportunity. Erfahren Sie mehr auf fedex.com/de/global
Titel
Reden ist Geld Familie In kaum einem anderen EU-Land hält sich die klassische Rollenverteilung so beharrlich wie in Deutschland: Er verdient das Geld, sie kümmert sich um die Familie. Das ist gefährlich, für Männer und für Frauen.
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s war der Tag einer Karrierefrau: Tina Rademacher, damals Deutschlandchefin der Werbeagentur J. Walter Thompson, hetzte von Termin zu Termin. Mittags blieben ihr ein paar Minuten für ein Sandwich. Abends eilte sie zum Flieger nach Hause. Als die Maschine eine gute Stunde später landete und Rademacher ihr Handy einschaltete, erschien eine SMS: „Wo bist du?“ Die Managerin rannte in Pumps und Kostüm an den Gepäckbändern vorbei, zwei Rolltreppen hoch bis zur Airport Security. Dort wartete ihr Mann, der sich um seine Maschine nach New York sorgte. Neben ihm: die beiden übermüdeten Kinder, heute fünf und acht Jahre alt. Während ihr Mann hinter der Sicherheitskontrolle verschwand, schob Rademacher die Söhne zum Ausgang. Zu Hause bekam der Jüngste einen Wutanfall, weil er eine Gutenachtgeschichte wollte. Müde fiel Rademacher danach ins Bett, einen 18Stunden-Tag hinter sich. „Das ist doch krank“, dachte sie. Keine zwei Jahre ist das jetzt her und eine Episode aus einem anderen Leben. Rademacher, 44, hat ihren Job aufgegeben. Die preisgekrönte Managerin kümmert sich um die Kinder. Für den Unterhalt der Familie sorgt derzeit: ihr Mann. „Zwei Karrieren, zwei Kinder, das ist in Deutschland nahezu unmöglich“, sagt sie. Es ist die moderne Fassung einer alten Geschichte: Er verdient das Geld, sie kümmert sich um Haushalt und Kinder. Zwar sind Frauen heute so gut ausgebildet wie nie zuvor. Doch am Ende landen die meisten Paare, gewollt oder nicht, bei dieser klassischen Rollenverteilung, vor allem in den alten Bundesländern. Obwohl eine solche Biografie zur ökonomischen Falle werden kann. Christine Veicht, 54, hat das gerade schriftlich bekommen. Sie sitzt mit hängenden Schultern in ihrer Frankfurter Wohnung auf der Couch, vor sich den jüngsten der jährlichen Rentenbescheide: 316,60 Euro im Monat wird sie voraussichtlich bekommen, wenn sie alt ist. „Das ist die Strafe dafür, dass ich meine Kinder erzogen habe“, sagt Veith bitter. Sie und ihr Exmann lebten das klassische Familienmodell: Sie kümmerte sich
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um Haushalt und Kinder, er brachte als selbstständiger IT-Berater das Geld nach Hause. Heute ist der jüngste Sohn 18, die Ehe geschieden und Veichts Konto leer. Als sie noch verheiratet war, hatte sie über eine solche Situation nie nachgedacht. Wie selbstverständlich übernahm Veicht die unentgeltliche Hausarbeit, ohne mit ihrem Mann über den Fall einer Trennung oder ihre Altersvorsorge zu sprechen. Das wäre ihr schlicht nie in den Sinn gekommen, sagt Veicht. So ist es in vielen Partnerschaften: Geld ist das letzte große Tabu – zumindest, wenn es um die Frage geht, was wem gehört. Etliche Paare schlittern in ein Abhängigkeitsverhältnis, ohne die Folgen zu besprechen. „Über sexuelle Wünsche reden die meisten heute sehr offen mit ihrem Partner, aber kaum ein Paar möchte seine Liebe durch so etwas Profanes wie Geld beschädigen“, sagt der Paarberater Michael Mary (siehe SPIEGEL 43/2016). Vor allem Frauen täten sich schwer, ökonomische Forderungen zu stellen und sich um die eigenen Finanzen zu kümmern. Dabei hätten gerade sie es nötig. In kaum einem anderen Industrieland sind Frauen finanziell derart abhängig von Männern – und in kaum einem ist ihr Armutsrisiko so groß. Männer haben in Deutschland im Schnitt ein fast 40 Prozent höheres Einkommen, ihre Altersbezüge sind beinahe 60 Prozent höher. Auch ihr angespartes Vermögen ist größer. Rund 40 Prozent der Alleinerziehenden sind hingegen arm, und rund 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. Familienpolitische Maßnahmen wie das Elterngeld konnten an den Verhältnissen wenig ändern. Sie werden von Gesetzen wie dem Ehegattensplitting konterkariert, das eine konservative Aufgabenteilung zwischen Frau und Mann zementiert. Die Folge dieser politischen Halbherzigkeit lässt sich in einem knappen Satz beschreiben: Frausein – oder zumindest Muttersein – ist ein finanzielles Risiko. Und es kommt erst zum Tragen, wenn es zu spät ist: wenn die Familie zerbricht. Das Einkommen von Männern steigt Studien zufolge im Schnitt nach einer Trennung sogar an.
Doch auch Männer kann eine Trennung an den Rand des Ruins treiben. So wie Martin Fischer. Er ist 40, verdient als Wachmann und freier Sporttrainer etwa 1500 Euro netto im Monat – und zahlt davon rund 540 an seine Exfreundin für die beiden Söhne, 7 und 2. Vom Rest muss er nicht nur sein eigenes Leben finanzieren, sondern auch astronomische Rechtsanwalts- und Gerichtskosten stemmen, denn der Clinch mit seiner früheren Partnerin ist derart eskaliert, dass allein für die Regelung des Umgangs mehrere Gerichtsund Vermittlungsverfahren nötig waren. „Ohne die finanzielle Unterstützung von Freunden und meiner neuen Partnerin, die einen Großteil der alltäglichen Unterhaltskosten übernimmt, würde ich es gar nicht schaffen“, sagt Fischer. Dann könnte er nicht einmal eine Wohnung mit Kinderzimmer finanzieren. Vorbereitet auf eine solche Situation war auch Fischer nicht. Wenn in seiner früheren Beziehung mal über Geld gesprochen wurde, artete das meist in Streit aus. Fischers frühere Freundin gab aus seiner Sicht zu viel aus, sie wiederum wollte einfach, „dass wir es wieder schön haben“, wie er sich erinnert. Der Klassiker unter den Pärchenstreitereien – und keine gute Basis für ein ruhiges Gespräch. So ist es bei vielen Paaren. Statt dass sie für den Fall der Trennung Vorsorge treffen, ähnlich wie man es für den Todesfall oder einen Wohnungsbrand macht, ist Geld allenfalls ein alltägliches Streitthema. 41 Prozent der Deutschen wissen laut Umfragen nicht einmal, was der Partner verdient. Es gilt das Prinzip Hoffnung, dass die eigene Ehe nicht zu dem Drittel jener gehört, die auseinandergehen. Denn das kann den finanziellen Absturz bedeuten.
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or Kurzem bekam Christine Veicht, die geschiedene Mutter von drei Kindern, quälende Zahnschmerzen. Unter einer alten Füllung steckte Karies. Der Zahn konnte gerade noch gerettet werden. Sonst hätte sie jetzt die erste Lücke im Mund, denn die 500 Euro für eine Brücke hätte sie nicht aufbringen können. Den Sommer, in dem Veicht ihren Mann kennenlernte, nennt sie dennoch die glücklichste Zeit ihres Lebens. Er besuchte sie regelmäßig in dem Möbelhaus, in dem sie
MARIA FECK / DER SPIEGEL
Ehemalige Managerin Rademacher: Oft als Beispiel hergehalten, dass alles eine Frage des Willens sei
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jobbte. Die Kolleginnen beneideten sie um diesen großen, souveränen Typen. Veichts Mann war selbstständiger IT-Berater, verdiente an manchen Tagen 1000 Mark. Es war keine Frage, dass die gelernte Theaterpädagogin nach der Geburt des ersten Kindes vor 25 Jahren zu Hause blieb. „Das war normal“, sagt Veicht. Die Frau hielt dem Mann den Rücken frei. Die Kindergärten schlossen mittags. Sie erinnert sich, wie sie einmal mit Freundinnen über eine Frau diskutierte, die ihren Sohn zur Tagesmutter gab und arbeiten ging. Alle im Dorf waren überzeugt: „Das Kind bekommt einen Schaden.“ Den Schaden, den ihr eigenes Leben genommen hat, kann Veicht an ihrem Rentenbescheid und ihren Kontoauszügen ablesen. Einen festen Job hat sie nach der Scheidung nicht gefunden. „Eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur sagte mir knallhart, ich sei am Arbeitsmarkt nicht existent“ – weil sie jahrelang keiner regulären Beschäftigung nachgegangen war. Veicht arbeitet jetzt als selbstständige Theaterpädagogin an Schulen. In guten Monaten bringt das 1500 Euro brutto. Unter Veichts Altersgenossinnen ist so ein Lebenslauf typisch. Die Frauen der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge haben ökonomisch von der Emanzipation nicht viel gehabt. Die Autorinnen Christina Bylow und Kristina Vaillant nennen sie gar die „Verratene Generation“. Rund die Hälfte der westdeutschen Frauen der Jahrgänge 1962 bis 1966 wird einer Studie zufolge mit einer Rente von unter 600 Euro im Monat leben müssen. Sie sind existenziell abhängig von ihrem Partner – oder arm. Ihren Töchtern wird es kaum besser ergehen. In 82 Prozent der deutschen Familien mit Kindern unter sechs Jahren ist nach wie vor der Mann Hauptverdiener. Die meisten Frauen nehmen zwar heute für die Familie nur noch zeitweise eine Auszeit vom Job. Aber der Zuwachs an Beschäftigung unter Müttern in den vergangenen Jahrzehnten war vor allem ein Zuwachs an Teilzeitarbeit. 69 Prozent aller berufstätigen Mütter haben keinen Vollzeitjob – und arbeiten wöchentlich durchschnittlich 18,5 Stunden. Das ist im europäischen Vergleich sehr wenig. In anderen Ländern sind es 25 Stunden oder mehr. Dazu kommt: Auch der Anteil der Frauen an prekärer Beschäftigung ist hoch. Mehr als vier Millionen der insgesamt rund sieben Millionen Minijobber sind Frauen, 82 Prozent von ihnen sind verheiratet. Viele dürften die Teilzeitarbeit als Übergangslösung sehen, doch die Rückkehr in eine Vollzeitstelle ist Studien zufolge schwer. So kommt es, dass 63 Prozent der verheirateten Frauen zwischen 30 und 50 Jahren weniger als tausend Euro netto im Monat verdienen. Entsprechend schlecht ist es um ihre Altersvorsorge bestellt.
Exhausfrau Veicht: „Das Kind bekommt einen Schaden“
Die Ehe sei damit für „einen erheblichen Teil“ dieser Frauen „in ihren Risiken und Folgen abhängigkeitsfördernd und existenzbedrohend“, lautet das Fazit einer Studie des Bundesfamilienministeriums. „Mitten im Leben“ ist deren optimistischer Titel. Männer hingegen stellten in dieser Zeit in der Regel die Weichen für Beruf und Karriere. Verheiratet oder nicht ist dabei egal. Aber warum ist das eigentlich so? Werden Frauen in diese Rollenverteilung gedrängt, oder sind sie womöglich selbst daran schuld? Studien zeigen doch eigentlich, dass junge Männer sich inzwischen mehrheitlich wünschen, dass ihre Frauen selbst für ihren Unterhalt sorgen.
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uch Volker Baisch wollte kein Vater sein, der sich den ganzen Tag abrackert und abends den schlafenden Kindern nur noch einen Gutenachtkuss auf die Stirn drückt. Mit seiner Frau zog er das Modell der gleichberechtigten Partnerschaft deshalb schon vor 16 Jahren durch, als ihre erste Tochter auf die Welt kam. Beide merkten schnell, worin die größte Schwierigkeit liegt, Baischs Überzeugung nach bis heute: in den eigenen Vorstellungen. „Meine Frau beispielsweise sagte mir in der Zeit, in der ich mich ausschließlich um unsere Tochter kümmerte, wie schwer die Verantwortung auf ihr laste, allein für die finanzielle Situation der Familie zuständig zu sein. So schlimm habe sie sich das gar
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nicht vorgestellt. Über diese Frage habe gerecht werden, das noch ein Erbe aus der ich nie nachgedacht, als es an mir war, das Nazi- und auch aus der Adenauerzeit sei, Geld zu verdienen.“ Für ihn als Mann sei glaubt Baisch. „In den Fünfzigerjahren das ja selbstverständlich gewesen, trotz wurden die Mütter ja zunehmend zurück der Belastung und auch der Risiken, die an den Herd gedrängt, nachdem sie im Krieg gezwungenermaßen oft sehr selbstdas mit sich bringe. Solche verinnerlichten Rollenmuster spie- ständig waren.“ Die Frau als Mutter, der Mann als Verlen auch heute noch eine zentrale Rolle bei der Frage, wer wie viel arbeiten geht sorger – dieses veraltete Familienbild liegt und wer sich um die Kinder kümmert. Da- zu allem Unglück auch noch der Gesetzrin ist sich Baisch, der heute Unternehmen gebung zugrunde. Vor allem, wenn eine in Fragen der Familienfreundlichkeit berät, Familie zerbricht, kommen Männer aus sicher. „Das sind ganz unterbewusste Pro- dieser Rolle kaum heraus, wenn es die Mutzesse, die sich da abspielen. Auch wenn ter nicht zulässt. Denn das deutsche Unterhaltsrecht basich junge Männer theoretisch unabhängige Partnerinnen wünschen und die meisten siert noch immer auf der anachronistiFrauen neben der Familie auch einen er- schen Vorstellung, dass die Kinder nach füllenden Beruf wollen, ist die gelebte der Trennung voll bei einem Elternteil – meist der Mutter – leben und der andere Realität oft eine andere.“ Es sind beispielsweise häufig die Frauen, nur alle zwei Wochen am Wochenende die sich bewusst dafür entscheiden, für die vorbeischaut und deshalb einen Unterhalt Familie beruflich kürzerzutreten, das zeigt überweist. Martin Fischer zum Beispiel muss heute auch eine Studie des Familienministeriums, in der Väter und Mütter befragt wurden. mehr als 500 Euro seines Einkommens Der Wunsch der Mutter, Zeit mit dem Kind an die Mutter seiner Kinder überweisen. zu verbringen, war demnach der wichtigs- „Und das, obwohl ich genau wie sie Kinte Einflussfaktor für die Rollenverteilung derzimmer bereitstelle, Kleidung und Esin der Familie. Nicht die Einkommensun- sen“, sagt er. Mittwochnachmittags und alle zwei Woterschiede vor der Geburt des ersten Kindes oder andere strukturelle Gründe, wie chen von Freitagmittag bis Montagmorgen ist sein ältester Sohn bei ihm zu Besuch, man es hätte vermuten können. Auch in einer Studie über Väter, die der kleine Zweijährige kommt mittwochs Baisch vor einigen Jahren initiierte, gaben ganztägig und von Samstag bis Sonntag. 63,5 Prozent der Befragten an, dass ihre Fischer hätte gern, dass die Kinder noch Frauen auf zwölf Monaten Elternzeit be- viel öfter bei ihm sind, „ich habe meiner standen hätten. Die Höchstdauer also, die Exfreundin schon nach der Trennung gefür einen Elternteil möglich ist mit Eltern- sagt, dass ich gern die Hälfte der Betreugeldbezug. Sie selbst konnten dann nur ung übernehmen würde“. So habe man es ja auch während der Beziehung gehalnoch zwei Monate nehmen. „Viele deutsche Frauen definieren sich ten. Windeln wechseln, Fläschchen geben, sehr über ihr Muttersein“, glaubt Baisch. das zahnende Kind nachts stundenlang „Deshalb fällt es ihnen schwer, die Kinder durch die Wohnung tragen – all das habe auch den Männern zu überlassen, selbst er genauso oft gemacht wie seine Ex, sagt wenn sie es kognitiv wollen.“ Viele Män- Fischer. Doch die wollte es nach der Trennung ner bemängelten in der Väterstudie etwa, dass ihre Frauen nur widerstrebend Ver- anders haben, ein Familiengericht beschloss deshalb die heute geltenden Umantwortung für die Kinder abgäben. Unterbewusst wollten Frauen dem gangszeiten. Die Unterhaltszahlungen, die „überhöhten Mütterbild“ in Deutschland wenig später festgelegt wurden, sind sogar
genauso hoch, als würde Fischer sich tatsächlich auf die zweiwöchigen Wochenendbesuche beschränken. „Ich kümmere mich mehr, als der Gesetzgeber es annimmt, und werde dafür noch finanziell bestraft“, sagt Fischer. „Das ist sehr ungerecht.“ Tatsächlich scheint nicht nur das Unterhaltsrecht den Realitäten vieler getrennter Eltern nicht gerecht zu werden. Auch das deutsche Steuerrecht wirkt im internationalen Vergleich auf geradezu absurde Weise anachronistisch. Schuld ist das sogenannte Ehegattensplitting, eine Zauberformel, die es so in kaum einem anderen Land gibt. Dabei werden die Einkommen der Ehepartner zusammengerechnet und für die Berechnung der jeweiligen Steuern wieder hälftig geteilt. Weil der Steuertarif progressiv ist, bei höheren Einkommen also ein größerer Anteil an Steuern fällig wird, mindert das die Steuerlast des Besserverdienenden. In der Regel also die des Mannes – und das unter Umständen ziemlich deutlich. Ein Unverheirateter mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 50 000 Euro etwa zahlt 13 331 Euro Steuern; Verheiratete mit dem gleichen Einkommen zahlen nur 8350 Euro. Vorausgesetzt, der Ehepartner – meistens die Frau – arbeitet nicht. Je geringer der Verdienstunterschied zwischen beiden Partnern, desto geringer die Steuerersparnisse. Entscheidet sich die Frau für die Rückkehr ins Berufsleben, „wird aus ihrer Erwerbstätigkeit ein Nullsummenspiel, manchmal sogar ein Draufzahlgeschäft“, schreibt Renate Schmidt (SPD) in ihrem Buch „Ein Mann ist keine Altersvorsorge“. Dass viele Frauen vom Gegenteil ausgehen, kreidet Schmidt nicht zuletzt dem Versagen der Familienpolitik an. Das ist bemerkenswert, weil Schmidt zwischen 2002 und 2005 selbst Bundesfamilienministerin war. Einer der Widersprüche, kritisiert Schmidt heute, sei die Förderung der Hauptverdiener-Ehe „bei
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1000 bis unter 1500
1500 € und mehr
*Durchschnitt; Quellen: Comdirect, BMFSFJ, DRV
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Doch auch alleinstehende Väter sind steuerlich gekniffen. Es gibt einen Elternfreibetrag und Kindergeld, was sich die Eltern teilen können. Während Alleinerziehende aber wenigstens noch bestimmte Leistungen oder Hilfestellungen in Anspruch nehmen können, wird der andere Elternteil – und damit meist der Vater – wieder so gestellt, als wäre er Single ohne Familie. Er kann nicht einmal die Fahrtkosten oder eine Zweitwohnung in der Stadt, in der die Kinder leben, absetzen, selbst wenn diese Hunderte Kilometer weit entfernt wohnen.
T
ina Rademacher, die ehemalige Werberin, und ihr Mann müssen sich wohl beide keine Sorgen um ihre Finanzen machen, selbst für den unwahrscheinlichen Fall einer Trennung. Deshalb mussten sie oft als Beispiel herhalten, dass alles eine Frage des Willens sei. Allerdings haben sich auch die Rademachers mittlerweile ins klassische Rollenmuster gefügt, zumindest für eine Zeit. Dabei hat Tina Rademacher schon als Kind am liebsten „Büro gespielt“, entsprechend steil verlief ihre Karriere nach dem BWLStudium als Unternehmensberaterin und Managerin. Schon mit 33 war sie kaufmännische Geschäftsführerin einer Werbeagentur, gehörte später zu den „Top 40 unter 40“ der Zeitschrift „Capital“. „So ein Mist, Sie müssen sofort wiederkommen“, sagte ihr Chef, als sich 2007 ihr erstes Kind ankündigte. Rademacher gab sich noch sportlich: „Der Stichtag ist Sams-
tag, wie wäre Montag?“, witzelte sie. Nach sechs Monaten Elternzeit saß sie wieder im Büro, auch nachdem 2011 der zweite Sohn geboren wurde. Rademachers Mann blieb zu Hause. Es war die klassische Rollenverteilung – nur andersherum. Dann bekam er das Angebot, als Unternehmensberater zu arbeiten. Nach sechs Jahren als Hausmann war für ihn klar, dass er nicht ablehnen konnte. Es folgte: Familie just in time; wenn sie kam, ging er – und umgekehrt. Die beiden gaben sich nur noch die Klinke in die Hand. Nach zwei Jahren war das Experiment gescheitert, Tina Rademacher kündigte. Jetzt sind die Wäscheberge im Keller verschwunden und die Kinder ausgeglichener. Aber glücklich ist Rademacher mit der Situation nicht. „Kaum ein Land ist so unflexibel, so rückständig, so familienunfreundlich wie Deutschland“, sagt sie. Tatsächlich ist die deutsche Arbeitswelt besonders elternfeindlich. Nirgendwo in der Eurozone werden so viele Überstunden geschoben wie in Deutschland. Wer etwa in Elitekanzleien als Rechtsanwalt etwas werden will, braucht vor dem späten Abend gar nicht erst ans Nachhausegehen zu denken. Ein Kind großzuziehen, wenn beide Elternteile sich diesem Rhythmus anpassen, wird zum fast unmöglichen Kraftakt. Meist sind es die Frauen, die deshalb die Arbeit im Büro gegen die Arbeit zu Hause eintauschen. Ökonomisch gesehen kosten Kinder eine Frau im Laufe des Lebens etwa 64
Weg vom Herd Frauen in Deutschland* zwischen Familie und Berufstätigkeit T V-YE STE RDAY
DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM BERLIN
*bis 1990 Westdeutschland
AEG-Werbung 1957
1950er Die Rolle der Hausfrau und Mutter gilt im Westen als natürlicher Beruf der Frau. Anders dagegen in der DDR, hier ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf politisch gewollt.
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gleichzeitiger Forderung nach materieller Unabhängigkeit bei Scheitern der Ehe“. Auf die Frage, warum Schmidt sich zu ihren Regierungszeiten nicht stärker für die Abschaffung des Ehegattensplittings eingesetzt hat, gibt es eine einfache Antwort: Seine Einführung war Folge eines Verfassungsgerichtsurteils von 1958, das den besonderen Schutz von Familien im Grundgesetz verankert sieht. Der Richterspruch ist über 50 Jahre alt, lässt sich aber nicht so einfach kippen. Neben dem Ehegattensplitting treibt die Möglichkeit, sich beitragsfrei in der Krankenkasse des Partners mitversichern zu lassen, Frauen in die materielle Abhängigkeit. Viele entscheiden sich für einen Minijob, weil sie solche Privilegien auf diese Weise trotzdem ausschöpfen können. Die Zeiten aber, in denen sich Frauen im Fall einer Scheidung auf jahrelange Unterhaltszahlungen vom Exgatten freuen konnten, sind vorbei. Seit 2008 gilt ein neues Unterhaltsrecht. Sollte es früher einer geschiedenen Frau finanziell so gehen wie in der Ehe, baut das Gesetz heute vor allem auf dem Prinzip Eigenverantwortung auf. Eine Bibliothekarin beispielsweise, die einen Chirurgen geehelicht hat, muss sich damit bei einer Scheidung wahrscheinlich auf den sozialen Abstieg vorbereiten. Auch Müttern wird dann in der Regel ein Vollzeitjob zugemutet, wenn das jüngste Kind drei ist und fremd betreut werden kann. So hat es der Bundesgerichtshof vor einigen Jahren entschieden.
Sekretärin beim Diktat um 1960
DDR-Plakat zum internationalen Frauentag
1957
1962
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1992
Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes: Ehefrauen dürfen ihr Vermögen selbst verwalten.
Frauen dürfen ohne Zustimmung ihres Ehemanns ein Bankkonto eröffnen.
Auch verheiratete Frauen werden als geschäftsfähig angesehen.
Ehefrauen dürfen ohne Zustimmung des Mannes arbeiten gehen.
Der Erziehungsurlaub wird auf 36 Monate ausgedehnt. Teilzeitarbeit ist währenddessen möglich.
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DGBDemo in Dortmund, Anfang der Achtziger.
Ute Klammer weigert sich dennoch, Frankreich uneingeschränkt als Vorbild zu akzeptieren. Klammer ist Professorin für Sozialpolitik an der Universität DuisburgEssen und war Vorsitzende der Sachverständigenkommission, die 2011 den Ersten Gleichstellungsbericht für die Bundesregierung verfasst hat. „Wir können nicht wollen, dass das Ziel heißt: Alle arbeiten Vollzeit. Das ließe die Frage unbeantwortet, wer sich um Fürsorge und Pflege kümmert“, sagt sie. Das Schlüsselwort im Gleichstellungsbericht heißt deshalb „Wahlarbeitszeit“. Gemeint ist, Arbeitszeiten für Frauen und Männer so flexibel wie irgend möglich zu gestalten, damit sie im Verlauf des Lebens mal mehr, mal weniger arbeiten können. Je nach familiärer Situation. Einige wenige Unternehmen lassen sich auf diesen Gedanken schon ein, darunter ausgerechnet Porsche. Nur 15 Prozent der Mitarbeiter sind Frauen. Trotzdem kann jeder Mitarbeiter, vom Bandarbeiter bis zur Führungskraft, seine Arbeitszeit auf bis zu 20 Stunden pro Woche reduzieren, über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren. Und zwar mehrmals im Laufe der Karriere. Auch für die Pflege von Angehörigen sind spontane Auszeiten möglich. Die Normalität ist allerdings das, was Rüdiger Peters erlebt hat. Peters heißt eigentlich anders, will aber aus Angst um seinen Job seinen richtigen Namen nicht nennen. Sein Arbeitgeber: ein Maschinenbauunternehmen, 25 000 Mitarbeiter welt-
D PA P I CT U R E - A L L I A N C E / I N G O WAG N E R
ULLSTEIN BILD
n Frankreich hat sich das Modell Teilzeitjob dagegen nie wirklich durchgesetzt. Zwei von drei Französinnen haben eine Vollzeitstelle, und kaum eine plagt das schlechte Gewissen, wenn sie ihr Kind schon früh abgibt. Rund die Hälfte der unter Zweijährigen geht in die Krippe – die Crèche – oder wird von einer Tagesmutter betreut. Mit drei Jahren kommen nahezu alle in die „école maternelle“, die bis 16.30 Uhr dauert und kostenlos ist.
Angela Greulich von der Universität Sorbonne in Paris erforscht seit zehn Jahren, warum das so ist. Es fängt wie immer beim Geld an: 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) investiert der französische Staat jährlich in die Betreuung von Kindern bis sechs Jahren, die Hälfte der Ausgaben für unter Zweijährige. Deutschland lässt sich die Kinderbetreuung gerade einmal 0,5 Prozent des BIP kosten. Der schnelle Wiedereinstieg in den Job nach der Geburt wird in Frankreich auch finanziell belohnt: Je mehr Kinder, desto günstiger wird das Familieneinkommen versteuert. Ein hohes Einkommen der Frau wird, anders als in Deutschland, steuerlich nicht bestraft. Aber natürlich wirken auch gesellschaftliche Normen und Traditionen. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau benannte die Unterschiede zwischen den beiden Ländern schon vor gut 200 Jahren: Ein Kind, so glaubten französische Eltern, komme mit einer Seele zur Welt, die einem weißen Blatt gleiche, das es zu beschreiben gelte. Je früher äußerliche Eindrücke auf das Kind wirkten, desto besser. Mit Gleichaltrigen in einer öffentlichen Einrichtung betreut zu werden ist folglich gut für die kindliche Entwicklung. In Deutschland, so schrieb Rousseau, herrsche dagegen die Vorstellung, dass ein Kind mit einer perfekten Seele auf die Welt komme und vor äußeren Einflüssen eher geschützt werden müsse. Je länger es in der geborgenen Umgebung der Mutter sei, desto besser.
CA I A I MAG E / MAURITIUS IMAGE S
Prozent ihres Einkommens, haben Wissenschaftler am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit ausgerechnet. Unbezahlte Arbeitsstunden leisten Frauen dagegen jede Menge. Zur Erziehung der Kinder kommt oftmals noch die Pflege von Eltern oder Schwiegereltern: Der Großteil aller Pflegebedürftigen wird in Deutschland zu Hause versorgt, oft von Angehörigen. Zu zwei Dritteln sind das Frauen, im Schnitt zwischen 50 und 60 Jahre alt – und damit noch im erwerbsfähigen Alter. Die wenigen pflegenden Männer haben im Schnitt schon die achtzig überschritten. Zwar gibt es für die Pflege von Angehörigen Punkte bei der Rentenkasse, auch Auszeiten von bis zu sechs Monaten im Job sind möglich. Aber was, wenn die Pflege länger dauert? Viele Frauen geben dann ihren Job auf, stellte eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung fest, oder sie reduzieren auf Teilzeitarbeit – mit den entsprechenden finanziellen Folgen.
Berufstätige Schwangere
Bundeswehrsoldatin 2001
2001
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Eine der letzten Männerdomänen fällt: Frauen dürfen als Berufssoldatinnen auch an der Waffe dienen.
Das Elterngeld soll ein zeitweiliges Ausscheiden aus dem Beruf ermöglichen.
Neues Unterhaltsrecht: Geschiedene haben keinen Anspruch mehr auf Versorgungsunterhalt bis zum Lebensende.
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz vom ersten Geburtstag an.
Neue Mütterrente: Erziehungszeiten für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, werden bei der Rente stärker berücksichtigt.
Anspruch auf Schadensersatz für Eltern, die wegen fehlender Kitaplätze nicht arbeiten können. DER SPIEGEL 3 / 2017
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nicht mehr.“ Peters wurde versetzt, auf eine Stelle, auf der er weniger sichtbar ist. Seine Frau hat jetzt erst mal drei Jahre Elternzeit genommen, damit er den Job nicht verliert.
MARIA FECK / DER SPIEGEL
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Unternehmensberater Baisch: Über Geld am besten mit professioneller Hilfe sprechen
weit. Es schmückt sich mit dem Label „au- vorschlug, sich den Job nach der Elterndit berufundfamilie“, das unter anderem zeit mit einem anderen Manager zu teilen: auf die Hertie-Stiftung zurückgeht. Peters, „In welcher Welt lebst du eigentlich?“, der zum Topmanagement gehört und lan- fragte sein Chef nur. Schon für die ersten ge als Star im Vertrieb galt, hat der Monate musste Peters versprechen, weWunsch, Beruf und Familie zu vereinba- nigstens einmal pro Woche das Gröbste wegzuarbeiten. ren, die Karriere gekostet. Doch dann kamen die zwei Jungs viel Als seine Frau, eine Wissenschaftlerin, nach zahlreichen künstlichen Befruchtun- früher als erwartet, eine Zeit lang stand gen endlich Zwillinge erwartete, malten es nicht gut um sie. Peters hockte in der sich die beiden die Zukunft rosarot aus: Klinik, und auf seinem Schreibtisch wuchSie würden moderne Eltern sein, sich die sen die Papierberge. Als er nach sechs WoErziehung teilen. Er einen Tag zu Hause, chen wieder ins Büro kam, warteten 700 sie einen Tag zu Hause, drei Tage sollte unbeantwortete Mails auf ihn. „Sieh zu, wie du fertig wirst“, schnauzte ihn sein eine Kinderfrau übernehmen. Auch in der Firma zeigten sich alle Vorgesetzter an. Und die Kollegen guckten glücklich über seinen Nachwuchs – bis er schief, wenn er pünktlich nach Hause wollerklärte, drei Monate in Elternzeit gehen te. Dabei saß dort seine Frau und wartete zu wollen. „Ein Topmanager nimmt Ur- auf ihn, weil sie ein wissenschaftliches Prolaub und kommt nach einer Woche wie- jekt fertig machen musste. Peters fühlte sich völlig zerrissen. der“, erklärt Peters das bis dahin geltende, Im nächsten Personalgespräch wurde ofungeschriebene Gesetz. Entsprechend kühl fiel auch die Reaktion aus, als Peters fen gesprochen: „Mit Ihnen rechnen wir 16
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er politische Befund ist kompliziert. Einerseits hat es in den vergangenen Jahren tatsächlich ein Umdenken gegeben. Es wurden Kitas und Krippen gebaut, das Elterngeld erfunden. Und doch ist es immer noch eine Nachricht, die Schlagzeilen bringt, wenn Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Elternzeit nimmt oder Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig bereits acht Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Julia an ihren Schreibtisch zurückkehrt. Ein Umstand, den die SPD-Frau geschickt nutzte. Pünktlich zum Ende ihrer Auszeit gab sie mitsamt Familie der „Bild am Sonntag“ ein Interview und erzählte, wie sie das alles bewältigen will: mehrmals in der Woche von Berlin in ihre Heimatstadt Schwerin fahren und ab und an von zu Hause aus arbeiten. Und, ja, ihr Baby werde trotzdem weiter gestillt. Ein Mann hätte sich solchen Fragen niemals stellen müssen. „Das Thema ist historisch und gesellschaftlich so verkrustet, dass man mit dem Holzhammer heranmuss, um es aufzubrechen“, sagte Schwesig einige Zeit später im Gespräch über die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen. Den großen politischen Wurf, mit dem sich solche Ungerechtigkeiten auf einen Schlag beseitigen lassen, gebe es aber nicht. Stattdessen müsse man an vielen Enden anpacken. Das klingt realistisch, birgt aber die Gefahr, politisch bei Trippelschritten hängen zu bleiben. Schwesigs Gesetzentwurf zur Lohngerechtigkeit oder die Bemühungen von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, Teilzeitarbeitenden ein Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle einzuräumen, sind wichtige Initiativen. Aber es bedarf sehr viel tief greifenderer Reformen, um wirklich etwas zu verändern. Die frühere Familienministerin Schmidt etwa schlägt vor, das Ehegattensplitting abzuschaffen und parallel dazu die Unterhaltspflicht in der Ehe zu kippen. Dann bekäme beispielsweise eine Frau, die in die Armut rutscht, staatliche Unterstützung, unabhängig vom Verdienst ihres Mannes. So könnte die Neuerung auch vor dem Verfassungsgericht Bestand haben, glaubt Schmidt, weil Familien zugleich an anderer Stelle entlastet würden. So würden die Anreize für Paare sicher sehr viel größer, dass beide gleichermaßen Geld verdienen. Und nicht zuletzt ist es kaum zeitgemäß, dass unverheiratete und vor allem geschiedene Paare im Vergleich zu Ehepartnern steuerlich so viel schlechter gestellt sind. Hätten beispielsweise getrennt lebende Eltern bessere steuerliche Abzugsmöglich-
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keiten, gäbe es sicher weit weniger Streit um Unterhaltszahlungen. Derzeit entsteht oft die abstruse Situation, dass der Unterhalt für die Kinder kaum reicht – und den Zahlenden trotzdem in ernste finanzielle Nöte bringt. Denkbar wäre auch, das Elterngeld Schritt für Schritt an die Bedingung zu knüpfen, dass Vater und Mutter nacheinander und gleich lang aussetzen. Dann wären wahrscheinlich mehr Männer bereit, diese Zeit der Familie zu widmen – und männliche Bewerber um die dreißig ähnlich unsichere Kandidaten für Unternehmen wie Frauen. Die Firmen müssten sich endlich darauf einstellen, dass Arbeitnehmer Kinder bekommen, für die sie sorgen. So würden womöglich vernünftige Arbeitszeiten normal – und auch Karrieren, die jenseits der vierzig erst richtig losgehen. Weil derart weitreichende Reformen in den nächsten Jahren nicht zu erwarten sind, müssen Paare, spätestens wenn sie die Familienplanung ernsthaft in Angriff nehmen, sachlich über Geld sprechen. Man dürfe nicht vergessen, „dass die Ehe auch eine Wirtschaftsgemeinschaft ist“, sagt die CDU-Abgeordnete Anja Karliczek. Auch die Finanzexpertin hat viele Jahre in Teilzeit gearbeitet. Doch sie hat vorgesorgt – und mit ihrem Mann einen Ehevertrag abgeschlossen. Darin ging es weniger um Gütertrennung als um den Unterhalt im Falle einer Scheidung. Das mag unromantisch klingen, aber es hilft. In einem solchen Vertrag kann auch stehen, wie derjenige schon während der Ehe finanziell entschädigt wird, der seinen Beruf zurückstellt. Auch wenn die Partnerschaft bestehen bleibt, schadet es sicher nicht, wenn jeder sein eigenes Geld hat – und seine eigene Altersvorsorge. Auf jeden Fall jedoch müssen Paare über ihre Finanzen sprechen, am besten mit professioneller Unterstützung, wie Unternehmensberater Baisch findet. „Geld ist ein hochsensibles Thema, das hat das Potenzial, die Beziehung zu sprengen.“ Allen Unternehmen, die er berät, empfiehlt er deshalb, entsprechende Beratungsstellen einzurichten, wo sich Paare mithilfe von Moderatoren über ihr Familienleben, ihre Karriere und ihre Einkommensverhältnisse auseinandersetzen können. „Wer das nicht von Anfang an tut, rast direkt in die traditionelle Rollenverteilung hinein“, sagt Baisch.
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Vor die Wahl gestellt Debatte 2016 war ein schlechtes Jahr für den Feminismus. 2017 muss besser werden.
Von Susanne Beyer
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RON SACHS / CNP / FACE TO FACE
aller Voraussicht nach ausüben wird? Sie sah fabelhaft m kommenden Freitag wird Donald Trump als aus, glatt, sportlich, gut gekleidet. Sie hat im Garten gear45. US-Präsident ins Amt eingeführt. 53 Prozent beitet. Sie hat sich um die Kinder gekümmert, um ihren der weißen Wählerinnen haben sich für ihn entMann. Nicht so sehr um Politik. Die Washingtoner Kabaschieden. Diese Frauen hatten die Wahl: zwischen der len seien ihr zuwider, hieß es immer. Als nach ihren Aufweißen, politisch erfahrenen und vom Feminismus getritten im vergangenen Herbst der Wunsch aufkam, sie prägten Hillary Clinton und dem weißen, politisch unmöge bald für das Präsidentenamt kandidieren, sagte ihr erfahrenen Mann, der sich nicht gerade um den Ruf beMann, o nein, für Michelle sei das nichts. Michelle Obama müht hat, ein Freund der weiblichen Emanzipation zu war von einem Konjunktiv umgeben. Wenn sie wollen sein. würde, könnte sie. Wieso haben sich so viele Frauen gegen die Frauen Eine Karriere im Konjunktiv hat zunächst Vorteile. Mientschieden? chelle Obama wird an ihrem Potenzial gemessen. Nicht Beim Thema Geld zeigt sich, wie beharrlich sich in an Fehlern, die auch sie machen würde, wenn sie politisch Deutschland traditionelle Rollenmuster halten. Obwohl diehandelte. Wie ihr Ehemann. Oder wie Hillary Clinton. se Muster seit vielen Jahrzehnten infrage stehen. Ohne First Lady zu sein ist hart. Michelle Obama war die erste Zweifel hat sich viel verändert in den vergangenen Jahren – und trotzdem wählen viele Frauen offensichtlich immer schwarze First Lady in einem immer noch rassistischen Land, noch die Rolle, die zumindest in matesie war der personifizierte Bruch mit rieller Hinsicht hochriskant für sie ist. einer Tradition. Sie hat vielleicht nicht auch noch den Bruch mit tradiDie große Frage ist: Warum? tionellen Frauenbildern wagen wolMenschen sind nicht so frei in ihren len. Es wäre auch ein Risiko gewesen. Entscheidungen, wie es aussehen Aber wenn eine Frau wie sie, mit mag. Die althergebrachte symbolidiesen herausragenden Fähigkeiten, sche Ordnung ist wirksam, familiäre es nicht tut, erweckt sie den Eindruck, Bilder sind es auch. Ebenso Wünsche es sei wirklich viel zu gefährlich. anderer, unbewusste eigene Wünsche. Wenn eine Frau wie sie eine solche Aber wenn wir im Jahr 2017 über den Distanz zur Politik ausdrückt, dann Feminismus nachdenken, sollten wir wirkt es so, als sei zum sogenannten uns, neben allen strukturellen, politiEstablishment Abstand zu halten. Als schen Fragen, auch diese Frage stelstimmte damit irgendetwas nicht. len: Warum wählen ausgerechnet die Doch woher sollen dann Frauen, Frauen, die so viel freier sind als jede die weniger privilegiert sind, den Mut Generation vor ihnen, eher traditioEhepaar Obama nehmen aufzubrechen? nelle Rollen? Welche Wünsche verMenschen entscheiden sich meist bergen sich dahinter, welche Ängste? für das, was ihnen weniger Angst Gibt es einen geheimen Gewinn? macht und wovon sie sich einen größeren Gewinn erhofAm Freitag wird neben Donald Trump Melania stehen, fen. Die traditionellere Frauenrolle gefährdet erwiesenerseine Frau. Sie hat ihr Studium abgebrochen, wurde Fotomaßen die ökonomische Unabhängigkeit. Da sich trotzmodell, heiratete diesen reichen Mann und kümmert sich dem selbst Frauen, die die Wahl haben, für diese Rolle nun um das gemeinsame Kind. Das traditionelle Modell entscheiden, muss die Angst vor einem Rollenwechsel in Übergröße. Trotzdem hat die Mehrheit der weißen enorm groß sein. Oder der Gewinn in einem anderen, Frauen Melania Trump mitgewählt, Partner sind wichtig schwer fassbaren Bereich enorm hoch. im amerikanischen Wahlkampf. Die Art, wie das Paar Worin ebenjener Gewinn liegt, das muss jede Frau sich lebt, ist wichtig. Offenbar gilt das Rollenverhältnis der selbst fragen. Mag sein, dass es einfacher, ja auch bequeTrumps bei weißen Frauen als attraktiv. mer ist, am Potenzial gemessen zu werden als an konkreNeben Donald und Melania Trump wird am Freitag ein ten Handlungen. Und es ist leichter, sich über Ungerechweiteres Paar stehen, das zweimal gewählt worden ist und tigkeiten zu beschweren, als sie zu ändern. Damit müsste auch in Deutschland von vielen bewundert wird: der scheisich der Feminismus ehrlich auseinandersetzen. dende US-Präsident Barack Obama und seine Frau MiDass sich Frauen selbst befragen sollen, heißt aber chelle. Als sich Barack und Michelle kennenlernten, war nicht, dass Politik und Unternehmen genug getan hätten. er der Praktikant und sie seine Chefin. Sie sind beide exBei Weitem nicht. Und es fehlt auch an Vorbildern. Die zellent ausgebildet. Michelle hat zeitweise mehr verdient Deutschen haben ihre Vorbilder gern in Amerika, im Weials Barack. Sie ist außergewöhnlich begabt. Im Wahlkampf ßen Haus, gesucht. Das ist jetzt nicht leicht. Ins Schloss hat sie für Trumps Gegnerin Hillary Clinton gekämpft, Bellevue wird im März Frank-Walter Steinmeier einzieklug, charmant, warmherzig. hen. Seine Frau hat angekündigt, sie wolle in ihrem Beruf Hat die scheidende First Lady im Weißen Haus aber eials Richterin bleiben. ne andere Rolle eingenommen als jene, die Melania Trump I DER SPIEGEL 3 / 2017
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Außenpolitik
„Moskau spaltet den Westen“ Der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz werfen Russland vor, die enge Bindung Europas an die USA systematisch zu torpedieren. Das geht aus einem gemeinsamen Bericht des Arbeitskreises „PsyOps“ (Psychologische Operationen) an die Bundesregierung hervor, der seit Kurzem fertig ist. Nach einer Reihe von Propagandakampagnen und Cyberangriffen hatte das Bundeskanzleramt den Inlands- und den Auslandsgeheimdienst damit beauftragt, russische Aktivitäten zu untersuchen. In dem Bericht kommen die Autoren zu dem Schluss, dass in den Ländern der Europäischen Union schon seit Jahren eine russische Beeinflussung festzustellen sei. Moskau versuche gezielt, insbesondere im Westen vorhandene gesellschaftliche Konflikte zuzuspitzen. Es gehe Russland auch darum, die Akzeptanz des engen Bündnisses mit den Vereinigten Staaten von Amerika infrage zu stellen. Die Bundesregierung überlegt noch, ob und in welcher Form sie den Bericht der Geheimdienste dem Bundestag oder der Öffentlichkeit zugänglich machen wird. jös Lesen Sie auch den Essay zum Thema auf Seite 30.
Umweltrecht
Sünder Deutschland Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) befürchtet millionenschwere Strafen der EU gegen Deutschland, nachdem die Bundesregierung ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht rechtzeitig 20
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Szene aus James-Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“, 1963
umgesetzt hat. In einem Brandbrief an Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) warnt sie, nach dem dritten negativen Urteil des EuGH binnen weniger Jahre habe die Bundesrepublik „wegen langjähriger Rechtsdefizite jeglichen Kredit aufgebraucht“. Hendricks’ Vorstoß zielt auf die überfällige No-
velle des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes, die von der Bundesregierung im Sommer noch als eilbedürftig deklariert worden war, nun aber in den Gremien der Unionsfraktion schmort. Die Novelle soll Verbänden deutlich mehr Möglichkeiten geben, gegen Baupläne oder Umweltprogramme zu klagen. Beantragt
BILDARCHIV HALLHUBER / DAVIDS
Deutsche Geheimdienste prangern russische Propaganda und Cyberangriffe an.
die Kommission ein Zwangsgeldverfahren beim EuGH, könnten Zahlungen von mehr als 200 000 Euro pro Tag auf die Bundesregierung zukommen. Hendricks beklagt „nicht nachvollziehbare Verzögerungen“, für deren Konsequenzen sie „keine Verantwortung übernehmen“ könne. amp, kn
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland Sprengstofffund
Nach dem Fund von 155 Kilogramm Explosivmaterial prüft die Staatsanwaltschaft Zweibrücken eine mögliche Verbindung zur rechtsextremen Terrorgruppe „Oldschool Society“ (OSS). Ende Dezember waren Ermittler bei einem 18-Jährigen im pfälzischen Lauterecken und einem 24-Jährigen in Mettmann bei Düsseldorf auf große Mengen illegaler Pyrotechnik gestoßen. Wegen des Verdachts der Polizeieinsatz in Lauterecken „Vorbereitung einer schweren über den Ermittlern: Die Pyden davon gesprochen, dass staatsgefährdenden Gewalttat“ kam das Duo in Untersu- „man in Deutschland was ma- rotechnik sei nur für den privaten Gebrauch bestimmt chen müsse“, und gefragt, ob chungshaft. In einer Vernehgewesen. Allerdings fand man 250 Kilogramm Sprengmung berichtete der 18-Jähstoff für ihn herstellen könne. sich bei dem 18-Jährigen ein rige von einem angeblichen selbst gebauter Sprengsatz, OSS-Treffen im Sommer in ei- Dass mit dem Material ein ner Hütte in Rheinland-Pfalz. Anschlag geplant war, bestrei- der mit einem Hakenkreuz und SS-Runen versehen war. Dort habe einer der Anwesen- ten die Beschuldigten gegen-
Regierung verzögert Ausbildungsreform Sozialexperten warnen vor einem Scheitern der Reform der Pflegeausbildung. „Was die Große Koalition sich derzeit leistet, ist ein Skandal“, sagt Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerats. „Der Personalnotstand in der Pflege wird durch die politische Hänge-
Bundesjustizminister
Erdoğan-Kritiker hält Festrede Der Neujahrsempfang von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) Ende Januar dürfte in der Türkei für Ärger sorgen: Festredner ist der regierungskritische türkische Journalist Can Dündar. Er wird über Pressefreiheit und die politische Lage in der Türkei sprechen. Ein ähnlicher Auftritt Dündars bei Bundespräsident Joachim Gauck hatte Proteste aus Ankara hervorgerufen: Im November hatte Dündar kritisiert, dass
partie sogar noch verschärft.“ Pflegeschulen in Deutschland wüssten nicht, auf welcher Grundlage sie planen sollten; Jugendliche, die eine Pflegeausbildung anstrebten, seien verunsichert. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) hatten Anfang 2016 einen Gesetzentwurf vorgelegt, um Alten-, Krankenund Kinderkrankenpfleger
Kanzlerin Angela Merkel dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und den Eingriffen seiner Regierung in bürgerliche Freiheiten zu zögerlich gegenübertrete. Der Exchefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“ wurde in der Türkei zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft wegen Geheimnisverrats verurteilt, legte Revision ein und floh später nach Deutschland. Ein diplomatisch heikles Asylverfahren betreibt er nicht; Dündar hat eine einjährige Aufenthaltserlaubnis als Fellow des Schriftstellerverbands P.E.N. ama, csc
Dündar
Auf Facebook verlinkte er mehrmals auf rechtsextreme Bands und posierte in einschlägigen T-Shirts. Sein mutmaßlicher Komplize aus Nordrhein-Westfalen war der Polizei schon vor Jahren wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz aufgefallen. 2012 fanden Ermittler zudem rechtsextreme Literatur bei ihm. Im aktuellen Verfahren konnten keine Hinweise auf eine rechte Gesinnung festgestellt werden, hieß es aus Ermittlerkreisen. Die Staatsanwaltschaft Zweibrücken lehnte eine Stellungnahme zum Fall ab. In München stehen zurzeit vier mutmaßliche OSS-Führungsmitglieder vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen vor, mit Nagel- und Brandbomben einen Anschlag auf eine bewohnte Flüchtlingsunterkunft geplant zu haben. mba, jös, srö
Wirtschaftsministerium
künftig gemeinsam auszubilden. Bis heute hat das Parlament nicht über das Papier abgestimmt, vor allem in der Union sind die Widerstände groß. Auch der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann (CDU), mahnt jetzt eine zügige Einigung an, „damit die Reform Gesetz wird“. Notfalls müsse sich der Koalitionsausschuss mit dem Thema beschäftigen. cos
Baufällig
ANDREAS PEIN / LAIF
Pflege
HARALD TITTEL / DPA
Verbindung zu Terrorgruppe?
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) muss sein Haus sanieren: Sein Amtssitz in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs ist derart baufällig, dass wegen der anstehenden Reparaturen ganze Abteilungen umziehen müssen. Um den Brandschutz auf den neuesten Stand zu bringen, werden in den kommenden Monaten viele Leitungsstränge und das Dach saniert. Auch der Minister muss zeitweise aus seinem Büro ausziehen – Gabriel persönlich wird davon allerdings nur betroffen sein, wenn er nach der Wahl weitermachen kann. Hart trifft es die Europaabteilung. Sie muss in das ehemalige Bundesinnenministerium in Moabit ausquartiert werden. Das steht derzeit leer, der Bund muss dennoch viele Hunderttausend Euro Miete zahlen. Auch ein Erweiterungsbau wird derzeit geplant. Das Ministerium bestätigte die Pläne für die Gebäudesanierung, die drei Jahre dauern werde. csc, gt DER SPIEGEL 3 / 2017
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Deutschland
Missbrauch verhindern
Zeitgeschichte
15000 Kinder von Besatzern in Polen Die deutschen Besatzer sollen in Polen während des Zweiten Weltkriegs bis zu 15 000 Kinder gezeugt haben. Diese Schätzung stammt von der Augsburger Historikerin Maren Röger. Die Zahl wäre damit deutlich niedriger, als damalige Prognosen deut22
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Ingenieur bei Abgasuntersuchung 2011
Verkehr
Auspuffmessung kommt zurück Das Bundesverkehrsministerium arbeitet derzeit an einer Verordnung, um die strenge Abgasuntersuchung wieder für alle Autos einzuführen. Minister Alexander Dobrindt (CSU) will damit
Gentechnik
Späte Änderung Die Bundesregierung will offenbar den Einsatz grüner Gentechnik erleichtern. Das Kabinett beschloss im November 2016 eine umstrittene Änderung des Gentechnikgesetzes. Bislang galt in der deutschen Umwelt- und Ge-
unter anderem Manipulationen aufdecken, wie sie Volkswagen bei Dieselfahrzeugen vorgenommen hatte. Die Messung am Auspuffrohr, früher ASU genannt, war für Neufahrzeuge ab 2006 abgeschafft worden. Die Prüfer lesen nur das sogenannte On-BoardDiagnosesystem aus, in dem
Abgaswerte des Fahrzeugs gespeichert werden. Die Dekra und andere Prüfgesellschaften hatten auch deshalb gefordert, die Untersuchung wieder einzuführen, weil manche Autos getunt werden: Dadurch steigt die Leistung, zugleich nehmen jedoch auch Verbrauch und Abgase zu. gt
sundheitspolitik das Vorsorgeprinzip: Ein Produkt kann schon bei ausreichendem Verdacht verboten werden. In dem Gesetz heißt es nun, dass bei bestimmten Züchtungstechniken neben dem Vorsorgeprinzip das „Innovationsprinzip“ gelten solle. Darauf drängen Chemie- und Saatgutkonzerne in Brüssel
seit Jahren. Kritiker sehen darin ein Einfallstor für gentechnisch veränderte Pflanzen und Lebensmittel. Eingefügt wurde der Passus erst am Tag vor der Kabinettssitzung nach einer Telefonkonferenz der drei Staatssekretäre aus Agrar-, Forschungs- und Umweltministerium; auch Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth (SPD) hatte zugestimmt. Matthias Miersch, Umweltexperte der SPD-Bundestagsfraktion, spricht hingegen von einem „gefährlichen Paradigmenwechsel, der auf keinen Fall durchgehen darf“. Grüne, Linke und SPD wollen gegen das Gesetz stimmen. Der Entwurf sei „extrem problematisch“, sagt die SPD-Agrarexpertin Elvira DrobrinskiWeiß. „Zur Not gibt es eben kein Gesetz.“ csc, kn
Forschungslabor der Universität Rostock
„Vierteljahrsheften für Zeitgescher Stellen vermuten lieschichte“, dass es auch in Poßen. Im Zweiten Weltkrieg len Sexualverbrechen gegewaren mehr als 18 Millionen ben habe. Weitverbreitet seideutsche Soldaten und zivile Besatzer im Einsatz, überwie- en zudem „konsensuale Kontakte“ gewesen. Dabei widergend in Osteuropa. Die Zahl der Kinder, die sie dort zeug- sprach Geschlechtsverkehr ten, ist unbekannt. Schätzun- mit Polinnen der NS-Rassenideologie. Andererseits hatgen belaufen sich auf 100 000 ten die Nazis aus ebenfalls in Frankreich, 20 000 in Belrassistischen Gründen die gien und bis zu 15 000 in den Stellung unehelicher Kinder Niederlanden und in Dänegestärkt: um die Geburtenramark. Röger schreibt in den
BERND WÜSTNECK / DPA
Die Bundesregierung möchte den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Internet stärker bekämpfen. „Es gibt zu wenig Forschung, zu wenig Prävention und zu wenig Handhabe, wie man Minderjährige vor sexueller Gewalt durch die digitalen Medien schützen kann“, sagt der Missbrauchsbeauftragte JohannesWilhelm Rörig. Am Dienstag stellt er die Expertise „Sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien“ vor, die er in Auftrag gegeben hatte. „Anbieter sozialer Netzwerke wie Facebook und Suchmaschinenbetreiber wie Google sollen in die Pflicht genommen werden, Kinder besser vor Cybergrooming und unfreiwilliger Konfrontation mit sexuellem Bildmaterial zu schützen“, sagt Rörig. Als Cybergrooming wird bezeichnet, wenn Täter sich das Vertrauen der Kinder erschleichen. Rörig fordert außerdem, dass die Bundesregierung „den Kinder- und Jugendschutz mitdenken muss, wenn sie die Regelungen zum Thema Cybersicherheit überarbeitet“. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte neue Regelungen zur Cybersicherheit angekündigt. Rörig will den Schutz vor sexueller Gewalt in digitalen Medien nun zu einem Schwerpunkt seiner restlichen Amtszeit machen. akm
te zu fördern. So wurden manche Soldatenväter zu Unterhalt verpflichtet. Die Mütter riskierten Ehrenstrafen wie Kopfrasur durch Landsleute. Offenbar gelang es aber vielen, die Vaterschaft geheim zu halten. Die Kinder, die Röger interviewte, hätten ihr berichtet, dass sie eher im familiären Umfeld als in der Öffentlichkeit Ablehnung erführen. klw
VOLKER HARTMANN / DDP IMAGES
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Intensiverleben
Deutschland
Kanzlerin Merkel
Das Schweigebündnis JOHN MACDOUGALL / AFP / GETTY IMAGES
Sicherheit Drei Wochen nach dem Terroranschlag in Berlin ist die Frage nach der politischen Verantwortung für die Behördenpannen völlig offen. Union und SPD wollen sich im Superwahljahr 2017 nicht gegenseitig belasten, deshalb stockt die Aufklärung.
P
lötzlich ging alles ganz reibungslos, völlig ohne Ärger. Am vergangenen Dienstag fuhr Thomas de Maizière an der Pforte des Justizministeriums am Berliner Gendarmenmarkt vor. Der Innenminister hatte seine Staatssekretärin Emily Haber dabei, einen dicken Packen Unterlagen und den festen Willen, den Streit mit der SPD um schärfere Sicherheitsgesetze beizulegen. Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz sah es einen Moment so aus, als begänne nun die Suche nach den politisch Verantwortlichen. Als de Maizière nach Silvester eine große Sicherheitsreform vorschlug und kurz darauf die Entschiedenheit der SPD anzweifelte, sagte deren Generalsekretärin Katarina Barley: „Herr de Maizière lenkt nur vom eigenen Versagen 24
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ab.“ Es klang, als wollte die SPD den Kopf gut aussehen, wenn sie den Fall des Attendes Innenministers fordern. täters Anis Amri allzu scharf aufklären. Ein Am Dienstag war davon keine Rede Spitzengenosse räumt ein: „Gewinnen könmehr. De Maizière und sein SPD-Kollege nen wir bei dem Thema nicht. Aber wir Heiko Maas setzten sich im fünften Stock müssen vermeiden zu verlieren.“ des Justizministeriums zusammen. Keine Als in der Silvesternacht 2015 nordafridrei Stunden später stand ein neues Sicher- kanische Migranten Frauen belästigt hatten, heitspaket. „All das zeigt, dass der Innen- ohne dass die Polizei einschritt, dauerte es minister und der Justizminister in schwie- nur eine Woche und der Kölner Polirigen Zeiten imstande sind, vernünftige zeipräsident war seinen Job los. Die EntErgebnisse zu erzielen“, sagte de Maizière. lassung sei notwendig gewesen, um das Man kann den Auftritt der beiden Minis- „Vertrauen der Öffentlichkeit“ zurückzugeter als Zeichen dafür sehen, dass die Große winnen, sagte damals der nordrhein-westKoalition funktioniert und sich nicht mit fälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). Nun sind zwölf Menschen tot, und nieparteipolitischem Gezänk aufhält. Doch in Wahrheit steckt in der schnellen Einigung mand bestreitet, dass es schwere Versäumauch die gemeinsame Furcht vor dem Wäh- nisse im Umgang mit dem Attentäter Anis ler. Union und SPD wissen, dass sie nicht Amri gab. Doch keiner mag dafür die Ver-
Die islamistische Gefährderszene ...
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Islamisten werden von den deutschen Sicherheitsbehörden als Gefährder eingestuft. (Stand: Ende 2016)
Rund die Hälfte der Gefährder hält sich derzeit nicht in Deutschland auf.
324 sind deutsche Staatsbürger.
Quelle: BMI
224 sind Ausländer, darunter 62 mit abgelehntem Asylantrag. Mehr als 80 sind in Haft.* *eine Aufschlüsselung der inhaftierten Gefährder liegt nicht vor.
... und Auszüge aus dem 10-Punkte-Plan von Innen- und Justizministerium ABSCHIEBUNGSHAFT
AUSREISEGEWAHRSAM
Erleichterte Voraussetzungen z. B. durch Einführung eines Haftgrundes, wenn von einer Person eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausgeht.
von maximal vier auf zehn Tage verlängern
DRUCK AUF DIE HERKUNFTSLÄNDER
ELEKTRONISCHE FUSSFESSELN
erhöhen, damit sie ihre eigenen Staatsbürger zurücknehmen.
für Gefährder
antwortung übernehmen, weder Jäger noch Bundesinnenminister de Maizière und schon gar nicht die Kanzlerin. Noch sind längst nicht alle Fragen geklärt, aber einiges schält sich bereits heraus: Das vom SPD-Mann Jäger geführte Innenressort in Düsseldorf hat nach Lage der Dinge eine verhängnisvolle Entscheidung getroffen, als es im Sommer mitentschied, Amri aus dem Gefängnis zu entlassen. Und Bundesinnenminister de Maizière und Bundesjustizminister Maas haben, wie sich nun zeigt, gravierende Gesetzeslücken zu lange toleriert. Was folgt daraus? Angela Merkel hat sich unmittelbar nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz dazu entschieden, neue Sicherheitsmaßnahmen zu unterstützen.
RESIDENZPFLICHT FÜR ASYLBEWERBER, die eine falsche Identität angegeben haben
Am 20. Dezember, einen Tag nach der Attacke, rief CSU-Chef Horst Seehofer bei ihr an und verlangte, dass es massive Gesetzesverschärfungen geben müsse. „Da bin ich dabei“, soll sie gesagt haben, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht restlos klar war, wer für die Tat verantwortlich ist. Merkel geht es offenkundig um politische Schadensbegrenzung. „Wir haben nicht vor, mit der SPD jetzt ein Schwarzer-Peter-Spiel zu beginnen“, sagt ein enger Mitstreiter Merkels. „Dabei würden beide Seiten nur verlieren.“ Im Kanzleramt galt es immer als Albtraumszenario, dass ein Migrant einen schweren Terroranschlag in Deutschland verübt. Natürlich ist Merkels Flüchtlingspolitik nicht die Ursache für den Anschlag
vom Breitscheidplatz, wie jetzt die AfD behauptet. Aber dass Amri im Sommer 2015 nicht ordentlich registriert wurde und am Ende mit 14 verschiedenen Identitäten in Deutschland unterwegs war, lag auch daran, dass die Behörden in jenen Monaten hoffnungslos überfordert waren. Die Chefs von Bundespolizei und Bundesverfassungsschutz warben damals im Kanzleramt dafür, Flüchtlinge notfalls abzuweisen. Merkel und ihre Leute lehnten mit dem Argument ab, dies würde zu gewaltsamen Szenen an der Grenze führen. Eigentlich müsste Merkel im Fall Amri die Aufklärung forcieren. Stattdessen sagte sie in ihrer Neujahrsansprache: „Unser Staat tut alles, um seinen Bürgern Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten.“ Dabei galt genau dies im Fall Amri nicht. Der Tunesier durfte auf freiem Fuß bleiben, obwohl sein Asylantrag abgelehnt worden war und er Anschlagspläne schmiedete. Ist das möglich in einem Staat, der „alles“ für die Sicherheit seiner Bürger tut? Merkels Satz sollte vor allem die SPD beruhigen. Wie die Kanzlerin haben die Sozialdemokraten kein Interesse daran, dass bohrende Fragen gestellt werden. Im Mai wird in Nordrhein-Westfalen gewählt, und der Fall Amri hat das Potenzial, die Regierung von Hannelore Kraft zu stürzen. Gut ein halbes Jahr nach seiner Einreise nach Deutschland wurde Amri von der Polizei in NRW als islamistischer „Gefährder“ eingestuft. Ende Juni 2016 wurde sein Asylantrag ablehnt, einen Monat später saß er in einem Fernbus von Berlin nach Zürich. In Friedrichshafen am Bodensee griff ihn die Bundespolizei auf. Amri hatte nicht nur Drogen bei sich, sondern auch gefälschte italienische Papiere. Die Beamten verständigten die Stadt Friedrichshafen, diese beantragte „in Vertretung“ der zuständigen Ausländerbehörde im nordrheinwestfälischen Kleve, Amri festzusetzen. Ein Bereitschaftsrichter am Amtsgericht Ravensburg bekam den Fall auf den Tisch. Er fuhr eigens nach Friedrichshafen, um Amri anzuhören. Der behauptete, dass er Deutschland verlassen wolle. Der Richter glaubte ihm nicht. Er ordnete eine vorläufige „Haft zur Sicherung der Abschiebung“ an, befristet bis Montag, 1. August, 18 Uhr. Bis dahin solle Kleve sich rühren. Es war die große Chance, Amri, der zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach Thema im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern gewesen war, endlich festzusetzen. Als am Montag der Fall in der Ausländerbehörde Kleve besprochen wurde, wandte diese sich an das Innenministerium in Düsseldorf. Dort beschäftigte sich die sogenannte Siko mit dem Fall, eine Runde mit Sicherheitsexperten aus verschiedenen Abteilungen. Die Beamten waren der Ansicht, dass die Abschiebung Amris nicht innerhalb DER SPIEGEL 3 / 2017
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Deutschland
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sem Herbst legte de Maizière einen Vorschlag vor – doch die SPD bremste ihn aus. Das sollte sich im Fall Amri rächen. Mehrmals diskutierten die Beamten in Nordrhein-Westfalen und im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum in Berlin die Frage, ob es möglich sei, Amri mithilfe von Paragraf 58a abzuschieben. Immer wieder kamen sie zu dem Ergebnis: nein. Nun hat die Regierung reagiert und eine Reihe von Gesetzesverschärfungen auf den Weg gebracht. Aber sind es die richtigen? Die deutsche Politik hat eine gewisse Übung darin, nach schockierenden Ereignissen Gesetze überhastet auf den Weg zu bringen, die wenig mit dem eigentlichen Problem zu tun haben. Nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015 vereinbarte die Große Koalition, das Prinzip „Nein heißt Nein“ im Strafrecht zu verankern. Als ob die Frauen in der Silvesternacht nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht hätten, dass sie nicht begrapscht und belästigt werden wollen. De Maizière und Maas haben nun ein Paket verabschiedet, das teils sinnvolle Regeln enthält. Potenzielle Attentäter sollen einfacher in Abschiebehaft genommen werden können, außerdem soll jene unselige Regelung fallen, wonach diese nur angeordnet werden kann, wenn sie innerhalb von drei Monaten erfolgversprechend ist. Aber die Große Koalition will nun auch Fußfesseln für Gefährder einführen, obwohl das gefährlich nahe am Gesinnungsstrafrecht ist und Praktiker nichts von der Regelung halten (siehe Seite 28). Außerdem bleibt es beim Kompetenzwirrwarr zwischen den Sicherheitsbehörden, weil sich de Maizière nicht mit seiner Forderung durchsetzen kann, den Verfassungsschutz beim Bund zu zentralisieren. „Mit Bayern wird es keine Auflösung der Landesämter für Verfassungsschutz geben“, sagt CSU-Chef Horst Seehofer. Derzeit bereitet das Bundesinnenministerium einen Bericht vor, mit dem der Fall Amri aufgearbeitet werden soll. Aber bevor er ins Parlament kommt, wird er erst mal dem Kanzleramt vorgelegt. Dort denkt man inzwischen vor allem an die Wahl im September. Das wiederum könnte am Ende dazu führen, dass der Fall Amri in einem Untersuchungsausschuss landet. Die Linken haben dies bereits gefordert, auch die Grünen neigen immer stärker zur Einsetzung eines solchen Gremiums. Exfraktionschef Jürgen Trittin will darauf nicht warten und hat schon mal de Maizières Rücktritt gefordert. Damit ihm keiner zuvorkommt. HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF
von drei Monaten über die Bühne gehen lin aufhalte – und daher die Ortung nicht könne, weil es keine Aussicht gebe, dass mehr explizit thematisiert. die tunesischen Behörden die notwendigen Die Fragen der Opposition im BundesPapiere so schnell lieferten. Um 16.59 Uhr tag werden drängender, auch an de Maischickt die Ausländerbehörde Kleve eine zière. Der Fall offenbart nicht nur VerMail an das Gefängnis in Ravensburg: säumnisse des Bundeskriminalamts und Amri sei sofort zu entlassen. des Bundesamts für Verfassungsschutz, deBei einer Anhörung im Innenausschuss ren Dienstherr der Innenminister ist. Sonin der vergangenen Woche sagte der nord- dern auch die Gesetzeslücken, die jahrerhein-westfälische Innenminister Jäger, die lang hingenommen wurden. Behörden seien im Fall Amri „bis an die Im Zentrum der Debatte steht Paragraf Grenzen des Rechtsstaates“ gegangen. 58a des Aufenthaltsgesetzes, der eigentlich Wenn man seiner Argumentation folgt, wie geschaffen dafür schien, das Land vor gab es keinen legalen Weg, den späteren Leuten wie Amri zu schützen. Vor 13 JahAttentäter vom Breitscheidplatz aufzuhal- ren setzte der damalige Innenminister Otto ten. Nur: Stimmt das? Schily (SPD) ihn durch. Er sieht vor, dass Der Asylrechtsexperte Daniel Thym ver- ein Landesinnenminister oder in besontritt die Ansicht, dass das Gesetz sehr wohl ders bedeutsamen Fällen der Bundesinnengenug Spielraum bot. „Wenn die Behörden wirklich gewollt und von Anfang an besser kooperiert hätten, dann hätte man auch rechtfertigen können, dass Amri Anfang August weiter in Abschiebungshaft bleibt“, sagt er. Dass der Fall Amri noch längst nicht aufgeklärt ist, bestätigte sich einmal mehr am Donnerstag. Da berichtete das Bundesinnenministerium in einer Telefonkonferenz Mitgliedern des Innenausschusses von etlichen Pannen im Umgang mit dem späteren Attentäter. So habe ein V-Mann des nordrheinwestfälischen Landeskriminalamts nicht nur zweimal darüber berichtet, dass Amri vorhabe, sich Schnellfeuergewehre für einen Anschlag zu besorgen. Auch habe der VMann den Tunesier mindestens einmal nach Berlin gefahren. Noch heikler ist die Information, dass Amri in den Wochen vor dem Innenminister de Maizière: Vermeiden zu verlieren Anschlag offenbar doch nicht spurlos verschwunden war. Zunächst hatte es minister direkt eine Abschiebung anordgeheißen, der Tunesier sei unauffindbar ge- nen kann. Klagen gegen die Entscheidung wesen, nachdem das Berliner Landeskrimi- kann man nur vor dem Bundesverwalnalamt seine monatelange Überwachung tungsgericht. „Aktion Kehraus“ tauften Mitte September 2016 beendet hatte. Am die Beamten die Regelung. Donnerstag nun räumte das BundesinnenBei der Einführung des Paragrafen 58a ministerium ein, sowohl das Bundesamt für hoffte man, dass nun Hunderte Islamisten Verfassungsschutz als auch die Landesämter des Landes verwiesen werden. Aber das erin Berlin und Düsseldorf hätten Amri bis wies sich als Irrtum. Aus den vergangenen zuletzt auf dem Schirm gehabt – allerdings 13 Jahren ist nur ein einziger Fall bekannt, nicht rund um die Uhr, sondern nur im Rah- in dem die Regelung angewandt wurde. Im men sogenannter Standardmaßnahmen. So Jahr 2006 hatte der sächsische Innenminisgelang es etwa dem nordrhein-westfälischen ter entschieden, auf diesem Weg einen alVerfassungsschutz, Amris Handy am 28. Ok- gerischen Terroristen abzuschieben. Doch tober grob im Großraum Berlin zu orten. bevor die Behörden den Mann ins Flugzeug Diese Information sei jedoch nicht übermit- setzen konnten, ging er freiwillig. telt worden, hieß es nun in Berlin. Aus DüsSchon vor zehn Jahren, damals hieß seldorf ist dagegen zu hören, man habe ei- der Ressortchef Wolfgang Schäuble, kam gens wegen der Ortung am 2. November das Bundesinnenministerium zu der Ereine Sitzung im Gemeinsamen Terrorismus- kenntnis, dass der vermeintliche „Kehrabwehrzentrum initiiert. Dort habe man al- aus“-Paragraf für die Praxis nichts taugt. lerdings überrascht festgestellt, dass allen Trotzdem änderten weder Schäuble noch bekannt gewesen sei, dass Amri sich in Ber- seine Nachfolger die Regelung. Erst in die-
Dietmar Hipp, Horand Knaup, Ralf Neukirch, René Pfister, Fidelius Schmid, Wolf Wiedmann-Schmidt
Das Sacher. In bester Gesellschaft. Liebe. Lügen. Leidenschaft. Mo 16. und Mi 18. Januar | 20:15
Entfesselte Pläne
TIM WEGNER / DER SPIEGEL
TIM WEGNER / DER SPIEGEL
Terrorismus Kann man islamistische Gefährder mit elektronischen Fußfesseln unter Kontrolle halten? Sicherheitsbeamte und Rechtsexperten sind skeptisch.
