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Intensiverleben
Jetzt im Handel Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung Betr.: Titel, SPIEGEL WISSEN, Ditib, Terror
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WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL
on außen macht Impossible Foods nicht viel her: ein Firmengelände, schmucklos die Halle, gelegen am Rand von Redwood City nahe San Francisco – und doch wird hier das Essen der Zukunft erfunden. Aus den Laboren der Firma kommt ein pflanzliches Fleisch, das ohnegleichen ist. „Die Lebensmittelchemiker dort haben Fleisch bis auf Molekülebene analysiert und es aus pflanz- Bethge, Firmenchef Patrick O. Brown lichen Bestandteilen genau nachgebaut“, sagt Philip Bethge, der zusammen mit den Kollegen Jens Glüsing und Bernhard Zand die Titelstory dieser Woche geschrieben hat, „und zwar so perfekt, dass das pflanzliche Fleisch von echtem Hack nicht zu unterscheiden ist, der Geschmack, der Geruch, die Fettanteile, die Bräunungsgrade.“ Dies könnte, so Bethge, der Weg sein, der aus der Klemme führt: Die Fleischproduktion der Welt ruiniert das Klima, belastet den Planeten. Der Appetit auf Steak und Wurst ließe sich überlisten: In der Testküche von Impossible Foods wurde Bethge ein FakeBurger serviert, medium. „Es schmeckte lecker und vor allem wie ein normaler Hamburger“, sagt Bethge (Seite 86). Dass Pflanzen-Fleisch designt wird, ist kein Zufall – unsere ganze Ernährung ist im Umbruch. Von Veganismus bis Heilfasten – alle möglichen Moden und Richtungen werden ausprobiert, oft mit zweifelhaftem Erfolg. Was ist wissenschaftlich erforscht, und wo beginnt der Hype? Die neue Ausgabe von SPIEGEL WISSEN erzählt von Diäten und Darmflora und beschreibt das Geschäft mit Biolebensmitteln. Sie erscheint am kommenden Dienstag.
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er Verdacht: Imame des türkischen Moscheeverbands Ditib spähen hierzulande politische Gegner aus – professionell, mit geheimdienstlichen Methoden. Als Gegner gelten vor allem die Anhänger des islamistischen Predigers Fethullah Gülen. Nun ist das Ausspionieren politischer Opponenten in Deutschland illegal; auch kein Moscheeverband sollte sich geheimdienstlicher Methoden bedienen. Doch genau das geschah offenbar, wie ein Team des SPIEGEL herausfand, in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden. Die vermeintlichen Gülen-Anhänger wurden ausgeforscht und denunziert. Heikel für Berlin: Der Ditib ist ein Partner im Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen. Seite 28
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in Video ging um die Welt, ein Video aus dem Nordirak. Es zeigt einen Jungen mit einer Sprengstoffweste um den Bauch, schreiend steht er auf einer Straße in der Stadt Kirkuk, Soldaten halten ihn fest. Er drohte sich vor einer schiitischen Moschee in die Luft zu sprengen, um so viele Moscheebesucher wie möglich mit in den Tod zu reißen. Warum aber hatte Nadim seine Bombe nicht gezündet? Was hatte ihn, möglicherweise, im letzten Moment abgehalten? SPIEGEL-Mitarbeiter Claas Relotius konnte Nadim im Hochsicherheitsgefängnis der Stadt Dschamdschamal besuchen. Vor dem Treffen war Relotius sich unsicher darüber, wie man einem Zwölfjährigen Beinahe-Täter begegnen sollte. Vielleicht wären Mitbringsel ein guter Anfang? Relotius und sein Übersetzer kauften Orangen und vier Tafeln Schokolade; Wärter nahmen ihnen die Sachen noch am Gefängniseingang ab. „Terroristen“, sagte einer, „verdienen keine Süßigkeiten.“ Seite 46 Relotius DER SPIEGEL 8 / 2017
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USA Erst 30 Tage ist Donald Trump im Amt, aber schon jetzt ist das Weiße Haus von einer politischen Krise erfasst worden, die viele mit Watergate vergleichen. Nach den Geheimgesprächen seines Sicherheitsberaters mit den Russen geht es wieder um die Frage, was der Präsident wann wusste. Seite 72
Ein gefährlicher Plan
Heute in, morgen Müll
Das Grauen von Höxter
Dieselskandal Es wird eng für Audi-Chef Rupert Stadler: Interne Unterlagen belegen, dass der Abgasbetrug bei Audi generalstabsmäßig geplant wurde – kurz nachdem Stadler die Führung übernommen hatte. Ein Anwalt wirft dem Audi-Boss vor, er habe die Dokumente gekannt. Seite 60
Textilien Eine wahre Polyesterschwemme hat die Modeindustrie erfasst: Die robuste Kunstfaser steckt inzwischen in rund 60 Prozent der Kleidung. Der Plastikboom ist nicht nur für Kunden, sondern auch für die Umwelt ein Problem, denn das Recycling ist kompliziert und teuer. Seite 56
Strafjustiz Mithilfe eines perfiden Systems aus Regeln und Strafen sollen Angelika und Wilfried W. in ihrem Haus Frauen gequält haben, einige bis zum Tode. Vor Gericht schildert die Angeklagte ihre Taten ganz ungerührt. War sie vielleicht sogar die treibende Kraft? Seite 38
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Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Fotos Biosphoto / Juniors Bildarchiv / Wildlife, dpa, Getty Images
DAMON WINTER / NYT / REDUX / LAIF
Absturz
In diesem Heft Dieselskandal Audi-Chef Stadler soll
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Deutschland Leitartikel Europa muss für seine Sicherheit 6 selbst sorgen Meinung Kolumne: Der schwarze Kanal / 8 So gesehen: Merkel macht Bling-Bling Bundeskanzlerin muss Hintergrundgespräche offenlegen / OECD: Frauen unfreiwillig nur in Teilzeitjobs / Deutschland verletzt hundertfach EU-Recht 10 Wahlkampf Das Umfragehoch der SPD 14 stürzt die Grünen ins Dilemma Essay Was ist nur aus der Ökopartei geworden? 18 AfD SPIEGEL-Gespräch mit Thüringens Landeschef Björn Höcke über seinen Parteiausschluss und die Holocaustaffäre 20 SPD Interne Dokumente bringen den früheren EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz in Bedrängnis 23 Verteidigung Washington pocht auf einen höheren deutschen Wehretat 24 Parteien CSU-Chef Horst Seehofer erklärt, 26 was ihm an Donald Trump gefällt Integration Nicht nur türkische Imame sollen vermeintliche Erdoğan-Kritiker bespitzelt haben, auch der türkische Geheimdienst spioniert in Deutschland für Ankara 28 Arbeitsplätze Wie die Regierung die deutschen Opel-Werke retten will 32 Nordrhein-Westfalen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft greift Bundesinnenminister Thomas de Maizière in der Flüchtlingspolitik an 34 Bleiberecht Tausende Ausländer werden seit vielen Jahren in Deutschland nur geduldet – sie werden nicht abgeschoben, aber auch nicht integriert 36 Strafjustiz Die Angeklagte Angelika W. im Höxter-Prozess – Porträt einer Frau, die andere Frauen quälte 38 Demokratie Wuppertal testet eine neue Form der Bürgerbeteiligung: das Losverfahren 42
Gesellschaft Früher war alles schlechter: Von wegen Theatersterben / Warum ist hässlich plötzlich cool? Eine Meldung und ihre Geschichte Warum die kanadische First Lady zu einer ungeplanten Schwangerschaft gratulierte Schicksale Zwei Kinder sollen im Auftrag des IS Selbstmordattentate begehen – das eine folgt dem Befehl, das andere schreckt im letzten Moment zurück Kolumne Leitkultur
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Wirtschaft MDax-Unternehmen ohne Frauen / IWF gibt kaum Geld für Griechenland / Länder torpedieren Dobrindts Mautpläne 54 Textilien Polyester erlebt einen unfassbaren Boom – als Bestandteil vieler Kleidungsstücke 56 Finanzen Die Übernahme der Postbank bringt der Deutschen Bank neuen Ärger 59
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JEROME BONNET / DER SPIEGEL
der Zukunft erfinden, das nicht mehr von Tieren stammt Gesundheit Zwei Schnitzel pro Woche sind genug
früher als bekannt von Manipulationen gewusst haben Energie EnBW-Chef Frank Mastiaux erzählt im Interview vom radikalen Umbau des ehemaligen Atomkonzerns Luftfahrt Germanwings-Opfer haben Angst um ihre Entschädigungen Verkehr Mithilfe von Apps soll die leidige Parkplatzsuche ein Ende finden
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Ausland Vorwürfe der EU-Kommission gegen Polen zeigen wenig Wirkung / Unruhen in Paris USA Die Russlandkrise von Donald Trump Analyse Die sinkenden Einnahmen des „Islamischen Staates“ Philippinen Eine Politikerin und ein ehemaliger Auftragsmörder bekämpfen Präsident Rodrigo Duterte Nordkorea Das rätselhafte Attentat auf Kim Jong Uns Halbbruder
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Farah Pahlavi Sie war iranische Kaiserin, seit 1979 lebt sie im Exil. Im SPIEGEL-Gespräch spricht sie über die von ihr initiierte Sammlung moderner Kunst. Die Bilder sollten in Berlin gezeigt werden, Iran aber verweigerte die Ausfuhr. Seite 104
Wissenschaft Bewegung hilft beim Mathelernen / In Uniform wird jeder zum Polizisten / Kommentar: Keine Angst vor dem Problemwolf 84 Mobilität Wie alltagstauglich sind die neuen Elektroautos von Renault und Opel? 96 Bestattungen Die mysteriöse Verbrennung von Körperteilen im Regensburger Krematorium 99 Tierschutz Wie ein Zoo auf Teneriffa seine umstrittenen Schwertwal-Shows verteidigt 100
Kultur Frank Gehrys Konzertsaal für den Berliner Dirigenten Daniel Barenboim / Thomas Manns „Zauberberg“ als Vorlage für den Hollywoodhorrorfilm „A Cure for Wellness“ / Kolumne: Besser weiß ich es nicht 102 Kunst Farah Pahlavi im SPIEGEL-Gespräch über ihre kaiserliche Kunstsammlung in Teheran und das Scheitern einer Ausstellung in Berlin 104 Europa Kermanis Reise, Teil VI: Jalta 110 Filmkritik „Generation Zero“ – eine Propaganda-Doku des Trump-Beraters Stephen Bannon 116
SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
Ernährung Wie Forscher das Fleisch
Björn Höcke Er ist ein Rechtsaußen der AfD und droht im SPIEGELGespräch, die Partei würde gespalten werden, wenn er, wie es Frauke Petry will, ausgeschlossen würde. Und er verteidigt seine Dresdner Rede – jedenfalls ihren Kern. Seite 20
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL
Titel
Sport Fangewalt in deutschen Fußballligen / Der frühere Nationalspieler Gary Lineker über die Stimmung in den Stadien 119 Thaiboxen Wie Kinder als Preiskämpfer der Wettleidenschaft in Thailand dienen 120
Edgar Matobato Bestseller Impressum, Leserservice Nachrufe Personalien Briefe Hohlspiegel / Rückspiegel
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Er habe zu einem Killerkommando von Rodrigo Duterte, dem heutigen philippinischen Präsidenten, gehört. Das behauptete er in einer Aussage vor dem Senat; seitdem hält er sich versteckt – tief im Regenwald. Seite 78 DER SPIEGEL 8 / 2017
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
Jenseits der Nato Auf die Krise des Westens sollte Europa mit einem starken Verteidigungsbündnis reagieren.