Überwachungsstellenleiter Amthor (r.), Fußfessel: „Der Akku ist eindeutig die Schwachstelle“
A
ls „HE 10“ in Osthessen aus dem Blickwinkel der Satelliten verschwindet, geht rund hundert Kilometer weiter südwestlich ein Alarm los: „Ausschlussverletzung Hünfeld“ ploppt plötzlich auf einem großen Bildschirm an der Wand eines kargen Büros der hessischen Justizverwaltung in Bad Vilbel auf. Für die beiden Bediensteten sieht es einen Moment lang so aus, als habe einer ihrer Probanden gerade eine verbotene Grenze überschritten. Kurze Zeit später Entwarnung. Der Mann hatte sich wohl nur der Zone genähert, sie aber nicht betreten. Das System hatte vorsorglich Alarm gemeldet, als die Satellitensignale nicht ausreichten, um den exakten Standort zu bestimmen. „HE 10“ ist die Codenummer einer elektronischen Fußfessel. Der Mann, der sie trägt, saß wegen zwei Mordversuchen lange im Gefängnis. Die Richter halten ihn noch immer für gefährlich, deshalb darf er sich nach seiner Entlassung nur unter strengen Auflagen in Freiheit bewegen. Wenn er den Wohnorten seiner früheren Opfer zu nahe kommt, verrät ihn ein GPSSatellitenempfänger in einer etwa zwölf Zentimeter langen, 180 Gramm schweren Box. Sie ist mit einem Plastikband knapp über seinem Fußknöchel befestigt. Überwacht werden die Bewegungen von „HE 10“ in der „Gemeinsamen elektronischen Überwachungsstelle der Länder“ (GÜL) nahe Frankfurt am Main. Dort, im Erdgeschoss eines ehemaligen Gerichtsgebäudes, behalten 16 Justizbedienstete im Schichtbetrieb 88 Fußfesselträger aus elf Bundesländern im Blick, rund um die Uhr. 28
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Bald könnten es deutlich mehr werden. Denn nach den Plänen von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) sollen in Zukunft auch sogenannte Gefährder mit einer elektronischen Fußfessel überwacht werden können. Der Vorschlag ist Teil eines hastig geschnürten Maßnahmenpakets, das die Große Koalition nach dem Terroranschlag vom Berliner Breitscheidplatz nun rasch auf den Weg bringen will. Die Idee ist nicht neu. Schon im vergangenen Frühjahr hatte der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) gefordert, islamistische Gefährder mit elektronischen Fußfesseln zu überwachen. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster schwärmte, dank der Fußfessel ließen sich gewaltbereite Extremisten „mit deutlich weniger Personalaufwand“ im Blick behalten. Unter Juristen hat der Plan, nicht straffällig gewordene Personen an die elektronische Kette zu legen, dagegen wenig Freunde. Denn die verfassungsrechtlichen Bedenken wiegen schwer. Die Fußfessel als präventive Maßnahme einzusetzen, könnte gegen Grundsätze des Rechtsstaats verstoßen. Rechtsexperten bezweifeln, dass ein solches Instrument vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben könnte. Vor allem sehen die Kritiker in der Fußfessel einen weiteren Schritt hin zum Gesinnungsstrafrecht, das sich an den vermuteten Absichten eines Menschen orientiert, nicht an seinen Taten. Selbst in den Sicherheitsbehörden ist das Echo auf das Konzept von de Maizière und Maas verhalten. Im Bundeskriminal-
amt (BKA) begrüßt man zwar die neue Methode, dennoch heißt es selbst hier: Mit der elektronischen Fußfessel werde man vermutlich keinen Terroristen davon abhalten, ein Attentat zu verüben. Als im vergangenen Juli zwei Männer in der Normandie in eine Kirche eindrangen und einen 85 Jahre alten Priester ermordeten, trug einer der Täter eine Fußfessel. Auch SPD-Bundestagsabgeordnete hinterfragen intern den Sinn dieser Maßnahme. Nach außen hin aber unterstützen sie die Vorschläge ihres Justizministers. Bislang wird die Fußfessel mit GPSÜberwachung in Deutschland bei verurteilten Straftätern eingesetzt, von denen nach Meinung der Richter auch nach dem Ende der Gefängnisstrafe noch eine große Gefahr ausgeht. „Elektronische Aufenthaltsüberwachung im Rahmen der Führungsaufsicht“, heißt das offiziell. Die rechtliche Grundlage dafür gibt es seit Anfang 2011, ein Jahr später wurde die zentrale Überwachungsstelle der 16 Bundesländer eröffnet. 63 der 88 dort momentan überwachten Probanden sind wegen Sexualverbrechen verurteilt worden, 25 wegen Gewaltdelikten wie Mord oder Totschlag. In Hessen gibt es seit mehr als 15 Jahren noch eine „kleine Fußfessel“, die über keinen GPS-Empfänger verfügt und daher auch keine lückenlose Überwachung ermöglicht. Sie enthält lediglich einen schwachen Sender, mit dem die Behörden nur kontrollieren können, ob die Fußfesselträger zu festgelegten Zeiten zu Hause sind. Diese Art des Hausarrests soll vor allem
Deutschland
bei jüngeren Tätern Haft vermeiden. Mo- bis die Polizei dann am Ort der letzten Jahren verurteilt wurde und diese vollstänmentan tragen in Hessen etwa 40 Personen Positionsmeldung ist, kann der ehemalige dig verbüßt hat, kann im Rahmen der sodiese „kleinen Fußfesseln“, die ebenfalls Träger der Fessel längst untergetaucht sein. genannten Führungsaufsicht verpflichtet So war es im September 2015 im Fall des werden, bis zu fünf Jahre lang eine Fußvon der GÜL kontrolliert werden. Für den Einsatz bei Gefährdern käme irakischen Islamisten Rafik Y.: Nachdem fessel zu tragen, wenn von dem Betroffejedoch wohl nur die technisch anspruchs- er sich seiner Fußfessel entledigt hatte, lief nen weiter eine Gefahr ausgeht. Deshalb vollere Variante mit GPS-Empfang in Be- er mit einem Messer durch Berlin-Spandau, kommt es nicht immer zu einer solchen tracht. Denkbar sind zwei Einsatzmöglich- verletzte eine Polizistin schwer, bevor de- Auflage. Als Renee Marc S., ein gewaltkeiten: Die Behörden könnten Gebiete ren Kollege ihn niederschoss. bereiter Salafist aus Bremen, der als Helfer Auch der Berliner Attentäter Anis Amri und Werber von al-Qaida zu dreieinhalb definieren, die von den Gefährdern mit möglichen Terrorplänen nicht betreten hätte sich wohl nicht von einer Fußfessel Jahren Haft verurteilt worden war, entwerden dürfen, beispielsweise Bahnhöfe, daran hindern lassen, einen Lkw zu ent- lassen wurde, beantragte die BundesanFlughäfen, die Umgebung von Chemie- führen und in eine Menschenmenge zu waltschaft, ihn auch mit einer Fußfessel steuern. Die Fußfessel hätte den Behörden zu überwachen. Den Antrag nahm sie fabriken oder Kraftwerken. Oder sie könnten das System so pro- geholfen, ihn noch besser im Blick zu ha- schließlich zurück, da die gesetzlichen grammieren, dass der Gefährder ein fest- ben, seine Pläne hätte sie nicht verraten. Grundlagen dafür fehlten: Seine Straftaten Für Peter Neumann, Tergelegtes Gebiet nicht verlassen kann, ohne waren nicht schwerwieeinen Alarm auszulösen. Damit könne bei- rorismusexperte vom Longend genug. Elektronische spielsweise sichergestellt werden, dass „die doner King’s College, ist „Jetzt plötzlich soll es Fußfessel nun geforderte Residenzpflicht für Asyl- die elektronische Fußfessel möglich sein, jemandem Zahl der Träger suchende“ durchgesetzt wird, „die falsche deshalb nur eines „von vieaufgrund einer vagen poli2016 in Deutschland Angaben über ihre Identität gemacht ha- len Instrumentarien“, das zeilichen Verdachtsprogno88 seit Einführung ben“, meint die hessische Justizministerin „im Einzelfall“ sinnvoll se ohne gerichtliches Urteil Eva Kühne-Hörmann (CDU). Sie drängt sein kann. „Etwa dann, diesen schwerwiegenden schon länger auf einen erweiterten Einsatz wenn man sehr schnell festEingriff in die Freiheitsrechder Fußfessel. Wer gegen die damit ver- stellen will, ob ein Verdächte aufzuerlegen“, sagt Matbundenen Auflagen verstoße und zum tiger dort ist, wo er sein thias Jahn, der Strafrechts2012 Beispiel verbotene Gebiete betrete, müsse soll.“ Auch bei der Aufkläprofessor und Richter am 34 schon heute mit bis zu drei Jahren Haft rung von Straftaten könnOberlandesgericht in Frankten die Fußfesseln helfen: rechnen. furt am Main ist. „Das Momentan wird in Bad Vilbel rund Anhand der gespeicherten dürfte verfassungsrechtlich 20-mal täglich ein Alarm ausgelöst. In nur Daten kann man ein Beweschwierig werden.“ rund fünf Prozent der Fälle aber müssen gungsprofil des VerdächtiZuerst müsse der Begriff die Mitarbeiter die Polizei rufen. Denn gen erstellen: Wann hat er des Gefährders klar defihäufig gibt es technische Ursachen, etwa sich wie lange wo aufgehalniert und vereinheitlicht dass der Fußfessel langsam der Strom aus- ten? Allerdings sieht Neuwerden. Die Kriterien, wageht. „Der Akku ist eindeutig die Schwach- mann rechtliche Probleme. rum man in einem MenAlarmmeldungen gingen seit 2012 in der zentralen Tatsächlich ist „Gefährstelle“, sagt Hans-Dieter Amthor, 61, der schen eine Gefahr vorausÜberwachungsstelle ein, Leiter der Überwachungsstelle. Der stetige der“ kein Begriff, der im sieht, müssten nachvolldavon zogen Kontakt mit bis zu elf GPS-Satelliten und Gesetz definiert ist. Die ziehbar auf sein Verhalten die regelmäßige Verbindung mit dem Polizeien in den 16 Bundesund nicht generell auf seiHandynetz kosten viel Energie. In der ländern haben selbst festne Persönlichkeit zurückRegel müssen die Geräte nach spätestens gelegt, wen sie für gewillt zuführen sein. „Ich sehe eine Polizeiunterrichtung 24 Stunden aufgeladen werden, und zwar halten, eine „politisch moderzeit nicht, dass der Vornach sich. tivierte Straftat von erhebmindestens zwei Stunden lang. schlag unseren rechtsstaatQuelle: Hessisches Ministerium der Justiz Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden stel- licher Bedeutung“ zu verlichen Mindeststandards len nicht nur die technische Zuverlässigkeit üben. Das BKA zählt derentspricht.“ der Geräte infrage, sondern auch den Sinn zeit 548 solcher Personen, die Hälfte hält Rein technisch wäre die Überwachungsihres Einsatzes gegen die Gefahren des is- sich im Ausland auf. Rund 80 sind derzeit stelle in Bad Vilbel schon heute für mehr lamistischen Terrors. „Da wird nun wieder in Deutschland in Haft. Fußfesselträger gerüstet: Das von einer Die meisten Namen dieser Gefährder israelischen Sicherheitsfirma entwickelte ein Allheilmittel präsentiert, das gar keines ist“, sagt ein hochrangiger Sicherheitsbe- werden von den Landeskriminalämtern System sei auf eine Kapazität von etwa amter. „Mit dieser Entscheidung werden ans BKA geliefert, sie sind auch für ihre 500 Fußfesseln ausgelegt, sagt Hans-Dieter Erwartungen an die Sicherheitsbehörden Beobachtung zuständig. Soll die Fußfessel Amthor,. Möglicherweise müsse das Perangelegt, die sich einfach nicht erfüllen als bundesweites Mittel eingesetzt werden, sonal aufgestockt werden, wenn die Gekönnen: Wir werden mit Fußfesseln keine müssten neben dem Bund auch die Länder fährder sehr oft Alarm auslösten. „Wir haihre Polizeigesetze ändern. Boris Pistorius ben ja keine Erfahrung mit solchen LeuTerroranschläge verhindern können.“ Tatsächlich sind die Geräte zwar was- (SPD), der Innenminister Niedersachsens, ten“, sagt Amthor. „Vielleicht sind die auch serdicht und stoßfest, doch wer sie loswer- hat in einem Schreiben an den Vorsitzen- ganz brav.“ Matthias Bartsch, Maik Baumgärtner, den will, schafft es auch. Das schwarze den der Innenministerkonferenz, seinen Martin Knobbe, Jörg Schindler, Kunststoffband, mit dem die Box am Un- sächsischen Amtskollegen Markus Ulbig Wolf Wiedmann-Schmidt terschenkel befestigt ist, muss schon aus (CDU), angeregt, sich auf eine einheitliche rechtlichen Gründen mit einer Zange auf- Regelung in den Ländern zu verständigen. Video: Bei den FußfesselBislang sind die Hürden für das Anlegen getrennt werden können, etwa bei mediÜberwachern der Fußfessel hoch: Nur wer wegen eines zinischen Notfällen. Wenn das Band zerstört wird, geht in schweren Gewalt- oder Sexualdelikts zu spiegel.de/sp032017fussfessel Bad Vilbel zwar sofort ein Alarm ein, doch einer Freiheitsstrafe von mindestens drei oder in der App DER SPIEGEL
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Deutschland
Krieg mit Leaks Essay Die US-Geheimdienste werten Moskaus Einflussnahme im amerikanischen
Ansicht der Vereinigten Staaten aus dem All
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ine Art Vendetta soll dahinterstehen, angeordnet vom russischen Präsidenten persönlich. So haben es die amerikanischen Geheimdienste Barack Obama und Donald Trump vorgetragen. Der Auftraggeber der Leaks im amerikanischen Wahlkampf sei mit „hoher Sicherheit“ an der Kremlspitze zu finden, so ihre Analyse. Angetrieben habe ihn ein archetypisches Motiv für menschliches Verhalten: der Wunsch nach Rache. Angeblich brachten unter anderem die Enthüllungen rund um die russischen Dopingskandale sowie die sogenannten Panama Papers Wladimir Putin so in Rage, dass er Genugtuung wollte. Wenn das stimmt, ergibt sich eine neue Lesart für das, was im amerikanischen Wahlkampf geschehen ist: Die Veröffentlichungen Zehntausender E-Mails der Demokraten wären ein klassischer Vergeltungsschlag. Auge um Auge, Leak um Leak. Putins Rache wäre demnach Teil jenes Schlagabtauschs der Supermächte, der sich „Information Warfare“ nennt, Informationskrieg. Es ist nicht neu, dass Informationen wie Waffen wirken können und Worte manchmal schwerere Wunden reißen als Bomben und Granaten. Propaganda und verdeckte Kampagnen sind uralte Techniken der politischen Kommunikation. Sie wurden auch zu Zeiten des Kalten Krieges auf beiden Seiten eingesetzt. Informationen zu verbreiten, die Menschen, Organisationen oder Unternehmen diskreditieren oder „zersetzen“ sollen, gehört zum Standardrepertoire von Geheimdiensten. Neu ist aber die „Waffengattung“, die jetzt verstärkt zum Einsatz kommt: strategische Leaks. Um an die Informationen für ihren Krieg der Leaks zu kommen, schicken Staaten ihre Dienste oder angeheuerte Cybersöldner auf Onlineraubzüge. Sie erbeuten oft riesige Datenkonvolute, die ungefiltert veröffentlicht werden, wie die Mailarchive der Demokraten oder von Hillary Clintons Wahlkampfmanager. Das Ziel: Wahlen zu beeinflussen, die eigenen 30
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ROBERT SIMMON / NASA / NOAA
Wahlkampf als Vergeltungsschlag. Es droht eine neue Ära der Informationskriege. Von Marcel Rosenbach
Wirtschaftsinteressen zu befördern, die Regierungen anderer Staaten zu diskreditieren oder gar die Demokratie zu unterminieren. Leaks – das waren bisher vor allem Veröffentlichungen einzelner Whistleblower, Idealisten, die oft unter hohem persönlichen Risiko aus moralischem Antrieb Geheimnisse offenbarten, um Missstände oder illegale Umtriebe aufzudecken. Bei der neuen Form der schwarzen PR sind der Staat und seine Geheimdienste am Werk, das macht sie so gefährlich. Und sie wird weiter zunehmen – schon deshalb, weil die „Informationsoperationen“ im amerikanischen Wahlkampf in den Augen ihrer Urheber als Erfolg gelten dürften. Die Demokratische Partei und ihr Democratic National Committee (DNC) sind beschädigt, Trump ist überraschender Wahlsieger und das Vertrauen in demokratische Verfahren untergraben – die Bilanz dürfte den Beteiligten, sollte die Analyse der US-Dienste zutreffen, den vaterländischen Verdienstorden sichern. Und den Verantwortlichen Appetit auf mehr machen. Dabei können die Nutznießer von heute die Verlierer und Opfer von morgen sein, wie die vergangene Woche zeigte, als die US-Plattform BuzzFeed ein Dossier mit brisanten Informationen über Donald Trump veröffentlichte: Angeblich verfüge Moskau über kompromittierendes Material (im Russischen knapp: „Kompromat“) unter anderem über eine angebliche Orgie in der Präsidentensuite eines Moskauer Luxushotels. Der Kreml und Trump dementierten (siehe auch Seite 82). Die Munition für neue strategische Leaks, also tatsächlich oder vermeintlich kompromittierende Daten, schlummert längst in den Datenbanken von Geheimdiensten weltweit. Es sind die Früchte von Cyberspionagekampagnen der vergangenen Jahre. Bislang wurden sie den Mächtigen hinter verschlossenen Türen als Briefings der eigenen Dienste vorgetragen, häppchenweise. Nun haben
die Feldherren der Informationskriegsführung erkannt, dass es weitaus effektiver sein kann, das volle Menü online zu servieren. Es liegt damit in den Händen der russischen, amerikanischen oder chinesischen Staatsführung, wann sie die nächste Informationsbombe zünden. Es ist keine Frage des Könnens, das ist das Beunruhigende, nur eine Frage des Wollens. Sollte der Stoff einmal ausgehen, kann er auf Befehl leicht beschafft werden. Der mangelhafte Schutz der IT-Systeme von Parteien, Behörden und Unternehmen macht es möglich und immer noch viel zu einfach. In Berlin wächst die Befürchtung, auch im anlaufenden Bundestagswahlkampf könnten spektakuläre strategische Leaks eine Rolle spielen, sie ist durchaus berechtigt. Immerhin ist ein brisanter Datenabfluss bereits bekannt geworden. Im sogenannten Bundestags-Hack wurden 2015 viele Gigabyte an Daten entwendet. Die Angreifer nutzten teilweise dieselbe Infrastruktur wie bei dem Raubzug gegen den DNC. Werden die Daten also bald irgendwo auftauchen? Könnte der Kreml mit einer „BerlinLeaks“-Offensive versuchen, einen weiteren Wahlerfolg von Angela Merkel zu verhindern? Die US-Geheimdienste gehen in ihrer Analyse davon aus, für die Russen seien solche Operationen die „neue Normalität“, die sie künftig auch „gegen US-Alliierte und in deren Wahlkämpfen einsetzen werden“. Einen Vorgeschmack auf die neue Ära des „Information Warfare“ lieferte der Angriff auf Sony im Dezember 2014. Das Filmstudio Sony Pictures hatte einen Film mit dem Titel „The Interview“ produziert, eine schrille und ziemlich belanglose Komödie, in der es unter anderem um einen Anschlag gegen den nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un ging. Dem Machthaber und seiner Kamarilla gefiel das Hollywoodspektakel augenscheinlich gar nicht, es war nicht ihre Sorte von Humor. Jedenfalls begann eine bis dahin unbekannte Hackertruppe zum Jahresende 2014 damit, in mehreren Tranchen interne Mails von Sony Pictures zu veröffentlichen. Sie enthüllten nichts wirklich Illegales, aber sie waren für die Betroffenen hochnotpeinlich. So wurde publik, dass ein bekannter Produzent Angelina Jolie als „minimal talentiert“ bezeichnet und mit der Kochefin des Studios ziemlich rassistische Scherze über Präsident Obama gerissen hatte. Sony Pictures überstand den Vergeltungsschlag – allerdings verlor die Aktie des Mutterkonzerns zeitweise mehr als zehn Prozent ihres Werts und die Kochefin ihren Job. Die fälligen Entschädigungen und Reparaturarbeiten samt besserem Schutz vor Wiederholungstätern kosteten einen zweistelligen Millionenbetrag. Es war eine deutliche Botschaft, die nicht nur bei Sony Pictures gehört wurde: Legt euch besser nicht noch einmal mit uns an. Abschreckung, auch darum kann es in diesem Informationskrieg neuer Prägung gehen.
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er neue Krieg ist kostengünstig, um ihn zu führen, braucht es keine Riesenbudgets. Auch kleine Player können im Informationskrieg große Wirkung entfalten. Sie brauchen dafür, auch das ist eine Lektion aus dem US-Wahlkampf, nicht einmal aufwendig zu hacken. Auch Fake News, also frei erfundene „Nachrichten“, haben sich als effektive Munition erwiesen. Erst hacken, dann leaken oder gleich faken – die Informationskrieger befinden sich in einer gefährlichen Eskalationsspirale. Noch-Präsident Obama hat bereits mit den Vergeltungsmaßnahmen für das begonnen, was aus der Perspektive des Kreml selbst ein Vergeltungsschlag war. Er ließ Diplomaten ausweisen, verhängte Sanktionen – und kündigte verdeck-
te Maßnahmen an. Das klingt verdächtig nach gleicher Münze. Unter Trump dürfte der Informationskrieg weiter eskalieren, schwer zu glauben, dass ausgerechnet er sich beim Einsatz der neuen Waffe Zurückhaltung auferlegen sollte. Verantwortliches Regierungshandeln wäre etwas anderes. Autoritäre Herrscher und ihre Geheimdienstapparate mögen glauben, dass ihnen der Krieg der „Kompromate“ in die Hände spielt. Dass sie ihre Kontrahenten damit bloßstellen und einschüchtern und den Willensbildungsprozess beeinflussen können. Demokratische Regierungen und ihre Dienste sollten sich an diesem Wettbewerb nicht beteiligen. Denn die Kollateralschäden sind immens. Strategische Leaks und Fake-News-Kampagnen untergraben das Vertrauen in die Integrität demokratischer Verfahren und Institutionen, sie wirken wie ein schleichendes Gift.
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nternational verbindliche und mit klaren Sanktionsdrohungen belegte Vereinbarungen könnten ein Weg aus der aktuellen Eskalationsspirale sein. Sie sollten sogar noch eine Stufe vor dem Leaken ansetzen – und auch Cyberspionage und den Einsatz von Cyberwaffen ächten und unter Strafe stellen. Erste bilaterale Verabredungen dazu gibt es bereits, etwa zwischen den Vereinigten Staaten und China. Aber die Chancen für eine breitere Allianz stehen aktuell eher schlecht. Die manipulative Macht des globalen Massenmediums ist einfach zu attraktiv. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen eine klare Haltung entwickeln, die professionell mit Informationen umgehen, wir Medien. Für Journalisten ist der Umgang mit den staatlich lancierten Informationsgewittern kein einfaches Thema. Durchstechereien aus Behörden und Diensten, „Official Leaks“, können wichtige Quellen sein. Sie gehören zum journalistischen Alltag wie die Versuche von Politikern, Unternehmen und Lobbyisten, Medien zu instrumentalisieren und zu manipulieren. Journalisten sind dafür ausgebildet, dies zu erkennen und zu bewerten. Das heißt nicht, dass sie über die Inhalte strategischer Leaks gar nicht berichten. Auch in den DNC-Daten waren wichtige Nachrichten enthalten, etwa zu der Voreingenommenheit gegenüber dem Kandidaten Bernie Sanders. Aufgabe von Journalisten ist es, die Rohdaten auf Inhalte zu prüfen, deren Publikation im öffentlichen Interesse ist. Zudem müssen sie die Interessen offenlegen, die möglicherweise mit dem Leak verbunden sind (siehe auch Seite 96). Und sie müssen offene Fragen und Unsicherheiten in dem absichtsvoll erzeugten Nebel rund um die Quellenlage zum Thema machen. Das ist kein Ausweis von Unvermögen, sondern kennzeichnet einen seriösen Umgang mit dem Material. Idealerweise können Medien sogar durch eigene Recherchen dazu beitragen, den Nebel zu lüften und aufzuklären. Beim DNC-Leak waren es amerikanische Journalisten von Vice, die früh Zweifel an den Angaben des angeblichen Hackers „Guccifer 2.0“ weckten, der behauptete, Rumäne zu sein. In ein Chat-Interview streuten die US-Journalisten plötzlich Fragen auf Rumänisch ein, mit denen der Hacker erkennbar große Mühe hatte. „Ich hasse es, mit Russland in Verbindung gebracht zu werden“, schrieb er – zumindest in diesem Punkt könnte er ehrlich gewesen sein. I
Erst hacken, dann leaken oder gleich faken – die Informationskrieger befinden sich in einer gefährlichen Eskalationsspirale.
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Minister Gabriel mit Rüstungsmanagern „Alle Exporte prinzipiell verbieten“
RÜDIGER WÖLK / IMAGO
verfasst, das in Gabriels Richtung geht. Darin fordern sie, der Bundestag solle in Zukunft bestimmen, welche Drittstaaten außerhalb von EU und Nato mit Waffen beliefert werden dürfen. In einer Positivliste sollten jene Staaten aufgeführt werden, an denen Deutschland ein sicherheitspolitisches Interesse habe, so Hitschler. Das mögen nordafrikanische Staaten sein, deren Militär das Land gegen Terroristen aus dem Süden verteidigen soll, oder Syrienanrainer, die es zu stabilisieren gilt. „Spätestens alle drei Jahre muss diese Liste überprüft werden“, fordert Hitschler. Wird ein Land von der Liste gestrichen, sollen betroffene Unternehmen mit Rüstungsaufträgen aus vorher gebildeten Rücklagen es ernst meint, wären die Folgen beträchtlich. entschädigt werden. Das Konzept ist noch nicht veröffentlicht; Gabriel hätte nicht nur ein neues Projekt für eine rot-rot-grüne Koalition nach der nächs- aber schon jetzt hat es Gegner. Unions-Exten Bundestagswahl geschaffen. Er würde perte Roderich Kiesewetter etwa befürworauch mit dem bisherigen Verfahren zur Kon- tet eine gemeinsame europäische Waffentrolle von Waffenexporten brechen und eine exportkontrolle und hält das Verfahren für der schillerndsten Institutionen der Republik zu schwerfällig. Die Regierung müsse schließlich „flexibel reagieren und sich auf aushebeln: den Bundessicherheitsrat. Rüstung Wirtschaftsminister In dem Gremium, dem acht Minister Krisenszenarien rasch einstellen können“. Gabriel will ein ungeliebtes Bei den Grünen findet Gabriels Vorstoß und die Kanzlerin angehören, trägt der Chef des Wirtschaftsressorts vor, welche zwar Sympathie, allerdings zweifelt VerThema loswerden. Künftig soll wichtigen Rüstungsausfuhren deutsche teidigungsexpertin Agnieszka Brugger an der Bundestag über heikle Konzerne bei ihm beantragt haben. Unter der Realisierbarkeit. Im VerteidigungsWaffenausfuhren entscheiden. strikter Geheimhaltung wird entschieden, ausschuss rang sie Gabriels Beamten bereits das Eingeständnis ab, dass die Pläne die Kanzlerin hat das letzte Wort. Das bisherige Verfahren hält für den zu- nur mit einer Verfassungsänderung, also igmar Gabriel hat über soziale Gerechtigkeit geredet, über die Kluft ständigen Wirtschaftsminister einige Fallen einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag, zwischen Stadt und Land, über rech- bereit. Positive Bescheide erfährt der Bun- realisierbar seien. „Statt schöner Versprete Populisten. Eine Stunde dauert sein destag, über abgelehnte darf der Wirt- chen braucht es einen echten Kurswechsel, Standardprogramm an der Universität schaftsminister öffentlich nicht reden. In um verantwortungslose Waffendeals endKöln bereits, als eine Studentin ein Thema die laufende Statistik gehen viele Export- lich zu beenden“, fordert sie. Unterstützung erhält Gabriel aus der anspricht, das dem SPD-Chef erkennbar genehmigungen ein, die vor Jahren die Vorgängerregierungen schon positiv be- eigenen Partei, etwa von Fraktionsvize wenig behagt: Waffenexporte. Wie es denn komme, will die Frau mit schieden haben. Und dann ist da noch der Rolf Mützenich. Im vergangenen Jahr lag der wilden blonden Mähne wissen, dass Koalitionspartner, der weniger Gewissens- er im offenen Streit mit Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier Deutschland so viele Waffen in die Welt bisse hat als die Genossen und ihr Chef. (SPD). In einer Fraktionsverkaufe, mit seiner Genehmigung. So wollte Gabriel im sitzung im Mai, als der Nun bricht es aus Gabriel heraus. Waf- vergangenen Jahr die AusExport von 48 Patrouilfen zu liefern, oder sie nicht zu liefern, lieferung von „Leopard“- Rüstungsexporte Einzelausfuhrgenehmisagt er und holt tief Luft: „Bei beidem Panzern an das Emirat lenbooten nach Saudigungen für deutsche 7,9 kann man sich moralisch schuldig machen, Katar aufhalten: Das Arabien auf der TagesRüstungsgüter, in Mrd. € verdammt schuldig.“ Dann doziert er über Schiff hatte Bremerhaven ordnung stand, lobte der Dez. 2013: Sigmar die Peschmerga, denen Deutschland Ge- schon verlassen, als GaAußenminister die poliGabriels Amtsantritt wehre zur Verfügung gestellt hat. Er er- briel anordnete, den Frachtischen Fortschritte, die zählt von den Israelis, die ihn bedrängt ha- ter in den Hafen zurück- Quelle: die Regierung in Riad ge5,8 BMWi ben, Ägypten Radpanzer zu liefern – und zubeordern. Doch da pfiff macht habe. prescht mit einem kühnen Plan vor: „Ich ihn das BundeskanzlerMützenich widerwill ein Gesetz, das alle Rüstungsexporte amt zurück, und die Pansprach. Saudi-Arabien 4,7 4,6 prinzipiell verbietet“, sagt er. Außer jenen, zer schipperten weiter gehe im Jemen „rückGesamt die in EU- oder Nato-Staaten gehen. Alle Richtung Persischer Golf – sichtslos gegen die Zivil4,0 4,0 anderen, die sogenannten Drittländer, soll- eine Niederlage für den bevölkerung“ vor, wes3,6 ten nur noch Kriegsgerät bekommen, Minister. halb er weniger Waffenwenn es im deutschen Interesse sei. Darülieferungen forderte. Kein Wunder, dass Ga2,6 ber müsse der Bundestag debattieren und briel das lästige Thema Mützenich: „Die große 2,4 2,3 „im Zweifel auch abstimmen“. Mehrheit in der Fraktion loswerden will. SPD-Abdavon an Drittländer will eine andere RüsEs war ein Versuchsballon, den Gabriel geordnete um den Verteitungsexportpolitik.“ da Anfang Dezember gestartet hat. Noch ist digungspolitiker Thomas nicht sicher, ob er wirklich fliegt. Er hat ein Hitschler sind ihm nun Matthias Gebauer, Horand 1. HalbKonsultationsverfahren in seinem Haus ins beigesprungen und hajahr Knaup, Christoph Schult, 2012 2014 2016 Leben gerufen. Doch wenn der SPD-Chef ben ein Postitionspapier Gerald Traufetter
Moral der Gewehre
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Berlusconis Zögling Europa Bislang standen Sozialisten und Konservative gemeinsam gegen Populisten. Nun könnte ein Weggefährte von Italiens Expremier Berlusconi Präsident des EU-Parlaments werden.
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ntonio Tajani weiß, wie man auch Vizefraktionschef der Sozialdemokraten, beim politischen Gegner einen Udo Bullmann. „Für alle Nicht-Hardliner Punkt setzen kann, das muss man ist der Mann eine Provokation.“ Dabei ist der Posten des Parlamentsihm lassen. Der konservative Italiener ist bei der Fraktion der Linken im Europapar- präsidenten längst kein Austragshäuschen lament zu Gast, er will ein wenig trom- mehr, bei dem egal ist, welcher ausgedienmeln für seine Wahl zum Parlamentsprä- te Politiker für ein paar Jahre einzieht. sidenten, dabei fiele es den meisten Abge- Noch-Präsident Schulz hat dafür gesorgt, ordneten hier im Traum nicht ein, Tajani dass die Staats- und Regierungschefs es zu unterstützen. Manche sind gar nicht sich nicht mehr so einfach erlauben könerst gekommen, andere finden die Kurz- nen, die Ansichten des Parlaments zur Seinachrichten auf ihrem Smartphone span- te zu wischen. Gerade jetzt, da Europa in nender als alles, was der Gast zu sagen der Krise ist, wachsen die Anforderungen hat. Die Sache zieht sich. Da zückt Tajani an das Parlament, den Bürgern das Einiplötzlich ein Blatt Papier und hält es stolz gungswerk näherzubringen. Tajani, 63, Spross einer Adelsfamilie und in die Luft. „Damit“, sagt er, „habe ich ehemaliger Offizier der italienischen Luftauf eine halbe Million Euro verzichtet.“ Die Abgeordneten blicken auf, vom Podi- waffe, sitzt in seinem Büro im zehnten um herab hält Tajani ihnen den Brief wie Stock des Parlamentsbaus und winkt ab. einen Köder entgegen. Als er vor gut zwei Der Mann macht kein Geheimnis daraus, Jahren als Vizekommissionschef aufhörte dass er mit Berlusconi eng zusammengeund ins EU-Parlament zurückkehrte, hätten arbeitet hat. „Ich habe Forza Italia nie verihm knapp 500 000 Euro Übergangsgeld zu- leugnet“, sagt er und lächelt freundlich gestanden, sagt er nun und erklärt mit treu- unter seinem Silberschopf. „Ich habe mich em Augenaufschlag, warum er im Leben nie verändert und trotzdem 2014 bei meiKandidat Tajani: Notfalls mit den Stimmen der nicht daran gedacht habe, die Geldspritze ner Wahl zum EU-Parlamentsvize mehr anzunehmen. „Damals waren Arbeitneh- Stimmen bekommen als Martin Schulz.“ schen Grünen. Noch im November sprach mer in Not“, sagt er, „da fand ich es nicht In seiner Jugend war er glühender Mo- sich Tajani in einem Interview mit dem richtig, eine Abfindung zu bekommen.“ narchist, bis heute kämpft er für ein tradi- „Corriere della Sera“ für Berlusconi als Der Verzicht von einst soll sich jetzt aus- tionelles Familienbild. Vor der Europawahl Führer der konservativen Parteien Italiens zahlen, das ist Tajanis Kalkül. Er soll zum 2014 gehörte Tajani zu den Unterzeichnern aus: „Ich sehe niemanden, der mehr AkEdelstein in seiner Vita werden, vor allem eines Manifests der erzkonservativen No- zeptanz und Charisma als er hat.“ jetzt, da es darum geht, über ein paar vae-Terrae-Stiftung, die sich gegen AbtreiTajani war Journalist für die Tageszeidunklere Flecken hinwegzustrahlen. Denn bungen und Homoehen ausspricht. Bereits tung „Il Giornale“, an der Berlusconi Ander Mann, der als Favorit in die Wahl zum als frischgebackener Europaabgeordneter teile besaß. Bald wechselte er an BerluscoPräsidenten des EU-Parlaments am kom- hat er die Kommission mit der Forderung nis Seite und wurde 1994 Pressesprecher menden Dienstag geht und Nachfolger von gepiesackt, sie solle gegen Fälle künstlicher des neuen Premierministers. Zu seinem Job Martin Schulz werden will, schleppt einen Befruchtung bei homosexuellen Paaren ein- gehörte es, eine dicke Brandmauer zwiMakel mit sich herum, der vor allem im schreiten. Die Kirche sei gegen solche „Pseu- schen seinem Boss und den Ermittlungen politisch korrekten Europaparlament dofamilien“, schrieb er zur Begründung. gegen dessen Holding Fininvest hochzuzieschwer wiegt – er ist der politische ZiehAls die Grünen-Abgeordnete Terry hen. „Die Regierung arbeitet gut und in sohn von Italiens einstigem Bunga-Bunga- Reintke am Mittwoch bei Tajanis Anhö- Eintracht“, beschwichtigte er Journalisten Premier Silvio Berlusconi. Tajani gehörte rung wissen will, wie er es heute mit Frau- noch, als die Steuerfahnder bereits an die zu jener verschworenen Gruppe, die 1994 enrechten hält, lässt er ihren Angriff in Büros des Berlusconi-Imperiums klopften. die Mitte-rechts-Partei Forza Italia grün- Watte versinken. Als Parteipolitiker habe Tajani selbst wurde erst Jahre später von dete. Jene Bewegung also, deren Chef Ber- er natürlich seine Meinung, sagt Tajani. der Justiz gestreift. Vor zehn Jahren kam lusconi schon lange vor Donald Trump „Als Parlamentspräsident verfolge ich je- es zu groß angelegten KorruptionsermittPolitik nicht zuletzt als Showbusiness ver- doch kein politisches Programm.“ lungen gegen Unternehmer und Verstand. Wo immer Tajani in diesen Tagen Es sind Worte, die von seinem politi- antwortliche der Regierung der Region Lafür sich wirbt, trifft er daher auf einen Geg- schen Ziehvater stammen könnten. Tajani tium. Die Fahnder stießen dabei auf ner, der sich nur schwer bekämpfen lässt – scheute nie das Zwielicht um Berlusconi – Dokumente, die Schmiergeldzahlungen an seine eigene Vergangenheit. trotz des Affärensumpfs aus Sexpartys mit Mitglieder des Regionalkabinetts sowie Schulz, der scheidende Präsident, wurde Prostituierten, der Interessenkonflikte mit an Parteien wie den lokalen Sprengel der vielen Menschen erst bekannt, als ihn Sil- dessen Medienimperium und Steuerbetrü- Forza Italia nahelegten. Parteikoordinator vio Berlusconi 2003 mit einem KZ-Aufse- gereien. „Er war immer ein beinharter Ver- für Latium war in jener Zeit Tajani. her verglich. Jetzt soll ihm ausgerechnet teidiger von Berlusconis GeschäftsinteresBei den klandestinen Geschäften soll es Berlusconis Wasserträger folgen. „Tajani sen im Europäischen Parlament“, sagt Mo- etwa um Aufträge für Schienen- und Strahat alle denkbaren Stigmata“, sagt der nica Frassoni, Parteichefin der Europäi- ßenbau gegangen sein und um die Privati34
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GENEVIEVE ENGEL / REA/LAIF
Europafeinde
sierung einer regionalen Transportgesellschaft. Das italienische Nachrichtenmagazin „L’Espresso“ berichtete 2007 über den Verdacht der Ermittler, auch Tajani könnte die Schmiergeldempfänger gekannt haben. Bewiesen werden konnte das nie. An Tajani blieb kein Vorwurf haften, und er reagiert heute extrem ungehalten, wenn man ihn auf diese Angelegenheit anspricht. Seit Mitte 1994 war er Berlusconis Mann in Europa, zunächst im Parlament, dann als Kommissar für Verkehr, später für Industrie. Aus seinen sechs Jahren an der Kommissionsspitze ist nicht viel in Erinnerung geblieben, sieht man mal von Tajanis ausdrücklicher Entscheidung ab, nichts zu tun: Um nach der Wirtschaftskrise zusätzliche Belastungen für Automobilkonzerne zu verhindern, verkündete er 2012 ein Moratorium für neue Vorschriften. Kein Wunder, dass er trotz einiger Hinweise nichts dagegen unternahm, als VW und andere Autokonzerne die Abgaswerte von Dieselfahrzeugen mit illegalen Abschalteinrichtungen manipulierten. Tajani verschob die Einführung realistischer Abgastests auf 2017, obwohl ein Generaldirektor der EU-Kommission in einem Brandbrief warnte, dies sei „in Gänze inakzeptabel“ und „gegen die Ziele des Gesetzgebers“. Bei seiner Befragung im Diesel-Untersuchungsausschuss im September
vergangenen Jahres war das Ergebnis kaum überraschend: Tajani lavierte – und kam am Ende ungeschoren davon. Der Mann hat gelernt, wie man sich in der Politik aus der Affäre zieht. Er hütet Freundschaften wie einen Schatz, und auch deutsche Unionsabgeordnete loben, auf Tajanis Wort sei Verlass. Am Rande des CDU-Parteitags Anfang Dezember in Essen nahm er EVP-Fraktionschef Manfred Weber zur Seite. „Bleibt es dabei, dass du nicht Parlamentspräsident werden willst?“, fragte er ihn. Als Weber bejahte, gab Tajani bekannt, dass er antreten wolle. An diesem Mittwoch steht Tajani auf einer kleinen Bühne im Brüsseler Europaviertel, die französischen Republikaner, die wie Tajani zur EVP gehören, haben zum Neujahrsempfang geladen. Es ist ein Abend ohne viel Esprit, die Abgeordneten stehen herum wie erschöpfte Staubsaugervertreter, die auf den Beginn des Motivationsseminars warten. „Noch ist die Wahl nicht gewonnen“, versucht Tajani, sie wachzurütteln. Dann stilisiert er sich ausgerechnet selbst zum Vorkämpfer gegen jene Bewegung, die er selbst mithervorgebracht hat. „Reden gegen die Populisten zu schwingen ist einfach“, sagt er, „wir zeigen, wie es besser geht.“ Dabei ist Tajani durchaus bereit, seinen Sieg mit den Stimmen der Rechtsextremen
zu sichern. Tajanis EVP ist zwar die größte Fraktion im Parlament, doch eine eigene Mehrheit hat sie nicht. Die Sozialdemokraten fühlen sich an die Vereinbarung nicht mehr gebunden, die Noch-Präsident Schulz nach der Europawahl 2014 mit EVPFraktionschef Manfred Weber getroffen hatte. Danach sollte der Parlaments-Topjob Mitte Januar an die EVP gehen. Zwar nahm Schulz Weber und den Kandidaten der Sozialdemokraten, Gianni Pittella, kürzlich noch einmal ins Gebet: Es gebe auch einen Tag nach der Wahl, die großen Fraktionen sollten weiter zusammenarbeiten. Doch die Sozialdemokraten sind wild entschlossen, mit dem eher blassen Pittella notfalls bis in den vierten und entscheidenden Wahlgang zu gehen, dann reicht die einfache Mehrheit. In hektischen Gesprächen versucht Tajanis Fraktionschef Weber nun, seinem umstrittenen Kandidaten eine Mehrheit zu sichern. Unter anderem soll die „Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer“ Tajani helfen. Zu der Gruppe zählen nicht nur die Brexit-Anhänger der britischen Tories und ehemalige AfD-Politiker wie Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel, sondern auch Parlamentarier der nationalkonservativen polnischen PiS-Partei. „Für den Fall, dass unsere Kandidatin scheitern sollte, können sich bei uns viele vorstellen, Tajani zu wählen“, sagt Henkel. Doch das allein reicht nicht, sodass es am Ende auf die Stimmen der Europafeinde um Marine Le Pen ankommen könnte. „Es ist unverantwortlich, wenn in dieser Krisenzeit für Europa die Extremisten zum Zünglein in der Waage werden“, warnt CDU-Mann Karl-Heinz Florenz bereits. Sollte Tajani das unappetitlich finden, lässt er es sich nicht anmerken. „Ich rede nicht mit dem Front National“, sagt er knapp. Barbara Spinelli, eine parteilose Abgeordnete aus Rom, hat indes keinen Zweifel, dass ihr Landsmann auf die Stimmen der Rechten setzt. „Tajani ist ein Opportunist“, sagt sie. „Ihm geht es um Macht, da ist er flexibel.“ Das Parlament dagegen wird an Einfluss verlieren. Bekämpfen sich künftig die etablierten Kräfte, anstatt zusammenzuarbeiten, stärkt das die Europafeinde von rechts und links. Gerade Le Pen vom Front National hat vor den französischen Präsidentschaftswahlen jedes Interesse daran, die Volksvertretung als unfähig vorzuführen. Schulz will da vorbauen, wenn er am Dienstag ein letztes Mal dem Parlament vorsteht. Er möchte, dass die beiden Kandidaten, die es in die vierte Runde schaffen, vor dem entscheidenden Wahlgang öffentlich zusagen, danach endlich wieder vernünftig zusammenzuarbeiten. Walter Mayr, Peter Müller, Christoph Pauly, Andreas Wassermann DER SPIEGEL 3 / 2017
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Die Fledermaus Kriminalität Nach jahrelangen Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft den mutmaßlichen Drahtzieher eines Millionen-Steuerbetrugs identifiziert: einen illustren Londoner Geschäftsmann.
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SANDRA ROWSE
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Beschuldigter Virdee (r.) bei der Queen
Steuerkarussell Wie Unternehmen das Finanzamt um die Umsatzsteuer betrügen
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ls die Etihad-Maschine aus Abu Dhabi, Flugnummer EY17, am Dienstagabend auf dem Londoner Flughafen Heathrow aufsetzte und zum Terminal 4 rollte, war die Welt für Peter Virdee noch in Ordnung. Der Brite pakistanischer Abstammung, der zum Maßanzug stets Turban trägt, verließ das Flugzeug und begab sich zur Passkontrolle. Doch dort wurde er zunächst einmal festgesetzt. Der Grund war ein Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt. Der Vorwurf: schwerer Steuerbetrug. Durch betrügerischen Handel mit Umweltzertifikaten wurde der deutsche Fiskus um 850 Millionen Euro geprellt. Steuerfahndung und Bundeskriminalamt glauben, in Virdee den Drahtzieher eines solchen Umsatzsteuerkarussells identifiziert zu haben. Allein hier betrug der Schaden 125 Millionen Euro. Virdee sei „Batman“, die Fledermaus, sagten Zeugen im Ermittlungsverfahren aus, das die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft seit 2009 gegen zahlreiche Beschuldigte führt. 19 Angeklagte wurden im Prozess um den millionenschweren Steuerbetrug bereits verurteilt, darunter sechs Manager der Deutschen Bank, deren Urteile aber noch nicht rechtskräftig sind. Der Mann mit dem Turban, ein religiöses Symbol der Sikhs, bezeichnet sich selbst als Entrepreneur und Philanthrop, er ist Gründer der Immobilienfirma B&S Property, die behauptet, ein Vermögen von rund vier Milliarden Pfund zu verwalten. In London gehört er zum Jetset der Superreichen mit Luxuswohnung in einem der elegantesten und teuersten Stadtteile. Für Fotografen posiert er gern vor seinem Rolls-Royce Phantom und prahlt, im Bugatti Veyron die 400-StundenkilometerMarke durchbrochen zu haben. Fotos zeigen ihn mit den Hollywoodschauspielern Al Pacino und Mickey Rourke, mit Popstar Rihanna und dem deutschen Profifußballer Mesut Özil. Der Queen dürfte nicht gefallen, dass es auch Bilder gibt, auf denen Virdee Ihrer Majestät die Hand reicht und mit Gemahl Prinz Philip plaudert. Die Manchester Metropolitan University ernannte Virdee zum Gastprofessor, die English National Opera nahm ihn angeblich in eines ihrer Gremien auf, ebenso die Coutts & Co Privatbank. Über seine Herkunft ist wenig bekannt. Die deutschen Behörden wissen nicht einmal, ob er wirklich Peter Virdee heißt oder
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Ein Händler im EUAusland verkauft ein Zertifikat an ein Unternehmen in Deutschland. Beim Verkauf über die Grenze zweier EU-Mitgliedstaaten fällt keine Umsatzsteuer an.
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Das Unternehmen verkauft innerhalb Deutschlands weiter. Dabei schlägt es auf den Preis noch 19 Prozent Umsatzsteuer drauf. Die müsste das Unternehmen abführen – was es nicht tut.
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Der Käufer verkauft das Zertifikat weiter – inklusive Umsatzsteuer. Das Papier wechselt noch viele Male den Besitzer …
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… bis es wieder aus Deutschland ausgeführt wird. Dabei lässt sich der Exporteur die nie entrichtete Umsatzsteuer von 19 Prozent erstatten.
DAS BUCH Hardip Singh, wie das Nummernschild seines Rolls-Royce nahelegt: 51NGH. Angeblich wuchs er in Birmingham auf, wo seine Eltern eine Baufirma betrieben. Die Frankfurter Ermittler haben den Engländer schon lange im Visier, doch für einen Haftbefehl reichte es erst, nachdem Mitbeschuldigte aussagten. „Ich wusste von Anfang an, dass es sich um Betrug handelte“, bekannte einer von ihnen, den sie „Prinz“ nannten, Ende 2016 vor dem Frankfurter Landgericht. Wegen seines Geständnisses kam er mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten davon. „Ich hatte alles verloren und jede Menge Schulden“, sagte er aus. Er sei dann gefragt worden, ob er beim Emissionshandel in Europa mitmachen wolle, und habe Ja gesagt. Möglich waren diese Betrugsgeschäfte durch eine Lücke im Steuerrecht. Während der Handel innerhalb der EU von der Umsatzsteuer befreit war, wurden innerhalb Deutschlands 19 Prozent fällig. So führten die Betrüger Emissionsrechte steuerfrei nach Deutschland ein. Beim Weiterverkauf im Inland kam dann die Umsatzsteuer dazu – auf dem Papier. Die Ware schleusten sie durch nur zu diesem Zweck gegründete Firmen und führten sie dann wieder aus, wobei sich der Exporteur die nie entrichtete Steuer vom Finanzamt erstatten ließ. Zunächst sei das Geschäft stockend angelaufen, berichtete „Prinz“. Doch dann sei „Batman“ ins Spiel gekommen, der offenbar über die richtigen Kontakte verfügte. Laut Aussage eines Zeugen hatte „Batman“ 2009 über seine Kontakte zur Deutschen Bank dafür gesorgt, dass den betrügerischen Emissionshändlern ein direkter Ansprechpartner in deren Londoner Filiale zur Verfügung stand. Ob die Bank schon zu diesem Zeitpunkt wusste, dass es sich bei dem Geschäftsmodell um Steuerbetrug handelt, ist unklar. Als die Londoner Regierung den Emissionshandel von der Umsatzsteuer befreite, verlagerte die Deutsche Bank den Zertifikatehandel nach Frankfurt am Main. Das mit geringen Risiken behaftete Geschäft könne ein sehr guter Ertragsbringer sein, hieß es aus der Londoner Filiale. Die Bank bekam die Zertifikate unter Börsenpreis – von dubiosen Firmen, die zuvor noch nie damit gehandelt hatten, plötzlich aber Millionenumsätze machten. Oft war es die Deutsche Bank, die Emissionsrechte kaufte, aus Deutschland ausführte und sich die Umsatzsteuer erstatten ließ. Mitunter wurden die Zertifikate dabei gleich wieder an ihren Ursprungshändler zurückverkauft, von wo sie erneut nach Deutschland eingeführt wurden; so funktionierte das Karussell. Während andere Geldhäuser solche Geschäfte nach kurzer Prüfung abgelehnt hat-
ten, weil ihnen schon die Firmennamen suspekt erschienen, die Websites schnell zusammengeschustert aussahen und die Geschäftsführer ihr Geschäftsmodell nicht schlüssig erklären konnten, wurden sie bei der Deutschen Bank mit offenen Armen empfangen – Firmen, die „Lösungen 360“, oder „Everstar“ hießen, „First Europe Trading“ und „Ripa Enterprise“. Ein weiterer Komplize mit dem Spitznamen „Banker“ sorgte in der Schweiz dafür, dass die illegalen Gewinne in überseeische Steueroasen abflossen. Der auf sein Äußeres stets bedachte Virdee habe sich darüber beschwert, so ein Zeuge, dass Geschäftsführer der Strohmann-Firmen, die ja Millionen umsetzten, mitunter in Flipflops zur Kontoeröffnung erschienen und ihre Geschäftsunterlagen aus Plastiktüten hervorkramten. Die Kontovollmachten indes nahm der „Banker“ in Empfang, Mohamed F., der im Sommer zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die enormen Steuererstattungen im Emissionshandel fielen auch der deutschen Steuerfahndung auf. Am 28. April 2010 ließ die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt Hunderte Standorte von CO²-Händlern und deren Wohnsitze in mehreren Ländern durchsuchen. Die Deutsche Bank zahlte 220 Millionen Euro zu Unrecht erstattete Steuern zurück. Virdee sorgte dagegen bisher nur einmal für Schlagzeilen. Es ging um den Kauf des Einkaufszentrums Oriental City in der Londoner Innenstadt für 68 Millionen Pfund. Er zahlte 16 Millionen Pfund an, konnte dann aber die restliche Kaufsumme nicht mehr aufbringen. Es war das Jahr 2008, und der Verdacht lag nahe, dass Virdee damals in finanziellen Schwierigkeiten war. Womöglich war es ihm ebenso ergangen wie seinen Komplizen, die viel Geld in den Sand gesetzt hatten, als in der boomenden Wüstenstadt Dubai eine gewaltige Immobilienblase platzte. Heute befindet sich Virdees Geschäftssitz in einer der nobelsten Straßen Londons nahe dem Hyde Park. Einen Termin gibt es dort nur nach Absprache. Angesichts der Dringlichkeit war Mella, die Rezeptionistin, trotzdem zu einem Statement bereit: Mr Virdee sei nicht verhaftet worden. Sein deutscher Rechtsbeistand, die Kanzlei Prinz, erklärte darüber hinaus, ihr Mandant wisse nichts von einem internationalen Haftbefehl und weise alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück. Immerhin zahlte der Brite in London eine Kaution von 150 000 Pfund, um den Flughafen wieder freien Fußes verlassen zu können. Jetzt fragen sich die deutschen Ermittler, ob es der Fledermaus gelingt, die Auslieferung nach Deutschland zu verhindern. Martin Hesse, Andreas Ulrich DER SPIEGEL 3 / 2017
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ZUM GROSSEN
SPIEGELJUBILÄUM
480 Seiten mit zalhreichen Abb. gebunden, € 34,99 [D]
DER SPIEGEL wird als Leitmedium der vierten Gewalt respektiert, verehrt, verachtet und gefürchtet. Das Buch versammelt erstmals die großen Skandale, Analysen, Reportagen und Titelbilder des Nachrichten-Magazins aus sieben Jahrzehnten. So entsteht ein Spiegelbild von Weltgeschichte und deutscher Gesellschaft, wie es nur der SPIEGEL liefern kann.
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Deutschland
Zweite Reihe
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HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF
Parteien Niemand hat so viel für Gleichberechtigung und Frauenförderung getan wie die Grünen. Trotzdem haben sie ein Frauenproblem. Warum?
Spitzengrüne Peter, Göring-Eckardt: Männer dominieren die Debatten
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a ist sie wieder, diese Frage, die Katrin Göring-Eckardt nicht leiden kann. Eine Frau aus dem Publikum hat sie gestellt, es geht darum, dass dort oben auf der Bühne drei Männer stehen. Und nur eine Frau. Göring-Eckardt senkt den Blick, sie steht ganz still. Es ist der vergangene Samstag, die Grünen haben in Berlin zum Urwahlforum geladen, hier stellen sich die vor, die den Bundestagswahlkampf der Partei anführen wollen. Einen Mann und eine Frau wird die Basis wählen, so will es das Prinzip der grünen Doppelspitze. Nur: Die Spitzenfrau ist bereits gesetzt, Katrin GöringEckardt tritt ohne Gegenkandidatin an. Also diese Frage, mal wieder: „Was willst du unternehmen, um mehr Frauen für eine Spitzenkandidatur zu begeistern?“ Beim nächsten Mal, so die Frau aus dem Publikum, solle es eine „größere Auswahl“ an Frauen geben. Göring-Eckardt räuspert sich, dann sagt sie, dass sie sich das „nicht gewünscht“ und niemanden unter Druck gesetzt habe, nicht zu kandidieren. Konsequenzen? Hält sie nicht für nötig: „Ich glaube, dass wir nicht mehr über Frauenförderung reden müssen auf dieser Ebene“, sagt sie, „wir haben ziemlich viele ziemlich gute Frauen in unserem Laden.“ Doch wo sind sie, diese Frauen? Gegen Göring-Eckardt wollte keine kandidieren. Und bei der letzten Wahl der Parteivorsitzenden fand sich nur eine Außenseiterin, die gegen Simone Peter antrat. Bis heute ist außerdem unklar, wer Peter beim nächsten Parteitag ablösen könnte. Die Parteichefin ist unbeliebt wie nie, die Chance, gegen sie zu gewinnen, groß. Trotzdem bringt sich bisher keine Frau in Stellung. Ein Frauenproblem also. Bei den Grünen. Ausgerechnet. Keine andere Partei hat so viel für Frauenförderung getan wie die Grünen. Schon seit 30 Jahren gilt das „Frauenstatut“, in dem eine 50-Prozent-Quote, ein Frauenrat, eine Art eigener Parteitag für Frauen sowie allerlei weitere Vehikel der Gleichberechtigung festgeschrieben sind. Bei Versammlungen ist die Rednerliste quotiert, das gilt auch für die Fraktionssitzung. Sogar beim Urwahlforum in Berlin waren die Publikumsfragen gegendert, es gab zwei Boxen, aus denen abwechselnd gezogen wurde – eine für Frauen und eine für alle. Tatsächlich haben die Grünen mehr Wählerinnen als Wähler. In keiner anderen Partei ist der Anteil der Frauen bei den Mitgliedern größer. Durch die Quoten sind alle Posten geschlechtergerecht aufgeteilt, bis in die Partei- und Fraktionsspitze. 34 der 63 Bundestagsabgeordneten sind weiblich, das sind 54 Prozent. Doch nicht in allen Bereichen hat das etwas verändert, die Themenaufteilung ist oft klassisch. Um Familienpolitik küm-
mern sich fast nur die Parlamentarierinnen, onsvorsitzende war. Die junge Frauenriege habe versucht, Trittins Art der Kommuvon elf Mitgliedern im Arbeitskreis sind bei den Grünen ticke anders als die alte. nikation zu kopieren – ohne Erfolg. „Das neun Frauen. Die beiden Männer sind für „Bei den Älteren ging es nie um weniger passt nicht zu mir.“ Nach wie vor funktionieren die NetzForschungs- beziehungsweise Drogenpoli- als die Rettung der Welt.“ Die Risikobetik zuständig. Im Arbeitskreis Außenpolitik reitschaft sei deswegen viel größer gewe- werke der Männer viel besser als die der sitzen dagegen sieben Männer und nur sen, so Sager. Und Spitzenposten würden Frauen. „Männer haben eher andere Mäneinem nicht auf dem Silbertablett präsen- ner auf dem Zettel“, sagt Krista Sager. Die drei Frauen. In der Öffentlichkeit ist das weibliche tiert, die müsse man sich schon erkämpfen. Frauen sind dagegen immer noch EinzelDie Grünen sind nicht frei von Männer- kämpferinnen. Göring-Eckardt etwa beSpitzenpersonal der Grünen deutlich weniger bekannt als die Männer, am ehesten kumpanei, von Sexismus, auch das wird hauptet, dass sie jüngeren Kolleginnen kennt man die Älteren wie Claudia Roth klar bei dieser Suche nach den Gründen. häufig Anfragen für Talkshows oder InterGrüne Politikerinnen jeden Alters be- views weiterleitet, doch die sagen, das und Renate Künast, die schon seit Jahrzehnten dabei sind. Fraktionschefin Gö- richten, dass es in ihrer Partei zwar besser wäre ihnen neu. Im Gegenteil: Anfragen, ring-Eckardt schaffte es vergangenes Jahr sei als in anderen, aber noch lange nicht die bei der Pressestelle für die Jungen zwar einmal unter die 20 beliebtesten Poli- gut. Hübsche blonde Frauen bekämen eingingen, würden stattdessen von Göringtiker (Platz 19), doch 33 Prozent der Be- mehr Aufmerksamkeit als andere. Abge- Eckardt beantwortet. Auch Bärbel Höhn, ordnete bekommen zu hören: „Ich geb dir Vorsitzende des Umweltausschusses, teilt fragten kannten sie nicht. Der Kampf um Einfluss und Inhalte wird mal ’nen Ratschlag, sei nicht so verbissen.“ sich das Scheinwerferlicht anscheinend bei den Grünen unter Männern ausgetra- Wenn sie häufig Infomaterial oder Rede- nicht gern. Fraktionsmitarbeiter berichten, gen. Sie sind die, die präsent sind: ob Win- zeit beantragen, sagen ihnen Kollegen, wie sie mit jungen Kolleginnen, die ihr fried Kretschmann, der Ministerpräsident dass sie „überambitioniert“ und „karriere- Themenfeld bearbeiten, um jeden Auftritt aus Baden-Württemberg, oder Jürgen Trit- geil“ seien, während ihre männlichen Al- konkurriert. Dabei wird Höhn nicht eintin, der eigentlich nur noch einfacher Ab- tersgenossen nur als ehrgeizig gelten. Ein mal mehr für den Bundestag antreten. Bei den Männern ist das anders: „Es gibt geordneter ist, oder Boris Palmer, Bürger- paar der Frauen treffen sich alle zwei Sitmeister der mittelgroßen Stadt Tübingen. zungswochen, um sich darüber „auszukot- langjährige Männernetzwerke, die gut funktionieren, auch flügelübergreifend“, Sie dominieren die Debatten der Bundes- zen und abzureagieren“. Was bei Männern noch recht niedlich attestiert die grüne Abgeordnete Annalena partei, sowohl intern als auch öffentlich, mal inhaltlich, mal mit ihren Machtkämp- Hahnenkampf genannt wird, ist bei Frau- Baerbock. Reinhard Bütikofer etwa, Exen direkt der Zickenkrieg. Den stolzen parteichef und EU-Abgeordneter, hat sich fen. Den Frauen gelingt das nicht. über Jahre ein paar mächtige Männer „ranWarum nur? Liegt es an den Frauen? gezüchtet“, wie grüne Frauen neidvoll Sind sie weniger machtbewusst als die anerkennen: Cem Özdemir, Robert HaMänner? Oder gibt es ein Problem bei den beck, Tarek Al-Wazir und Gerhard Schick Grünen, hat sich hinter der Fassade von gehören dazu, sie alle haben nun einflussQuoten und formaler Frauenförderung reiche Posten. Steht einer der Männer in eine frauenfeindliche Kultur erhalten? der Kritik, helfen die anderen aus. Eine Suche nach den Gründen. Die grünen Männer wollen denn auch Für Katrin Göring-Eckardt ist die Sache klar: Die Frauen sind selbst schuld. Sie sind Tieren mit wichtiger Weckfunktion, die kein Frauenproblem in ihrer Partei sehen: einfach zu ängstlich. Es sei wichtig, dass kämpfen, stehen meckernde Weibchen ge- „In dieser Partei? Mit all ihren Quoten?“, „wir es schaffen, dass Frauen sich trauen“, genüber, im Krieg. Aus Angst vor dem schnauft einer entrüstet. Die Frauen hätten sagt sie beim Urwahlforum auf offener Büh- Vorwurf des „Zickenkriegs“ schlossen Gö- doch die Hälfte der Posten, das müsse reine. Sie selbst „habe ja letztes Mal die Kon- ring-Eckardt, Künast und Roth bei der chen, sagt ein anderer. Fragt man Jürgen kurrenz auch nicht gescheut“. Gegen „zwei Urwahl 2013 gar einen Pakt. Sie verspra- Trittin, ob Frauen bei den Grünen wirklich starke Frauen“ sei sie angetreten, Roth und chen sich, nicht zu aggressiv gegeneinan- gleichberechtigt sind, überlegt er lange. Künast. „Mir fällt eine lange Liste von Frau- der Wahlkampf zu führen, damit der Be- Dann: „Ich glaube, wir sind besser als die en in der Fraktion ein, denen ich immer griff gar nicht erst aufkommen konnte. anderen, aber wir sind noch lange nicht sage: Frauen, traut euch, macht das jetzt, Offen angesprochen haben sie das Thema gleichberechtigt.“ In 13 Landtagsfraktionen sei die Doppelspitze abgeschafft wordamals nicht. geht nach vorne, ihr könnt das.“ „Männer und Frauen kommunizieren den, 9 davon führten nun Männer. Die jüngeren Frauen, die für einen heClaudia Roth sieht aus ganz anderen rausgehobenen Posten in Fraktion und Par- anders, auch bei den Grünen“, sagt Renate tei infrage kommen, lassen ihre Zurück- Künast, 61, Exbundesministerin und acht Gründen schwierige Zeiten für ihre Kollehaltung als Taktik erscheinen. „Für mich Jahre lang Fraktionsvorsitzende. Als Bei- ginnen: „Was grünen Frauen an sexualiist es noch nicht relevant anzutreten“, sagt spiel schildert sie dann eine Szene aus siertem Hass entgegenschlägt, ist schlimm“, eine, der viele eine große Karriere zutrau- dem Parteirat, die ihr bei dem Thema im- sagt sie. Man werde anders beleidigt, „man en. Sie sei jung, habe Zeit, wolle „nicht mer einfällt. „Sagt mal, müssten wir nicht ist nicht nur dumm, wie die Männer, sonverheizt werden“. Eine andere hat kleine erst einmal folgende zwei Fragen klä- dern auch hässlich, fett, soll vergewaltigt Kinder, da passe eine Kandidatur nicht „in ren?“, fragte Künast damals. Von den An- werden und so weiter und so fort“. Das den familiären Zeitplan“. Und eine dritte wesenden kam keine Reaktion. Kurze Zeit müsse man erst einmal aushalten können. Gerade die Frauen mit Kindern warteerzählt, dass es mit Katrin Göring-Eckardt später redete Jürgen Trittin, „sagte fast ja schon „ein gutes Angebot“ gebe. Da das Gleiche wie ich, aber in einem ande- ten auch deswegen in zweiter Reihe, sagen ren Duktus“. Der habe keine Frage ge- sie. Zumindest, bis die Kinder größer seien. müsse sie sich die Belastung nicht antun. Zu früh, zu stressig, das klingt tatsäch- stellt, sondern klar heraus gesagt: „Ich Danach hätten sie mehr Energie, um das lich nicht nach dem nötigen Machtwillen sage, wir klären jetzt zwei Dinge vorab: besser zu ertragen. Und die Ellenbogen für politische Spitzenämter. „Das Zaudern erstens, zweitens.“ Künast drückt den Rü- wieder auszufahren, um sich einen Platz der jungen grünen Frauen ist ein Problem“, cken durch und reißt die Augen auf: „Bei neben den Männern zu erkämpfen. Roth sagt Krista Sager, die die Partei zwei Jahre einigen hat man schon die Hacken unten ist optimistisch: „Sie werden sich in Zulang führte und später drei Jahre Frakti- zusammenschlagen hören“, witzelt sie. Sie kunft sicher trauen.“ Ann-Katrin Müller
Nach wie vor funktionieren die Netzwerke der Männer viel besser als die der Frauen.
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„Geschlossenes völkisches Denken“ Extremismus Steffen Kailitz, 47, ist Totalitarismusforscher und Gutachter im NPD-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Er erklärt, warum die rechtsextreme Partei verboten werden sollte.
SEBASTIAN KAHNERT / DPA
SPIEGEL: Herr Kailitz, kommenden Kailitz: Wie schon die NSDAP Dienstag soll sich endlich entscheiplant die NPD die Vertreibung den, ob die NPD verboten wird von zig Millionen Menschen aus oder nicht. Was erwarten Sie? Deutschland – bei der NSDAP waren es die Juden, bei der NPD sind Kailitz: Eigentlich spricht alles für es alle Ausländer, und zwar rein ein Verbot der Partei. Die NPD nach der ethnischen Herkunft, ist originär nationalsozialistisch. egal ob sie einen deutschen Pass Der entscheidende Unsicherheitshaben oder nicht. Die NPD hat faktor dürfte sein, welche BedeuKailitz sich viel konkretere Gedanken datung die Verfassungsrichter der Frage nach dem gesellschaftlichen Einfluss rüber gemacht, wie sie das umsetzen will, der NPD beimessen – und ob sie dann zum als damals die NSDAP in ihrem Programm. Schluss kommen: Die NPD ist so unbe- Und dass die spätere Rassengesetzgebung deutend, dass es keine Notwendigkeit für des „Dritten Reichs“ für das NPD-Konzept Pate stand, finde ich offenkundig. ein Verbot gibt. SPIEGEL: Und, ist sie so unbedeutend? SPIEGEL: Dass Deutsche mit ausländischen Kailitz: Natürlich kann man immer über die Wurzeln unter einer NPD-Regierung das gesellschaftliche Bedeutung einer Partei Land verlassen müssten, haben die Parteistreiten. Ich frage mich aber, ob man dieses anwälte im Verbotsverfahren bestritten. Gewicht einer Partei nicht unterschätzt, Kailitz: Aber mit welchen Windungen! Und wenn man nur auf die Mandate schaut und das ist in der Partei nicht gut angekommen. nicht auch auf ihre politische Wirkung. Natürlich vertritt die derzeitige ParteifühSPIEGEL: Die NPD sitzt derzeit in keinem rung eine moderate Linie – ohne das VerLandtag, hat nur noch wenige Kommunal- botsverfahren wäre der relativ gemäßigte mandate, auch sonst ist ihre Lage eher de- Frank Franz aber auch niemals Parteivorsolat: Ihre Mitglieder schwinden, um ihre sitzender geworden. Schon das ParteiproFinanzen steht es schlecht, Verfassungs- gramm sagt eindeutig: „Eine Überfremschützer sprechen von nahezu inaktiven dung Deutschlands, ob mit oder ohne EinLandesverbänden. „Wo ist da die Gefähr- bürgerung, lehnen wir strikt ab.“ Dabei lichkeit?“, hat Verfassungsrichter Peter ist auch dieses Programm noch eher wolkig Müller in der Verbotsverhandlung gefragt. formuliert, richtig zur Sache geht es in eiKailitz: Die liegt schon in ihrer Program- nem Aktionsprogramm der NPD von 2002, matik – sie geht sogar noch über das hi- das bis heute Gültigkeit hat. naus, was die NSDAP vor ihrer Macht- SPIEGEL: Der Bundesrat, Antragsteller im ergreifung aufgelegt hat, gerade was die Verbotsverfahren, hat ausgerechnet dieideologische Geschlossenheit ihres völki- ses Aktionsprogramm aber nicht in das schen Denkens anbelangt. Verfahren eingebracht. Wohl, weil auch V-Leute daran mitgeschrieben haben. SPIEGEL: Was heißt das?
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Kailitz: Das mag sein – trotzdem war es in meinen Augen ein Riesenfehler, darauf zu verzichten. Man kann kein Parteiverbot betreiben, ohne die zentralen programmatischen Dokumente einzubeziehen. SPIEGEL: Das erste Verbotsverfahren scheiterte 2003 auf peinlichste Weise auch daran, dass angebliches Belastungsmaterial von V-Leuten stammte. Hätte man dieses Risiko erneut eingehen sollen? Kailitz: Bei dem Aktionsprogramm handelt es sich um ein Gesamtdokument der Partei, hier haben viele Leute mitgewirkt, und die Bundespartei und ihre Landesverbände haben sich das immer wieder zu eigen gemacht. Und noch in der mündlichen Verhandlung im März 2016 hat ja dann auch der Anwalt der NPD in einem nachgereichten Schriftsatz zum Verbotsverfahren selbst auf das Aktionsprogramm mehrfach Bezug genommen – in meinen Augen ist dieses Programm jetzt eindeutig in das Verfahren eingeführt. SPIEGEL: Aber welche Aussicht auf Verwirklichung hat das bei einer Partei, die auf Landesebene nirgendwo mehr auf fünf Prozent kommt? Kailitz: Auch den Brexit oder den Erfolg Trumps hatten nur wenige erwartet. Und den beträchtlichen Zulauf, den die Rechtsextremisten und Rechtspopulisten derzeit schon in ganz Europa haben, muss man auch vor dem Hintergrund einer eigentlich relativ entspannten wirtschaftlichen Situation sehen. Käme jetzt noch eine schwere Wirtschaftskrise hinzu, dann kann da noch mehr ins Rutschen geraten. Dass sich AfDWähler etwa dann der NPD zuwenden, ist
BJÖRN KIETZMANN / ACTION PRESS
NPD-Demonstration in Berlin 2016
Deutschland
durchaus möglich. Vor allem wenn die Kameradschaften die NPD wieder verstärkt unterstützen, hat die Partei schlagartig wieder ein erhebliches Mobilisierungspotential. Man darf nicht vergessen: Ihre größten Erfolge feierte die NPD kurz nach dem Scheitern des ersten Verbotsverfahrens. Das könnte sich jetzt wiederholen, wenn es nicht zu einem Verbot kommt. SPIEGEL: Nun gibt es aber die AfD … Kailitz: … deren rechter Flügel im Osten ganz klar rechtsextremistisch ist und kaum Unterschiede zur NPD aufweist, vor allem wenn man sich die Reden Björn Höckes anhört. Scheitert der Verbotsantrag, könnte sich die NPD jedenfalls als das radikalere Original präsentieren. SPIEGEL: Das Verfassungsgericht hat in seiner früheren Rechtsprechung aber mehr verlangt als nur Reden, nämlich eine „aggressiv-kämpferische Haltung“ mit dem Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Lässt sich das für Sie belegen? Kailitz: Sicher. Nehmen Sie etwa die Briefe von angeblichen „Ausländerrückführungsbeauftragten“, die von der NPD im Bundestagswahlkampf an Kandidaten anderer Parteien mit Migrationshintergrund geschickt wurden. SPIEGEL: Der NPD-Anwalt hat das in der Verhandlung als Scherz abgetan. Kailitz: Egal ob einer der Angeschriebenen die Aufforderung zur sofortigen Ausreise ernst nahm oder nicht – das ist kein Scherz und keine Bagatelle. SPIEGEL: Denken Sie dabei auch an das Rundschreiben des Parteivorsitzenden Franz, das kurz vor Beginn der Verhandlung an Dienststellen von Polizei und Bundeswehr ging und in dem es heißt, „Integrität und Identität des Volkes stehen aufgrund schwindender nationalstaatlicher Selbstbestimmung und massenhafter Überfremdung auf dem Spiel“? Kailitz: Absolut, er sprach darin vom Widerstandsrecht gegenüber der Regierung. Hier wird das staatliche Gewaltmonopol infrage gestellt, in dem man Polizei und Bundeswehr dazu aufruft, Bürgerprotesten bis hin zu einem Sturz der Regierung zuzusehen. Das ist ein ganz gravierender Punkt. Und welche Früchte so etwas trägt, sieht man immer wieder bei Ausschreitungen in Ostdeutschland wie in Heidenau, wo in völlig verquerer Weise von der NPD und ihrem Umfeld das Widerstandsrecht bemüht wird. SPIEGEL: Das letzte Parteiverbot in Deutschland stammt aus dem Jahr 1956. Die Verfassungsrichter müssen in diesem Verfahren die Voraussetzungen für ein Parteiverbot weiterentwickeln und dabei auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigen. Was, wenn es gemessen an diesen neuen Maßstäben einfach nicht für ein Verbot reicht?
Kailitz: Das würde mich schon wundern. Worauf will man denn warten? Dass die NPD wieder in mehr Landtage einzieht? Soll der Bundesrat einen neuen Verbotsantrag stellen, wenn die aufgestellte Hürde der gesellschaftlichen Bedeutung der NPD überschritten wird? SPIEGEL: Manche argumentieren, eine weiterbestehende NPD könnte die AfD schwächen … Kailitz: Ein zynischer Gedanke. Natürlich gibt es da eine gewisse Wechselwirkung. Allerdings ist es doch so, dass die braune Saat der NPD über den Umweg Pegida und AfD inzwischen aufgegangen ist. Es ist frappierend, wie Vokabeln, die lange Zeit primär in Reihen der NPD benutzt wurden, inzwischen im rechten Spektrum verbreitet sind, ja teilweise sogar ganz allgemein, unbedacht und ohne ideologischen Hintergrund verwendet werden. „Bevölkerungsaustausch“, „Systemparteien“, die Bezeichnung von Zuwanderung als „Völkermord“. Auch der „Bio-Deutsche“, ein im doppelten Sinne reinrassiger NPD-Begriff, der den bezeichnet, der nicht nur nach der Staatsangehörigkeit, sondern auch nach der ethnischen Herkunft Deutscher ist – was immer das konkret bedeuten soll. In unseren Breiten gab es ja seit den Germanen immer Zuwanderung. SPIEGEL: Der politische Erfolg der AfD begründet sich nicht zuletzt aus ihrer klaren antiislamischen Haltung – die NPD ist dagegen im Antisemitismus verwurzelt. Kailitz: Muslime sind heutzutage der Hauptfeind der Rechtsextremisten und damit auch der NPD. Dort dominiert die rassistische Komponente noch, in der AfD wird dagegen mehr die Frage der Religionszugehörigkeit betont, indem man sogar behauptet, dass der Islam gar keine Religion sei, sondern nur eine Art politischer Verein, den man von staatlicher Seite einfach verbieten könnte. Auch das ist eine Position, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. SPIEGEL: Die NPD wurde und wird vom Verfassungsschutz beobachtet, auch wenn viele V-Leute wegen des laufenden Verfahrens abgeschaltet sind. Könnte der Verfassungsschutz diese Leute so einfach wieder aktivieren? Kailitz: Ich weiß nicht, ob das klug wäre, viele V-Leute haben ja oft als eine Art Doppelagent gearbeitet. SPIEGEL: Die AfD wird derzeit noch nirgendwo vom Verfassungsschutz beobachtet. Ein Fehler? Kailitz: Ja. Wenn man extremistische Parteien beobachten will, dann auch die AfD, zumindest im Osten. Und erst recht, falls es nicht zu einem NPD-Verbot kommt, denn das gäbe auch AfD-Leuten wie Höcke weiteren Auftrieb. Interview: Dietmar Hipp DER SPIEGEL 3/ 2017
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Endstation Hoffnung In den Dreißigerjahren schickte die USRegierung Fotografen durch das Land, um das Leben mit Präsident Roosevelts Wirtschafts- und Sozialreformen, dem „New Deal“, zu dokumentieren. Sie fotografierten Erntehelfer und Abgehängte, die Verzweifelten im Dschungel der Großstädte genauso wie die entlassenen Plantagenarbeiter. Viele dieser Fotos wurden berühmt – und zeichnen ein Bild Amerikas, das im Trump-Jahr 2017 aktueller denn je wirkt. Sehen Sie die Visual Story im digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
JE TZ T D I GI TA L LE S E N
Schicksalhaft verbunden Entwicklung Minister Gerd Müller will einen Marshallplan für Afrika vorlegen. Die Einsicht: Geldspritzen im alten Stil helfen nicht weiter, die Handelsbeziehungen müssen sich ändern.