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DER SPIEGEL 8 / 2017
anachronistisch. Amerika sieht vitale Sicherheitsinteressen schon lange im Pazifik und im Nahen Osten. Und für Europa sind Nordafrika und der Nahe Osten mindestens ebenso wichtig wie Russland. Die Ära europäischer Geschichte, in der der Kontinent seine Sicherheit über den Atlantik delegieren konnte, ist vorbei, und zwar unwiederbringlich. Auch in einer NachTrump-Ära würde sich das nicht grundsätzlich ändern. Trump ist schließlich ein Symptom der Krise des Westens, nicht ihre Ursache. Amerika ist weiterhin ein möglicher, aber kein verlässlicher Partner für Europa. Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, hat die Europäer zu Recht davor gewarnt, Amerika als Partner abzuschreiben. Das wäre voreilig. Aber es wäre fahrlässig und naiv, wenn Europa sich jetzt nicht darauf einstellen würde, dass es sich auf Amerika nicht mehr bedingungslos verlassen kann. Europa muss mittelfristig wehrhaft genug werden, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Dafür braucht es vor allem Einigkeit. Wenn Deutschland und andere Europäer jetzt mehr für Verteidigung ausgeben, müssen sie ihre militärische Zusammenarbeit stärken. Sie müssen die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik massiv ausbauen. Europas Bündnis sollte die Nato nicht ersetzen, aber es müsste die Europäer dazu befähigen, im Notfall füreinander einzustehen, wenn die Amerikaner es nicht mehr tun. Amerikas Rückzug ist für Europa auch eine Chance. Das Wort Juniorpartner könnte endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landen und Europa seine Interessen selbst definieren. Dazu gehört ein auskömmliches Verhältnis zu Russland, das nicht nur auf Abschreckung gegründet ist. Dazu gehört auch eine klare Ansage an die Türkei, dass die Soldarität Grenzen kennt, wenn Ankara in Syrien zündelt oder den Kurdenkonflikt weiter eskaliert. Dazu würde wohl auch gehören, bei den Brexit-Verhandlungen handelspolitische Zugeständnisse zu machen, wenn Großbritannien im Gegenzug bereit ist, sich an der europäischen Verteidigung zu beteiligen. Schließlich müsste ein Europa, das es mit der eigenen Sicherheit ernst meint, auch über atomare Abschreckung nachdenken. Dafür braucht es nicht die deutsche Bombe, über die gelegentlich schon spekuliert wurde. Aber es brauchte gegenüber der Atommacht Frankreich so viel Vertrauen, wie Deutschland es bisher nur zu Amerika aufgebracht hat. Christiane Hoffmann RALPH ORLOWSKI / GETTY IMAGES
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s ist vielleicht der unwahrscheinlichste Satz, mit dem in diesen Tagen ein Leitartikel beginnen kann: Donald Trump hat recht. Und doch ist es so: Deutschland hat auf dem Nato-Gipfel 2014 in Wales angekündigt, bald viel mehr für seine Verteidigung auszugeben. Wenn Trump und sein Minister James Mattis die Deutschen nun mahnen, ihre Zusagen einzuhalten, so sind sie im Recht. Und zwar doppelt: Erstens aus Prinzip, Versprechen sind einzuhalten. Zweitens in der Sache. Es gibt keinen Grund, warum die Vereinigten Staaten mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer die Hauptlast der europäischen Sicherheit tragen sollen. Aber leider geht es nicht nur um Geld. Amerikas berechtigte Forderung kommt inmitten einer inneren Krise des Westens, die so tief ist, dass niemand weiß, was am Ende vom Westen übrig sein wird. Die Nato hatte immer den Anspruch, mehr zu sein als ein Verteidigungsbündnis. Sie verstand sich als Schutzmacht der liberalen Demokratie, der Werte und Prinzipien des Westens. Das war ihr moralisches Gerüst, ihre Existenzgrundlage. Aber was, wenn wir nicht mehr sicher sein können, dass der Westen noch eine Wertegemeinschaft ist? Was genau verteidigt dann die Nato? Länder wie Ungarn und Polen, in denen rechtspopulistische Regierungen Gewaltenteilung, Minderheitenschutz oder Pressefreiheit einschränken? Eine Türkei, die Präsident Erdoğan gerade zur Diktatur umbaut? Und sind wir wirklich bereit, an der Seite Amerikas zu stehen, wenn Trump einen Krieg gegen Iran, Nordkorea oder wen auch immer vom Zaun bricht? Die Nato ist nicht obsolet, aber ihre Bedeutung schwindet. Sie ist hohl geworden. Man kann das als eine späte Folge ihres Erfolgs sehen: Sie hat Europa demokratisiert, Deutschland eingehegt und integriert und die Sowjetunion in den Zusammenbruch getrieben. Ihre Krise war deshalb wohl unvermeidlich. Für ein Verteidigungsbündnis, dem der Gegner abhandenkommt, stellt sich früher oder später die Existenzfrage. Auf den größten Triumph des Bündnisses folgte ein schwerwiegendes Versäumnis. Es ist der Nato nicht gelungen, Russland zu ihrem Partner zu machen. Die Ängste der Balten und Mittelosteuropäer sind deshalb verständlich. Das russische Trauma ist es aber auch. In jedem Fall ist eine Allianz, deren Berechtigung allein auf der Gegnerschaft zu Russland beruht, heute
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Meinung Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Linke Selbstjustiz Vor ein paar Jahren rief mich einmal der Kollege Henryk Broder an und fragte, ob ich am nächsten Tag an der berühmten London School of Economics eine Podiumsdiskussion leiten könne. Die ursprünglich vorgesehene Moderatorin habe leider abgesagt. Wie sich herausstellte, sollte auf dem Podium neben Broder und zwei weiteren Gästen Thilo Sarrazin sitzen, das reichte, um einen Teil der Studenten in Aufruhr zu versetzen. Wir konnten dann auch nicht an der Uni auftreten, weil die Demonstranten die Unileitung so unter Druck setzten, dass sie zwei Stunden vor Beginn ein Hausverbot erteilte. Die Diskussion fand schließlich in einem Hotelsaal um die Ecke statt. Die Gruppe, die den Protest anführte, nannte sich Free Speech Society. Ich hielt das für eine besondere Form des Sarkasmus, bis man mir sagte, dass es den Protestierenden mit dem Titel absolut ernst sei. Sie würden die Freiheit der Rede schützen, indem sie Leute wie Sarrazin nicht reden ließen, erklärte man mir – eine der wunderbaren Verdrehungen der politischen Sprache, für die niemand ein so feines Ohr besaß wie George Orwell, der nicht weit entfernt von der Hochschule im Newman Arms sein Bier getrunken hat. Ich musste jetzt wieder an den Vorfall denken, als ich davon las, dass eine Reihe linker Gruppen mit aller Macht versucht, den nächsten Bundesparteitag der AfD zu verhindern. Das Hotel Maritim in Köln, in
Kittihawk
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dem der Parteitag stattfinden soll, wird seit Wochen bestürmt, die Reservierung der Tagungsräume rückgängig zu machen, einige Mitarbeiter haben Todesdrohungen erhalten. Das mit den Drohungen fänden die Aktivisten, die hinter den Protesten stehen, auch nicht in Ordnung, wie sie sagen. Es veranlasst sie aber nicht, die Aktion abzublasen oder zu überdenken. Es macht mich immer skeptisch, wenn Menschen das Recht in die eigenen Hände nehmen. Wie die Geschichte lehrt, gibt es schnell kein Halten mehr, sobald man einmal damit anfängt, bestimmten Gruppen, deren Meinung man nicht mag, das Versammlungsrecht zu bestreiten. Ich bin sicher, auch die Kommunisten oder die Nazis sahen sich im Recht, als sie ihre Gegner zum Schweigen brachten. Die Anti-AfDDemonstranten würden diesen Vergleich vermutlich empört von sich weisen, aber, was die Selbstgerechtigkeit angeht, ist der Unterschied kleiner, als sie denken. Wenn das Fundament der Demokratie anderswo wackele, müsse Deutschland umso fester darauf stehen, hat der neue Bundespräsident gesagt: „Lasst uns mutig sein!“ Ich finde, das wäre eine schöne Aufgabe für Frank-Walter Steinmeier: Anstatt wie angekündigt jungen Menschen ins Gewissen zu reden, dass sie bei Twitter nicht so hässliche Sachen schreiben, könnte er seine Stimme erheben und für die Meinungsfreiheit in Deutschland eintreten. Steinmeier für das Versammlungsrecht der AfD: Das wäre ein mutiges Signal! An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel.