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enn Entwicklungsminister Gerd chungen, Termine mit der Wirtschaft, mit Problemländern bleibt beängstigend hoch Müller (CSU) auftritt, werden die den NGOs, mit Vertretern Afrikas. Ideen- und produziert neue Konflikte in Europa. Probleme der Welt ganz schnell skizzen wurden erdacht, Thesenpapiere Gefragt sind deshalb Antworten, die über ganz klein. „Wir haben die Lösungen“, ruft geschrieben – und wieder verworfen. Nun die banale Parole „Fluchtursachen beer dann, nachdem er zuvor den Planeten drängt die Zeit, das Kanzleramt fragte zu- kämpfen“ deutlich hinausgehen. Mit Begriffen wie Transitzentren, Ream Rande des Abgrunds beschrieben hat. letzt immer ungeduldiger nach. Oder: „Wir müssen die WTO zu einer faiAus gutem Grund, denn Angela Merkel formpartnerschaften oder auch Migrationsren Handelsunion umbauen“, nachdem ge- eilt die Zeit davon. Seit im Jahr 2015 fast management versuchten sich die Staatenrade von den hohen Handelsbarrieren für eine Million Flüchtlinge nach Deutschland lenker Europas über die vergangenen zwei afrikanische Produzenten die Rede war. gekommen sind, ist Afrika auf ihrer Agen- Jahre zu retten. Es sind Chiffren geblieben So war es auch beim Empfang für die da weit nach oben gerückt. Beim G-20- für ihre verzweifelten Versuche, die Wanafrikanischen Botschafter Ende November Gipfel im Juli in Hamburg sollen die The- derungsbewegungen der Moderne irgendin Müllers Ministerium für wirtschaftliche men Afrika, Migration und internationale wie in den Griff zu bekommen. Doch all Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Hilfen vorrangig behandelt werden. Im die, die wie Müller oder Außenminister in Berlin. An die dreißig von ihnen waren Jahr 2015 kam ein knapp zweistelliger Pro- Frank-Walter Steinmeier etwa das Migragekommen, von „einer neuen Dimension zentsatz der Flüchtlinge, die die EU er- tionszentrum im nigrischen Agadez beder Zusammenarbeit“ schwärmte Müller, reichten, aus Afrika. Doch ihr Anteil steigt. sucht haben, kehrten ratloser zurück, als von „großartigen Potenzialen für private „Wir müssen uns in neuer Weise mit Afrika sie hingereist waren. Merkel hat inzwiInvestitionen“ und einer Unterstützung befassen“, sagte Merkel im Oktober in ei- schen verstanden, dass beide Kontinente der „Reform-Champions unter Ihnen“. nem Interview mit der „Zeit“, der Konti- schicksalhaft miteinander verbunden sind: Er wolle, so der Kern seiner Botschaft, nent bedürfe einer neuen Form der Zu- „Wenn Millionen in Afrika hungern, wereinen „Zukunftspakt für Afrikas Jugend“ wendung. Nun soll vor allem Gerd Müller den wir die Stabilität Europas nicht aufrechterhalten können“, hat sie gesagt. schließen, „eine neue Dimension der Zu- seinen Beitrag leisten. sammenarbeit“ eröffnen, aber vor allem: Merkel hat erkannt: Die herkömmliche Minister Müller hat sich in den vergange„einen Marshallplan mit Afrika“ auflegen. Form der Hilfe und Ertüchtigung für Afri- nen drei Jahren redlich bemüht. Er hat eine Seit Monaten kündigt der Minister den ka reicht nicht aus. Milliarden an Hilfen, „Zukunftscharta“ aufgelegt, Sonderinitiatineuen Plan mit dem alten, klangvollen Na- Zehntausende bezahlte Helfer, Tausende ven erfunden, die „Migrationspartnerschafmen nun an. Oder zumindest Eckpunkte. Projekte, selten aufeinander abgestimmt, ten“ der EU mitgetragen. Er hat Milliarden Einen Plan, der einen umfassenden An- haben der Tristesse des Kontinents nicht in den Nahen Osten und nach Afrika transsatz, langen Atem des Gebers und Milliar- abgeholfen. Die Bevölkerung wächst wei- feriert und die Gesellschaft für Internatiodenhilfen für viele Länder verspricht. So ter, die Zahl der Arbeitsplätze nur unzu- nale Zusammenarbeit (GIZ) in die Türkei, war jedenfalls das Vorbild nach dem Zwei- reichend, die Wirtschaft kommt in den den Nordirak und in den Sudan geschickt. ten Weltkrieg in Europa angelegt. Seit über meisten Ländern kaum auf Touren, vor al- Und er hat – auch auf Betreiben der Kanzeinem halben Jahr lässt Müller an dem lem aber: Die Zahl der Migranten aus Eri- lerin – von seinem Finanzminister zuletzt Opus werkeln. Es gab Workshops, Bespre- trea, Guinea, Nigeria und all den anderen so viel Geld bekommen wie noch kein BMZ42
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MAURICE WEISS /OSTKREUZ
Teestube an Flüchtlingsroute in Niger
Deutschland
Krieges, später dümpelte lungen für zehn Jahre aussie ohne besondere Ideen, setzen.“ Damit lag der Bekreative Ansätze oder dyauftragte der Kanzlerin lannamische Projekte vor sich ge im Widerspruch zu seihin. Nur das Sterben in nem Minister, der zum ausSomalia, ein Genozid in verhandelten EU-FreihanRuanda oder die Eboladelsabkommen mit dem Epidemie unterbrachen für südlichen Afrika noch vor jeweils kurze Zeit das kolneun Monaten voller Überlektive Desinteresse. zeugung verkündet hatte: Seitdem afrikanische Mi„Das Abkommen eröffnet granten nach Norden streneue Chancen für eine ben, haben die Europäer wirtschaftlich und sozial manches versucht, funktionachhaltige Entwicklung.“ BMZ-Chef Müller niert hat bisher nichts. Inzwischen denkt auch „Großartige Potenziale“ Etwa der EU-Afrika-Gipfel Müller anders, nun sagt er über freien Handel und EU-Agrarsub- auf Malta 2015 oder der Khartum-Prozess, ventionen: „Damit lassen wir den Afrika- bei dem die EU auf zweifelhafte Weise mit nern kaum eine Chance im direkten Wett- den Staaten am Horn von Afrika und entlang der Schlepperrouten kooperiert, damit bewerb.“ Tatsächlich wäre eine neue Handels- sie die Migranten und Menschenhändler irpolitik gegenüber Afrika ein erster ernst gendwie aufhalten. Dabei müssen EUzu nehmender Aufschlag. Er wäre aller- Emissäre mit Vertretern des sudanesischen dings nur im Konflikt mit europäischen Ge- Präsidenten verhandeln, der mit internamüsebauern, Landwirten, Fischern und ih- tionalem Haftbefehl gesucht wird, oder sie ren Lobbyverbänden zu erzielen. „Alles, reisen in den Südsudan, dessen Staatschef was auf dem afrikanischen Kontinent pro- sein Land mit einem Bürgerkrieg systemaduziert werden kann, sollte dort produziert tisch in den Abgrund wirtschaftet. Und was werden“, heißt es in einem Thesenpapier ist mit Eritrea, wo offenbar hohe Militärs von Günter Nooke, das auch im Kanzler- am Schleusergeschäft kräftig mitverdienen? Die Frage, mit welchen Regierungen amt liegt. Europas Interesse könne angesichts von Hunderttausenden afrikanischen Deutschland in Afrika zusammenarbeiten Migranten nicht „in der Lieferung von Wa- sollte, ist das große Dilemma von Müllers ren nach Afrika“ bestehen, schreibt Nooke Plan: Die meisten Flüchtlinge kommen geweiter, „sondern an der Produktion in Afri- rade aus jenen Ländern, die ohne tragende ka, damit dort viele Menschen Arbeit und Strukturen und weitgehend verarmt sind oder von korrupten Eliten regiert werden. eine Perspektive finden“. So klar hat sich Müller bisher nicht posi- Wenn Müller das gute Regieren zur Messtioniert. Überhaupt kommt sein Umsteu- latte für Unterstützung macht, schließt er ern womöglich zu spät, um kurz vor dem genau diese Länder von seinem Plan aus. Ende der Legislaturperiode noch Pflöcke Problemländer wie Gambia, Guinea oder einschlagen zu können. Insofern reiht sich Burundi wären dann von Hilfen größtenseine Initiative ein in eine lange Kette von teils abgeschnitten. An Vorabkritik mangelt es jedenfalls Misserfolgen in der deutschen Afrikapolitik. Lange stand sie im Zeichen des Kalten nicht. „Unfug“, lautet lapidar der Kommentar von Diplomaten im Auswärtigen Amt. „Der Plan kommt ein bisschen spät“, Kontinent am Tropf sagt Andreas Wenzel, Afrikareferent des Deutschen Industrie- und HandelskammerDeutsche Entwicklungsleistungen für Afrika 2014* tags, der sich vor allem Impulse für die Wirtschaft erhofft. Selbst im eigenen Haus MAROKKO TUNESIEN ätzen Skeptiker munter drauflos: „Bringt ÄGYPTEN in der Sache wenig. Hilft höchstens der PR des Ministers.“ Sie nörgeln nicht zuletzt, weil Müller sein Konzept mehr oder ERITREA MALI weniger im Alleingang erstellt hat. SÜD- ÄTHIOPIEN Am treffendsten hat das Defizit wohl GAMBIA NIGERIA SUDAN vor wenigen Tagen Désiré Assogbavi beKENIA SOMALIA schrieben, Verbindungsmann von Oxfam D. R. KONGO bei der Afrikanischen Union in Addis AbeEmpfängerländer TANSANIA ba: „Wenn unsere westlichen Partner uns über 100 Mio. € dabei helfen würden, die 60 Milliarden Dol10 bis 100 Mio. € MOSAMBIK lar Schwarzgeld, die jedes Jahr aus Afrika unter 10 Mio. € abfließen, auf dem Kontinent zu halten, gesamt rund würde es uns prima gehen, und wir könn* Bi- und ten auf jeden Marshallplan verzichten.“ 4 Mrd. € multilateral, netto SÜDAFRIKA RAINER JENSEN / DPA
Chef vor ihm. Doch nachhaltige Lösungsansätze ist er bisher schuldig geblieben. Nun also der Marshallplan. Übernommen hat Müller die Formel von dem Informatiker und Ökonomen Franz Josef Radermacher, der ihn seit Jahren berät und in langen Gesprächen inhaltlich aufgerüstet hat. Vor der Sommerpause hatte Müller seine Afrikareferate auf Trab gebracht. „Ernährung sichern, Schöpfung bewahren“, stand anfangs noch auf deren Folien oder auch „Bleibeperspektiven durch Frieden und Sicherheit schaffen, zivile Ansätze stärken“. Es war von Minderung von Konfliktursachen die Rede, von Prävention, von guter Regierungsführung und selbsttragendem Aufschwung. Leerformeln, wie man sie seit Langem kennt und oft gehört hat. Irgendwann dämmerte Müller, dass ein fundamental neuer Ansatz hermuss, ein Paradigmenwechsel. Er ordnete eine „grundlegende Überprüfung“ bisheriger Instrumente an. Der Privatsektor solle in Zukunft intensiver einbezogen werden. Man will nicht nur Hilfsprojekte finanzieren, sondern vor allem Investitionen fördern. Zudem soll die Eigenverantwortung afrikanischer Regierungen gestärkt werden. Bisher sind die Konturen des Plans noch unscharf, doch so viel ist klar: Vor allem reformfreudige Staaten sollen Unterstützung erfahren, korrupte, ineffiziente Regime müssen mit Kürzungen rechnen. Afrikas Regierungen sollen eigene Steuersysteme aufbauen, ihre Rechtssysteme stabilisieren, funktionsfähige Verwaltungen entwickeln. Um Investitionen zu fördern, sind mehr Risikobürgschaften für deutsche Unternehmen geplant. Zudem soll es Steuervergünstigungen geben, wenn sie in Afrika investieren. 20 Millionen neue Arbeitsplätze pro Jahr seien nötig, sagt der Minister, um Afrika aufzuhelfen. Eine Zielmarke, die man nach Lage der Dinge nur verfehlen kann. Doch der Minister hat erkannt, dass nur Arbeitsplätze und Beschäftigung einen nachhaltigen Aufschwung gewährleisten können. Und neue, anders ausgerichtete Handelsbeziehungen. Der von der EU lange propagierte Freihandel mit Afrika scheint jedenfalls ausgedient zu haben. In Afrika hat kein Land bisher davon profitiert, und kaum einer der fünf Freihandelsverträge (EPA), die derzeit zwischen der EU und afrikanischen Staaten in Arbeit sind, dürfte noch in Kraft treten. Zwar gewähren die Verträge den afrikanischen Staaten einen gewissen Schutz ihrer Märkte, trotzdem behaupten deren Regierungen, dass sie vor allem den europäischen Exporteuren nutzen. Das sieht auch Günter Nooke so, Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin und Freigeist im BMZ. Er warnt seit Jahren vor den EPAs: Die gegenseitigen Marktöffnungsklauseln schadeten Afrika mehr als sie nutzten. Heute sagt er: „Wir sollten die Verhand-
Quelle: BMZ
Horand Knaup, Christoph Schult DER SPIEGEL 3 / 2017
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Landgericht Berlin-Moabit: Generelle Arbeitsüberlastung der Staatsanwaltschaft
Aus Mangel an Beweisen
CHRISTIAN MANG / IMAGO
Recht Noch nicht einmal jeder zehnte angezeigte Vergewaltiger wird verurteilt. Ein Skandal, könnte man meinen. Die Realität ist komplizierter.
Demonstration für die Reform des Sexualstrafrechts im Juni 2016: Ein „Nein“ zu beweisen ist schwierig
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ls Valentina Koslowski an einem Samstagnachmittag im Mai 2011 ihren Bekannten Rico Thiele in Berlin besucht, ahnt sie nicht, dass sie keine 24 Stunden später daran zweifeln wird, die Wohnung noch mal lebend zu verlassen. Die 20-jährige Jurastudentin hatte den 36-jährigen Monteur über ihren Onkel kennengelernt. Er war für sie eine ehemalige Affäre. Für ihn war Koslowski die Frau, die er liebte. Vor dem Fernseher fingen die beiden an zu trinken. Sie Prosecco, er Wodka. Ab und zu rauchte er Gras aus einer Bong und zog Pep, ein Amphetamin. Irgendwann schliefen die beiden nebeneinander ein, Annäherungsversuche gab es keine. So sagten es hinterher beide aus. Koslowski und Thiele heißen in Wirklichkeit anders. Um sie zu schützen, wurden ihre Namen geändert. Was am darauffolgenden Sonntagmorgen geschah, beschreibt die Staatsanwaltschaft Berlin in der Anklageschrift vom 11. Januar 2016 so: Nach dem Aufwachen wurde Rico Thiele plötzlich wütend, weil Koslowski seine Liebe nicht erwiderte. Er beschimpfte sie, zerrte sie ins Badezimmer und spritzte ihr mit dem Duschkopf Wasser ins Gesicht. Er drückte seinen Penis an ihren Mund. Dann schlug er ihren Kopf gegen den Spülkasten der Toilette, gegen die Badewanne und gegen die Wand. Warum andere sie anfassen dürften und er nicht, schrie er immer wieder. Weglaufen konnte sie nicht, er hatte die Wohnungstür abgesperrt und den Schlüssel versteckt. Er schleifte sie zurück ins Wohnzimmer und schlug ihren Kopf auf die Sofalehne. Er griff nach einem Cuttermesser auf dem Schreibtisch und zwang sie, ihn am Unterarm zu ritzen. Das Blut verschmierte er in ihrem Gesicht. Er zog ihre Jeans aus und drang in sie ein, erst mit dem Finger, dann mit dem Penis. Er werde sie totschlagen, drohte er. So weit die Schilderung der Anklageschrift. Wie lange der Horror währte, lässt sich nicht rekonstruieren. Irgendwann hörte ein Nachbar die Schreie einer Frau und rief die Polizei. Die Beamten traten die Tür ein und fanden Valentina Koslowski apathisch, nass und in Unterwäsche. Auf dem Boden lagen ausgerissene Büschel ihrer Haare. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen schwerer sexueller Nötigung, Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Am ersten Prozesstag, einem Donnerstag im September, brach Thiele sein Schweigen. Bislang hatte der unauffällige Mann mit den raspelkurzen Haaren und der Brille die Aussage verweigert. Seine Version klang ganz anders als in der Anklage, harmloser: Ja, er sei ausgerastet, erklärte Thiele stotternd, weil Koslowski Sex
mit einem anderem Mann gehabt habe, und sexuellen Nötigung ließ die Staatsanwaltschaft fallen. Lohfink wurde wegen ihrem neuen Freund. „Warum?“, habe er „sehr laut“ ge- falscher Verdächtigung angeklagt und in schrien, immer wieder. Frau Koslowski, so erster Instanz zu einer Geldstrafe von nennt er sie vor Gericht, habe keine Reak- 20 000 Euro verurteilt. In den Fällen Kachelmann und Lohfink tion gezeigt. Er habe sie von Zimmer zu Zimmer geschleift und nass gespritzt. Da entschieden Gerichte, dass die Männer stehe sie doch drauf, so behandelt zu wer- wohl fälschlicherweise beschuldigt wurden, habe er gebrüllt und sie dann aufge- den. Falschbeschuldigungen werden nicht fordert, sich auszuziehen – „wenn sie Lust gezählt. Schätzungen, die das bundesweite auf Sex hätte“. Das habe sie getan. Wütend Ausmaß des Phänomens erfassen, sind habe er ihr in den Hals gebissen und sei deshalb kaum möglich. Auch Rico Thiele wurde vom Vergewaldann ins Bad gegangen, um sich die Zähne zu putzen. Kurz darauf habe die Polizei tigungsvorwurf entlastet. Aber dieser Fall macht deutlich, dass ein Gericht oft nur vor der Tür gestanden. Über knapp zwei Monate zog sich der schwer ermitteln kann, was sich wirklich Prozess. An zwölf Verhandlungstagen er- zugetragen hat. Genau das ist ein wichtiger zählten Rico Thiele, Valentina Koslowski, Grund dafür, warum nur bei wenigen Aneine Tante von Koslowski und drei Poli- zeigen wegen sexueller Gewalt tatsächlich zeibeamtinnen, was sich aus ihrer Sicht in ein Täter verurteilt wird. Im April vergangenen Jahres begründeThieles Wohnung zugetragen hatte. Koslowski betrat das Gerichtsgebäude nur, te Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) wenn sie aussagen musste. Im Zeugen- die Verschärfung des Sexualstrafrechts in stand brach sie mehrmals weinend zusam- einer Rede vor dem Bundestag mit der men, irgendwann wurde die Verhandlung „Verurteilungsquote von acht Prozent“ bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung. unterbrochen und vertagt. Fünf Jahre, fünf Monate und 18 Tage Und das, obwohl nur rund zehn Prozent nach jenem Sonntagmorgen im Mai 2011 aller Vergewaltigungen angezeigt würden. verurteilte das Landgericht Berlin-Moabit Von 1000 Taten werden demnach nur 8 beRico Thiele zu zwei Jahren und drei Mo- straft. Laut dem Bundesamt für Justiz ist diese Zahl in zehn Jahren um die Hälfte gesunJe enger das Verhältnis von ken, 2007 waren noch 18,2 Prozent aller Täter und Opfer, desto angezeigten Vergewaltiger verurteilt worden. Können Täter heute also eher damit schwieriger die Urteilsfindung rechnen davonzukommen? So leicht ist es nicht, man muss in die naten Freiheitsstrafe. Als bewiesen sah es Statistik einsteigen, um diese Frage zu beallerdings nur die Freiheitsberaubung und antworten: Bei der Berechnung der Verureine einfache Körperverletzung an. Vom teilungsquote werden zwei Zahlenwerke Vorwurf der gefährlichen Körperverlet- verglichen, die unabhängig voneinander zung, sexuellen Nötigung und Vergewalti- erhoben werden: die Polizeiliche Kriminagung – Delikte, bei denen höhere Strafen litätsstatistik (PKS) und die Strafverfolverhängt werden können – sprach es ihn gungsstatistik. Die Daten sind eine Art Nachweis für Polizei und Justiz, was sie mangels Beweisen frei. Wie schwierig es ist nachzuweisen, ob im Laufe eines Jahres bearbeitet haben. Was mit einer Anzeige zwischen dem eine Vergewaltigung stattgefunden hat, wurde in den vergangenen Jahren vor al- Eintrag in die PKS und die Verurteilungslem anlässlich von Prozessen wie dem des statistik alles passieren kann, zeigt der Fall Wettermoderators Jörg Kachelmann oder Thiele. Die Opferzeugin Koslowski wurde des Models Gina-Lisa Lohfink zum öffent- viermal vernommen, dabei änderte sich lichen Thema. Kachelmann war 2010 von der Tatbestand. Zunächst ging es um Freiseiner früheren Geliebten Claudia D. vor- heitsberaubung, häusliche Gewalt und Körgeworfen worden, sie vergewaltigt und mit perverletzung. Dann strich jemand den ureinem Messer bedroht zu haben. Das sprünglichen Grund der Anzeige durch Landgericht Mannheim sprach Kachel- und ersetzte ihn handschriftlich durch „Vermann frei, aus Mangel an Beweisen. Der gewaltigung und schwere sexuelle NötiBundesgerichtshof bestätigte das. Ein Zi- gung“. Wann genau das geschah, weiß vilgericht stellte später fest, dass die Frau nicht einmal Koslowskis Anwältin. Unklar bleibt auch, als welches Delikt die Anzeige bewusst falsch ausgesagt hätte. Lohfink behauptete, zwei Männer hät- in die PKS einging. In der Verurteilungsten ihr vor einigen Jahren K.-o.-Tropfen statistik wird das Verfahren erst im Jahr verabreicht und sie dann vergewaltigt. 2016 berücksichtigt, angeklagt auch als SeWeil die Männer das Geschehen filmten xualdelikt und verurteilt nur als Körperund mehrere Videosequenzen verbreite- verletzung und Freiheitsberaubung. Groß angelegte Studien, die den Weg ten, wurden sie von einem Gericht bestraft. Den Vorwurf der Vergewaltigung der Anzeigen von der Polizei und StaatsDER SPIEGEL 3 / 2017
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mindest nicht, weder im Hellfeld noch im Dunkelfeld“, sagt Elz. 2014 veröffentlichte das Kriminalistische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) eine Pressemitteilung, die es in sich hatte. Darin prangerten der damalige Direktor des KFN, Christian Pfeiffer, und Kollegen die extremen regionalen Unterschiede in Bezug auf die Strafverfolgung von Sexualdelikten an: Die Verurteilungsquote sei in einigen Bundesländern sechsmal so hoch wie in anderen. Den Ursachen wollten sie in einem groß angelegten Forschungsprojekt nachgehen, doch die Justizministerkonferenz lehnte ab. „Zu teuer“, hieß es laut Pfeiffer. Er glaubt, dass etwas anderes dahintersteckte: „Einige Bundesländer fürchteten eine Blamage.“ Seitdem bemüht er sich um andere Forschungsgelder. Niemand bestreitet, dass man zu wenig über die Strafverfolgung von Sexualdelikten weiß. Seit dem Vorstoß des KFN wurden mehrere Forschungsprojekte angeschoben, die klären sollen, warum viele Verfahren eingestellt werden und es immer
wieder zu Freisprüchen kommt. Jutta Elz wertet dafür Akten von allen 115 Staatsanwaltschaften aus, mit Ergebnissen ist frühestens 2018 zu rechnen. Obwohl das KFN nicht offenlegte, wie die einzelnen Bundesländer abschnitten, wurde in Bremen damals „kolportiert“, die Verurteilungsquote im Stadtstaat liege unter dem Bundesdurchschnitt. So erzählt es Arthur Hartmann, Leiter des Instituts für Polizei- und Sicherheitsforschung (Ipos). Sein Institut sollte im Auftrag des Bremer Senats herausfinden, an welchem Punkt die Verfahren scheiterten. Dafür untersuchten die Wissenschaftler 145 Anzeigen wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung in Bremen aus dem Jahr 2012. In 21 untersuchten Fällen kam es zur Anklage, verurteilt wurden gerade mal 5,5 Prozent der angezeigten Täter, deutlich weniger als im Bundesschnitt. Keine besonders hohe Zahl, das sieht auch Hartmann so. Dennoch könne es nicht sinnvoll sein, einfach mehr Tatverdächtige zu verurteilen, sagt er. „Dass 80 Prozent der Anzeigen falsch sind und deshalb eingestellt werden, glaube ich aber auch nicht.“ Hartmann und sein Team werteten die Einstellungsbegründungen aus, mit überraschenden Ergebnissen. In fast einem Fünftel der Fälle zog das Opfer seine Aussage zurück oder weigerte sich, bei der Polizei auszusagen. Etwa genauso hoch war der Anteil der Anzeigen, in denen die Staatsanwälte feststellten, dass jemand etwas angezeigt hatte, was rechtlich keine Straftat darstellt. Ein knappes Drittel der Verfahren wurde eingestellt, weil die Aussage des Opfers „zu lückenhaft“, „unschlüssig“ oder „widersprüchlich“ war oder Aussage gegen Aussage stand. Die Forscher schlossen daraus, dass die Qualität der Aussage des Opfers entscheidend ist: Je überzeugender, desto eher wird angeklagt. Man könnte annehmen, es liege nicht in der Macht von Ermittlern, wie gut oder schlecht eine Aussage sei. Doch nur geschulte Polizisten wissen, wie man die Vernehmung nicht beeinflusst und die Opfer für ihre Aussage unterstützt. „Bei traumatisierenden Erlebnissen kommt die Erinnerung häufig bruchstückhaft“, sagt Hartmann. Im Abschlussbericht der Ipos-Studie fordert er, soweit rechtlich zulässig und in der Hauptverhandlung verwertbar, TRISTAN VANKANN / DER SPIEGEL
anwaltschaft bis zum Urteil verfolgen, gibt es nicht. Jutta Elz hält es deshalb für „nicht vertretbar“, aus den Daten der beiden Statistiken Verurteilungsquoten abzuleiten. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kriminologischen Zentralstelle, einem von Bund und Ländern je zur Hälfte finanzierten Forschungsinstitut in Wiesbaden, beschäftigt sich seit Jahren mit der Strafverfolgung von Sexualdelikten. Ein Teil der angezeigten Vergewaltigungen verschwinde wie im Fall Thiele durch „Umdefinition“ aus der Verurteilungsrate. Die Polizei gehe zudem oft von einem anderen, gravierenderen Tatbestand aus, als es später die Staatsanwaltschaft oder das Gericht tun. „Wird jemand am Ende nur wegen Nötigung verurteilt, dann kann das trotzdem eine Genugtuung für das Opfer sein“, so Elz. Dass scheinbar immer weniger Vergewaltiger verurteilt werden, hängt der Wissenschaftlerin zufolge auch mit einer sich verändernden Beziehung zwischen Opfer und Täter zusammen. 1994 waren die Tatverdächtigen in knapp 38 Prozent der Fälle Fremde. In den 20 folgenden Jahren hat sich dieser Anteil fast halbiert. Opfer zeigten häufiger Bekannte oder Verwandte wegen sexueller Gewalt an, inzwischen liegt der Anteil bei fast 55 Prozent. Aber je enger das Verhältnis von Täter und Opfer, desto schwieriger die Urteilsfindung. Häufig lässt sich vom Gericht nicht zweifellos beurteilen, ob eine Frau, die in der Vergangenheit einvernehmlich mit einem Mann geschlafen hat, zur Tatzeit zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurde. Durch das neue Sexualstrafrecht könnte die Verurteilungsquote weiter sinken. Wenn die Reform, wie erhofft, mehr Opfer ermutige, Anzeige zu erstatten, sei das laut Elz „erst mal ein gutes Zeichen“. Allerdings seien Verurteilungen nicht immer einfach. Ein „Nein“ zu beweisen sei schwierig, auch wenn die Strafverfolgungsbehörden vorbildlich arbeiteten. „In unserem Rechtsstaat reicht ein Tatverdacht Gott sei Dank noch nicht für eine Verurteilung aus.“ Zwischen 2013 und 2015 sanken die Vergewaltigungsanzeigen in Deutschland kontinuierlich. Internationale Dunkelfeldstudien weisen darauf hin, dass auch die tatsächliche Zahl schwerer Sexualdelikte zurückgeht. „Die Zahlen steigen zu-
Ipos-Leiter Hartmann „Das Gesagte authentisch konservieren“
Sexuelle Gewalt in Deutschland Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung nach §§ 177 Abs. 2, 3 und 4, 178 StGB
Erfasste Fälle
7314
7022 6000
Verurteilungsquote
Tatverdächtigen-Opfer-Beziehung
in Prozent
bei sexueller Gewalt, in Prozent der Fälle 40
18,2
37,6
15
Bekanntschaft
30
Fremde
21,8 4000
2000
9,3
10
5
2011
2013
2015
Opferaussagen auf Video aufzunehmen. „Dafür sollte der Gesetzgeber auch bei erwachsenen Opfern bessere Möglichkeiten schaffen.“ Nur so könne man das Gesagte „möglichst authentisch und für alle nachvollziehbar konservieren“. Bremen zeichnet die Aussagen inzwischen auf Tonband auf. Schleswig-holsteinische Ermittler sind längst weiter: Sie halten Opferaussagen standardmäßig seit mehr als 20 Jahren auf Video fest, bei jeder Anzeige wegen eines Sexualverbrechens. Jährlich werden dort laut Ulrike Stahlmann-Liebelt, Oberstaatsanwältin in Flensburg, etwa 15 Prozent aller angezeigten Sexualdelikte angeklagt. Es gebe vergleichsweise selten Freisprüche, weil durch die hohe Qualität der Aussagen Fehleinschätzungen vermieden werden könnten. „Aber selbst die besten Ermittlungsmethoden und das qualifizierteste Personal bei der Polizei können nichts ausrichten, wenn die Straftat nicht nachweisbar ist.“ Rico Thiele wurde letztendlich bestraft. Aber der Ablauf des Verfahrens macht deutlich, wie leicht eine Verurteilung scheitern kann, wenn die Ermittlungen nicht optimal verlaufen. Die Fehler begannen schon am Tag der Tat. Obwohl Valentina Koslowski kaum bekleidet aufgefunden wurde, fragte laut Protokoll niemand nach sexuellen Übergriffen. Koslowski stand unter Schock und sagte nichts. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte: Prellungen am Kopf, Rippenprellungen, eine Trommelfellverletzung, ein Wirbelsäulen- und ein Schädelhirntrauma, blaue Flecke. Einen Vaginalabstrich, bei dem man womöglich DNA von Thiele hätte sicherstellen können, machte keiner.
flüchtige Beziehung
21,0
Verwandte
10 Quelle: Bundesamt für Justiz nach Berechnungen aus der Strafverfolgungsstatistik und PKS
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)
2009
20
2007
2014
Die erste Vernehmungsbeamtin kam aus der Abteilung Körperverletzung. Während Koslowski aussagte, schrieb sie am Computer mit. Nach sexuellen Handlungen befragt, sagte Koslowski, Thiele habe sie nur über dem Slip angefasst. Doch die Beamtin habe „so ein Bauchgefühl“ gehabt, dass Koslowski nicht alles erzähle, sagte die Beamtin später vor Gericht. „Das war ’ne reine Schamgeschichte.“ Wie man missbrauchte Frauen ermutigt, über unangenehme Dinge zu sprechen, ohne sie in eine Richtung zu drängen, dazu war die Polizistin nicht ausgebildet. Innerhalb von 19 Monaten befragten drei unterschiedliche Beamtinnen Koslowski. Die Ermittlungen zogen sich hin,
Fünf Jahre im Schwebezustand, eine Zumutung für beide Seiten weil die Zeugin immer wieder absagte: Sie sei psychisch zu labil. Ein Attest ließ sich die Kripobeamtin nicht vorlegen. Vor Gericht sagte sie später aus, es sei wegen der hohen Arbeitsbelastung eine „Erleichterung“, wenn eine Zeugin nicht erscheine. Das Problem: Im Laufe der Zeit wurden Koslowskis Anschuldigungen schwerwiegender. Bei der zweiten Vernehmung hatte Thiele seinen Finger in sie eingeführt, beim nächsten Mal war er auch mit dem Penis eingedrungen. Nach diesen Aussagen passierte jahrelang nichts. Thieles Anwältin rechnete schon gar nicht mehr mit einer Verhandlung, als die Staatsanwaltschaft nach drei Jahren über-
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ungeklärt Quelle: Kriminologische Zentralstelle, Daten der PKS
1994
2000
2005
2010
2013
raschend Anklage erhob. Im Prozess wurde die Verzögerung mit „genereller Arbeitsüberlastung der Staatsanwaltschaft“ begründet. Verfahren, in denen jemand in Untersuchungshaft sitze, hätten Vorrang. Von der Tat bis zur Verurteilung macht das fünf Jahre im Schwebezustand, eine Zumutung für beide Seiten. Koslowski brach in dieser Zeit ihr Studium ab, zog für eine Ausbildung mehrere Hundert Kilometer weit weg und wurde zwischenzeitlich psychiatrisch behandelt. Thiele stand jahrelang im Verdacht, ein Vergewaltiger zu sein. Was wirklich in seiner Wohnung geschehen ist, konnte das Gericht nicht aufklären. Bei der Urteilsverkündung Mitte November hob der Vorsitzende Richter zu einer Entschuldigung an. Es sei kein Vorwurf, aber leider habe Koslowski keine stringenten Angaben gemacht. Schämte sie sich zu sehr? Stand sie unter Schock? Wollte sie dem Tatverdächtigen „immer mehr reindrücken“? Das seien Vermutungen, „wir wissen es nicht“, so der Richter. In das Urteil zu schreiben, es sei zu einer Vergewaltigung gekommen, „wäre Willkür“ gewesen. Für ihn sei aber unumstritten, dass dieses Martyrium das Leben Koslowskis zerstört habe, deshalb sei auch das „ziemlich hohe Strafmaß“ für eine einfache Körperverletzung und Freiheitsberaubung gerechtfertigt. Nur Tage nachdem sie vor Gericht gegen Thiele ausgesagt hatte, wies Valentina Koslowski sich selbst in eine Psychiatrie ein. Die Anwältin lässt ausrichten, ihre Mandantin sei enttäuscht vom Urteil. Rico Thieles Anwältin hat Revision eingelegt. Laura Backes Mail:
[email protected] DER SPIEGEL 3 / 2017
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„Vertrauen gegen Vertrauen“ Zeitgeschichte CSU-Chef Franz Josef Strauß rettete die DDR 1983 mit einem Milliardenkredit vor der Pleite. Dokumente belegen, dass Erich Honecker ihm nicht die Wahrheit erzählt hatte.
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ls Erich Honecker, 70, und Franz gen, lobte sein einstiger Adlatus Peter GauJosef Strauß, 67, am 24. Juli 1983 weiler. Auch Tochter Monika Hohlmeier im holzvertäfelten Jagdschloss verbreitete diese Deutung der Geschichte – Hubertusstock nördlich von Berlin erst- nur leider ist sie falsch. Denn der große Verhandlungserfolg war mals zusammentrafen, zeigten sich der mächtigste Mann der DDR und sein Gast keiner. Zwischen Milliardenkredit und Abaus Bayern ziemlich unsicher. Wohin mit bau der Selbstschussanlagen besteht kein den Händen? Vor dem Bauch falten? In direkter Zusammenhang. Der einstige die Tasche stecken? Und dann dieses pein- Dachdeckerlehrling Honecker hat den „Jahrhundertpolitiker Strauß“ (CSU-Chef liche Schweigen. Die Fotografen baten, sie mögen sich Horst Seehofer) einfach ausgetrickst. Das zeigen Dokumente, die nun der doch für eine Aufnahme die Hände reichen. Strauß versuchte einen Scherz: „Ei- SPIEGEL ausgewertet hat. Die Papiere nen Handstand machen wir aber nicht.“ stammen von der Stasi oder sind vom AusHonecker ergänzte: „Aber auch keinen wärtigen Amt und dem Bundesarchiv verSalto.“ öffentlicht worden, teilweise schon vor länDer Besuch des bulligen CSU-Chefs gerer Zeit. beim schmächtigen SED-Generalsekretär Danach war Honecker bereits vor den symbolisierte die wohl spektakulärste Verhandlungen über den Milliardenkredit Wende in den deutsch-deutschen Bezie- entschlossen, die Todesautomaten abzuhungen seit dem Mauerbau. Die DDR bauen. Er hatte damit offenbar auch bestand 1983 vor der Zahlungsunfähigkeit, reits begonnen. Und beides war in Bonn und ausgerechnet der lautstarke Antikom- bekannt. Honecker hatte es selbst erzählt, munist Strauß half ihr aus der Klemme. am Montag, dem 13. September 1982. Kurz vor seinem Besuch bei Honecker verDamals regierte noch Helmut Schmidt mittelte der bayerische Ministerpräsident (SPD). In Ost-Berlin wurde eine Architekeinen Milliardenkredit westlicher Banken. turausstellung aus München („Stadt Park – Bis heute wird über diesen Kredit gestrit- Park Stadt“) eröffnet, und Hans-Jürgen ten wie über wenige andere Ereignisse der Wischnewski, Schmidt-Vertrauter und deutschen Teilung. Stabilisierte er das Ho- Staatsminister im Kanzleramt, nutzte den necker-Regime bis zum Mauerfall? Oder Anlass, um in die DDR zu reisen. Sein Terwar er ein „Beitrag zum Fall des Eisernen min bei Honecker dauerte 80 Minuten. Vorhangs?“, so Kanzler Helmut Kohl. Es ging um Fragen der Weltpolitik und das deutsch-deutsche Kleinklein wie die Kosten für die S-Bahn im geteilten Berlin. Gegen Ende kam Honecker auf die SM-70 zu sprechen. Gleich zwei Mitglieder aus Wischnewskis Delegation fertigten Vermerke. Die Inhalte stimmen überein. Die DDR sei dabei, erklärte demnach Honecker, „die Grenze zwischen den beiden Die gängige Version, die sich in Ge- deutschen Staaten ,zu humanisieren‘ durch schichtsbüchern, Strauß-Biografien, Nach- Abbau der Selbstschussanlagen“. Er nehschlagewerken und TV-Dokumentationen me an, Bonn habe dies „schon bemerkt“. findet, ist die: Strauß habe seinem VerHonecker stand unter Druck, seit Jahhandlungspartner Honecker „menschliche ren musste er Kritik der Weltöffentlichkeit Erleichterungen“ abgetrotzt, etwa bei Fa- an der SM-70 einstecken. Die Nationale milienzusammenführungen oder Ausrei- Volksarmee setzte inzwischen darauf, sen. Vor allem aber habe er erreicht, dass Fluchtwillige durch neue Grenzanlagen die DDR danach die etwa 60 000 bar- zu stoppen. Wochen vor dem Treffen mit barischen Selbstschussanlagen des Typs Wischnewski trat die DDR einer Uno-KonSM-70 an der innerdeutschen Grenze ab- vention bei, die Waffen wie die SM-70 baute. Diese zündeten, wenn jemand die verbot. Spanndrähte berührte; die Splitter rissen Doch Strauß bekam von alledem nichts schreckliche Wunden. Mindestens zehn mit. Nichts von Honeckers bekundetem Menschen sind durch die SM-70 getötet Entschluss, die SM-70 abzubauen. Nichts worden, etliche wurden verletzt. von den offenbar eingeleiteten Arbeiten. Strauß sei gegenüber der DDR-Führung Nichts von der Uno-Konvention. Der west„an die äußersten Möglichkeiten“ gegan- deutsche Unterhändler zog ahnungslos in
die Verhandlungen zum Milliardenkredit, resümiert der Berliner Historiker Bernd Rother. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Am 1. Oktober 1982 übernahm Kohl das Kanzleramt, und es dauerte lange, bis die Regierungszentrale wieder ordnungsgemäß arbeitete. Die Behörde sei damals ein „großes Loch“ gewesen, klagte später einer der deutschlandpolitischen Experten des Hauses. Ging die Information über die SM-70 im Durcheinander unter? Oder wurde sie von Kohl-Leuten vor dem bayerischen Dauerrivalen verheimlicht? Horst Teltschik, Kohls langjähriger außenpolitischer Berater, erzählt heute, selbst wenn der zuständige Staatsminister in Kohls Kanzleramt von dem Gespräch
Wurde die Information von Kohl-Leuten vor dem bayerischen Dauerrivalen verheimlicht?
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Gesprächspartner Strauß, Honecker im Jagdschloss
JÜRGENS PHOTO
Im Mai 1983 war es so weit: Strauß und Honecker/Wischnewski gewusst habe, be- und Molkerei-Imperium im DDR-Handel Schalck trafen sich mehrmals auf Gut deute das keineswegs, dass Strauß infor- viel Geld. miert worden sei. Und er hatte große Pläne. 1982 beteilig- Spöck bei Rosenheim, dem Gästehaus der Strauß war allerdings auch nicht der Typ te sich März mit Rückendeckung von Familie März, und besprachen die GrundPolitiker, der Rat suchte. Der selbstbewuss- Strauß an einem Unternehmen aus sätze. Obwohl die DDR fast pleite war, te CSU-Mann verhandelte mit Honeckers Schalcks Devisenimperium „Kommer- pokerte Schalck hoch. Ein formales Junktim zwischen WestBeauftragtem Alexander Schalck-Golod- zielle Koordinierung“ und plante eine weikowski, DDR-Staatssekretär, Devisenbe- tere gemeinsame Firma im Steuerparadies Geld und Ost-Zugeständnissen komme nicht infrage, es gelte „Vertrauen gegen schaffer und Stasioffizier, persönlich und Bahamas. streng geheim. Nur Kohl musste er auf Schalck vermutete später, März habe Vertrauen“. Strauß ging darauf ein: „Ich dem Laufenden halten. ihm wie Strauß erzählt, der jeweils andere glaube an die Redlichkeit und ehrlichen Den Bayern trieb der Wunsch, noch ein- suche das Gespräch. Im Herbst 1982 kam Absichten des Herrn Generalsekretärs.“ Am 25. Mai brachte Schalck eine lange mal ein großes Rad zu drehen. Der Kanz- der erste indirekte Kontakt zustande. ler hatte ihn weitgehend kaltgestellt, da Den Berichten Schalcks zufolge stellte Note Honeckers mit. Er sollte sie nur vorkam Honeckers Interesse an einem Mil- März – ausdrücklich auch im Namen von lesen, doch das fand er ein „bisschen alliardenkredit gerade recht. So sieht es zu- Strauß – zwei Bedingungen für etwaige bern“ und schob den Text über den Tisch. mindest Biograf Peter Siebenmorgen, der Verhandlungen über einen Kredit: Seine Darin stand: „Der Generalsekretär und wohl beste Strauß-Kenner. „Stellung als einer der Haupthandelspart- Vorsitzende des Staatsrates teilt Strauß Und dann war da noch die persönliche ner für Fleisch und Fleischwaren und le- streng vertraulich nur persönlich mit, dass und finanzielle Verbindung zum Jugend- bende Tiere“ müsse „unangetastet“ blei- er sich ernsthaft Gedanken macht, die freund und CSU-Kumpel Josef März. Die ben. Ebenso der Umfang seiner „bisheri- ,Selbstschussautomaten‘ abbauen zu lassen Gebr. März KG zählte zu jenen Wirt- gen Käselieferungen (ca. 25 Mio.)“ in die und zu einer international üblichen Grenzschaftsunternehmen, die dem Ehepaar DDR. Das würde „völlig ausreichen, um sicherung überzugehen.“ Sollte es dazu kommen, möge Strauß Strauß hohe Beträge über eine Briefkas- seine und die Interessen seiner Freunde tenfirma zuschoben (SPIEGEL 35/2015). Zu- politisch zu befriedigen“. Beide Wünsche würdigen, dass „er als einziger und erster vorher darüber informiert war“. gleich verdiente März mit seinem Fleisch- wurden erfüllt. Noch am selben Tag rief der CSU-Chef begeistert bei Kanzler Kohl an. Dieser ließ sich schnell überzeugen, wie er im Rückblick erzählte: „Geld für den Abbau der Todesautomaten – das konnten wir allemal aufbringen.“ Am 1. Juli wurde der Kreditvertrag von Bankern beider Seiten unterzeichnet. Einige Wochen später meldete Schalck an Strauß, erste Selbstschussanlagen seien entfernt, was der Bayer als „Entgegenkommen für seine bisherige Haltung zu Wünschen der DDR bewerten“ könne. Honecker machte sich später lustig, er sei zu dem Milliardenkredit gekommen „wie die Jungfrau zum Kinde“. Strauß hingegen prahlte, er habe erreicht, was die Union immer gefordert, aber der gerade abgelöste Helmut Schmidt in seiner Kanzlerschaft nie geschafft habe. Zu seiner Überraschung hielt sich die Begeisterung bei CDU und CSU in Grenzen. Schlimmer noch: Über den Deal empörte Christsoziale gründeten die Republikaner, die erste Partei rechts von der CSU seit der Nachkriegszeit, die bundesweit die Fünfprozenthürde überwand – bei den Europawahlen 1989. Auch von der Schwesterpartei fühlte sich der leidenschaftliche Außenpolitiker Strauß unzureichend gewürdigt. In seinen Memoiren klagt er, er hätte gerne in einer Serie von Pressekonferenzen der Weltöffentlichkeit Rede und Antwort gestanden, doch die Parteifreunde in Bonn hätten gemauert: „Man wollte nicht haben, dass zu viel Sonnenschein auf mich fiel.“ Wie die Auswertung der Papiere nun zeigt, war das allerdings die richtige Entscheidung. Klaus Wiegrefe Hubertusstock 1983: „Einen Handstand machen wir aber nicht“
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Besonders gefreut Subventionen Die Frage, wer die Idee zur staatlichen Finanzierung der Tagebücher von Kurt Biedenkopf hatte, bringt Sachsens Regierungschef Tillich in Nöte.
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RALF HIRSCHBERGER / DPA
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as hätte es für die Nachwelt bedeutet, wenn diese Sätze nicht gedruckt worden wären? Dieses Schwärmen vom transparenten Licht im Mai, von frischem Frühlingsgrün, an dem sich das Auge labe: „Vor mir eine Rotbuche, die den 3. Stock überragt und mir das Gefühl gibt, selbst in den Gipfel des Baumes fliegen zu können.“ Der Mann, der sich hier imstande wähnt, die Schwerkraft zu überwinden, ist Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU). Die Zeilen entstammen seinem Tagebuch, das er von 1989 an vor allem während seiner Amtszeit führte. 2015 druckte der Siedler Verlag die bleischweren Bände, die Sächsische Staatskanzlei schoss knapp 308 000 Euro zu. Die insgesamt rund 1500 Seiten sollten, hieß es, „ein historisch bedeutsames Leitprojekt“ zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung sein. Inzwischen bringt das Opus vor allem Unfrieden in die sächsische Union. Denn der amtierende Ministerpräsident und CDU-Chef Stanislaw Tillich ist wegen der staatlichen Buchfinanzierung in den Verdacht geraten, dem Parlament nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Kommenden Freitag wird sich der Sächsische Verfassungsgerichtshof mit der Frage beschäftigen. Die Parteifreunde Biedenkopf und Tillich liefern unterschiedliche Versionen des Hergangs. Im Kern geht es um die Frage, wer die Idee für das staatlich geförderte Buchprojekt hatte. Nachdem der SPIEGEL die ungewöhnliche Finanzierung 2015 aufgedeckt hatte, stellte der Linken-Abgeordnete André Schollbach bisher 16 Kleine Anfragen zu dem Vorgang. Schollbach wollte vor allem wissen, ob Tillich selbst für den Geldsegen gesorgt hatte. Die Antworten lassen auf einige Nöte in der Regierungszentrale schließen. Zunächst hieß es vorsichtig, „nach Aktenlage“ sei davon auszugehen, der damalige Chef der Staatskanzlei Johannes Beermann habe entschieden. Dann wurde erklärt, der Wunsch Biedenkopfs nach Veröffentlichung „war Herrn Ministerpräsidenten Tillich bekannt“. Als Schollbach das Verfassungsgericht anrief, berichtigte die
Autor Biedenkopf, Tillich-Plakat 2009: „Zu seiner Sache gemacht“
Staatskanzlei ihre Antwort. Nun war TilDa nur eine Version stimmen kann, muss lich „informiert“, er habe das Projekt aber einer der Herren die Wahrheit zurechtgebo„nicht durch konkrete Handlungen oder gen haben. Biedenkopf hatte sein Vorwort Maßnahmen befördert“ und es auch „nicht weit vor dem Zeitpunkt verfasst, als die ,zu seiner Sache‘ gemacht“. staatliche Finanzierung aufflog. Nicht nur Offenbar hat sich die halbe Verwaltung der Linke Schollbach fragt sich, warum ein der Staatsregierung mit der Causa beschäf- als eitel bekannter Staatsmann wie Biedentigt: der Chef der Staatskanzlei, ein Staats- kopf seinen Nachfolger Tillich ohne Grund sekretär im Finanzministerium, drei Ab- mit Lob und Dank überschütten sollte. teilungsleiter und vier Referatsleiter. Die Für Tillich ist der Vorgang heikel. Die 308 000 Euro flossen an die CDU-nahe sächsische Verfassung legt in Artikel 51 Konrad-Adenauer-Stiftung, die das Projekt fest, dass Fragen einzelner Abgeordneter bis zur Drucklegung betreute. Schließlich „nach bestem Wissen unverzüglich und ließ der Regierungschef versichern, er habe vollständig zu beantworten“ seien. Dass Biedenkopf „kein Angebot zur Publizie- der Verfassungsgerichtshof den Fall nun rung der Tagebücher unterbreitet“. aufgreift, zeigt, dass die Richter offenbar Das Problem: Der 86-jährige Bieden- Zweifel an den bisherigen Antworten der kopf behauptet das komplette Gegenteil. Regierungszentrale haben. Bei der BeweisIm Vorwort des ersten Bandes schreibt er aufnahme könnten aus Sicht Schollbachs ausdrücklich, es sei „der Entscheidung des die beiden Ministerpräsidenten auch als Freistaates Sachsen und seines Minister- Zeugen gehört und vereidigt werden. Bleipräsidenten Stanislaw Tillich zu verdan- ben sie bei ihren widersprüchlichen Verken“, dass die Bücher erscheinen konnten. sionen, käme der Verdacht des Meineids Tillich habe die Publikation „zu seiner Sa- auf. che“ gemacht und entschieden, die VorWirtschaftlich haben sich die Tagestellung der Tagebücher mit dem 25. Jah- bücher bereits als Pleite erwiesen. In den restag des Freistaates zu verbinden. „Über ersten drei Monaten, so die Staatskanzlei, die damit verbundene Auszeichnung ha- hätten sich nicht einmal 1700 Bücher verben meine Frau und ich uns besonders ge- kauft. Das brachte dem Freistaat, dem ein freut.“ In einem Interview mit der „Säch- fester Anteil zugesichert war, gerade mal sischen Zeitung“ legte er im Mai 2016 noch 4700 Euro ein. Inzwischen bekam jeder einmal nach. Die Tagebuchedition sei „ein Landtagsabgeordnete die drei Bände handProjekt des Freistaates“, es gehe „auf Til- signiert ins Büro geliefert – kostenlos. lichs Vorschlag zurück“. Steffen Winter
Deutsche Bank
Was Anleger 2017 erwartet Wahlen in Europa, Trump in den USA, Wachstum in China: Welche Entwicklungen Anleger im neuen Jahr im Blick behalten sollten und wie die Kapitalmärkte reagieren könnten – jetzt online lesen im Jahresausblick der Deutschen Bank.
Dank zunehmender Wirtschaftsdynamik und höherer Zinsen in den USA: US-Dollar dürfte weiter an Stärke gewinnen. Euro-DollarWechselkurs von 0,95 zum Jahresende möglich.
Deutliche Kursschwankungen bei deutschen Aktien wahrscheinlich. DAX Ende 2017 bei 11.800 Punkten erwartet.
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Niedrige Inflation und EZB-Geldpolitik dämpfen Zinsanstieg in Deutschland. Abstrahleɥekte aus den USA könnten Verzinsung 10-jähriger Bundesanleihen auf 0,9 Prozent steigen lassen.
Trotz stabilem Arbeitsmarkt und starker Binnenkonjunktur: Politische Unsicherheiten in Europa dürften deutsches Wirtschaftswachstum im Jahr 2017 auf 1,1 Prozent begrenzen.
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deutsche-bank.de/jahresausblick2017
Preisanstieg bei Gold auf 1.230 US-Dollar je Feinunze im Jahresverlauf 2017 möglich. Prognose aufgrund erheblicher Marktrisiken jedoch mit Unsicherheiten behaftet.
DER SPIEGEL seit 1947
Werden hier Tatsachen verdreht? Saudumme Fragen gestellt? Interessen des Springer-Konzerns verfolgt? Eine Auswahl von Leserbriefen und die Antworten der Redakteure zeigen: Es ist eine intensive, manchmal schwierige, manchmal amüsante Beziehung – der SPIEGEL und seine
KRITIKER Katastrophismus
Dann mal los
Betrifft Nr. 46/2016 Titel: Das Ende der Welt (wie wir sie kennen) – nach der US-Präsidentschaftswahl
Betrifft Nr. 46/2016 Leitartikel: Warum Donald Trump Präsident der USA werden konnte. Und was für die Medien daraus folgt
Das Cover Ihrer neuesten Ausgabe entsetzt mich. Wie steht es um die Verantwortung der Presse für die öffentliche Meinung, wenn Sie mit Titel und Bild eine schreiende Botschaft auswählen, die dem wachsenden Katastrophismus noch mal einen Schub geben muss? Das Bild von Trump als apokalyptischem stürzenden Engel / Teufel passt perfekt dazu. Beides bedient unverhüllt, meine ich, die Endzeitängste, die eine besonnene Auseinandersetzung mit der Gegenwart immer stärker behindern. Die Absicht Ihres Covers kann meines Erachtens nur sein, Ihre Verkaufszahlen zu fördern. Der Untertitel in Klammern ist nicht nur aus gestalterischen Gründen kleiner gehalten, glaube ich. Ich bitte ganz dringend darum, dieses Thema offen zu verhandeln. Wir brauchen allerorts eine Stabilisierung von Vernunft und Besonnenheit – das wissen Ihre klugen Mitarbeiter/innen sehr wohl.
Dann aber mal los, liebe SPIEGEL-Redakteure. Als Erstes redet mal mit Wallraff, der hat schon einiges unter der Oberfläche recherchiert. Und dann geht los, und sprecht mit der Krankenschwester, mit dem Handwerker, mit dem einfachen Büroangestellten, auch mit Polizisten, und zwar mit jenen, die kein Erbe zu erwarten haben, zur Miete leben, wo Frau und Mann arbeiten müssen, um das Leben ihrer Familie finanzieren zu können. Und sprecht mit den RentnerInnen, die mit ihren Bescheiden schwarz auf weiß zu sehen bekommen, wie sie direkt nach 45 Jahren voller Beitragszahlung zur Finanzierung von wer weiß was herangezogen werden.
Elke Berendonk, Leutkirch
Sehr geehrte Frau Berendonk,
es wird Sie kaum überraschen, dass ich dieses Titelbild so leidenschaftlich verteidige, wie Sie es angreifen: Die Wahl Donald Trumps hat die Welt auf vielfache Weise schockiert, und sie wird ganz gewiss Folgen haben – sie war ein historischer Einschlag, buchstäblich. Dass Titelillustrationen ähnlich wie andere Karikaturen Aussagen auf den Punkt bringen oder auch etwas zuspitzen, halte ich nicht nur für legitim, sondern für zwingend. Darum geht’s ja auf einem Titelbild – das finden wir jedenfalls. Mit herzlichen Grüßen, Klaus Brinkbäumer, Chefredakteur
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Ausgabe 46/2016 Donald Trump wird US-Präsident – der Schock nach der US-Wahl
Recherchiert dort, schreibt über die wirklich Betrogenen in unserem Land – dann wird vielleicht klarer, wie Radikalismus in unserer Gesellschaft entsteht. Und dann recherchiert und schreibt, wie eine Demokratie durch Weiterentwicklung die Basis, gemeint: das Volk, mitnehmen kann. Gesendet von Samsung-Tablet (ohne Namensnennung)
Liebe Frau, lieber Herr von Samsung-Tablet (wenn ich Sie so anreden darf?),
schon an dem großen Binnen-I erkenne ich, dass es zwischen Ihnen und mir durchaus Gemeinsames geben dürfte. RentnerInnen und der Verweis auf Günter Wallraff, dessen Industriereportagen ich als Schüler auf den Knien gelesen habe. Sie haben recht, uns diese Wahrheit um die Ohren zu hauen: Schaut dem Volk aufs Maul. Die einfachen Leute reden sowieso farbiger und wahrer, als man es auf Journalistenschulen jemals wird lernen können. Fahrt nach Torgelow zu dem ehemaligen Panzerfahrlehrer, der jetzt Müll aufpickt. Fahrt nach Altglashütten und Weißkeißel, wohin die Medien nur schauen, wenn Fürchterliches passiert, und sonst nie. Hört zu, was die Leute in Sumte auf dem Herzen haben, nachdem ihnen erst ein Atommülllager versprochen wurde, dann Jobs in einem Inkassounternehmen und schließlich ein Flüchtlingslager, und aus allem ist natürlich nichts geworden. Steigt mit dem letzten Werkslokdisponenten auf die Bottroper Halde, und lasst Euch erzählen, dass Kohle eine Welt war – und keine schlechte. Raus aus den Büros und rein in die Welt jenseits der Bildschirme. Der Lohn? Großartige Begegnungen, unglaubliche Geschichten, Sätze, die sich niemand besser hätte ausdenken können. Wirklichkeit! Die Droge des Reporters. Zurück von der Recherche für die Reportage „Fremdenverkehr“ (SPIEGEL 2/2017), immer noch süchtig und dankbar für Anschubser, grüßt Alexander Smoltczyk, Reporter im Ressort Gesellschaft
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ILLUSTRATION: FRANK HÖHNE / DER SPIEGEL
Erpressung in Reinkultur Sehr geehrte Redaktion, mir ist bei der Lektüre Ihrer Ausgabe vom 29.10.2016 der Beitrag („Essay“) von Frau Barbara Supp derart negativ aufgefallen, dass ich nicht umhinkann, Ihnen nun einen verspäteten Leserbrief zu schreiben. So diffamiert Frau Supp besorgte Bewohner strukturschwacher Gebiete nicht nur als wenig bis gar nicht vernunftbegabt, wenn diese sich über das Nichtvorhandensein von öffentlichem Nahverkehr oder medizinischer Grundversorgung mokieren, sich aber schon wundern, wenn die bislang fehlenden, eigentlich dafür notwendigen Mittel in zigfacher Milliardenhöhe nun für die Neuankömmlinge bereitzustehen scheinen. Die Autorin scheut sogar nicht einmal den abstrusen Vorschlag, die Gewährung der von den besagten Mitbürgern zu Recht eingeforderten Schaffung der Infrastruktur von einer Akzeptanz des Zuzugs von Flüchtlingen abhängig zu machen. So etwas nennt man Erpressung in Reinkultur, es stellt ein Armutszeugnis der demokratischen Einstellung dar. Mit freundlichem Gruß, Nikolaus Kerkhof, Köln
Sehr geehrter Herr Kerkhof,
vielen Dank für Ihren Brief. In einem Punkt kann ich Ihre Kritik nachvollziehen, in einem anderen nicht. Ich bleibe bei der Einschätzung, dass die Probleme im ländlichen Raum – kaum Busse, keine Arztpraxis, keine Polizeistation – sehr viel älter sind als die sogenannte
Wie frech sind Sie? Betrifft Nr. 45/2013 Warum eine Deutsche mit türkischen Wurzeln nie richtig deutsch wurde
Hallo Frau Özlem G., ich habe Ihren Text gelesen. Ich mag auch Ihre anderen Themen und Texte nicht, das nur vorweg. Aber jetzt schreiben Sie darüber, dass wir Deutschen Sie zur Türkin gemacht hätten. Ich habe Sie mir bei Google angeschaut, wie eine Deutsche sehen Sie nicht aus, das nur mal so nebenbei – oder wollen Sie auch dafür uns Deutschen die Schuld geben? Dafür können wir wohl nichts. Trotzdem frage ich mich, wie frech sind Sie eigentlich? Warum sind Sie nicht dankbar, dass wir Ihre Familie gerettet haben vor der Armut in Ihrer Heimat? Ihr Opa durfte am Hamburger Hafen Schiffe reinigen, Ihr Vater dann schon in einer deutschen Bausparkasse arbeiten. 54
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JENS BÜTTNER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Betrifft Nr. 44/2016 Wie dafür gesorgt werden kann, dass die AfD Wähler verliert
Bushaltestelle in Mecklenburg-Vorpommern: Landbewohner diffamiert?
Flüchtlingskrise des vergangenen Jahres. Hier sind über Jahre, über Jahrzehnte Fehler gemacht worden – hier wurde auf Kosten der Bürger gespart und von der Substanz gelebt. In einem anderen Punkt kann ich vielleicht noch ein wenig Klarheit schaffen: Nein, ich meine nicht Erpressung, wenn ich es für richtig halte, dass die Bürger einer Gemeinde davon profitieren, dass Flüchtlinge zu ihnen ziehen. In vielen Orten, wo kein Bus fährt, keine Arztpraxis existiert oder die Schule schließt, heißt es: zu wenig Bedarf. Und dieser Bedarf steigt, wenn die Flüchtlinge da sind. Und wenn dieser Bedarf befriedigt wird, kommt das allen zugute. Mit besten Grüßen, Barbara Supp, Autorin im Ressort Gesellschaft
Mehr Aufstieg ist wohl nicht möglich für Bauern aus Anatolien, oder? Ich finde, Sie müssten demütiger sein. Wenn wir Deutschen Ihre Großeltern nicht reingelassen hätten, dann würden Sie jetzt wahrscheinlich ein Kopftuch tragen, sechs Kinder haben und bestimmt nicht für den SPIEGEL schreiben, wenn Sie überhaupt schreiben könnten? Ich habe auch das nachgeguckt, Sie sind die erste Türkin beim Blatt. Was sollen wir denn noch für Sie tun? Was wollen Sie eigentlich, erzählen Sie mir das mal? So viel Inkompetenz, so ein Job, und immer noch schlagen Sie auf die Deutschen ein. Ich werde übrigens auch Ihren Chefs schreiben, die sollten Sie in den Putzdienst geben, dann wären Sie vielleicht wieder unter Gleichgesinnten und würden nicht so die Klappe aufreißen. So eine maßlose Frechheit müssen wir uns von Euch nicht bieten lassen! Bei
Kollegin schicken Betrifft Nr. 48/2016 Wie die Ehefrau des künftigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ihre Rolle versteht
Guten Tag, war dieser Beitrag ein Ausrutscher? Der SPIEGEL ist mein liebstes Magazin, und ich schätze ihn für seine journalistische Qualität. Dieser Beitrag hat mich jedoch geärgert. Dieser „Artikel“ hat den Informationsgehalt der „Gala“, gepaart mit dem alt-männlichen Bedauern, dass eine hervorragend ausgebildete Frau ihren bezahlten Beruf nicht für ein unbezahltes Nichtamt aufgeben will. Zum Glück erhalten immer mehr Frauen in Deutschland eine gute Ausbildung, gleichzeitig sind immer mehr Frauen von Altersarmut betroffen.
uns Deutschen heißt Gast sein: sich benehmen, das essen, was auf den Tisch kommt, und die Füße stillhalten. Aber das ist wohl in Ihrer Heimat anders. Und dass ich heute noch mein Abo kündigen werde, brauche ich Ihnen wohl nicht zu schreiben, können Sie sich ja denken, oder? Ich werde in meinem Kündigungsschreiben übrigens auch vorschlagen, dass meine Abogebühr in Zukunft von Ihrem Gehalt abgebucht wird. Ich zahle den Mist nicht mehr, um mich jede Woche über eine Türkin aufzuregen, die kein Benehmen hat und nicht weiß, wie man das Wort Danke ausspricht. Verärgert und angewidert Simone O.
Statt einer Antwort: Lesen Sie hier den kritisierten Text von Özlem Gezer: „Türkisiert“ spiegel.de/sp032017tuerkin
DER SPIEGEL seit 1947
Volkswirtschaftlich macht es keinen Sinn, dass Frauen wegen ihres Mannes ihre Karriere zurückstellen. Da können wir uns als Gesellschaft glücklich fühlen, wenn wir das vom ersten Mann im Staat auch vorgelebt bekommen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie einen weiteren Artikel über oder ein Interview mit Frau Büdenbender veröffentlichen würden. Aber schicken Sie bitte eine Kollegin. Mit freundlichen Grüßen, Simone Ewens
gesamt positive Entwicklung. Ist das Ihrer Meinung nach nicht der Rede wert? Unsere Kolumne erfreut sich vieler Zuschriften, etwa zur Hälfte wohlwollend, zur anderen Hälfte in Sinn und Geist Ihres Briefes. Oft erreichen uns kluge Ja-aberArgumente zu den konstatierten Trends, das Haar in der Suppe. Bei der konzentrierten Suche nach dem Haar übersehen aber viele die Suppe selbst. Manche Reaktionen fallen wie die Ihre geradezu empört aus, weil der Eindruck herrscht, dass der Autor Probleme klein- oder wegreden will. Ich versichere Ihnen: Das ist nicht der Fall. Hier steht nie: Alles ist gut. Hier steht nur: Vieles wird besser. Mit besten Grüßen,
eindeutig unterscheiden. Es könnte doch sein, dass Herr Kirchhof, sich des richtigen Kasus durchaus bewusst, nur fälschlich einen anderen Buchstaben gesetzt hat – keineswegs unwahrscheinlich, da N und M auf der Tastatur Nachbarn sind. Und natürlich fanden wir, dass „orthografischer Fehler“ die freundlichere Unterstellung wäre. Des Weiteren bedanken wir uns für die hübsche Wortschöpfung „Unsicherzeiten“. Freundliche Grüße, André Geicke, Dokumentation
Liebe Frau Ewens,
Christoph Schult, Redakteur im Hauptstadtbüro
Verdrehungstheoretiker Betrifft Nr. 47/2016 Grafik: Die Zahl der Hungernden nimmt ab
Sehr geehrte Damen und Herren, 795 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Täglich sterben ZEHNTAUSENDE an den Folgen von Unterernährung, das heißt an Krankheiten, denen ihr geschwächter Körper nichts entgegenzusetzen hat. Und Mingels ignoriert diese Millionen Toten jedes Jahres und zeigt auf seiner Grafik „wohlgemut“ nur die Toten von „Hungersnöten“. Das ist eine Verhohnepipelung der Hungernden, Toten und der Leser. Es gibt Verschwörungstheoretiker, und jetzt gibt es Mingels als schönfärberischen VERDREHUNGSTHEORETIKER der Superklasse im SPIEGEL. Mit freundlichen Grüßen,
Grammatischer Fehler
Klaus Morgenstern, Stuttgart
Betrifft Nr. 30/2016 Interview mit dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache
Sehr geehrter Herr Morgenstern,
Sehr geehrte Damen und Herren, im letzten SPIEGEL führen Sie ein Interview mit Ludwig Eichinger und fragen ihn, wie er angesichts einer Unterschrift des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, unser Verhältnis zur RECHTSCHREIBUNG sieht. Als Beispiel führen Sie seine Unterschrift „Mit freundlichen Gruß“ an. Darf ich Sie beziehungsweise den Interviewer darauf hinweisen, dass „mit freundlichen Gruß“ KEIN Rechtschreibfehler, sondern ein grammatischer Fehler ist, da Akkusativ statt Dativ verwendet wurde („mit freundlichem Gruß“ = Dativ / „mit freundlichen Gruß“ = Akkusativ). Es scheint so zu sein, dass Unsicherzeiten oder gar Unkenntnis allgegenwärtig sind, dass aber „Fehler“ von anderen sofort bemerkt und kritisiert werden, die eigenen dagegen als „regelkonform“ gelten. Mit den besten Grüßen, Ihre Eva T.
Sehr geehrte Frau T.,
wir bedanken uns für den korrekten Hinweis. Allerdings lassen sich grammatische Fehler von orthografischen nicht immer
Guido Mingels, stellvertretender Ressortleiter Gesellschaft
So süß Betrifft Nr. 3/2016 Was 30-Jährigen heute wichtig ist
seit Anfang 2016 stellt der SPIEGEL in der Rubrik „Früher war alles schlechter“ jede Woche eine Entwicklung zum Besseren vor. Meist geht es um langfristige Trends, die in den öffentlichen Debatten oft fehlen. So ist es auch beim Thema „Hunger“. 795 Millionen oder einer von neun Menschen auf der Welt haben heute nicht genug zu essen, das ist eine schreckliche Zahl – die der Text übrigens keineswegs „ignoriert“, wie Sie schreiben. Wer nur auf diese Zahl starren will, darf und muss verzweifeln. Doch die Zahl der Hungernden sinkt eben seit langer Zeit, sie ist heute um über 200 Millionen kleiner als 1990 – obwohl mehr Menschen auf der Erde leben. Die dramatisch geschwundene Gefahr durch Hungersnöte ist ein besonders eindrückliches Beispiel für die insFrüher war alles schlechter Nº47: Hunger 1920 bis 1970 starben im Schnitt von 100 000 Menschen weltweit 529 pro Jahrzehnt durch Hungersnöte.
In den 2000ern nur noch 3.
THE ECONOMIST / STEPHEN DEVEREUX
ich stimme Ihnen ausdrücklich zu! Es wäre in der Tat ein Segen für unsere Gesellschaft, wenn Frau Büdenbender die erste First Lady in Deutschland würde, die ihren Beruf nicht wegen der politischen Krönung ihres Mannes an den Nagel hängen muss. Genau das habe ich mit dem Satz gemeint, dass die herkömmliche Rolle der First Lady in Schloss Bellevue für eine moderne Frau eine Zumutung ist. Wenn wir beide der Meinung sind, dass eine Frau ihren Beruf nicht aufgeben sollte, um ihrem Mann die Karriere zu ermöglichen – sollte es da nicht selbstverständlich sein, dass ein Mann darüber genauso schreiben darf wie eine Kollegin? Dies wünscht sich, mit herzlichen Grüßen,
Hallo Miriam, habe eben Deinen Artikel im SPIEGEL über die „30-Jährigen“ gelesen. Ist irgendwie witzig und so süß. Ich bin 21, übernächstes Jahr (schon) mit dem Studium fertig. Und ich kenne ein paar 30Jährige. Richtig coole Typen, Männlein wie Weiblein. Keiner von denen holt sich ein altes Sofa vom Müll oder trägt alte Klamotten. Und Du/Ihr mein(s)t, Ihr macht was Geiles. Natürlich kaufe ich kein Auto zum Angeben. Aber wenn ich es brauche, um schneller/besser irgendwohin zu kommen, kaufe ich mir halt ein kleines, billiges, das ich wieder verkaufe, wenn ich’s nicht mehr brauche. Ich bin doch nicht so bescheuert und fahre vielleicht jeden Tag ein bis zwei Stunden Bahn, weil ich es cool finde, kein Auto zu haben. Und wie toll ist das denn? In Bulgarien rumfahren ohne feste Unterkunft?? Ich bin voriges Jahr in den Semesterferien mit ’ner Freundin fünf Wochen in den USA den Appalachian Trail gelaufen. Und anschließend hat mir mein Vater eine Woche in einem super Hotel in New York geschenkt. Und so was wollt Ihr alle nicht!! Wie süß. Deine Clique will von den Statussymbolen weg. Hat sich aber ein Statussymbol aufgebaut, das heißt „Wir sind anders“. Und meint, alles, was Ihr nicht macht, ist toll. Wie süß!! In unserer Clique ist das anders: Wir sind wir!! Wenn man angewandte Psychologie studiert, weiß man schon im zweiten Semester, dass es immer wieder Zeiten gibt, in denen so ein „ANDERSSEIN“ Kult ist. Dabei waren die 68er fast die Einzigen, die echt anders waren. Also richtig süß! Kann ja auch sein, dass man in Deinem Alter so eine Phase durchläuft. Aber das wird schon!! Liebe Grüße, Josefine DER SPIEGEL 3 / 2017
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Ganz schön Haue gekriegt Betrifft Nr. 37/2016 Nicht schnell, aber hübsch – die Bahn präsentiert den ICE 4, und der Autor schreibt zwei Sätze über Uerdingen
WERNER OTTO
Ihre Beschreibung Uerdingens ist völlig falsch, ja nicht nur nicht zutreffend, sondern fast gehässig. Als Vorsitzender des Uerdinger Heimatbundes lade ich den Artikelverfasser ein, mit mir Uerdingen kennenzulernen. Vielleicht stehen Sie dazu, bei einer Falschinformation auch später korrekt zu berichten. Ich zeige und erkläre Ihnen unsere Stadt gerne. Kirche in Uerdingen: Im Dorf lassen
Elmar Jakubowski
Sehr geehrter Herr Jakubowski,
vielen Dank für die geharnischte Kritik, die ich mir gern gefallen lasse. Die drastische und sicher zu polarisierende Beschreibung entspricht dem Eindruck, den ich bei einem Fußweg vom Bahnhof zum Siemens-Werk bekam. Dass Krefeld-Uerdingen auch malerischere Stadtteile hat, stelle ich nicht in Abrede und komme bei Gelegenheit gern auf Ihr Angebot zurück. Habe ganz schön Haue gekriegt, auch von anderen Uerdinger Bürgern, deren Zorn ich nachvollziehen kann. Sorry und freundliche Grüße, Christian Wüst, Redakteur im Ressort Wissenschaft
ten Wahrnehmung nicht zustande kommen. Man sollte auch beim SPIEGEL nicht einfach ein Bild einer Gemeinde publizieren, das völlig falsch ist und für eine Stimmungsmache halt gerade so gebraucht wird. Wenn man so etwas liest, dann ist man versucht, über das Schlagwort „Lügenpresse“ etwas intensiver nachzudenken. Ich bedaure es sehr, dass Sie unsere Hinweise so abtun, und bin erst recht enttäuscht, dass der SPIEGEL offensichtlich nicht mehr auf eine richtige und faire Berichterstattung setzt. Mit freundlichen Grüßen, Elmar Jakubowski
Sehr geehrter Herr Wüst, vielen Dank für Ihre Antwort. Es ist mir jedoch etwas zu einfach, so eine „drastische Beschreibung“ zu veröffentlichen und dies dann auf einen „Eindruck“ zurückzuführen. So wie letztlich Uerdingen beschrieben wurde, kann eine solche Beobachtung selbst bei einer eingeschränk-
Sehr geehrter Herr Jakubowski,
jetzt muss ich Sie doch bitten, die Kirche im Dorf zu lassen. Es geht hier nicht um einen Artikel über Krefeld-Uerdingen, sondern um eine Randbemerkung, die einem Eindruck entsprach, den ich auf dem Weg vom Bahnhof zum Siemens-
Hallo Josefine,
SPIEGEL deutlich sinken. Ist Ihr Blatt in
sagt man heute tatsächlich wieder Clique? Wie süß. Ich werde wohl wirklich alt. Viele Grüße,
so große Not geraten, dass diese wirklich schöne und sehr anschauliche Form der Präsentation des Inhalts keinen Platz mehr hat? Wenn dem so ist, ist es um den SPIEGEL nicht gut bestellt. Mit freundlichen Grüßen,
Miriam Olbrisch, 30, Redakteurin im Deutschlandressort
Dem Inserat weichen Betrifft Nr. 48/2016 und andere Inhaltsverzeichnis
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin seit vielen Jahren SPIEGEL-Abonnentin. Mit Bedauern und Unverständnis musste ich bei der Lektüre der letzten Ausgaben allerdings feststellen, dass die drei Porträtköpfe auf der rechten Seite des Inhaltsverzeichnisses einem Inserat weichen mussten. Mein Blick fiel beim Öffnen des SPIEGEL immer neugierig auf diese rechte Leiste. Dass ich nun an dieser Stelle eine für mich völlig uninteressante Kreuzfahrtwerbung vorfinde, lässt meine Freude am 56
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Nina Flori
Liebe Frau Flori,
wir freuen uns ebenfalls stets auf die drei Porträts und haben sie darum auch nicht abgeschafft; hin und wieder möchten wir uns allerdings auch über Anzeigenkunden freuen, die einen ganz bestimmten Platz im Heft buchen. Hätten wir keine Anzeigeneinnahmen, müssten wir das Heft deutlich verteuern – beides zusammen, Vermarktung und Vertrieb, finanziert ja den SPIEGEL-Journalismus. Herzlich, Ihr Klaus Brinkbäumer, Chefredakteur
Werk bekam, der also nicht aus der Luft gegriffen war. Freundlicher Gruß, Christian Wüst
Sehr geehrter Herr Wüst, natürlich sollte man die Kirche im Dorf lassen, was nicht ganz einfach ist, denn wir haben immerhin fünf Kirchen in Uerdingen. Auch mit viel Verständnis, wenn man es denn so wahrnimmt, können wir der Darstellung Ihres Eindrucks vom Bahnhof zu der Siemens-Produktion nicht zustimmen. Kurz: Welchen Weg man auch wählt, ein solcher Eindruck kommt nicht vor. Wir erlauben uns, in der Hoffnung, Ihr erster Eindruck wird dann überlagert, Ihnen einige Hefte unserer „Uerdinger Rundschau“ zuzusenden. Vielleicht kommt es so zu einer anderen Bewertung unserer Stadt. Mit freundlichen Grüßen, Elmar Jakubowski
Sehr gelitten Betrifft Nr. 50/2016 Präsident Erdoğan paktiert mit der rechtsextremen Opposition
Hallo Herr Popp, die Türkei ist ein Land, das sehr gelitten hat von Atatürk bis zur heutigen Zeit. Wenn Sie richtig recherchieren würden, würden Sie das verstehen. Gehen Sie in die Dörfer, fragen Sie die älteren Menschen. Ihre Fragen müssen objektiv sein, nicht einseitig. Sie machen nur eine Seite schlecht. Sie fragen nicht nach den positiven Veränderungen in den vergangenen 15 Jahren. Mit freundlichen Grüßen, Alpaslan Y.
Lieber Herr Y.,
als Auslandskorrespondent bin ich in erster Linie ein Übersetzer: Ich versuche, das Land, über das ich schreibe, zu verstehen und den Leserinnen und Lesern zu erklä-
DER SPIEGEL seit 1947
ner + Jahr, dem 25,5 Prozent gehören, und den Erben des SPIEGEL-Gründers Rudolf Augstein, die über 24 Prozent der Anteile verfügen. Vertreten werden die SPIEGEL-Mitarbeiter durch fünf sogenannte KG-Geschäftsführer, die alle drei Jahre von der Redaktion, dem Verlag und der Dokumentation gewählt werden. Das bedeutet: Nichts geschieht im SPIEGEL gegen den Willen der Mitarbeiter (was manchmal auch nicht ganz einfach ist, aber das ist eine andere Geschichte). Wir sind unabhängig von wirtschaftlichem und politischem Einfluss. Weder Politiker noch die Bosse großer Konzerne können sich in unsere Berichterstattung einmischen oder sie steuern, sie können weder kritische Geschichten unterdrücken noch lobhudelnde Artikel bestellen. Diese Konstruktion macht uns frei, gedanklich und ökonomisch. Herzliche Grüße, Ihre
Maximilian Popp, Korrespondent in Istanbul
Susanne Amann, Sprecherin der KG-Geschäftsführung des SPIEGEL
Springer-Medien Betrifft: Nr. 30/2016 Es war einmal eine Demokratie – Diktator Erdoğan und der hilflose Westen
@myeneroglu @DerSPIEGEL Pure Hetze von den Springer Medien... VolkanHH@VolkanHamburch Lieber Volkan,
in einem Tweet haben Sie uns nach der Veröffentlichung eines Türkei-Titels zwei Dinge vorgeworfen. Wir würden erstens Hetze betreiben und seien zweitens Teil der Springer-Medien. Zu beiden Punkten will ich Ihnen antworten: Als Hetze bezeichnet man gemeinhin unsachliche, gehässige, verleumderische und verunglimpfende Äußerungen, die Hassgefühle und feindselige Stimmungen gegen jemanden erzeugen sollen. Die Titelgeschichte über den Putsch in der Türkei war aber genau das nicht: Minutiös haben meine Kollegen die Ereignisse der Putschnacht in Istanbul nachgezeichnet und in den USA, Brüssel und Berlin recherchiert, welche Konsequenzen er für die Türkei haben wird. Mindestens ebenso wichtig ist mir aber Ihre zweite Anmerkung. Sie vermuten, dass der SPIEGEL Teil des Springer-Konzerns sei. Das ist falsch – es gibt wohl kaum ein unabhängigeres Medienhaus als den SPIEGEL. 50,5 Prozent der Unternehmensanteile gehören den Mitarbeitern. Der Rest teilt sich auf zwischen dem Verlag Gru-
Das müssen Weiber sein Betrifft Nr. 20/2016 Interview mit dem Agenturchef Stefan Kolle über Geschlechterklischees in der Werbung
Hallo, Ihr InterviewlerInnen, beim Durchlesen des grandiosen Interviews keimte bei mir immer mehr der Verdacht auf: Das müssen doch Weiber sein, welche ständig so saudumm fragen! Der Verdacht bestätigte sich dann am Schluss. Frauen sind so einfach gestrickt wie beißwütige Doggen: Wenn sie sich an etwas festgebissen haben, weil sie eine vorgefertigte Meinung mit Klauen und Zähnen verteidigen wollen, dann verläuft jede noch so vernünftige Argumentation im Sande. Folge: Es ist sinnlos, mit Frauen zu diskutieren. Mann kann sie zu vielen Sachen gebrauchen, zum Beispiel zum Bedienen einer Waschmaschine oder zur angenehmen Unterhaltung vor ausgiebigem Sex. Der SPIEGEL sollte sich aber davor hüten, Weiber für ernsthafte Gespräche und Inhalte zu missbrauchen. Das geht gegen ihre Natur. Mit freundlichen Grüßen, Martin*
Sehr geehrter Martin,
vielen Dank für Ihre Mail und den zauberhaften Start in den Sonntag. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden, dass wir Ihre Mail zur Veröffentlichung auch an unsere Leserbriefredaktion weiterleiten? Mit bestem Gruß, Simone Salden, Redakteurin im Wirtschaftsressort; auch im Auftrag von Ann-Katrin Müller, Hauptstadtbüro
* Name geändert.
Verehrte Simone Salden, meine Zuschrift war an die beiden verehrten Interviewlerinnen gerichtet. Als Leserbrief hätte ich eine andere Adresse gewählt. Somit, liebe Simone, wenn Sie schon Ihre persönliche E-Mail-Adresse am Schluss eines Artikels anfügen, dann ist meine Antwort auch an Sie ganz persönlich gerichtet. Und dabei wollen wir doch auch bleiben. Mit freundlichen Grüßen, Martin
Rum erlangen Betrifft Nr. 1/2016 – Überlebenskampf in der Eishölle – hochaufgelöste Fotos zeigen das Drama der legendären Shackleton-Expedition
Sehr geehrter Herr Evers, ein spannender Artikel über die frühe Fotografie unter widrigsten Bedingungen! Nur eine Sache macht mich stutzig. Sie schreiben: „Eigentlich wollte Shackleton als erster Mensch den antarktischen Kontinent durchqueren und so als Entdecker Rum erlangen.“ Wäre er dafür nicht besser in die Karibik gefahren? ;-) Mit freundlichen Grüßen, Daniela Görke
ILLUSTRATION: FRANK HÖHNE / DER SPIEGEL
ren. Sie haben vollkommen recht: Verständnis entsteht nicht am Schreibtisch. Dafür muss man rausgehen und mit den Menschen sprechen. Genau aus diesem Grund bin ich in den vergangenen Jahren immer wieder in die Türkei gereist und arbeite nun als Korrespondent in Istanbul. Mich interessiert, wie die Regierung tickt, aber genauso, wie die Menschen in den Städten und Dörfern denken, die Erdoğan-Anhänger am Schwarzen Meer, die Ultras des Istanbuler Fußballklubs Beșiktaș, die Rebellen der PKK im Südosten der Türkei. Ich gebe zu, seit einigen Monaten fällt es mir zunehmend schwer, die Türkei zu verstehen. Der Putschversuch im Juli, die Massenverhaftungen von Oppositionellen, die Spannungen zwischen Türken und Kurden bestürzen mich. Ich hoffe sehr, irgendwann auch wieder bessere Nachrichten aus der Türkei vermelden zu können. Herzliche Grüße,
Liebe Frau Görke,
tja, Shackleton hatte zwar tatsächlich ein Alkoholproblem, aber ganz sicher hatte er bessere Gründe für seine Antarktisreise, als dort nach Rum zu suchen. So ein Fehler im Heft ist ungemein ärgerlich, aber immerhin hat er ausweislich des großen Leserechos viele Menschen zum Lachen gebracht. Das ist ja auch etwas, obwohl mich die Sache schon sehr wurmt. Herzliche Grüße, Marco Evers, Redakteur im Wissenschaftsressort
Im nächsten Heft: Der SPIEGEL und seine Wirkung – wie Porträtierte, Kritisierte und sonst wie Betroffene die Berichterstattung erlebt haben DER SPIEGEL 3 / 2017
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Q U E L L E N : K ATJA PAT Z E L - M AT T E R N ; STAT I ST I S C H E S B U N D E SA MT
1926 wurden in Deutschland zwischen 500000 und 800000 Schwangerschaften abgebrochen.
1996 130899
2015 99237
Früher war alles schlechter Nº 55: Abtreibungen
„Verboten, aber erlaubt“ Der damalige rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu erließ 1966 eines der härtesten Abtreibungsgesetze der Welt: Verhütungsmittel wurden verboten, schwangere Frauen überwacht. Hunderttausende haben trotzdem abgetrieben. Auch wenn es immer wieder versucht wird: Kein Gesetz kann eine Geburt erzwingen. Im Gegenteil: Härtere Gesetze erhöhen zwangsläufig die Zahl illegaler Abtreibungen. Auch in Deutschland wurde noch 1926 eine Abtreibung mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft, später mit Gefängnis. Damals lag die von Ärzten hochgerechnete Zahl illegaler Schwangerschaftsabbrüche im Land bei 500 000 bis 800 000. Frauen gingen zum Engelmacher, führten sich Stricknadeln
ein oder nahmen Zyankali. Bis in die Siebzigerjahre kannten Gynäkologen die oft schweren Entzündungen und tödlichen Blutvergiftungen, wenn Schwangere sich eine Seifenlösung in die Gebärmutter gespritzt hatten. Dann kam Alice Schwarzer, die „Stern“-Kampagne „Wir haben abgetrieben!“ und ab 1976 endlich eine liberale, aber auch absurde Gesetzgebung, die es allen, inklusive der katholischen Kirche, recht machen wollte: Abtreibung blieb rechtswidrig, aber wurde straffrei. Leicht verfügbare Verhütungsmittel und die Aufklärung an Schulen dürften die Hauptgründe für die gesunkenen Zahlen hierzulande sein. Deutschland hat mit 5,6 Abtreibungen pro 1000 Frauen eine der geringsten Quoten der Welt. Jonathan Stock
Sicherheit
ziehen kann. Der zweite Schutz ist der Sirenenalarm mit 130 Dezibel. Das kann man vergleichen mit dem Start eines Düsenjets. Wenn ein Angreifer an der Hose zerrt, geht er los. Dann gibt es noch einen Protektor im Schritt aus einem HightechMaterial, der verhindert, dass
Sind Sporthosen die neuen Keuschheitsgürtel, Frau Seilz? Sandra Seilz, 41, vertreibt
Hosen, die Frauen vor sexueller Gewalt schützen sollen. SPIEGEL: Frau Seilz, Sie haben
eine Jogginghose mit eingebauter Alarmanlage entwickelt. Warum? Seilz: Gerade auf einsamen Strecken fragt man sich ja doch manchmal, ob nicht jemand hinter dem nächsten Busch warten könnte. Im Dezember 2015 bin ich dann wirklich in eine heikle Situation mit drei Männern gera58
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ten. Und das war während der Mittagszeit. Ich bin glimpflich davongekommen. Aber danach habe ich mich sofort über technische Möglichkeiten informiert. Ich wollte geschützt laufen können, ohne mich mit Pfefferspray bewaffnen zu müssen oder einem Elektroshocker. SPIEGEL: Wie funktioniert Ihre Hose? Seilz: Das einzige Produkt, das es bisher in diese Richtung gab, ist der Keuschheitsgürtel aus dem Mittelalter. Der ist aber natürlich zu unkomfortabel, um damit laufen zu gehen. Unsere Hose hat schneidfeste Schnüre, die verschließbar sind, sodass man die Hose nicht runter-
man die Hose an der Stelle aufreißen kann. SPIEGEL: Sieht so die Zukunft des Joggens aus: Frauen in Sicherheitshosen? Seilz: Wir haben schon eine Kleinserie mit 150 Stück produziert, die sehr schnell vergriffen war. Jetzt wollen wir in Massenproduktion gehen. SPIEGEL: Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass Ihre Shorts die Welt gar nicht sicherer, sondern nur hysterischer machen? Seilz: Ich sage nicht, dass Safeshorts allein die Lösung sind. Mit Safeshorts in Kombination mit Achtsamkeit und einem Selbstverteidigungskurs ist man noch besser aufgestellt. mke
Gesellschaft tischen Anfall, ihre Schlafzimmer sind nur durch einen Vorhang getrennt, damit sie hören kann, wenn die Krämpfe beginnen. Selten findet Maubach mehr als drei Stunden Schlaf am Stück. Sie hat noch nie darüber nachgedacht, ihren Sohn in ein Heim zu geben. „Das würde er nicht Eine Meldung und ihre Geschichte Warum überleben“, sagt sie. Zweimal am Tag braucht Steffen die Mutter eines Behinderten ihr seine Medikamente, acht Tabletten, die er nur auf beBundesverdienstkreuz zurückgegeben hat stimmte Weise zu sich nimmt. Gisela Maubach zerkleinert die Tabletten in einem Mörser, vermischt sie mit Saft und füllt sie in eine Babyflasche. m 19. September des vergangenen Jahres hatte Sie saß 2012 in Berlin in einer Arbeitsgruppe, die sich Gisela Maubach einen Termin im Kreishaus mit der Lage von „Menschen mit Behinderung im Deutvon Düren bei Aachen. Dort überreichte ihr der schen Bundestag“ befasste. Anfang 2015 war sie mit dafür Landrat im Auftrag des Bundespräsidenten der Bunverantwortlich, dass das Bundessozialministerium erwachdesrepublik Deutschland das Verdienstkreuz am Bande. senen Behinderten, die von Angehörigen betreut werden, In seiner Laudatio nannte der Landrat Frau Maubach die volle Grundsicherung zahlt. Im März 2015 schrieb ihre „eine unermüdliche Anwältin behinderter Kinder und Tochter an das Bundespräsidialamt Jugendlicher“. 25 Gäste waren geund schlug sie für das Verdienstkommen. kreuz vor. Maubach wusste nichts Knapp vier Monate später sitzt Gidavon. sela Maubach, eine hagere Frau mit Gisela Maubach hat Arthrose in grauen Haaren und runder Brille, 59 den Fingern und chronische RüJahre alt, in ihrer Küche und sagt: ckenschmerzen, weil ihr Sohn 80 „Ich bin enttäuscht. Und erschöpft.“ Kilo wiegt und ihr kaum hilft, wenn Ihr Bundesverdienstkreuz hat sie vor sie ihm die Windeln wechselt. Im 18 Tagen zurückgegeben. „Ich konnte Januar 2016 beantragte sie beim es nicht mehr sehen“, sagt sie. NebenSozialamt in Düren Geld für eine an im Wohnzimmer hängt eine Pflegekraft, die ihr zwölf Stunden Schaukel unter der Decke, die ist für am Tag helfen sollte, sieben Tage ihren Sohn Steffen, der gerade auf eidie Woche. nem Gummiball hüpft und laut lacht. Sie konnte nicht mehr. „Ich bin Steffen ist 29, er besitzt aber die geisauch der Meinung: Ich habe mein tigen Fähigkeiten eines Kleinkindes. Soll erfüllt“, sagt sie. „Ich bin müde, Steffen kam am 22. März 1987 ich bin kaputt. Auch ich habe das zur Welt, fünf Wochen vor dem erRecht auf ein eigenes Leben.“ rechneten Termin. Seine Lungen Im November erhielt sie Post waren nicht vollständig entwickelt, vom Sozialamt, das ist die Behörde in den ersten beiden Stunden nach des Landrats. Ihr Antrag auf Unterder Geburt bekam er zu wenig Saustützung war abgelehnt worden. Beerstoff, ein Kunstfehler. Steffen ist Maubach, Sohn Steffen willigt wurde nur eine „Hilfe zur seitdem schwerstbehindert, ist EpiPflege: 6 Std./tägl. à 10,- Euro“. Als leptiker, kann nicht sprechen, ist Begründung steht in dem Schreihyperaktiv, bis heute braucht er Hilben: Weil sie sich „zu einem Zufe rund um die Uhr, beim Essen, sammenleben mit ihrem Sohn Stefbeim Anziehen, allein kann er nirfen entschieden hat, ist der Mutter gendwo hingehen, er würde sich eine Eigenleistung zumutbar“. Auverirren oder vor ein Auto laufen. ßerdem solle Steffen werktags in Maubachs Mann verließ die FaVon der Website der „Aachener Zeitung“ eine Behindertenwerkstatt gehen. milie, als Steffen noch kein Jahr alt Als Frau Maubach das las, fehlte ihr die Kraft, wütend war. Der Mann hatte das Leben mit dem behinderten zu werden. Sie sagt, sie habe nur Ohnmacht gespürt. Sie Kind nicht ausgehalten. Fünfmal am Tag musste Gisela sah das Verdienstkreuz auf dem Küchentisch liegen und Maubach ihren Sohn damals massieren, immer eine halbe dachte: Der Brief und der Orden, das passt nicht zusammen. Stunde lang, sonst wäre er im Rollstuhl gelandet. Sie ging In einer Mail an den Landrat schrieb sie, es sei unangemit ihm zur Ergotherapie, zur Logopädie, und sie zog nebracht, „wenn ich das Verdienstkreuz am Bande der Bunbenher noch ihre gesunde Tochter groß, die anderthalb desrepublik Deutschland trage, während die vollziehende Jahre alt war, als Steffen geboren wurde. Gewalt dieser Bundesrepublik mein Leben gleichzeitig Ihr Mann zahlte keinen Unterhalt, sie lebte von Sozialunerträglich macht“. hilfe, bis ihr der „Förderkreis Schwerkranke Kinder“ in Am Tag vor Heiligabend brachte Maubach das BundesAachen einen Job anbot. Dort arbeitet sie bis heute. Zwölf verdienstkreuz inklusive der Miniatur zum Empfang der Stunden in der Woche erklärt sie betroffenen Eltern, wie Kreisverwaltung, original verpackt, die wattierte blaue sie Pflegestufen beantragen und was sie tun müssen, wenn Schachtel mit eingeprägtem Bundesadler im Karton, auch Hilfsmittel abgelehnt werden. Sie verdient 747,80 Euro die Verleihungsurkunde und das Faltblatt mit der „Empnetto. „Davon kann ich leben“, sagt sie. Zu ihrem Gehalt fehlung zur Trageweise“ lagen noch bei. Sie bat darum, kommen das Pflegegeld, seit diesem Jahr 901 Euro, und den Orden zurück ans Bundespräsidialamt zu schicken. die Grundsicherung, die Steffen erhält, 409 Euro. Gegen den Bescheid des Sozialamts hat sie Klage einSeit fast 30 Jahren denkt sie viel an andere und wenig gereicht. an sich. Jede zweite Nacht bekommt Steffen einen epilepMaik Großekathöfer
Zumutungen
MAIK GROSSEKATHÖFER / DER SPIEGEL
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Gesellschaft
Und sie bewegt sich doch Klischees Die EU, ein bürgerfernes Monstrum? Unfähig zu einer Politik, die das Leben besser macht? Ja. Und nein! Europaweit fließt Geld aus Brüssel in tausend Ideen und Projekte. Warum merkt das keiner? Von Ullrich Fichtner (Text) und Maurice Weiss (Fotos)
In der Altstadt von Peralada, Spanien
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ie andere Geschichte über Europa geht ungefähr so: Es entsteht eine gewaltige Mühle für Biomassen aller Art in den tiefen Wäldern von Äänekoski, Finnland. In Birmingham bauen sie am Rand der Stadt ein neues, ideales Unfallkrankenhaus. Auf Kreta ersetzen findige Fabrikanten Schweinefett durch Olivenöl und machen bessere Wurst für die Welt. Nahe Barcelona wird mit Plasma und Proteinen hantiert, um Arzneien gegen Gendefekte zu entwickeln. Vor der Küste von Suffolk, England, werden deutsche Windräder in den Boden der Nordsee gerammt. Tausende Kleinfirmen bekommen in den Niederlanden günstige Kredite, Tausende Häuser werden in Frankreich klimafreundlich umgebaut, Tausende Arbeitsplätze entstehen so, Zehntausende. Portugal erhält ein 4G-Mobilnetz, Heidelberg eine Großdruckerei im Digitalbetrieb, in Spanien werden Häfen mit der Eisenbahn vernetzt, in Belgien wird aus verseuchten Brachen sauberes Bauland, und viele polnische Milchbauern können künftig mit moderneren Maschinen arbeiten. So ungefähr klingt die andere Geschichte über Europa. Sie ist reich, sie ist bunt, aber sie ist auch so zerfasert, dass nie besonders viel Spannung entsteht, die guten Nachrichten klappern nebeneinander her. Es ist schwer, Europa packend zu erzählen, zumal die schlechtesten Erzähler ausgerechnet in Brüssel und den europäischen Hauptstädten sitzen. Jahrein, jahraus füllen sie ganze Bibliotheken mit Büchern voller Gesetze, mit Papieren, Projekten, Programmen, Rapporten, aber die Texte sind meist so unverständlich, so derart von Fußnoten und Kreuzverweisen und juristischen Schlauheiten zerfressen, dass niemand mehr versteht, was bisher geschah. Und keiner kann sagen, was eigentlich los ist. Und erst recht herrscht Ratlosigkeit darüber, was die Zukunft bringen mag. Das ist die Lage Europas zu Beginn dieses neuen Jahres 2017: Im März jährt sich die Unterzeichnung der Römischen Verträge, mit denen das europäische Abenteuer erst so richtig begann, zum 60. Mal. Doch vielerorts wird dann das Gefühl vorherrschen, dass es nichts zu feiern gibt. Seit Jahren weicht die Luft aus dem Projekt Europa, und nun will es so wirken, als ließen sich gesellschaftliche und mediale Mehrheiten für die These finden, dass die Europäische Union auf den Müllhaufen der Geschichte gehöre. Dass die ganze blutleere Veranstaltung beendet sei, der ewige Brüsseler Kongress, auf dem elitäre Eurokraten vor allem um sich selbst tanzen. So geht das gut eingeübte Klischee.
Aber die eingangs genannten Beispiele, das Hospital in Birmingham, die Wurstfabrik auf Kreta, der Windpark in Suffolk, die Pharmaforschung in Barcelona, die Ökohäuser in Frankreich – das alles und noch viel mehr gäbe es ohne Europa nicht, gäbe es nicht ohne die EU-Kommission, ohne die Europäische Investitionsbank EIB, ohne den „Juncker-Plan“, wie die vor zwei Jahren gestartete „Investitionsoffensive für Europa“ von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker genannt wird. Dahinter verbirgt sich der Versuch, mit cleverer Kreditvergabe ein Vielfaches an Investitionen auszulösen: 315 Milliarden Euro am Ende, verteilt auf Tausende Projekte landauf, landab. Davon, vom Juncker-Plan, wollte dieser Artikel erzählen. Die Idee war, schlicht zu überprüfen, ob das Kalkül der EU-Kommission aufgeht, der europäischen Wirtschaft einen heilsamen Stromschlag zu versetzen. Der Plan war, nachzuschauen, ob das Geld wirklich fließt, ob es die Firmen aus den schönen Broschüren wirklich gibt und ob die Geschichten über sie stimmen. Es fanden also Reisen statt auf die Baustelle in Birmingham, in die kretische Wurstfabrik, Reisen nach Barcelona und in die französische Picardie, nach München und nach Luxemburg – und ja, wirklich, das gibt es alles, die Firmen, die Projekte, und sie mögen nicht der eine große Stromschlag sein, doch sie machen Hoffnung. Kredite fließen, Geld verwandelt sich in Maschinen, in Gebäude, in Software, in Arbeitsplätze. Alles gut also: Europa lebt. Europa brummt. Im Lauf der Recherche jedoch stellte sich ein weiterer Befund ein, mehr ein Gefühl: dass von all dem Profit die Institutionen Europas zuletzt profitieren. Oder gar nicht. Dass kaum jemand überhaupt die Verbindung herstellt zwischen dem Windpark von Suffolk und der EU-Kommission, zwischen Wurstfabrik und Juncker-Plan, zwischen Krankenhaus und EIB-Kredit, zwischen 4G in Portugal und polnischen Milchbauern und europäischen Idealen. Es wurde offenkundig, dass dieses Europa zwar unermüdlich überall am Werk ist, mit seinen Erfolgen allerdings unsichtbar bleibt, während jeder Misserfolg auf den 28 – und ohne die Briten bald 27 – nationalen Bühnen weiterhin grell ausgeleuchtet wird. Der traurige Gedanke stellte sich ein, dass diese EU, die Teil unseres Alltags geworden ist, ein unverzichtbarer Akteur sogar in den hintersten Winkeln des Kontinents, dass sie trotzdem ein fernes, ungeliebtes Ding geblieben ist. Der Brexit hat dafür spektakuläre Belege geliefert. Wales beispielsweise gehört
zu den größten Profiteuren europäischer Förderung. Es wurde sehr viel Geld in die britische Region überwiesen, damit dort Stadtmuseen betrieben und Festhallen gebaut werden können; die EU half dabei, Straßen und Fußgängerzonen zu sanieren, Ausbildungs- und Sportplätze zu schaffen, Rad- und Spazierwege. Aber dann stimmte die Mehrheit der Waliser für den Brexit, und ihr Votum lag noch über dem landesweiten Durchschnitt: 52,5 Prozent, 854 572 Leute, stimmten für den Austritt aus der verhöhnten, verachteten, verhassten EU. Diese Zahlen allein ließen es sinnlos erscheinen, nur den Juncker-Plan zu zergliedern und zum Beispiel hinzuschreiben, dass dieses kühne Programm binnen zwei Jahren 290 000 Unternehmen in 27 Ländern zu Krediten und 100 000 Leuten zu neuen Jobs verholfen hat. Es wirkte sinnlos, weil solche Botschaften offenkundig ins eine Ohr der Europäer hineingehen und gleich aus dem anderen Ohr wieder herauskommen. Wenn Europa handelt, wird zurückgefragt: na und? Was geht’s mich an? Was hab ich mit Birmingham zu tun? Mit Wurst auf Kreta? Europa ist der Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht. Wer auf der Website der EU-Kommission nur eine halbe Stunde lang nach Fördermöglichkeiten sucht, weiß bald nicht mehr, wo oben und unten ist. Keine Politiksparte, kein gesellschaftliches Feld ohne zugehöriges Förderprogramm. Es gibt eigene Fonds für die Zivilgesellschaft und andere für Asylangelegenheiten, der Außenhandel wird gefördert und die Konkurrenzfähigkeit. „Creative Europe“ unterstützt Kunst-, Kino- und Kulturschaffende; „Galileo“ finanziert ein von 30 europäischen Satelliten gestütztes Navigationssystem; „Copernicus“ gibt Geld für die Sammlung von Geodaten; „Erasmus“ fördert den Austausch von Studenten und von Auszubildenden. Es gibt Fördertöpfe für das Ehrenamt, für Atomsicherheit, für die Pflege der Rechtsstaatlichkeit, für Ballungszentren, für Dörfer und für unterentwickelte Regionen. Es gibt fast alles. Aber es wirkt wie nichts. Das angeblich so bürgerferne Europa steht eigentlich auf jedem Marktplatz, an jeder Ecke – und wird von den meisten Passanten doch ständig übersehen. In Barcelona allein laufen aktuell 1175 kleine und große EU-Programme, das muss man sich vorstellen, und das ist in Lyon, in Liverpool, in Mailand, in Prag, in Rotterdam, in Lissabon, in Sevilla, in Köln, in Wien und Warschau nicht viel anders. Im deutschen Freistaat Sachsen, wo sich die Europabegeisterung jedes Jahr weiter
Was hab ich mit Birmingham zu tun? Mit Wurst auf Kreta? DER SPIEGEL 3 / 2017
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abkühlt, hat die Liste der europäisch geförderten Projekte 5753 Positionen. Auf der Liste stehen Friseurbetriebe, kleine Softwareunternehmen, Anwaltskanzleien, Jugendwerkstätten, Kindergärten, Englischnachhilfelehrer, Heilpraktiker, Arbeitsvermittler, Vereine, Verbände, Firmen, Behörden. Wer das so überfliegt, muss den Eindruck bekommen, die EU sei darum bemüht, bei der Vergabe von Subventionen, Krediten oder auch nur guten Worten keinen einzigen Sachsen zu vergessen. Es fließen mal 110 Euro Zuschuss, mal 2585 oder doch gleich 253 000, und es gibt Kredite hier und Kredite da. Das Geld geht nach Dresden und Leipzig, nach Werdau und Chemnitz, nach Radebeul, Zwickau, Pirna und Schkeuditz, nach Hoyerswerda, Grimma und Glauchau – doch während das Geld fließt, während Europa hilft, zeigen Erhebungen, dass im Freistaat jetzt nur noch 33 Prozent der Leute glauben, die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU habe „eher Vorteile“. Vor sechs Jahren glaubten das in Sachsen noch 52 Prozent. Wie kann das sein? Sind die Rettungspakete für Griechenland, Irland und andere Länder schuld? Hat denn irgendwer in Deutschland diese Rettungspakete überhaupt gespürt? Geht es wegen Europa hierzulande irgendwem schlechter? Geht es nicht vielen besser? Spuken womöglich noch immer alte Märchen von genormten Gurken durch die Köpfe? Oder hat Europa in unserer schwarz-weiß gepolten Welt den irgendwie fehlenden Feind ersetzt? Es gibt, offenkundig, eine kollektive psychische Sperre, Geld aus Brüssel gut zu finden. Europa gut zu finden. Die Werte der EU als die eigenen zu erkennen. Europa wird in Haft genommen für alles Schlechte. Europa bekommt kaum irgendwo einen Fuß auf den Boden. In Birmingham ist die Erklärung für das Phänomen relativ leicht. Dort saßen gegen Ende des vergangenen Jahres einmal Roger Stedman, medizinischer Direktor des Midland Metropolitan Hospital, und Toby Lewis, der CEO des Krankenhauses, in einer Baracke mit Blick auf die imposante Großbaustelle zusammen. Es gab Instantkaffee, und die beiden Engländer fragten sich, warum sie in Sachen Europa überhaupt Besuch bekommen hatten. Das neue Hospital wird eine der größten Unfallkliniken Europas sein, 670 Betten, 15 Operationssäle, 340 Millionen Pfund Gesamtkosten. 107 Millionen davon sind ein Kredit der Europäischen Investitionsbank EIB, der Bank der EU. Der Deal wird in Brüssel dem Juncker-Plan zugeschlagen, die Klinik gilt als Teil der „Invesititionsoffensive“. Aber davon wollen sie in Birmingham nichts wissen. „Es ist ein Kredit zu Marktpreisen“, sagt Direktor Stedman, „wir hätten das auch anders finanzieren 62
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können. Es ist ein Geschäft, kein Geschenk der EU.“ Das ist eine ziemlich harsche Antwort. Man könnte erwarten, dass sich die Bauherren von Birmingham zumindest freundlich über ihren größten Kreditgeber äußern, dass sie sich womöglich dankbar zeigen für die Übernahme eines so großen Risikos. Es wäre logisch, höflich sowieso, wenn sie die Zusammenarbeit mit Europa lobten, und es wäre auch kein Wunder, wenn sie das bei jeder Pressekonferenz und in jeder Lokalzeitung ständig wiederholten. Sie könnten sagen, dass Europa einen großen Beitrag zu diesem Krankenhausbau leiste, ja dass im Grunde deutsche und italienische, polnische und portugiesische, tschechische und belgische Steuerzahler für einen Kredit bürgten, damit in England ein schönes Krankenhaus gebaut werden kann. Doch das tun diese englischen Bauherren nicht. Tatsächlich findet Europa in Birmingham, wenn es um den Bau des Midland Metropolitan Hospital geht, nicht weiter statt. Die EU als Bankier wird praktisch totgeschwiegen, selbst von denen, die Anlass hätten, Gutes über sie zu sagen. Verrückter noch: Im Lauf des Gesprächs erweisen sich Doktor Stedman und CEO Lewis durchaus als Pro-EU-Engländer und als Gegner des Brexit. Sie sagen es nicht explizit, und trotzdem darf man aus ihren Worten schließen,
dass sie Großbritannien viel lieber weiter in der EU gesehen hätten, und zwar allein schon aus Angst vor personellen Engpässen. Zehntausende EU-Bürger, sagt Toby Lewis, arbeiteten im britischen Gesundheitswesen. Ohne sie bräche der ganze Betrieb zusammen. Aber Werbung machen? Für Europa? Für die EU? Er? Das Drama der EU läuft, auf Kreta, fast aufs Gleiche hinaus, nur auf ganz anderen Wegen. Hoch über dem langen, feinen Strand von Rethymno liegen dort die Bauten der Wurstfabrik Creta Farms, deren Betreiber in Sachen Europabegeisterung nicht leicht zu übertreffen sind. Sie haben hier chemisch-technische Verfahren entwickelt, um Fett aus Schweinefleisch zu extrahieren und durch Olivenöl zu ersetzen. Nach der Prozedur ist die Wurst unter dem Strich bekömmlicher, schmeckt aber immer noch gut, jedenfalls besser und kräftiger als so manches Konkurrenzprodukt. Seit einem Jahr beliefern die Griechen den australischen Markt mit Produkten unter dem Markennamen „Oliving“, ein Wortspiel aus Olive und Leben, und haben dort aus dem Stand drei Prozent Marktanteil im Low-Fat-Segment erobert. Sie müssen rasch expandieren, um die Nachfrage bedienen zu können. So kam die EU ins Spiel, in Form des Juncker-Plans. Creta Farms wurde Teil der europäischen Investitionsoffensive, 15 Millionen
Es gibt eine kollektive psychische Sperre, Geld Supercomputer MareNostrum in Barcelona
Gesellschaft
Euro Kredit fließen nach Kreta. Ohne das Geld, sagt Firmenpräsident Manos Domazakis, ein schlanker, melancholischer Mensch, hätte der Betrieb Schlagseite bekommen, seine Aufträge nicht bedienen können, die fast 700 Arbeitsplätze wären dann schnell bedroht gewesen. Und 700 Jobs sind in Rethymno, Kreta, eine Welt. Aus Brüssel und Luxemburg reisten also kundige Menschen an, schauten sehr genau in alle Bücher und ließen sich das Geschäft haarklein erklären: die Sache mit dem Olivenöl in der Wurst, das Marketing, die Absatzchancen. Sie sahen sich die Schweineproduktion an, die größte Griechenlands mit 45 000 Tieren jährlich, sie ließen sich durch die Wurstfabrik führen, vorbei an Großküchen, Gärschränken, Packstationen, und sie beurteilten, nicht zuletzt, ob sich das Unternehmen vielleicht auch anderweitig hätte finanzieren können. Doch da war nichts. Kreta ist schließlich immer noch ein Teil Griechenlands. Dort zittern sich die Banken am Abgrund einer Finanz- und Staatskrise entlang und haben keinerlei Lust auf die Vergabe neuer Kredite. Die griechische Börse ist auch so gut wie tot, und private Investoren suchen ihre Projekte lieber außerhalb Griechenlands, in ruhigeren Gewässern. Für Creta Farms, sagt Firmenchef Domazakis, war Europa die einzige, die letzte Chance auf frisches Geld.
Sachlich, kompetent, professionell seien die Besucher aus dem Norden gewesen, erzählt Manos Domazakis, der das alte Familienunternehmen gemeinsam mit seinem Bruder führt. Sie sind der EU und ihrer Investitionsbank aufrichtig dankbar, und so wären die Domazakis-Brüder, nicht nur auf Kreta, perfekte Werbeträger für Europas Union, eigentlich. Aber auf einer Autofahrt die Küste entlang senkt Manos Domazakis einmal die Stimme. Es seien, sagt er, keineswegs alle glücklich über den Juncker-Kredit. Konkurrenten zerrissen sich die Mäuler über die angebliche Bevorzugung der „Verräter“ von Creta Farms. Neider sind auf den Plan getreten und reden schlecht daher. Auch die heimischen Banken waren nicht glücklich über das Fremdgeld aus Brüssel und Luxemburg, über die Symbolik, die darin lag, dass sich ein griechisches Unternehmen nicht in Griechenland finanzieren konnte. Anders gesagt: Die Europabegeisterten von Rethymno, die Belegschaft von Creta Farms, allesamt dankbare Profiteure, die durchaus Lust hätten, ihre Geschichte zu erzählen, ziehen es vor zu schweigen. Über die EU Gutes zu sagen schafft nur böses Blut. Es ist wie verhext. Egal wo man hinschaut: Die Instanzen der Europäischen Union können tun oder lassen, was sie wollen – Anerkennung ernten sie nicht. Es werden doch nur die alten
aus Brüssel gut zu finden. Europa gut zu finden. Wurst aus kretischer Fabrik
Vorurteile gesucht und gefunden, darunter auch die ökonomisch verbrämte Parole, dass die EU mit ihrem ganzen Gefuchtel die Märkte Europas letztlich nur störe. Darauf müssten die Leute der Europäischen Investitionsbank eine Antwort haben. Wer die EIB besucht im kalten Europa-Viertel von Luxemburg, trifft auf sachliche, kompetente, professionelle Männer und Frauen, die alle auch auf Kreta gewesen sein könnten. Und sie erklären einem sehr plausibel, dass nach Kräften alles versucht werde, um so gut wie möglich zu helfen, dabei nicht zu stören und niemandem in die Quere zu kommen. Niemand will zusätzlich zu den Apparaten der Nationalstaaten auch noch einen Überstaat, der als unerwünschter Akteur auf die heimischen Märkte platzt. Deshalb versucht Europa, Investitionslücken aufzuspüren, „Zusätzlichkeit“ zu ermitteln, Strukturprobleme zu erkennen, Marktversagen zu verstehen – und dann erst Kredite zu vergeben, Hilfe zu leisten. Und wenn ein Mitgliedstaat keine Hilfe will, weil er sie für falsch hält, dann gibt es auch keine. Aber die Nationalregierungen, sie langen im Gegenteil ohne große Rückfragen gern zu und nehmen, falls möglich, auch einen Nachschlag – bevor sie anschließend wieder über die marode Union herziehen. Viele nationale Regierungen schämen sich weiterhin nicht, in Brüsseler Sitzungen aktiv Kompromisse zu verhindern, nur um die EU anschließend, zurück in der Heimat, für die Unfähigkeit zum Kompromiss zu verhöhnen. Es bleibt dabei, seit 10, 15 Jahren: Dieselben Regierungen, die die Geschicke Europas in Brüssel als Rat der EU wesentlich bestimmen, behandeln die EU vor heimischem Publikum weiterhin als fremde Macht, auf die sie keinen Einfluss haben; das kann nicht funktionieren. Die große regierungsamtliche Verlogenheit zerstört alle kleinen Erfolge, die es doch so zahlreich gibt. Die Tagungen, auf denen Fachleute aus 40 Städten erörtern, wie man die Korruption bei öffentlichen Auftragsvergaben bekämpft. Oder wie man am besten mit schwierigen Jugendlichen umgeht. Oder wie man Behinderte in Arbeit bringt. Überhaupt: wie man Menschen in Arbeit bringt, wie man Bürger qualifiziert, Arbeitslose nicht abschmieren lässt, wie man Jugendlichen Hoffnung gibt, darum geht es oft im Europa der EU. „power_m“ heißt in München ein Projekt, das Arbeitslose erfolgreich berät. „Amiga“ vermittelt dort hochqualifizierte Einwanderer. „guide“ hilft gezielt Frauen bei der Existenzgründung. „BIWAQ“ kümmert sich um benachteiligte Stadtviertel. Die Programme kosten mal zehn Millionen Euro, mal acht Millionen, die EU übernimmt davon 50 oder 60 oder 70 Prozent, und dann findet Europa nicht mehr in DER SPIEGEL 3 / 2017
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Gesellschaft
Fahrbahn für Busse und Fahrgemeinschaften in Barcelona
Sanierungsviertel Neuaubing-Westkreuz in München
„Wir müssen hin zu den Leuten. Die Zeit der Hochglanzbroschüren ist vorbei.“ Brüssel statt, sondern in München-Giesing, in Berg am Laim und Ramersdorf, am Innsbrucker Ring oder an der Tegernseer Landstraße. Europa hilft. Überall. Wenn zehn Erzieher aus München Kindergärten in Schottland besuchen, um zu lernen, wie dort mit behinderten Kindern umgegangen wird, gibt Brüssel Geld dazu. Wenn München und Wien einen Austausch von Auszubildenden organisieren, zahlt Brüssel mit. Es gibt 31 255 Euro für das Programm „Save Earth Life for Youth“, 72 634 für die „Mobilität von Auszubildenden im Bäcker-, Konditoren- und Metzgerhandwerk“, 34 524 für das Programm „Fit für den Beruf“, 2600 Euro für „Alpha+ Besser lesen und schreiben“. Manchmal findet auch eine Podiumsdiskussion zum Thema „EU und die Medien“ statt. Die heißt dann gleich „Fishbowl“Diskussion, weil die Teilnehmer im Kreis sitzen, und auf einer solchen sagte einmal Josef Schmid, Zweiter Münchner Bürgermeister, es sei gewiss Aufgabe der Medien, Missstände aufzudecken. Aber es müsse die Frage erlaubt sein, wie sich europäischer Bürgersinn entwickeln solle, wenn Europa nur dann Aufmerksamkeit bekomme, wenn etwas schieflaufe. Solche Fragen stellt man sich auch in der Europaabteilung des Münchner Referats für Arbeit und Wirtschaft. Deren stellvertretender Leiter Anton Tropper ist 34, freundlich, sachlich und zweifellos ein überzeugter, selbstverständlicher Europäer. Tropper ist in Graz geboren, hat in Brüssel gearbeitet, nun lebt er seit vier Jahren in München. Die Stadt ist europä64
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isch derart vernetzt, dass sie pralle Jahresberichte nur zum Thema EU füllen kann. Im Zuge des Großprojekts „Smarter Together“ ist das in den Fünfzigerjahren irgendwie stecken gebliebene Münchner Stadtviertel Neuaubing-Westkreuz neuerdings zu einem Ideenlabor geworden. Forscher und IT-Firmen tummeln sich vor Ort, um den Anwohnern Rad- und Carsharing näherzubringen und alles und jeden zu vernetzen. Durch allerlei Umbauten und urbanistische Tricks soll es gelingen, 20 Prozent weniger Kohlendioxid zu produzieren, 20 Prozent erneuerbare Energien zu nutzen, die Energieeffizienz um 20 Prozent zu steigern und die Lebensqualität alles in allem auch. Knapp sieben Millionen Euro zahlt die EU, um herauszufinden, ob das gehen kann, damit auch andere Städte und Stadtteile daraus lernen können; zwei weitere „Smart Cities“, Lyon und Wien, sind Teil des Experiments. Was nach einem klassischen, von oben aufgestülpten Projekt klingt, ist tatsächlich eher ein großer Feldversuch mit ständiger Bürgerbeteiligung. Die Neuaubinger und Westkreuzler bekommen Hausbesuche und kostenlose Beratung, es gibt auch ständig Versammlungen, die angeblich sogar gut besucht sind – jedenfalls fühlt sich Europa da draußen im Westen Münchens sehr lebendig an. „Wir müssen hin zu den Leuten“, sagt Anton Tropper und meint mit diesem Wir irgendwie Europa. „Die Zeit der Hochglanzbroschüren ist vorbei.“ So ist es. Die Festreden auf Europa an Sonn- und Feiertagen kann auch keiner mehr hören. Nach all dem Gewürge um
Rettungspakete und Zentralbankpolitik, nach dem gemeinschaftlichen Totalversagen in der Flüchtlingskrise, während der Ausflüge Ungarns und Polens in die Unrechtsstaatlichkeit, nach den krummen Deals mit der Türkei, nach all den Jahren der fortgesetzten Reformunfähigkeit ist jetzt einfach Schluss mit Streichmusik. Die guten alten Appelle haben nie hohler geklungen als heute. Die großen Reden sind alle gehalten. Es braucht kein Europa von oben mehr, es braucht eines von unten, es braucht Begegnung, weil nur aus Begegnung Begeisterung werden kann, die deutsch-französische Freundschaft, die einst die weltgrößte „Erbfeindschaft“ war, ist das europäische Modell dafür. Wahrscheinlich muss die EU, um neue Anhänger zu gewinnen, weniger Geld, aber dafür mehr Menschen durch Europa schicken. Begeisterung entsteht, wenn Erzieher aus Bayern Erzieher aus Schottland treffen. Wenn Auszubildende aus München zum Praktikum nach Wien gehen, wenn Bäcker aus Paris Bäcker in Budapest besuchen, wenn Schweden Deutschen erklären, wie sie Flüchtlingen helfen, wenn Abgesandte aus 40 Städten tagen und sich fragen, wie man Jugendlichen aufhilft. Europa ist, wenn Deutsche und Engländer Windräder aufrichten, wenn Italiener, Niederländer und Polen gemeinsam über Milchvieh nachdenken, wenn Leute aus Lyon mit Leuten aus München-Westkreuz darum ringen, wie man Fahrräder cleverer nutzt. Dann ist Europa. Dann ist Europa sogar eine gute, eine andere Geschichte.
Piep. Knack. Stille. Heute darf man Tauben nicht mehr besoffen machen, vom Rest ganz zu schweigen. Man vergrämt sie. Gestern war der Vergrämer da. Er empfahl die Terrassenvorderseite mit einer Stirnblattverblendung zu schließen. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass die Dachterrasse vorn offen ist. Man sieht es kaum. Fünf Zentimeter brauche die Taube, dann sei sie durch. Stirnblattverblendung bedeute Hebebühne, Straßenabsperrung, pipapo. Großes Leitkultur Alexander Osang empfindet Besteck. Wenn die Stirnblattverblendung dran sei, heiße vorübergehend die es aber nicht, dass automatisch die Tauben weg seien. Wut eines besorgten Bürgers. Da gebe es, das müsse er ehrlicherweise sagen, ’ne Entwöhnungsphase, erklärte der Kollege von der Vogelabwehr. Sechs bis acht Wochen. Tauben seien hartnäckige m Anfang freute mich die Taube. Ich hatte irgendTiere. Sie verteidigten ihre Nistplätze. Zwei Pärchen seien wo gelesen, dass die Berliner Tauben aussterben. schlimmer als hundert Einzeltauben. Sie brüten ganzjähIch mag keine Tauben, aber dass sie ganz verrig, wie oft, kann man gar nicht sagen. Das Geheimnis schwinden, wollte ich auch nicht. Als dann, es muss etwa der Taube. anderthalb Jahre her sein, eine Taube auf unsere DachterWas feststeht: Je mehr Futter sie bekommen, desto öfter rasse landete, dachte ich: welcome. Wenig später holte die brüten sie. Allerdings legen sie immer nur zwei Eier im Taube ihren Partner nach. Es waren nun zwei. Dann vier. Prenzlauer Berg. Ein, wie er sich ausSie schienen sich auf unserer Terrasse drückte, „limitierender Faktor fürs Gewohlzufühlen. Seit einem halben Jahr schäft“. Er vergräme auch Schwalben. wohnen sie auf beziehungsweise in der Und Krähen, die vor allem PenthouseTerrasse. Wie viele es inzwischen sind, bewohner mit Gründach ärgerten. weiß ich nicht. Man sieht sie nicht im„Wenn er richtig Kohle hat, versiemer, aber man hört sie. Sie gurren, turgelt der Dachgeschossbesitzer jeden teln, sie balzen und so weiter. Stein seines Dachgartens einzeln mit Es gibt kaum Gründe, wütend zu sein Kunstharz“, sagte der Mann, der sich in Berlin-Prenzlauer-Berg, wo ich wohne. nicht nur mit der Vogelpopulation in Wir haben zwei Rentner, die mit ihren der Berliner Innenstadt auszukennen Campingwagen Parkplätze blockieren. schien. Die neuen Bewohner des PrenzDie ärgern mich, machen mich aber nicht lauer Bergs investierten deutlich mehr wütend. Die Tauben aber kitzeln die in die Vogelabwehr als die alten. FrüWut in mir. Es ist, als pfiffe mir jemand her gab’s hier keine Penthouses und ständig gut gelaunt ins Ohr, obwohl dort Gründächer, da gab’s Satteldächer und draußen alles den Bach runtergeht. Punkt, sagte der Experte. Früher, er reWir haben alte CDs mit Bindfäden dete von der alten Ostzeit, wurden Tauans Geländer gehängt. Das soll, stand ben auch hin und wieder vergiftet. Man im Internet, Tauben vertreiben. Jetzt lockte sie mit vergiftetem Toastbrot zu klimpern die CDs als Windspiele, die Sammelstellen, eine war zum Beispiel Taubenpaare sitzen manchmal direkt am Alexanderplatz. darunter wie im Konzert. Außerdem „Toastbrot gab’s ja im Osten genug“, haben wir eine rote Spritzpistole, die Zufriedene Taube sagte der Experte. mit Essigwasser gefüllt ist. Sobald ich Seit der Wende sei die Population der verwilderten mit der Pistole den Balkon betrete, fliegen die TaubenHaustaube oder auch Türkentaube stabil. paare über die Straße auf das Dach gegenüber, sehen zu Türkentaube? mir rüber, warten, bis es mir zu blöd wird oder zu kalt. „Sagen manche“, sagte der Mann und sah in den WinSie kommen zurück, wenn ich die Balkontür hinter mir tertag, der sich hinter unserer Terrasse ausbreitete. Die schließe. Man fühlt sich ohnmächtig, wenn man mit einer CDs klimperten im Wind. Ich dachte an die Rede, die roten Spritzpistole mitten in der deutschen Hauptstadt Meryl Streep in der Nacht zuvor bei den Golden Globes auf einem Balkon herumsteht wie ein Kind im Körper gehalten hatte. Warum, weiß ich auch nicht genau. eine mittelalten Mannes. Ich habe mir von einem Nach„Klar ist nur, dass die Tauben nicht verschwinden. Die barn eine schwarze Kunststoffkrähe geborgt, die man auf ziehen nur zum nächsten Haus“, sagt er. „Dies sind Olymden Balkon stellen kann, um die Tauben zu erschrecken. pische Spiele.“ Sie wirkt auf meine Frau, den Tauben ist sie egal. Wir wussten beide, wer am Ende gewinnen würde. Frau Jarchow, die seit 50 Jahren in unserem Haus wohnt, Es gibt keine Atomkraftwerke in unserer Straße, es gibt hat neulich erzählt, dass sie die Tauben hier früher mit keine Windräder, keine tiefergelegten Golfs, keine SkinErbsen gefüttert hätten, die sie vorher in Alkohol eingeheads und kaum Flüchtlinge. Irgendwann werden auch weicht hatten. Sie haben dann später die betrunkenen die Tauben weg sein. Sie fliegen zu den Leuten, die soTauben eingesammelt und entsorgt. wieso schon Wut auf alles haben. Vielleicht setzt sich am Entsorgt? Ende eine Taube aufs Dach eines besorgten Bürgers und Piepknack, sagt Frau Jarchow. bringt mit ihrem Gewicht die Welt ins Rutschen. Mit dem Wort hat ihr Sohn einst, als er klein war, beIch lasse erst mal den Kostenvoranschlag für die Stirnschrieben, warum sich sein Wellensittich nicht mehr beblattverblendung kommen und sehe dann weiter. wegte. Besser kann man es nicht sagen.
Piepknack
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
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HARRY WEBER
Zugverkehr
Das bisschen Pünktlichkeit ICE und IC hatten 2016 weniger Verspätung. Das selbst gesteckte Ziel verfehlte die Bahn jedoch. Die Fernzüge der Deutschen Bahn (DB) waren im vergangenen Jahr verlässlicher unterwegs als 2015. Von Januar bis Dezember kamen insgesamt rund 79 Prozent aller ICE und IC pünktlich an – und damit so viele wie seit 2012 nicht mehr. Das verlautete aus dem Umfeld des Konzerns. Im Jahr 2015 lag die Pünktlichkeit bei nur 74,4 Prozent. Trotz der Fortschritte verfehlte die DB allerdings ihr selbst gestecktes Ziel von 80 Prozent für 2016 knapp. Das Unternehmen ist auch von seinem mittelfristigen Ziel, dass 85
Linde
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STEPHAN RUMPF / PICTURE ALLIANCE / DPA
Chefaufseher unter Raffke-Verdacht
Kurz vor dem zweiten Anlauf zur Fusion mit dem USRivalen Praxair muss der Münchner Gasehersteller Linde einen herben Rückschlag hinnehmen. Noch bevor die Gespräche konkret begonnen haben, ist einer der wichtigsten Unterhändler der Deutschen ins Visier der Wertpapieraufsicht geraten: Aufsichtsratschef Wolfgang
Prozent der Fernzüge pünktlich verkehren, noch weit entfernt. Dieser Wert ist deshalb wichtig, weil dann der Großteil der Fahrgäste einen Anschlusszug erreichen kann. Die Bahn unternahm im vergangenen Jahr massive Anstrengungen, die Pünktlichkeit zu verbessern – etwa durch ein besseres Baustellenmanagement und eine frühere Abfahrt der Züge. Auch die anstehende Vertragsverlängerung von Konzernchef Rüdiger Grube wurde davon abhängig gemacht, dass sich die Werte deutlich verbessern. böl
Reitzle. Der Manager hatte im vergangenen Juni mehrmals Linde-Aktien im Wert von insgesamt rund einer halben Million Euro gekauft – obwohl intern schon damals über einen Zusammenschluss diskutiert worden war, die Öffentlichkeit davon aber noch nichts wusste. Als die Pläne Mitte August erstmals offiziell bestätigt wurden und sich die Linde-Aktie vorübergehend um gut 20 Prozent verteuerte, leitete die Bundesanstalt für Finanzdienst-
leistungsaufsicht (BaFin) eine routinemäßige Überprüfung ein. Diese wurde inzwischen abgeschlossen und stattdessen eine förmliche Insideruntersuchung eröffnet. Das heißt, die Behörde geht gezielt dem Verdacht nach, dass einzelne Personen, die frühzeitig in die Pläne eingeweiht waren, ihr Wissen eingesetzt und für privilegierte Käufe genutzt haben könnten. Eine BaFin-Sprecherin wollte allerdings keine Namen von Betroffenen nennen. did
Wirtschaft Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) darf bei den Sozialwahlen der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) nicht mit eigener Liste antreten. Der DRV-Wahlvorstand hat am 5. Januar die Wahlliste des DGB als ungültig abgewiesen, weil die not-
Dobrindt-Pläne
Schäuble kalkuliert mit Mautminus Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) rechnet damit, dass die Mautpläne von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) mittelfristig zu Mindereinnahmen im Haushalt führen. Hintergrund ist ein Kompromiss zwischen Dobrindt und der EU-Kommission, nach dem deutsche Autofahrer, deren Kfz die Abgasnorm Euro 6 erfüllen, unterm Strich entlastet werden. Diese Regelung führe bereits im ersten Jahr zu geringeren Einnahmen „im niedrigen dreistelligen Millionenbereich“, so die Einschätzung von Schäubles Experten. Weil fast nur noch Euro-6-Fahrzeuge neu zugelassen würden, sei bereits nach Ende der aktuellen mittelfristigen Finanzplanung im Jahr 2020 davon auszugehen, dass die Einnahmeausfälle in der Kfz-Steuer die Nettoeinnahmen der Maut übersteigen und somit zu Einnahmeausfällen führen könn-
Autobahn in Brandenburg
darüber hinaus ungültig. Die Listen der IG Metall und von Ver.di hingegen wurden zugelassen. Alle sechs Jahre wählen die Mitglieder eine Vertreterversammlung für die selbstverwaltete DRV. Diese beschließt etwa den zweitgrößten öffentlichen Haushalt Deutschlands oder entscheidet über die Leitungsfunktionen. Die Schlappe ist auch
ten. Bislang rechnet Dobrindt mit Nettoeinnahmen der Maut von 500 Millionen Euro pro Jahr. Experten bezweifeln diese Summe schon länger. Ein weiteres Problem für den Verkehrsminister ist, dass sein Zeitplan für die Maut kaum noch zu halten ist. Ursprünglich wollte Dobrindt die überarbeiteten Gesetzentwürfe für die Maut und für die Kfz-Steuer am 18. Januar ins Kabinett einbringen. Neben den finanziellen Problemen sind auch andere Fragen noch nicht geklärt. Deshalb wird in der Regierung damit gerechnet, dass sich die Ministerrunde frühestens am 25. Januar mit dem Thema beschäftigen kann. Die mindestens einwöchige Verschiebung könnte für Dobrindt schwerwiegende Folgen haben: Aufgrund des komplizierten Zeitplans von Bundesrat und Bundestag sowie dreier Landtagswahlen im Frühjahr könnte sich die endgültige Verabschiedung der Maut in den Juni verzögern – also bis wenige Wochen vor der Bundestagswahl. böl, rei
Condor
deshalb peinlich, weil der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften mit einer Kampagne die Rentenpolitik zu einem zentralen Thema des Bundestagswahlkampfs machen wollen. Auf das Wahlergebnis dürfte die Nichtzulassung nur wenig Einfluss haben. Bei den Wahlen 2011 erreichte die DGB-Liste gerade 2,79 Prozent. mad
Chinesen sollen Passagiere füttern Die Ferienfluggesellschaft Condor kappt nach über 50 Jahren eine der letzten engen Verbindungen zu ihrer einstigen Mutter Lufthansa. Statt von der Konzerntochter LSG Sky Chefs (LSG) will sie das Essen für ihre gut sieben Millionen Bordgäste künftig von einem Ableger des chinesischen Mischkonzerns HNA Group beziehen. Zu dem schnell wachsenden LuftfahrtKonglomerat gehören unter anderem Fluglinien wie Hainan Airlines, der Bodenabfertiger Swissport oder der Cateringspezialist Gate Gourmet. Er beliefert nun auch die Condor. Grund für die überraschende Trennung sind offenbar unüberbrückbare Differenzen bei der Preisgestaltung der Menüs. Noch bei der
Innovationen
Halsband für Apple-Kunden Die drahtlosen Kopfhörer von Apple sind erst wenige Wochen auf dem Markt – und schon hat sich ein Zubehörmarkt rund um die Airpods genannten Bluetooth-Stöpsel entwickelt. Weil die jeweils vier Gramm leichten Hörer bei Windstößen oder Berührungen aus dem Ohr fallen können, gibt es von mehreren Anbietern eine Art Halteband. Man hängt sich das Plastikteil ähnlich einer Lesebrillenschnur um den Hals, um zu verhindern, dass die
RÜDIGER WÖLK / MAGO
Dumm gelaufen
wendige Anzahl von 2000 Unterstützerunterschriften nicht erreicht wurde. Zwar hatten rund 2800 Menschen den DGB-Wahlvorschlag unterschrieben. Doch bei der Prüfung stellte sich heraus, dass 796 Unterzeichner nicht bei der DRV im Bund, sondern bei regionalen Versicherungsträgern Mitglied sind. Gut 200 Unterschriften waren
PATRICK PLEUL / DPA
Sozialwahlen
Condor-Jet
Vertragsverlängerung vor gut einem Jahr hatten die Condor-Manager von der LSG einen hohen Qualitätsstandard zu extrem niedrigen Kosten verlangt. Über die Auslegung der entsprechenden Passagen im Vertrag wird seither heftig gestritten. Arbeitnehmervertreter fürchten, dass durch die Trennung und die Neuvergabe Jobeinbußen bei der LSG drohen könnten. Die Firma erwirtschaftete mit dem Condor-Auftrag bislang einen hohen zweistelligen Millionenbetrag pro Jahr. did
angeklippten Ohrstöpsel runterfallen. Im Internet ätzen Nutzer, damit sei der Zustand eines kabelgebundenen Ohrhörers wiederhergestellt – nur teurer als früher, weil zu den 179 Euro für die Airpods noch das Halteband für zehn Euro fällig werde. Pannen gab es viele bei Apples jüngster Mini-Innovation: Sie kam mit monatelanger Verspätung auf den Markt, hatte zunächst technische Schwierigkeiten, und die Sprachsteuerung funktioniert umständlich. Weil die Ohrstöpsel leicht verloren gehen, bietet Apple auch einzelne Exemplare zum Nachkaufen an. mum DER SPIEGEL 3 / 2017
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ULLSTEIN BILD
Volkswagen-Werk Wolfsburg
Große Karpfen, kleine Fische Dieselskandal Die Einigung mit den US-Behörden verschafft Volkswagen keine Atempause. Das FBI ermittelt weiter gegen Topmanager. Das Unternehmen kommt auch deshalb nicht zur Ruhe, weil es nichts aus der Affäre gelernt hat. 68
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Wirtschaft
offenbart. Der verhaftete Oliver Schmidt wird sich wohl auch kooperationswillig zeigen, um zumindest eine Gefängnisstrafe zu verhindern. Auf diese Weise hoffen die US-Ermittler, doch noch Verwertbares gegen die einstigen VW-Bosse zu erhalten. Schon jetzt belasten die Aussagen der beiden Kronzeugen den früheren Konzernchef Winterkorn und Volkswagen-Vorstand Diess. Bereits am 27. Juli 2015 hätten VW-Techniker den Vorständen offenbart, dass Volkswagen die Umweltbehörden mit gefälschten Messergebnissen betrogen habe. An diesem Tag hatte Winterkorn mehr als ein Dutzend Entwickler für den späten Nachmittag ins Haus 71 B des Wolfsburger Stammwerks beordert. Die Werkstatt ist
REUTERS
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s sollten schöne Tage in Florida werden. Oliver Schmidt wollte dort mit Freunden seinen Geburtstag feiern. Warnungen von Anwälten, der VW-Manager solle auf keinen Fall in die USA reisen, schlug er aus. Schmidt flog nach Miami. Er fühlte sich offenbar sicher, weil er vor US-Ermittlern ausgiebig ausgesagt hatte. Doch er wurde verhaftet und musste seinen Geburtstag in einer Zelle verbringen. Zum Haftprüfungstermin wurde er in Handschellen vorgeführt. Schmidt war jahrelang für den Kontakt des Autoherstellers mit den US-Behörden verantwortlich und wird in der Klage des Bundesstaats New York gegen den VWKonzern mehrfach erwähnt. Demnach war er einer jener Manager, die den Dieselbetrug lange verschleierten. Und deshalb ist Schmidt jetzt einer der sechs VW-Manager, die von der US-Justiz wegen des Dieselskandals angeklagt werden. Motorenentwickler sind darunter, mittleres Management, eher kleine Fische und ein einziger Vorstand, der Entwicklungschef Heinz-Jakob Neußer. Prominente Namen fehlen, der einstige VW-Chef Martin Winterkorn oder der ehemalige Finanzvorstand und heutige Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch. Das heißt nicht, dass die oberste Führungsebene nicht verantwortlich ist für den Skandal, der den Konzern in eine existenzgefährdende Krise stürzte. Verantwortlich sind Winterkorn und Pötsch allein deshalb, weil der Autohersteller unter ihrer Führung jahrelang Kunden betrogen und gegen Gesetze verstoßen hat. Und entspannen können sie schon deshalb nicht, weil die USJustiz weiter ermittelt. „Es sind keine multinationalen Unternehmen ohne Gesicht, die Verbrechen begehen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut“, sagte die stellvertretende Justizministerin Sally Yates. Die Ermittlungen gegen Personen werden fortgesetzt, auch wenn das US-Justizministerium jetzt einen Vergleich mit dem Unternehmen Volkswagen geschlossen hat. Der Autobauer muss vier Milliarden Euro Strafe zahlen. Zusammen mit dem Geld, das der Konzern in den USA für die Entschädigung von Kunden und Händlern sowie für die Nachbesserung der Fahrzeuge aufbringt, sind das rund 20 Milliarden. Und dies ist nur eine Zwischensumme in der Bilanz des Dieselskandals. Völlig offen ist, ob und wie viel Schadensersatz VW Anlegern zahlen muss, die dem Unternehmen vorwerfen, seine Aktionäre zu spät über den Gesetzesverstoß informiert zu haben. Auch dabei geht es um mehrere Milliarden Euro. Und für die Beweisführung der klagenden Kanzleien spielen die Ergebnisse der US-Ermittler eine zentrale Rolle. Zwei Volkswagen-Manager haben sich den US-Behörden bereits als Kronzeugen
VW-Manager Schmidt (Polizeifoto) In Handschellen zum Haftrichter
ein Ort, den in der Ära Winterkorn kein VW-Mitarbeiter freiwillig betrat. Wer zum sogenannten Schadenstisch zitiert wurde, musste sich für ein Problem rechtfertigen. Winterkorn wurde oft laut. Einmal schleuderte er ein fehlerhaftes Teil vom Tisch und erwischte damit versehentlich einen Mitarbeiter. Die Wunde an der Hand ist schlecht verheilt, der Manager kann die Narbe noch heute vorzeigen. An diesem 27. Juli jedoch blieb der Konzernchef ruhig, obwohl seine Ingenieure Schaubilder mit brisantem Inhalt auf eine Leinwand projizierten. Sie zeigten, dass VW-Dieselfahrzeuge im Straßenverkehr erheblich mehr Stickoxide ausstoßen als auf dem Prüfstand. Dieser Unterschied zwischen „Straße und Rolle“, hieß es in der Präsentation, müsse geklärt und behoben werden. Auch von Abschalteinrichtungen war die Rede – jener Software, die in der Lage ist, Laborsituationen zu erkennen und den Schadstoffausstoß zu drosseln. Unklar ist, ob den Anwesenden die Tragweite der Informationen bewusst war. Winterkorn und Diess haben ausgesagt, Thema am Schadenstisch sei lediglich die Überschreitung der Grenzwerte gewesen. Von
einer illegalen Software sei nicht die Rede gewesen. Teilnehmer der Sitzung stützen diese Aussagen: Winterkorn habe das Problem zunächst gar nicht verstanden. Er habe gefragt: „Geht es hier um CO2?“ Im Anschluss an die Sitzung hätten Winterkorn und Diess mit einigen Experten über das Problem diskutiert. Dabei hätten diese den Vorständen versichert, sie würden das Problem in Gesprächen mit der Umweltbehörde Carb in den USA lösen. Die beiden Kronzeugen des FBI behaupten dagegen, VW-Entwickler und ihre Chefs hätten an diesem Tag beschlossen, die Behörden weiter zu täuschen. Statt die Betrugssoftware offenzulegen, habe das VW-Topmanagement „die fortgesetzte Geheimhaltung autorisiert“. Es steht Aussage gegen Aussage. Wahrscheinlich werden Gerichte klären müssen, ob die Kronzeugen glaubwürdig sind oder ob sie sich nur selbst entlasten wollen. Eindeutig wird die Sachlage dagegen in den darauffolgenden Wochen. Ein führender VW-Mitarbeiter sah offenbar ein, dass die Lügen nicht mehr aufrechtzuerhalten waren. Am 19. August erzählte er der Umweltbehörde Carb, dass VW-Dieselmodelle die Grenzwerte nur mit illegalen Mitteln einhalten. In Wolfsburg waren Manager damit beschäftigt, Spuren zu beseitigen. Entwicklungschef Neußer bat die Assistentin eines Motorenkonstrukteurs, sie möge das Büro des Kollegen nach einer Festplatte durchforsten, auf der auch E-Mails von ihm gespeichert seien. Kaum war der Datenspeicher gefunden, ließ Neußer ihn sich aushändigen und beauftragte seine Assistentin, diesen wegzuwerfen. Am 3. September gestand VW den USBehörden offiziell die Existenz der Manipulationssoftware. „In einem Gespräch am 03.09.2015 mit der Behörde Carb wurde das Defeat Device zugegeben“, wurde dem Konzernchef („Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Winterkorn“) am 4. September mitgeteilt. Spätestens an diesem Tag hätte VW seine Anleger über den Betrug informieren müssen. Das Unternehmen verteidigt sich damit, die Höhe des drohenden Schadens sei noch nicht absehbar gewesen. Ein Argument, das kaum überzeugen kann. Denn es drängt sich eine Frage auf, die sich jeder Bandarbeiter bei Volkswagen gestellt hätte, wenn er erfahren hätte, dass ein Motor eine verbotene Technik enthält: In wie vielen Fahrzeugen ist er noch eingebaut? Es waren elf Millionen Autos, und damit war klar, dass dieser Fall den Konzern erschüttern wird. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt deshalb gegen Winterkorn, Pötsch und Diess wegen Verstoßes gegen das Wertpapierhandelsgesetz. Anleger fordern bereits mehrere Milliarden Schadensersatz. Die Einigung mit DER SPIEGEL 3 / 2017
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Wirtschaft
UTE GRABOWSKY / PHOTOTHEK.NET
Dieselwerbung in den USA: Unterschied „Straße und Rolle“
VW-Chef Winterkorn 2013: Eine Heizung für den Koi-Teich
den US-Justizministerium gewährt VW noch nicht einmal eine Verschnaufpause. Entscheidend für die Zukunft des Unternehmens wird auch sein, was es aus diesem Skandal lernt. Der Aufsichtsratsvorsitzende Pötsch sagt: Volkswagen sei „heute ein anderes Unternehmen als noch vor 16 Monaten“. Vorstandschef Müller sagt, VW werde „ein Beispiel dafür werden, wie ein großes Unternehmen seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt, lebt und vorlebt“. Genau davon ist bislang nichts zu sehen. Im Gegenteil: Der Vorstand des VW-Konzerns sorgt dafür, dass Manager weiter als geldgierige Kaste in Verruf geraten. So bestanden Müller und seine Kollegen darauf, dass sie für das Geschäftsjahr 2015, das wegen des Dieselskandals mit einem Rekordverlust endete, Bonuszahlungen in Millionenhöhe erhalten. Selbst Vertreter des Hauptaktionärs von VW, der Familien Porsche und Piëch, sagten im SPIEGEL-Gespräch, es wäre besser gewesen, wenn der Vorstand auf seine Boni verzichtet hätte. Auch von einem Kulturwandel ist in Wolfsburg nichts zu spüren. Winterkorn 70
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wurde vorgeworfen, er habe keine Widerworte geduldet. Deshalb hätten sich Techniker lange nicht getraut, ihm zu offenbaren, dass sie die Abgasvorschriften mit legalen Mitteln nicht erfüllen können, wenn sie die Kostenvorgaben einhalten sollen. Doch wie agiert dessen Nachfolger Müller? Kritik sei erwünscht, sagt der neue VW-Chef. Der renommierte Historiker Manfred Grieger allerdings, der für das Unternehmen die Verstrickung mit dem Nationalsozialismus aufarbeitete, wurde aus dem Konzern gedrängt. Grieger hatte es gewagt, eine Studie zur Zwangsarbeit bei der Vorgängerfirma von Audi, der Auto Union, zu kritisieren. Zu einem Kulturwandel würde gehören, dass der Autohersteller seine Kunden nicht wie Bittsteller behandelt. Volkswagen kann den mehr als zehn Millionen betroffenen Besitzern von Dieselmodellen in Europa nicht die gleiche Entschädigung zahlen wie den 500 000 Fahrern in den USA. Dann wäre das Unternehmen pleite. Aber eine kleine Entschädigung wäre das
Mindeste. Der Wolfsburger Hersteller jedoch bietet seinen Kunden: nichts. Konzernchef Müller zeigt auch an anderer Stelle, was er von Autokäufern hält. In einem Interview beschimpft er sie. Viele würden zwar Elektromobilität fordern, aber keine E-Autos kaufen: „Am Angebot liegt es nicht.“ Auch bei Aufsichtsrat Pötsch ist kein Wandel sichtbar. Er versucht den Skandal weiter kleinzureden. Am vergangenen Mittwoch bezeichnete Pötsch den Betrug an Millionen Kunden als „Dieselthematik“. Manager, die in der alten VW-Kultur groß wurden, können diese nicht ändern. Es braucht Anstöße von außen. Einen hat das US-Justizministerium dem Unternehmen jetzt verordnet. Volkswagen muss einen unabhängigen Aufpasser, einen sogenannten Monitor, berufen. Konkurrent Daimler weiß, was dies bedeutet. Die Stuttgarter mussten nach einem Korruptionsskandal ebenfalls einen Monitor einsetzen. Mehrere Jahre lang sorgte ein ehemaliger FBI-Chef mit einer Truppe von über 20 Mitarbeitern in Stuttgart dafür, dass allen Hinweisen auf Gesetzesverstöße nachgegangen wurde, auch jenen, die nichts mit den Korruptionsfällen zu tun hatten. Auf den Monitor, der den VW-Konzern drei Jahre lang durchleuchten soll, wartet viel Arbeit. Das Unternehmen war für viele Manager ein Selbstbedienungsladen. Der frühere Chef Winterkorn beispielsweise mietete eine Luxusvilla in Groß Schwülper in der Nähe von Braunschweig von der Volkswagen Immobilien GmbH. Der VW-Boss zahlte in seinen ersten Dienstjahren rund fünf Euro pro Quadratmeter. Auf diesen Sozialmieterpreis kam die VWImmobilienfirma, weil sie festhielt, dass Winterkorn nur gut die Hälfte der rund 400 Quadratmeter privat nutze und die anderen Räume für die Bewirtung von Gästen des Unternehmens zur Verfügung stünden. Die VW-Immobilienfirma sorgte sich sogar um das Hobby des Mieters. Sie ließ eine aufwendige Heizanlage in den Gartenteich einbauen. Winterkorn wollte dort Kois halten. Die Zuchtkarpfen sind empfindlich. Bei einem plötzlichen Temperaturabfall leiden sie schnell an Haut- und Darmkrankheiten. VW erklärt auf Anfrage, zu Vertragsdetails könne man sich nicht äußern. „Die Nebenleistungen wurden entsprechend dem damals gültigen Nebenleistungskatalog in Anspruch genommen und nach den geltenden steuerlichen Grundsätzen korrekt behandelt.“ Na, dann ist ja alles in Ordnung. Simon Hage, Dietmar Hawranek
Video: VW und Dieselgate spiegel.de/sp032017vw oder in der App DER SPIEGEL
Wirtschaft
Teure Brühe
wiesenen PCB-Konzentrationen, behaupten sie, seien zu gering, um die enormen Investitionen zu rechtfertigen, die notwendig wären, das Wasser zu reinigen. Die Argumentation ist nicht nur falsch, weil die RAG bewusst zweifelhafte Messungen heranzieht. Sie dürfte den RAGChefs nun auch nicht mehr sehr lange helBergbau Die RAG soll kein mit fen. Denn wenige Monate vor der LandPCB belastetes Grubenwasser tagswahl in Nordrhein-Westfalen ist der grüne Umweltminister Johannes Remmel mehr in Flüsse einleiten dürfen. der RAG die Einleitung ihrer Sie muss Filteranlagen für Millio- entschlossen, hochgiftigen Fracht in NRW-Gewässer zu nen Kubikmeter Wasser bauen. untersagen. Schon vor Monaten hat er deshalb ein ie Bergbaumanager der RAG lie- Gutachten in Auftrag gegeben. Die Ergebben pathetische Ankündigungen nisse liegen nun vor. Sie sind beschämend und große Versprechen. Daran hat für den einst größten EU-Kohlekonzern sich auch zwei Jahre vor dem endgültigen mit Sitz in Essen. Denn die Gutachter lassen keinerlei Aus der Steinkohlenförderung im Ruhrgebiet nicht viel geändert. „Mit dem Bergbau Zweifel aufkommen, dass die PCB-Konendet nicht die Verantwortung“, lässt zentration in den von der RAG eingeleiteRAG-Konzernchef Bernd Tönjes auf der ten Grubenwässern schon heute oft weit Homepage des Unternehmens in großen über dem zulässigen Grenzwert liegt und Lettern verkünden. Das gelte für die Regi- dass die Belastung in den nächsten Jahren on, die Arbeitnehmer und natürlich auch weiter ansteigen dürfte. Die Reinigung des Grubenwassers halfür die Umwelt. Die Realität sieht anders aus – und zwar ten sie für technisch möglich – und zwar deutlich. Seit gut zwei Jahren weiß die mit deutlich geringerem Aufwand, als die RAG durch Recherchen des SPIEGEL, dass RAG bislang behauptet hat. Mehr als 97 in ihren Bergwerken 10 000 Tonnen hoch- Prozent des heute in die Flüsse geleiteten giftiges PCB lagern, in Form von nicht ord- Gifts, heißt es in dem Gutachten, könnten nungsgemäß entsorgten Hydraulikölen. problemlos ausgefiltert werden. Dazu müssten an den Einleite- und Und seitdem wissen ihre Manager auch, dass die Gesundheit Tausender Menschen Pumpstationen der Bergwerke zwar große an Rhein und Ruhr gefährdet ist, weil nach Wasserrückhaltebecken gebaut und mit Schließung der Bergwerke das Grubenwas- Aktivkohlefiltern ausgestattet werden. ser ansteigt und so immer größere Mengen Doch die Kosten dafür sind weit von den des Gifts in Flüsse und Oberflächengewäs- Horrorszenarien entfernt, mit denen die RAG den Bau solcher Filteranlagen abser gelangen. Doch anstatt sich der Verantwortung zu wehren wollte. So veranschlagen die Gutachter Invesstellen und Natur und Umwelt, soweit es geht, zu schützen, spielen die RAG-Mana- titionen von bis zu 50 Millionen Euro für ger das Problem bei jeder sich bietenden drei Anlagen. Auch der Unterhalt der FilGelegenheit herunter. Die bislang nachge- tertechnik dürfte deutlich günstiger wer-
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Gefährliche Altlast Im Ruhrgebiet werden die stillgelegten Zechen des Kohlebergbaus durch Pumpen jährlich von rund 70 Millionen Kubikmeter Grubenwasser freigehalten.
Wird die Wasserhebung eingeschränkt, steigt das Grubenwasser an. Es besteht das Risiko, dass Schadstoffe in das Grund- und Oberflächenwasser gelangen.