BlingBling So gesehen Warum Angela Merkel sich im Wahlkampf neu erfinden sollte Je energischer Martin Schulz erscheint, desto verzagter wirkt Angela Merkel. Der SPD-Kanzlerkandidat tritt nach Jahren als Spitzenverdiener im Brüsseler Sumpf heute erfolgreich in der Rolle als Anwalt der kleinen Leute gegen das Establishment auf. Merkel dagegen glaubt, sie müsse grau und nüchtern bleiben, weil sie schon immer so war. Das zeigt, dass sie die Möglichkeiten des postfaktischen Zeitalters nicht begriffen hat. Bei der Wahl zum neuen Bundespräsidenten sah man, dass es auch anders ginge. Dort stand Merkel mit Dragqueen Olivia Jones zusammen, die hatte ihren Arm lässig auf die Schulter der Kanzlerin gelegt, ihre orangefarbene Mähne leuchtete, Strass glitzerte. Das hat Merkels Bling-Bling-Faktor deutlich erhöht. Und war nicht kürzlich Richard Gere bei ihr? Sie könnte mit einem Augenzwinkern erklären, beim Treffen sei es nicht nur um Tibet gegangen. In diesem Wahlkampf ist kein Politiker mehr Gefangener seiner Biografie. Statt brav die Wagner-Festspiele abzusitzen, müsste Merkel bei einem Popkonzert ihr Haar schütteln – Beyoncé statt Bayreuth. Sie sollte nicht mehr in beigefarbener Windjacke an der Seite von Herrn Sauer wandern, sondern beim Freeclimbing an der Eigernordwand neue Kraft schöpfen. Sie müsste den Bürgern erklären, sie zöge zur Entspannung gern mal einen Joint durch. Im Übrigen sei ihr Motto: „No risk – no fun!“ Neben dieser neuen Merkel sähe Martin Schulz plötzlich grau und bärtig aus. Ralf Neukirch
RUPERT OBERHAEUSER / CARO
Ingenieurin in einem Siemens-Werk in Mülheim an der Ruhr
Geschlechter
Mehr Teilzeit, weniger Gehalt In keinem anderen EU-Land tragen Frauen so wenig zum Haushaltseinkommen bei. Frauen in Deutschland arbeiten häufiger in Teilzeit als Frauen in anderen Ländern, allerdings oft unfreiwillig: Mütter fühlten sich durch starre Öffnungszeiten von Schulen, Kindergärten und Kitas gezwungen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Zu diesem Schluss kommt eine umfangreiche OECDStudie, die sich unter anderem mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf befasst. Zwar investiert der deutsche Staat deutlich mehr als früher in frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung und liegt inzwischen über dem OECD-Durchschnitt. Trotzdem bleibt Deutschland in Europa auf einem
Atomrüstung
„Sehr deprimierend“ Die Bundesregierung zeigt sich besorgt über die angebliche Stationierung atomarer Marschflugkörper in Russland. Nach informellen Angaben der USA hat Moskau zwei Bataillone mit rund 50 Cruise-Missiles vom Typ SSC-8 ausgerüstet. Sollten die Informationen zutreffen, wäre dies „sehr deprimierend“ und ein Bruch des INF-Abkommens, heißt es in Berlin. Die Bundesregierung vergleicht den Vorgang mit der Annexion der Krim. Die USA und die Sowjetunion hatten sich 1987 verpflichtet, alle landgestützten nuklea10
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ren Mittelstreckenwaffen zu vernichten und künftig auf diese zu verzichten. Das legendäre INF-Abkommen leitete das Ende des Kalten Krieges ein. Schon die Obama-Regierung hatte Putin Vertragsbruch vorgeworfen. Allerdings ist die Beleglage unklar. Russland bestreitet die Vorwürfe, und die USA weigern sich bislang, den Verbündeten kundzutun, um welches Waffensystem es sich handelt, oder gar Beweise vorzulegen. Nachdem jetzt bekannt wurde, dass der Waffentyp SSC-8 gemeint ist, dürfte die Forderung der Europäer lauter werden, die Belege der USA einzusehen. klw, ran
wichtigen Feld das Schlusslicht: In keinem anderen Land tragen Frauen so wenig zum Haushaltseinkommen bei. Der durchschnittliche Anteil bei Paaren mit Kindern beträgt in Deutschland 22,4 Prozent, in Dänemark beispielsweise 42 Prozent. Kritisch vermerkt die Studie auch, dass Frauen im Jahr 2013 bei einer Vollzeitbeschäftigung 13,4 Prozent weniger verdienten als Männer. Ein weiteres Ergebnis: In den alten Bundesländern ist der Großteil der Bevölkerung der Auffassung, dass Mütter – wenn überhaupt – nur in Teilzeit arbeiten sollten. red
EU-Richtlinien
Hundertfach verletzt Die Europäische Union führt 100 Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, weil die Bundesregierung EURichtlinien ungenügend, falsch oder gar nicht umgesetzt habe. Das zeigt die Antwort des Wirtschaftsministeriums auf eine Schriftliche Frage der Grünen. „Das grenzt an Arbeitsverweigerung“, kritisiert der grüne Abgeordnete Markus Tressel, der die Frage gestellt hat. „Auf europäischer Ebene haben Union und SPD Regelungen mitbeschlossen, die sie jetzt national nicht umset-
zen.“ Insbesondere das Verkehrsministerium hinkt hinterher: Die Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren gegen das Haus hat sich auf 24 erhöht, mehr als doppelt so viele wie vor zehn Monaten. Im Umweltministerium sind 19 Verfahren anhängig. So wurde eine Richtlinie zum Schutz des Grundwassers nicht umgesetzt. Deshalb belasten „übermäßig viel krebserregendes Nitrat sowie Luft- und Wasserschadstoffe unsere Umwelt und unsere Gesundheit“, sagt Tressel. Die Untätigkeit der Regierung könnte künftig teurer werden. Die EU plant, bei neuen Vertragsverletzungsverfahren einen Pauschalbetrag zu beantragen. akm
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland Künast muss draußen bleiben
Unbegrenzt verdienen
Facebook will sich nicht in die Karten schauen lassen: Die Vorsitzende des Ausschusses für Verbraucherschutz im Deutschen Bundestag, Renate Künast, scheitert mit ihrem Versuch, den zum Bertelsmann-Konzern gehörenden Dienstleister Arvato zu besuchen. Die Firma prüft in Berlin im Auftrag von Facebook Posts, die von Nutzern als anstößig gemeldet wurden. Künast wollte sich vor Ort ein Bild davon machen, wie und unter welchen Bedingungen Arvato Kommentare löscht und Seiten von Nutzern sperrt. Laut
Im Koalitionskrach über exzessive Managerboni verwahrt sich der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) gegen eine pauschale Verurteilung von Führungskräften. „Einzelfälle sind kein Grund, neue Gesetze zu erlassen und damit Tausende unproblematische Gehaltsverträge in Mithaftung zu nehmen“, sagt BDI-Chef Dieter Kempf, der seit Anfang des Jahres im
Künast
der Grünen-Politikerin waren neun Anfragen an Facebook vergebens, sie sei immer wieder vertröstet worden. „Facebook hat ein echtes Problem“, sagt sie. „Ich frage mich, was haben sie zu verstecken, wenn sie meinen Besuchswunsch beharrlich abwehren?“ bs
Bundestag
Fast hundert Abgeordnete mehr Der nächste Bundestag könnte mit 695 Abgeordneten so groß werden wie noch nie. Das zeigen Berechnungen des Friedrichshafener Politologen Joachim Behnke, denen aktuelle Umfragen fünf führender Wahlforschungsinstitute zugrunde liegen: Würde genau so gewählt, hätte der Bundestag 695 statt der regulären 598 Sitze. Zwar hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) vor einem Jahr vorgeschlagen, maximal 630 Sitze zuzulassen; dann würden nicht mehr alle Überhangmandate ausgeglichen, wovon vor allem die CSU und nach gängiger Lesart auch die CDU profitieren würde. Doch wegen der drohenden Benachteiligung der anderen Parteien gab es keine Einigung. Britta Haßelmann, Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, kritisiert: „Außer der Union sind sich alle Fraktionen einig, dass Lammerts Vorschlag nicht zustimmungsfähig ist, da er das Wahlergebnis erheblich verzerren kann.“ Es gebe andere Möglichkeiten, aber die Unionsfraktion „verfolgt nur das, was ihr am Ende nützt“. akm, hip
Simulierte Mandatsverteilung im nächsten Deutschen Bundestag, nach aktuellen Umfrageergebnissen
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Europol
Parlament beklagt zu wenig Kontrolle Der Bundestag kritisiert, dass Parlamente den geplanten Machtzuwachs der EU-Polizei Europol nur mangelhaft überwachen können. Laut einer EU-Arbeitsgruppe soll der geplante Europol-Kontrollausschuss rund 60 Mitglieder umfassen – zwei Abgeordnete pro Mitgliedsland. Dies würde bei Zwei-Kammer-Systemen wie dem deutschen dazu führen, dass nur Vertreter der Regierungsfrak-
Amt ist. Damit wendet er sich gegen Pläne von SPD und Teilen der CDU, die steuerliche Absetzbarkeit von Managergehältern zu begrenzen. „Von Wahlkampfschnellschüssen halte ich nichts“, sagt Kempf und bezeichnet die vorgeschlagenen Regulierungen als „systemfremd“. Gleichzeitig äußerte er Verständnis für die Debatte, die sich an den Abfindungen für die VW-Managerin Christine Hohmann-Dennhardt entzündet hatte: „Es gibt einzelne fragwürdige Fälle, die nicht zu beschönigen sind.“ gt
tionen in das Gremium entsandt würden, die Opposition ginge leer aus. „Zur ausreichenden Legitimation einer solchen interparlamentarischen Kontrolle muss eine ausgewogene Repräsentanz der verschiedenen politischen Gruppen in dem Gremium gewährleistet sein“, heißt es in einer Stellungnahme des Bundestags. Er fordert mindestens vier Mitglieder pro nationales Parlament. Die Forderung, den Kontrollausschuss zu erweitern, erheben neben dem Bundestag allerdings nur Polen und Spanier. csc
CHRIS MCGRATH / GETTY IMAGES
Manager
KAY NIETFELD / DPA
Facebook
Berechnung: Joachim Behnke, Zeppelin-Universität, Friedrichshafen
695 80
630 70
AfD Linke Grüne FDP CSU
69 50 50 37 38
58 58 43 45
CDU
167
194
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SPD
187
217
191
Proportionale Verteilung
mit Überhang- und Ausgleichsmandaten nach geltendem Recht
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51 51 38 45
Stadtansicht von Jerusalem
Nahostkonflikt
Merkel gegen Trump Kanzlerin Angela Merkel hält trotz des Kurswechsels der USA an einer Zwei-StaatenLösung im Nahostkonflikt fest. Dies sei auch im Interesse Israels, weil das Land nur so ein demokratischer und jüdischer Staat bleiben könne, heißt es in ihrem Umfeld. USPräsident Donald Trump hat-
te bei einem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu in Washington gesagt, die USA bestünden nicht mehr auf einem eigenen Palästinenserstaat. Man werde die amerikanische Regierung darauf hinweisen, dass die ZweiStaaten-Lösung in mehreren Resolutionen der Vereinten Nationen festgeschrieben sei, heißt es in Berlin. ran DER SPIEGEL 8 / 2017
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HC PLAMBECK / LAIF
Deutschland
Merkel, Journalisten
Ende der Vertraulichkeit Bundeskanzlerin Angela Merkel muss offenlegen, welche Journalisten sie im vergangenen Jahr zu vertraulichen Gesprächen getroffen hat und über welche Themen geredet wurde. Das Berliner Verwaltungsgericht ordnete
Union
Frauen ausgebremst CDU und CSU übergingen bei der Aufstellung der Landeslisten für die Bundestagswahl viele qualifizierte Frauen, klagt die Chefin der Gruppe der Frauen in der Unionsfraktion, Karin Maag (CDU). „Leider handelt es sich nicht um Einzelfälle“, sagt Maag, „mehrere kompetente und bewährte Abge-
HIV-Bluterskandal
Hilfe bis 2018 – statt lebenslang Mehr als 500 Patienten leiden noch heute an den Folgen eines Medizinskandals, bei dem sich bis in die Achtzigerjahre hinein mehr als tausend Bluter durch verunreinigte Blutkonserven mit HIV infizierten. Die Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-Infizierte“ sollte Betroffenen lebenslange Unterstützung garantieren – allerdings sind die 12
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am 22. Dezember einstweilig an, dass Merkel sowohl über Hintergrundgespräche im Kanzleramt als auch über andere nicht öffentliche Gespräche mit Journalisten Auskunft geben muss: Ort, Zeit, Teilnehmer und Themen – nur die genauen Inhalte sollen vertraulich bleiben dürfen. Gleiches könnte auch für Hintergrundgespräche
der Mitarbeiter Merkels gelten. Ein Redakteur des Berliner „Tagesspiegels“ hatte mit einer Klage unter anderem zu erfahren verlangt, mit welchen Journalisten die Kanzlerin über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, den Umgang mit der AfD und die Flüchtlingskrise gesprochen und was Merkel den Medien-
vertretern „konkret mitgeteilt“ habe. Das Verwaltungsgericht gab ihm weitgehend recht. Dem Wunsch des Redakteurs stünden keine „schutzwürdigen Vertraulichkeitsinteressen“ entgegen. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, das Kanzleramt hat vor dem Oberverwaltungsgericht Beschwerde eingelegt. ran, srö
ordnete aus der CDU wie aus der CSU-Landesgruppe sind betroffen.“ Laut dem CDU-Parteistatut soll auf drei aufeinanderfolgenden Listenplätzen jeweils mindestens eine Frau stehen. Maag, die seit 2009 dem Bundestag angehört, bezeichnet es als „unsäglich, dass einige Länderkollegen das unterlaufen“. Als Beispiel nennt sie den Landesverband Hamburg, aber auch in ihrem Verband Baden-Württemberg sei
die Lage „gelinde gesagt extrem zäh“. Hier seien in 38 Wahlkreisen nur drei Frauen nominiert worden. Frauen würden auch aufgefordert, gegeneinander um Listenplätze zu konkurrieren, sagt Maag, „das mutet man den Männern nicht zu“. CDUChefin Angela Merkel hatte sich auf einer Veranstaltung der Frauengruppe am Mittwoch ausdrücklich zur Frauenquote ihrer Partei bekannt. ama
Parlamentarier
Hilfsleistungen derzeit nur bis Ende 2018 gesichert. Gespräche zwischen Bund, Ländern, dem Deutschen Roten Kreuz und der Pharmaindustrie brachten bislang keine dauerhafte Lösung. Nur für
2018 sagten die Unternehmen zwei Millionen Euro zusätzlich zu, wie aus einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. Der Bund will bis 2021 jährlich 4,5 Millionen Euro bereitstellen, was aber nach Regierungsangaben nur der Hälfte der benötigten Summe entspricht. „Diese Mittel reichen vorne und hinten nicht aus“, kritisiert LinkenGesundheitsexpertin Kathrin Vogler. cos
Blutkonserve
SONJA MARZONER / DPA
Medien
Danke, Herr Doktor Der Thüringer CDU-Bundestagsabgeordnete Albert Weiler schmückt sich mit einem Ehrendoktor und verstößt gegen die Pflicht, die ihn würdigende Hochschule im Ausland mitzunennen: die staatliche Nationaluniversität für Architektur und Bauwesen von Armenien. Sie verlieh ihm den Titel offenbar als Dank für Lobbyarbeit: Weiler werde unter anderem für die Stärkung der armenischdeutschen Beziehungen ausgezeichnet. Wenige Wochen zuvor hatte er sich in den Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach eingeschaltet und „die aserbaidschanischen Angriffe auf das Schärfste“ verurteilt. Weiler teilte mit, als „praktizierender Christ“ sei ihm sein „Engagement für das Land Armenien – das erste christliche Land der Welt – ein Herzensanliegen“. Seinen Ehrendoktortitel trage er in der „üblichen international anerkannten lateinischen Form: Dr. h. c.“. amp
Deutschland
Hänsel und Gretel
KAY NIETFELD / DPA
Wahlkampf Die Nominierung von Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat hat die Grünen in eine Krise gestürzt. Das Spitzenteam Göring-Eckardt und Özdemir wirkt wie aus der Zeit gefallen, der linke Parteiflügel bereitet einen Kurswechsel vor.