Pumpe Fluss Grubenwasser Oberflächenwasser, das durch das Gestein ins Bergwerk sickert
Fluss Grubenwasserhebung
kohleführende Schichten
Mehr als 10000 Tonnen hochgiftige PCB-haltige Hydrauliköle verblieben bei der Stilllegung in den Flözen.
den als bislang angenommen. Je nach Ausbaustufe würde die Aufbereitung von bis zu 105 Millionen Kubikmeter Grubenwasser zwischen 8,5 und 47 Millionen Euro jährlich kosten. Das ist eine stolze Summe, zumal es Jahrzehnte dauern kann, bis die PCB-Konzentration so weit gefallen ist, dass man die Filter möglicherweise wieder abstellen kann. Den RAG-Managern dürfte sie jedoch trotzdem keine schlaflosen Nächte bereiten. Genau für solche Ewigkeitslasten des Bergbaus wurde nämlich vor Jahren bereits eine Stiftung gegründet. Sie wird von dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Werner Müller geleitet. Er hat das Vermögen durch geschickte Investitionen und Anlage von damals rund 10 auf inzwischen mehr als 16 Milliarden Euro vermehrt. Viel gravierender dürfte sich für die RAG auswirken, dass sie mit ihrem Zögern und ihrer Hinhaltetaktik in Sachen PCB Vertrauen in der Politik verspielt und das Klima nachhaltig vergiftet hat. So will Remmel die bisherige Planung der sehr kohlenahen Bergämter zur Schließung der Zechen nicht mehr akzeptieren. Der geplante Wiederanstieg von Millionen Kubikmeter Grubenwasser habe weitreichende ökonomische und ökologische Folgen für eine ganze Region mit Millionen Einwohnern, hat er seinen Beamten erklärt. Deshalb müssten die Menschen auch beteiligt werden. Der Umweltminister will ein Planfeststellungsverfahren mit dazugehöriger Umweltverträglichkeitsprüfung einleiten. Alle erdenklichen Auswirkungen der Zechenstilllegungen auf Flüsse, Böden und Landschaft sollten neu begutachtet werden. Einen entsprechenden Arbeitsauftrag hat Remmel bereits an seine Fachabteilung gegeben. Für die RAG wäre das ein GAU. Dann müssten in nahezu allen Gemeinden des Ruhrgebiets sämtliche bislang geheimen Planungsunterlagen offengelegt werden. Bergbauopfer und Umweltschützer könnten Bedenken, Einsprüche und Klagen formulieren. Unter drei Jahren, schätzen Experten, wäre das selbst im günstigsten Fall nicht zu machen. In dieser Zeit müsste der Konzern seine Zechen offen halten und dürfte die teuren Pumpen nicht abstellen, mit denen er heute den Wasserstand im ganzen Ruhrgebiet auf einem niedrigen Niveau hält. Das Ende des Steinkohlenbergbaus im Jahr 2018 wäre damit schon wieder Geschichte. Die vielen „Glückauf Zukunft“Veranstaltungen, mit denen die RAG das Ereignis feiern wollte, müssten vielleicht noch einmal verschoben werden. Frank Dohmen, Barbara Schmid DER SPIEGEL 3 / 2017
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Wirtschaft
„Wir machen Rock ’n’ Roll“ Konsum Von Berlin aus will Stone Brewing den europäischen Markt mit Craft Beer versorgen. Die Frage ist, ob der Markt dafür bereit ist.
SPIEGEL: Herr Koch, warum braucht ausge-
Szene überhaupt noch von traditionellen Bierherstellern? Koch: Nur weil wir wachsen, heißt das ja nicht, dass wir unsere Prinzipien über Bord werfen. Ein entscheidender Unterschied ist der Einsatz von Rohstoffen: In den USA stellt die Craft-Szene rund 20 Prozent des Bieres her, braucht dafür aber etwa so viel Hopfen wie für die restlichen 80 Prozent verwendet wird. Das sagt schon viel aus. SPIEGEL: Dennoch scheint der Craft-Boom abzuflauen. Selbst Sie haben vor Kurzem Leute entlassen müssen. Koch: Ja, und das tat uns sehr leid. Das Wachstum des gesamten Segments war in den USA nicht mehr nachhaltig, zeitweise haben statistisch gesehen bei uns 1,5 CraftBrauereien pro Tag neu eröffnet. SPIEGEL: Warum ist Deutschland bisher eine Craft-Nische geblieben? Koch: In Deutschland gibt es die Tradition, auf Altbewährtes zu setzen. Trotzdem än-
rechnet Deutschland Biernachhilfe von einer Brauerei aus Kalifornien? Koch: „Brauchen“ ist vielleicht das falsche Wort. Es geht darum, die Vielfalt zu vergrößern. Wir brauen zum Beispiel stärker gehopfte Biere oder etwa das Mokka-Stout mit Wintergewürzen. So etwas gibt es auf dem deutschen Markt bisher kaum. SPIEGEL: Sie meinen, außer Pils und Weißbier ist hier nicht viel zu bekommen? Koch: Es gibt hervorragendes deutsches Bier – es ist bloß meist schwer zu finden, weil der Einzelhandel es nicht führt. Außerdem sorgt das Reinheitsgebot, das die Zutaten vorschreibt, dafür, dass weniger experimentiert werden kann. Deutsche Biere sind für mich so was wie die klassische Musik. Wir aber machen Rock ’n’ Roll. SPIEGEL: Kritisieren Sie deswegen das Reinheitsgebot so vehement? Koch: Gegenfrage: Warum soll ich mir etwa beim Musizieren vorschreiben lassen, nur Gitarre, Drums und Gesang zu nutzen? Ich sehe das als künstliche Beschränkung. Trotzdem brauen auch wir die meisten Biere nur mit Hopfen, Malz, Hefe und Wasser. SPIEGEL: Die Deutschen scheinen mit ihrem klassischen Bier ganz zufrieden zu sein. Koch: Aber der Bierkonsum sinkt. Der Grund ist die Industrialisierung der Branche: Große Getränkekonglomerate stellen massentaugliche Biere her und normieren den Geschmack. Gleichzeitig kaufen sie kleinere Brauereien auf und schließen Standorte. SPIEGEL: Die Konzerne kaufen sich aber längst auch in die Craft-Szene ein, leiden Sie darunter? Koch: Wir sehen das sportlich. Wenn Sie Metallica-Fan sind und Britney Spears anfängt, Heavy Metal zu machen, dann ist das kein Grund zur Beunruhigung. SPIEGEL: Metallica ist ja auch eher Mainstream im Heavy Metal. Unterscheidet sich die Craft-BeerCraft-Brauer Koch: „Unser Bier soll nicht langweilen“ 72
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dert sich langsam etwas. Vor einigen Monaten kam in Berlin ein etwa 75-jähriger Mann auf mich zu. Er sagte: „Ich habe gehört, Sie sind hier der Besitzer. Ihr Bier schmeckt so, wie ich es von früher gewohnt bin.“ Er meinte nicht unbedingt unsere extremen Ales, aber er hat eine intensive Malz- und Hopfennote in unseren Bieren wiedererkannt. Der Hopfengehalt wird im Massenbier seit Jahren reduziert, aus Kostengründen. Die Craft-Brauer haben das komplett gedreht. SPIEGEL: Auf einer Ihrer Dosen steht, es sei fraglich, ob man genug Geschmack und Erfahrung habe, die Qualität des Biers zu erkennen. Ist das Werbung oder Erziehung? Koch: Wahrscheinlich beides. Bier kann im besten Fall Kunst sein, und unsere Biere sollen nicht langweilen. In Deutschland sind ja viele stolz, dass das Bier so billig ist wie nirgendwo sonst in Westeuropa – und glauben gleichzeitig, es sei das beste. Können Sie mir irgendein Produkt auf der Welt nennen, das zugleich das billigste und beste ist? Das gibt’s nicht. SPIEGEL: Um Ihre Marke einzuführen, haben Sie mit einem Stapler einen riesigen Stein auf deutsche „Fernsehbiere“ fallen lassen. Braucht es derartiges Marketing, damit man wahrgenommen wird? Koch: Das waren – um mit Trump zu sprechen – unverantwortliche Presseberichte. Im Ernst: Es ging um internationale Industriebiere, auch amerikanische. Diese Biere sind eine Beleidigung. Wer mit so einem Bier vor 100 Jahren nach Deutschland gekommen wäre, wäre damit beworfen worden. SPIEGEL: Wird Berlin für Stone eine Art Bier-Drehscheibe? Koch: Ja, wir beliefern von hier aus bereits 20 Länder. Skandinavien wird neben Deutschland und Großbritannien der wichtigste Markt werden, seit Dezember sind wir in Russland vertreten. SPIEGEL: Ihr Bier wird hier in Dosen abgefüllt, die haben in Deutschland nicht den besten Ruf. Koch: In Europa Flaschen hin- und herzufahren wäre nicht nachhaltig gewesen. Uns interessiert zudem, wie der Geschmack am besten erhalten wird. Und da sind Dosen den Flaschen überlegen. GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
Greg Koch, 52, ist einer der bekanntesten amerikanischen Kreativbrauer. Vor 21 Jahren gründete er die Brauerei Stone Brewing, heute eine der zehn größten Craft-Brauereien in den USA. Vor wenigen Monaten eröffnete Stone Brewing eine Dependance in Berlin.
Interview: Nils Klawitter
(ANZEIGE 17.01) DER NACHDRUCK DIESER ANZEIGE IST ERWÜNSCHT
ANTIKORRUPT + JUGENDHILFEWATCH INFORMATIONEN FÜR VÄTER UND MÜTTER Der Film des Ersten Deutschen Fernsehens „Mit Kindern Kasse machen“ (siehe im Internet: ARD Mediathek) ist nur ein Beweis für die dunkle Seite der so genannten Deutschen Jugendhilfe. Viele Jungendämter in Deutschland sind seit Langem dafür bekannt, dass sie Gesetze und höchstrichterliche Urteile bewusst ignorieren oder falsch darstellen. Neuester Fall: Die Stadt München lässt für ihr Jugendamt bezüglich eines Vaters bei Gericht Folgendes vortragen: Erst seit seinem Anerkenntnis der Vaterschaft beim Jugendamt ist er im Rechtssinn Vater des Kindes. Vor diesem Zeitpunkt standen ihm keine Elternrechte zu.
Offenbar sollen dem Vater mit dieser falschen Behauptung die ihm laut §1684, Abs.1 und 2 BGB zustehenden Elternrechte aberkannt werden. Und dem Kind das ihm zustehende Umgangsrecht gemäß § 1684 BGB. Bereits am 9. April 2003 beschloss dazu das Bundesverfassungsgericht (siehe Internet: 1 BvR 1493/96, 1 BvR 1724/01): „Auch der biologische Vater bildet mit seinem Kind eine von Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz geschützte Familie, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht. Der Grundrechtsschutz umfasst auch das Interesse am Erhalt dieser Beziehung. Es verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz, den so mit seinem Kind verbundenen biologischen Vater auch dann vom Umgang mit dem Kind auszuschließen, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient.“
FRAGE DAZU VON ANTIKORRUPT + JUGENDHILFEWATCH: Wie dunkel und wie verbreitet ist das Geschäft mit der Jugendhilfe? ANTIKORRUPT + JUGENDHILFEWATCH INFORMIEREN ÜBER DIE RECHTE VON ELTERN UND KINDERN. SIE WOLLEN DIESE VOR DER VERBREITETEN BEHÖRDENWILLKÜR IM BEREICH DER JUGENDHILFE SCHÜTZEN. HERAUSGEBER DIESER ANZEIGE „INFORMATIONEN FÜR VÄTER UND MÜTTER“ C/O JÖRG WÜNNENBERG, BONGARDSTRASSE 2, 44787 BOCHUM
Kacke am Dampfen Landwirtschaft Düngemittel beeinträchtigen die Wasserqualität in Deutschland massiv. Dank der Lobbyarbeit der Bauern hat die Politik das lange ignoriert. Jetzt aber kommt Druck von der EU.
V
orsicht, diese Geschichte handelt gen. Viehhalter und Biogasproduzenten ist von Scheiße. Von Kuhfladen und es zu verdanken, dass die Nitratbelastung Schweineschiss, von Putenkot, Hüh- in den letzten zehn Jahren in bestimmten nerkacke, Bullenpisse. Davon, wie die Ex- Regionen massiv gestiegen ist. Im schlimmsten Fall, sagt Egon Harms, kremente auf Feld und Wiese verteilt werden. Sie sollen die Pflanzen nähren, in Mas- müssten die Wasserwerke irgendwann Entsen aber verschmutzen sie das Grundwasser. salzungsanlagen bauen, wie man sie aus Donnerstagmorgen im niedersächsischen Dubai kennt, wo das Trinkwasser aus dem Nethen. Die Realität der industriellen Land- Meer gewonnen wird. Die Bundesregierung kennt das Problem wirtschaft befindet sich in einem Röhrchen mit der Probennummer 20 170 404, gezo- seit Jahren. Getan hat sie nichts – trotz gen Anfang Januar in der Weser-Ems- der dringenden Empfehlungen von gleich Region, einem Zentrum der deutschen In- drei beratenden Gremien: für Agrarpolitik, tensivtierhaltung. Aus zwölf Meter Tiefe Dünge- und Umweltfragen. Die Wissenschaftler und Experten forhaben Mitarbeiter des Oldenburgisch-Ostfriesischen Wasserverbands (OOWV) Was- dern ebenso wie das Bundesumweltminisser abgezapft. Jetzt wird die Probe auf ih- terium seit Langem radikale Düngebeschränkungen zum Schutz des Grundwasren Nitratgehalt untersucht. Nachdem die Laboranten das Wasser sers und der Artenvielfalt. Denn das Nitrat durch einen Ionen-Chromatografen gejagt kommt vor allem über die Gülle, Kunsthaben, erscheint auf dem Computerbild- dünger und Gärreste in den Boden. Ziemlich sauer reagierte deshalb der schirm ein Wert von 146 Milligramm. Im deutschen Trinkwasser sind 50 Milligramm Bundesverband der Energie und WasserNitrat pro Liter erlaubt, denn der Stoff gilt wirtschaft (BDEW), als die Regierung am als potenziell gesundheitsgefährdend. Der 3. Januar den Nitratbericht 2016 ablieferte: Grenzwert wird also um fast das Dreifache Es gab wieder kaum eine Besserung. An 28 Prozent aller Messstellen überschreitet überschritten. Egon Harms ist beim Wasserversorger das Nitrat den im Trinkwasser erlaubten OOWV für die Qualität des Trinkwassers Grenzwert; 65 Prozent der Messstellen an zuständig. Er hat Unterlagen, die zeigen, Seen und Flüssen registrierten mehr als wer für die Nitratbelastung verantwortlich eine mäßige Phosphorbelastung. Die Stofist: In Niedersachsen werden 2,6 Millionen fe führen zu verstärktem PflanzenwachsRinder, 10 Millionen Schweine und 100 tum, etwa von Algen, in den Gewässern. Millionen Hühner gehalten. Sie produzie- „Die Bundesregierung muss endlich das ren knapp 50 Millionen Tonnen Gülle und Düngerecht verschärfen und Kontrollen Mist pro Jahr. Dazu kommen mehrere Mil- einführen“, fordert BDEW-Hauptgeschäftslionen Tonnen Gärreste aus Biogasanla- führer Martin Weyand. Seit fast zwei Jah-
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ren werde die Umsetzung eines wirksamen Düngerechts verschleppt. Mit der Folge, dass das Wasser immer aufwendiger gesäubert werden müsse. „Es kann nicht sein, dass am Ende der Steuerzahler und Verbraucher für die Sünden der industriellen Landwirtschaft geradesteht“, sagt Weyand. Warum aber hat die Bundesregierung nicht gehandelt? Man könnte das fahrlässig nennen. Oder es der gezielten Lobbyarbeit zuschreiben, die seit Jahren von fleißigen Bauernlobbyisten betrieben wird. Von Leuten wie Franz-Josef Holzenkamp zum Beispiel. Der CDU-Abgeordnete und Landwirtschaftsmeister stammt aus dem Landkreis Cloppenburg, ebenfalls im Weser-Ems-Gebiet. Lange Zeit war er Vizepräsident des niedersächsischen Bauernverbandes „Landvolk“. Als agrarpolitischer Sprecher seiner Fraktion hat Holzenkamp besonders viel Macht im Ringen um die Düngeverordnung. In seiner Rolle als Landwirt hat Holzenkamp allerdings wenig Interesse an strengeren Regeln. Auch nicht als Agrarlobbyist: Er steht dem Aufsichtsrat der Agravis Raiffeisen AG vor, die mit Düngemitteln handelt. Für diese Funktion kassiert der 57-Jährige nach Angaben der Bundestagsverwaltung zwischen 84 000 und 180 000 Euro im Jahr. Kann ein Politiker frei über Themen entscheiden, die ihn auch als Aufsichtsrat berühren? Hat ein Aufseher nicht eine Fürsorgepflicht für sein Unternehmen? Holzenkamp weist einen Interessenkonflikt „in aller Deutlichkeit“ zurück.
MARTIN WAGNER / IMAGO
Traktor beim Miststreuen
Wirtschaft
Der Entwurf, der jetzt vorliegt, ist ein fen müssen, rausgegangen sei aber nur ein Kompromiss – der den einen zu weit geht, Drittel. Ungestraft. Auch der Nährstoffbericht Schleswig-Holstein zeigt, dass sich den andere aber gern verhindert hätten. So habe ein Landvolkverband nahe nur etwa die Hälfte aller Landwirte an die Cloppenburg seine Mitglieder aufgerufen, Grundsätze der guten fachlichen Praxis möglichst viele Eingaben zu formulieren, halten, die sie so gern zitieren. Unmöglich ist das nicht: Ihre Kollegen um den Prozess zu lähmen, berichtet Niedersachsens grüner Landwirtschaftsminis- in Dänemark und den Niederlanden wirtter Christian Meyer. 600 Stellungnahmen schaften mit deutlich strengeren Düngeseien beim Ministerium eingegangen – fast gesetzen. Einen großen Haken hat die Stoffstromalle kamen aus Niedersachsen. Klar ist: Wird der Entwurf zum Gesetz, bilanz allerdings: Sie soll von 2018 an nur für Großbetriebe mit hohem Viehist er eine Verbesserung. Dann würden auch die Gärreste aus bestand gelten, erst von 2023 an müssen Biogasanlagen begrenzt und kontrolliert. alle bilanzieren. Ein „trojanisches Pferd“ nennt das der Auch die Zeiträume, in denen nicht gedüngt werden darf, sollen verlängert wer- Grünen-Abgeordnete und Biobauer Friedden. Bei Zuwiderhandlung gegen die Stick- rich Ostendorff deshalb. Er hat errechnet, stoffobergrenze droht jetzt eine Zwangs- dass nur ein Bruchteil der Tiere Einzug in beratung, dann ein Bußgeld. Ebenfalls neu: die Bilanz fände. Nötig wäre, alle in die Die Gülle muss innerhalb einer Stunde in Rechnung aufzunehmen. Ostendorffs Meinung wird von vielen den Boden eingearbeitet werden, um klimaschädliche Ammoniakemissionen zu Kennern geteilt, auch vom Kieler Professor Friedhelm Taube, Experte im agrarpolitiminimieren. Das Herzstück der Reform jedoch ist die schen Beirat. Dennoch begrüßt er die NoEinführung einer Hoftorbilanz, die so nicht velle als einen richtigen Schritt. Trotz aller heißen darf, weil der Begriff eine Forde- Schwächen stelle das neue Düngepaket eirung der Grünen ist. Sie heißt jetzt „Stoff- nen Paradigmenwechsel dar: „Erstmals strombilanz“ und soll erstmals verpflich- steht die Vermeidung negativer ökologitend alle Nährstoffe auflisten, die in einen scher Effekte gleichberechtigt neben der Betrieb rein- und aus ihm rausgehen: Wie Pflanzenernährung, erstmals ist die Ertragsviel Futter ist reingekommen, wie viel maximierung nicht wichtiger als die ÖkoDünger gekauft worden, was wurde geern- effizienz. Damit werden die guten Betriebe tet, wie viel verkauft? Betrug und Schwin- für die Einhaltung der Regeln belohnt.“ Weniger gnädig äußert sich Manfred del, wie er bei der bisherigen Feld-StallBilanz leicht möglich war, werden damit Niekisch, Professor für internationalen Naturschutz und im Beirat für Umweltfragen: erschwert. Das Verständnis der Bauern für die Dün- „Das ist kein Paradigmenwechsel. Die gebeschränkungen ist wenig ausgeprägt, Schwächen im neuen Entwurf sind nicht sagt Minister Meyer. Die Region Cloppen- beseitigt.“ Nach wie vor richteten sich das burg-Vechta habe nach seinen Zahlen zwei Düngegesetz und die Düngeverordnung Drittel der Gülle aus der Region wegschaf- danach aus, was für die Bauern praktikabel sei, und nicht nach den Lösungen des Stickstoffproblems. Die Maßnahmen seien insgesamt zu schwach, der Vollzug und die Kontrolle bisher noch ungenügend, um wirklich eine spürbare Entlastung zu bringen, so Niekisch. „Mit dieser Düngeverordnung wird es nicht gelingen, die Vorgaben der EU zu erfüllen.“ Die Wasserversorger teilen seine Skepsis. Statt Ressortgerangel und Interessenausgleich wünscht sich Niekisch eine zentrale Strategie aus dem Kanzleramt. „Das Stickstoffproblem wird von der Bundesregierung sträflich unterschätzt.“ Um es zu lösen, müsste nach Meinung von Niekisch eine Agrarwende eingeleitet werden. „Den Bauern, die sich selbst so gern als Bewahrer der Scholle sehen, sollen öffentliche Gelder nur noch zukommen, wenn sie auch öffentliche Güter wie gesunde Nahrung und gesunde Umwelt produzieren. Das wäre der Paradigmenwechsel, den wir brauchen.“ Wasserwerker Harms NIKOLAI WOLFF / DER SPIEGEL
Interne Unterlagen aus dem Landwirtschaftsausschuss zeigen, wie er sich im Parlament für seine Klientel eingesetzt hat. Als das Gremium im Juli 2015 einen Vertreter der EU-Kommission empfing, waren die Entwürfe für die neuen Düngeregeln so gut wie fertig. Der Brüsseler nannte die Nitratbelastung durch Massentierhaltung in Deutschland ein „erhebliches Problem“. Holzenkamp konterte: Die Regeln dürften nicht zu bürokratisch werden, damit die Bauern „nicht noch mehr hinter den Schreibtisch geschickt würden“. Danach passierte anderthalb Jahre lang – nichts. Holzenkamp ist nicht der Einzige, der gegen eine schärfere Düngeverordnung lobbyiert. Im Landwirtschaftsausschuss sitzen weitere Interessenvertreter aus dem Umfeld der Bauernverbände. Etwa der CDU-Mann Johannes Röring, Präsident des westfälisch-lippischen Landwirtschaftsverbandes. Er hat einen Biogasbetrieb gegründet und hält Posten in zahlreichen landwirtschaftsnahen Unternehmen. Oder der CDU-Politiker Waldemar Westermayer, seit 1995 Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Allgäu-Oberschwaben. Er lehnte im Juli 2015 die Verschärfung der Düngeregeln ab, weil die „Landwirtschaft damit an den Pranger gestellt und wirtschaftlich benachteiligt“ werde. Wie kaum eine andere Berufsgruppe haben es die Bauern geschafft, ihre Interessen im Bundestag zu sichern. In den entscheidenden Ausschüssen sitzen treue Vasallen. Wenn sie nicht direkt im Verband aktiv sind, bekleiden sie Posten in Beiräten und Aufsichtsräten landwirtschaftsnaher Betriebe. Da wundert es wenig, dass die Düngeverordnung bis heute nicht verschärft wurde, 25 Jahre nach der Verabschiedung der EU-Nitratrichtlinie. Nun aber, unter dem Druck der EU, soll eine Novellierung des Düngegesetzes kommen. Denn im April vergangenen Jahres verklagte die Europäische Kommission Deutschland nach mehrfacher, aber wirkungsloser Warnung wegen des anhaltenden Verstoßes gegen die Nitratrichtlinie. Wird die Bundesrepublik verurteilt, droht eine empfindliche Strafe plus weitere Zahlungen für jeden Tag, an dem der Verstoß anhält. Es geht um viele Millionen. Eine solche Ohrfeige scheint die Regierung im Wahljahr nicht gebrauchen zu können – nur so ist zu erklären, warum sich nach langem Stillstand nun doch etwas tut. Am Mittwoch dieser Woche kamen Vertreter von Bund, Ländern und den Koalitionsfraktionen zusammen. Ausgerechnet CDU-Mann Holzenkamp verkündete hinterher, man habe „im Grundsatz eine Einigung über die Inhalte von Düngegesetz und Düngeverordnung erzielt“. Er sei zuversichtlich, „dass die Koalitionsfraktionen das Düngegesetz noch im Januar abschließend beraten können“.
Entsalzungsanlagen wie in Dubai
Sven Becker, Michaela Schießl DER SPIEGEL 3 / 2017
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Wirtschaft
Ende einer Klasse RONNY HARTMANN / DDP IMAGES
Luftfahrt Ein Flug in der First Class war einmal der Gipfel des Luxus. Doch heute bleiben die Liegesessel oft leer. Sie gelten als Verschwendung.
L
uxus kann ein Problem sein, vor allem wenn er nicht nach Luxus aussehen darf, nach Überflüssigem und Unnötigem, nach Vergeudung und Verschwendung. Geschäftsreisende von einer bestimmten Einkommensklasse an kennen das Dilemma: Fünfsternehotels sind als Herberge zwar angenehm, machen sich aber schlecht auf der Spesenabrechnung. Und Flüge in der First Class sind bei den Kostenkontrolleuren in den Unternehmen etwa so beliebt wie der Economy-Fertigfraß bei Gourmets. Weil reisende Manager die Fünfsterneetablissements meiden, hat sich unter den Edelhotels eine eigene Unterklasse entwickelt: Häuser, an denen draußen nur vier Sterne kleben, die aber drinnen Komfort für fünf bieten. Am Ende ist die Rechnung nicht viel billiger, aber die Sache sieht verantwortungsvoller aus. Flüge in der First Class sind noch einmal eine andere Kategorie. Sie gelten als derartiger Luxus, dass sie die moralische Integrität selbst von Bischöfen und Gewerkschaftsbossen infrage stellen können. Der eine wollte es auf dem Rückweg aus den indischen Slums gemütlich haben. Der andere machte sich einen geldwerten Edelfreiflug zunutze, während die Kollegen für ein paar Euro mehr Gehalt streikten. Immerhin kostet ein First-Class-Flug nicht nur ein paar Hundert Euro mehr als die Reise in einer niedrigeren Kategorie, sondern ein paar Tausend. Abgesehen von Geistlichen und Arbeiterführern nutzen deutsche Spesenflieger den vornehmsten Teil der Kabine selten. 2015 war es nicht einmal mehr jeder hundertste Fluggast. Die First ist – außer bei Meilen-Upgradern – derart unbeliebt, dass Lufthansa und Co. sie auf vielen Strecken abgeschafft haben. Zwar gibt es noch in zwei von drei Lufthansa-Langstreckenjets eine First Class, allerdings wurde die Zahl der Sitze von 16 auf 8 halbiert. Und auch davon wird im Schnitt nicht einmal die Hälfte gebucht. Die teuren Liegesessel bleiben einfach leer. Das hat allerdings nicht so sehr mit ökonomischer Vernunft oder moralischer Erkenntnis zu tun: Tatsächlich hat sich die First überholt. Außer als Statussymbol 76
DER SPIEGEL 3 / 2017
First-Class-Kabine in einem Emirates-Jet: Manchen Reisenden zu popelig
taugt sie zu nichts mehr. Der Komfortvor- nessclass auf – auf mal mehr, mal weniger sprung zur nachfolgenden Kategorie ist ein- originelle Art. Austrian Airlines etwa verkleidet ein Mitglied des Kabinenpersonals fach zu gering. Vergleicht man einen Businesssitz von mit einer Kochmütze, um den Eindruck zu vor zehn Jahren mit aktuellen Modellen, erwecken, das Essen aus der Bordkombüse ist der Fortschritt an Bequemlichkeit groß. sei einzigartig. Die einzige Klientel, die sich vom Reisen Bei Lufthansa gab es nicht einmal einen Bettsessel, stattdessen platzierte die Linie in der teuersten Kategorie noch etwas verihre Kundschaft auf störanfälligen Schaum- spricht, sind Privatreisende. Die müssen gummimonstern, die eher an eine Rutsche den Luxus nur vor sich selbst rechtfertigen. erinnerten als an eine Schlafgelegenheit. Und manchen Reisenden ist offenbar sogar Heute sind nahezu waagerechte Liegen – die First zu popelig. Die arabische Linie Etihad setzt deshalb einst Alleinstellungsmerkmal der First – Standard in der Businessclass großer Linien. gegen den Trend noch einen drauf und hat Dazu kommt, dass immer mehr Fluglinien „The Residence“, eine Klasse oberhalb der eine Zwischenklasse zwischen Business und First, etabliert. Hier ist der Abstand zur Economy gequetscht haben – Premium Eco- Business auch wieder deutlich. Es gibt ein nomy genannt. Dieser Zwitter wurde auch Zweizimmerkabuff und ein privates Badekreiert, um das Spesendilemma des mittle- zimmer mit Dusche für jeden Passagier. Für Normalflieger ist der Alltag ohnehin ren Managements zu lösen. Der Komfortgewinn zur Economy Class ein anderer. Hier ahnt der Kunde, warum ist aber oft deutlich. Bei Singapore Airlines er im Flugjargon als „selbstladende Fracht“ wird in der Zwischenklasse sogar Champa- bezeichnet wird. Nach ein paar Reihen gner ausgeschenkt, Lufthansa reicht immer- beginnt das Elend: Während vorn das hin ein Täschchen mit Schlafmaske und Kabinenpersonal die Reisenden noch mit Socken. Und die Premium Economy bei Nüssen oder kalter Platte bei Laune hält, Air New Zealand ist fast schon eine Busi- gibt es hinten nicht einmal mehr einen ness light – mit vom Massenpublikum ab- Schokoriegel – gegessen werden muss zu geschirmten Sitzen und persönlicher An- Hause. Gegen die Begrenzung der Beinfreiheit sprache durch die Crew. Warum also sollte man noch First flie- haben sich Plastikkeile für rund 20 Euro gen? Etwa wegen des Kaviars, der roten mit dem Namen „Knee Defender“ einen Rosen oder der Schlafanzüge, die Lufthan- Namen gemacht – eingeklemmt zwischen sa dort verteilt? Oder wegen der Luxus- der Sitzlehne des Vordermanns und dem Lounges am Flughafen? Zwar ist das 1800 eigenen Tischchen verteidigen sie den letzQuadratmeter große Lufthansa-First-Class- ten Rest von Komfort am unteren Ende Terminal am Frankfurter Flughafen gut be- der Klassengesellschaft. Viele US-Linien leumundet – mit Wannenbädern, Restau- haben sie bereits verboten. Martin U. Müller rant und persönlichem Betreuer. Doch wer Mail:
[email protected] während des Fluges vor allem genügend Video: Raum zum Schlafen sucht, ist mit einem Was bietet die First Class? Businesssitz ausreichend bedient. Viele Fluglinien verzichten ganz auf eine spiegel.de/sp032017first First Class und werten stattdessen ihre Busioder in der App DER SPIEGEL
Medien
Verschweigen der Männer Presserecht Komikerin Carolin Kebekus geht gegen Journalisten vor, die über ihr Privatleben schreiben. Ihr Anwalt bemüht Rumpelstilzchen und Hitler.
Raab vertritt. „Bild“, so ist zu hören, will nicht klein beigeben. Auch Köln-ReporterChef Büscher mag sich von seiner Niederlage in erster Instanz nicht entmutigen lassen: „Ich bin Journalist, nicht der verlängerte Arm eines Promi-Managements.“ Vor Jahren will der Kölner „Express“ Kebekus und Somuncu knutschend auf einer After-Show-Party erwischt haben. Für Büscher ein erster Beweis, dass Kebekus ihre Zuneigung nicht konsequent verborgen habe. Vor Gericht half ihm das jedoch ebenso wenig wie der Umstand, dass Köln Reporter seine Zeilen über Kebekus und
THOMAS RABSCH / LAIF
STEFAN FINGER / LAIF
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as einen echten Kerl ausmacht, darüber redet Carolin Kebekus auf der Bühne gern: „Ein Mann muss dreckig sein oder am besten noch irgendwo bluten, vom Schwertkampf oder so.“ Wozu die Komikerin nichts sagt: ob sie privat einen Mann an ihrer Seite hat. Oder in jüngster Zeit hatte. Geschweige denn, wen. Deutet eine Zeitung auch nur an, Kebekus sei mit einem Kollegen zusammen oder es einmal gewesen, bekommt sie es mit dem Anwalt der 36-Jährigen zu tun. So erging es auch dem Onlineportal Köln Reporter. 2014 war dort ein Porträt über Kebekus zu lesen, das die Bemerkung enthielt: „Hat sie seit Jahren ein Verhältnis mit dem bekannten türkischstämmigen Kabarettisten Serdar Somuncu? So genau weiß das keiner.“ Kebekus sah ihre Privatsphäre verletzt und ließ Köln Reporter abmahnen. Chefredakteur Tobias Büscher weigerte sich zunächst, die Passage zu entfernen, unterlag jedoch vorigen Mai vor dem Landgericht Köln. Büscher schwärzte – und ging in Berufung. Am 2. Februar beschäftigt der Fall das Kölner Oberlandesgericht. Es gibt Prominente, die servieren der Öffentlichkeit jede neue Liebschaft auf dem Silbertablett. Andere schützen alles Persönliche. Zu den Schweigern gehören die Entertainer Harald Schmidt und Stefan Raab. Mit wem sie Bad und Bett teilen, ist für Journalisten deshalb tabu. Auch handelt es sich jeweils um Frauen, die nicht prominent sind. Somuncu hingegen gehört wie Kebekus zu den bekannten deutschen TV-Gesichtern. Im Fall Kebekus geht es darum, wie die Freiheit der Berichterstattung Millimeter für Millimeter enger gezogen wird – und nun schon der Familienstand Prominenter zur Verbotszone erklärt wird. Und das, obwohl sich Kebekus offenbar nicht ausreichend bemüht hat, die Beziehung unterm Deckel zu halten. Im Dezember enthüllte „Bild“, Kebekus und Somuncu seien „heimlich verheiratet“. Als Beleg diente unter anderem ein Dokument mit dem Namen „Carolin Somuncu“. Umgehend trat Kebekus’ Anwalt Heiko Klatt auf den Plan, der seit Jahren auch
Kabarettisten Kebekus, Somuncu „Pärchenurlaub“
Somuncu mit dem Zusatz „so genau weiß das keiner“ aufgefangen hatte. KebekusAnwalt Klatt konterte, der Satz sei ironisch, ebenso gut hätte man sich des Rumpelstilzchen-Zitats „Ach, wie gut, dass niemand weiß“ bedienen können. Nicht zielführend war auch der Hinweis von Büschers damaligem Verteidiger, der Text sei harmlos im Vergleich zur „derben Ausdrucksweise der Klägerin“ mit Sprüchen wie „Ich hatte einen versaut-verstörenden Traum mit Lukas Podolski“. Anwalt Klatt hielt dagegen, die Kunstfigur Kebekus lasse keine Rückschlüsse auf das Privatleben zu. Büscher nehme doch auch nicht an, dass „Tatort“-Star Jan Josef Liefers im wahren Leben als Rechtsmediziner arbeite. Stattdessen bemühte Klatt einen anderen bekannten Namen: Adolf Hitler. Somuncu, geboren in Istanbul, wurde bekannt durch satirische Lesungen aus Hitlers Machwerk „Mein Kampf“. Immer wieder habe der Künstler seither Probleme mit Neonazis gehabt, berichtete Klatt. Häufig trage Somuncu deshalb auch im Privatleben eine kugelsichere Weste und müsse Polizeischutz in Anspruch nehmen. Wenn durch Berichterstattung „der Eindruck erweckt werde, dass die Klägerin mit Somuncu ein Verhältnis habe“, so Klatt, werde dadurch „das Gefährdungspotential für die Klägerin erheblich erhöht, da sie dadurch ebenso in den Fokus gewaltbereiter Chaoten und Neonazis gerät“. Sie müsse dann ähnliche Maßnahmen zur Sicherung ihres Lebens treffen, „was auch in der Vergangenheit bereits passiert ist“. Doch Kebekus braucht Somuncu nicht, um sich Feinde zu machen. Was sie von Hakenkreuzschmierern und Pegida-Anhängern hält, schmetterte sie diesen 2015 in einem Video entgegen, für das sie Sarah Connors Lied „Wie schön du bist“ umgedichtet hatte in „Wie blöd du bist“. In einem anderen Clip räkelt Kebekus sich, verkleidet als Frauke Petry, auf schwarz-rotgoldenen Flaggen und singt: „Die Bitch der AfD, die bin ich“. Zum Problem muss für Kebekus vor Gericht aber ein Foto werden, das Entertainer Niels Ruf bei Instagram gepostet hat. Es zeigt ihn, eine weitere Person sowie Kebekus und Somuncu. Dazu die Zeile: „Pärchenurlaub“. Der Eintrag steht dort seit 21 Wochen. Dass Kebekus ihren Bekannten nicht um Löschung bat, dürfte ihr als sogenannte Selbstöffnung ausgelegt werden. Dasselbe gilt für ihre Facebook-Seite, auf der Fans eine Zeitlang über eine Liaison mit Somuncu spekulieren durften. Glaubt man „Bild am Sonntag“, sieht die Welt der beiden schon wieder anders aus. Im Dezember, zwei Tage nach der „Bild“Enthüllung, berichtete die Zeitung über die angebliche Trennung. Zu sehen waren zwei Fotos von Kebekus’ rechter Hand. Einmal mit Ring. Einmal ohne. Alexander Kühn DER SPIEGEL 3 / 2017
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Weiße Grenze Auf Motorschlitten patrouillieren finnische Soldaten an der 1340 Kilometer langen Grenze zu Russland. Seit Finnland vor hundert Jahren seine Unabhängigkeit erklärte, gab es immer wieder Spannungen zwischen den Ländern. Zuletzt im vergangenen Jahr, als russische Kampfjets in den finnischen Luftraum eindrangen – weswegen man im neutralen Finnland erneut eine Nato-Mitgliedschaft diskutiert.
Raus aus dem Schatten Selbst seine Beisetzung am Dienstag war ein politischer Akt, begleitet von demonstrativen Verneigungen und lauten Protesten. Unter den Hunderttausenden, die dem Sarg Akbar Hashemi Rafsanjanis durch die Straßen Teherans folgten, huldigten die einen dem einstigen Präsidenten, der Iran nach dem Krieg gegen den Irak wiederaufzubauen half. Schon in den Achtzigerjahren verhandelte er mit allen, sogar mit den USA und Israel, wenn es den Interessen seines Landes – oder den eigenen – diente. Im Heer der Trauern80
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den aber gab es auch Solidaritätsbekundungen für die unter Hausarrest stehenden Anführer der brutal erstickten Grünen Revolte; mit jener Bewegung hatte Rafsanjani 2009 sympathisiert. Als sein Sarg schließlich im Mausoleum des Staatsgründers Ajatollah Khomeini beigesetzt wurde, verneigte sich dennoch die Staatsspitze pflichtschuldig vor dem Mann, den sie bis zu dessen letztem Atemzug im Alter von 82 Jahren auch gefürchtet hatte: Dem Revolutionsführer Ali Khamenei hatte Rafsanjani schwere Fehleinschätzungen im Atomstreit angelastet. Eigentlich wollte Rafsanjani 2013 selbst noch einmal Präsident wer-
den. Das aber verhinderte der Wächterrat. Der Theologe, der es zu einem der reichsten Männer des Landes gebracht hatte, war in seinem Pragmatismus ein Mittelsmann zwischen Reaktionären und Reformkräften. Mit ihm
verliert Präsident Hassan Rohani einen charismatischen Unterstützer. Das wird ihn schwächen, bietet ihm aber auch die Chance, einen Teil des Vakuums zu füllen. Den reformhungrigen Iranern wäre es zu wünschen. dbe
Rohani (M.) bei Rafsanjanis Beerdigung
ANADOLU AGENCY
Iran
Ausland Indien
„Wir waren Modis Trolle“ Jahre lang ehrenamtlich für die Partei BJP des indischen Premiers Narendra Modi gearbeitet. In dem neuen Buch der Journalistin Swati Chaturvedi erzählt sie, wie sie im Auftrag der Partei politische Gegner im Internet attackierte.
ALESSANDRO RAMPAZZO / ECHO PHOTOJOURNALISM
SPIEGEL: Woher bekamen Sie
Fußnote
3126 Prozent höher als der Grenzwert erlaubt, lag diese Woche zeitweise die Feinstaubbelastung im südpolnischen Rybnik. Wegen des Smogs riefen die Behörden im Land dazu auf, möglichst nicht auf die Straße zu gehen. In Warschau wurde die Obergrenze um das Zehnfache überschritten. Die Luft im Land ist so verschmutzt, weil die Polen überwiegend noch mit Kohle und völlig veralteten Öfen heizen.
Ihre Aufträge? Khosla: Wir waren in WhatsApp-Gruppen organisiert, in denen wir über Politik diskutiert oder uns zu Treffen verabredet haben. Über diesen Kanal erhielten wir auch Aufforderungen von der Parteispitze, bestimmte Personen zu diffamieren. Es gab regelrechte Abschusslisten. SPIEGEL: Zum Beispiel? Khosla: Viele Politiker waren darunter, aber auch Presseleute wie die Journalistin
AHMER KHAN / THE GUARDIAN
Sadhavi Khosla, 36, hat zwei
Khosla
Barkha Dutt, die immer wieder kritisch über Modi berichtet hat. Als ihr neues Buch erschien, sollten wir bei Amazon schlechte Bewertungen hinterlassen, um die Verkaufszahlen zu drücken. Im Prinzip waren wir Modis Trolle. SPIEGEL: Warum haben Sie aufgehört? Khosla: 2015 hat der Schauspieler Aamir Khan in einem Interview die „steigende Intoleranz“ im Land angeprangert. Daraufhin sollten
wir durch Petitionen eine große Firma dazu bringen, ihren Werbevertrag mit Khan nicht zu verlängern – was sie auch tat. Für mich war das der Wendepunkt. Schauspieler wie Aamir Khan und Shah Rukh Khan waren für mich immer Helden gewesen. In Modis Indien aber gelten sie vor allem als eines: Muslime, die nicht hierhergehören. SPIEGEL: Die BJP besteht darauf, dass die Partei Anhänger nie zur Hetze aufgefordert habe. Sie hingegen würden für die Opposition arbeiten. Khosla: Das ist nicht wahr. SPIEGEL: Was erleben Sie seit Erscheinen des Buchs? Khosla: Die Autorin und ich werden online beschimpft und bedroht. Mit Mord oder Vergewaltigung. lh Swati Chaturvedi: „I am a Troll: Inside the Secret World of the BJP’s Digital Army“. Juggernaut Publication, 192 Seiten, 22,75 Euro.
Analyse
Angreifbar Ein Skandal zu viel: Es wird eng für Israels Premier Netanyahu. Benjamin Netanyahu ist nicht nur israelischer Regierungschef. Er ist auch Kommunikationsminister. In beiden Funktionen hat er oft gezeigt, dass er nicht viel hält von einer freien Presse. Vor diesem Hintergrund wirkt sein jüngster Skandal besonders anrüchig: Auf Tonaufnahmen soll zu hören sein, wie Netanyahu mit Arnon Mozes, Chef von „Yedioth Ahronoth“, einer der größten Tageszeitungen des Landes, über eine wohlwollende Berichterstattung verhandelt. Mozes gilt als langjähriger Widersacher Netanyahus. Von dessen Zeitung fühlte sich der Premier immer besonders schlecht dargestellt. Er werde alles tun, um Netanyahu an der Macht zu halten, soll der Publizist angeblich versprochen haben. Journalisten sollen ausgetauscht werden – der Premier könne seine Wunschliste einreichen. Als Gegenleistung bot Netanyahu offenbar ein Gesetz an, das die erfolgreiche Gratiszeitung „Israel Hayom“ schwächen soll. Netanyahus dreister Versuch, sich eine freundliche Presse zu erkaufen, untergräbt das Vertrauen in den Premier – wohl noch mehr als seine anderen Verfehlungen. Dass er sich teure Zigarren und Champagner von Geschäftsleuten schenken ließ, können ihm
viele Israelis eventuell noch durchgehen lassen. Auch der innerhalb des Militärs umstrittene Kauf weiterer atomwaffenfähiger U-Boote, von dem ein Vertrauter Netanyahus finanziell profitiert haben soll, lässt sich noch als Sicherheitsmaßnahme schönfärben. Doch die Geschichte mit Mozes? Sie riecht nach Kontrollwahn, Paranoia und Hybris, nach zwei Männern in Machtpositionen, die glauben, für sie würden keinerlei Regeln gelten. Für Netanyahu ist das ein Problem, denn die Ultrarechten stilisieren ihn ohnehin als Eliteschnösel. Und in die politische Mitte drängt derzeit erfolgreich der Politaufsteiger Yair Lapid, ein ehemaliger TVNachrichtenmoderator mit supersauberem Image. Netanyahu ist plötzlich angreifbar wie nie zuvor. Rechtsexperten sowie Quellen in Polizei und im Justizministerium sind davon überzeugt, dass es für eine Anklage ausreicht. Dann müsste Netanyahu wohl zurücktreten. Er sah sich stets von den Medien und besonders von Mozes verfolgt: Dieser wolle seine Regierung zu Fall bringen, hatte Netanyahu immer gesagt. Nun sieht es so aus, als könnten der Premier und sein alter Feind Mozes gemeinsam stürzen. Nicola Abé DER SPIEGEL 3 / 2017
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USA Die Hoffnung, Donald Trump könnte im Weißen Haus ruhiger, reifer, präsidialer agieren, hat sich verflüchtigt. Der 45. Präsident Amerikas ist ein Mann, der wild um sich schlägt und die Welt in Gut und Böse aufteilt. Ein Psychogramm. 82
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DAMON WINTER / REDUX / LAIF
Mister Ich
Ausland
U
Am vorigen Mittwoch reagierte Trump bei Parteifreunden nichts als Fassungsm zu verstehen, wie der künftige Präsident der Vereinigten Staaten zunächst via Twitter, später bei einer Pres- losigkeit. Zu besichtigen war ein Mann, der den denkt und handelt, ist die Geschich- sekonferenz mit Aggressivität und Härte te seiner einstigen Mitarbeiterin sehr auf- auf all jene, die es gewagt hatten, Kritik Aussagen Wladimir Putins mehr Glauben schlussreich. Bekannt wurde die Frau nicht an ihm zu äußern – oder deren Verhalten schenkt als den Erkenntnissen seiner eigenen Geheimdienste. Ein Mann, der aggresetwa, weil sie sich über Trumps Umgang ihm nicht passte. Nachdem durchgesickert war, die US- siv auf jede Kritik reagierte. Der den CNNmit ihr beklagte, sondern weil er selbst sich in einem seiner vielen Bücher für die- Geheimdienste hätten Trump über mögli- Reporter Jim Acosta mit ausgestrecktem ches kompromittierendes Material in Hän- Zeigefinger einzuschüchtern versuchte sen Umgang rühmte. Trump hatte die Frau in den Achtziger- den der Russen informiert, darunter eine und ihm das Fragerecht verweigerte, weil jahren eingestellt. „Ich beschloss, etwas angebliche Pinkelorgie mit Prostituierten Trump die Berichterstattung von dessen aus ihr zu machen“, schreibt er in „Think in einem Moskauer Hotelzimmer, schlug Sender nicht passte. Es war ein Auftritt, der alles vermissen Big and Kick Ass“, einem Buch, in dem er dieser zurück. Was die Geheimdienste gedas Geheimnis seines Erfolgs mit der Welt tan hätten, sei eine „Schande“, eine „He- ließ, was man bislang von amerikanischen teilen wollte. Er habe ihr einen tollen Job xenjagd“ sei im Gange. Die Dienste hätten Präsidenten erwartete: Souveränität, gegeben. „Sie kaufte sich ein schönes „niemals zulassen dürfen, dass ,Fake News‘ Diplomatie, Zurückhaltung, Distanz zu an die Öffentlichkeit gelangten. Leben wir sich selbst. Haus.“ Trump reihte Sätze wie „Ich bin irre erAnfang der Neunzigerjahre, als seine in Nazi-Deutschland?“ Das Ganze sei „ein folgreich“, „Ich werde der größte JobproFirma in finanzielle Schwierigkeiten gera- letzter Angriff auf mich“. Seit Monaten wird über die fehlende duzent sein, den Gott je erschaffen hat“, ten war, bat Trump die Frau, einen Bekannten, der eine wichtige Position bei Reife und die mangelnde Würde Trumps oder die Feststellung „Mir gebührt da groeiner Bank bekleidete, dazu zu drängen für eines der mächtigsten und ehrwürdigs- ßes Lob“ aneinander, ohne jedes Augenzu helfen. Die Frau fühlte sich unwohl, sie ten Ämter der Welt geredet. Und dennoch zwinkern, ohne Anflug von Selbstironie. fand das unangemessen. Trump feuerte sie hinterließ sein Auftritt am Mittwoch selbst Selbst für die USA, wo die Bereitschaft, andere auf die eigenen Vorzüge hinzuweiumgehend. sen, deutlich ausgeprägter ist als in Später gründete sie ein eigenes UnterTweets von Donald Trump Deutschland, ist ein solches Maß an Selbstnehmen, ging aber pleite. „Ich freute mich lob einzigartig. riesig, als ich das herausfand“, schrieb Die Stunde des Sieges sollte eigentlich Trump in seinem Buch. Obwohl er so viel die Stunde der Demut sein. Trump aber für die Frau getan habe, „hatte sie sich gelässt seit dem 8. November keine Gelegengen mich gewandt“. heit aus, darauf hinzuweisen, wie „überIn Trumps Welt ist bereits der Anschein ragend“ sein Wahlsieg gewesen sei und von Illoyalität eine unverzeihliche Sünde. „Eine der meistüberschätzten was für ein „totales Desaster“ Hillary ClinSeinen Lesern riet er, solche Fälle mit masSchauspielerinnen in Hollywood“ ton erlebt habe. Wer nach seiner beinahe siver Vergeltung zu ahnden. Am Ende Über Meryl Streep nach ihrer Trump-Kritik versöhnlichen Ansprache in der Wahlnacht habe die Frau ihr Haus verloren, und ihr bei der Golden-Globe-Verleihung gehofft hatte, das Land erlebe fortan einen Mann habe sie verlassen, schrieb Trump. anderen Trump, sieht sich eines Besseren „Das war mir eine echte Genugtuung.“ Er belehrt. habe auch in den Folgejahren nur schlecht Am vorigen Sonntag hatte die Schauüber sie geredet: „Heute tue ich alles, um spielerin Meryl Streep Trump in ihrer Rede ihr Leben zu ruinieren.“ bei der Golden-Globe-Verleihung dafür Am Ende des Kapitels mit dem Titel „Ein paar FAKE-NEWS-Organikritisiert, dass er sich im Wahlkampf über „Rache“ rät Trump, stets Vergeltung zu sationen waren dabei, aber die Leute einen körperlich behinderten Reporter der üben. „Zaudern Sie nicht. Zielen Sie auf verstehen genau was los ist.“ „New York Times“ lustig gemacht hatte. die Halsschlagader. Schlagen Sie massiv Nach der Pressekonferenz am 11. Januar Es war Trumps Art der Rache gewesen, zurück! Wenn Sie keine Vergeltung üben, weil der Reporter ihn einer Lüge überführt sind Sie bloß ein Schlappschwanz!“ hatte. Trump schlug gegen Streep umgeDieser Hardcore-Darwinismus hat hend zurück: Die Geschichte mit dem ReTrump, der das Leben als „eine Folge von porter stimme nicht, behauptete er, obSchlachten, die mit Siegen enden können wohl es Videos gibt, die zeigen, wie Trump oder mit Niederlagen“, begreift, auf dem die körperliche Behinderung des Mannes rauen, oft grobschlächtigen Immobiliennachäfft. Streep sei „eine der meistübermarkt zu einem reichen Mann werden las„Ein letzter Angriff auf mich. schätzten Schauspielerinnen Hollywoods“, sen. Leben wir in Nazi-Deutschland?“ twitterte er, und „nichts als Hillarys HofAuf dieselben Erfolgsformeln scheint schranze“. Die meistausgezeichnete SchauTrump, der an diesem Freitag als 45. Präspielerin der Gegenwart „überschätzt“ – sident der Vereinigten Staaten vereidigt das ist die Welt nach Trumps Willen und wird, auch im neuen Amt zu setzen – mit Vorstellung. allen unberechenbaren Folgen, die das für Seine Reaktionsmuster sind immer sein Land und die Welt haben kann. In gleich, egal ob er sich von einer Mitarbeider vergangenen Woche ließ sich gleich „Betrügerische Gegner versuchen terin, einem Reporter, einer Schauspielerin mehrfach beobachten, dass Trump keinerunseren Sieg mit FAKE NEWS zu oder den Geheimdiensten schlecht behanlei Neigung zeigt, sein Auftreten der Würschmälern. Trauriger Zustand!“ delt fühlt. In seiner Vergeltung kennt er de des Präsidentenamtes anzupassen. Er Nach Warnung der US-Geheimdienste vor dem Bericht keine Abstufungen, sie ist immer maßlos. scheint weiterhin allein auf seine eigenen mit kompromittierendem Material über Trump Trumps Verhalten lässt sich sehr oft auf Regeln zu vertrauen: „Think Big and die simple Frage zurückführen: War jemand Kick Ass“. DER SPIEGEL 3 / 2017
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Ausland
sche Persönlichkeit „wie aus dem Lehrbuch“. Sein Kollege George Simon benutzt sogar Videos von Trump, um dieses Persönlichkeitsbild in Seminaren zu veranschaulichen. Zu den klassischen Verhaltensweisen zählen nach Ansicht der Experten: eine übergroße Sucht nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewunderung, die Unfähigkeit zur Empathie, das ständige Kreisen um sich selbst und grotesk übertriebenes Selbstlob. Für Narzissten ist die Welt, die sie umgibt, nur als Spiegel der eigenen Person interessant. Die Betroffenen sind so überempfindlich gegenüber Kritik, dass jeder, der ihnen Anerkennung verweigert, zum Gegner wird. Hochgradige Narzissten, auch dies eine Erkenntnis der Forschung, sind so süchtig nach Aufmerksamkeit und Bewunderung, dass sie häufig lügen. Und sie sind so überzeugt von sich selbst, dass Reue ihnen fremd ist – weil das Eingeständnis von Fehlern in ihren Augen kein Zeichen von Größe ist, sondern den Eindruck der eigenen Grandiosität schmälert. Selbstreflexion, das kritische Hinterfragen der eigenen Verhaltensweisen, hält Trump ohnehin für schädlich. „Ich mag es nicht, mich selbst zu analysieren, denn es könnte sein, dass ich nicht mag, was ich da zu sehen bekomme“, sagte Trump 2014 in einem Interview. Dies sei die hervorstechendste Eigenschaft des gesamten Clans, befand Biograf Michael D’Antonio, der unzählige Gespräche mit Trump und dessen Familienangehörigen geführt hat: „Die beharrliche Verweigerung der Reflexion. Nichts wird kritisch hinterfragt.“ Betrachtet man Trumps Reaktionen, Ankündigungen und Drohungen, lässt sich
MICHAEL KLIMENTYEV / DPA
nett oder nicht nett zu mir? Sehr viel komplexer wird es nicht. So liegt der Schlüssel zum Verständnis des neuen Präsidenten weniger in seinen politischen Aussagen oder den Motiven seiner Anhänger als vielmehr in seiner Persönlichkeitsstruktur. Trump sei ein 13-jähriger Junge im Körper eines 70-Jährigen, sagt Trump-Biograf und Pulitzerpreisgewinner David Cay Johnston. In all den Gespräche über dessen Leben sei ihm Trump wie ein kleiner Junge vorgekommen, sagt Michael D’Antonio, der andere große Trump-Biograf. „Wie ein Sechsjähriger, der vom Sportplatz heimkommt und es gar nicht abwarten kann, endlich zu verkünden, dass er das entscheidende Tor geschossen hat.“ Johnston und D’Antonio haben Hunderte Stunden mit der Aufgabe verbracht, diesen Mann zu verstehen. Überboten werden ihre Einschätzungen nur noch von Trump selbst. „Wenn ich mich zurückerinnere, wie ich als Erstklässler war, und wenn ich mich heute betrachte, muss ich sagen: Ich habe mich nicht groß verändert“, erklärte Trump vor wenigen Jahren. „Mein Temperament ist dasselbe geblieben.“ Trump weist die klassischen Sicht- und Verhaltensweisen von Menschen mit narzisstischer Störung auf. Eigentlich verbietet es das Berufsethos von Psychologen, Diagnosen aus der Ferne zu stellen. Bei Trump aber machen viele eine Ausnahme, weil er sämtliche Kriterien erfüllt. Howard Gardner, Professor für Entwicklungspsychologie an der Harvard-Universität, beschrieb den künftigen Präsidenten schon vor Jahren als „ausgeprägt narzisstisch“. Der klinische Psychologe Ben Michaelis sieht in Trump gar eine narzissti-
Trump-Förderer Putin: Der Erste, der ihm Beachtung schenkte
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vieles mit diesem Befund erklären. Da ist es kaum verwunderlich, dass er sein Verhalten nun, da er zum Präsidenten gewählt wurde, nicht einfach ändert. Er kann es schlicht und einfach nicht. Als Trump sich wochenlang gegen die Einschätzung wehrte, Russland habe mit Hackerangriffen und der Veröffentlichung interner Mails aus der Parteizentrale der Demokraten das Ziel verfolgt, ihm ins Amt zu verhelfen, sprach auch da der gekränkte Narzisst. Trump fürchtete, der Glanz seines Wahlsiegs könne geschmälert werden. Man darf davon ausgehen, dass er weiß, welche Gefahr professionelles Hacken und die Einflussnahme fremder Mächte für sein Land darstellen. In solchen Momenten aber scheint er nicht in der Lage zu sein, sich auf das größere, relevantere Problem zu konzentrieren. Er sieht nur sich, die vermeintliche Entwertung seines Wahlsiegs – mit der Folge, dass er Russlands Präsidenten Wladimir Putin oder WikiLeaks’ Julian Assange, die eine Beteiligung Russlands bestritten, mehr Glauben schenkte als den eigenen Geheimdiensten. Auch die Tatsache, dass Hillary Clinton beinahe drei Millionen Stimmen mehr erzielt hat, empfand Trump als eine so tiefe Kränkung, dass er sich zu der Aussage verstieg, er hätte locker die Mehrheit der Stimmen geholt, hätten nicht Millionen Illegale, die gar kein Wahlrecht besäßen, für Clinton gestimmt. Es gibt keinerlei Beweis für diese absurde Theorie. Dass Trump mit diesem Vorwurf die Rechtmäßigkeit der Wahl anzweifelte und das Vertrauen in den demokratischen Prozess untergrub, war ihm egal. Es gab Wichtigeres. Das eigene Ansehen. Ein Präsident, der seine eigenen Emotionen nicht hinter das Wohl eines größeren Ganzen zurückstellen kann, ist zweifellos ein Problem. Ebenso problematisch ist ein „Commander in Chief“, der Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden kann. Legendär ist inzwischen seine nächtliche Twitter-Eruption fünf Wochen vor dem Wahltag, als er ab 3.20 Uhr unablässig Tweets verfasste. Es war nicht die Lage in Syrien, die ihn umtrieb, auch nicht die Endphase des Wahlkampfs. Es ging schlicht um Rache. Rache an einer Schönheitskönigin aus dem Jahr 1996, die die Frechheit besessen hatte, sich im Wahlkampf auf Clintons Seite zu schlagen. Sie sei „ekelhaft“ und habe nach ihrer Wahl „massiv an Gewicht zugelegt“. Ein solch impulsiver Geist wird nun also mitverantwortlich für den Weltfrieden sein. Natürlich hört es niemand gern, wenn etwas Unvorteilhaftes über ihn gesagt wird. Aber die Zivilisation, die Aufklärung, die menschliche Scham oder schlicht taktisches Kalkül haben bei den meisten einen Puffer zwischen Impuls und Reaktion ge-
NEW YORK DAILY NEWS / GETTY IMAGES
Trump-Vater Fred, Models in New York 1966: „Winner takes all, loser gets nothing“
setzt. Mit Trump erlebt die Welt nun eine Wunsch, heller zu strahlen als alle anderen, ist bei der Aufstellung von FührungsmannRückkehr in archaische Zeiten. Sein Vorteil ist, dass er in einem aufge- schaften eine unglückliche Mischung. peitschten Zeitalter agiert, in dem es ein Meist führt sie zu einer Riege aus Jasagern Bedürfnis nach archaischem Reden und und blassen Gestalten. Überraschend wirkte Trumps zwischenHandeln gibt, in dem Besonnenheit und Mäßigung als „Political Correctness“ ver- zeitliches Interesse an Mitt Romney für spottet werden und taktisches Denken als den Posten des Außenministers. Der hatte Grundübel des korrupten „Establishments“ ihn im republikanischen Vorwahlkampf wie kein Zweiter kritisiert. Würde Trump gilt. Während eines Motivationsvortrags, die Größe haben, ihm dennoch einen seiden Trump vor zwölf Jahren in Denver ner wichtigsten Posten zu übertragen? hielt, forderte er sein Publikum zu äußers- Mehrfach ließ er ihn zu Gesprächen antem Misstrauen auf. „Seien Sie paranoid“, tanzen, die Trump wie ein Casting inszebeschwor er die Leute. Diese ständige nierte. Immer wieder gab er kurze ZwiAngst, hintergangen zu werden, und schenstände durch, wie sich der Kandidat Trumps Verlangen nach bedingungsloser so machte. Am Ende entschied Trump sich Loyalität bestimmten auch die Besetzung seines Kabinetts. Unter den designierten Ministern finden sich vornehmlich Men- „DIE WELT IST EIN schen, die Trump früh und lautstark un- GEFÄHRLICHER ORT, UND terstützten. Justizminister soll Jeff Sessions werden, DU MUSST JEDERZEIT der erste Senator, der sich in den Vorwah- BEREIT SEIN ZU KÄMPFEN.“ len für Trump aussprach. Als Städtebauminister fiel Trumps Wahl auf Ben Carson, obwohl der nach eigenem Bekunden kei- für Rex Tillerson, nicht für Romney. Und nerlei Ahnung von der Materie hat. Seine plötzlich wirkten all die öffentlich inszeHauptqualifikation bestand darin, dass er nierten Bewerbungsrunden wie ein Rachesich als Erster aus dem Kreis der republi- akt an Romney. „Die Welt ist ein gefährlicher Ort, und kanischen Mitbewerber freundlich über Trump äußerte. Nationaler Sicherheits- du musst jederzeit bereit sein zu kämpfen“, berater wird mit Michael Flynn ein Ex- das ist einer der zentralen Sätze, die Fred militär, der Trump schon früh vergötterte. Trump seinem Sohn Donald beibrachte. Als Chefberater im Weißen Haus berief Wenn der Vater, ein ImmobilienunternehTrump Stephen Bannon, den Chef der ul- mer, an den Wochenenden losfuhr, um pertrarechten Breitbart News, des einzigen sönlich die Miete einzutreiben, nahm er Mediums, das im Wahlkampf konsequent Donald oft mit. In den einkommensschwächeren Gegenden stand Fred Trump beim für Trump geworben hatte. In all diesen Nominierungen zeigt sich Klingeln meist neben der Haustür. Als sein eine der großen Gefahren, wenn Narziss- Sohn fragte, warum, antwortete Fred: ten in Machtpositionen gelangen. Ihr Ver- „Weil sie hier manchmal gern durch die langen nach Loyalität, gepaart mit dem Tür schießen.“
Für Donald waren diese Fahrten mit dem Vater Ansporn, „tough“ zu werden und, wie der Vater forderte, ein „Killer“, ein harter Hund, der keine Kompromisse macht, für den nur der Sieg zählt und Verlieren eine existenzvernichtende Schande ist. „Winner takes all, loser gets nothing“, dieser Satz wurde zu Trumps Mantra. Und um ein Sieger zu sein, schreibt er in seinem Buch „Crippled America“, sei es notwendig gewesen, „das toughste Kid in unserer Nachbarschaft“ zu werden. Der Glaube, nach dem das Leben ein Krieg ist und nur der gewinnt, der sich durchsetzt und den Verlierer verhöhnt und demütigt, dieses Weltbild vervollkommnete sich, als Donald mit 13 Jahren auf ein Militärinternat geschickt wurde. In dieser konkurrenzbetonten Umgebung galt er als einer der rücksichtslosesten Schüler. Freunde hatte er keine. Freunde waren ein Zeichen für Schwäche. Zuverlässigere Werte waren: Stärke zeigen, die Umgebung einschüchtern, Autorität haben, ein Mann sein. Eines seiner Idole in der Militärschule wird der dortige Baseballcoach Theodore Dobias. Schwäche, so wird Trump später schwärmen, habe dieser verachtet, wer Schwäche zeigte, der wurde von Dobias auch noch gedemütigt. Starke Jungs dagegen habe er wie Männer behandelt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwer, Trumps Bewunderung für Wladimir Putin zu verstehen. Es mag sein, dass Putin seit Langem kompromittierendes Material über Trump besitzt. Es mag sein, dass er Trump gezielt im Wahlkampf half. Am Anfang aber stand, quasi als Türöffner, freundliche Zuwendung. Putin war der erste Staatschef, der Trump Beachtung schenkte und lobende Worte für ihn fand. „Er ist ein sehr auffälliger Mann und ohne Zweifel sehr talentiert“, sagte Putin über Trump – zu einem Zeitpunkt, als ihn in den USA viele noch nicht ernst nahmen. „So wie es aussieht, ist er der große Favorit im Präsidentschaftsrennen.“ Trump reagierte vorhersehbar: „Wenn Leute dich brillant finden, ist das immer gut, besonders wenn diese Person Russland anführt.“ In Sachen Führungsstärke bekomme Putin von ihm eine Eins, lobte er den Russen und fügte bewundernd hinzu: „Er macht Hackfleisch aus unserem Präsidenten.“ Es ist die Aura von Stärke und Ruchlosigkeit, die Trump an Putin fasziniert. „Er hält Putin für einen starken Mann, und so sieht er sich selbst auch“, beschreibt der Trump-Vertraute Newt Gingrich (siehe Gespräch Seite 88) die Anziehungskraft Putins auf Trump. Das größte Schaufenster seiner Seele ist Trumps Twitter-Account. Seine Tweets werden zwar von 19,6 Millionen Menschen abonniert, er selbst folgt jedoch nur 42 PerDER SPIEGEL 3 / 2017
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POLARIS / LAIF
Künftiger US-Präsident Trump: „Wie ein Sechsjähriger, der vom Sportplatz kommt“
sonen, was zugleich ein gutes Abbild sei- tens um die perfekte Illusion seiner Dominer Weltsicht ist: Es reicht doch, wenn ei- nanz. Zur Aufrechterhaltung dieser Illusion gehört zwingend auch die Dominanz ner was sagt. Trump kennt nur zwei Arten von Tweets: über Fakten, die das perfekte Bild stören solche, in denen er die eigenen Erfolge könnten. Deshalb twittert Trump, dass er oder all jene Menschen preist, die irgend- niemanden beleidigt habe, auch wenn dawie nett zu ihm sind. Und solche, in denen von Videos existieren. In seinem Kommuer auf die eindrischt, die es nicht sind. Es nikationsmodell gibt es nicht den dritten gibt keinen Raum für Differenzierungen Punkt, auf den sich Aussagen beziehen, oder Zwischentöne, und es gibt kaum ei- sondern nur subjektive Urteile im Widernen Tweet, der sich nicht mit seinem Lieb- streit. Und den gewinnt immer er. Lügen sind ihm Mittel zum Zweck – und lingsthema beschäftigt – Trump. Als er seinen Followern jüngst eine Weihnachtskarte zugleich Gift für den öffentlichen Diskurs. schickte, zeigte die nicht etwa die versam- Denn wo ein Abwägen von Argumenten, melte Großfamilie, sondern Trump allein eine Prüfung von Behauptungen unmögvor einem geschmückten Baum. In Trumps lich werden, kann sich eine Demokratie Twitter-Welt ist auch das Private stets poli- nicht mehr verständigen. Die Republik würde nach dem Modell von Twitter umtisch, er kennt da keine Trennung. Am 6. Januar, zwei Wochen vor Amts- gestaltet: Einer sendet, alle staunen. In Trumps Selbstbild als Krieger, als antritt, twitterte der gewählte Präsident über ein Thema, das für ihn ähnlich große „Killer“, sind Zustände wie Unsicherheit Relevanz zu haben scheint wie die Beziehungen zu China oder die Zukunft der IN SEINEM KINDLICHEN Nato: die Einschaltquoten jener Show, der Trump einen großen Teil seiner Bekannt- BEDÜRFNIS, GELIEBT heit verdankt. Weil er Präsident werden ZU WERDEN, STECKEN wollte, hatte NBC die Moderation von „The Apprentice“ an Arnold Schwarzen- RISIKO UND CHANCE. egger vergeben, der am 6. Januar Premiere feierte. Trump kommentierte die schwachen Einschaltquoten der Sendung und lie- oder Zweifel nicht vorgesehen. Den Kampf ferte auch gleich die Erklärung: Da fehlte annehmen, das ist die Maxime. Risiken geeben die „Quotenmaschine DJT“, also er hören dazu. Trump hat während seines Beselbst. Im Vorwahlkampf hatte Schwarzen- rufslebens viermal Bankrott anmelden müssen und wurde doch zum Milliardär. egger John Kasich unterstützt. Wenn Trump durch die Fernsehsender Im Wahlkampf wurde er als chancenloser zappt, schaut er sich nur Sendungen an, Clown verlacht – nun wird er Präsident. in denen er vorkommt oder über ihn gere- In den Augen seiner Wähler verstärkt diedet wird. Sehr häufig kommentiert er die ser überraschende Triumph Trumps ChaTalkshows selbst live auf Twitter. Seine risma der Unbesiegbarkeit – und es ist zu Kritiker sind dann erfolglose Nieten eines befürchten, dass diese Allmachtsfantasien pleitegehenden Senders, Sympathisanten ihn, den Narzissten, noch mehr beflügeln. sind tolle Typen mit glänzender Zukunft. Die Wochen seit seinem Wahlsieg ließen Wer ihm auf Twitter folgt, versteht bald: jedenfalls keine Zeichen von Demut oder Die Welt des Mannes, der Amerika zur al- Mäßigung erkennen. Zugleich ist Trumps Aggressivität, seine ten Größe verhelfen möchte, ist klein. Trump geht es um Dominanz oder wenigs- Lust am Risiko, die Jagd um der Jagd wil86
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len, Trumps große Schwäche. Sein weltweites Geflecht aus Firmen und Familie, seine unbedingte Forderung nach Loyalität an seine Umgebung, in der er nur Jasager duldet, das alles könnte auch schnell zu einem Amtsenthebungsverfahren führen. Wenn nicht, werden Amerika und der Rest der Welt bald einen Weg finden müssen, wie sie mit diesem in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Mann umgehen. Es gibt kaum Erfahrungswerte, zumindest nicht an der Spitze westlicher Demokratien. Am ehesten passt wohl die Analogie zu Silvio Berlusconi, an dessen Wahlsieg Mitte der Neunziger auch niemand glauben mochte. Wie Trump war auch Berlusconi erfolgreicher Unternehmer, Medienprofi und zugleich narzisstisch veranlagt. Er versuchte, den Staat wie ein Unternehmen zu führen, und scherte sich wenig um demokratische Werte wie die Freiheit der Presse oder die Unabhängigkeit der Justiz. Es dauerte lange, bis Berlusconi über eine der vielen Ungeheuerlichkeiten, Rechtsbrüche und Korruptionsversuche zu Fall kam. Die bei vielen Narzissten ausgeprägte Gabe, Menschen zu manipulieren und für sich zu begeistern, sicherten ihm insgesamt zehn Jahre im Amt des Ministerpräsidenten. Was also ist der richtige Umgang mit Donald Trump? In seiner grotesk wirkenden Selbstbewunderung und dem kindlichen Bedürfnis, geliebt zu werden, stecken Risiko und Chance. Und hinter der Inszenierung von Stärke ist zugleich eine Schwäche, eine Anfälligkeit. So irrational Trumps Verhalten auf den ersten Blick erscheint, so absehbar ist es oft. Die effektivste Form, ihn zu beeinflussen, wäre wohl, ihm zu schmeicheln, ihm jenen Respekt zu gewähren, nach dem er sich sehnt. Wladimir Putin ist nicht der Einzige, der das begriffen hat. Auch Barack Obama scheint diese Strategie nun zu verfolgen. Er war es, der nach Trumps Wahlsieg als einer der ersten Demokraten umschaltete und seinen Nachfolger respektvoll im Weißen Haus empfing. Trump, der Obama noch im Wahlkampf als größten Versager aller Zeiten geschmäht hatte, schmolz dahin und bedankte sich überschwänglich. Nach einem solchen Auftakt ließe sich vermutlich besser mit ihm reden und verhandeln. Das mag etwas simpel klingen, aber vielleicht ist genau das die Voraussetzung für den richtigen Umgang mit Trump: simpel zu denken. Markus Feldenkirchen, Thomas Hüetlin, Nils Minkmar, Gordon Repinski
Animation: Wie Trump mit Twitter Politik macht spiegel.de/sp032017trump oder in der App DER SPIEGEL
Egal, wie Sie ihn tragen, Hauptsache, Sie haben ihn:
Den Organspendeausweis! Informieren, entscheiden, ausfüllen. www.organspende-info.de
„Es wird viel passieren“ SPIEGEL-Gespräch Der Trump-Vertraute Newt Gingrich spricht über den zukünftigen Kurs des neuen Präsidenten und die Gefahr eines Wettrüstens. Gingrich, 73, gilt seit vielen Jahren als Hard-
liner innerhalb der Republikanischen Partei. 20 Jahre lang saß er als Abgeordneter im Kongress; von 1995 bis 1999 war er Sprecher des Repräsentantenhauses. Im Wahlkampf wurde er als möglicher Kandidat Trumps für das Amt des Vizepräsidenten gehandelt. SPIEGEL: Mr Gingrich, was können wir von den ersten hundert Tagen der Trump-Regierung erwarten? Gingrich: Oh, es wird viel passieren. Donald Trump ist ein zupackender Mensch. Ich glaube, er wird in den ersten Wochen viele von Barack Obamas Dekreten aufheben und sich dessen Erbes entledigen. Und es wird an vielen Fronten vorangehen. Ich erwarte sehr erfolgreiche erste Wochen. SPIEGEL: Viele Menschen fürchten, dass sich Ihr Land nach Trumps Amtseinführung am 20. Januar ändern wird, dass es weniger tolerant und stattdessen autoritärer wird, eher wie Wladimir Putins Russland. Diese Angst geht auch in Europa um. Gingrich: Das ist doch eine irrationale Angst, fast schon krankhaft. Um die offenste und bunteste Nation des Planeten auch nur in Richtung Russland zu rücken, müsste der gesunde Menschenverstand schon dermaßen aussetzen, dass es schwer vorstellbar ist. Waren Sie jemals in Moskau? SPIEGEL: Leider nein. Gingrich: Dann fragen Sie mal Ihre Kollegen dort, unter welchen Bedingungen beispielsweise Journalisten da arbeiten, und schauen Sie sich noch mal hier um. Man kann die beiden Länder nicht vergleichen. Ich kenne Europa, und ich kenne die Europäer, ich habe als Soldatenkind in Stuttgart gelebt, ich habe in europäischer Geschichte promoviert, ich habe auch in Frankreich und Belgien gewohnt. Und ich bin es leid, dass manche Europäer solch einen Schwachsinn verbreiten. SPIEGEL: Auch Amerikaner fürchten um ihr Land, viele haben Angst vor einem neuen Wettrüsten. Dass es dazu kommen könnte, hat Trump kürzlich gesagt. Gingrich: Wenn man sieht, wie die Russen in den vergangenen zehn Jahren ihre Atomwaffen weiterentwickelt haben, dann weiß man, dass es das Wettrüsten schon gibt. Russland modernisiert seine Nuklearsysteme, setzt verstärkt auf taktische Atomwaffen und auf solche, gegen die eine Das Gespräch führte der Redakteur Gordon Repinski.
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Raketenabwehr nichts ausrichten kann. Die Russen investieren auch in die Entwicklung von Roboterwaffen, offenbar auch von einem Roboterpanzer. Moskau ist vorbereitet – und steckt wahrscheinlich mehr Geld in die Erforschung innovativer Waffentechnik als alle Europäer zusammen. SPIEGEL: Wird Donald Trump das Verhältnis der USA zur Nato verändern? Gingrich: Nicht dramatisch. Ich vermute aber, dass er hart umspringen wird mit all jenen Ländern, die nicht mindestens die von der Nato empfohlenen zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Verteidigung ausgeben. Er wird sie fragen, warum wir Amerikaner Schmarotzer mitdurchziehen sollen. SPIEGEL: Bedeutet dies, dass er nur den Nato-Staaten vollen militärischen Beistand garantieren will, die die Zwei-Prozent-Vorgabe erfüllen? Gingrich: Ich glaube, das kann er gar nicht. Aber er wird sehr direkt sein im Umgang mit den Regierungen, die weniger zahlen. Die Nato ist eine Allianz – also müssen alle Mitglieder in der Lage sein, ihren Beitrag zu leisten. SPIEGEL: Europäer fürchten auch eine Allianz von Putin und Trump. Was erwarten Sie da? Gingrich: Ich glaube, dass Trump sich nicht verpflichtet fühlt, einen Kalten Krieg ge-
„ICH MAG ES NICHT, GROSSE REDEN ZU SCHWINGEN, DIE NICHTS BEWIRKEN.“ gen Russland zu führen. Aber er ist sehr vorsichtig. Übrigens finde ich schon die Fragestellung schizophren: Menschen haben Angst davor, dass Trump ein Wettrüsten startet – und gleichzeitig fürchten sie, dass er sie an Putin ausliefert. Das finde ich cool. Was ist da jetzt eigentlich die größere Angst? Trump hat doch gesagt: Wer ein Wettrüsten will, den werden wir ausstechen. SPIEGEL: Der Tweet Trumps, der die Debatte auslöste, konnte sich ebenso auf China beziehen wie auf Russland. Gingrich: Ich vermute, dass wir den Chinesen klarmachen werden, dass sie in unserer Zeit nicht die führende Seemacht im Südchinesischen Meer werden können.
SPIEGEL: Noch mal zu Russland: Die USGeheimdienste sind zu dem Schluss gekommen, dass die Russen versucht haben, den amerikanischen Wahlkampf zu beeinflussen. Kann Washington das tolerieren? Gingrich: Na ja, Obama hat sogar die deutsche Bundeskanzlerin belauschen lassen. Regierungen machen solche Sachen eben. Und ich weiß von keiner russischen Aktion, die unsere Wahl tatsächlich beeinflusst hat. SPIEGEL: US-Geheimdienste halten den Einfluss für wahrscheinlich, auch weil russische Hacker bei der E-Mail-Affäre der Demokraten beteiligt waren. Gingrich: Nein. Die Dienste sagen, dass es den Versuch gab, die Wahl zu beeinflussen. Aber sie unterstellen nicht, dass die Russen einen wirklichen Effekt erzielt haben. SPIEGEL: Die Senatoren Lindsey Graham und John McCain, Ihre Parteifreunde, bewerten das ganz anders und fordern eine harte Reaktion Amerikas. Gingrich: Ich mag es nicht, große Reden zu schwingen, die nichts bewirken. Schauen Sie, es wäre für uns sehr schwierig, den Russen einen Denkzettel zu verpassen. Ich wüsste gern, wie wir das machen sollten. Wir könnten doch nur herumkrakeelen. Und Putin hat sich schon daran gewöhnt, dass Obama und sein Außenminister John Kerry immer mal wieder Krach schlagen; das scheint Moskau nicht zu beeindrucken. SPIEGEL: Trump erwähnt oft seine Sympathie für Putin. Können Sie erklären, was ihn an dem russischen Präsidenten so fasziniert? Gingrich: Nicht wirklich. Ich denke, er hält Putin für einen starken Mann – und so sieht er sich selbst auch. Aber ich glaube nicht, dass er Putins Regierung auf irgendeine Art als Vorbild sieht. SPIEGEL: Manche Europäer fürchten, Trump könnte auch mal die Nerven verlieren und den Atomknopf drücken. Gingrich: Ich denke, er ist sehr, sehr vorsichtig, was Atomwaffen angeht, und er ist in der Hinsicht auch ernsthaft besorgt. Das ist wohl einer der Gründe für seinen vorsichtigen Umgang mit Putin. Er weiß, wie viele Atomwaffen Putin hat. Er weiß auch, dass die russische Militärdoktrin gegenüber einem Einsatz von Atombomben viel offener ist als die amerikanische. SPIEGEL: So sanft Trump mit Russland umgeht, so rabiat hat er sich über andere Länder geäußert. Vor allem über Mexiko. Glauben Sie, dass er tatsächlich eine Mauer entlang der Grenze bauen wird – und dass Mexiko diese auch noch bezahlen muss?
MATT SULLIVAN / REUTERS
Ausland
Republikaner Gingrich: „Das Volk hat die Schnauze voll von politischer Korrektheit“ Gingrich: Die Mauer wird gebaut, und Mexiko wird zahlen. SPIEGEL: Mexikos Präsident sagt, er werde auf keinen Fall zahlen. Gingrich: Es gibt verschiedene Methoden. Wir könnten zum Beispiel Gebühren erheben auf alle Überweisungen nach Mexiko. Oder Zölle auf alle Autos, die wir aus Mexiko importieren. Oder wir könnten das Vermögen mexikanischer Drogenkartelle in den USA beschlagnahmen – das allein würde reichen, um die Mauer zu bezahlen. SPIEGEL: Mit Gebühren und Zöllen kann man einen Handelskrieg beginnen, der am Ende auch den USA schaden würde. Gingrich: Nein. Die USA sind der größte Markt der Welt. Ich habe keine Angst vor Ländern, die einen Handelskrieg mit uns führen wollen. Sie würden ihn verlieren. SPIEGEL: Sie haben gesagt, Ihre größte Angst sei, dass Trumps Mannschaft wäh-
rend ihrer Regierungszeit die Nerven verlieren könnte. Was meinen Sie damit? Gingrich: Es gibt so vieles, was Trumps Truppe bremsen oder stoppen könnte: die Bürokratie, die Vorschriften, die Lobbyisten, die Journalisten. Das Beharrungsvermögen all dieser Kräfte, die Veränderungen verhindern wollen, wird so stark sein, dass Trumps Regierung womöglich einen Gang herunterschaltet und irgendwann beschließt, doch vernünftig zu werden. Und wenn er und seine Leute vernünftig werden, dann haben sie verloren. SPIEGEL: Warum das? Gingrich: Wer sich in Brüssel auskennt, weiß, wovon ich rede. Man versucht, die EU-Bürokratie zu etwas zu bewegen, aber wenn man sie nicht aufbrechen kann, bewegt sich nichts. Dieses Bürokratenmonster sitzt einfach nur da und starrt einen an. Wir haben hier in Amerika dasselbe Problem. Die meisten Bürokraten haben
für Hillary Clinton gestimmt. Sie verabscheuen, was Trump erreichen will. Die meisten glauben, dass sie ihn aussitzen können, weil man sie nicht feuern kann. SPIEGEL: Während des Wahlkampfs haben Sie eng mit Trump zusammengearbeitet. Hat er sich in diesen Monaten persönlich verändert? Gingrich: Er hat eine Menge gelernt. Die Größe der Verantwortung hat ihn nüchterner werden lassen. Ich glaube, er kann jetzt besser absehen, wie groß die Herausforderungen sind. Er hat inzwischen bestimmt mit 75 führenden Politikern aus aller Welt geredet und sorgt sich darum, wie er auf verantwortungsvolle Art Erfolge erzielen kann. Und er will etwas erreichen. SPIEGEL: Viele Leute haben ihm geraten, er solle mehr wie ein Staatsmann auftreten. Bisher ist das nicht passiert. Gingrich: Trump ist, wie er ist. Er wird zum Beispiel mit dem Twittern kaum aufDER SPIEGEL 3 / 2017
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hören. Ich hoffe, die Leute gewöhnen sich einfach daran. Jeder Präsident hat seinen eigenen Stil. Wir suchen sie uns ja auch nicht nach irgendwelchen Standards aus. SPIEGEL: Hat Trump so etwas wie eine große Strategie? Gingrich: Nein. Aber er hat eine Richtung. Er will die Autorität und die Macht Amerikas wiederherstellen und die Wirtschaft wieder auf Trab bringen. SPIEGEL: Gab es während des Wahlkampfs einen Moment, in dem Ihnen klar wurde, dass Donald Trump tatsächlich gewinnen kann? Gingrich: Ja, sehr früh sogar. Es gab da im August 2016 einen Schlagabtausch mit der Fernsehmoderatorin Megyn Kelly, und die gesamte Elite des Landes dachte, Trump hätte in dieser Auseinandersetzung verloren. Aber 60 oder 70 Prozent der Menschen, die sich im Internet dazu äußerten, sahen ihn als Sieger. Ich dachte mir, wenn die Kluft zwischen der Elite und den normalen Bürgern so groß ist, dann tut sich da etwas Ungewöhnliches. Das Volk hat die Schnauze voll von politischer Korrektheit, von einer Regierung, die nicht funktioniert, und davon, dass manche Leute Schwäche für Weisheit halten. Es ist ganz einfach. SPIEGEL: Welcher von Trumps Beratern wird der einflussreichste sein? Gingrich: Niemand. Er wird viele Berater haben. Trump wird niemals nur auf ein oder zwei Leute hören. SPIEGEL: Viele sahen Sie als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft oder in Trumps Kabinett. Warum bleiben Sie nun doch draußen? Gingrich: Ich will die Freiheit haben, bis ans wahrscheinliche Ende von Trumps Amtszeit 2025 zu planen, und ich möchte ohne Rücksicht auf die Parteilinie meine Meinung sagen können. Denn ich glaube, dass dies die faszinierendste Präsidentschaft meines Lebens wird. Sie kann sehr, sehr gut werden oder sehr enttäuschend. Ich werde alles dafür tun, dass sie gut wird. Dafür aber brauche ich kein Amt. Und die Chancen, dass Trump Erfolg hat, stehen gut. SPIEGEL: Woher nehmen Sie diesen Optimismus? Gingrich: Die USA sind ein riesiges Land mit gewaltigen Ressourcen. Der amerikanische Geist hat die Gebrüder Wright hervorgebracht, Henry Ford, Bill Gates, Mark Zuckerberg. Wenn wir richtig loslegen, können wir großartig sein. Die Inkompetenz der bisherigen Regierung war so gewaltig, dass auch schon ein halbwegs guter Manager viel Boden gewinnen kann. Und Donald Trump ist ein sehr guter Manager. SPIEGEL: Mr Gingrich, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 90
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35 Seiten Gift Affären Ein Dossier über Trumps Beziehungen zum Kreml und Details zu seinem Intimleben beschäftigen die US-Geheimdienste. Wie ernst zu nehmen sind die angeblichen Enthüllungen?
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as Ritz-Carlton ist eine der besten Adressen Moskaus, die Fassade zur Twerskaja-Straße eine kühne Verbindung von Hightech und Historismus, von der Dachterrasse schaut man auf den Kreml. Die schönste Suite des Hauses liegt im zehnten Stock, knapp 240 Quadratmeter groß, fünf Zimmer mit Marmorkaminen und schweren Vorhängen. Im Wohnzimmer steht ein schwarzglänzender Flügel, im Schlafzimmer ein Bett mit dicken kleinen Engeln am güldenen Bettkopf. US-Präsident Barack Obama übernachtete im Sommer 2009 mit seiner Familie hier, als er auf Staatsbesuch war. Und auch Donald Trump, Obamas designierter Nachfolger, soll in derselben Suite gewohnt haben, bei einem Moskau-Aufenthalt 2013. So steht es zumindest in dem 35-seitigen, vertraulichen Bericht, der Mitte der Woche bekannt wurde und den künftigen US-Präsidenten wenige Tage vor seiner offiziellen Amtseinführung in Bedrängnis bringt. Die weiteren Details des Dossiers, die die US-Geheimdienste prüfen, sind ausgesprochen unappetitlich. Trump soll Prostituierte auf jenes Doppelbett geladen haben, in dem zuvor die Obamas geschlafen hatten. Und er soll sie angeblich um „golden showers“ gebeten haben, also darum, zu urinieren. Der Vorgang, so heißt es in dem Bericht, sei gleich mehrfach bezeugt worden, von einem anwesenden TrumpMitarbeiter und Hotelangestellten. Und man wisse ja, der Geheimdienst FSB habe in allen wichtigen Räumen des Hotels versteckte Kameras installiert. Trump dementierte die Geschichte auf seiner Pressekonferenz am Mittwoch, er warne selbst seine Begleiter vor installierten Kameras, außerdem habe er Angst vor Keimen. Willkommen im Jahr 2017! Dem Jahr, in dem die Öffentlichkeit erstmals diskutiert, ob ein zukünftiger Präsident auf das Bett eines anderen Präsidenten hat pinkeln lassen. Natürlich geht es nicht um erotische Vorlieben. Es geht um die Frage, ob der Kreml kompromittierendes Material gegen den künftigen US-Präsidenten in der Hand haben könnte – und ob dies die auffällige Milde Trumps gegenüber der russischen Führung erklären könnte. Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow erklärte, die russische Führung habe kein solches Dossier über Trump, dies sei pure Fantasie: „Der Kreml befasst sich nicht damit, Kompromat zu
sammeln.“ Dass das Russische mit „Kompromat“ ein eigenes Wort für kompromittierende Materialien hat, zeigt allerdings, wie verbreitet deren Einsatz ist. Und selbstverständlich sind der Kreml und Wladimir Putin da keine Ausnahme. Putins Aufstieg basiert im Grunde auf dem Einsatz von Kompromat: 1999 bewies er dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin seine Treue, als er beim Sturz des Generalstaatsanwalts Jurij Skuratow half. Damals gelangte ein angebliches Sexvideo mit dem Staatsanwalt ins Fernsehen. Es war FSB-Chef Putin, der die Echtheit der Aufnahme offiziell bestätigte. Seither sind zahlreiche Putin-Gegner in fremden Betten gefilmt worden, vor allem um sie erpressbar zu machen. Seltener als die russische Opposition traf es Diplomaten – so 2009 den britischen Vizekonsul in Jekaterinburg und einen Mitarbeiter der US-Botschaft. Beide sollten offenbar angeworben werden. Versteckte Kameras wird es auch im Ritz-Carlton geben, die Frage ist eher, ob Donald Trump sich ihnen so leichtfertig auslieferte. Zusammengetragen wurde das vertrauliche Trump-Dossier von einem ehemaligen Agenten des britischen Auslandsgeheimdiensts MI6: Christopher Steele, 52 Jahre alt. Steele gilt als harter, gut ver-
FRAGLICH IST, OB JE AUFGEKLÄRT WERDEN KANN, WAS VON DEM BERICHT STIMMT UND WAS NICHT. netzter Wühler. Nach seinem Ausscheiden aus dem Geheimdienst gründete er 2009 die Firma Orbis Business Intelligence im noblen Londoner Stadtteil Belgravia. Dort huschen abgedunkelte Bentleys durch die Straßen, ausländische Botschaften und der Buckingham-Palast liegen gleich ums Eck. Auf ihrer Website wirbt Orbis damit, Nachrichten in aller Welt zu beschaffen und komplexe Recherchen innerhalb kurzer Zeit durchzuführen. Zu den Kunden zählen vor allem Unternehmen. Die Vorgeschichte des Dossiers beginnt im Herbst 2015. Damals schaltete ein einflussreicher Republikaner und Gegner Trumps professionelle Rechercheure der Firma Fusion GPS mit Sitz in Washington
STEFAN WERMUTH / REUTERS
Sitz der Firma Orbis Business Intelligence in London: Komplexe Recherchen innerhalb kurzer Zeit
ein, um belastendes Material über den Unternehmer zusammenzutragen. Fusion GPS wird geführt von einem früheren Journalisten des „Wall Street Journal“. Die Hoffnung war wohl, Trump durch Enthüllungen aus der Vergangenheit zu Fall zu bringen. Das Vorgehen ist nicht ungewöhnlich, zahlreiche Firmen an der Washingtoner Lobbyistenmeile K-Street suchen in Wahljahren nach belastenden Informationen über den jeweiligen politischen Gegner ihrer Auftraggeber. Nachdem Trump die Vorwahlen für sich entschieden hatte, erlahmte das Interesse seiner Partei, aber Demokraten begannen, sich für die Expertise von Fusion GPS zu interessieren. Unterstützer Hillary Clintons nahmen die Firma in Anspruch. Die Washingtoner Rechercheure interessierten sich vor allem für Trumps Verbindungen zum Kreml. Und so heuerten sie den ehemaligen Agenten Steele an, der in den Neunzigerjahren für den MI6 in Moskau stationiert war. Später soll Steele als Russlandexperte in der Londoner Zentrale gearbeitet haben. Steele genießt in Geheimdienstkreisen einen guten Ruf. Mitarbeiter beschreiben ihn als verlässlich, Steele sei kein Großmaul wie so viele andere in diesem Geschäft. Nach Angaben britischer Nachrichtendienstler hat er unter anderem für das FBI während des Korruptionsverfahrens
gegen die Fifa gearbeitet und soll maßgeblich zu dessen Aufklärung beigetragen haben. Außerdem hat er angeblich mit dem Putin-Gegner Alexander Litwinenko zusammengearbeitet, der vor zehn Jahren in London ermordet wurde. Da Steele selbst nicht nach Moskau reisen konnte, soll er alte Kontakte in der russischen Hauptstadt aktiviert und diese mithilfe russischsprachiger Mitarbeiter aus London befragt haben. Und so basieren viele der Angaben in dem Dossier auf Auskünften verschiedener, nicht identifizierbarer Quellen, darunter angeblich hochrangiger Mitarbeiter des Kreml. Überprüfen lässt sich das nicht. Gravierender aber ist, dass viele Angaben vage bleiben. Auch deshalb ist fraglich, ob je aufgeklärt werden kann, was stimmt und was nicht. So behauptet der Bericht, der Kreml habe Trump schon seit mindestens fünf Jahren gefördert. Ein ehemaliger Geheimdienstoffizier sage, Putin persönlich habe diese Operation geleitet. Man wüsste gern Genaueres, aber Belege gibt es keine. Und kann es tatsächlich sein, dass der höchste Beamte im Kreml, Sergej Iwanow, im Sommer 2016 sein Amt verlor, weil er sich zu übereifrig in den US-Wahlkampf einmischte und damit Putin verärgerte? So behauptet es der Bericht und unterstellt damit, im Kreml drehe sich alles um Trump und Clinton.
Ausgerechnet die brisanteste Information des Dossiers, ein angebliches Geheimtreffen zwischen Trumps Anwalt Michael Cohen und Kremlvertretern im August oder September 2016 in Prag, ist besonders schlecht belegt. Als Förderer des Treffens wird ein Duma-Mitglied namens Konstantin Kossatschow genannt. Kossatschow ist ein bekannter Politiker, aber die Duma hat er schon vor fünf Jahren verlassen. Das hätte ein ehemaliger MI6Spion aus verfügbaren Quellen erfahren können. Unklar bleibt, ob es tatsächlich Kontakte zwischen den Russen und Mitarbeitern Trumps während des US-Wahlkampfs gegeben hat. Ein Vorwurf, der Trump gefährlich werden könnte, er würde an Landesverrat grenzen. In Moskau wird der Streit um die neuen Enthüllungen in Washington mit Genugtuung kommentiert. „Das Ganze ist ein kolossales Kompliment an unsere Geheimdienste und an Russland als Staat“, sagte der kremltreue Politiker Wjatscheslaw Nikonow in der Talkshow „60 Minuten“: „Amerika macht in dieser Situation einen sehr kläglichen Eindruck.“ Christopher Steele ist inzwischen untergetaucht. Ein Nachbar erzählte Journalisten, Steele habe seine Katze abgegeben – er müsse leider für einige Tage weg. Christian Esch, Gordon Repinski, Christoph Scheuermann, Jens Weinreich DER SPIEGEL 3 / 2017
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Ausland
Generäle gesucht Türkei Massenentlassungen nach dem Putschversuch sorgen für Unruhe im Militär. Die Schwäche der Armee und der Verlust an hochrangigen Offizieren werden zum Problem für die Nato.
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ihrer rund 400 Kampfpiloten verloren. Die Repressionen treffen auch Türken im Ausland: Erdoğan hat mindestens 270 Offiziere und Militärattachés an Nato-Stützpunkten wie Mons, Neapel und Ramstein abberufen. Nato-Oberbefehlshaber Curtis Scaparrotti warnt, die Entlassungen könnten die Schlagkraft der Allianz beeinträchtigen. Im SPIEGEL äußern sich jetzt zum ersten Mal geschasste Nato-Offiziere. Özcan und drei Kollegen haben für das Gespräch Decknamen gewählt. Sie haben Familie in der Türkei und fürchten Racheakte durch die Regierung. Die Männer zeichnen ein verheerendes Bild der türkischen Streitkräfte. Der gescheiterte Putsch habe Moral und Ansehen der Truppe beschädigt. Ver-
GOKHAN TAN / GETTY IMAGES
yüp Özcan gehört zu den talentiertesten Soldaten seiner Generation: Er schloss die Militärakademie in Istanbul mit Bestnoten ab und studierte an der Naval Postgraduate School in Monterey, Kalifornien. Er diente in Bosnien und kommandierte ein Bataillon in Ankara, bevor er 2015 zur Nato nach Belgien ging. Sein Weg an die Spitze der türkischen Streitkräfte schien vorgezeichnet. Nun sitzt Özcan in einem Brüsseler Bürogebäude und sagt, er fühle sich wie ein Gefangener. Er trägt einen knittrigen Anzug statt seiner Uniform. Der Diplomatenpass, der in seiner Aktentasche steckt, ist nicht mehr gültig. Die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat Özcan
Von Soldaten weggeworfene Uniformen und Waffen*: „Angst, denunziert zu werden“
vom Dienst suspendiert. Sie verdächtigt ihn, am Militäraufstand vom 15. Juli 2016 beteiligt gewesen zu sein. Özcan hat in Belgien Asyl beantragt. Er hat Angst, bei einer Rückkehr in die Heimat verhaftet zu werden – wie so viele seiner Kameraden. Erdoğan geht seit dem Putschversuch mit Härte gegen vermeintliche Verschwörer vor. Er hat fast 100 000 Staatsbedienstete von ihren Posten enthoben. Die Gouverneure von 47 Bezirken und die Dekane sämtlicher Universitäten wurden zum Rücktritt gezwungen. Fast 200 Medienorgane mussten schließen. Keine Institution ist von der Säuberungsaktion aber so sehr betroffen wie das Militär. Ein Drittel der Generäle und Admiräle wurde vom Dienst suspendiert. Die Luftwaffe hat 265 92
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schiedene Gruppierungen ringen um Macht und opponieren zum Teil offen gegen Armeechef Hulusi Akar. „Das Militär geht durch die schwierigste Zeit seiner Geschichte“, sagt der ehemalige türkische Oberbefehlshaber Ilker Başbuğ. Präsident Erdoğan ficht das nicht an. Er hat seine Soldaten in Syrien und im Irak in zwei komplizierte Operationen gejagt. Ankara scheint sich in der Krise vom Westen ab- und dem Osten zuzuwenden, allen voran Russland. Die Türkei, einst ein Pfeiler der Nato mit der zweitgrößten Armee, entwickelt sich seit der Revolte vom 15. Juli zu einer Gefahr für das Bündnis. * Nach dem Putschversuch auf einer gesperrten Straße am 16. Juli 2016.
Eyüp Özcan saß mit Freunden in einem türkischen Restaurant in Brüssel, als am 15. Juli im Fernsehen die Bilder von Panzern auf den Straßen in Ankara und Istanbul liefen. „Ich war schockiert. Ich dachte, das kann nicht wahr sein“, erzählt er. Eine Gruppe innerhalb des türkischen Militärs hatte in der Nacht vorübergehend die Kontrolle über Teile des Landes übernommen. Die Aufrührer hielten die Bosporus-Brücke in Istanbul besetzt und den Staatssender TRT. Kampfjets bombardierten das Parlament in Ankara. Bis zum nächsten Morgen jedoch hatte die Regierung den Aufstand zurückgeschlagen. Özcan hatte gehofft, dass das Militär zu geordneten Verhältnissen zurückfinden werde. Doch wenig später wurde er aufgefordert, seinen Posten im Nato-Hauptquartier zu räumen. Die Regierung wirft ihm vor, den islamistischen Prediger Fethullah Gülen zu unterstützen, den vermeintlichen Drahtzieher des Putschs. In der Türkei zweifelt kaum jemand daran, dass Anhänger der islamistischen Gülen-Bewegung am Aufstand beteiligt waren. Beobachter wie Özgür Ünlühisarcıklı, Direktor des German Marshall Fund in Ankara, aber kritisieren, dass die Regierung das Verbrechen zum Vorwand nehme, um gegen Oppositionelle vorzugehen. Özcan bestreitet jede Verbindung zu Gülen. Sein Onkel habe ein Konto unterhalten bei einer Bank, die zum GülenNetzwerk gehörte. Möglicherweise sei er deshalb ins Visier der Behörden geraten. „Erdoğan betreibt eine Hexenjagd.“ Die Säuberungsaktion hat die Armee verunsichert. „Jeder hat Angst, denunziert zu werden“, klagt ein Gefreiter aus Ankara. Bilder von Soldaten, die im Gefängnis offensichtlich misshandelt wurden, haben Armeechef Akar Rückhalt bei seinen Leuten gekostet. Vergangene Woche verurteilte ein Gericht die ersten hochrangigen Soldaten, die am Putschversuch beteiligt gewesen sein sollen, zu langen Haftstrafen. Der Generalstab hat Mühe, nach den Massenverhaftungen Posten neu zu besetzen. Die Regierung sucht über Zeitungsanzeigen nach 25 000 Rekruten. Viele der Offiziere, die nun in Haft sitzen, kontrollierten Schaltstellen im Militär. Die Streitkräfte werden sich über Generationen hinweg nicht von dem Verlust an Kompetenz und Wissen erholen, glaubt Gareth Jenkins, Türkei-Experte am Central Asia-Caucasus Institute. Die Personalnot bei der Luftwaffe ist derart eklatant, dass derzeit neun Piloten Einsätze in
DEPO PHOTOS / ZUMA / DDP IMAGES
Präsident Erdoğan, Generäle am Atatürk-Mausoleum am 30. August 2016: Paschas haben über Jahrzehnte die Politik bestimmt
Syrien fliegen, die im Sommer als angebliche Putschisten in Untersuchungshaft saßen und das Land eigentlich nicht verlassen dürfen. Die Männer müssen sich vor und nach jeder Mission bei der Polizei melden. Die Turbulenzen in der Armee gefährden die Sicherheit der Truppen. Die Türkei ist im August in Syrien einmarschiert, um den „Islamischen Staat“ (IS) und kurdische Milizen aus dem Grenzgebiet zu vertreiben. Mittlerweile kämpfen türkische Soldaten seit fast einem halben Jahr im Nachbarland, ohne dass ein Ende der Operation absehbar wäre. Der frühere türkische Botschafter in Washington, Faruk Loğoğlu, spricht von einem „Himmelfahrtskommando“. Erst Ende Dezember starben 16 Soldaten bei einem Angriff gegen den IS in der Stadt al-Bab nordöstlich von Aleppo. Die Verluste am Boden seien „höher als nötig“, da die Luftwaffe nicht mehr in der Lage sei, ausreichend Unterstützung zu leisten, sagt ein geschasster Kampfpilot. Die Schwäche des Militärs rührt am Selbstverständnis der Türkei. Die Streitkräfte waren lange Zeit der Stolz des Landes. Generäle, genannt Paschas, haben über Jahrzehnte hinweg die Politik bestimmt. Sie verstanden sich als Hüter des laizistisch-nationalistischen Erbes von Staatsgründer Kemal Atatürk. Erdoğan hat die Macht der Soldaten nach seinem Amtsantritt als Premier 2003 gebrochen. Gemeinsam mit Kadern der Gülen-Bewegung
im Staatsapparat, damals noch enge Verbündete der Regierung, ließ er in Schauprozessen Hunderte kemalistische Offiziere wegsperren. Gülen-Anhänger nutzten den Kahlschlag, um im Militär aufzusteigen. Inzwischen aber haben sich Gülen und Erdoğan überworfen. Erdoğan deutet den Putschversuch als Manöver des Predigers, ihn zu stürzen, und geht rigoros gegen dessen vermeintliche Unterstützer vor. Die zweite große Säuberungswelle im türkischen Militär innerhalb weniger Jahre hat ein Vakuum geschaffen, das Splittergruppen versuchen zu füllen. Vor allem die ultranationalistische Vaterlandspartei und die radikalislamische Sadat-Gruppierung dehnen ihren Einfluss im Militär aus. Der Chef der Vaterlandspartei, Doğu Perinçek, tritt für eine Abkehr der Türkei von Europa ein und arbeitet mit dem russischen Politikberater Alexander Dugin zusammen. Sadat wiederum ging aus einer privaten Sicherheitsfirma hervor, deren Gründer Adnan Tanrıverdi, ein ehemaliger General, in den Neunzigern wegen islamistischer Umtriebe in den Ruhestand versetzt wurde und nach dem Putschversuch zu Erdoğans Berater aufstieg. Beide Gruppierungen dürften die Ausrichtung der türkischen Streitkräfte mit prägen. Das Militär werde künftig verstärkt eine eurasische, religiöse Agenda verfolgen, glaubt der Sicherheitsexperte Metin Gurcan. Ehemalige türkische NatoOffiziere warnen, Russlands Präsident
Wladimir Putin könnte den Machtkampf im türkischen Militär dazu nutzen, den russischen Einfluss auf den Nato-Partner Türkei auszuweiten. Im November 2015 standen Moskau und Ankara kurz vor einer militärischen Auseinandersetzung, nachdem die Türken einen russischen Kampfjet im syrischen Grenzgebiet abgeschossen hatten. Seit sich Erdoğan jedoch für den Vorfall entschuldigt hat, demonstrieren beide Seiten Einigkeit. Generalstabschef Akar war zu Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen in Moskau. Mitte Dezember haben Russland und die Türkei einen Deal zur Evakuierung Ost-Aleppos ausgehandelt. Der Mord an Russlands Botschafter Andrej Karlow durch einen türkischen Polizisten am 19. Dezember in Ankara hat, so scheint es, die beiden Staaten noch enger zusammengeführt. Nur einen Tag nach dem Anschlag trafen sich die Außenminister Russlands, Irans und der Türkei zu Gesprächen über Syrien in Moskau. Ein russischer Senator legte nahe, dass die Nato den Mord an Karlow in Auftrag gegeben habe, um die russisch-türkischen Beziehungen zu torpedieren. Staatsnahe türkische Medien griffen die Verschwörungstheorie prompt auf: Der Mord an Karlow, sagte ein TV-Kommentator, stelle die Militärpartnerschaft mit dem Westen einmal mehr infrage. Peter Müller, Maximilian Popp Twitter: @PeterMueller9, @maximilian_popp DER SPIEGEL 3 / 2017
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Magische Momente
„Zwischen Himmel und Hölle“ Anni Friesinger-Postma, 40, über den berühmtesten Sturz in der Geschichte des Eisschnelllaufs SPIEGEL: Sie haben 16 Welt-
SPIEGEL: Entscheidend war,
SPIEGEL: Im Finale traten Sie
Friesinger-Postma: Nach einer
meistertitel und drei Goldmedaillen bei Olympischen Spielen gewonnen. Stört es Sie, wenn Sie auf Ihren Sturz im Halbfinale der Winterspiele von Vancouver 2010 angesprochen werden? Friesinger-Postma: Nein, aber schön war die Situation nicht. Ich dachte, ich habe unseren Traum zerstört. Wir wollten das Team-Gold von Turin verteidigen, und ich rutsche 20 Meter vor dem Ziel auf dem Bauch übers Eis. Ich war sicher – jetzt ist alles aus. SPIEGEL: Dann gab es doch noch ein Happy End. Friesinger-Postma: Als ich realisierte, dass wir trotzdem zwei Zehntel schneller waren als die USA, spürte ich eine wunderbare Erleichterung. In wenigen, dramatischen Sekunden bewegte ich mich zwischen Himmel und Hölle. Plötzlich fiel die Anspannung ab, und ich heulte vor Glück.
dass Sie den Fuß als Erstes über die Ziellinie streckten. Friesinger-Postma: Genau. Über den Fußgelenken sind die Transponder für die Zeitmessung. Während ich rutschte, versuchte ich, irgendwie einen Fuß nach vorn zu bringen. Das gelang und gab den Ausschlag.
dann nicht an. Warum nicht? Friesinger-Postma: Katrin Matscherodt war gut in Form, ich hatte Probleme mit dem Knie, und damit war klar, dass sie läuft und ich von außen zuschaue. SPIEGEL: Warum mussten Sie Ihre Karriere knapp fünf Monate später beenden?
Knieoperation kämpfte ich für ein Comeback, ich wollte 2011 unbedingt bei der WM in meiner Heimatstadt Inzell dabei sein. Aber in der Reha reflektiert man auch über sein Leben. Man befasst sich mit der Zukunft, und ich habe die richtige Entscheidung getroffen. pk
ULLSTEIN BILD
BENFESL / BABIRADPICTURE
1998 90
1974 1978 1982 1986
Für Fifa-Präsident Gianni Infantino ist es eine große Innovation, für andere eine gigantische Aufblähung: Ab 2026 wird die Fußball-WM mit 48 statt bisher 32 Mannschaften ausgetragen. Mit der Entscheidung vom Dienstag kann der Fußball seine Führung auf dem Markt für TV-Sportrechte ausbauen. Bisher konnte das IOC für die Olympischen Sommerspiele stets mehr Geld erzielen als die Fifa für die WM zuvor. Die Verhältnisse könnten sich bei den nächsten Großereignissen umdrehen. Mit seinen neuen Vermarktungsmöglichkeiten wird der Fußball ab 2026 Olympia wohl distanzieren.
Friesinger-Postma 2010 bei den Olympischen Spielen
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Wild Wild West Doping Eine Spezialeinheit aus Ermittlern und Medizinern ist in den USA auf der Jagd nach Betrügern. Interne E-Mails, die der SPIEGEL ausgewertet hat, zeigen, wie engagiert die Fahnder arbeiten – und warum sie trotzdem an ihrem Job verzweifeln.
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eun Monate vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro deutet sich ein kleiner Sieg an im epischen Kampf gegen die dunkle Seite des Sports. Gegen das Heer der Betrüger, der Epound Testosteronspritzer, der Anabolikaschlucker. „Der Sicherheitsdienst des Hilton-Hotels hat eine weitere Spritze im Zimmer zweier Athleten gefunden.“ Mit diesem Satz beginnt eine E-Mail, die Victor Burgos, ein Ermittler der Usada, der Anti-Doping-Agentur der USA, am 22. November 2015, um 17.24 Uhr versendet. Burgos ist ein ehemaliger Polizist aus New York, er schreibt: „Ich habe die Namen der Athleten und die Zimmernummer an Bradley weitergeleitet, er sammelt die Beweise.“ Das Hauptquartier der Usada liegt in einem Bürokomplex in Colorado Springs, am Rand der Rocky Mountains. Die Frauen und Männer, die hier arbeiten, gelten als die hartnäckigsten Dopingfahnder der Welt. In den vergangenen Jahren gingen ihnen große Fische ins Netz: der Radstar Lance Armstrong, die Weltklassesprinter Tyson Gay und Marion Jones. Die Nachricht von Ermittler Burgos löst in der Zentrale ein Jagdfieber aus. UsadaChef Travis Tygart will wissen, wo die Sportler herkommen. Es seien zwei Frauen aus Ägypten, Gewichtheberinnen, antwortet Bradley Guye, der den Fall übernommen hat. Die Athletinnen sind in einem Hilton-Hotel in Houston abgestiegen, dort findet zurzeit die Weltmeisterschaft statt. Guye will wissen, ob er eine Dopingkontrolle durchführen soll. „Ja“, antwortet die Usada-Zentrale. Man benötige neben der Urin- auch Blutproben der Sportlerinnen, so könne man anhand der DNA die Spritze zuordnen. Jetzt meldet sich noch mal Ermittler Guye. Er berichtet vom Brief eines anonymen Augenzeugen, der gesehen haben will, wie sich ein Gewichtheber vor dem Wiegen für einen Wettkampf eine Injektion gesetzt habe. Es scheint einiges los zu sein bei der WM in Houston. Usada-Chef Tygart ist fassungslos. „Wow. Das ist Wild Wild West“, schreibt er in einer E-Mail. Die Namen der beiden Gewichtheberinnen, in deren Zimmer die Spritze lag, spielen keine Rolle. Sie erschienen ganz kurz 96
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auf dem Radar der Ermittler, dann verschwanden sie wieder. Die Usada testete die Sportlerinnen in ihrem Hotelzimmer in Houston. Das Ergebnis: negativ. Die Fahnder waren umsonst ausgerückt. In einem Report an den Weltverband der Gewichtheber schrieb die Usada, dass es nicht schlecht wäre, wenn die Organisation eine „Keine-Nadeln-Politik“ im Gewichtheben einführen würde. Mehr blieb den Dopingjägern nicht übrig. Der Kampf gegen Doping ist vergleichbar mit dem Kampf gegen Drogen. Er ist eigentlich kaum zu gewinnen. Aber man muss ihn führen, weil sonst alles außer Kontrolle geraten würde. Doper gehen immer skrupelloser vor. Sie besorgen sich immer neue Mittel. Den Betrug organisieren Hintermänner: Dealer, Ärzte, Trainer und Funktionäre, die ihre Kunden mit Stoff versorgen – und sich für ihre Dienste gut bezahlen lassen. Für die Jagd auf Doper gibt es in den meisten Ländern, die Sportler zu den Olympischen Spielen entsenden, spezielle Einrichtungen, die nationalen Anti-Doping-Agenturen. Es sind kleine Außenposten an einer kaum zu überblickenden Frontlinie. Manche nehmen ihren Job ernst, andere weniger. Die Usada gehört zu den effektivsten Organisationen in der Dopingbekämpfung, bei ihr arbeiten Mediziner, Chemiker und Forensiker, die alles wissen über Verbotslisten und Wirkstoffkombinationen und über die Dopingpraktiken der Athleten. Die rund hundert Mitarbeiter organisieren die Tests, schicken Zielfahnder los, um verdächtige Sportler zu überprüfen. Über die Arbeitsweise dieser Spezialeinheit war bislang wenig bekannt. Im Dezember wurden dem SPIEGEL von der Hackergruppe „Fancy Bears“ (siehe Seite 98) mehrere Datensätze zugespielt. Sie enthalten PDF- und Word-Dokumente sowie mehrere Hundert interne E-Mails der Usada und der Wada, der Welt-Anti-Doping-Agentur. Das Material zeigt den Alltag der Dopingermittler im Olympiajahr 2016: wie sie recherchieren, taktieren und zupacken, wenn sich ein Tatverdacht ergibt. Und es lässt die Frustrationen erkennen, wenn die Fahnder Betrügern auf der Spur sind, aber dann doch nicht ans Ziel kommen – und deshalb der Sport schmutzig bleibt.
Die Ozon-Therapie Die Wada ist die Dachorganisation aller Dopingfahnder. Jedes Jahr veröffentlicht sie die Liste der verbotenen Substanzen und Behandlungsmethoden. Zurzeit stehen rund 300 Stoffe auf dem Index, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Ein Mittel, das vor ein paar Monaten noch erlaubt war, kann einem Sportler jetzt eine Dopingsperre einbrocken. Es liegt in der Verantwortung der Athleten, den Überblick zu behalten. Doch viele sind damit offenbar überfordert, die Usada-Mitarbeiter wundern sich häufig, wie schlecht Sportler die Regeln kennen – oder kennen wollen. Anfang Mai, drei Monate vor der Eröffnungsfeier in Rio, klingelt bei der Usada das Infotelefon. Ein Athlet ist dran und erwähnt während des Gesprächs, dass er die Ozon-Therapie angewendet habe. Die Usada-Mitarbeiter sind verdutzt. Bei der Ozon-Therapie lässt man sich Blut entnehmen, das dann mit einem Ozon-Sauerstoff-Gemisch angereichert und später zurück in die Venen gespritzt wird. Die Methode gilt als Blutdoping, die Wada hat sie 2011 verboten. Davon hat der Sportler „keine Ahnung“. Auch der Arzt des Athleten, der mit der Usada Kontakt aufnimmt, ist „komplett überrascht“, dass Blutbehandlungen bei Sportlern nicht erlaubt sind. Noch vor fünf Jahren standen 30 deutsche Sportler unter Dopingverdacht, weil sie ihr Blut von einem Mediziner hatten behandeln lassen. Eine Usada-Mitarbeiterin verfasst einen netten Brief an die amerikanische OzonTherapie-Gesellschaft. „Wir haben leider festgestellt, dass Ärzte und Therapeuten unwissentlich das Startrecht von Sportlern aufs Spiel setzen, weil sie nicht mit der Tatsache vertraut sind, dass intravenöse Infusionen genauso wie Blut-Therapien und die Ozon-Therapie laut Welt-Anti-Doping-Agentur verbotene Methoden sind. Mitglieder Ihrer Organisation könnten sich dessen nicht bewusst sein.“ Das Schreiben enthält auch den lapidaren Hinweis, dass sich Ärzte strafbar machen können, wenn sie bei Sportlern unerlaubte Methoden anwenden.
Fischöl und Cortison Die Dopingermittler wissen, wie verdorben der Hochleistungssport ist. Aber es ge-
KYODO NEWS / IMAGO SPORTFOTODIENST
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400-Meter-Läuferin Miller (u.) bei ihrem Olympiasieg 2016 in Rio de Janeiro: „Olympiateilnehmer mit erhöhtem Risiko“ DER SPIEGEL 3 / 2017
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hört auch zu ihrem Job, den Athleten Hilfe vent, ein Medikament, das die Atemwege anzubieten, ihnen zu sagen, wo die Gren- erweitert. Und Cytomel, mit dem man an Gewicht verliert. zen des Erlaubten liegen. Er behandle damit lediglich ErkrankunOft melden sich Sportler, die wissen wollen, ob sie diesen oder jenen Husten- gen, teilt Rupp mit. Er leide seit Jahren an saft bedenkenlos einnehmen können. Ein- Asthma und Schilddrüsenunterfunktion: mal schickt eine Weltklassetriathletin eine „Diese Medikamente sind nicht verboten.“ Das stimmt, die meisten Mittel, die die E-Mail, sie will die Blutwerte einsehen, die bei ihren Dopingtests ermittelt wurden. Sportler in ihren DOU angeben, sind erMan erklärt ihr höflich, dass die Usada laubt. Trotzdem ist es ein Graubereich, nicht möchte, dass Sportler die Daten für weil der Konsum exzessiv geworden ist. eine „Selbstdiagnose“ oder eine „Behand- Bei den meisten Athleten lautet das Motto: lung“ missbrauchen, deshalb würden sie Viel hilft viel. Sie schaufeln Produkte in den Athleten nicht mitgeteilt. Schönen Tag sich rein, in der Hoffnung, sich irgendeinen Nutzen zu verschaffen. noch. So wie Justin Gatlin. Der 100-MeterWann beginnt eigentlich Doping? Bei jedem Dopingtest müssen Athleten ein Olympiasieger von 2004 futtert offenbar Formular ausfüllen, die „Declaration of Nahrungsergänzungsmittel, als wären die Use“, die DOU. Darin geben sie an, welche Stoffe nichts weiter als Lutschbonbons Medikamente und Substanzen sie in den oder Kakaopulver. In einer seiner DOU vergangenen sieben Tagen eingenommen aus dem Frühjahr 2016 zählt er alle Produkte auf, die er zuletzt eingenommen hat: haben. Dem SPIEGEL liegen die DOU-ProtoBeta-Alanin, Aminosäure, ein Löffel. kolle Dutzender US-Athleten vor, darunter Calcium und Magnesium, ein Löffel. Radfahrer, Fußballer und Leichtathleten. EPIQ 3xMuscle, ein MuskelaufbaupräSie zeigen, dass sich die Sportler vor Rio so ziemlich alles reingezogen haben, was parat, eine Tablette. EPIQ Heat GC, ein Mittel zur Gewichtsder legale Markt hergibt. Es gibt Gewichtheber, die Molkenpro- reduktion, eine Tablette. EPIQ Ripped, noch ein Mittel zur Getein nehmen, um ihre Muskeln aufzubauen. Tennisspieler, die Acetylcarnitin schlu- wichtsreduktion, eine Tablette. EPIQ Protein, ein Mittel zur Regeneracken, um ihre Konzentration zu steigern, und Triathleten, die auf Fischöl schwören. tion, ein Löffel. EPIQ Test, ein Testosteron-Verstärker, Warum auch immer. Manche DOU sind ziemlich bedenklich: eine Tablette. MD Plus Test, noch ein Testosteron-VerGalen Rupp, der in Rio Bronze im Marathon gewann und als schnellster weißer stärker, eine Tablette. MD Plus G Boost, ein MuskelaufbauLangstreckenläufer gilt, nimmt das Asthmamittel Advair. Gleichzeitig noch Combi- präparat, eine Tablette.
Wer steckt hinter „Fancy Bears“? „Fancy Bears“ ist eine Hackergruppe, die im vergangenen Jahr mehrere Cyberattacken auf Sportinstitutionen unternommen hat. Zu den Zielen gehörte auch eine Datenbank der WeltAnti-Doping-Agentur (Wada). Im September veröffentlichten die Hacker auf ihrer Website Daten von mehr als hundert Sportlern. Es wurde bekannt, dass sich die Tennisspielerin Serena Williams, der Tour-de-FranceSieger Chris Froome und die TurnOlympiasiegerin Simone Biles Ausnahmegenehmigungen besorgt hatten, mit denen sie Medikamente einnehmen durften, die auf der Dopingliste stehen. Ein Verfahren, das die Wada erlaubt. Es ist bisher nicht bekannt, wer hinter Fancy Bears steckt. US-Nachrichtendienste berichten, die Gruppe gehöre dem russischen Militärgeheimdienst an. „Das Ziel der 98
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Cyberverbrechen ist es, von der Realität abzulenken, dass in Russland ein staatlich gefördertes Dopingsystem existiert“, sagt ein Usada-Sprecher. Dem SPIEGEL teilt Fancy Bears mit: „Wir sind ein internationales Hackerteam, unser Projekt hat Aktivisten zusammengebracht, die für sauberen Sport und Fair Play eintreten. Wir arbeiten für keine Regierung, wir stehen über der Politik. Wir wollen, dass das bestehende Anti-Doping-System der Wada reformiert wird. Es fördert Korruption, ist unwirksam und ermöglicht Topathleten, verbotene Substanzen zu nehmen.“ Der SPIEGEL steht mit Fancy Bears seit einigen Monaten in Kontakt. Er befand die zur Verfügung gestellten Datensätze nach eingehender Prüfung für echt und entschloss sich nun aufgrund der Relevanz der Inhalte zur Veröffentlichung.
MD Plus Lipoflush, ein Mittel, das bei der Fettverbrennung hilft, eine Tablette. MD Plus Power Drink, ein Löffel. MD Plus Thermo Cell, ein weiteres Mittel zur Gewichtsreduktion, eine Tablette. Alle Präparate lassen sich mit wenigen Klicks im Internet bestellen. Gatlin gibt an, alle Mittel am 18. April konsumiert zu haben. Acht Tabletten, vier Pulver, alles an einem Tag. Der Übergang von solch einem legalen Leistungstuning zum Doping ist manchmal fließend. Spitzenathleten nehmen sich viel Zeit, um nach neuen Präparaten und Methoden zu suchen, die noch nicht auf der Verbotsliste stehen und von denen sie sich irgendeinen Effekt versprechen. Aus den Fancy-Bears-Dokumenten geht hervor, dass die US-Sprinterinnen Allyson Felix und Sanya Richard-Ross, beide mehrfache Olympiasiegerinnen, Dexamethason, kurz Dex genannt, eingenommen haben. Es ist ein Cortisonpräparat, das Bergsteiger verwenden, weil es gegen die Höhenkrankheit hilft, die Aufmerksamkeit steigert und die Erholung beschleunigt. Unter US-Leichtathleten scheint Dex ein echter Renner zu sein. Am 2. Juli, einen Monat vor Beginn der Spiele in Rio, meldet sich ein renommierter Arzt bei der Usada. Er betreut die Olympiamannschaft und hat zuvor für ein Team aus der amerikanischen Basketball-Liga NBA gearbeitet. Er fragt in einer E-Mail, ob Dexamethason mittels Iontophorese verboten sei. Bei der Iontophorese wird dem Körper ein Arzneimittel über Strom zugeführt, dafür werden Elektroden auf die Haut geklebt. Die Usada-Mitarbeiter stehen vor einem Rätsel. Iontophorese? Damit haben sie noch keine Erfahrungen gemacht. Manchmal ist es kompliziert, dann haben sogar die Experten Schwierigkeiten zu sagen, was Doping ist und was nicht. Schließlich nimmt sich der Usada-Wissenschaftsdirektor Matthew Fedoruk des Problems an. Er antwortet: „Dexamethason ist am Wettkampftag verboten, wenn es geschluckt wird, in den Muskel oder die Vene gespritzt oder rektal eingeführt wird. Die Verabreichung mittels Iontophorese ist aber nicht verboten. Viele Grüße!“ Eine gute Nachricht für den Arzt der Leichtathleten. Er hat damit eine neue Art der Verabreichung gefunden, einen legalen Weg, um Sportler auch am Tag des Wettkampfs mit einem dort grundsätzlich verbotenen Mittel zu behandeln.
Spritzen in der Umkleidekabine Die Usada gibt es seit 17 Jahren. Ihr größter Geldgeber ist der Staat, rund neun Millionen Dollar pumpt die US-Regierung jedes Jahr in den Kampf gegen Doping. Vom Nationalen Olympischen Komitee der USA gibt es knapp vier Millionen.
FRANCOIS-XAVIER MARIT / AFP
Dopingsünderin Chen: „Unverschämte Anschuldigungen“
Ende März debattieren die Ermittler Im vergangenen Jahr ordnete die Usada über 10 000 Dopingtests an. Schwimmstar über die Probe einer 55 Jahre alten SenioMichael Phelps wurde 13-mal kontrolliert, ren-Leichtathletin. Im Urin der Frau hatten die Wunderschwimmerin Katie Ledecky, sie Metaboliten gefunden, die auf einen vierfache Olympiasiegerin in Rio, 19-mal, Missbrauch mit Metandienon hinweisen. Justin Gatlin 14-mal, Allyson Felix 12-mal. Das anabole Steroid ist seit Jahrzehnten Einen positiven Fall gab es nicht unter den beliebt bei Sportlern und trägt den Spitznamen „Frühstück der Champions“. Der US-Stars. Die Usada hat 2016 gegen 60 Athleten Vorgang landet bei einem Usada-WissenSanktionen erlassen, darunter sind Kampf- schaftler. Ihm fehlen aber weitere Metasportler, zweit- und drittklassige Radfahrer boliten des Steroids, damit ein Verfahren und Gewichtheber, ein Rollhockeyspieler, eröffnet werden kann. Man benötige eine Reiterin. Die Dopingjäger nehmen je- „mehr Nägel im Sarg“. Fall vertagt. Es ist wichtig für Dopingfahnder, immer den Verdacht ernst, gehen jeder Auffälligkeit nach, auch wenn der betreffende mal wieder auch einen namhaften Athleten zu überführen, einen Star. Ein aufwenSportler ein noch so kleines Licht ist.
diges Kontrollsystem lässt sich nur rechtfertigen, wenn es gelingt, auch unter den Topathleten die Betrüger zu überführen. Der nationalen Anti-Doping-Agentur in Deutschland ist das in den vergangenen Jahren nicht gelungen. Sie kämpft mit dem Ruf, nichts weiter zu sein als eine Urinsammelstation, die dem deutschen Sport ein reines Gewissen bereiten soll. Die Usada verdankt ihren Ruf als Special Force vor allem dem Sieg gegen Lance Armstrong. Der Kampf gegen den ehemaligen Radprofi war lang und zäh, 2012 wurde er lebenslang gesperrt und verlor seine sieben Tour-de-France-Titel. Die Ermittler der Usada verlassen sich nicht nur auf Dopingkontrollen. Aus den E-Mails geht hervor, dass die Agentur intensiv mit Insidern und anonymen Informanten arbeitet. Einer dieser Whistleblower meldet sich am 13. Juli, drei Wochen vor der Eröffnungsfeier in Rio. Die Usada bekommt eine E-Mail, in der Betreff-Zeile heißt es: „Ermittlung“. Priorität: „Hoch“. Die Nachricht enthält den Bericht eines Mitarbeiters des US-Schwimmverbands. Der Mann erzählt von einem Vorfall, der sich an der Lynbrook High School in San Jose, Kalifornien, zugetragen haben soll, in einem Trainingslager der chinesischen Olympiamannschaft. Chinas Topschwimmer bereiten sich im Juli 2016 in den USA auf Rio vor. Der Informant schreibt, der Vater eines Athleten des lokalen Schwimmvereins habe am 7. Juli in der Umkleidekabine der Lynbrook High School beobachtet, „wie sich dort Schwimmer des chinesischen Nationalteams Spritzen setzten und Pillen schluckten. Da der Mann Mandarin spricht, fragte er die Sportler, was sie da täten. Sie sagten, sie würden Nährstoffe und Vitamine zu sich nehmen“. Bei der Usada setzt ein reger E-MailAustausch ein. Molly Tomlonovic, die Koordinatorin für die Dopingtests, verteilt Aufgaben an ihr Ermittlerteam wie eine Hauptkommissarin auf dem Polizeirevier: „Könnt ihr unsere Kontrolleure zu der Trainingsgruppe schicken? Könnt ihr herausfinden, wann die Sportler im Pool sind oder wo sie wohnen?“ Mithilfe der Wada bekommt Tomlonovic eine Liste mit den Namen von chinesischen Schwimmern zugeschickt, viele davon sind Medaillengewinner bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Die Sportler seien bislang nur selten oder nie auf Wachstumshormon und Epo getestet worden, heißt es in einer Zusatzinformation. In China würden die erforderlichen Bluttests kaum gemacht. Aus den E-Mails, die der SPIEGEL einsehen konnte, geht nicht hervor, wie es mit den Chinesen weiterging. Die Usada erklärt auf Anfrage, dass sie am 16. und DER SPIEGEL 3 / 2017
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DYLAN MARTINEZ / REUTERS
JEAN-PIERRE AMET / REUTERS
Sport
US-Sprinter Gatlin, Gay: Der Übergang von einem legalen Leistungstuning zum Doping ist manchmal fließend
17. Juli von 22 chinesischen Schwimmern Urintests genommen habe. Ob es darunter positive Fälle gab, teilt die Usada nicht mit. Die Fahnder planten noch einen zweiten Test fünf Tage später, doch da waren die Chinesen schon abgereist. Der chinesische Schwimmverband dementiert, dass es Doping im US-Trainingscamp gegeben habe. Ein Funktionär teilt mit: „Jeder, der gesunden Menschenverstand hat, sollte begreifen, dass diese Anschuldigungen unverschämt und bösartig sind.“ Bei Doping habe man eine „Null Toleranz“-Haltung. Fest steht: Bei den Olympischen Spielen in Rio wurde die chinesische Schwimmerin Chen Xinyi positiv auf Hydrochlorothiazid getestet, ein Mittel, mit dem Dopingsubstanzen verschleiert werden können. Sie wurde für zwei Jahre gesperrt.
Anti-Doping-Kampf ausgezeichnet haben. Wada-Mann Kemp zählt die Athleten auf, darunter sind auch Veronica Campbell-Brown aus Jamaika, eine dreifache Olympiasiegerin im Sprint, und die Spitzenläuferin Shaunae Miller von den Bahamas, die bei den Spielen in Rio zu den Favoriten über 400 Meter gehört.
Wie gewonnen, so zerronnen Wegen Dopings nachträglich aberkannte olympische Medaillen bei Sommerspielen, seit 2004 2004 (Athen) davon:
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Gold
Blutdoping und Kokain Jahre mit Olympischen Spielen sind immer Hochphasen des Dopings. Um eine Medaille zu gewinnen, schlucken und spritzen viele Athleten, was das Zeug hält. Deshalb sind auch die Jäger im Dauereinsatz. Es geht darum, möglichst viele Betrüger noch vor Beginn des Großereignisses auffliegen zu lassen. Es ist jedes Mal ein Wettlauf gegen die Zeit, den – das ist die traurige Realität im Anti-Doping-Kampf – eher selten die Fahnder gewinnen. Am 14. Juli wird die Usada von der Wada um Amtshilfe gebeten. Es gebe da neun internationale Sportler, schreibt der Wada-Vizedirektor Stuart Kemp, die sich in den USA auf Rio vorbereiten würden und für die Fahnder „hohe Priorität“ hätten. Es seien von ihnen „bislang keine Tests aufgenommen worden“. Es gibt eine Art Generalverdacht gegen Verbände, die sich bisher wenig im 100
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Russland Ungarn Weißrussland 2 5 Ukraine Silber Bronze USA Deutschland, Irland, Griechenland
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2008 (Peking)
Russland Weißrussland Kasachstan 7 17 17 Ukraine China Nordkorea Schweden, Italien, Norwegen, Bahrain, Türkei, Armenien, Kuba, Usbekistan, Griechenland, Aserbaidschan
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2012 (London)
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Russland Kasachstan Weißrussland 7 7 Ukraine Moldawien Türkei, USA, Usbekistan, Armenien
2016 (Rio de Janeiro) bisher zwei Bronzemedaillen (Kirgisistan, Moldawien)
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Die Anti-Doping-Organisationen in der Karibik stehen schon lange in der Kritik: kein Geld, kaum Personal, zu wenig Kontrollen. Kemp bittet die Usada, diese „Olympiateilnehmer mit erhöhtem Risiko“ so schnell wie möglich zu testen. „Geht das?“ „Gern“, schreibt Molly Tomlonovic. Allerdings habe es bei einigen dieser Sportler bereits „erfolglose Versuche“ gegeben. Und sie habe im Moment keine Informationen über deren Aufenthaltsort. Mit anderen Worten: Zwei der schnellsten Läuferinnen der Welt sind offenbar vor den Spielen wenig oder gar nicht getestet worden und waren für die Kontrolleure zwischenzeitlich auch nicht mehr auffindbar. Die Fahnder blieben dran. Die Usada teilt mit, dass man bis zum Beginn der Spiele doch noch acht von neun Athleten aufspüren und testen konnte. So waren die Sportler vor Rio wenigstens nicht gänzlich unüberwacht. Die Dokumente, die der SPIEGEL einsehen konnte, sind oft verstörend. Es ist erstaunlich, wie viele Ansatzpunkte die Dopingfahnder haben, was die Ermittler alles wissen, was sie alles sehen. Und wie wenig sie dann doch gegen die Täter unternehmen können. Der Dopingermittler Reid Aikin kümmert sich bei der Wada um die biologischen Pässe der Athleten. Darin werden die Ergebnisse der Urin- und Blutproben aufgelistet und verglichen. Aikin weiß, wie die Profile zu bewerten sind. Sie erzählen viel über die Sportler, wie sie trainieren, was sie konsumieren. Eine Woche vor Beginn der Spiele in Rio blickt der Fahnder in einen Abgrund. Auf seinem Schreibtisch hat er das Blutprofil einer Langstreckenläuferin aus Europa, die mehrere Medaillen bei inter-
SPIEGEL TV MAGAZIN SONNTAG, 15. 1., 23.30 – 0.15 UHR | RTL
nationalen Meisterschaften gewonnen hat. Die Daten alarmieren ihn. „Neuer Fall“, schreibt Aikin in die Betreffzeile einer E-Mail, die er am 28. Juli an einige Wada-Kollegen versendet. „Sie wurde in den vergangenen Wochen sehr viel getestet“, schreibt er, „aufgrund des hämatologischen Profils in ihrem Pass ist es klar, dass sie Blutdoping betreibt. Sie wird bei den Spielen starten.“ Was also tun? Sportler, die auffällige Werte in ihrem biologischen Pass haben, können nicht sofort gesperrt werden. Zuerst müssen mehrere Experten die Fälle analysieren und aus den Profilen ein Dopingvergehen ableiten. Ein Prozess, der Zeit kostet. „Es scheint kompliziert, das noch vor Rio hinzubekommen“, antwortet der WadaRechtsexperte Julien Sieveking. Die Wada bestätigt dem SPIEGEL, dass sie bei der Läuferin anfangs von „wahrscheinlichem Doping“ ausgegangen sei. Später habe sich aber herausgestellt, dass es „einen Verfahrensfehler“ gegeben habe. „Das Profil wurde korrigiert, danach beurteilten die Experten den Fall nicht mehr als Dopingvergehen.“ Akte geschlossen. Es war wohl falscher Alarm. Es ist der Fluch der Ermittler, dass die Fälle selten eindeutig sind. Sie kämpfen immer wieder mit dem Zeitdruck, mit einem komplizierten Regelwerk und Laboren, die manchmal schlampig arbeiten. Deswegen bleibt es am Ende so oft nur beim Verdacht. Die Hilflosigkeit der Fahnder ist mitunter nur schwer zu ertragen. Je näher die Eröffnungsfeier in Rio rückt, desto verzweifelter wird ihr Kampf. Am 2. August, drei Tage bevor im Maracanã-Stadion das olympische Feuer entzündet wird, klingelt das Telefon von Usada-Rechtsanwalt William Bock. Am anderen Ende der Leitung spricht der Vater eines US-Ringers. Er erzählt, dass im Olympiazentrum der amerikanischen Ringer, das ebenfalls in Colorado Springs liegt, gedopt werde. Zwei Dutzend Sportler sollen in den Wochen vor Olympia Kokain konsumiert haben, sagt der Anrufer, vor allem, um vor Rio an Gewicht zu verlieren. Der Mann nennt auch die Namen der Ringer. Die Informationen habe er von seinem Sohn. Alles sei unter der Aufsicht eines Assistenztrainers geschehen. Bock informiert seine Usada-Kollegen per E-Mail über das Telefongespräch mit dem Whistleblower. „Ich hatte das Gefühl, dass der Mann ziemlich glaubwürdig ist“, schreibt er. Und: „Die männlichen Ringer am Olympiazentrum werden heute noch getestet. Die Frauen sind heute Morgen schon nach Rio abgereist.“
Der US-Ringerverband bezeichnet die Vorwürfe des Whistleblowers als „lächerlich und absolut falsch“. Aus den Fancy-Bears-Dokumenten geht nicht hervor, ob die Ringer wirklich noch getestet wurden und was dabei rausgekommen ist. Dem SPIEGEL teilt die Usada mit, dass sie bei den Sportlern unverzüglich zielgerichtete Dopingkontrollen durchgeführt habe. Es gebe außerdem Ermittlungen gegen den Assistenztrainer, mehr könne man zurzeit leider nicht sagen. Von den fünf Sportlern, die der Whistleblower der Usada nannte, kämpften später zwei in Rio.
Dschungel-Kandidaten 2017 – Wiedergeburt der Totgeglaubten; Der ganz legale Wahnsinn – Vergewalti-
Die Zweifel der Ermittler Travis Tygart, der Usada-Chef, sagt, er sei ein großer Sportfan – trotz allem. Er verfolgte im Sommer viele Olympiawettkämpfe zu Hause am Fernsehgerät. Manchmal fiel ihm das nicht leicht. Tygart sah Shaunae Miller, die 400-Meter-Läuferin von den Bahamas, die für Dopingtests zwischenzeitlich nicht mehr aufzufinden war. Sie hechtete sich im Finale mit letzter Kraft ins Ziel und wurde Olympiasiegerin. Tygart sah die amerikanischen Ringer, sie gewannen in Rio zwei Goldmedaillen und einmal Bronze. Und Tygart sah Chinas Schwimmer, auch ihre Olympiabilanz war nicht schlecht: sechs Medaillen. Tygart sah auch viele russische Athleten, die in Rio auf die Siegerpodeste stiegen. Vor Olympia war durch eine Untersuchung der Wada, den sogenannten McLaren-Report, herausgekommen, dass in Russland jahrelang Sportler systematisch mit Dopingmitteln versorgt wurden. Funktionäre, Mitarbeiter des Moskauer Anti-Doping-Labors und sogar der Geheimdienst waren in den Komplott verstrickt. Das IOC weigerte sich trotz der Enthüllungen, das russische Team von den Spielen in Rio auszuschließen. Die Usada wollte gegen diesen Beschluss vor dem Internationalen Sportgerichtshof klagen. Aber es fanden sich außerhalb der USA zu wenig Unterstützer für einen juristischen Feldzug gegen das IOC. Ein paar Wochen nach Olympia tauschte sich Tygart noch einmal mit Kollegen über die Spiele aus. Bei den Usada-Ermittlern hatte sich viel Ärger angestaut. Einer schrieb: „Das Problem mit dem Anti-Doping-Kampf ist, dass es einfach zu wenig Unterstützung von höchster Stelle gibt.“ Larry Bowers, Chefmediziner der Usada, versendete am 6. September mitten in der Nacht einen Satz, der wie ein Schlusswort klang: „Es geht immer nur um Macht und um Geld und um Korruption.“ Rafael Buschmann, Lukas Eberle, Christoph Henrichs, Gerhard Pfeil Mail:
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Dschungel-Kandidatin Gina-Lisa Lohfink
gungsdroge K.-o.-Tropfen; Kälte, Hunger, Chaos – Die vergessenen Flüchtlinge Europas.
SPIEGEL TV REPORTAGE DIENSTAG, 17. 1., 23.10 – 0.10 UHR | SAT.1
Krieg gegen den Körper – Von Ess-Störungen und Sportsüchtigen Magersucht kann lebensgefährlich sein, zehn Prozent aller Betroffenen verlieren den Kampf gegen die Anorexie. Auch Sport kann süchtig machen und ist dann alles andere als gesund. Doch warum führen Menschen freiwillig Krieg gegen den eigenen Körper? SPIEGEL TV erzählt die Geschichten von Betroffenen und beschreibt, wie es gelingen kann, wieder Frieden mit dem eigenen Körper zu schließen.
SPIEGEL GESCHICHTE DONNERSTAG, 19. 1., 21.05 – 22.00 UHR | SKY
Die Konferenz – Wie der Holocaust organisiert wurde Auf der sogenannten Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, vor genau 75 Jahren, besprachen führende NS-Vertreter die „Endlösung der Judenfrage“. Gastgeber Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, wollte wichtige Ministerien und Parteiämter in die Vorbereitungen zur Ermordung der europäischen Juden einbeziehen. Es ging um die systematische Vertreibung und Vernichtung von elf Millionen Menschen.
Wissenschaft+Technik Artenschutz
„Die Tiere sterben im Stacheldraht“
PETRA KACZENSKY
John Linnell, 48, Ökologe am Institut für Naturforschung im norwegischen Trondheim, über offene Grenzen für Wölfe, Bären und Rotwild SPIEGEL: Viele Länder haben,
als Reaktion auf die europäische Flüchtlingskrise, neue Grenzzäune errichtet – wie wirkt sich das auf die Wildtiere aus? Linnell: Die verstärkten oder neuen Barrieren halten nicht nur Flüchtlinge zurück, sie töten auch Tiere. Gemeinsam
mit Kollegen habe ich die Situation in Europa analysiert, was nicht einfach war, denn die Details der Grenzsicherung sind häufig geheim. Wir waren schockiert über die Dimension – Hunderte Zaunkilometer gefährden viele Tierarten, deren Lebensräume durch uns Menschen ohnehin schon eingeschränkt sind. SPIEGEL: Was macht die Zäune so gefährlich? Linnell: Manche Tiere sterben, weil sie sich im Stacheldraht verheddern, Luchse zum Beispiel. Bären und Wölfe wiederum, die etwa in der Grenzregion zwischen Slowenien und Kroatien leben, brauchen große Reviere. Viele Wolfsrudel dort lebten bislang auf beiden Seiten der
DE AGOSTINI / GETTY IMAGES
Luchs in Slowenien
Grenze. Die Isolation kann zu Inzucht führen und so die Population schwächen. SPIEGEL: Das dürfte Wolfsgegner eher freuen … Linnell: Wenn Sie von Jägern sprechen, trifft das nicht zu. Denn auch das Rotwild kriegt Probleme, wenn plötzlich ein Zaun seinen Lebensraum zerschneidet. Es waren die Jäger, die schnell gefordert haben, die slowenisch-kroatische Grenze für Wild zu öffnen. SPIEGEL: Wie ließe sich die Situation entspannen? Linnell: Erst mal müssen wir erreichen, dass die Politik auf das Thema aufmerksam wird. Es ist ja auch für uns neu. Wir heutigen Biologen sind mit dem Fall des Eisernen Vorhangs aufgewachsen – wir hätten nie gedacht, dass die Zäune zurückkommen würden. Jetzt hoffen wir, dass Öffnungen geschaffen werden, zum Beispiel in sehr unwegsamem Gelände, wo Menschen ohnehin schwer vorankommen würden. Anderswo könnten Zaunabschnitte zumindest dann für einige Zeit abgebaut werden, wenn das Wild auf saisonaler Wanderschaft ist. jko
Kommentar
Äuglein zu Schlafmittel für Säuglinge und Kleinkinder darf es nur auf Rezept geben. Fast alle Eltern kennen diese unendliche Erschöpfung, mehr Übelkeit als Müdigkeit, die sich irgendwann bei jedem einstellt, der über Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre fast jede Nacht aufstehen muss, um ein weinendes Kind zu beruhigen. Irgendwann kommt der Punkt, da ist die Versuchung riesig, beim Nachwuchs medikamentös nachzuhelfen, um sich selbst die ersehnte Nachtruhe zu verschaffen. Zumal man nicht einmal zum Arzt gehen muss, um an die passenden Mittel zu kommen – sie sind ohne Rezept in der Apotheke erhältlich. Säfte mit dem Wirkstoff Doxylamin zum Beispiel, die ganz offiziell als Schlafmittel für Kinder ab sechs Monaten zugelassen sind. Oder ein Sirup, der eigentlich gegen Übelkeit helfen soll, aber auch wunderbar müde macht. In Internetforen werden solche Mittel von Eltern weiterempfohlen. Jetzt hat der Berufsverband der Kinderund Jugendärzte davor gewarnt, dass diese 102
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Medikamente gerade für Säuglinge und Kleinkinder erhebliche Gefahren bergen, ja sogar zum Tod führen können, weil sie bisweilen die Atmung stören. Diese Warnung ist wichtig – und dass sie überhaupt ausgesprochen werden muss: ein Skandal. Denn schon vor mehr als vier Jahren hatten führende Kinderärzte ein Verbot dieser Mittel für Säuglinge und Kleinkinder gefordert. Passiert ist jahrelang nichts. Während es in etlichen europäischen Ländern deutlich strengere Regelungen gibt, reichten dem hiesigen Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Warnhinweise im Beipackzettel. Aber wer liest den schon? Verzweifelten Eltern sollte es so schwer wie möglich fallen, zu einem Schlafmittel fürs Kind zu greifen. Seit Kurzem nun, endlich, prüft das BfArM die Rezeptpflicht. Man kann nur hoffen, dass sie tatsächlich kommt – schnell. Veronika Hackenbroch Mail:
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Medizingeschichte
Es ist nicht bekannt, wer jener Kämpfer war, für den einst das ebenso nützliche wie hübsche Kunstglied gefertigt wurde, das jetzt im Mittelalterbereich des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin zu sehen ist. Klar ist aber, dass der Mann wohl um 1520 in einer Schlacht den rechten Unterarm verlor. Reha-technisch offenbar perfekt betreut, konnte er später über einen Druckmechanismus die Finger seiner künstlichen Hand bewegen. „Weltweit sind nur fünf solcher frühen Prothesen bekannt“, sagt DHM-Sammlungsdirektor Marc Fehlmann, „unsere ist wegen der beweglichen Finger einzigartig.“ Nur hochrangige Kriegsversehrte hätten sich ein solches Ersatzkörperteil leisten können, so Fehlmann. Andere mussten froh sein, wenn sie eine so schwere Verletzung überhaupt überlebten. jko
Klein, kleiner, Merkur Ohnehin ist er der Planetenwinzling im Sonnensystem – und er schrumpft weiter. Das zeigen Aufnahmen der 2015 beendeten Mission der US-Raumsonde „Messenger“. Kartierungen zufolge büßte der Planet, der der Sonne am nächsten kommt, in den vergangenen vier Milliarden Jahren etwa 14 Kilometer Durchmesser ein. Seit seiner Entstehung kühlte der Himmelskörper kontinuierlich ab und zog sich in der Folge zusammen. Dass der Prozess andauert, lässt sich aus den „Messenger“-Bildern lesen: Sie offenbaren geologische Formationen, die auf jüngere tektonische Aktivität hindeuten.
NASA / JHUAPL / CARNEGIE INSTITUTION OF WASHINGTON / USGS / ARIZONA STATE UNIVERSITY
Armprothese um 1510
DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM, BERLIN / SEBASTIAN AHLERS
Old Ritterhand
Fußnote
16 Prozent der Deutschen interessieren sich kaum oder fast gar nicht für Wissenschaft, das ergab eine Umfrage für das aktuelle Wissenschaftsbarometer. Allen Beschwörungen eines „postfaktischen Zeitalters“ zum Trotz stieg aber die Zahl der Bürger, die ein großes oder sehr großes Interesse an Forschungsthemen vermelden, zuletzt stark an: von 33 Prozent der Befragten vor zwei Jahren auf immerhin 41 Prozent heute. DER SPIEGEL 3 / 2017
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Zeitgeschichte Ein Historiker ist dem Rätsel eines alten Bunkers in Brandenburg auf der
Spur. Birgt der Stollen geheime Akten über Waffenexperimente der Nazis?
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Dr. Seltsam aus Kleinmachnow
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
SDTB / HIST. ARCHIV / NL GOEBEL
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Artefakte im freigelegten Teil des Genshagener Bunkers: Ein Gutteil ist noch immer nicht erkundet
Forscher im Post-Labor*: Bombe mit ungeheurer Sprengkraft
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Wissenschaft
* Um 1940.
2011 ließ Karlsch auf dem Gelände von Leipziger Spezialisten geomagnetische Messungen durchführen. Erst mit diesem Verfahren gelang es, fast sieben Jahrzehnte nach der Sprengung durch die SS, wieder einen Zugang zu dem Bunker zu finden. Verblüfft stellten die Ausgräber fest, dass sie auf ein verzweigtes Gängesystem gestoßen waren. Karlsch hatte zuvor vermutet, dass es sich bei dem Bunker um einen einzelnen, großen Raum handelte. Wie sicher war es, in den Stollen hinabzusteigen? Auf seinen Exkursionen in die Unterwelt wurde Karlsch meist vom Ludwigsfelder Vizebürgermeister Torsten Klaehn begleitet. Der schaufelte eigenhändig Sand und Steine beiseite. „An einigen Stellen hat es bedenklich geknackt, da ist die Statik wohl nicht ganz sicher“, berichtet der stellvertretende Rathauschef. Einen Gutteil der unterirdischen Anlage haben Karlsch und Klaehn aus diesem
BPK
W
enige Tage vor Kriegsende erschüttert ein mächtiges Kawumm die brandenburgische Ortschaft Genshagen. Die Rote Armee ist fast schon in Sichtweite, doch der Feind aus dem Osten hatte nicht gefeuert. Was war geschehen? Acht Jahre zuvor hatte sich das kleine Genshagen zu einer großen Rüstungsschmiede für die Nazis aufgeschwungen: Daimler-Benz eröffnete damals ein Flugmotorenwerk in dem Dorf bei Ludwigsfelde. Gleich neben der Fabrik gruben Arbeiter zu Beginn der Vierzigerjahre einen Stollen ins Erdreich. In diesem Bunker fanden Frauen aus dem Werk bei Luftangriffen Schutz. Als im April 1945 alliierte Truppen nahten, machte sich ein Kommando der SS an die Arbeit und sprengte, mit großem Aufwand, sämtliche fünf Zugänge des Bunkers. Ziemlich viel Getöse für einen Stollen, in dem vor allem Arbeiterinnen bei Bombenangriffen kauerten, findet der Berliner Historiker Rainer Karlsch. War der Tunnel im Untergrund womöglich weit mehr als nur schützendes Obdach? Hatten ihn seine Erbauer vielmehr von Beginn an als Lagerort für klandestine Aktenbestände angelegt? Wundersam immerhin, dass sich weder in den Archiven von Daimler noch in anderen Dokumentensammlungen Pläne des Bunkers finden. Geschichtskundler widmeten Genshagen bislang wenig Zeit und Mühe, doch Zeitzeugen überlieferten allerhand Mündliches, auch über den Bunker. Darunter offenkundig Falsches wie etwa die Behauptung, der Stollen habe gigantische Ausmaße gehabt. Aber auch belastbare Aussagen, darunter jene, dass das Gängesystem im Boden von Hitlers Totenkopf-Orden bewacht wurde. Auch darüber wundert sich Karlsch: „Eine normale Luftschutzanlage muss man nicht mit SS-Wachposten sichern.“ Karlsch ist ein Wissenschaftler, der um Rehabilitation ringt. 2005 hat er in einem Buch behauptet, deutsche Physiker hätten noch vor Kriegsende drei Nuklearwaffentests durchgeführt. Die Reaktion auf diese gewagte These pendelte zwischen Spott und schroffer Ablehnung. Jetzt widmet er sich einem Projekt mit überschaubarem Blamagefaktor: Er machte sich auf die Suche nach dem unterirdischen Labyrinth, dessen Position nicht durch Karten überliefert ist. Andere vor ihm sind an dieser Mission gescheitert. In den Fünfzigerjahren buddelten Arbeiter mit Schaufeln nach dem Stollen, unter dem Vorwand, Kies für den Winterdienst besorgen zu müssen. Wer damals dahintersteckte, ist unklar. Jahrzehnte später, in den Achtzigern, rückte gar ein Trupp mit Baggern an. Sämtliche Versuche blieben vergebens.