Grünenpolitiker Göring-Eckardt, Özdemir auf der Berlinale „Da dürfen Sie gerne klatschen“
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s geht jetzt um die „Bauernregeln“, mit der die SPD-Ministerin Barbara Hendricks für eine ökologische Landwirtschaft werben wollte. In Wahrheit aber geht es an diesem Dienstagnachmittag in der Fraktion der Grünen um die großen Fragen der Partei. Um den Kurs und die richtige Strategie für den Wahlkampf. Um Erfolg oder Schmach. Um Überleben oder Scheitern. „Leute, es ist jetzt Wahlkampf“, ruft Claudia Roth ihren Parteifreunden zu. Wenn es nach ihr ginge, hätten die Grünen schärfer kritisieren müssen, dass Hendricks die „Bauernregeln“ auf Druck der Landwirtschaftslobby zurückgenommen hat. „Das ist nicht die Zeit von differenzierten Spiegelstrichen. Wir brauchen klare Botschaften. Da hätten wir draufschlagen müssen!“ Was Roth eigentlich kritisierte, war die Profillosigkeit ihrer Partei unter den beiden Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir. Deren Nähe zu Merkel, zur Union, den Vertretern der Bauern. Die Parteilinke war nicht allein mit ihrem Appell, der Realo Oliver Krischer sprang ihr umgehend bei. „Das einzig Schlechte an der Bauernregel-Kampagne ist, dass sie nicht von uns gekommen ist.“ Man müsse wieder mutiger werden. Seit vier Wochen ist das grüne Spitzenduo im Amt – aber schon jetzt wirkt es wie aus der Zeit gefallen, wie ein Relikt aus einer Ära, in der Merkel alternativlos war und die SPD ein depressiver Haufen. Mit der Wahl der Realos Özdemir und Göring-Eckardt schien der Abschied der Grünen aus dem linken Lager endgültig besiegelt. Die Partei sei weder links noch rechts, sagte Göring-Eckardt nach ihrer Wahl: „Die Grünen sind etwas Eigenes.“ Etwas Eigenes wollte Göring-Eckardt am liebsten an der Seite der Kanzlerin sein. Sie und Özdemir hatten nie einen Hehl aus ihrer Vorliebe für Schwarz-Grün gemacht, auch wenn sie aus taktischen Gründen zum Schluss nicht mehr öffentlich darüber sprachen. Aber als im vergangenen Jahr ein neuer Bundespräsident gesucht wurde, führte Göring-Eckardt Gespräche mit Merkel, um die ehemalige Bürgerrechtlerin Marianne Birthler als schwarz-grüne Kandidatin durchzusetzen. Özdemir wiederum lud im vergangenen Herbst Daimler-Chef Dieter Zetsche als Gastredner zum Grünen-Parteitag ein. Özdemir gilt als enger Vertrauter des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, jenem glühendsten Streiter für Schwarz-Grün, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise erklärte, er bete jeden Tag für Angela Merkel. Trotz der Gebete hat Merkel mit Martin Schulz nun einen gefährlichen Gegner bekommen. Nicht nur die Funktionäre der Grünen fragen sich seither, ob die Partei
„Wir stehen vor einer harten Auseinmit der richtigen Aufstellung in den Wahlkampf zieht. Auch die Wähler scheinen andersetzung mit den Rechtspopulisten“, sich abzuwenden. Der grüne Abwärtstrend sagt Parteiratsmitglied Erik Marquardt. in den Umfragen hatte zwar schon vor „Wer gegen rechts kämpfen will, muss Schulz’ Nominierung begonnen. Danach links stehen.“ Die grüne Parteichefin aber sackte die Partei weiter ab, bei eini- Simone Peter will den Kurs der grünen gen Instituten sogar auf 7 Prozent. Bei „Eigenständigkeit“ zwar nicht aufgeben, der Bundestagswahl 2013 holten die Grü- sagt aber: „Eine Präferenz für eine Koalinen 8,4 Prozent – und das galt schon als tion mit der SPD ist für uns Grüne, wie in den Ländern sichtbar, nach wie vor vorDebakel. Noch stellt niemand das Führungsduo handen.“ In der Parteizentrale wird nun eine offen infrage, das im Moment so verloren wirkt wie Hänsel und Gretel im Wald. Die Kehrtwende vorbereitet. Dort führt Mibeiden wurden schließlich von Mitgliedern chael Kellner die Geschäfte, ein Linker, gewählt, und die Basisdemokratie ist den der aber in der ganzen Partei Respekt geGrünen heilig. Inhaltlich jedoch zeichnet nießt. Kellner wird den Wahlkampf leiten sich bereits ein Kurswechsel ab. Die Grü- und hat nun ein internes Strategiepapier nen werden im Wahlkampf wahrscheinlich verfasst, das sich wie eine Scheidungsureine klare Präferenz für die SPD zu erken- kunde für Schwarz-Grün liest. Es beginnt nen geben und nicht wie ursprünglich ge- mit der Feststellung, dass sich 69 Prozent plant offiziell dieselbe Distanz zu Christ- der Grünenwähler Schulz als Kanzler wie Sozialdemokraten halten. „Ich finde wünschen – und nur 16 Prozent Merkel. es erfreulich, realistische Regierungsoptio- Es sei erfreulich, dass ein sozialdemokranen mit einem SPD-Kanzler Schulz zu ha- tischer Kanzler wieder denkbar sei, ben“, sagt der Politische Bundesgeschäfts- schreibt Kellner und stellt gleichzeitig einen „gesellschaftlichen Ermüdungsbruch führer Michael Kellner. Für Göring-Eckardt und Özdemir sind mit Merkel“ fest. Von einer Strategie der Eigenständigdas keine guten Nachrichten. Ihnen droht ein Schicksal wie Peer Steinbrück, der 2013 keit ist in dem Papier keine Rede mehr, als rechter Kanzlerkandidat der SPD an- schon gar nicht von einer schwarz-grünen trat und dann vom linken Parteiflügel das Option. Stattdessen schreibt der grüne Wahlkampfmanager: „Schulz ist nicht unProgramm diktiert bekam. Wie gespalten die Grünen sind, wurde ser Gegner. Wir arbeiten uns nicht an ihm auch bei der Wahl des neuen Bundesprä- ab. Er bietet Chancen für andere Diskussidenten am vergangenen Sonntag deut- sionen.“ Und wer bis dahin die Botschaft lich. In die Bundesversammlung dürfen immer noch nicht verstanden hat, den die Parteien immer ein paar Prominente weist Kellner noch darauf hin, dass Schulz schicken. Özdemirs baden-württembergi- gegen „die falsche Kaputtsparpolitik“ von scher Landesverband hatte Bosch-Auf- Merkel und Finanzminister Wolfgang sichtsratschef Franz Fehrenbach und Bun- Schäuble stehe. Kellners Papier ist beides: Ermunterung destrainer Joachim Löw nach Berlin gebeten, seriöse Herren in dunklem Anzug. für die Parteilinken und Fußfessel für Der niedersächsische Landesverband no- Özdemir und Göring-Eckardt. Die Urwahl minierte hingegen die Dragqueen Olivia des Spitzenduos galt lange als ErfolgsJones, die in einem metallicblauen Mini- modell, die Partei konnte so ihre demokleid und mit orangefarbener Mähne zur kratische Gesinnung vorführen, gleichzeiWahlurne schritt. So wünschen sich viele tig sorgte der Wettstreit für reichlich melinke Grüne die Partei: frecher, schräger, diale Aufmerksamkeit. Diesmal aber sie soll nicht wirken wie die Juniorvarian- rutschten schon während der Urwahl die Umfragewerte der Partei ab. Als das Erte der Merkel-CDU. gebnis feststand und zwei Realos gesiegt hatten, glaubten Parteilinke bereits, den Umfragewerte der Grünen Richtungskampf verloren zu haben. Nun Quelle: Sonntagsfragen von Infratest dimap aber sehen sie doch noch die Chance, die für ARD-DeutschlandTrend Dinge zu ihren Gunsten zu wenden. 13 Am 10. März soll das Wahlprogramm der Grünen präsentiert werden. Die Linken wollen ihre Anliegen noch einmal ein11 speisen: das Verbot von Massentierhaltung, die strenge Reduzierung von Rüstungsexporten, das Ende der Plastiktüte, diese 9 Ideen kursieren gerade. „Es darf keinen 8 Zweifel daran geben, dass wir im progressiven Parteienspektrum stehen“, sagt Par7 2016 2017 teiratsmitglied Marquardt. „Sonst rennen uns die Stammwähler in vielen BundeslänJuli Jan. Febr. dern davon.“ DER SPIEGEL 8 / 2017
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Wie nervös die Grünen sind, zeigte Beinfreiheit? Das ist eine befremdliche sich in der Fraktionssitzung am vergan- Wortwahl. Denn „Beinfreiheit“ forderte genen Dienstag. Laut wurde zwar niemand, schon der unglückliche Peer Steinbrück ein, doch es brodelte im Saal, sagen die, die da- der 2013 für die SPD Wahlkampf machte bei waren. Linke Grüne wie Beate Müller- und am Ende von der Partei so viel BeinGemmeke, Peter Meiwald und Wolfgang freiheit gewährt bekam wie ein Passagier Strengmann-Kuhn meldeten sich zu Wort. von Ryanair auf dem Weg nach Mallorca. Man müsse die Strategie der „grünen Ei- Beinfreiheit?, fragt ein Vertreter des linken genständigkeit“ endlich aufgeben und sich Parteiflügels, als er auf Özdemirs Worte stärker zur SPD bekennen. Das Soziale angesprochen wird: „Na dann wünsch ich müsse mehr im Mittelpunkt stehen. ihm viel Glück. Das machen wir nicht mit.“ Vor allem die Realos hielten dagegen. Auf die Partei kommen harte Wochen Wenn man jetzt die Richtung so scharf än- zu. Was jetzt helfe, sei eine massive dere, dass man aus der KurKampfansage an die Union, ve fliege, bringe das nichts. sagt ein linker Spitzengrüner. Auch Spitzenkandidatin Gö„Wir müssen wieder mutiger ring-Eckardt wies die Fordebei den grünen Kernthemen rung nach dem Ende der Eiwerden.