Diktator Hitler, Postminister Ohnesorge 1937 250 000 Reichsmark für den Kampfgefährten
Grund noch immer nicht erkundet. Schon jetzt gilt ihnen das Bauwerk im Erdreich jedoch als „ziemlich genial“. Die Auftraggeber von Daimler-Benz hatten zu Beginn der Vierzigerjahre eigens eine Bergbaufirma aus dem Ruhrgebiet engagiert, um den verwinkelten Stollen in den märkischen Sand zu rammen. Der Tunnel wurde aus Fertigbetonteilen gebaut, die nur noch miteinander verbunden werden mussten – eine damals hochmoderne Bauweise. Offenbar handwerkten die Arbeiter bis zuletzt an dem Stollen, der dann doch unvollendet blieb; Karlsch fand große Bestände unverlegter Fliesen von Villeroy & Boch in einem der Gänge. Doch bislang sind die Tunnelforscher im Untergrund weder auf verborgenes Nazigold noch auf Geheimdokumente gestoßen. Die Sprengung der Eingänge gegen
Ende des Krieges hat die karge Inneneinrichtung heftig durcheinandergewirbelt. Was in den Fluren der inzwischen gesichteten Bunkerteile liegt, ist völlig wertlos: rostige Bettgestelle, alte Weinpullen, Medizinflaschen – und Stahltüren, die bei der Explosion aus der Verankerung gerissen worden waren. Dennoch wartet in den noch verborgenen Teilen des Genshagener Stollens womöglich eine Überraschung auf die Historiker. Denn Berichte von Zeitzeugen besagen, dass in den chaotischen Apriltagen vor Kriegsende Lastwagen auf das Gelände gerollt seien. Insbesondere einer der Diensthabenden des bis heute auf dem Gelände zu besichtigenden Wachhäuschens hatte bis zu seinem Tod vor einigen Jahren behauptet, die SS sei kurz vor der Sprengung mit ominöser Fracht vorgefahren. Schafften Mitglieder des Nazi-Elitekorps im Angesicht des Untergangs wichtige Unterlagen oder gar Wertgegenstände beiseite? Historiker Karlsch hat diese Möglichkeit auf ihre Plausibilität geprüft und dabei eine interessante Indizienkette geknüpft. Was also geschah damals im DaimlerBenz-Werk in Genshagen? Kurz vor dem Zusammenbruch des Naziregimes wurde plötzlich die Produktion umgeworfen. Nun mussten die Arbeiter im Werk vor allem Triebwerke für die Messerschmitt 262 montieren, den ersten in Serie gebauten Düsenjäger der Welt. Hitler hatte die Weiterentwicklung des Turbofliegers lange gebremst. Seine Ingenieure quälte er mit der abwegigen Furcht, dass „die gewaltigen Beschleunigungskräfte in den Kurven und beim Abfangen Bewusstseinsstörungen und Ohnmacht zur Folge haben“ würden. Erst im letzten Kriegsjahr erkor der Diktator das Strahlenflugzeug jäh zur Wunderwaffe. Zum Chef der Düsenjägerproduktion wurde im März 1945 SS-Mann Hans Kammler ernannt. Der Urahn aller Kampfjets entwickelte sich jedoch zum Pannenflieger. Die größten Schwachstellen der Maschine waren die aus minderwertigem Stahl gegossenen Triebwerke, die immer wieder in der Luft explodierten. Dennoch gelang es Kammler, bei den Alliierten noch zu Kriegszeiten den Eindruck zu erwecken, bei dem Flugzeug handele es sich um ein technisches Wunderwerk. Denkbar also, dass Kammler Konstruktionspläne des Pleitentriebwerks an geheimer Stelle bunkern wollte, um sie als Faustpfand für spätere Verhandlungen mit den Kriegsgegnern zu nutzen. Als die SS bei Kammler in den von äußerster Ressourcenknappheit beherrschten letzten Kriegstagen um Lastwagen bat, meldete der nur kühl und knapp per Telegramm: „Gemaess Führerbefehl gehen Massnahmen Strahlflugzeug Militärischen DER SPIEGEL 3 / 2017
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Tunnelquerschnitt Deckenhöhe: ca. 2,30 m
B E R L I N Z u m I n du s t
Hakeburg (Kleinmachnow)
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Potsdam Kartenausschnitt
Einstieg
B R A N D E N B U R G
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bislang nachgewiesene Tunnel der
Bunkeranlage Genshagen 100 m
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voraus. Bin deshalb nicht in der Lage gewesen, gewünschten Lkw freizustellen. Bau-Insp. der Waffen-SS Reich Süd, Gez. Kammler“. Benötigte der SS-General den Transporter dringend selbst, um heimlich Akten abtransportieren zu lassen? Karlsch hält diesen Lauf der Dinge nicht für übermäßig wahrscheinlich. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Regimes wurden ganze Eisenbahnwaggons mit Material aus dem Werk beladen, um sie in den Süden Deutschlands bringen zu lassen. Zudem war die Beschaffenheit der Triebwerke nicht besonders geheim. Etliche Konstrukteure plauderten nach Kriegsende gegenüber alliierten Militärs stolz ihr Wissen über die Technik des Jets aus. Deshalb gerät nun eine völlig andere Einrichtung ins Visier des Historikers, die auf den ersten Blick wenig bis gar nichts mit dem Genshagener Flugmotorenwerk zu tun hat: die etwa 15 Kilometer entfernt liegende Hakeburg in Kleinmachnow. Ab 1938 bezog Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge das einstige Herrenhaus als Privatresidenz. Der oberste Postmann war bei Einzug bereits 66 Jahre alt, habe seine neue Wohnung in dem burgähnlichen Gebäude aber wohl als „Chambre Séparée“ nutzen wollen, wie der Hakeburg-Forscher Hubert Faensen bemerkt. Der Minister im Rentenalter turtelte unverdrossen mit jungen Damen und heiratete schließlich die um 40 Jahre jüngere Postbeamtin Gusti Videcnik; dazu musste er sich aber erst von seiner zweiten Ehefrau scheiden lassen. Hitler, für gewöhnlich allergisch gegen unstete Lebensverhältnisse bei seinen Ministern, gratulierte dem Veteranen artig zum 70. Geburtstag und schenkte dem alten NSDAP-Kampfgefährten sogar 250 000 Reichsmark; Ohnesorge soll mit der Fi106
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nanzspritze seine Frau abgefunden und ihr ein neues Haus gekauft haben. Zur Pflege des eigenen Lebensglücks musste der Parteibonze nicht lange überredet werden. Allein die Hakeburg ließ er für ein Vermögen sanieren und umbauen – samt Badehaus und Parkanlage. Was dagegen bizarr anmutet: Neben seinen Privaträumen ließ der Reichspostminister auf dem Gelände ein Forschungs- und Versuchszentrum einrichten, in dessen Laboren Forscher an Infrarotnachtsichtgeräten und ferngesteuerten Raketen bastelten. Sogar an Plänen für eine Atombombe wurde im Auftrag des Postministers gearbeitet. Das alles geschah zwar mit Wissen der obersten Naziführung. Doch liefen Ohnesorges Rüstungsexperimente lange unterhalb von Hitlers Radar – wohl auch, weil die Behörde schon im „Dritten Reich“ eher den Charme eines verrosteten Posthorns verströmte. „,Ach ja, die Post, seufzte man dann“, erzählt Karlsch. Mit fortschreitender Kriegsdauer behelligte Ohnesorge Hitler dann allerdings immer häufiger mit den Schöpfungen aus seinen Geheimkellern. Eine Grenze war offenbar erreicht, als die Reichspostforschungsanstalt ihren obersten Befehlshaber über die „Bedeutung der Atomzertrümmerung für die Herstellung von Bomben mit ungeheurer Sprengwirkung“ aufklärte. Zunehmend irritiert über die Zudringlichkeit seines Dr. Seltsam aus Kleinmachnow, ließ Hitler Ohnesorge mit seinen Anliegen nun meist auflaufen. Die eigentliche Begründung dafür soll er im kleinen Kreis nachgeliefert haben: „Soweit kommt es noch, dass der Reichspostminister für mich den Krieg gewinnen muss.“ Nach Kriegsende zeigte sich, wie innovativ die Waffenkammer der Reichspostforschungsanstalt gearbeitet hatte. Unter Ohnesorges Kommando wurden beispiels-
weise Flugabwehrraketen entwickelt, die mit Fernsehern gelenkt werden konnten. Auch hatten die Forscher im Auftrag des Postlers Kleinbildkameras entwickelt, die in Raketen installiert wurden und diese in sehende Bomben verwandelten. Gemessen an dem Vernichtungspotential dieser Waffen hätte Ohnesorge eigentlich als Hauptkriegsverbrecher im Nürnberger Prozess auf der Anklagebank neben seinen Parteigenossen Hermann Göring und Rudolf Heß Platz nehmen müssen. Doch der Reichspostminister lebte nach dem Krieg beinahe unbehelligt und in Freiheit bis kurz vor seinem 90. Geburtstag. Ein Teil der Akten, die über Ohnesorges kurioses Waffenlabor Auskunft geben könnten, ist verschwunden. Ließ der altgediente Minister das Material im April 1945 wegschaffen, bevor es der Roten Armee in die Hände fallen konnte? Ohnesorge verfügte über exzellente Kontakte zur SS; ein Transport der Unterlagen hätte also vermutlich problemlos organisiert werden können. Indizien weisen darauf hin, dass der Stollen in Genshagen durchaus das Ziel einer solchen Unternehmung hätte gewesen sein können. So will Torsten Klaehn aus dem Ludwigsfelder Rathaus von Zeitzeugen in Erfahrung gebracht haben, dass zumindest ein Transport aus der Hakeburg den Bunker am Daimler-Benz-Werk erreicht habe. Zudem ist bekannt, dass die Post auf ihrem Gelände in Kleinmachnow einen ähnlichen Stollen ins Erdreich treiben wollte; doch bei aller Innovationsfähigkeit im Rüstungsbereich – an dieser Aufgabe scheiterte Ohnesorges Behörde anscheinend. Historiker Karlsch hält es für denkbar, dass die Postforscher im Trubel der letzten Kriegstage und mangels einer Alternative auf das unterirdische Verlies in Ludwigsfelde auswichen – möglicherweise ohne das Wissen ihres Chefs. Ohnesorge jedenfalls verlor bis zu seinem Tod 1962 in München kein Wort über versteckte Akten. Dass sich alliierte Kräfte unmittelbar nach Kriegsende des Aktenschatzes bemächtigt haben – sofern er denn in Genshagen versteckt wurde –, hält Karlsch für ausgeschlossen. Denn in einem der Tunnel entdeckte er eine andere Art von Kostbarkeit: Ziegelsteine, die an einer Wand über eine Länge von etwa 100 Metern gestapelt waren. „Solch Baumaterial war nach Ende des Krieges extrem begehrt. Jede Armee hätte sich sofort darüber hergemacht“, behauptet Karlsch. Wenn also tatsächlich Unbekannte wertvolle Dokumente in der Ludwigsfelder Bunkergruft verborgen haben, dann hätten sie sehr erfolgreiche Arbeit geleistet: Gut 70 Jahre nach Kriegsende wäre dieses Versteck noch immer nicht aufgeflogen. Frank Thadeusz Mail:
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Wer solche Apps benutzt, sollte sich im Klaren darüber sein, dass theoretisch jedermann Kenntnis von seinem allmorgendlichen Herzrasen oder den monatelangen Schlafstörungen erlangen könnte, fast so, als würden die Messdaten auf Facebook gepostet. Interessenten gibt es viele: Versicherungen könnten sie zum Netzwelt Tausende Apps wollen Beispiel verwenden, um Risikoprofile zu uns fit und gesund machen. erstellen. Längst reichte die heutige HandykapaDoch manche bewirken wohl zität, um die Körperdaten lokal zu speidas Gegenteil – und saugen chern, doch stattdessen verschwindet der dabei kostbare Nutzerdaten ab. Schatz gern auf Firmenservern im Ausland. „Oft komme ich nicht an meine eigenen er Trainer ist immer dabei, wie ein Rohdaten“, kritisiert Billy Sperlich, ProfesSchatten, tagein, tagaus, beim sor für Sportwissenschaft an der UniversiSport („Ziel erreicht!“), beim Es- tät Würzburg: „Außerdem gibt es weder sen („Heute 3606 Kalorien verbrannt“) offene Standards noch unabhängige Qualiund sogar im Bett, wo er den Schlummer tätsgutachten. All das behindert die Forüberwacht. Nach dem Aufwachen lobt der schung.“ Coach die Schlafqualität („91 Prozent“), später im Büro meckert er über die Dauer der Konferenz und treibt an zu mehr Bewegung („Los!“). Das darf der Trainer, dafür ist er ja da. Die Moppel freuen sich, die Trägen, aber auch die Sportlichen, die sich viel vorgenommen haben fürs neue Jahr. Jetzt, nach der festtäglichen Völlerei, setzen viele auf Fitness-Apps. Die Programme, die auf Handys, in Armbändern oder in Smart Watches laufen, sollen sie zu neuer Form hochpeitschen, sie fit und gesund machen für ein neues, besseres Leben. Die Selbstvermessung, einst schrulliges Hobby von Geeks, ist zum Breitensport geworden: Etwa ein Drittel der Deutschen, die über 14 Jahre alt sind, messen ihre Körperdaten mit Systemen von Firmen wie Apple, Google, Garmin oder Runtastic, so eine Umfrage des Branchenverbands Bitkom. Das entspricht ungefähr dem Bevölkerungsanteil, der sich in Sportvereinen Datenschleudern bewegt. Der Weltmarkt für Fitness-Tracker Ergebnis einer Datenschutzwird auf rund vier Milliarden Dollar jähr- studie zu smarten Geräten lich geschätzt. Doch so gern der Mensch sich neuer- Von den Geräten erhobene Daten dings vermisst, Puls, Schlaf, Schritte, so E-Mail-Adresse Angaben in Prozent 83 wenig weiß er bislang über die Chancen Standortdaten 68 und Nebenwirkungen seines Tuns. Das fängt schon mit der Frage an: Was Alter 64 geschieht mit meinen Gesundheitsdaten? Telefonnummer 55 Ziemlich unklar ist, wer sie zu sehen bekommt oder wo sie gespeichert werden. „Transparenz? Nachvollziehbarkeit? Fehl- Datenschutzmängel anzeige!“ Zu diesem bösen Urteil gelanKeine Informationen 72 zur Datenlöschung gen deutsche Datenschützer in einer aktuellen Stichprobe, in der sie 16 beliebte Keine Informationen, „Wearable“-Geräte untersuchten: „Mit Er68 welche Daten schrecken mussten wir feststellen, dass gegespeichert werden rade in sensiblen Bereichen wie GesundKeine klaren Informaheit und Bewegungsprofil die Daten häu60 fig an Dritte übermittelt werden“, sagt tionen über die WeiterThomas Kranig, der Landesdatenschutz- verarbeitung der Daten
Falsch vermessen
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beauftragte von Bayern. Sämtliche Fitnessgeräte fielen bei der Prüfung durch.
Quelle: Bayerisches Landesamt für Datenschutzaufsicht, 314 untersuchte Geräte: 62 % davon aus dem Bereich Gesundheit und Fitness, der Rest aus den Bereichen Haushaltsgeräte, Smart TV, Spielzeug etc.
Viele Nutzer nehmen die Datenkrakerei hin in der Hoffnung, mit immens gesteigerter Fitness entschädigt zu werden. Doch möglicherweise werden sie enttäuscht. Für die Wirksamkeit gibt es wenige Belege. Nun erlauben erste Studien ein paar Einblicke: ‣ Die Wirksamkeit vieler Apps flaut nach den ersten Wochen rasch ab, wenn der Alltag wieder Einzug hält, ergab eine Studie mit gut 300 Teilnehmern, durchgeführt von einer Forschungsgruppe der University of Pennsylvania. ‣ Am motiviertesten waren dabei Teilnehmer, die nicht nur individuell dafür belohnt wurden, wenn sie die empfohlenen 7000 Schritte pro Tag schafften, sondern zusätzlich auch für den Erfolg ihres Teams. Gruppendruck kann gesund sein. ‣ Wer ständig im Büro unterwegs ist, tut mehr für seine Gesundheit als jene, die tagsüber lange sitzen, um danach intensiv zu trainieren, so eine Stanford-Studie mit fast 50 000 Teilnehmern. ‣ Die Teilnehmer konnten schlecht einschätzen, wie viel sie sich wirklich bewegt hatten, so dieselbe Untersuchung – es klafft eine große Lücke zwischen gefühlten und gemessenen Werten. Einer klassischen Kritik der Selbstvermessung zufolge ersetzt der zahlenhörige Optimierungswahn das gesunde Bauchgefühl. Das Studienergebnis deutet jetzt aber darauf hin, dass das Gegenteil der Fall ist: Es scheint, als hülfen Fitness-Tracker dabei, eine realistische Körperwahrnehmung zu erlernen – digitale Achtsamkeit. In der vielleicht erstaunlichsten Studie beobachteten die Forscher zwei Jahre lang 350 Übergewichtige zwischen 18 und 35 Jahren. Alle wurden intensiv beraten, wie sie ihre Lebensgewohnheiten ändern könnten. Im Schnitt nahmen sie ab, manche hätten 6,8 Kilogramm verloren, schreibt das Team um John Jakicic von der University of Pittsburgh in der Fachzeitschrift „Jama“. Eine Gruppe kam zusätzlich in den Genuss einer „verbesserten Intervention“, das heißt, die Teilnehmer erhielten ein Selbstvermessungsgerät, um Aktivität, Temperatur und Schlafqualität zu messen. Die Selbstvermesser schnitten, zur Überraschung der Forscher, erheblich schlechter ab als die anderen. Sie verloren im Schnitt 2,4 Kilogramm weniger. Wissen kann auch schaden, so scheint es. Warum das so ist, könnte bald eine Nachfolgestudie klären. Angesichts der vielen offenen Fragen ist derzeit vor allem eines klar: Die meisten Fitnessfreunde verpassen wenig, wenn sie noch ein Weilchen mit der Anschaffung eines Fitness-Trackers warten und sich vom gesparten Geld nach dem Sport lieber etwas Leckeres wie dunkle Schokolade gönnen. Das ist medizinisch erprobt und vom Datenschutz her völlig unbedenklich. Hilmar Schmundt Twitter: @hilmarschmundt DER SPIEGEL 3 / 2017
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Wehe! Medizin Wer holt bloß das Baby? Überall auf dem Land schließen Geburtsstationen. Hebammen und werdende Eltern protestieren. Doch sie finden wenig Gehör.
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adlen Argens rät Schwangeren „stinksauer“ ist und sich wundert, „dass kurz vor der Niederkunft immer, noch nie etwas richtig schiefgegangen ist“. Bis vor einigen Jahren arbeitete Argens eine Nabelklemme, einen Eimer und saubere Tücher bereitzuhalten. Man im holsteinischen Oldenburg als Belegweiß schließlich nie, ob es das Baby eilig hebamme im Krankenhaus. Dort allerhat. Argens ist Hebamme, sie lebt und ar- dings schloss der Sana-Klinikkonzern 2014 beitet in Ostholstein, jenem bevölkerungs- den Kreißsaal, weil es nicht mehr möglich armen Flecken Deutschlands zwischen Lü- war, den Betrieb in der erwünschten Quabeck und der Ostseeinsel Fehmarn. Dort lität aufrechtzuerhalten. Argens hatte gibt es lediglich in Eutin noch ein Kran- schon zuvor gekündigt, weil sie die Kosten für ihre monatliche Haftpflichtversichekenhaus mit einer Geburtsabteilung. Wer in der Kleinstadt Heiligenhafen rung nicht mehr finanzieren konnte. Seitwohnt, braucht fast 45 Minuten bis zur dem übernimmt sie nur noch die Vor- und Sana-Klinik Eutin. Frauen auf Fehmarn Nachsorge der Schwangeren. „Für die müssen mit einer Stunde Anfahrt rechnen. Frauen ist die Situation in Schleswig-Hol„Das macht vielen Angst. Sie wollen einen stein eine einzige Zumutung“, sagt sie. Notfallplan haben, falls das Kind im Auto Eine Besserung sei nicht in Sicht. „Im Gezur Welt kommt“, sagt die Hebamme, die genteil.“ 108
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Zuletzt machte der Kreißsaal in Niebüll dicht, der bis vorigen Sommer Anlaufpunkt für Schwangere aus dem nördlichsten Norden war. Auch dort haben Frauen im Extremfall nun eine Stunde Autofahrt vor sich, bevor sie ein Krankenhaus erreichen. Der Geschäftsführung war es nicht gelungen, Hebammen zu finden, um den Betrieb am Laufen zu halten. Wer von den Nordfriesischen Inseln kommt, von Sylt oder Föhr, kann immerhin das „Boarding-Angebot“ der gesetzlichen Krankenversicherung nutzen. Auf Kosten der Kassen dürfen die Frauen kurz vor ihrem errechneten Stichtag eine Unterkunft nahe der Klinik in Husum oder Flensburg beziehen. Für Schwangere vom Festland gibt es diese Möglichkeit nicht,
obwohl auch für sie der Weg zur Klinik teils sehr lang geworden ist, nicht nur in Schleswig-Holstein. In ganz Deutschland ist die Zahl der Betten in der Geburtshilfe dem Statistischen Bundesamt zufolge von 2005 bis 2015 um 27 Prozent gesunken – und das bei einer zuletzt steigenden Geburtenrate. Im Schnitt kann eine Frau in den Wehen zwar noch immer innerhalb von 17 Minuten die nächste Geburtsabteilung erreichen. Aber die Statistik hat Tücken. In diesen Wert fließt nämlich der Weg einer Hamburgerin aus der Nachbarschaft des Eppendorfer Universitätsklinikums genauso ein wie der einer Sylterin, die mehr als eine Stunde nach Husum braucht. Bundesweit protestieren deshalb werdende Eltern. In Bayern versuchen die Bad Tölzer seit Wochen, das Aus ihrer Geburtsabteilung zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen hat eine Elterninitiative eine digitale Karte erstellt, die zeigt, welche Kliniken noch Geburtsabteilungen vorhalten und welche nicht. Das Sauerland oder die Eifel sind ziemlich abgeschlagen. In Internetblogs wie „Aberwehe“ teilen Mütter ihre Sorgen, und der Deutsche Hebammenverband präsentiert auf seiner Website eine „Landkarte der Kreißsaalschließungen“, die 36 stillgelegte Abteilungen seit 2015 zählt und 11, die auf der Kippe stehen. Das Heer an roten und grauen Markierungen muss jeder Schwangeren einen Schrecken einjagen. Bei aller Dramatik, die in der Entwicklung steckt, verzerrt eine solche Grafik jedoch das Bild. Denn nicht jedes Dorf und jede Kleinstadt braucht eine eigene Geburtsabteilung, solange die Krankenhäuser im Umkreis gut zu erreichen sind. Und nicht jeder lautstarke Protest ist ein Menetekel des Niedergangs der Geburtshilfe in deutschen Landen. So erhob sich im badischen Bühl im vergangenen Jahr großer Widerstand, die Wut richtete sich gegen die Schließung der dortigen Abteilung. Das Aktionsbündnis „s’ Bühler Kind“ machte großen Wirbel und mobilisierte mehr als 200 Eltern mit Luftballons und Trillerpfeifen. Dabei ist die nächste Klinik in BadenBaden etwa 20 Minuten entfernt. Das ist für jede Frau, die nicht gerade eine überstürzte Geburt erleidet, eine vertretbare Distanz. Das Beispiel zeigt allerdings, wie angespannt die Stimmung unter den werdenden Eltern im Land mittlerweile ist. Leichter wird die ohnehin recht komplexe Bedarfsplanung der Krankenhäuser dadurch nicht. Ursachen für das Kreißsaalsterben gibt es viele. Vor allem die Klinikbetreiber auf dem Land haben Probleme, offene Stellen
mit Gynäkologen und Hebammen nach- saals in Oldenburg immer wieder über Bazubesetzen. Die Rufbereitschaften sind an- bys, die es recht eilig hatten, Mamas Bauch strengend; wer Geburtshilfe leistet, muss zu verlassen. Im September kam die kleine Hanna in äußerst stressresistent sein, denn es geht immer um alles. Besonders Hebammen einem Rettungswagen auf dem Autozug von Sylt auf die Welt. Neun Monate zuvor fühlen sich unterbezahlt. Auch die Krankenhäuser wägen gut ab, hatte die Bewohnerin einer Flüchtlingsob sich eine Geburtsabteilung lohnt. Häu- unterkunft ihr Baby auf dem Weg nach ser, in denen nur wenige Hundert Kinder Eutin bekommen. Argens betreute außerpro Jahr zur Welt kommen, arbeiten selten dem eine Schwangere, die ihr Kind am rentabel. Hinzu kommt ein weiterer ge- Ende ganz ohne Unterstützung zu Hause wichtiger Grund: Was, wenn etwas schief- auf die Welt brachte. Allen Babys samt geht bei der Niederkunft? Frauen in Müttern geht es gut. Die Krankenkassen lassen sich denn Deutschland entscheiden sich immer später im Leben für ein Kind; sie sind inzwi- auch durch solche Meldungen nicht beschen bei der Geburt ihres ersten Kindes eindrucken. Es bringe nichts, „alleinig im Schnitt 30 Jahre alt. Ab 35 gelten sie über die Erreichbarkeit und die Entferals „Risikoschwangere“. Sind die kleinen nung vom Wohnort zur nächstgelegenen Krankenhäuser in diesem Fall gut genug, Einrichtung“ zu diskutieren, heißt es in um Mutter und Kind bestmöglich zu ver- einem Strategiepapier von gesetzlichen Krankenkassen in Schleswig-Holstein. sorgen? Nein, findet der Gemeinsame Bundes- Die „emotionale öffentliche und politische ausschuss (G-BA), das höchste Entschei- Debatte“ blende aus, dass nicht immer dungsgremium für gesetzlich Versicherte. ausreichendes und qualifiziertes Personal Erst im November hat der Ausschuss, der für die Krankenhäuser vorhanden sei. aus Vertretern der Kassen, Ärzte und Kran- In Finnland zum Beispiel sei die Säugkenhäuser besteht, beschlossen, welche lingssterblichkeit geringer als in DeutschAbteilungen eine Finanzspritze zur Exis- land, obwohl die größte Distanz zur nächsten Klinik mit Geburtsabteilung tenzsicherung bekommen sollen. mehr als 500 Kilometer betraSolche Zuschläge in strukturschwachen Regionen und auf Geburtenstationen* ge, schreiben die Kassenfunktionäre. Inseln sind an bestimmte Qua- in deutschen Ein interessantes Argument, litätsvoraussetzungen geknüpft. Krankenhäusern für Frauenheildas allerdings Frauen, die mitDa das Sterblichkeitsrisiko für * Abteilungen kunde und Geburtshilfe ten in den Wehen stecken, die Babys in Häusern mit weQuelle: DKG nicht sonderlich interessieren niger als 500 Geburten steigt, dürfte. Hanna Thielke aus Ostsind kleine Stationen nicht er1024 holstein hatte nicht einmal wünscht, weder bei der Politik Lust, 45 Kilometer weit bis zur noch bei den Kassen. 834 nächsten Klinik zu fahren, als Was Frühgeborene betrifft, die Wehen bei ihr einsetzten, gelten schon jetzt sehr strenge zweieinhalb Jahre ist das jetzt Regeln. Nur Krankenhäuser, her. die speziell geschultes Personal –19% Die 24-Jährige, die in Wahrund eine eigene Abteilung vorheit anders heißt, empfand weisen können, dürfen die „jeden einzelnen Moment“ ab Winzlinge behandeln. Je klei2005 2015 diesem Zeitpunkt als traumaner die Frühchen, desto rigorotisch: den weiten Weg in die ser die Vorgaben. Bei der Deutschen Krankenhausgesell- Klinik, unfreundliche und überarbeitete schaft (DKG) hat der Beschluss des G-BA Hebammen, schlechte Betreuung, die gegen die Zuschläge trotzdem Unverständ- Angst um das Kind. „Mir wird es immer nis ausgelöst. „Warum wurden die Nöte noch ganz schlecht, wenn ich daran denvieler Kliniken, ihre Geburtsabteilungen ke“, erzählt Thielke. Sie habe sich gefühlt aufrechtzuerhalten, nicht berücksichtigt?“, „wie Schlachtvieh“. Nach der Niederkunft fragt DKG-Geschäftsführer Georg Baum. fiel sie in eine Depression, die ihr immer Das Sterben der Geburtsstationen drohe noch in der Seele sitzt. Nun ist Thielke wieder schwanger. damit weiterzugehen. „Das kann einen doch nur wütend ma- Allein die Vorstellung, dass sie sich chen“, sagt Hebamme Argens. „Es soll also dieses Mal zu spät auf den Weg machen zu riskant für die Frauen sein, in einem könnte und „alles noch schlimmer wird“, kleinen Krankenhaus zu entbinden, aber macht sie fertig. Aber was tun? Eine eine Geburt im Rettungswagen auf dem Hausgeburt? Darüber denkt sie jetzt ernstWeg zur Klinik ist in Ordnung?“ Sie finde haft nach. Bloß: Ob sie eine Hebamme findet, die es „unwürdig für die Frauen, nach der Geburt angeschnallt in ihrem Blut auf einer bereit ist, sie zu betreuen? Trage zu liegen“. Tatsächlich berichtet die Katrin Elger Lokalpresse seit der Schließung des KreißMail:
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Die Preview-Aktion wird am Montag, dem 23.01.2017, stattfinden. Sie können zwei kostenlose Kinokarten – solange der Vorrat reicht – von Samstag, den 14.01.2017, 12 Uhr, bis Montag, den 23.01.2017, 18 Uhr, unter den angegebenen Telefonnummern reservieren. Achtung: Die Tickets sind nicht übertragbar. Missbrauch wird zur Anzeige gebracht.
Berlin
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Düsseldorf
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JACKIE JACKIE ist das facettenreiche Porträt einer Ikone der Sechzigerjahre. Sie war ebenso berühmt wie mysteriös, eine Frau, die als Inkarnation von Stil und Chic in die Geschichte einging. 1961 tritt John F. Kennedy sein Amt als 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an, ein Hoffnungsträger und charismatischer Anführer der westlichen Welt. Mit ihm wird Jacqueline „Jackie“ Kennedy zur First Lady. Sie besticht durch ihre Eleganz, Kultiviertheit und Popularität und ist schon zu Lebzeiten eine Legende. Als ihr Mann am 22. November 1963 in Dallas erschossen wird, ist Jackie geschockt und traumatisiert. Sie durchlebt die folgenden Tage wie betäubt, ergreift aber bald die Initiative gegen alle Widerstände, um das Vermächtnis ihres Mannes zu sichern … Regisseur Pablo Larraín (NERUDA, EL CLUB) verwebt Vergangenheit und Gegenwart zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk. Oscar®-Preisträgerin Natalie Portman (BLACK SWAN) zeigt in der Titelrolle einmal mehr, dass sie zu den herausragenden Schauspielerinnen unserer Zeit gehört. Für ihre darstellerische Leistung gilt sie auch dieses Jahr als klare Oscar®-Anwärterin.
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Kino am Raschplatz Raschplatz 5 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 69 69-4*
Köln Odeon Severinstraße 81 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 69 69-5* Leipzig
Passage Kinos Hainstraße 19a Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 69 69-6*
München
Monopol Kino Schleißheimer Straße 127 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 69 69-7*
Nürnberg
Cinecittà Gewerbemuseumsplatz 3 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 69 69-8*
Stuttgart
Atelier am Bollwerk Hohe Straße 26 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 69 69-9* * Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
Wissenschaft
Alle Mann von Bord Verkehr Inspiriert vom Google-Auto, entwickeln Marine-Ingenieure das autonome Schiff. Computer könnten den Steuermann bald ersetzen. Nur der Bordmechaniker muss wohl noch bleiben.
S
eekrank wird niemand auf dieser Kommandobrücke. Sie steht starr in einem kugelrunden Raum, einbetoniert in ein Bürohaus im norwegischen Ålesund, wo Rolls-Royce Marinetechnik entwickelt. Dass mancher Besucher den virtuellen Leitstand dennoch mit leichtem Schwindelgefühl verlässt, liegt an der perfekten Illusion von Meereswogen auf der 360Grad-Bildschirmwand. Der Simulator dient bislang als Entwicklungslabor maritimer Steuersysteme, soll aber bald einem neuen Zweck gehorchen, einer ganz realen Mission. Die Monitore werden wirkliche Bilder empfangen, aufgenommen und übertragen von einem Schiff, das beispielsweise gerade durch die indonesische Inselwelt kreuzt. Die Armaturen des Simulators werden über eine Datenverbindung Steuerbefehle zurücksenden; und statt Wochen auf See zu verbringen, kann ein Nautiker im familienfreundlichen Teilzeitdienst den fernen Frachter in den Hafen von Jakarta navigieren und danach seine Kinder in Ålesund von der Schule abholen. All das, sagt Jann Peter Strand, Experte für Automation bei Rolls-Royce, ist möglich, und zwar nicht irgendwann einmal, sondern heute: „Im Prinzip können wir schon jetzt ein Schiff fernsteuern, und in der Tat werden wir das auch bald machen.“ Noch vor 2020, so seine Schätzung und Absicht, sollen die ersten Prototypen dieser Art unterwegs sein. Der Industriekonzern mit Sitz in London will der tonangebende Systemlieferant auf dem Weg zur unbemannten Seefahrt werden, sagt dessen Cheftechniker Oskar
Levander: „Um 2025 werden ferngesteuer- suchsfahrten unternehmen. Mit im Projektte Schiffe im Kurzstreckenverkehr im kom- team ist DNV GL. Sich an solchen Untersuchungen zu bemerziellen Einsatz fahren, 2030 wird die internationale autonome Schifffahrt ge- teiligen zählt vordergründig betrachtet nicht zu den Aufgaben eines Prüfdienstes. bräuchlich sein.“ Inspiriert vom Google-Auto und der Es könnte aber ein Stück ExistenzsicheVision eines computergesteuerten Straßen- rung sein, sagt Sames. „Um unbemannt verkehrs, entdeckt auch die maritime In- fahrende Schiffe künftig prüfen und klasdustrie das autonome Fahren. Der Gedan- sifizieren zu können, entwickeln wir jetzt ke erscheint zunächst nicht minder ge- eigene Anforderungen.“ Das Prüfimperium mit weltweit 15 000 spenstisch als der vom selbstlenkenden Auto, doch die Umsetzung könnte in den Mitarbeitern soll nicht in der gleichen Falle Fahrwassern der Meere viel einfacher landen wie TÜV und andere Wachdienste sein – schlicht deshalb, weil es dort nicht des Straßenwesens. Die haben über Jahrzehnte die Entwicklung der Fahrzeugelekso hektisch zugeht. „Auf See haben Sie Minuten Zeit, Ent- tronik verschlafen und stehen nun ratlos scheidungen zu treffen, auf der Straße oft vor einer Mogelsoftware, die den Dieselkaum eine Sekunde“, sagt Pierre Sames, skandal ausgelöst hat. Die Schiffsprüfer Forschungschef der norwegisch-deutschen wollen durchblicken bis zum tiefstverborKlassifikationsgesellschaft DNV GL, einer genen Algorithmus. Und das dürfte bei der autonomen SteuArt Schiffs-TÜV, der sich inzwischen intensiv mit diesem Thema befasst. Sames ertechnik gar nicht so furchtbar schwer beobachtet „starke Trends, die das voran- werden. Es sind durchweg bekannte und treiben“, vor allem in Skandinavien, wo erprobte Geräte, mit denen sich ein Ozeandie Schifffahrtsindustrie traditionell eine riese fern- oder ganz autonom steuern liewichtige Rolle spielt. Norwegen und Finn- ße. Denn anders als Autos fahren Schiffe land lieferten sich gerade „eine Art Wett- schon lange nicht mehr nur auf Sicht. Bei rennen um das erste unbemannte Schiff“. Nacht oder trüber Witterung blickt der Es laufen Forschungsprojekte von Hoch- Steuermann nur noch auf Bildschirme. schulen und Industrie: Vor Turku, westlich Sein schärfstes Auge ist das Radar. Ein Orchester aus bewährter Sensorik von Helsinki, kreuzt derzeit eine mit Sensoren gespickte Fähre namens „Stella“, um wird den elektronischen Kommandanten Basisdaten für weitere Entwicklungsschrit- mit Daten versorgen. Und auch die Kamete zu liefern. In Norwegen wurde ein Teil ras, die ein menschliches Auge bei guter des Fjords von Trondheim für autonome Sicht ersetzen sollen, arbeiten bereits in Testfahrten freigegeben. Der Technologie- erstaunlicher Qualität. Bjørn-Johan Vartdal, Sicherheitsforscher lieferant Kongsberg, einer der großen Konkurrenten von Rolls-Royce, will dort bald bei DNV GL, zeigt auf seinem Computer mit einem autonomen Katamaran, etwa die Bildauswertung aus einer Fahrt der so groß wie eine Freizeitjacht, erste Ver- „Stella“ bei Dämmerlicht. Ein für den Men-
Käpt’n Computer Navigations- und Steuerungselemente vollautonomer oder ferngelenkter Schiffe
Virtuelle Brücke Vor Einführung des vollautonomen Fahrens könnten Schiffe von der Reedereizentrale aus ferngesteuert werden. Ein KameraLivestream und kontinuierlich gesendete Instrumentendaten simulieren für den Operator den Arbeitsplatz von Kapitän und Steuermann. Bei voll ausgereifter Technik ließe sich eine auf alle Meere verteilte Schiffsflotte von einer einzigen Reedereizentrale aus überwachen.
Satelliten für Kommunikation und GPS-Navigation
Allerdings sind solche Effekte lediglich bei kleineren Gefährten im küstennahen Einsatz zu erwarten. Ein Riesenfrachter schluckt durchaus 250 Tonnen Schweröl pro Tag, der Preis für den Kraftstoff übersteigt die Personalkosten um das Zigfache. Mit entsprechenden Vorbehalten reagieren die Reeder auf die Vision von der seelenlosen Seefahrt. Für Kreuzfahrtreedereien ist sie „kein Ziel“, wie eine Sprecherin des Carnival-Konzerns erklärt. Der leibhaftige Kapitän zählt dort zur Folklore. Die Betreiber von Frachtschiffen, etwa der Weltmarktführer Maersk, zeigen sich interessiert, sind aber skeptisch, was den von Rolls-Royce genannten Zeitplan angeht. Noch hat die internationale Seefahrtsorganisation IMO gar keine Regeln fürs autonome Navigieren aufgestellt. Und auch wenn diese bald festgelegt würden, wovon Levander „fest überzeugt“ ist, bleiben noch Fragen offen. Der triftigste Vorbehalt besteht darin, dass es nicht die Navigation der Schiffe ist, um die man sich sorgen muss, wenn kein Mann an Bord weilt, sondern die Instandhaltung der Technik. Knapp ein Drittel der etwa 20-köpfigen Crew eines Überseefrachters besteht aus Ingenieuren und Handwerkern. Sie bewältigen auf hoher See technische Großeinsätze wie das Wechseln eines Kolbens ebenso wie die unentwegte Beseitigung von Rostschäden. Die Hamburger Reederei Hapag-Lloyd hat einmal die Wartungsmannschaft verkleinert – und bald wieder aufgestockt. „Die Schiffe mussten früher in die Werft“, sagt Firmensprecher Rainer Horn. „Das war viel teurer als die laufende Wartung.“ Dem Rolls-Royce-Visionär Levander sind solche handfesten Probleme nicht unbekannt. Er glaubt aber, dass sie sich lösen lassen, wenn die Schiffsproduzenten nur endlich die Qualitätsstandards anderer Industrien übernähmen: „Die meisten Handelsschiffe sind im Prinzip Prototypen. Wir
Schornstein
Modellstudie eines autonomen Container-Frachtschiffs
brauchen standardisierte, bewährte Systeme, wie es sie in der Serienproduktion von Automobilen längst gibt.“ Das klingt logisch, ist aber nicht so einfach. Autos sind von überschaubarer Komplexität und werden millionenfach gebaut. Bei Schiffen ist es umgekehrt. Allein ihre elektrische Anlage mit 6600 Volt Bordspannung sei „dem Stromnetz einer Kleinstadt vergleichbar“, sagt Horn. Und das lasse niemand ohne Notdienst laufen. Auch beim Auto kommt es vor, dass winzige Störungen eine Weiterfahrt verhindern. Der Pannendienst oder ein Abschleppeinsatz ist dann kein großer Akt. Versagt aber ein Frachter ohne Mannschaft mitten im Pazifik, wird ein Gesamtwert von gut einer Milliarde Euro zum Spielball der Elemente. Die Bergung mit Hochseeschleppern kostet mehr als tausend Gelbe Engel. Die Experten von DNV GL sehen im störanfälligen Verbrennungsmotor eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum unbemannten Schiff. Der Elektroantrieb, sagt Forschungsleiter Sames, würde sich dafür besser eignen, „da er nahezu wartungsfrei arbeitet“. Doch selbst bei einer Verzehnfachung der Speicherkapazitäten bliebe eine batterieelektrische Ozeanquerung noch Utopie. Die Prüfgesellschaft hat das Konzept eines 60 Meter langen E-Frachters erarbeitet, der unbemannt und abgasfrei immerhin Kurzstrecken in Küstennähe bewältigen soll. Ein 1:20-Modell wurde schon einigermaßen erfolgreich erprobt. Bisher jedoch hat sich noch keine Reederei gemeldet, die ein solches Schiff bauen lassen will. Christian Wüst Mail:
[email protected]
Video: Auf der virtuellen Brücke spiegel.de/sp0322017schiff oder in der App DER SPIEGEL
Elektronik an Bug und Heck Laserscanner, Stereokamera und Radarsensoren für genaue Positionsbestimmung, optimierte Routenplanung und Kollisionsvermeidung
RO LLS -ROYCE PLC, D ER S PI EG EL
schen nur vage sichtbares Ruderboot wird eindeutig erkannt. Hinter dem Ruderer fährt ein Radfahrer am Ufer entlang. Der Rechner braucht ein wenig, ihn als solchen zu identifizieren. „Die Maschine und wir sind etwa gleich gut“, sagt Vartdal. So wird die entscheidende Frage wohl nicht sein, ob Käpt’n Computer denn genügend Informationen bekommt, um ein Schiff sicher steuern zu können. Es wird darum gehen, ob ein Elektronenhirn im kritischen Moment bessere Entscheidungen trifft – auch dann, wenn Menschen in seiner Umgebung Fehler machen. „Eine Begegnung zweier autonom gesteuerter Schiffe dürfte keine Probleme aufwerfen“, glaubt Jörg Kaufmann, Leiter der Schifffahrtsabteilung im Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. „Ein erfahrener Nautiker kann aber bei einem Manöver des letzten Augenblicks womöglich kreativer und somit im Sinne einer Kollisionsverhütung besser als eine Maschine reagieren.“ Rolls-Royce-Manager Strand stimmt dem zu; er wünscht sich entsprechend im Trubel einer Hafeneinfahrt auch keinen kreativen Rechner am Ruder, sondern doch eher den bewährten Einfallsreichtum des Menschen. Zunächst, so seine Idee, müsse man autonome Fahrt und Fernsteuerung mischen. Die Frachter der Zukunft könnten die monotone Reise über die Ozeane autonom erledigen, wofür Computer schon deshalb gut geeignet sind, weil ihnen nicht langweilig wird. In Hafennähe schaltet sich dann ein lebendiger Nautiker per Fernbedienung ein und übernimmt. Die entscheidende Einsparung wäre damit ebenfalls erreicht, da der Mensch nur noch für einen Bruchteil der Fahrzeit gebraucht wird. Rund ein Fünftel der Betriebskosten, schätzt Rolls-Royce-Manager Levander, ließe sich einsparen, wenn ein Schiff ganz ohne Mannschaft über die Meere kreuzt.
Kultur
Nazi-Nachahmung der Skulptur von Freundlich (Zeitungsabbildung, 1941), Originalskulptur (Katalogcover zur Ausstellung, 1937)
Kunst
Fälschen, um anzuprangern angebliche Freundlich-Plastik auf Zeitungsfotos aus dem März Vor bald genau 80 Jahren, im Sommer 1937, eröffneten die 1941 nicht mehr wie die ursprüngliche Fassung aussieht, die Nazis in München ihre berüchtigte Ausstellung mit dem Titel Lippen sind weniger lang, das Kinn ist spitzer, die Nase fla„Entartete Kunst“, sie diente allein dazu, die moderne Kunst cher, die Wangen sind zu voll, alles ist im Vergleich zum Origizu verhöhnen. Bilder von Franz Marc, von Paul Klee wurden nal verzerrt. Womöglich, so vermutet es die Kunsthistorikerin inszeniert, als seien sie Teile eines Schreckenskabinetts. Zu Mandy Wignanek, die an der Retrospektive über Freundlich den bekämpften Künstlern gehörte auch der jüdische Bildmitarbeitet, sei das Original beschädigt worden, und die Nazis hauer und Maler Otto Freundlich, geboren 1878, ermordet 1943 in einem KZ. Seine archaisch wirkende Gipsplastik „Gro- hätten eine Replik in Auftrag gegeben. In diese Neuschöpfung seien offenbar Vorstellungen davon eingeflossen, wie typische ßer Kopf“, bereits vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen, wurde zum Inbegriff der unerwünschten Kunst. Denn Freundlichs „entartete Kunst“ aussehe. Das Regime produzierte demnach Werk war auf dem Umschlag des Ausstellungsführers abgebil- also heimlich selbst, was es ablehnte – nur um es öffentlich anprangern zu können. Original und Nachahmung sind verdet. Die Ausstellung selbst schickten die Nazis auf eine jahreschollen, die Fotos aber sind eindeutige Beweise. Die Ausstellange Tournee. Doch offenbar präsentierten sie dem Publilung in Köln (anschließend im Kunstmuseum Basel) will den kum irgendwann eine Fälschung des Gipskopfes. Entdeckt wurde das jetzt bei der Vorbereitung einer Schau über Freund- in Vergessenheit geratenen Künstler als Avantgardisten würdigen; es dürfte eines der wichtigsten Kunstereignisse des Jahres lich, die im Februar im Museum Ludwig in Köln anläuft. Eiwerden. uk nem Team um die Kuratorin Julia Friedrich fiel auf, dass die 114
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Kino
UNIVERSAL PICTURES
Bourne“) wollen beweisen, dass China und der Westen Wunderbare am Anfang einer wunderFreundschaft baren Freundschaft stehen. Die Story: Ein europäischer Wäre es Chinas Investoren Söldner und eine chinesische und Hollywoods Kreativen Generalin retten die Menschnur ums Geld gegangen, hätheit vor dem Untergang. Die ten sie mit dem Fantasyfilm Botschaft: Gemeinsam sind The Great Wall ihr Ziel bereits wir stark. Der Film, kommenerreicht: Drei Wochen nach tierte ein chinesischer Blogdem Start in China hat die ger, erinnere ihn an die feierbislang größte chinesischlichen 19-Uhr-Nachrichten im amerikanische Koproduktion Staatsfernsehen: „Lasst uns ihr Budget von 150 Millionen die Stärke der Nation festiDollar bereits eingespielt. Im gen und die FreundKino ist Verlass auf schaft mit dem WesChinas Massen. Aber ten vertiefen.“ Das ums Geld allein geht also kommt heraus, es bei „The Great wenn sich HollyWall“ (seit 12. Januar wood Chinas Zenin deutschen Kinos) soren fügt: ein farnicht: Starregisseur benprächtiges SpekZhang Yimou („Rotakel mit leeren, tes Kornfeld“) und Szene aus vorhersehbaren Hauptdarsteller Matt „The Great Wall“ Dialogen. bza Damon („Jason
Pop
Alles Schauspiel Keine andere Band beherrscht die Kunst des MannFrau-Duetts so gut wie das britische Trio The xx. Und dabei sind die Sänger Romy Madley Croft, 27, und Oliver Sim, 26, gar kein Paar. Croft ist lesbisch und hat sich vor Kurzem mit ihrer Freundin verlobt, Sim ist schwul. Als vor acht Jahren das Debüt erschien, hörten sich Croft und Sim an, als müssten sie singen, weil sie zu schüchtern seien, um zu sprechen. Nun erscheint ihr drittes Album
I See You, mit zehn Songs über Beziehungen und Gefühle, aber der sanfte Paargesang von Croft und Sim hat inzwischen eine Sicherheit entwickelt, die früher fehlte. Der schönste Song, „Performance“, könnte ein Burt-Bacharach-Lied sein. Er erzählt davon, dass man immer auch schauspielern muss, in der Liebe genauso wie beim Auftritt vor einem Publikum. Was ist eine Band? Eine Gruppe von Freunden, die sich auf den Weg in die Welt machen, sich dabei für eine Weile verlieren – und sich immer wiederfinden. rap
Band The xx
Nils Minkmar Zur Zeit
In Bewegung Natürlich verspätet er sich. Emmanuel Macron, der junge französische Präsidentschaftskandidat, ist zu Besuch in Berlin und hält es schon wie einst François Mitterrand: Erst eine ordentliche Verspätung von zwei Stunden bringt das Publikum in Stimmung. Der karge Saal im Hotelhochhaus am Alexanderplatz ist nach Alfred Döblin benannt, der sich nicht mehr wehren kann. Zweihundert Leute sind gekommen. Um die Zeit zu überbrücken, erzählt Aziz seine Geschichte – ein mittelalter Mann in Anzug und Krawatte, im Senegal geboren und in Frankreich aufgewachsen. Für Politik habe er sich schon immer interessiert. Und für Europa. Darum schrieb er Briefe an Politiker. Es hat ihm nie einer geantwortet. Als Macron Wirtschaftsminister wurde, schrieb Aziz auch ihm. Und Macron antwortete nicht nur, er rief sogar an. Solche Geschichten hört man an diesem Tag viele. Menschen, die mit der französischen Politik abgeschlossen hatten und nun wieder Hoffnung schöpfen. Sie sind keine Profis, aber auch keine Fanatiker einer Sekte zum heiligen Macron. Es wird ganz normal französisch improvisiert: Ein Stapel weißer Blätter wird zur Liste, jeder soll sich eintragen, wofür, das ist nicht ganz klar. Macrons Verein heißt „En Marche“ – gleiche Initialen wie der Gründer. Unterwegs also, wohin, das ist damit nicht gesagt, der Weg ist das Ziel. Hauptsache, Bewegung und notfalls zu Fuß – es gibt in Frankreich eine irres Verlangen nach Dynamik. Innerhalb weniger Wochen hat sich die politische Landschaft so verändert wie in vielen Jahren zuvor nicht. Erst unterlag Nicolas Sarkozy bei der Vorwahl seiner Partei, dann sein Kontrahent Alain Juppé. Schließlich verzichtete der amtierende Präsident François Hollande auf eine erneute Kandidatur – das hat es noch nie gegeben. Kollektiv verabschiedet sich das Personal, das seit zehn Jahren nahezu jeden Abend in den Nachrichten zu sehen war. Macrons Handicap, dass er nämlich keine Partei hinter sich hat, wird zum Vorteil. Die französischen Sozialisten erweisen sich mit ihren Intrigen, Skandalen und Egotrips erneut als das Psychodrom, das sie schon immer waren. Gut möglich, dass sie bald ins Museum der ausgestorbenen Parteien überwiesen werden, gleich neben die italienischen Christdemokraten. Macron kommt dann doch noch. Er entschuldigt sich für die Verspätung, dann stellt er sich vor. Er bekennt sich als Europäer und lobt Merkels Flüchtlingspolitik – ein ökologisch ambitionierter, fortschrittsoptimistischer Sozialliberaler. Schließlich erklärt er, was in Frankreich hakt und wie er es ändern möchte. Einfach so. Man würde nicht mehr staunen, wenn er aus dem Stand einen Salto schlüge. Dann muss er weiter, Flüchtlinge besuchen. Er betritt die Drehtür, die auf den Alexanderplatz führt, aber weil so viele zu ihm strömen, bleiben sie in dem Glaszylinder stecken, nix mit „en marche“. Macron steckt fest, aber er wird nicht ungeduldig, sondern lacht sich kaputt. Er wird überall erwartet, und die Zeit ist sein Freund. An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
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Kultur
Jeder fixt für sich allein Legenden Hans Fallada war Junkie, Alkoholiker und einer der besten Schriftsteller Deutschlands vor dem Zweiten Weltkrieg. Eine neue Biografie erzählt die Geschichte eines hochbegabten Selbstzerstörers. Von Thomas Hüetlin
W
enn es im Zweiten Weltkrieg überhaupt etwas wie Rettung hätte geben können, dann war es dieser Bauernhof mit den tannengrün gestrichenen Fensterläden, umgeben von Wiesen, gelegen an einem See, in dem man heute noch, an einem trüben Wintertag, die Fische am Grund sehen kann. Der Schriftsteller Hans Fallada bewirtschaftete dieses Anwesen an der Mecklenburgischen Seenplatte. Heute braucht man von Berlin nach Carwitz, wie das kleine Dorf heißt, zwei Stunden mit dem Auto. Fallada unternahm oft die Reise entlang der Brandenburger Alleen. In Berlin war der Stoff, den er brauchte für seine Geschichten, aber auch das Morphium, dem er immer wieder verfiel. In Berlin waren auch die Sanatorien, in denen Fallada versuchte, clean zu werden. Was ihm so richtig nie gelingen sollte. Der Hof am Wasser war der Gegenentwurf. Kühe, Pferde, Stachelbeeren, Pflaumen, Äpfel, die Ehefrau Anna, genannt Suse, drei Kinder. Gegen Ende des Kriegs tauschte er das Idyll gegen die zerbombte Großstadt und Suse gegen eine junge Frau, die dem Morphium noch heftiger zusprach als er selbst. Er musste sogar seine geliebten Bücher verkaufen. Goethe gegen Morphium. Er war besessen, aber nicht besessen genug, um nicht klar zu registrieren, was geschah: „Richtig ist, dass ich schwer krank war und ich mit meiner jungen Frau Monate hindurch nichts besprochen habe als die Vorzüge des Zyankali vor dem Strick“, schreibt er 1945 an einen Bekannten. Ein Honeymoon in der Hölle. Das Leben von Rudolf Ditzen, der unter dem Pseudonym Hans Fallada bekannt wurde, ist eines der großen Mysterien der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Germanist Peter Walther hat sich dieser schillernden und einnehmenden Figur genähert, viel neues Material aufgearbeitet; seine Biografie „Hans Fallada“ erscheint nächste Woche im Aufbau Verlag*. Walther beschreibt einen Höchstbegabten und einen Getriebenen. Einen Mann ohne Mitte, der die Extreme sucht. Romane von 600 Seiten Länge schrieb er, wenn es sein musste, in wenigen Wochen. 150 Zigaret-
* Peter Walther: „Hans Fallada“. Aufbau; 528 Seiten; 25 Euro.
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ten, zwei Flaschen Cognac, diverse Ampullen Morphium, „Benzin“ genannt, das war mitunter seine Tagesration. Nachts brauchte er natürlich auch etwas, da an Ruhe so nicht zu denken war. Die Mengen an Schlafmitteln: gewaltig. Ihre Wirkung: begrenzt, oft saß er schon um drei Uhr früh wieder am Schreibtisch. Die vier Stunden bis zum Frühstück pries er als seine beste Arbeitszeit. Dann perfekt gedeckter Tisch mit Frau und Kindern, pünktlich um 7.15 Uhr. Wenn es 7.16 Uhr wurde, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Oft war es der erste am Tag, selten der letzte. Ermöglicht wurde dieser Drahtseilakt lange Zeit durch das Leben auf dem Land, für den feinnervigen Fallada die ideale Kombination aus Literatur und Landwirtschaft. Dazu seine Frau Suse, eine ausgleichende Person, von der sein späterer Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt behauptete, Fallada habe sie gebraucht „wie der Säugling die Mutter“. Fallada hatte einen scharfen Blick und ein sensationelles Gehör für die Underdogs und Sonderlinge seiner Zeit, er schaffte es, die Sorgen und Wünsche der sogenannten kleinen Leute groß und existenziell erscheinen zu lassen. Oft begleitete er seine Figuren mit einem warmen, augenzwinkernden und menschenfreundlichen Ton. „Seit Langem nichts so Liebenswertes gelesen“, pries der strenge Thomas Mann Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“. Der Verleger Peter Suhrkamp lobte an Fallada dessen „große Gefühlsechtheit und anständige Ehrlichkeit“, Robert Musil schrieb begeistert, „das Leben zappelt in seinen Büchern. Es entzückt durch seine Natürlichkeit“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Westdeutschland nicht mehr viel Aufhebens um Fallada gemacht. Abgestempelt
„Ich wartete die ganze Zeit hindurch, dass ich sterben würde. Aber ich wartete vergebens.“
als Unterhaltungsautor mit einer zwielichtigen Lebensgeschichte im „Dritten Reich“, wurde er von den 68ern als literarisches Leichtgewicht verlacht. In der DDR hielt sich sein Renommee dank der Fürsprache von Kulturminister Johannes R. Becher, aber in den Siebzigerjahren begann es ebenfalls zu verblassen. Seine Wiederentdeckung und Renaissance verdankt Fallada dem Auslandserfolg seines letzten Romans „Jeder stirbt für sich allein“ in den Nullerjahren. Die Geschichte des Arbeiterehepaars Hampel aus Berlin, das mit einfachsten Mitteln Widerstand gegen Hitlers Regime leistet und grausam hingerichtet wird, erzielte mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sechsstellige Auflagezahlen vor allem in England, Frankreich, den USA und Israel. Die neuen Leser ebenso wie seine damaligen Zeitgenossen hoben immer wieder Falladas Humanismus hervor. Wenn es aber um seine eigene Person ging, kannte er keine Gnade. Sein Leben war taumelnde Selbstzerstörung. Allein im manischen Schreiben schien er Momente der Klarheit zu finden. Man kann Falladas Leben auch als eine Erzählung über die Abgründe der Moderne lesen – Haltlosigkeit ringsum. Das Bürgertum seiner gediegenen Eltern lehnte der Hochbegabte ab, die Religion war ihm dank Nietzsche kein Halt, das Leben hatte an sich keinen Wert, die Gifte beflügelten ihn in seiner Sehnsucht nach Ausbruch aus der verhassten Normalität, dazu äußerer Druck immerzu – Hyperinflation und Massenarmut der Weimarer Republik, der Aufstieg Hitlers, die Anfeindungen durch die Nazis, das Umschmeicheln durch Goebbels, das Hadern eines ehemaligen SPD-Mitglieds und Familienvaters im Unrechtsstaat zwischen Gehen und Bleiben. Wirre, gefährliche Zeiten, in denen Fallada eigentlich nur ein Ziel hatte: ein großer Schriftsteller zu sein. „Endlich wieder ein richtiger Fallada“, wie er in Momenten erschöpfter Zufriedenheit bemerkte. Augenblicke des Glücks, bevor der Wahnsinn von Neuem losging. Es waren durchaus goldene Jahre des deutschen Bürgertums, in denen er aufgewachsen war. Der Vater, ein hochrespektabler Kammergerichtsrat am 1. Strafsenat in Berlin, spielte mit der Mutter abends
AUFBAU VERLAG
Autor Fallada 1943: Zigaretten, Cognac, Morphium DER SPIEGEL 3 / 2017
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BPK / HANNS HUBMANN
MAX EHLERT / ULLSTEIN BILD
Kultur
Schriftsteller Fallada mit Familie auf dem Carwitzer See 1939, Berliner Nachtleben 1937: Landleben als Gegenentwurf
vierhändig Klavier, bevor er der Familie von Necker, bei dem sie sich gegenseitig klärt. Er leide, so hieß es darin, an einer vorlas. Jean Paul, Wilhelm Raabe, Theo- töten wollten. Auf einer Waldlichtung bei „krankhaften Gemütsdepression“. EineinRudolstadt markierten sie im Oktober 1911 halb Jahre verbrachte er in einer geschlosdor Fontane hießen die Hausgötter. Von einer Siebenzimmerwohnung in ihre Herzen, der eine mit einer Schleife, senen Anstalt mit Fußbodenheizung und Schöneberg aus besuchte der Sohn das der andere mit einer Blume. Die jeweils einem persönlichen Pfleger. Schließlich Gymnasium, wo er verträumt, ängstlich, ersten Schüsse gingen daneben. Beim zwei- der Rat, der Junge brauche zum Ausgleich mit Schlafproblemen schnell zum Außen- ten Versuch traf er Necker, der blutend zu für seine seelische Haltlosigkeit körperliseiter wurde. Er weinte gern und viel. Die Boden fiel. Als der um einen weiteren che Arbeit an der frischen Luft. Und so arbeitete er in den folgenden Klassenkameraden schlossen Wetten ab, Schuss bat, tötete ihn Fallada, der dann wann bei Ditzen das nächste Mal die Trä- den Revolver auf sich selbst richtete und zwei Jahrzehnten in den Verwaltungen zweimal abdrückte. Er taumelte zurück landwirtschaftlicher Güter oder beim preunen fließen würden. ßischen Staat. Obwohl er Briefpapier mit Nicht einmal in den Pausen Erleichte- Richtung Stadt. Im Krankenhaus Morphium. Der Tod dem Aufdruck „Schriftsteller“ hat fertigen rung. „Ich sehe mich da noch stehen, blass, kränklich, verzweifelt in meinem Mauer- war immer noch sein Ziel. „Ich wartete lassen, beaufsichtigte er nun in einem Kuhwinkel. Die ganze Penne freut sich ihrer diese ganze Zeit hindurch nur auf eines, stall um drei Uhr früh das Melken. Er war Freiviertelstunde – mir war sie eine Qual.“ dass ich sterben würde. Aber ich wartete wenig begeistert, fügte sich aber und beEr flüchtete, suchte neue Welten in den vergebens“, schrieb er. Die Trauer um sei- kam so Einblicke in Milieus, die er für seiBüchern und Gerichtsakten der väterli- nen toten Freund hielt sich in Grenzen. ne Schriftstellerei gut gebrauchen konnte. chen Bibliothek, spielte mit seinen Haus- „Ich fand“, bemerkte er kalt, „er hätte nur „Ich habe damals gelernt, mit jedem Mentieren, die er manchmal quälte und sogar verlieren können durch ein längeres Leben. schen zu schwatzen“, schrieb er später. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs vererwürgte. Die Erlösung durch den Tod So war alles gut.“ Necker war wohl anderer Meinung gewesen. In seinem letzten fiel er in Berlin zum ersten Mal bewusst schien ihn zu faszinieren. Der Gedanke an Selbstmord ergriff ihn. Brief findet sich der Satz: „Ich sterbe un- dem Morphium. Das Betäubungsmittel war die Droge der Zeit, aus den Lazaretten Er versuchte es mit Gift, er wollte sich die gern, ich war so glücklich.“ Fallada sollte wegen Mordes angeklagt herausgeschmuggelt von verletzten SoldaHalsschlagader durchschneiden oder sich erschießen. Schließlich die Königsidee: ein werden, wurde aber nach einem psychi- ten, tauchte es in den Bars und Cafés der Duell mit seinem Freund Hanns Dietrich atrischen Gutachten für strafunmündig er- Metropolen auf. Die Zahl der Abhängigen 118
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Sie liebte den Rausch genauso wie er. Bei der Beschaffung des Morphiums aber war sie hartnäckiger. schrieb. Frühmorgens, bevor er zu Rowohlt ging, arbeitete Fallada an einem Manuskript über das Scheitern einer deutschen Kleinfamilie während der Weltwirtschaftskrise. Krämpfe schüttelten ihn, er formulierte schneller, als er schreiben konnte. Als Fallada nach vier Monaten fertig war, wusste Rowohlt, dass er einen Bestseller vor sich liegen hatte. „Kleiner Mann – was nun?“ erschien 1932, wurde größer und größer, ein Welterfolg. Das Leben des über Jahrzehnte abgelehnten und gekränkten Talents änderte sich dramatisch. Ein Bestseller, die Stars der UFA-Zeit rissen sich um Rollen, sogar aus Amerika kamen Anfragen. Fallada lehnte ab. „Nach Hollywood will ich nicht, keinesfalls.“ Es gehört zu den tragischen Zufällen in Falladas an Dramen nicht gerade armem Leben, dass sein Durchbruch ungefähr mit der Machtergreifung der Nazis zusammenfällt. Er hatte das Zeug, eine Art deutscher Balzac zu werden, er hatte die Energie, die Welthaltigkeit, das Gespür für gesellschaftliche Konflikte und das Talent, sie virtuos zu erzählen – aber in Deutschland waren nun Menschen an der Macht, die eine andere Welt wollten, eine vermeintlich saubere, sittsame Welt, in der alles dem Völkischen und der Rasse untergeordnet wird, eine ideologisch statische, eindimensionale, im Grunde brutal öde
HANS-FALLADA-ARCHIV CARWITZ
stieg auf das Achtfache. Fallada schrieb eine Ode an die Droge unter dem Titel: „Ein sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein“. „Meine einzige Geliebte ist jetzt das Morphium. Sie ist böse, sie quält mich unermesslich, aber sie belohnt mich über jedes Begreifen hinaus. Wie begrenzt warst du, Frau. Diese Geliebte ist wahrhaft in mir. Sie füllt mein Hirn mit einem hellen, klaren Lichte.“ Die Sucht wollte finanziert sein, und als Schriftsteller ging das schlecht. Sein erster Roman „Der junge Goedeschal“ erschien, ohne zählbaren Erfolg. Also kehrte er wieder zurück in seine verhasste Rolle als, wie er es nannte, „Kartoffelbeamter“. Weil er Geld bei Getreideverkäufen für ein Gut in Niederschlesien unterschlug, wurde er zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Er drohte nun endgültig aus der bürgerlichen Aufgehobenheit zu rutschen. Es folgten neue Anstellungen auf Gütern in Pommern und Holstein, neue Unterschlagungen. Mal waren es 5000 Reichsmark, mal 10 000. Im März 1926 wurde er, der Sohn eines preußischen Kammergerichtsrats, in Kiel zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt und in die Strafanstalt Neumünster verlegt. Fallada war 34 Jahre alt, als er wieder in die Freiheit durfte. In Hamburg trat er einem Orden bei, der sich gegen Drogen und Alkohol engagierte – genannt die Guttempler. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit dem Schreiben von Adressen auf Briefen. Für 1000 Adressen bekam er vier Reichsmark. Bald musste er wieder seine Eltern anpumpen. Bei den Guttemplern lernte er Suse kennen. Eine engelsgleiche Gestalt, die später das Vorbild für die eigentliche Heldenfigur des Buchs „Kleiner Mann – was nun?“ sein würde, „Lämmchen“. Sie heirateten. Sie nannte ihn „mein Junge“, er schwärmte von diesem „selten harmonischen stillen, wirklich edlen Menschenkind“. Fallada kämpfte, er war noch immer fest entschlossen, ein großer Schriftsteller zu werden, obwohl er inzwischen auch einen Job in einer Drückerkolonne in Neumünster angenommen hatte. Noch mehr als seine Arbeit hasste er Neumünster. Er nannte es ein „Nichts“, „kleinbürgerlich, prüde, etepetete, ohne jede geistige Schicht“. Aber Aufgeben war nicht. Er reiste nach Sylt, stellte dem Verleger Ernst Rowohlt nach, ergatterte einen kleinen Job in dessen Verlag. Umzug nach Berlin, in die Metropole von Brecht und Benn. Nah dran am Geist. Er entdeckte Hemingway, schwärmte von der Kunst des Weglassens, sein Stil modernisierte sich rasant. Auf einmal waren da ein großstädtischer Plauderton, Tempo, Esprit und brillante Dialoge – so gegenwärtig, so präsent und milieutreffend, wie sie sonst niemand in Deutschland
Falladas zweite Ehefrau Losch „Als Hausfrau keineswegs erschütternd“
Welt. Schnell wurde er als Feind ausgemacht. Ein Vermieter hetzte ihm die SA auf den Hals, zehn Tage Knast. Zur Einschüchterung. Die Ideologen der neuen Machthaber feindeten ihn an: „Axt anlegen, umlegen, zugrunde richten“, riet Julius Bloem, ein Blut-und-Boden-Dichter. „Fauligen Aasgeruch“, diagnostizierte der Nazischriftsteller Will Vesper, der Vater des späteren Lebensgefährten von Gudrun Ensslin und linken Schriftstellers Bernward Vesper. Immer wieder überlegte Fallada, mit seiner Familie Deutschland zu verlassen. Kurz nach den Novemberpogromen hatte ihm sein englischer Verleger Putnam sogar die Ausreise arrangiert, aber Fallada sagte ab. Die Zeit der Kompromisse begann. Er tilgte die Spuren eines unsympathischen SA-Mannes in „Kleiner Mann – was nun?“. Für seinen Gefängnisroman „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ schrieb er ein Vorwort gegen den resozialisierenden Strafvollzug der Weimarer Republik, dessen Nutznießer er selbst war. Bei LedigRowohlt bestellte er „Zehn Werke des Schrifttums der NSDAP“ für seine Privatbibliothek. Er unterschrieb Briefe sogar mit „Heil Hitler“. Es half wenig. Das Regime brandmarkte ihn als „unerwünschten Schriftsteller“, seine Auflagen und Umsätze brachen ein, er zog sich nach Carwitz zurück, trieb Landwirtschaft, schrieb. Unpolitisches Zeug, er litt, aber finanziell erholte er sich. Mit dem Roman „Wolf unter Wölfen“ lief er 1937 noch einmal zu großer Form auf. Wieder versuchte er, das packende Gesellschaftsporträt über das Inflationsjahr 1923 mit einem Vorwort zu entschärfen, wieder geißelten ihn die Nazikritiker. Nur Goebbels schien beeindruckt: „Ein tolles Buch“, notierte er in seinem Tagebuch. „Der Junge kann was.“ „Ständiger Kampf ist nichts. Ich habe schon genug mit dem täglichen Ärger“, schrieb Fallada Anfang der Vierzigerjahre. Er war nun wieder ein viel beschäftigter Autor, gefragt auch im Film- und Illustriertengeschäft, ein Spitzenverdiener im Deutschland des Zweiten Weltkriegs. 1941 beispielsweise bekam sein Erstgeborener zu Weihnachten neues Zubehör für die Modelleisenbahn. Die Quelle: Hermann Görings Spielzeughändler. Fallada war ein Kompromissler, kein Mitläufer. Er denunzierte nicht, war nicht in der Partei, ließ sich aber breitschlagen, mit dem Reichsarbeitsdienst nach Frankreich zu fahren. Der Trip geriet zu einer surreal anmutenden Lustreise, während die Ostfront zusammenbrach, schlemmte Fallada. „Gestern habe ich zweimal Hummer gegessen, morgens wie abends, und wunderbar hat er mir geschmeckt. Dazu einmal Hammel, einmal Kalbskoteletts, jedes Mal zwei Stück. Und einen schönen DER SPIEGEL 3 / 2017
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Belletristik 1 2
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Sachbuch
Sebastian Fitzek Das Paket
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Eckart von Hirschhausen Wunder Rowohlt; 19,95 Euro wirken Wunder
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(2)
Roger Willemsen Wer wir waren
Droemer; 19,99 Euro
Joanne K. Rowling / John Tiffany / Jack Thorne Harry Potter und das Carlsen; 19,99 Euro verwunschene Kind Elena Ferrante Die Geschichte eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro
S. Fischer; 12 Euro
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Peter Wohlleben Das geheime Leben Ludwig; 19,99 Euro der Bäume
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(4)
Andrea Wulf Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Unter Hype-Verdacht, aber auch Ferrantes zweiter Teil ihrer vierbändigen neapolitanischen Saga hat sofort seine Käufer gefunden
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Gerhard Wisnewski Verheimlicht – vertuscht – vergessen 2017 Kopp; 14,95 Euro
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Elena Ferrante Meine geniale Suhrkamp; 22 Euro Freundin
6
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Horst Lichter Keine Zeit für Arschlöcher! Gräfe und Unzer; 16,99 Euro
5
(4)
Nele Neuhaus Im Wald
7
(5)
Peter Wohlleben Das Seelenleben Ludwig; 19,99 Euro der Tiere
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(11)
Dalai Lama Der Appell des Dalai Lama Benevento; 4,99 Euro an die Welt
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Carolin Emcke Gegen den Hass
6
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Ullstein; 22 Euro
Douglas Preston / Lincoln Child Demon. Sumpf der Toten Knaur; 19,99 Euro
7 8 9 10 11 12 13
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Simon Beckett Totenfang
Wunderlich; 22,95 Euro
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(7)
Martin Walser Statt etwas oder Rowohlt; 16,95 Euro Der letzte Rank
Andreas Englisch Franziskus – C. Bertelsmann; 25 Euro Ein Lebensbild
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Bruce Springsteen Born to Run
Jilliane Hoffman Insomnia
Wunderlich; 19,95 Euro
Die Menschheit schafft sich ab
Charlotte Link Die Entscheidung
Komplett Media; 29,95 Euro Blanvalet; 22,99 Euro
13 (15) Hardy Krüger Was das Leben
Christoph Ransmayr Cox Juli Zeh Unterleuten
sich erlaubt
Matthias Brandt Raumpatrouille
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(–)
Werner Tiki Küstenmacher / Lothar Seiwert Campus; 22 Euro Simplify your life
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(–)
Rainer M. Schießler Himmel, Kösel; 19,99 Euro Herrgott, Sakrament
16 (13) Richard David Precht
14 (11) Jojo Moyes Ein ganz
Tiere denken
Wunderlich; 19,95 Euro
17
15 (12) Lucinda Riley
(–)
Die Schattenschwester
Heyne; 21,99 Euro
17 (15) Mechtild Borrmann (–)
Droemer; 19,99 Euro
Jennifer L. Armentrout Oblivion. Carlsen; 18,99 Euro Lichtflüstern
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Bruno Preisendörfer Als unser Deutsch Galiani; 24,99 Euro erfunden wurde
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(–)
Sarah Bakewell Das Café der C. H. Beck; 24,95 Euro Existenzialisten
20
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Dalai Lama / Desmond Tutu / Douglas Abrams Lotos; 22,99 Euro Das Buch der Freude
19 (16) Paulo Coelho
Die Spionin
Diogenes; 19,90 Euro
20 (13) Volker Klüpfel / Michael Kobr
Himmelhorn 120
DER SPIEGEL 3 / 2017
Wilhelm Schmid Gelassenheit Das Buch des Berliner Lebenskunstphilosophen ist seit 2014 ein Bestseller – aber sind wir wirklich gelassener geworden?