“ Wenn man da klar genständigkeit zurück. Es sei, werde automatisch deutgebe dafür keine Gründe. lich, dass der natürliche Partner der Grünen die SPD sei. So steht den Grünen ein Schon vor der Schulz-NoRichtungskampf bevor. Aus minierung sei den Realos Sicht des Spitzenduos bietet klar geworden, dass ihre der Kandidat Schulz die Machtoptionen schwinden. Chance, sich mit realpoliDeshalb hätten einige Reatischen Positionen zu prolos plötzlich eine Jamaikafilieren. „Schulz lässt uns da Raum“, sagen Göring-Eckardt und Öz- Koalition ins Gespräch gebracht, ein Bünddemir. Schließlich sei Schulz ein traditio- nis aus Union, FDP und Grünen. Aber in neller Sozialdemokrat, der mit dem Slogan dieser Konstellation sind die Grünen „Mehr Gerechtigkeit“ werbe. Nun testet zwischen zwei bürgerlichen Parteien vor allem Özdemir aus, wie weit er den gefangen. „Das würde die Partei kaputtKonflikt mit dem linken Parteiflügel trei- machen“, warnte Geschäftsführer Kellner intern. ben kann. Eigentlich brauchten die Grünen ein Vor zwei Wochen verkündete er per Zeitungsinterview, dass fairer Freihandel prägnantes Thema, um im Kampf der beiin Zeiten des Trumpismus „wichtiger denn den Elefanten Merkel und Schulz nicht je“ sei. Es klang, als wolle er seinem unterzugehen. Sie wissen, wie das ist, 1998 Freund Kretschmann nacheifern und haben sie es erlebt. Damals trat schon einplötzlich für Ceta plädieren. Dabei hatten mal ein charismatischer SPD-Herausfordie Bundesgrünen immer gegen das Frei- derer gegen einen Kanzler an, von dem handelsabkommen mit Kanada agiert. Die viele glaubten, dass er seine besten Jahre hinter sich hat. Bevor Gerhard Schröder Aufregung in der Partei war groß. Doch Anfang der Woche legte Özdemir zum Kandidaten gegen Helmut Kohl genoch einmal nach. „Wir brauchen nicht kürt wurde, lagen die Grünen in Umfraweniger, sondern mehr fairen Freihandel, gen bei 10 Prozent. Dann rutschen sie auf weil er zu Wohlstand beiträgt – für uns als 7 ab. Von diesem Schlag erholten sie sich Exportnation, aber auch für alle anderen“, nicht mehr. Am Wahlabend lagen sie bei sagte er bei einem Wirtschaftsempfang in 6,7 Prozent. Aber nicht nur der neue KanzlerkandiBerlin. Özdemir legte eine Pause ein, doch nur einzelne Herren im Publikum applau- dat der SPD und der Richtungsstreit hemdierten. Die Unternehmer schienen auf ein men die Partei, auch das Trauma aus dem Aber zu warten, doch das kam nicht. „Da vergangenen Bundestagswahlkampf spielt dürfen Sie gerne klatschen“, rief Özdemir eine große Rolle. Damals forderte sie den „Veggie-Day“, der dann zum Symbol grülächelnd in den Saal. Er scheint die Machtprobe mit dem lin- ner Bevormundungspolitik wurde. Nun ken Flügel zu suchen. Nach der Sitzung trauen sie sich nicht, prägnant zu sein. Kelldes Bundesvorstands trat Özdemir am ner will seine Partei den alten Mut einhauMontag vor die Presse. Die Partei habe mit chen: „Der größte Fehler wäre jetzt, aus der Urwahl „entschieden, wer sie führt“ Furcht vor Fehlern in Ängstlichkeit zu erund „wer eigentlich für die Grünen steht“. starren.“ Er weiß, dass die Grünen sonst zu einer Und er berichtete, dass im Bundesvorstand über das Programm geredet worden sei. Maus schrumpfen könnten, die von den Dabei habe es „ein hohes Maß an Einig- großen Elefanten zertrampelt wird. keit“ gegeben, dass die beiden SpitzenkanMarkus Feldenkirchen, Ann-Katrin Müller, Martin Pfaffenzeller, René Pfister didaten „entsprechende Beinfreiheit“ haben müssten. Mail:
[email protected]
Özdemir scheint die Machtprobe mit dem linken Flügel zu suchen.
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Gemeinsam das nächste Level erreichen. Jede neue Idee kann uns näher bringen. Zum Beispiel Mundsteuerungen für Computerspiele. n, der Million dir den Film a
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WOLFGANG MARIA WEBER / INTERFOTO
Grünenpolitiker Schily, Kelly, Fischer 1984: „So waren wir, wir konnten nicht anders“
Abschied von den Grünen Essay Sie war einmal die Alternative zum Bestehenden,
heute versinkt die Partei in emsiger Mutlosigkeit. Von Elke Schmitter
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m 24. September 2017 werde ich, wie hoffentlich viele andere, in einer Wahlkabine stehen. Die letzten Male war das in einer psychiatrischen Tagesklinik, einem modernen Gebäude voller aufmunternder Plakate über Initiativen zu Beteiligung, Rechtsaufklärung und Freizeitgestaltung. Ein Ort, der beiläufig, aber deutlich von einer Entwicklung erzählt. Die Klinik für psychisch Kranke, für aus der Bahn gerutschte, verzweifelte und verstörte Menschen, in der ich als Hilfsschwester gearbeitet habe, war ein viktorianisch anmutender Klinkerbau, in dessen hallenden Fluren ruhig gestellte Patienten auf und ab schlurften, bis es Zeit für die Beschäftigungsstunde war. Nicht wenige waren Hausfrauen mit Depressionen, in den Wechseljahren ausgemustert von den viel beschäftigten Ehemännern und in den Visiten mit kaum verhohlener Herablassung von jungen Assistenzärzten im Minutentakt abgefertigt. Viel kam da zusammen, was in den späten Siebzigerjahren noch selbstverständliche Praxis war, eine Melange aus Frauenverachtung und Obrigkeitshörigkeit, aus sturem Verwaltungsdenken und einer Tradition der Störfallbehandlung von Menschen, die man leider typisch deutsch nennen musste. Dass es heute anders aussieht an vielen Orten, in denen die Bürger auf ihren Staat treffen, ist natürlich nicht nur den Grünen zu verdanken. Aber auch. Als die ersten Abgeordneten dieser Anti-Parteien-Partei, wie die Mitbegründerin Petra Kelly sie nannte, 1983 den Bundestag rockten, bestand der vorwiegend aus Männern in mäßig geschnittenen Anzügen und geistiger Uniform. Ein patriarchal gestimmtes Konglomerat aus Politikern, deren Agenda die Nachkriegszeit verfasst hatte. Es ging um das Bruttosozialprodukt, um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkonflikte, um das Bestehen im Kalten Krieg. Die Friedensbewegung und der Feminismus, die ökologische Frage, 18
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Protest gegen Atomkraft – all das fand außerhalb der Parlamente statt. Für mich als Abiturientin aus der westdeutschen Provinz waren die Grünen die Antwort auf Fragen, die man sich nicht allein stellt, als Individuum, sondern immer als Mitglied einer Generation, einer Gruppe oder eines Milieus: Ist man Teil der Demokratie, oder ist man das Objekt ihrer Entscheidungen? Steht man der Politik gegenüber wie Kafkas „Mann vom Lande“, der vergebens Zugang zum Gesetz verlangt, bis der Türhüter den für ihn bestimmten Eingang endgültig sperrt, ist man das Opfer undurchschaubarer Prozesse? Oder kann man die Barrikaden stürmen, die umso solider erscheinen, wenn sie nicht mit Stacheldraht und Schießbefehl geschützt sind, sondern durch die sogenannte normative Kraft des Faktischen, durch Gewohnheit und Tradition, durch unwidersprochene Praxis und die Denunziation abweichender Ideen als harmlose Spinnerei oder gefährliche Utopie? Seit es die Grünen gibt, spielte sich für mich in der Wahlkabine im regelmäßigen Turnus also dasselbe Einpersonenstück ab: Ich rief mir Positionen auf, die in Sekundenschnelle rotieren, wie das bunte, Zeichen spuckende Sichtfeld eines Glücksspielautomaten. Sympathie für Kandidaten, programmatische Sätze, wahltaktische Erwägungen, Gedächtnisfetzen von Talkshows und Bundestagsreden, von Plakaten und Wahlwerbefilmen. Ich spielte mir noch einmal vor, wie ich Argumente abwägte und mir gewissenhaft in Erinnerung rief, welche Enttäuschungen nicht nur die vergangenen vier Jahre mit sich brachten. Und dann machte ich mein Kreuz bei den Grünen. So war das bisher; es war wie ein genetisches Ausstattungsmerkmal, ein Schicksal wie blaue Augen oder die Position in der Geschwisterfolge. Im Kern neutral, dann aber angereichert mit Erfahrung und jenen vielen kleinen Entscheidungen, die schließlich das Leben ausmachen und
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die einem richtig erscheinen, eben weil man sie getroffen hat. Obwohl man weiß – und mit zunehmendem Alter immer genauer, mit Schmerz oder zunehmender Milde –, dass sie oft eher auf Temperament und Stil beruhen als auf sorgsamem Durchdenken. Nicht nur, sondern vor allem in der Politik. Der Habitus von Leuten, die wir als ähnlich oder als vorbildhaft empfinden, schafft Vertrauen und ermöglicht jene Verkürzung von Grübelzeit, die wir in komplizierten Fragen wünschen. Das ist vernünftiger, als es klingt. Denn wir wollen uns nicht nur darauf verlassen, dass bei der Entscheidung für einen Großflughafen, einen Waffenexport oder eine andere Landwirtschaftspolitik die Politiker unseres Vertrauens die richtigen Entscheidungen treffen: Wir müssen es auch. Bis wir uns da durchgearbeitet haben, ist die nächste Wahl schon vorbei. Es wirkt also eine Trias aus der Persönlichkeit eines Politikers oder einer Politikerin, aus Prinzipien oder Werten und aus den spezifischen Argumenten. Die allerdings kommen erst im Konfliktfall zu ihrem Recht, bei schweren Irritationen. Wenn eine CDU-Kanzlerin plötzlich das Land für Flüchtlinge öffnet, wenn ein neues Steuerrecht auf einen Bierdeckel passen soll oder wenn eine Anti-AtomPartei das Demonstrieren gegen Atommülltransporte verurteilt. So funktioniert die repräsentative Demokratie. Zu meinem Verwundern und meinem Bedauern stelle ich fest: Mit mir funktioniert das nicht mehr. Die Zeit, in der die Hand doch immer, egal was in den vergangenen vier Jahren passiert war, das Kreuz bei den Grünen machte, bei der Partei meiner Generation, diese Zeit ist dahin. Nun wäre es naheliegend, einen großen Konflikt, eine elementare Entscheidung aufzurufen, wichtig und drastisch genug, um das Versiegen einer lebenslangen Loyalität zu begründen. Die Geschichte der Grünen ist daran ja reich genug. Zwei Kriege mit deutscher Beteiligung, erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik, ein Atomkompromiss mit 32 Jahren Laufzeit, der Abschied vom Rotationsprinzip, Stuttgart 21. Da kommt schon was zusammen bei einer Partei, die aus der Friedens- und Ökologiebewegung entstanden ist und als Anti-Parteien-Partei ihre Karriere begann. Es waren erbitterte Kämpfe, bei denen es um Prinzipien ging. Und jeder einzelne dieser Konflikte hat ihr Mitgliederschwund eingebracht.
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s wäre ein gutes Gefühl, ich könnte mich darauf berufen. Mein Abschied aber beruht, wie ich zugeben muss, nicht auf einem scharfen Konflikt. Es ist ein Erosionsprozess. Ein fast unmerklicher Verlust von Energie, wie eine Spiegelung dessen, was in dieser Partei nun schon so lange vor sich geht. In der diese existenziellen Konflikte zu einer Geschichte gehören, die man sich gern erzählt. Weil sie, jenseits ihres Ausgangs, beweist: So waren wir, wir konnten nicht anders. Wir waren verstrickt in Schuld und Befreiung, wir haben gekämpft, und wir waren, jenseits aller privaten und kollektiven Neurosen, die es genauso gab wie taktische Erwägungen, Protagonisten eines großen deutschen Romans. Zu diesem Roman und zu der Geschichte dieser Partei gehören natürlich das Glück und das Unglück ihres Gelingens. Das Ankommen im politischen Apparat, der Marsch durch die Institutionen, die Teilhabe an Verwaltungsprozessen, die Verantwortung für Kompromisse: Jede Enttäuschungsgeschichte über die Grünen spielt diese Dialektik durch. Die habituelle Anpassung ist deren Außenseite, die ebenso immer miterzählt wird: die Metamorphosen von Joschka Fischer und Jürgen Trittin vom radikal linken Freak oder maoistischen Kader zum Drei-
teilermann, die mähliche Eingliederung der DDR-Oppositionellen bis zur frustrierenden Unsichtbarkeit, der beinahe lautlose Übergang von spektakulär widerständigen Frauenfiguren wie Waltraud Schoppe, Petra Kelly und Adrienne Goehler zu untadeligen Funktionärinnen à la Katrin Göring-Eckardt. Nun ist eine Doppelspitze per Urwahl bestimmt, die ein Versprechen gibt, wie es beunruhigender kaum sein könnte: Wir funktionieren, egal was kommt. Wobei eben der letzte Parteitag unter dem Motto stand: „Wir bleiben unbequem!“ Eine Beschwörung. Eine Fiktion. Wirklich unbequem ist gerade die AfD.
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enn man sich die Mühe macht, das Parteiprogramm, aktuelle Beschlüsse und Positionspapiere zu studieren, dann kann man zu der Überzeugung kommen, dass noch nicht alles verloren ist. Es gibt da ja vieles, wofür die Grünen einmal angetreten sind; es gibt kluge Ideen zu einer anderen Landwirtschaft, einer Veränderung im Erbschaftsrecht und der Vermögensteuer, zur Zulassung von Verbrennungsmotoren ... Ist noch jemand da? Und es gibt einen Berliner rot-tot-grünen Senat, der sich wochenlang an einer Personalie namens Holm aufreibt und als erstes gemeinsames Anliegen Toiletten für alle Geschlechter in Verwaltungsgebäuden proklamiert. Einen grünen Ministerpräsidenten, der mit Behagen erklärt, Fundamentalismus „in jeder Form“ sei ihm ein Dorn im blassblauen Auge, und der täglich für die Kanzlerin betet. Eine Fraktionsvorsitzende, die erst die Kitschformel von den „Menschen, die wir geschenkt kriegen“ für Flüchtlinge bemüht und dann eilfertig für nachträgliche Überprüfung eintritt. Es gibt, wie vielleicht notgedrungen, jede Menge Läppischkeiten und Kleinmütiges. Das Wichtige aber ist: Das meiste von dem, was den Vertrag der Gegenwart mit der Mutlosigkeit nicht unterschreibt, findet außerhalb der Grünen statt. Demokratie, die auf radikale Bürgerbeteiligung setzt: nicht mit dieser Partei. Bedingungsloses Grundeinkommen als eine Idee, die den mahnenden Staat verabschiedet und auf die Selbstverantwortung setzt: ein Programmpunkt der Grünen Jugend, also gleich schon Makulatur. Eine Entwicklungspolitik, die Ernst macht mit der Erfahrung des Scheiterns: nicht in der Diskussion. Die Idee einer Ökonomie, die nicht um den Fetisch Wachstum tanzt: irgendwann sanft in die Grube gerutscht. Bildungspolitik, die aus den Schulen Paläste macht und so aus der Demokratie ein Angebot, das sich nicht ablehnen lässt: kein enthusiastisch verfolgtes Ziel. Ein Umverteilungskonzept, das jenseits der Behutsamkeit operiert: nicht mit dieser Partei. Und eine Europapolitik, die auf die Auflösung des Nationalismus zielt, nicht irgendwann, sondern bald: nicht mal im rhetorischen Angebot. „Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen: Politik ist nicht die Kunst des Möglichen, sondern des Unmöglichen.“ So widersprach Václav Havel, der es vom Gefängnis ins Präsidentenamt schaffte, dem Satz Otto von Bismarcks. Die Grünen sind mit Havel gestartet und bei Bismarck gelandet. Irgendwann auf diesem Weg sind wir uns abhandengekommen. I
Die Grünen zu wählen, das war wie ein genetisches Ausstattungsmerkmal, ein Schicksal wie blaue Augen.
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„Ich denke ganz anders“ SPIEGEL-Gespräch AfD-Rechtsausleger Björn Höcke, 44, droht mit der Spaltung der Partei im Falle seines Ausschlusses und beteuert, seine Reden seien nicht von Hitler und Goebbels inspiriert. der AfD möchte Sie aus der Partei werfen. Wechseln Sie jetzt endlich zur NPD? Höcke: Wenn das ein Scherz sein sollte, war es ein schlechter. Ich bleibe in der AfD. Der Beschluss des Bundesvorstands ist vollkommen überzogen. Er ist der Versuch, parteiinterne Machtpolitik zu betreiben. Ich bin da völlig gelassen. Die Juristen, die mich beraten, sagen mir: Der Versuch, mich auszuschließen, ist chancenlos. SPIEGEL: Warum ist die NPD keine Option für Sie? Die Schnittmengen sind doch vorhanden: Rassismus, extremer Nationalismus, völkisches Denken … Höcke: Können Sie auch in anderen Kategorien denken? Ich bin AfD-Mann durch und durch. Ich identifiziere mich mit der Thematik der AfD wie kaum ein anderer. SPIEGEL: Die AfD ist seit Ihrer Dresdner Rede zur angeblich verfehlten Erinnerungskultur der Deutschen in den Umfragen abgestürzt. Offenkundig schaden Sie Ihrer Partei. Höcke: Im Gegenteil. Gerade nach meiner Rede und deren Skandalisierung ist die AfD in den Umfragen zunächst gestiegen. Was die Wähler allerdings gar nicht honorieren, ist parteiinterner Zwist. Das nun angestrengte Ausschlussverfahren gegen mich fügt uns großen Schaden zu. SPIEGEL: Wo ist der Schaden, wenn die AfD sich von einem Mann trennt, dessen Parolen selbst Erzkonservativen zu weit gehen? Höcke: Was die Führung macht, ist unverhältnismäßig und trägt das Potenzial der Spaltung. Das gefährdet die AfD existenziell. Die Thüringer AfD-Fraktion leitet täglich Hunderte Mails aus ganz Deutschland an die Bundesgeschäftsstelle weiter, in denen Mitglieder vor einer Spaltung der AfD durch das Vorgehen des Bundesvorstands warnen. Ich erhalte sehr viel Unterstützung aus der Partei. SPIEGEL: Haben Sie keine Fehler gemacht? Höcke: Sicher. Die Dresdner Rede war ein Fehler. Da habe ich das falsche Thema zum falschen Zeitpunkt mit dem falschen Pathos vorgetragen. Da ist etwas mit mir durchgegangen. SPIEGEL: Was denken Sie, warum die Parteiführung Sie loswerden will? Höcke: Der Konflikt dreht sich um die Frage: Wie schnell wollen wir im System ankommen? Leute wie Alexander Gauland und ich sagen: Ja, die AfD darf mal Koalitionspartner werden – aber sie sollte sich Zeit lassen. Sie muss sich entwickeln, Wurzeln in der Gesellschaft schlagen. Sie muss 20
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reifen, damit sie gefestigt in Koalitionen Wortwahl, die aufgepeitschte Masse, der gehen kann. Und dann sollte sie möglichst muss unweigerlich an Hitlers Reden im nicht die Rolle des Juniorpartners anstre- Bürgerbräukeller denken. Gefallen Ihnen ben. Wenn sie das nämlich tut, läuft sie solche Analogien? Gefahr, am großen Reformauftrag zu schei- Höcke: Das sind Analogien, die Sie ziehen. tern. Das übersehen viele, auch im Bundes- Ich denke ganz anders. Ich war 15 Jahre vorstand. Die wollen möglichst schnell lang Geschichtslehrer. Meine Perspektive koalitionsfähig werden. Das ist die eigent- ist eine andere. Als Historiker habe ich liche Konfliktlinie. die Weite eines historischen Blicks. Für mich zählt einzig und allein die politische SPIEGEL: Hat Frau Petry Angst vor Ihnen? Höcke: Das müssen Sie die Vorsitzende fra- Botschaft. gen und nicht mich. SPIEGEL: Warum beschwören Sie einen SPIEGEL: Werden Sie im April zum Bundes- „vollständigen Sieg“ der AfD, statt von der parteitag fahren, obwohl das Kölner Mari- „absoluten Mehrheit“ zu reden? tim, wo dieser Parteitag stattfindet, speziell Höcke: Wonach strebt man denn bitte sonst gegen Sie ein Hausverbot verhängt hat? in einer parlamentarischen Demokratie, Höcke: Wenn die Parteispitze es zulässt, dass wenn nicht danach, mit alleiniger Mehrheit ein Hotel einem AfD-Landes- und Frak- zu regieren? Die CSU hat es in Bayern tionsvorsitzenden ein Hausverbot erteilt, jahrzehntelang vorgemacht. dann sendet sie damit ein gefährliches Si- SPIEGEL: Als Geschichtslehrer wissen Sie gnal an den politischen Gegner und vor genau, dass beim „vollständigen Sieg“ allem in die eigene Partei. Die Parteimitglie- Goebbels Ausruf vom „totalen Krieg“ mitder wissen nun: Künftig können Außenste- schwingt. hende bestimmen, wer an einem AfD-Bun- Höcke: Es tut mir leid, dass Sie nur in nadesparteitag teilnehmen darf und wer nicht. tionalsozialistischen AssoziationskontexIch persönlich möchte den Bundesparteitag ten denken. Mag sein, dass ich in solchen nicht platzen lassen und werde meine Teil- Reden dazu neige, die Dinge stark zu nahme wohl nicht erzwingen. Aber die Bot- überzeichnen. Allerdings unterstellen Sie schaft an die Partei ist angekommen: Wer mir zu Unrecht bewusste rhetorische und die Gunst der Vorsitzenden verspielt hat, sprachliche Anleihen beim Nationalsoziawird fallen gelassen. Das ist nicht einmal lismus. in der CDU unter Angela Merkel so. SPIEGEL: Sie nennen die AfD eine „TatSPIEGEL: Wer das Video Ihrer Dresdner Elite“ – so verstand sich auch die WaffenRede sieht, Ihre Gesten, Ihre Thesen, Ihre SS. Die AfD sei eine „Bewegungspartei“ – als Bewegung bezeichneten sich auch die Nationalsozialisten. Sie fordern, das deutsche Volk solle „erwachen“, und Sie sprechen von „entarteten“ Parteien. Das sind zu viele Nazi-Analogien, um an Missverständnisse zu glauben. Höcke: Die Beispiele, die Sie anführen, greifen nicht. Aber Ihr Misstrauen gibt mir zu denken. Und es ist mir eine Mahnung, meine Wortwahl zu überprüfen. Andererseits gab es die Begriffe, die Sie anführen, schon lange vor der NS-Zeit. Vielleicht sollten auch Sie sich nicht allein auf diese zwölf Jahre Diktatur fixieren. SPIEGEL: Wir blenden sie jedenfalls nicht aus. Noch ein Beispiel: Sie erklären, ein „tausendjähriges Deutschland“ verteidigen zu wollen. Die Nazis sprachen gern vom „tausendjährigen Reich“, das sollten Sie in Ihrem Geschichtsstudium am Rande mitbekommen haben. Höcke: Die deutsche Geschichte reicht nun mal etwa 1000 Jahre zurück. Manche lassen sie mit der Krönung Ottos I. 936 beginAfD-Chefin Petry nen. Also sind es rund 1000 Jahre deut„Parteiinterne Machtpolitik“ STEFFI LOOS / GETTY IMAGES
SPIEGEL: Herr Höcke, der Bundesvorstand
SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
AfD-Politiker Höcke: „Ich habe mich ein bisschen verloren“
scher Geschichte. Man trachtet ja immer nach runden Zahlen. SPIEGEL: Sie könnten ja einfach mal Ihre Worte wägen, wenn Sie Missverständnisse vermeiden wollten. Höcke: Sehen Sie, ich bin mit einem großen Leidensdruck in die Politik gegangen. Da hatte sich was angestaut, das rausmusste. Das war sehr impulsiv. So sehr, dass ich mich dabei ein bisschen verloren habe, denn eigentlich war ich immer ein introvertierter und auf Ausgleich bedachter Mensch. Zu diesem Menschen will ich nun zurückfinden.