16 (14) Robert Harris
Trümmerkind
Goldmann; 22,99 Euro
Insel; 8 Euro
Goldmann; 19,99 Euro
Konklave
Hoffmann und Campe; 20 Euro
S. Fischer; 22 Euro
Luchterhand; 24,99 Euro
neues Leben
Heyne; 27,99 Euro
12 (10) Harald Lesch / Klaus Kamphausen
Kiepenheuer & Witsch; 18 Euro
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S. Fischer; 20 Euro
Droemer; 19,99 Euro
Wein. Und Käse ad libitum. Wie der Herrgott in Frankreich.“ Wieder zu Hause entglitten ihm die Verhältnisse rasant. Selbsthass, Tobsuchtsanfälle, 1944 schließlich griff er im Ehestreit zur Pistole und feuerte auf seine Frau Suse. Die Kugel traf das Tischbein. Aus dem Schlaf heraus wurde er verhaftet, musste in die Strafanstalt Neustrelitz. Wieder draußen, verlobte er sich mit einer jungen Frau namens Ursula Losch. „Meine Ulla ist auffallend hübsch, sehr mondän, malt sich, lackt sich, scheint als Hausfrau keineswegs erschütternd – also in allem das völlige Gegenteil von Suse.“ Er gab der Beziehung keine echte Chance, heiratete die Dame aber trotzdem. Losch liebte den Rausch genauso wie er, nur bei der Beschaffung von Morphium war sie noch hartnäckiger. Nach Kriegsende zogen die beiden in Loschs weitgehend zerstörte Berliner Wohnung. Ihm gelang es, den Kulturfunktionär der Sowjetischen Besatzungszone, Johannes R. Becher, für sich einzunehmen. Becher besorgte dem Paar eine Villa in Pankow, Lebensmittelmarken für Fleisch und Cognac. Außerdem ließ er Fallada die Akten eines Proletarierehepaares in die Hand drücken, das mit kleinen Postkarten in Hauseingängen zum Widerstand gegen das Naziregime aufgerufen hatte. Ein düsterer Stoff: Das Ehepaar wurde entdeckt und hingerichtet. Fallada äußerte Zweifel, in dieser Geschichte gebe es „kein bisschen Jugend, Licht, Hoffnung“. Er setzte sich trotzdem hin und schrieb in neuer Rekordzeit, 24 Tage, „Jeder stirbt für sich allein“, sein letztes Meisterwerk. Kurz vor der Fertigstellung des Romans, Ende November 1946, brachte Ulla fünf neue Ampullen Morphium ins Haus, um ihm, wie sie sagte, „eine Freude zu machen“. Der Tagesverbrauch des Ehepaars betrug bald zehn Ampullen Morphium, sollte Becher später berichten. Es ging nun ziemlich schnell. Als der Stoff schwand und die Tobsuchtsanfälle zunahmen, wurde Fallada in der geschlossenen Psychiatrie der Charité untergebracht. Dort wurde er Mitte Dezember den Studenten als Schauobjekt vorgeführt. Er war jetzt offiziell ein Freak. In der nächsten Klinik zog seine Frau ein Stockwerk über ihn und versorgte ihn mit Cognac, Zigaretten und wohl auch Morphium. Am 5. Februar 1947, 20 Uhr, lag Fallada leblos in seinem Krankenbett. Offizielle Todesursache: Herzversagen. Wenige Wochen vorher hatte er noch einmal an seine Mutter geschrieben. „Irgendetwas in mir ist nie ganz fertig geworden, irgendetwas fehlt mir, sodass ich kein richtiger Mann bin, nur ein alt gewordener Mensch, ein alt gewordener Gymnasiast, wie Erich Kästner einmal von mir gesagt hat.“ I
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Kultur
„Die Ungleichheit beruht auf Raub“ SPIEGEL-Gespräch Der Kapitalismus ist eine Erfolgsgeschichte, sagt der Nobelpreisträger Sir Angus Deaton. Was nicht heißt, dass es immer so weitergehen muss. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt sich der britisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Deaton, 71, mit Fragen der ökonomischen Entwicklung, der Armutsbekämpfung und dem Entstehen von Wohlstand und Ungleichheit. Für seine Studien erhielt er 2015 den Nobelpreis, voriges Jahr wurde der gebürtige Schotte in den Adelsstand erhoben. In seinem neuen Buch „Der große Ausbruch“ (Klett-Cotta, 26 Euro) geht Deaton, der seit 1983 in Princeton forscht und lehrt, den Gründen für den atemberaubenden materiellen Fortschritt nach, der das Leben der Menschen in den vergangenen 250 Jahren so nachhaltig verbesserte wie nie zuvor in der Geschichte. Aber eben nicht für alle: Armut und Not sind nicht besiegt, die Ungleichheit zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern nimmt ebenso zu wie die Kluft zwischen armen und wohlhabenden Schichten innerhalb der hoch entwickelten Länder des Westens. SPIEGEL: Professor Deaton, wird die moder-
ne Welt von heute nicht nur immer reicher, sondern auch besser und gerechter? Deaton: Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob sie reicher wird. SPIEGEL: Aber geht es der Menschheit heute nicht besser als zu jedem früheren Zeitpunkt in der Geschichte? Ist der Kapitalismus nicht doch eine Erfolgsgeschichte? Deaton: Das war er ganz gewiss für eine sehr lange Zeit. Die Aufklärung und die industrielle Revolution, die in Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert begann, setzte ein Wirtschaftswachstum in Gang, das Hunderte Millionen Menschen aus materieller Not herausführte. Die Lebenserwartung überall auf der Welt ist spektakulär gestiegen, sogar in der Dritten Welt stirbt nicht mehr jedes vierte Kind. Die andere Seite dieser Revolution aber nennen Historiker und Ökonomen die „Große Divergenz“. Denn die Umwälzungen verbesserten nicht nur die Existenzbedingungen, sondern begründeten auch eine Welt der Unterschiede. Die Geschichte des materiellen Fortschritts, die ich erzähle, dreht sich sowohl um Wachstum als auch um Ungleichheit. SPIEGEL: Ist Ungleichheit eine unvermeidbare Folge des Fortschritts? Deaton: Die industrielle Revolution riss die Kluft zwischen dem Westen und den übrigen Teilen der Welt auf, die sich bis jetzt trotz aller Anstrengungen nicht geschlosDas Gespräch führte der Redakteur Romain Leick in Princeton.
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DER SPIEGEL 3 / 2017
sen hat. Die weltweite Ungleichheit ist weitgehend das Produkt des modernen Wirtschaftswachstums. SPIEGEL: Ist Ungleichheit an sich ungerecht? Oder ist sie als Dienerin des Fortschritts notwendig, um ein höheres Ziel zu erreichen? Deaton: Darüber besteht kein allgemeines Einvernehmen, auch die Moralphilosophen sind sich nicht einig. Zunächst einmal
ist die Ungleichheit da wie die Schwerkraft: Die gibt sicheren Halt unter den Füßen, löst aber auch beklagenswerte Stürze aus. Das Problem bei der Beurteilung von Fairness und Gerechtigkeit besteht in der unterschiedlichen Auffassung darüber, was gerecht und fair ist, was gleich verteilt werden sollte. Ich nahm neulich an einer Konferenz teil, auf der ein prominenter US-
ner Aufholjagd anspornen, sodass sich ihre Lage bessert. Sie kann sich andererseits in einer Gesellschaft auch derart verschärfen, dass einige wenige als Profiteure die Leitern hinter sich hochziehen, mit der Folge, dass das Wirtschaftswachstum insgesamt gedrosselt wird und die wirtschaftlichen Abläufe gehemmt werden. Das passiert typischerweise in einer ökonomisch-politischen Oligarchie, wie wir sie auch heute beobachten können. SPIEGEL: Machen wir dann einen großen Fehler, wenn wir nur den durchschnittlichen Fortschritt oder, schlimmer noch, den Fortschritt der Erfolgreichsten betrachten, ohne die Verteilungskurve des Reichtums im Auge zu behalten?
HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF
Politiker, ein Republikaner, die Meinung vertrat, Ungleichheit sei Gerechtigkeit. SPIEGEL: Ein ideologischer Glaubenssatz der Leistungsgesellschaft: Jeder soll seines Glückes Schmied sein? Deaton: Darin spiegelt sich das Vertrauen in die Meritokratie, ja darauf, dass Leistung sich lohnt. Jedem das Seine. Menschen, die etwas erreicht haben und unglaublich reich geworden sind, hätten es schlicht verdient, die Früchte ihres Schaffens zu behalten. SPIEGEL: Ungleichheit wäre demnach willkommen, weil sie ein Motor des Fortschritts ist. Deaton: Ungleichheit kann auf der einen Seite jene, die zurückgefallen sind, zu ei-
Deaton: Es ist von größter Bedeutung, etwas über die Verteilung zu erfahren. Innerhalb von Ländern sagt die durchschnittliche Rate des Fortschritts, etwa die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts, nichts darüber aus, ob das Wachstum auch tatsächlich dem Gros der Bevölkerung zugutekommt, wie es in den USA und in Europa in den ersten 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, oder ob nur eine kleine Gruppe sehr vermögender Personen davon profitiert, wie es vor allem in Amerika in jüngster Zeit geschah. Deshalb denken viele, dass Ungleichheit an sich zwar nicht ungerecht ist, dass es jedoch eine Begrenzung des Abstands zwischen Arm und Reich oder zwischen nicht ganz Arm und Superreich geben sollte. SPIEGEL: Aber der Egalitarismus ist definitiv kein Ideal? Deaton: Es fällt sehr schwer, einen gültigen philosophischen Grund dafür zu finden, Ungleichheit als solche für verwerflich zu halten. Wenn ich reicher bin als Sie, warum sollten Sie dann das Recht haben, eine ungerechte Behandlung geltend zu machen? Und wenn ich noch immer reicher werde, ohne Sie dadurch zu beeinträchtigen, dann ist überhaupt nicht klar, warum es Ihnen dadurch schlechter gehen sollte. SPIEGEL: Für das seelische Wohlbefinden vielleicht schon. Verdient nicht jeder seinen fairen Anteil am Volkseinkommen? Deaton: Was ist der faire, der gerechte Anteil? Menschen, die zurückbleiben oder abgehängt werden, haben immer das Gefühl, dass das Leben sie nicht fair behandelt. Nehmen Sie das Beispiel Mark Zuckerberg oder Steve Jobs: Beide sind ungeheuer reich geworden, aber es ist nicht zu sehen, dass sie irgendjemandem Schaden zugefügt haben. Im Gegenteil, sie haben mit ihrer Innovation das Leben von Millionen Verbrauchern verbessert. In ihnen zeigt sich das janusköpfige Gesicht von Fortschritt und Ungleichheit. SPIEGEL: Wäre demnach im Umkehrschluss Einkommensgleichheit ungerecht? Deaton: Wenn Gerechtigkeit als Verhältnismäßigkeit definiert wird, wenn also das, was jede Person bekommt, im Verhältnis zu dem stehen sollte, was sie zum Gesamtergebnis beiträgt, dann wäre die Herstellung von Einkommensgleichheit durch steuerliche Umverteilung von den Reichen zu den Armen ungerecht. SPIEGEL: Eine Gesellschaft profitiert aber nicht davon, wenn die meisten nicht wohlhabend sind. Warum hat das Wirtschaftswachstum die Armut nicht beseitigt, selbst in so reichen Ländern wie den USA nicht? Deaton: Bis Mitte der Siebzigerjahre profitierten in den Vereinigten Staaten fast alle Obdachloser in Berlin „Wachstum beseitigt die Armut nicht“ DER SPIEGEL 3 / 2017
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Kultur
Familien vom wachsenden Wohlstand. Aber seitdem hat das unterste Fünftel der Familien sehr wenig dazugewonnen. In den vergangenen 45 Jahren ist ihr durchschnittliches Einkommen um weniger als 0,2 Prozent pro Jahr gestiegen. Die Armut konnte nicht verringert werden. Dabei ist die absolute Zahl der Armen aufgrund des Bevölkerungswachstums weit deutlicher gestiegen als die Armutsquote: zwischen 1959 und 2011 von 6,7 auf 46,2 Millionen! SPIEGEL: Das sind erschreckende Zahlen. Aber ist Armut in einem reichen Land nicht relativ? Deaton: Die amerikanische Armutsgrenze hat sich in eine absolute Grenze verwandelt: Sie besagt, dass ein feststehender Geldbetrag nötig ist, um der Armut zu entkommen, und dieser Betrag wird lediglich der Preisentwicklung angepasst. Sie stellt keine Beziehung zu den Einkommen anderer Personen her. Natürlich gehört es zu den schwierigsten Fragen, wo die Armutsgrenze zu ziehen ist und wie sie im Lauf der Zeit angepasst werden muss. Für die USA wurde sie erstmals 1963 von der Sozialversicherungsbehörde ermittelt und dann offiziell festgelegt. Der entsprechende Wert für eine vierköpfige Familie – zwei Erwachsene und zwei Kinder – lag 2015 bei 24 250 Dollar. SPIEGEL: Eine solche Grenze markiert die Schwelle zur Entbehrung. Es geht aber um mehr als das bloße Subsistenzminimum. Und sie misst nicht, ob und wie schnell die Ungleichheit zunimmt. Deaton: So schwierig es ist, ohne Messungen und Daten Politik zu betreiben, so unmöglich ist es, Messungen ohne politische Auswirkungen vorzunehmen. Jede Änderung bei der Berechnung der Armutsgrenze stößt auf politischen Widerstand. Die Armutsstatistiken sind Teil des staatlichen Instrumentariums, das gebraucht wird, Einkommen umzuverteilen und zu verhindern, dass Menschen durch unglückliche Umstände in Not geraten. Wenn man wie ich der Meinung ist, dass die Armutsgrenze entsprechend der Entwicklung des Lebensstandards der typischen Haushalte angehoben werden müsste, dass also eine Familie arm ist, wenn sie verglichen mit ihren Freunden und Nachbarn kein angemessenes gesellschaftliches Leben führen kann,
„Populismus entspringt dem Gefühl, dass mächtige und wohlhabende Eliten die Regierung als Geisel nehmen können.“ 124
DER SPIEGEL 3 / 2017
dann stellt sich heraus, dass sich die Armutsquote trotz des Wirtschaftswachstums noch deutlicher erhöht hat. SPIEGEL: In Europa fallen die Unterschiede weniger krass aus. Dennoch ähnelt sich die Entwicklung der Einkommensverteilung. Wieso schafft abstrakte Chancengleichheit keine unzweifelhaft gerechten Ergebnisse? Und haben die Reichen unter diesen Umständen die moralische Verpflichtung, den Ärmeren zu helfen? Deaton: Ich glaube, ja. Es gibt so etwas wie unterlassene Hilfeleistung und die Pflicht zur Hilfeleistung. Aber helfen muss nur, wer es auch kann, ohne sich selbst zu schaden oder in Gefahr zu bringen. SPIEGEL: Wer nicht schwimmen kann, kann keinen Ertrinkenden aus dem Fluss ziehen. Aber die Wohlhabenden können schwimmen. Deaton: Da gelangen wir an einen kritischen und umstrittenen Punkt, der das egalitäre Modell berührt. Wenn Sie demjenigen Geld wegnehmen, der viel davon hat, und es demjenigen geben, der weniger hat, ohne wirklich arm zu sein, tragen Sie dann zur Verbesserung der Welt bei? SPIEGEL: Darauf beruht die europäische Idee des Wohlfahrtsstaats. Die Umverteilung über Steuergesetze und soziale Transferleistungen kommt dabei nicht nur den Allerbedürftigsten zugute. Sie soll auch dazu beitragen, die Gesellschaft durch eine breite Mittelschicht zu stabilisieren. Ist nicht genau dieses Gleichgewicht durch die Kürzungen im Sozialstaat in Gefahr? Deaton: Selbstverständlich hat jede Nation, das Wahlvolk und seine Regierung, das Recht zu bestimmen, wie viel Wohlfahrt sie für die Gemeinschaft wünscht. Die Frage ist doch: Warum haben sich die USA und Europa in dieser Frage so weit auseinanderentwickelt, obwohl sie vom gleichen Ausgangspunkt starteten, nämlich den Ideen der Aufklärung und den Idealen der amerikanischen wie der Französischen Revolution? SPIEGEL: Für die Amerikaner kam Freiheit zuerst, während sich die Europäer Freiheit nicht ohne Gleichheit und Brüderlichkeit vorstellten. Deaton: In den USA stellte sich von Anfang an das Rassenproblem. Die Schwarzen wurden nicht als gleichwertig und gleichberechtigt anerkannt. Sie durften nicht wählen. Viele Schwarze dürfen es heute wieder nicht, weil sie nach einer Straftat ihr Wahlrecht aberkannt bekommen haben. Unter den Gefängnisinsassen sind überproportional viele Schwarze. In Bundesstaaten wie Alabama oder Florida sind bis zu 23 Prozent der schwarzen Männer ihres Stimmrechts verlustig gegangen. In einem liberalen Staat wie New Jersey können immerhin noch 18 Prozent der männlichen Schwarzen nicht wählen. Die Menschen sind sehr viel weniger bereit, denen
zu helfen, die anders sind als sie. Und die anderen, das sind in Amerika die Schwarzen, die zugleich auch die Ärmsten und die politisch Einflusslosen sind. Der Wohlfahrtsstaat endet an der Grenze zu den anderen. SPIEGEL: In Europa könnten sehr bald die Migranten diesen Platz einnehmen. Deaton: Ja. Jene europäischen Länder, die in der Vergangenheit den Wohlfahrtsstaat am großzügigsten ausbauten, waren durchweg auch diejenigen, die ethnisch am homogensten waren. Das ändert sich. SPIEGEL: Das heißt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bedrohen den Sozialstaat. Von der ethischen Frage einmal abgesehen: Ist der entwickelte Sozialstaat vom rein ökonomischen Standpunkt aus gesehen ein Vorzug oder ein Hemmnis? Deaton: Wenn eine Regierung ihren Bürgern das gleiche Einkommen garantieren wollte, würden womöglich alle deutlich weniger arbeiten, sodass es allen schlechter ginge als in einem System, das ein gewisses
Armenspeisung in London um 1900 „Eine Welt der Unterschiede“
CLASSIC VISION / AGEFOTOSTOCK / AVENUE IMAGES
Deaton: Geld kauft politischen Einfluss. Es
Maß an Ungleichheit zulässt. Es gibt indes kaum jemanden, der überhaupt keine sozialstaatlichen Elemente haben will. Die Meinungen gehen auseinander, sobald die Kosten berechnet und verteilt werden. Die Kunst der Fiskalpolitik besteht darin, die Steuern so zu bemessen, dass sie so viel Gutes wie möglich bewirken und so wenig Schaden wie nötig. Die entscheidende Frage ist: Über welche Ungleichheit sprechen wir? Profitiert die Gesellschaft von den Regeln und Institutionen, die es einigen erlauben, viel reicher zu werden als die übrigen? Oder schaden die Reichen allen anderen, indem sie die Einflussmöglichkeiten der Nichtreichen auf die Gestaltung des Gemeinwesens beschneiden? SPIEGEL: Der Kipp-Punkt könnte bald erreicht sein. Deaton: Ein gutes Beispiel ist der Streit um Obamacare, die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung. Ohne sie leben wir in der schlechtesten aller Welten. Die einen kommen mit sehr hohen Ausgaben
im privaten System klar, die anderen bleiben medizinisch unterversorgt. Das ist ein Versagen der Ordnungspolitik. SPIEGEL: Ist die Ungleichheit ein Warnzeichen, dass es auch mit der Gleichheit der Chancen nicht so weit her ist? Deaton: Der Harvard-Ökonom Martin Feldstein hat gesagt, die Einkommensungleichheit sei kein Problem, das behoben werden müsse. Für Chancengleichheit sind dagegen alle. Ich habe zwei Kinder, die sehr gut verdienen. Sie verwenden einen erheblichen Teil ihres Geldes so, wie auch ich es verwendet habe: Sie investieren große Summen in die Bildung, um die Chancen der Nachwachsenden auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Das aber bedeutet schlicht, dass die Ungleichheit der Einkommen sich auf die Chancengleichheit auswirkt. Ungleichheit ist ein Hindernis für Chancengleichheit, die eine mit der anderen zu rechtfertigen ein Trugschluss. SPIEGEL: Ist Ungleichheit auch eine Bedrohung für die Demokratie?
werden Regeln festgelegt, die nicht im Interesse der Allgemeinheit, sondern in dem der Reichen sind, damit sie noch reicher und einflussreicher werden. Es gibt in den USA einen Prozess der kumulativen Kausalität von Geld und Politik. Die politische Gleichberechtigung wird durch wirtschaftliche Ungleichheit ständig bedroht. Wenn sich die Demokratie in eine Plutokratie verwandelt, werden alle, die nicht reich sind, allmählich von der Teilnahme an der demokratischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen. SPIEGEL: Lässt sich der Prozess noch steuern? Deaton: Ich bleibe vorsichtig optimistisch. Aber es wäre verrückt zu glauben, alles werde sich stets irgendwie zum Guten oder Besseren wenden. Der Markt schert sich nicht um Gleichheit oder Ungleichheit. Viele Menschen fragen sich, ob es ihre Kinder und Enkel besser oder wenigstens genauso gut haben werden wie sie selber. Wir dürfen unseren gegenwärtigen Lebensstandard und das moderne Wirtschaftswachstum nicht als selbstverständlich betrachten. Es hat in der Geschichte Wachstumsperioden gegeben, die abrupt endeten. SPIEGEL: Die Angst der Mittelschichten vor dem sozialen Abstieg schürt Ressentiments, Fremdenhass, Wut auf die Etablierten. Droht ein neuer Rechtsextremismus? Deaton: Na ja, wir haben Schlimmeres erlebt. Wir befinden uns nicht in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Aber wir machen leider auch keine Anstalten, das Ruder herumzuwerfen. Die OECD-Länder, in denen der Einkommensanteil des reichsten Zehntels besonders stark gestiegen ist, sind zugleich diejenigen Länder, in denen die Steuern auf hohe Einkommen am deutlichsten gesenkt worden sind. Donald Trump wird nicht in die andere Richtung gehen, und sogar in Deutschland wächst der Druck auf Angela Merkel. Marine Le Pen in Frankreich, Brexit, das Erstarken nationalistischer Bewegungen – alles deutet auf eine Entwicklung, die den Fortschritt, den wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genossen haben, zum Stillstand bringen könnte. Keine schöne Aussicht. SPIEGEL: Können Ökonomen erkennen, wann der rote Bereich beginnt? Deaton: Und selbst dann müssten sie auch gehört werden. Ich bin nicht sicher, ob wir den Eintritt in den Gefahrenbereich wirtschaftswissenschaftlich halbwegs exakt bestimmen können. Das liegt daran, dass es verschiedene Arten von Ungleichheit gibt, gute und schlechte, kreative und destrukDER SPIEGEL 3 / 2017
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Kultur
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Herzen liegen, aber sie selbst kommen nicht mehr aus der Unterschicht. SPIEGEL: Wie konnte ausgerechnet ein Milliardär wie Trump so tun, als wäre er das? Deaton: Mit seinem Reichtum erweckte er den Eindruck von Unabhängigkeit. Er liebt es, Dinge mit starken Worten zu bewegen. Wenn Ford darauf verzichtet, eine Fabrik in Mexiko zu errichten, hat Trump mit einem Tweet gepunktet. Er schafft die Illusion des Machers. Ich würde nicht ausschließen, dass er ein ziemlich populärer Präsident sein wird. SPIEGEL: Wie lange? Deaton: Niemand bleibt auf Dauer populär, außer der deutschen Kanzlerin, die nicht gerade eine Charismatikerin ist. SPIEGEL: Was könnte Trumps gefährlichster Moment werden? Deaton: Eine Konfrontation mit China. Wenn das Wachstumswunder, auf das China angewiesen ist, vorbei ist, muss das Land mit tumultartigen Unruhen rechnen. Ich glaube, dass Präsident Xi Jinping sich bereits auf eine solche Situation vorbereitet, durch eine aggressive Außenpolitik im Südchinesischen Meer und durch eine Stärkung des staatlichen Sicherheitsapparats. Trump ist sicherlich nicht der weiseste Führer der freien Welt, den man sich am Steuer wünscht, wenn in China Schlimmes passiert. SPIEGEL: Der Titel Ihres Buchs, „Der große Ausbruch“, bezieht sich auf den Film „The Great Escape“ („Gesprengte Ketten“), der erzählt, wie eine Gruppe alliierter Soldaten während des Zweiten Weltkriegs aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager auszubrechen versucht. Ihr Buch schildert den Ausbruch der Menschheit aus dem Gefängnis von Entbehrung und frühem Tod. Im Film scheitert die Flucht, die Ausbrecher werden gefasst, ihr Anführer wird erschossen. Deaton: Mein Freund Tony Atkinson, der kürzlich verstorbene große Ökonom, hat mir deshalb vorgehalten, die falsche Metapher für meine Geschichte verwendet zu haben. Ausbrüche lassen Menschen zurück, das Glück ist manchen gewogen, anderen nicht. Aber ich finde, dass die Menschheit vor rund 250 Jahren begann, die Ketten zu sprengen, und diese Befreiung dauert bis heute an. Auch wenn dies keineswegs immer so weitergehen muss, sollte jeder die Chance ergreifen, den Ausbruch wenigstens zu wagen. SPIEGEL: Professor Deaton, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DANAPRESS
tive. Jede Innovation schafft Ungleichheit. Wer aber erheblichen Schaden anrichtet, sind Gruppen und Körperschaften, die eine Hebelwirkung auf die Regierung ausüben und sich zulasten aller anderen bereichern. Diese Art der Ungleichheit beruht auf Raub und Diebstahl. SPIEGEL: Wen meinen Sie damit? Deaton: Die Finanzindustrie und Teile der Gesundheitsindustrie zum Beispiel. Sie bringen die Regierungen dazu, ihnen die Risiken abzunehmen, sodass sie auf Kosten der Allgemeinheit reicher werden. Das ist, als würden Sie die Mafia füttern. Diese Ungleichheit muss beseitigt werden, indem wir die Macht derjenigen brechen, die eine Regierung und ein ganzes Land als Geisel nehmen können. Der Populismus entspringt dem berechtigten Gefühl, dass mächtige und wohlhabende Eliten dem Volk die Regierung entfremden und entziehen können. SPIEGEL: Wie ist es möglich, die Demokratie zu kapern, wenn doch alle Souveränität vom Volk ausgeht? Deaton: Ich begreife nicht ganz, warum manche Demokratien darunter mehr leiden als andere. Als ich in Großbritannien aufwuchs, glaubten wir alle, die Regierung sei uns freundlich gesinnt. Der Brexit hat gezeigt, dass diese Haltung verschwunden ist. Vielleicht denken ja die Menschen in Deutschland immer noch so. SPIEGEL: Die Wähler der AfD wohl kaum. Deaton: Hier in den USA denken sehr viele, dass die Regierung ihr Feind ist. Als ich vor gut 30 Jahren hierherkam, hörte ich, wie ein Princeton-Professor den französischen Ökonomen und Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon zitierte: Der Staat oder die Regierung ist ein Dieb. Oder so ähnlich. Ich dachte damals, der Mann müsse leicht irre sein, ein exzentrischer Radikaler. Heute verstehe ich, was er meinte. Wir müssen den Eindruck bekämpfen, dass die Regierung das Volk betrügt und bestiehlt. SPIEGEL: So gewann Trump die Wahl. Deaton: Die Mittelschicht fühlt sich in Washington nicht mehr vertreten. Sowohl die Demokraten wie die Republikaner sind so abhängig vom Geld und von den Spenden der Finanzwelt, der pharmazeutischen Unternehmen, der Ölkonzerne, dass die Themen, die gewöhnliche Bürger umtreiben, gar nicht diskutiert werden. Politologische Studien haben dokumentiert, dass Abgeordnete beider Kongressparteien für die
Ökonom Deaton „Zwei Gesichter des Fortschritts“
Wünsche reicher Wähler empfänglich sind, während sie auf die Wünsche armer Wähler nicht reagieren. SPIEGEL: Verleitet diese Entfremdung die unteren Schichten dazu, gegen die eigenen Interessen zu stimmen, solange sie nur den Eliten eine Ohrfeige verpassen? Deaton: Durchaus. Sie hatten nicht das Gefühl, viel von Obama bekommen zu haben, und sie glaubten nicht, viel von Hillary Clinton zu bekommen, die mit dem großen Geld im Bett lag. Auf einem anderen Blatt steht, ob Trump ihre Hoffnungen erfüllt. Man darf aber nicht erwarten, dass diese Wähler sich viele Gedanken über ihre wahren Interessen machen. Wir beide zerbrechen uns ja gerade selbst den Kopf über die Frage, was Ungleichheit anrichtet und wie viel davon erträglich ist. SPIEGEL: Vielleicht sollte es wieder eine klare Frontlinie zwischen dem linken und dem rechten Lager geben? Deaton: Das könnte die Demokratie stärken. Die Demokraten in den USA und die Sozialdemokraten in Europa haben die Arbeiterschaft und die kleinen Leute verloren. Ihre Führer sind Intellektuelle oder was auch immer, sie denken, dass die Interessen der unteren Schichten ihnen am
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Kultur
Überlebensmusik Klassik Zuzana Růžičková hat den Holocaust überlebt. Jetzt ist die weltberühmte Cembalistin 90 geworden. Sie sagt: Dem Werk Johann Sebastian Bachs verdanke sie alles.
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ie zierliche alte Dame spricht in Pilsen die Aufforderung, sich an bedeutsch. Ohne Akzent und offen- stimmten Sammelpunkten einzufinden. bar gern. Es ist die Sprache ihrer „Schriftliche Einladungen“ nennt RůžičkoKindheit. Eine deutsche Gouvernante hat vá das mit milder Ironie. Die Familie wurde ins Lager Theresiensie ihr beigebracht. Über 80 Jahre ist das her. Sie sagt „unlängst“, „in der Früh“, und stadt gebracht. Zuzanas Vater erkrankte wenn sie Albtraum meint, sagt sie „Nacht- dort unheilbar. Auf dem Totenbett vermahr“. Wunder heißen bei ihr „Mirakel“. sprach seine Frau ihm, seinen Tod zu räDie Dame sitzt in ihrer Prager Wohnung, chen. „Tu das nicht“, sagte er, „Hass verbietet Kaffee und Kekse an. Seit über 50 giftet die Seele. Überlass es Gott.“ Bald schon verbreiteten sich in ThereJahren wohnt sie hier. Viele Jahre lang mit ihrer Mutter und ihrem Mann. Jetzt lebt sienstadt Gerüchte über die Vernichtungssie als Witwe allein. Während sie erzählt, lager. Ein Transport mit Kindern aus dem Getto der polnischen Stadt Bialystok war lächelt sie manchmal. Ihre Kindheit in der tschechoslowaki- angekommen. Als sie in den Duschräumen schen Stadt Pilsen war die eines behüteten entlaust werden sollten, wehrten sie sich Mädchens. Zuzana Růžičková war ein Ein- und schrien: „Gas, Gas!“ Die Kinder wusszelkind, ihre Eltern besaßen ein großes ten offenbar von den Gaskammern. Eines Tages wurden Mutter und Tochter Spielwarengeschäft in der Stadt, schon ihr Großvater hatte es betrieben. Ihre Familie Růžičková für einen Transport nach Auschwar wohlhabend und angesehen. Sie wa- witz ausgesucht. Sie dachten, so erinnert ren Juden. Antisemitismus habe Zuzana, sich Zuzana Růžičková, „wir kommen irso sagt sie heute, damals in Pilsen nicht gendwo in den Osten zum Arbeiten“. Sie hatte sich – wie einen Talisman – wahrgenommen. Als sie einmal schwer krank wurde, da war sie vielleicht sieben, zuvor auf einem Stück Papier den Anfang versprachen ihr die Eltern die Erfüllung der Sarabande aus der 5. Englischen Suite eines Wunsches. Zuzana wollte Klavier- von Bach notiert. Ein Stück Musik, das ihr stunden nehmen. Sie war begabt und lern- damals am nächsten war, wegen seiner „Ernsthaftigkeit, Heiterkeit und Schlichtte schnell. Růžičková wurde eine der bedeutends- heit“. Den Zettel mit den Noten hatte ten Cembalistinnen der vergangenen 50 sie in der Hand, als sie in Auschwitz von Jahre, sie hat auf der ganzen Welt konzer- ihrer Mutter getrennt wurde. Ein Windtiert. Vor allem wurde sie für ihre Interpre- stoß riss Zuzana das Stück Papier aus der tationen der Werke Johann Sebastian Bachs Hand. Die Mutter lief ihm nach und erwischte es. Andere Frauberühmt. Am 14. Januar en halfen ihr, wieder zu ist sie 90 Jahre alt geihrer Tochter zu gelanworden. Ihre Bach-Eingen. Die beiden konnten spielungen sind gerade in zusammenbleiben, den einer 20-CD-Box neu ganzen Leidensweg lang. veröffentlicht worden. Den Zettel hat Zuzana Dass Růžičková diese verloren. Einspielungen in den In Auschwitz empfinJahren 1965 bis 1974 magen sie auf Deutsch gechen konnte, dass sie, brüllte Befehle, Hundenachdem sie den Hologebell, Schläge. Es war caust überlebt hatte, nicht das Deutsch, das überhaupt auftreten, konZuzana von ihrer Gouzertieren und reisen konnte, dass sie Konzen- CD-Box-Cover mit Bach-Einspielungen vernante gelernt hatte. Und sie sah den Rauch tration für Bach aufbrinMaß, Klarheit, Tiefe aus den Verbrennungsgen konnte, verdankt sie, so sagt sie, im Grunde nur einem: Bach. Er öfen aufsteigen, und sie roch zum ersten Mal den Gestank von verbranntem Menhabe ihr Kraft gegeben. Und Zuversicht. Als die Deutschen 1939 die Tschechoslo- schenfleisch. „Schrecklich“, sagt sie, mehr wakei besetzten, war sie zwölf Jahre alt. nicht. Hat sie überlebt, weil sie stark war? „Ich Bald durfte das Mädchen nicht mehr zur Schule gehen oder Klavierunterricht neh- war nicht stark“, sagt Zuzana Růžičková men. Von 1941 an bekamen auch die Juden so leise, wie sie auch über die anderen Er128
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Cembalistin Růžičková: „Ich habe das Schönste
eignisse in ihrem Leben erzählt, „ich habe mein Stückchen Brot schon immer am Morgen ganz aufgegessen, weil ich es mir nicht einteilen konnte.“ Und sie erzählt, wie sie oft zu ihrer Mutter gesagt hat: „Ich will leben, ich will nicht sterben.“ Noch heute schämt sie sich für den Satz, dafür, dass sie mit ihren Worten die Mutter zusätzlich belastet hat: „Wie konnte ich ihr das antun?“ Zuzana und ihre Mutter waren eingeteilt für den Gang ins Gas, als sie beide für einen Arbeitseinsatz im Lager Neuengamme in Hamburg ausgesucht wurden. Sie mussten in den Straßen Trümmer beseitigen und zerstörte Erdölleitungen ausgraben. Sie hatten keine Schutzhandschuhe. Zuzana brach eines Tages vor Entkräftung zusammen. Sie wurde in eine Wachbaracke gebracht. Ein Aufseher sagte, erstaunt darüber, dass die Jugendliche nicht das Monster aus der Nazipropaganda war, zu ihrer Mutter: „Ach, sie sieht doch eigentlich aus wie ein Mensch.“ Der Leidensweg der beiden endete im KZ Bergen-Belsen. Zuzana Růžičková sagt dazu nur einen Satz: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das überlebt habe.“ Ausgemergelt und krank wurden Mutter und
MATEJ DIVIZNA / GETTY IMAGES
und das Schrecklichste erlebt“
Inzwischen war Zuzana Růžičková vom Tochter gemeinsam mit den anderen ÜberKlavier zum Cembalo gewechselt. Sie finlebenden von den Briten befreit. Als sie nach Pilsen, ihrer Heimatstadt, det, dass ihr Lieblingskomponist Bach auf zurückkehrten, wollte sie niemand aufneh- diesem Instrument am besten klingt. Desmen. Die beiden Frauen übernachteten in sen „Italienisches Konzert“ hat sie, aus einer Notunterkunft. Zuzana wollte wie- „pädagogischen Gründen“, öfter im Konder Musik machen. Ein Musikprofessor, zert zweimal aufgeführt. Zuerst auf dem der sie beurteilen sollte, sagte: „Sie hat Flügel und danach auf dem Cembalo. Sie vier Jahre lang nicht gespielt, sie hat kein wollte auch ihr Publikum davon überzeuRepertoire, sie ist jetzt 18. Sie soll heiraten gen, dass Bach am besten auf dem Instruund abends ihrem Ehemann vorspielen.“ ment interpretiert werden sollte, für das Zuzanas Mutter brachte ihre Tochter zu er komponiert hat. 1952 heiratete Zuzana Růžičková ihre einem Psychologen, einem „alten Herrn“. Der hörte ihr zu und sagte einen Satz, den große Liebe, den Pianisten und KomponisZuzana Růžičková „nie vergessen“ wird: ten Viktor Kalabis. Er war ihr Klavierschüler gewesen. Das erste Stück, das sie vier„Ich kann Sie begreifen.“ Zuzana arbeitete am Klavier. Sie wollte händig spielten, war Strawinskis „Sacre du spielen, wollte aufs Konservatorium. Ihre Printemps“, in dem es, in den Worten des Finger „waren in einem schlechten Zu- Komponisten, um die „Auferstehung der stand“. Aber auf ihre Technik konnte sie ganzen Welt“ geht. Kalabis war es, der seine Frau immer sich verlassen. Sie wurde aufgenommen, obwohl sie nicht die akademischen Vo- wieder ermutigte, ihm zu erzählen, was raussetzungen erfüllte. Wenige Jahre nach sie in den Lagern erlebte hatte. Er bemühte Kriegsende gab sie ihr erstes öffentliches sich zu verstehen, und er weckte sie auf, Konzert. Und dann passierte, was sie wenn sie Albträume hatte. Er sollte sie oft noch heute für einen „schlechten Scherz“ aufwecken. hält: Die Tschechoslowakei wurde 1948 Eines Tages musste das Ehepaar entscheikommunistisch. Eine Diktatur löste die den, ob Zuzana Růžičková nach Deutschandere ab. land fahren sollte, in das Land der Men-
schen, die ihr so viele Qualen bereitet hatten, die so viele Mitglieder ihrer Familie getötet hatten. In München gab es den ARDMusikwettbewerb, Zuzana Růžičková hätte in der Kategorie Cembalo antreten können. Sollte sie wirklich fahren? Ihr Mann riet ihr zu. Sie sei eine Künstlerin, die den Deutschen mit ihrer Musik etwas zu sagen habe. Sie könne den Deutschen durch Bach ein anderes Deutschland zeigen. Sie wollte, so sagt sie heute, den Deutschen zeigen, dass ihr Land auch Großes und Schönes hervorgebracht habe, dass Bach eine höhere Ordnung, Maß, Klarheit und Tiefe bedeute. Und Moral, eben „ein Gesetz“. Nachdem sie in München einen Preis gewonnen hatte, bekam sie Konzerteinladungen ins Ausland. Die staatliche Konzertdirektion in der Tschechoslowakei entschied jedoch darüber, welches Angebot sie annehmen durfte. Diese Agentur behielt auch 80 Prozent der Gage ein. Immer wenn Zuzana Růžičková in Deutschland auftrat, etwa bei der Bachwoche in Ansbach, fürchtete sie, einem ehemaligen Nazi zu begegnen, der zu den Peinigern in den Lagern gehört hatte. Einer Bekannten von ihr war so etwas passiert. Auch in der Tschechoslowakei war der Antisemitismus nicht verschwunden. Der berühmteste Dirigent des Landes war damals Karel Ančerl. Er war Jude. Es gab die Direktive, dass in der Philharmonie höchstens ein Jude auf dem Podium stehen durfte. So konnten Ančerl und Růžičková nie gemeinsam öffentlich musizieren. 2006 gab Zuzana Růžičková ihr letztes Konzert. „Es tat weh, sehr weh“, sagt sie. Sie hat ihr Cembalo seitdem nie wieder angerührt, aber sie unterrichtet. Ihre eigenen Aufnahmen hört sie sich ungern an: „Entweder sagt man: das hättest du besser spielen können, oder: das wirst du nie wieder so gut spielen.“ Wie blickt sie auf ihr Leben zurück? Das Erste, was sie sagt, ist nur ein Wort, „unwahrscheinlich“. Nach einer Pause sagt sie noch: „Ich habe das Schönste und das Schrecklichste erlebt.“ Das Schönste war, dass sie ihren Mann getroffen und geheiratet hat, dass sie mit ihrer Mutter überlebt hat und dass diese ein hohes Alter erreicht hat. Und dann war das Schöne die Musik. Die Musik Bachs. Für sie ist Bach die Musik ihres Lebens. Überlebensmusik. „Ich habe 101 Mirakel erlebt“, sagt sie. Wunder. Hat die Musik von Bach, der als der protestantischste aller Komponisten gilt, als der fünfte Evangelist, ihr auch so etwas wie religiöses Erleben ermöglicht? Glaubt sie an einen Gott? Zuzana Růžičková, die große Bach-Interpretin, die vier Lager überlebt hat, sagt: „Entweder gibt es einen Gott, oder es gibt keinen.“ Joachim Kronsbein DER SPIEGEL 3 / 2017
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Kultur
Großer Saal, Lichtinstallation, Chefdirigent Hengelbrock mit NDR Elbphilharmonie Orchester: Dem Raum und dem Klang Zeit geben, am Ende wird er
Der hängende Pilz Konzertkritik Bei der Eröffnung zeigte die Hamburger Elbphilharmonie erstmals, wie sie wirklich klingt. Nicht nur gut.
B
ei zehn Jahren Bauzeit kommt es auf eine halbe Stunde auch nicht mehr an. Die Staatsspitze – Präsident, Bundestagspräsident und Kanzlerin – die am vergangenen Mittwoch nach Hamburg gereist war, um die Eröffnung der Elbphilharmonie zu einer Art Staatsakt zu machen, kam zu spät. Schneefall in Berlin hatte die Anreise verzögert. Auch die hohe Politik wollte hören, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hat, die Explosion der Baukosten um das Zehnfache, der Ärger, die Frustration bei allen Beteiligten. Von Bürgern war viel die Rede bei den Ansprachen, davon dass das Konzerthaus nicht von oben nach unten, sondern aus der Initiative zweier Bürger (unten) zur staatlichen Sache gemacht werden konnte (oben). Doch wie klingt er nun, der neue, elegante Saal, der sich hoch ins Gebäude schraubt, der Klassik-Weinberg mit seinen vielen versetzten Terrassen, der 2100 Menschen aufnehmen kann und doch so intim und entspannt wirkt? Thomas Hengelbrock, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, begann mit Beethovens Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“, und die ersten Akkorde klangen, nun ja, hart und etwas trocken und irgendwie weit weg. Vor der Eröffnung hatte Hengelbrock davon geschwärmt, dass die Akustik des Saales, die der Japaner Yasuhisa Toyota zu verantworten hat, transparent und sinnlich sei. Nach der Sinnlichkeit, der Wärme der Streicher lauschte man am Anfang vergebens. Dafür dominierte das Blech. Der große Gesamt-Wumms, die 130
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Überwältigung durch Klang und Kraft (auch im Leisen), blieb aus. Da war der Saal allerdings auch noch nicht in Bestform. Über dem Orchesterpodium schwebt ein riesiger Reflektor, der wie ein auf dem Kopf hängender flacher Pilz aussieht. Aus dem war ein Mittelteil heruntergefahren, das den mikrofonverstärkten Rednern helfen sollte, überall verständlich zu sein. Der letzte Satz aus Brahms’ Zweiter, der ebenfalls verhaltener und nicht so präsent klang, wie viele vielleicht auch etwas wundergläubig erwartet hatten, beschloss den ersten Teil. Das eigentliche Festkonzert – der Pilzfortsatz war wieder eingefahren worden – bescherte akustisch größeres Glück und war eine dramaturgische Überraschung. „Zum Raum wird hier die Zeit“, dieses aus Wagners „Parsifal“ entnommene Motto hatte sich Hengelbrock für sein zweiteiliges Programm gewählt: Ein schier unendlicher musikalischer Fluss strömte durch das Haus. Alle Stücke, historisch gemischt, gingen nahtlos ineinander über, so als sei die Musikgeschichte doch keine Historie von Stücken oder der klar abzugrenzenden Epochen, Genres und Stile, sondern eine einzige, pausenlos sich verschränkende und zu einer Timeline vereinende Gegenwart. Das war zumindest klug gedacht, fürs Festpublikum hinnehmbar verstörend und effektvoll modern. Es begann mit einer einzigen Oboe, die Kalev Kuljus von einem der Ränge hoch über dem Podium spielte, „Pan“, ein Solostück von Benjamin Britten. Es tönte, als sei es die archaische Quelle aller Musik. Der fantastische französische Countertenor Philippe Jaroussky sang, begleitet von einer Harfe, Renaissancemusik von einem anderen Rang. Das Ensemble Praetorius führte, wieder woanders, ein Stück von Jacob Praetorius aus dem Jahr 1606 auf, dazwischen immer wieder junge und jüngste Musik der Moderne. Auch Wolfgang Rihms anrührendes Auftragswerk „Reminiszenz“, eine Hommage auf den Hamburger Querkopf-Literaten und Orgelbauer Hans Henny Jahnn, stand übergangslos zwischen Wagners „Parsifal“-Vorspiel und dem Schlusschor von Beethovens Neunter. Ob Rihm das gefällt? Der Komponist war krankheitshalber nicht erschienen. So wie auch der Tenor Jonas Kaufmann fehlte, der Rihms Werk hätte interpretieren sollen. Statt seiner
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überzeugen
trat Pavol Breslik an, der allerdings nur selten verständlich sang. Aber schon vorher war klar: Der Saal verzeiht nichts, er ist eine ehrliche Haut. Patzer und Undeutlichkeiten werden verstärkt, nicht beschönigt. Wenn es im Orchester wackelt, dann werden die Fehler dem Ohr wie auf dem Silbertablett serviert. Und vor allem: Der Saal klingt voll besetzt anders als leer. Nämlich schlechter. Wer kurz vor Weihnachten eine Probe des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter Hengelbrock mit der „Rosenkavalier-Suite“ von Richard Strauss im leeren Haus erleben konnte, hörte einen weichen, luxuriösen Klang, der berauschte. Kritik an der Akustikplanung des Saales gibt es schon lange. Der Akustiker Uwe M. Stephenson, Professor für Raumakustik an der HafenCity Universität in Hamburg, zweifelt seit Baubeginn am erhofften Weltklasseklang. Und das liege nicht am Starakustiker Yasuhisa Toyota, der als einer der weltbesten Experten gilt. Stephenson glaubt, dass niemandem dies hätte gelingen können. Denn ob Boston, Amsterdam oder Wien – die weltbesten Säle sind alle im sogenannten Schuhkarton-Stil gebaut. In diesen viereckigen Räumen gelten Nachhallzeit, Seitenschall und das Gefühl, von der Musik eingehüllt zu werden, als optimal. Seine Zweifel hatte Stephenson schon 2010 dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss schriftlich mitgeteilt, der die enorme Kostensteigerung der Elbphilharmonie untersuchte. Nun scheinen sich einige der Bedenken zu bestätigen. Im vorläufigen Messbericht von Toyotas Nagata Acoustics liegt die Nachhallzeit im Großen Saal über einen weiten Frequenzbereich bei deutlich mehr als zwei Sekunden, das ist im internationalen Maßstab zu viel für Konzertsäle, die Weltklasse sein wollen. Je länger der Klang hallt, desto mulschiger wird er. Weitere Messungen eines unabhängigen Experten, die dem SPIEGEL vorliegen, zeigen zudem, dass die Nachhallzeit vor allem in den Tiefen und Mitten zu lang ist, im „Präsenzbereich“ der Höhen dagegen etwas Hall fehlt. Die Sprachverständlichkeit leide dadurch. Zudem verhindere der fehlende Nachhall in den Höhen „Glanz“ und „Gänsehautfeeling“. Insgesamt erinnere der Frequenzverlauf eher an eine Kirche denn an einen Konzertsaal, er-
klärt der angesehene Akustiker, der angesichts der „Elphi“-Euphorie ungenannt bleiben möchte. Stephenson unterstützt die Kritik: Der Große Saal sei mit seinen bis zu 30 Meter Höhe für ein Konzerthaus sehr hoch, ideal seien 10 bis 15 Meter. Hinzu komme das zeltförmige Dach des Saals, das vermutlich für den langen Nachhall mitverantwortlich sei. Auch Toyota hatte das Problem bereits erkannt. Als Abhilfe rang er den Architekten deshalb den 50 Tonnen schweren Reflektor, den hängenden Pilz direkt über der Bühne, ab. Ohne ihn würde der Orchesterklang völlig nach oben verschwinden. Stephenson glaubt jedoch, dass der Reflektor deutlich tiefer hätte hängen müssen, um vor allem den Musikern beim gegenseitigen Hören zu helfen. Der Ästhetik des Saals jedoch hätte dies nicht gutgetan. Zwar bestätigt Toyota in seinem Bericht dem Großen Saal „exzellente Klarheit und Fülle für Soloaufführungen“. Ein „finales Urteil der Qualität der Halle“ sei jedoch erst „nach weiteren Proben und Konzerten mit einer Vielfalt an Programm“ zu fällen. „An der Elbphilharmonie wird es am Anfang viel Kritik geben“, hatte Toyota im Juni 2016 im SPIEGEL vorausgesagt, „aber zum Glück kenne ich das schon. Ich bitte Musiker und Besucher um Geduld. Geben Sie dem Raum und dem Klang Zeit. Am Ende wird Sie beides überzeugen.“ Die Berliner Philharmonie brauchte zehn Jahre, bis sie ihren besten Klang fand. Auch das Orchester wird sich entwickeln und lernen, mit welcher Dynamik, Balance und Besetzung es spielen muss, um den Raum optimal zum Klingen zu bringen. Und natürlich ist der Sound auch immer eine Frage des Gefühls. Akustiker wie der renommierte Finne Tapio Lokki unterscheiden zwei Typen von Publikum: die „Analytiker“, die alles transparent und deutlich hören, und die „Schwelger“, die sich eher von Klang umhüllen lassen wollen. Beim Schlusschor aus Beethovens Neunter, der den Abend beschloss, wurden am ehesten noch die Analytiker bedient. Die Schwelger berauschten sich an der Architektur. Philip Bethge, Joachim Kronsbein
Video: So klang das Eröffnungskonzert spiegel.de/sp032017elbphilharmonie oder in der App DER SPIEGEL
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MÁRIO SOARES, 92 Wie kein anderer hat der Historiker und Jurist die Demokratie in Portugal und deren Beziehung zu Europa geprägt. Der Sohn eines Pädagogen kämpfte gegen die Diktatur zunächst als Kommunist, später als Oppositionellenanwalt. Er wurde eingesperrt, später mit Frau und Kindern monatelang verbannt. 1973 gründete er in Bad Münstereifel mithilfe
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Gemeinschaft führte, wählten die Portugiesen ihn noch zweimal zum Präsidenten. Mário Soares starb am 7. Januar in Lissabon. hzu
des SPD-Chefs Willy Brandt die Sozialistische Partei Portugals. Als erster Außenminister nach der Nelkenrevolution von 1974 entließ er die portugiesischen Kolonien in die Unabhängigkeit. Mit seinen Sozialisten verhinderte Soares eine Revolution von Kommunisten und linken Militärs. Nach drei Amtsperioden als Ministerpräsident, in denen er sein Land in die Europäische
HEINZ BILLING, 102 Er werde erst sterben, sagte der Physiker einmal, wenn der Nachweis der Schwerkraftwellen gelungen sei. Um ein gutes Jahr überlebte Billing die Entdeckung jener kosmischen Vibrationen, denen er so lange auf der Spur gewesen war. An den Apparaten dafür hatte der Garchinger Max-Planck-Forscher schon vor 40 Jahren gebastelt. Billing war zugleich ein Pionier der Datenverarbeitung. In den Fünfzigern baute er den ersten deutschen Elektronenrechner, den schrankgroßen G1 „mit 470 gespenstisch glimmenden Radioröhren und einigen Dutzend Kontrolllämpchen“ (SPIEGEL 25/1952). Der G1 brachte es auf damals spektakuläre zwei Rechenoperationen pro Sekunde. Fürs Speichern der Zahlen wurden erstmals rotierende Magnettrommeln genutzt – sie gelten als Vorläufer der heute allgegenwärtigen Festplattenspeicher. Heinz Billing starb am 4. Januar in Garching. mdw
ANNE VOLK, 72 Es sollte drei Jahrzehnte dauern, bis die bekannteste Frauenzeitschrift des Landes erst-
mals von einer Frau geleitet wurde. Umso mehr prägte Volk die „Brigitte“, als Chefredakteurin, Geschäftsführerin und schließlich Herausgeberin, 16 Jahre lang seit 1985. Nach dem Besuch einer Modeschule hatte sie mit 22 Jahren als Redakteurin bei der Zeitschrift „neue mode“ begonnen, deren Chefin sie später wurde. Aufgewachsen bei Stuttgart, legte Volk auch in Hamburg ihren schwäbischen Slang nie ab. Anne Volk starb am 6. Januar in Hamburg. akü
rielle Fortschritt ist ein unerbittlicher Meister der Auslese, die als überflüssig ausgegrenzten und abgekoppelten Menschen sind zu einem Leben in prekärer Ungewissheit verurteilt. Den Schicksalsschlägen in den flüchtigen Zeiten der „Liquid Modernity“ (der von ihm geprägte Begriff wurde ein Schlüsselwort) war er in der ersten Hälfte seines Lebens selbst ausgesetzt. Zweimal wurde Bauman zum Flüchtling. In einer jüdischen Familie in Posen geboren, rettete er sich 1939 vor den Nazis in die Sowjetunion; als politischer Offizier kehrte er bei Kriegsende zurück und lehrte später in Warschau Soziologie. 1967 trat er aus der Kommunistischen Partei aus, verlor nach einer antisemitischen Hetzkampagne seine Professur und emigrierte nach Israel. 1971 erreichte ihn ein Ruf an die University of Leeds. Zygmunt Bauman starb am 9. Januar in Leeds. ck DUNCAN ELLIOTT / DER SPIEGEL
ROMAN HERZOG, 82 Er war immer unabhängig, in den kleinen wie den großen Dingen. Als der Schriftsteller Stefan Heym, Abgeordneter der PDS, der Vorgängerpartei der Linken, 1994 als Alterspräsident den Bundestag eröffnete, blieben fast alle Unionsabgeordneten demonstrativ sitzen – ein peinlicher Bruch mit der parlamentarischen Tradition. Roman Herzog stand auf, wie es sich gehört. Heyms Rede sei gut gewesen, und das habe er auch nicht anders erwartet, sagte der Bundespräsident hinterher. Herzog hatte seine Wahl in das höchste Staatsamt Helmut Kohl zu verdanken, aber es wäre ihm nie eingefallen, dem Kanzler deswegen politisch zu Gefallen zu sein. Dass er ein eigenständiger Denker war, hatte er schon zuvor bewiesen, als Richter am Bundesverfassungsgericht, dem er elf Jahre lang angehörte.
Zum Ärger manches CDU-Parteifreunds interpretierte er als Vorsitzender der 1. Kammer des Gerichts die Rechte des Bürgers gegen den Staat sehr weitgehend, etwa als sein Senat im Brokdorf-Urteil das Demonstrationsrecht betont freiheitlich auslegte. Herzog, der zunächst als Kultus- und später als Innenminister Baden-Württembergs politische Erfahrung sammelte, war ein humorvoller Konservativer, dessen Spott sich auch gegen die eigene Person richtete. Der in Landshut geborene Bayer war ein ganz anderer Typ als sein Vorgänger, der aus einer preußisch-protestantischen Adelsfamilie stammende Richard von Weizsäcker. Auch als Präsident blieb Herzog leutselig und zugänglich, sein Selbstbewusstsein schlug nicht in Arroganz um. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war ihm wichtig. 1995 besuchte er als erster Bundespräsident das Vernichtungslager Auschwitz. Im Jahr zuvor war er zum Jahrestag des Warschauer Aufstands nach Polen gereist und hatte um Vergebung für die deutschen Verbrechen gebeten. Der polnische Außenminister würdigte diese Geste als „dritte wichtige Etappe auf dem Weg der deutsch-polnischen Versöhnung“ nach dem Briefwechsel der Bischöfe von 1965 und Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer-Ghetto-Mahnmal 1970. Nur Herzogs berühmteste Rede als Präsident war ein Misserfolg. Im neu eröffneten Hotel Adlon hatte er in einer Ansprache die Situation in den letzten Kohl-Jahren präzise beschrieben: „Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression.“ Doch der Ruck, den er forderte, blieb aus. Roman Herzog starb am 10. Januar in Bad Mergentheim. ran
KLAUS FRANKE / DPA
REGINA SCHMEKEN / SZ PHOTO / LAIF
Nachrufe
ZYGMUNT BAUMAN, 91 Er war einer der scharfsinnigsten Analytiker der globalisierten Gegenwart und erkannte deren dunkle Seite: Der mateDER SPIEGEL 3 / 2017
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Im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses wurde bei einem Senatsempfang mit rund 400 Gästen gefeiert
Zeigen, was war 7O JAHRE SPIEGEL Am 4. Januar 1947 erschien die erste Ausgabe des Nachrichten-Magazins,
am 6. Januar 2017 lud Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz zur Feier des Jubiläums ins Rathaus. Alles drehte sich um die Aufgaben der freien Presse gestern, heute und morgen.
„Verantwortung für das freie Wort“ ist für Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen das verbindende Thema von 1947 und 2017
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In Hamburg sei man „stolz und froh, die Heimat des SPIEGEL zu sein“, sagte Scholz, hier neben Chefredakteur Klaus Brinkbäumer
Personalien Die Augenzeugin
„Wir sind sexuelle Wesen“ Sollte der Staat sexuelle Dienstleistungen für Pflegebedürftige und Behinderte finanzieren? Eine Grünenpolitikerin hat diese Frage aufgeworfen, seither wird darüber diskutiert. Nina de Vries, 55, arbeitet seit vielen Jahren als Sexualassistentin. Sie sagt: Mit Geld allein ist es nicht getan.
„Die Bezeichnung Sexualassistenz hat sich erst vor etwas mehr als zehn Jahren durchgesetzt, davor habe ich mich als Berührerin oder tantrische Masseurin bezeichnet. Ich biete Menschen mit Beeinträchtigungen sexuelle, sinnliche Berührungen an. Das kann die Genitalzonen einschließen und bis zum Orgasmus führen – muss es aber nicht. Ich richte mich nach dem, was meine Kunden wollen, was ihnen guttut. Manche wollen gestreichelt oder massiert werden, andere wollen kuscheln, wieder andere wollen zusammen nackt sein. Manche sind aufgrund einer schweren geistigen Behinderung nicht in der Lage, selbst herauszufinden, wie sie masturbieren können – da versuche ich, durch meine Berührungen eine Idee zu vermitteln. Einige Sexualassistenten bieten auch Geschlechts- oder Oralverkehr an, ich tue das nicht. Bei vielen meiner Kunden spielt das auch keine Rolle. Ich verstehe nicht wirklich, warum es gerade so ein Aufbäumen um dieses Thema gibt. Wir alle sind sexuelle Wesen, und wir alle können behindert oder pflegebedürftig werden. Klar, Sexualität ist nicht nötig, um zu überleben. Aber um eine bestimmte Lebensqualität zu haben, kann es schon wichtig sein. Von dem Vorschlag, sexuelle Dienstleistungen staatlich zu fördern, halte ich aber nicht viel. Erstens ist er unrealistisch. Und zweitens brauchen das nicht alle Pflegebedürftigen. Sinnvoller wäre meiner Meinung nach ein Budget für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, die man auf kognitiver Ebene nicht erreicht, die aber ganz offensichtlich unter einer fehlenden Unterstützung auf diesem Gebiet leiden. Wenn ein autistischer Mann regelmäßig zwanghaft in der Öffentlichkeit die Hosen runterlässt, kann man ihm Medikamente geben, um seinen Sexualtrieb zu unterdrücken – oder ihm einen Sexualassistenten finanzieren. Noch wichtiger wäre, Pflege- und Ausbildungseinrichtungen zu verpflichten, das Thema Intimität angemessen zu behandeln. Wir müssen mehr über Sex reden. Menschen, die das nicht oder nicht mehr für sich organisieren können, brauchen ein Umfeld, das bereit ist, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Diese Offenheit entsteht nicht durch Gelder.“ Aufgezeichnet von Sophia Schirmer
Chefredakteur Brinkbäumer (2. v. r.) und seine Vorgänger Georg Mascolo, Werner Funk, Stefan Aust, Mathias Müller von Blumencron
Julia Jäkel, Geschäftsführerin des SPIEGEL-Gesellschafters Gruner + Jahr, im Gespräch mit der Journalistin Franziska Augstein
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL
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SPIEGEL-Autor Martin Doerry, Schriftstellerin Gisela Stelly Augstein und ihr Partner Burkhard Langenstein
WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich, thjnk-Geschäftsführerin Karen Heumann und Tom Buhrow, Intendant des WDR
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„Statt ‚bedingter Wehrhaftigkeit‘ kann ich bei der CDU/CSU/SPDKoalition bisher nur unbedingte Orientierungslosigkeit erkennen.“ Wolfgang Hummel, Berlin
Nr. 2/2017 Bedingt wehrhaft – Wie die Demokratie ihre Bürger schützen kann
Die exzellent gemachte Titelbild-Montage zeigt unmissverständlich die Machtverhältnisse unter unseren Beschützern. Die Kanzlerin steht vor ihren Mannen, schaut etwas hilflos, trotz ihrer schicken Ausrüstung mit einer Art Kleinkaliber. Ihr Innenminister dagegen, immer forsch voran mit „nicht kleckern, sondern klotzen“, hat eine futuristische Waffe zur Hand, wie einen Kalaschnikow-Klon, mit dem er auch in „Star Wars“ ein Wörtchen mitsprechen könnte. Seehofer hält sich abseits, wie immer.
mittler nicht standesgemäß. Das war bei Al Capone anders. Schon Anfang der Neunziger habe ich erlebt, dass ein Nordafrikaner bei fünf Behörden Asyl beantragt hatte. Beim Bundeskriminalamt wurden die Fingerabdrücke gespeichert, aber nicht abgeglichen. Da hat sich nichts geändert; die Begehung dieser Straftaten wird von unserem Staat sogar noch unterstützt. Name und Anschrift sind der Redaktion bekannt
Hans-Emil Schuster, Hamburg
Die (Führungs-)Stärke suggerierende, ganz bewusst positiv eindrucksvolle Fotomontage der Kanzlerin in einem Kampfanzug der Spezialeinheiten empfinde ich als einen Affront gegen all jene, die tatsächlich mit der Waffe in der Hand einem Terroristen gegenübertreten müssen. Eine solche Ausrüstung im Einsatz zu tragen ist Auszeichnung und Lohn für herausragenden Mut und unglaublich hartes Training. Und ein entschlossener Gesichtsausdruck bedarf dann ebenfalls keiner Fotomontage. Diana Rempis, Bonn
Es sind in Berlin zwölf unschuldige Menschen ums Leben gekommen, weil unser schwacher Rechtsstaat vor dem Terroranschlag mehrmals eklatant versagt hat. SPIEGEL, danke für diese klaren Worte! Hat auch nur ein Politiker dafür die Verantwortung übernommen? Ist auch nur einer der Gefährder seitdem abgeschoben worden? Die Details des Versagens sind mittlerweile breit medial ventiliert worden, fehlt nur noch eine zeitnahe, entschlossene Zuweisung der Verantwortung – und die Übernahme derselben, welcher nur ein Amtsrücktritt gerecht wird. Dietmar Wiese, Roßdorf (Hessen)
Auch ich bin der Ansicht, dass wir grundsätzlich keine neuen, schärferen Gesetze brauchen, wenn noch nicht einmal die vorhandenen konsequent angewandt werden. Die Toten und Verletzten hätten vermieden werden können, hätte jeder seine Aufgaben so erledigt, wie sie zu erledigen waren. Besonders nachdenklich stimmt mich als pensionierten Polizeibeamten, dass zwar einzelne Dienste an der Person dran waren, aber Delikte wie Betrug und Urkundenfälschung waren wohl für die Er136
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Berührt und schockiert Nr. 1/2017 Wut, falsche Wahrheiten, Verschwörungstheorien – der Job des ernsthaften Journalismus in der Empörungsdemokratie
Der Journalismus vor dem Hintergrund von Lügenpresse, Fake News, Hass-Posts, Verschwörungstheorien, Politikverdrossenheit: Noch nie habe ich eine so umsichtig geschriebene Darstellung dieser Probleme gelesen. Ullrich Fichtner pauschalisiert nicht, klagt nicht an und verurteilt nicht – er führt Beobachtungen so zusammen, dass Zusammenhänge transparent werden. Wolfgang Graf, Hamburg
CHRISTIAN CHARISIUS / DPA
Das war bei Al Capone anders
Spezialeinsatzkommando in Hamburg
Wer als Student in den Siebzigern die unglaubliche Härte des Staates bei der Verfolgung der RAF-Terroristen und ihrer Sympathisanten erlebt hat, kann jetzt nur staunen, wie hilflos er auf die IS-Killer, aber auch auf die brandschatzenden Nazis reagiert. „Der Rechtsstaat“, der damals die Staatsorgane kaum gehindert hat, wird jetzt auch noch als Begründung dafür herangezogen, dass ein fanatisierter IS-Killer mit 14 Identitäten ahnungslose Behörden immer wieder austricksen und den angekündigten Anschlag in Berlin ausführen konnte. Ich fühle mich nicht mehr sicher hier und habe mit Pfefferspray aufgerüstet. Dr. Sigmund Blank, Hamburg
Wie man kann man sich noch darüber lustig machen, dass ein Einsatz der Polizei erfolgreich verlaufen ist und es nicht zu einer Wiederholung der Szenen vom letzten Silvester kam? Was sollte denn die Polizei machen, wenn wieder dieselbe potenzielle Tätergruppe anreist? Abgesehen davon, dass sie sich auch ein schöneres Silvester vorstellen kann, als in der Kälte am Bahnhof zu stehen und die Feiernden zu beschützen.
Der Artikel hat mich berührt, schockiert, nachdenklich gemacht. Wir brauchen einen neuen Ruck, einen Aufschrei bezüglich der Gefährdungen für unser Gemeinwohl. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion über die Dinge, „die sind“, ohne gleich in Vorwürfe zu verfallen. Wir brauchen aber auch das Positive in diesem Land – berichten Sie darüber! Wir brauchen mehr Mut, in den Schulen über die Gegebenheiten zu sprechen. Dipl.-Päd. Friederike Eickhoff, Hamburg
Sie haben sich dem uns allen drohenden Chaos nüchtern von allen möglichen Seiten genähert. Und ihm damit schon einen Teil seines Schreckens genommen. Dr. Frank Kupke, Altenholz (Schl.-Holst.)
Eine geniale, großartige Bestandsaufnahme. Der seitenlange Pessimismus wird der Lebenswirklichkeit aber nicht gerecht. Dr. Franz-Ernst Poltmann, Garbsen (Nieders.)
Wir haben uns so sehr an die alltägliche Heuchelei und Doppelmoral gewöhnt. Christen sind heute die größten Waffenproduzenten und -nutzer, die rücksichtslosesten Kapitalisten, welche die Natur zerstören und Menschen bis aufs Blut ausbeuten. Jochen Richter, Karlsruhe
Hervorragend analysieren Sie die Situation. Es ist geradezu lächerlich, dass unsere Minibundesländer Saarland, Bremen, Brandenburg eigene Verfassungsschutzbehörden haben. Zu viele Behörden können nicht die erforderlichen Maßnahmen veranlassen.
Ich war Stadtrat für die SPD und Lehrer. Jetzt bin ich AfD-Wähler, gehöre also zu denen, die „Hass und Unbehagen in unserer Gesellschaft“ sichtbar gemacht haben. Ich bin, wie überall zu lesen ist, ein „Rechtspopulist und Rechtsradikaler“, der die Politik nicht versteht, eine Politik, die nichts erklärt, sondern als Prediger, Mahner und Erzieher auftritt: „Wir schaffen das“ statt konkreter Lösungen. Und fast alle Medien haben die Politik Merkels anfangs übernommen, ohne zu hinterfragen.
Dr. Ralph Detzel, Ehingen (Bad.-Württ.)
Bernd Bauer, Schwetzingen (Bad.-Württ.)
Matthias Krause, Köln
Briefe
Den Großvater ehren
Die gute alte Isabella, bei Ihnen als „sportlicher Kleinwagen“ bezeichnet, war eindeutig ein Auto der Mittelklasse.
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Nr. 1/2017 Ein Deutscher und ein Chinese lassen den Borgward wiederauferstehen
Otto Lukat, Uelzen (Nieders.)
Nicht „Großvater Borgward“ führte in erster Linie das Unternehmen in den Konkurs. Besonders die elegante Isabella TS sorgte für einen derartigen Furor, dass Daimler alles daransetzte, diesen genialen C. F. W. Borgward aus dem Markt zu drängen. Jürgen Marquardt, Hamburg
Merkel-Besuch in Niger
Nr. 1/2017 Warum sich Fluchtursachen nur langfristig in den Herkunftsländern bekämpfen lassen
Können wir es uns leisten, auf Einsicht und Kooperation afrikanischer Regierungen zu hoffen? Wer den Essay liest, spürt ein klares „Nein“. Auch europäische Lösungsansätze erscheinen unrealistisch. Nur wird uns das afrikanische Bevölkerungswachstum spätestens dann zu Konsequenzen zwingen, wenn sich Millionen Armutsflüchtlinge auf den Weg nach Europa machen. Wird es bereit sein, Zuwanderung in diesem Umfang zu akzeptieren? Falls die Antwort negativ ausfällt, wird man nicht umhinkommen, unsere Außengrenzen wirksam zu schützen. Ist das nicht die viel gescholtene Abschottung? Natürlich. Aber was ist denn die Alternative? Franz-Josef Thelen, Aachen
Statt mit Entwicklungshilfe die Märkte Afrikas zu zerstören und die Überpopulation dort noch weiter anzuheizen, sollte die Weltgemeinschaft mit einem neuen New Deal der Uno das ungeheure Arbeitsreservoir Afrikas nutzen – nicht nur um den Selbstwert der Afrikaner neu zu festigen, sondern um Afrika und der Welt einen ökonomischen wie ökologischen Nutzen zu garantieren. Statt den Mars mit immer komplizierterer Technik bewohnbar zu machen, könnte man mit den Hilfsgeldern die Wüsten Afrikas wieder fruchtbar machen.
Christian Reineck, Berlin
Borgward hat niemanden ruiniert! Alle Gläubiger sollen aus dem haftenden Vermögen befriedigt worden sein. Selbst mit großem Erfindergeist ausgestattet, hatte er eine kreative Atmosphäre für seine Ingenieure geschaffen. Die Lehrlinge, so wie ich dort damals einer war, genossen eine hervorragende Ausbildung. Dass Borgward nicht gerettet wurde, ist aus heutiger Sicht ein Skandal und schien damals für die Belegschaft und die Händler eine Katastrophe zu sein. Zugegeben: Es fehlte der bewahrende Einfluss eines Finanzstrategen. Es würde mich sehr freuen, wenn es Christian Borgward gelänge, mit Wang Jinyu erfolgreich zu sein. Er könnte seinen Großvater nicht überzeugender ehren. Martin Oswald, Neuruppin (Brandenb.)
BORGWARD
Wer ist hier „naiv“?
Managementfehler und Qualitätsprobleme brachten das Unternehmen – von Borgward selbstherrlich geführt – in Schieflage. Die Politik sorgte schlussendlich für das Aus des einstmals florierenden Betriebs.
Dr. Dorrit Schindewolf, Waldbronn (Bad.-Württ.)
Borgward-Modell Hansa in den Fünfzigern
Sicherlich beschreiben Sie viele Probleme richtig. Europa ist reich, aber schon heute sind die Unterschiede auch hier riesig. Niedrig Qualifizierte werden es bald noch schwerer haben, Arbeit zu finden, und die Auswahl der hoch Qualifizierten schwächt unverantwortlich die Länder in Afrika. Angesichts des wachsenden Drucks können die Probleme nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Wunschvorstellungen helfen nicht weiter. Wer ist hier „naiv“?
Als ich 1961 ein Praktikum bei einer der Großbanken in Berlin absolvierte, ging aus der Zentrale in Frankfurt die Mitteilung ein, dass Borgward sich in Schwierigkeiten befinde und von der Familie Borgward versucht werde, Kapital zu beschaffen. Unsere Bank wie auch andere Banken wirkten damals mit, das Unternehmen auszuhungern. Was wäre daraus geworden, wenn es die Finanzmittel über den Markt erhalten hätte?
Stefan Lochner, Leipzig
Dr. Gerhard Moser, Baden-Baden
Der Leser hat recht. –Red.
Blaue Luft Nr. 1/2017 Die Achtzigerjahre: Umwelt
Wenn Johann Grolle vom „Drang der deutschen Volksseele“ schreibt, sich bei Umweltgefahren „in Untergangsfantasien hineinzusteigern“, dann würde ich ihm dringend empfehlen, noch einmal Homers „Ilias“ zu lesen und sich die Geschichte von Troja zu vergegenwärtigen. Kassandra hatte zwar recht, als sie vor der Zerstörung der Stadt warnte, aber genützt hat es nichts, denn die Trojaner hörten nicht auf sie. In Zeiten moderner Wissenschaften, pluraler Medien und einer aufgeklärten Öffentlichkeit könnte dies inzwischen anSPIEGEL 47/1981 ders sein. Grolle lässt völlig außer Acht, dass erst die Warnungen zu den erforderlichen Gegenmaßnahmen führten und führen. Die Entgiftung der Kraftwerksschlote, der Rückgang von Schwefelund Staubemissionen, die Einführung des bleifreien Benzins, eine Umweltgesetzgebung mit Erfolgen beim Schutz von Luft, Wasser und Boden – all dies hat auch das Waldsterben gestoppt und die Sorgen der Deutschen in Richtungen gelenkt, von denen Umweltschützer in vielen Staaten nach wie vor nur träumen können. Die Skepsis gegenüber Hochrisikotechnologien wie Atomkraft, Fracking oder gentechnischen Freisetzungen ist eine starke Triebfeder zur Entwicklung und Anwendung umweltfreundlicher Technologien. Wenn Willy Brandt 1961 forderte, „die Luft über dem Ruhrgebiet muss wieder blau sein“, der SPIEGEL 1981 schrieb, „der Wald stirbt“, und Helmut Kohl 1983 verlangte, „rettet den Wald“, dann hatten sie alle genauso recht wie Kassandra: Es existierten und existieren große Gefahren. Nach wie vor gilt: Der Schutz der Umwelt gehört zu den wichtigsten Aufgaben. Prof. Hubert Weiger, BUND Deutschland, Berlin
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe (
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Quiz: 70 Jahre Verlagsgeschichte, 70 Fragen, deren Antworten die wenigsten kennen. In unserem Format „7 mal 10“ präsentieren wir sieben Wochen lang jeweils zehn Fragen. Hier im SPIEGEL finden Sie das Gewinnspiel über den nebenstehenden QR-Code, auf SPIEGEL ONLINE über eine Sonderseite zum SPIEGEL-Jubiläum. spiegel.de/sp032017quiz oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 3 / 2017
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Zitate Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGELBericht „Der Sohnemann“ (Nr. 25/2016) über den Fußballspieler Julian Draxler: Dass Draxler einen Wechsel anstrebt, ist seit Monaten bekannt. Während der EM erschien im SPIEGEL eine Reportage, in der Draxler über den Standort seines Arbeitgebers lästerte. Sinngemäß sagte er, dass es in Wolfsburg nichts Schöneres gebe als die ICE-Verbindung nach Berlin. Bei der EM brillierte er derart, dass er nicht nur, aber vor allem in Paris en vogue war.
Aus der „Märkischen Allgemeinen“ Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Die Klinik untersucht nun, ob eine der Frauen tatsächlich von einem verkehrten Mann schwanger wurde.“
Die „Neue Zürcher Zeitung“ zum
SPIEGEL-Bericht „140 Millionen Freunde“ (Nr. 17/2016) über die Jugendorganisation der AfD:
Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“ Bildunterschrift aus dem „Trierischen Volksfreund“: „Bitburger Sorgenkind: Das Bitburger Cascade-Bad schreibt regelmäßig schwarze Zahlen.“
Jetzt im Handel Aus der „Rotenburger Kreiszeitung“ Aus einer dpa-Meldung: „Nach (Carrie –Red.) Fishers Tod am Dienstag an den Folgen einer Herzattacke wird die Hauptdarstellerin bei der Premiere im Dezember 2017 nun nicht dabei sein.“
Aus einer Anzeige im „Calwjournal“
Weitere Themen: Krimis Mord und Totschlag in der Provinz
Airbus-Chef Thomas Enders in einem
SPIEGEL-Gespräch: „Wir bemühen uns seit zehn Jahren, das Projekt eines unbemannten Flugzeugs zwischen Deutschen und Franzosen auf die Schiene zu setzen.“
Aus der „Deutschen Handwerks Zeitung“ Aus dem Wiener „Kurier“ über Phil Collins: „Seit Jahren ist er auf dem linken Fuß und auf dem rechten Ohr taub.“ 138
Heimweh Warum leiden wir in der Ferne? Mascha Kaléko Jüdische Dichterin im Exil www.spiegel-wissen.de
DER SPIEGEL 3 / 2017
Außerhalb des ehemaligen Ostblocks, wo Russland aus geopolitischem Interesse die Westbindung aktiv zu unterminieren versucht, beeinflusst der Kreml die Politik weniger direkt. Über Kooperationen wird zwar immer wieder spekuliert, so auch von den amerikanischen Geheimdiensten zu Beginn dieses Jahres, doch Beweise werden selten präsentiert. Klare Indizien liegen aber etwa im Fall der Jugendorganisation der Alternative für Deutschland (AfD) vor: Laut Recherchen des SPIEGEL verfügt deren Jugendorganisation über enge Kontakte zu jener des Kremls. Eine offizielle Zusammenarbeit stellt die AfD indes in Abrede. Klar ist hingegen, dass die Netzwerke der Partei in russlanddeutschen Kreisen stark sind. Dies zeigte sich auch im Fall Lisa, als die russische Staatspropaganda das Gerücht streute, eine 13-jährige Russlanddeutsche sei von Migranten entführt worden, und so Proteste auslöste. Die „New York Times“ zum SPIEGELBericht „Ziemlich beste Flüchtlingsfreunde“ vom 4. November 2016 über Simon Verhoeven, Regisseur des Films „Willkommen bei den Hartmanns“: Herr Verhoeven „unternimmt in ,Willkommen bei den Hartmanns‘ etwas, was im deutschen Kino eher selten gelingt“, schrieb Wolfgang Höbel im SPIEGEL. „Er behandelt mit den Mitteln wild aufgedrehter Unterhaltung einen politischen und sozialen Konflikt, der ganz aktuell das Land in zwei ziemlich unversöhnliche Lager zu spalten scheint: die Anhänger und die Feinde von Angela Merkels ,Wir schaffen das‘-Parole“, fügte Herr Höbel hinzu.
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