SPIEGEL: Warum fordern Sie wie in Ihrer Dresdner Rede eine 180-Grad-Wende der Erinnerungskultur? Sollen die Deutschen die Nazidiktatur vergessen – oder besser noch als positiven Teil unserer Geschichte betrachten? Höcke: Weder noch. Aber nicht nur ich habe das Gefühl, dass alle anderen Länder in dieser Welt die positiven Seiten ihrer Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Erinnerungskultur stellen, während es bei den Deutschen die dunkle Seite der Judenvernichtung im Dritten Reich ist. Mir ist es wichtig klarzustellen, dass diese Verbre-
chen unentschuldbar sind, ein Schandfleck in der deutschen Geschichte. Aber warum stellen wir ausgerechnet diesen Schandfleck in den Mittelpunkt unserer Erinnerungskultur? Warum gehen wir nicht den Weg aller anderen Länder? SPIEGEL: Weil der Holocaust ein einzigartiges Verbrechen war. Deshalb können wir nicht wie die Briten oder Franzosen mit unserer Geschichte umgehen. Höcke: Das singuläre Verbrechen einer Generation darf nicht die Entfaltungsmöglichkeiten der gegenwärtigen oder künftigen Generationen einengen. Eine Bürgergesellschaft braucht Patriotismus, sie braucht eine positive Identifizierung mit dem eigenen Land und der eigenen Kultur. SPIEGEL: Würden Sie, wenn Sie es könnten, das Holocaustmahnmal, welches Sie „Denkmal der Schande“ nannten, abreißen oder umsetzen? Höcke: Darum geht es doch gar nicht. Der Holocaust ist die Schande, nicht das Mahnmal oder gar das Holocaustgedenken an sich. Hier wird meine Dresdner Rede bewusst falsch interpretiert. Sie kennen ja die Diskussion Ende der Neunzigerjahre, als das Mahnmal gebaut wurde. Ich muss Ihnen nicht in Erinnerung rufen, dass der frühere Herausgeber und Gründer des SPIEGEL, Rudolf Augstein, damals von einem „Schandmal“ schrieb? SPIEGEL: Viele Mitarbeiter des SPIEGEL halten Augsteins Aussage für problematisch, damals wie heute. Augstein wurde übrigens auch damals hart kritisiert. Allerdings macht es einen Unterschied, ob man sich in eine offene Debatte einbringt oder ob man das Mahnmal elf Jahre nach dessen Errichtung infrage stellt. Höcke: Ich habe das Mahnmal nicht infrage gestellt. Aber es sollte ein Ort des würdigen Gedenkens sein. Wenn es stimmt, was ich höre, verrichten heute Leute ihre Notdurft zwischen den Stelen. SPIEGEL: Das sind von drei Millionen Besuchern im Jahr höchstens Einzelfälle. In Ihrer Rede kritisierten Sie Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnet hatte. Wäre es Ihnen lieber gewesen, die Naziherrschaft hätte angedauert? Höcke: Dass die Nazidiktatur überwunden werden musste, das ist doch selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war der 8. Mai 1945 für die Menschen, die in diesem vollkommen ausgebombten Land dahinvegetierten, nicht nur eine Befreiung, sondern eben auch eine totale Niederlage. Die Deutschen erlebten den 8. Mai 1945 nun mal ambivalent. Die einen hatten Glück und wurden von Soldaten befreit, die ihnen Kaugummis und Schokolade gaben. Andere trafen auf Soldaten und wurden vergewaltigt. Für viele Deutsche begann auch eine neue Diktatur. In Ostdeutschland war erst der 9. November 1989 DER SPIEGEL 8 / 2017
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SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
der Tag der Befreiung. Als Geschichtslehrer muss ich diese Ambivalenz berücksichtigen. SPIEGEL: Der Historiker Höcke sagt trotzdem pauschal, dass Bundespräsidenten wie Weizsäcker und Roman Herzog sich „gegen das Volk“ gestellt haben. Da kann es Sie nicht überraschen, dass Ihr Publikum mit „Volksverräter“-Rufen reagierte. Höcke: Was mich überrascht, ist, dass aus meiner Rede ein Skandal gemacht wird, während niemand skandalisiert, dass wir seit dem 4. September 2015 in diesem Land im Zustand des permanenten Rechtsbruchs durch die Regierung leben. SPIEGEL: Ihre Kritik an der Bundeskanzlerin ist maßlos. Um sie als „Diktatorin“ zu bezeichnen, muss man schon ein arg gestörtes Verhältnis zur Realität haben. Höcke: In diesem Fall habe ich bewusst überzeichnet und stehe dazu: Angela Merkel macht keine demokratische Politik. Eine Politik, wie sie sie zu verantworten hat, haben wir in diesem Land noch nicht erlebt. Das ist meine Analyse. Scharf, aber legitim. SPIEGEL: Ist es etwa auch legitim, „eine Zwangsjacke“ für Merkel zu fordern? Sie werfen der Kanzlerin vor, sie betreibe einen „Bevölkerungsaustausch“, ihre Flüchtlingspolitik grenze an „Völkermord“ an den Deutschen. Wann genau sind Ihnen die Maßstäbe verrutscht? Höcke: Das Bild von der Zwangsjacke war ohne Frage eine Provokation. Aber warum auch nicht? Immerhin kommt der bekannte Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz per Ferndiagnose zu dem Schluss, dass Frau Merkel „seelisch verpanzert“ ist. SPIEGEL: Solche Diagnosen könnte man auch über Sie anstellen. Höcke: Mag sein, aber das heißt ja nicht, dass die Deutung von Professor Maaz falsch ist. Artikel 20 des Grundgesetzes schreibt vor, dass alle exekutive Gewalt an Recht und Gesetz gebunden sein muss. Angela Merkel hat nicht nur europäische Verträge gebrochen, sondern mit der Grenzöffnung vom 4. September 2015 unsere Verfassung und alle erdenklichen Gesetze. Das haben namhafte Verfassungsrechtler bestätigt. SPIEGEL: Andere Verfassungsrechtler bestreiten einen Rechtsbruch. Sie erklären Meinungen zur Tatsache. Höcke: Falsch, ich verweise auf die Analyse von Verfassungsrechtlern, unter anderem auf die des früheren Verfassungsrichters Hans-Jürgen Papier. Es ist Ihre Sache, wenn Sie deren Expertise nicht gelten lassen wollen. Aber auch Sie können doch nicht im Ernst bestreiten wollen, dass sich unser Land dank der Politik von Angela Merkel katastrophal verändert hat. Aktu-
Höcke beim SPIEGEL-Gespräch* „Scharf, aber legitim“
elle Umfragen zeigen, dass sich das Sicherheitsgefühl der Menschen, besonders der Frauen, massiv verschlechtert. Unser Sozialstaat droht unter der Bürde der Masseneinwanderung zu kollabieren. SPIEGEL: Vor einem Jahr sagten Sie in einer Rede, dass die Evolution Afrikanern und Europäern „zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert“ habe. Der „lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp“ treffe nun auf den „europäischen Platzhaltertyp“. Halten Sie es für angebracht, 70 Jahre nach Josef Mengele an die sogenannte Rassentheorie anzuknüpfen? Höcke: Ich bitte Sie! Ich wollte nur auf das Problem des großen Bevölkerungsdrucks aus Afrika aufmerksam machen. Die Bevölkerung wächst dort rapide – und viele Millionen Afrikaner sind in den nächsten Jahren wanderungswillig. SPIEGEL: Sie haben aber nicht mit soziologischen oder wirtschaftlichen Daten argumentiert, sondern biologisch. Afrikaner wurden so mit niederen Tieren wie Blattläusen verglichen. Höcke: Sie wissen so gut wie ich, dass ich auf die Bevölkerungsexplosion in Afrika aufmerksam machen wollte. Und darauf, dass wir Afrika helfen müssen, sich selbst zu helfen. Das habe ich übrigens in einer DemoRede in Erfurt ausführlich dargelegt. Unsere Weltwirtschaft ist vollständig falsch angelegt. Die Wertschöpfung in Afrika darf nicht abgeschöpft werden, wir müssen dort eine eigene tragfähige Wirtschaft etablieren. SPIEGEL: Glauben Sie, wie viele Unterstützer von Donald Trump, an die Überlegenheit der weißen Rasse? Höcke: Überhaupt nicht, das ist grober Unfug. Was mir wichtig ist: Ich finde die Vielfalt in der Welt wunderbar. Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas. Höcke steht auf, läuft hinter seinen Schreibtisch und nimmt einen Kalender von der Wand. * Mit den Redakteuren Markus Feldenkirchen und Melanie Amann im Landtag in Erfurt.
Diesen Kalender hat mir schon früher immer mein Vater geschenkt. Er fand ihn wunderbar, und ich auch. Es wurde irgendwann zur Tradition, dass wir ihn uns gegenseitig geschenkt haben. Er blättert durch den Kalender der Hilfsorganisationen Misereor und Brot für die Welt. Die Fotos zeigen ein lächelndes Mädchen aus Südostasien, eine Gruppe verschleierter afrikanischer Frauen auf Fischerbooten, einen südamerikanischen Bauern auf dem Feld. Höcke: Natürlich geht es da um die
Dritte Welt, es geht um Elend. Aber es geht in diesen Bildern auch um etwas anderes: Es geht um Menschen, die in einer Tradition leben, die über viele Hundert und Tausend Jahre gewachsen ist. Es geht um Menschen, die wirtschaftliche und soziale Hilfe brauchen. Und es geht darum, ihnen diese Hilfe zuteilwerden zu lassen, ohne ihre großartige Kultur zu zerstören, sondern so weit wie möglich zu erhalten und zu bewahren. Ich bin konservativ. Höcke blättert ergriffen weiter. SPIEGEL: Verzeihen Sie, aber gerade das
Klischee des edlen Wilden, der mit primitiven Mitteln, aber guter Laune sein Feld bestellt, ist doch zutiefst rassistisch. Höcke: Das gilt allenfalls für Ihr Weltbild! Ich will Ihnen doch nur verdeutlichen, dass ich Menschen anderer Kulturen und Herkunft sehr offen gegenübertrete. SPIEGEL: Sie wollen sie nur nicht in Deutschland haben. Höcke: Das stimmt nicht! Ich bin nicht gegen Zuwanderung, aber sie muss geregelt sein. Was ich nicht möchte, ist Multikulturalismus. Kulturen, die uns als schön gegenübertreten, wie in diesem Kalender, brauchen viele Jahrhunderte, um zu wachsen, und sie brauchen dafür einen Raum und eine Heimat. Wenn Sie Multikultur zu Ende denken, dann haben Sie irgendwann keine Kulturen mehr. SPIEGEL: Verraten Sie uns doch bitte noch, für welches Jahr genau Sie den „vollständigen Sieg“ der AfD für realistisch halten? Höcke: Ich kann nicht hellsehen. Wir leben in einer turbulenten Zeit. Der Erfolg von Trump wird auch in Europa Spuren hinterlassen. Sein Sieg gegen das Establishment zeigt, dass in der ganzen Welt Kräfte stark werden, die den bisherigen Weg der Altparteien grundsätzlich hinterfragen und die grundsätzliche Änderungen in der Politik wollen. SPIEGEL: Herr Höcke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Deutschland
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* Von 2012 (Ausriss).
„Meine Aktivitäten in Deutschland unterstützen“
HC PLAMBECK / LAIF
„Nicht vereinbar“
und Kommission, „die abgestellten Beamten nach ihrer Abordnung mit einem höheren Posten zu versorgen“, schreiben sie. Die eigentlich zuständige Parlamentsverwaltung und ihren Generalsekretär Klaus Welle überging Schulz offenbar gleich mehrfach. Dabei hätte der Präsident „bei der Anstellung von Direktoren“ eigentlich nur das Recht gehabt, „eine Empfehlung auszusprechen“, heißt es in dem Vermerk. Nur mit Mühe konnte der Alleingang des Präsidenten zumindest teilweise gestoppt werden. Das Parlament wollte zu dem Vorgang keine Stellung nehmen. Es gelang dem Tatmenschen Schulz dagegen im Falle seines jetzigen Wahlkampfmanagers Engels seine Vorstellungen vollumfänglich durchzusetzen. Der arbeitete ab 2012 für Schulz im Informationsbüro des Europaparlaments in Berlin, trotz seines offiziellen Dienstsitzes Brüssel. Das trug dem Schulz-Mann nicht nur einen Auslandszuschlag in Höhe von 16 Prozent des Bruttogehalts ein. Er hat auch allein für 2012 über 16 000 Euro für die angebliche Dauerdienstreise von Brüssel nach Berlin geltend gemacht, obwohl er ohnehin fast immer in Berlin war. Wie sich nun herausstellt, hatte sich Schulz höchstpersönlich für seinen Mitarbeiter eingesetzt. Dies belegt ein Schreiben des damaligen Parlamentspräsidenten an Engels’ Vorgesetzte, die damalige Chefin der Generaldirektion Kommunikation, Juana Lahousse-Juárez: Darin bat Schulz am 18. Januar 2012, Engels bis zum Ablauf seines Vertrags auf eine sogenannte Langzeitmission nach Berlin zu entsenden. Er solle „dort meine Aktivitäten in Deutschland unterstützen“, schrieb Schulz zur Begründung. Die SPD hatte dagegen den Eindruck zu erwecken versucht, als habe sich Schulz in die Vertragsgestaltung seines Mitarbeiters nicht eingemischt. Engels’ Anwesenheit in Berlin sei „für die Betreuung der nicht in Brüssel akkreditierten deutschen Journalisten erforderlich“ gewesen, heißt es. Zudem handele es sich bei der „Mission longue durée“ um eine gängige Praxis im Europaparlament. Doch das stimmt nicht. Wie das Europaparlament auf Anfrage des SPIEGEL mitteilte, befanden sich von seinen rund 7600 Mitarbeitern von Januar 2016 bis heute genau 13 auf Dauerdienstreise. Dreizehn. Die meisten dürften für ihre Dienstreise tatsächlich Koffer gepackt haben. EU-Parlamentspräsident Schulz, Mitarbeiter Engels 2014, Schulz-Brief*
Leuten, denen es gewöhnlich fernliegt, mit Dreck zu schleudern: Es sind Verwaltungsbeamte des Europaparlaments. Sie werfen Schulz vor, am 20. und 21. Oktober 2015 die Beförderung gleich mehrerer enger Mitarbeiter eigenmächtig auf den Weg gebracht zu haben, darunter einen deutschen CDU-Mann und Schulz’ SPD In seiner Brüsseler Zeit diplomatischen Berater. Dabei hat der Präverteilte Kanzlerkandidat sident seine Kompetenzen offenbar überschritten. Normalerweise müssen EU-BeSchulz nicht nur fragwürdige amte nach Ende ihrer Zeit beim PräsidenPrivilegien; er setzte sich ten wieder auf ihren alten Posten zurück. auch über Vorschriften hinweg. Von dieser Vorgabe ließ sich Schulz jedoch nicht bremsen und wollte munter – gut ls Chef kann Martin Schulz eine Zu- alimentierte – Referatsleiterposten unter mutung sein. Auch nach einem lan- seinen Leuten verteilen, die ihnen auch gen Arbeitstag lässt der Mann kein für ihre spätere Karriere garantiert sein Interview aus, und wenn er zu später Stun- sollten. Zudem legte er fest, dass sie ihren de bei einem Glas Apfelsaftschorle endlich Dienst bei ihm für ihre spätere Karriere ausspannt, weiß er es zu schätzen, wenn als Führungsaufgabe angerechnet bekommen sollten, ein weiterer Regelverstoß, seine Getreuen mit ihm ausharren. Eines aber lässt sich Schulz gewiss nicht den die Parlamentsverwalter mit Ärger renachsagen: dass er das Engagement seiner gistrierten. Für die Steuerzahler könnte Schulz’ hart arbeitenden Gefolgschaft nicht belohnen würde. Wenn es darum ging, enge Mitar- Großzügigkeit teuer werden, wie die Verbeiter zu fördern, ließ sich Schulz nur schwer merkschreiber säuerlich festhalten. Mit seiübertreffen: auch wenn das mit dem gelten- ner Entscheidung zwinge Schulz Parlament den Dienstrecht mitunter kaum vereinbar war. Das zeigte sich nicht nur im Fall seines Vertrauten und heutigen Wahlkampfmanagers Markus Engels, dem Schulz gegen die Usancen einen gut ausgestatteten Posten im Berliner Büro des EU-Parlaments verschaffte. Zuletzt wurde Engels sogar noch EU-Beamter auf Probe (SPIEGEL 7/2017). Wie aus einem internen Vermerk von Beamten des Europaparlaments hervorgeht, versuchte Schulz im Oktober 2015 in vier weiteren Fällen Mitarbeitern in seinem Präsidentenkabinett Karrierevorteile zu verschaffen, und das auch noch rückwirkend. Die Regeln des Parlaments interessierten ihn dabei offenbar wenig. Schulz’ Entscheidungen seien in großen Teilen „nicht vereinbar mit den Personalvorschriften“ der EU, schrieben die Beamten. Vergangene Woche hatten Europaabgeordnete der CDU ein Anti-Schulz-Dossier in Umlauf gebracht. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley sprach daraufhin von einer „Schmutzkampagne“. Diesmal aber sind es keine konservativen Parlamentarier, die ihn ins Visier nahmen. Die Kritik stammt von
Peter Müller, Christian Reiermann DER SPIEGEL 8 / 2017
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OLIVIER DOULIERY / AFP
Verteidigungspolitiker Mattis, von der Leyen in Washington
Zwei sind zwei sind zwei Verteidigung Washington droht mit Konsequenzen, falls die Nato-Staaten nicht mehr zahlen. Gemeint sind vor allem die Deutschen, doch die haben schon jetzt Probleme, ihr Geld auszugeben.
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ine kleine Manöverkritik. Kurz mal besprechen, wie der Besuch so gelaufen ist. „Wie war ich?“, fragt James Mattis seine Mitarbeiter. Sie wissen, wie er das meint. Der neue US-Verteidigungsminister ist kein selbstverliebter Egomane wie sein Chef Donald Trump. Er ist noch Anfänger, er will eine ehrliche Meinung. Gut ist sie gelaufen, die knappe Stunde mit der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am vergangenen Freitag im Pentagon, finden seine Leute. Mattis war freundlich, höflich, er hat sie die ganze Zeit als „Madam Minister“ angesprochen. Er hat den Deutschen gezeigt, dass im Verteidigungsministerium ein Mann sitzt, der als pensionierter Vier-Sterne-General weiß, wovon er spricht, der umgänglich ist, abgewogen. Beruhigend anders als der Präsident im Weißen Haus. Doch es gibt ein Problem, finden seine Mitarbeiter, und er selbst findet es auch. Die Deutschen scheinen seine Botschaft nicht verstanden zu haben. Mattis hat sie höflich formuliert. Es gebe in Washington eine „gewisse Ungeduld“ mit dem deutschen Beitrag zum westlichen Bündnis, hat er diplomatisch gesagt. Gemeint war: Zahlt endlich euren Anteil, sonst wird es ungemütlich! Die freundliche Gesprächsatmosphäre hat die Deutschen eingelullt. Sie haben die Härte hinter der Aussage von Mattis nicht erkannt. 24
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Auf ihrem Gipfel in Wales versprachen die 28 Nato-Staaten 2014, innerhalb einer Dekade mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Es war eine Antwort der Allianz auf die russische Annexion der Krim. Doch die meisten Länder sind weit von dieser Vorgabe entfernt. Neben den USA schaffen nur Briten, Polen, Griechen und Esten die zwei Prozent. Deutschland liegt bei mageren 1,2. Washington drängt schon lange darauf, dass Berlin endlich liefern soll. Bisher konnten die Deutschen die Amerikaner hinhalten, doch jetzt wird es ernst. Nichts weniger als die Zukunft der Nato steht auf dem Spiel. Seit drei Jahren wird das Bündnis an seiner Ostflanke von einem aggressiven Russland herausgefordert. Inzwischen droht die größere Gefahr aus dem Westen. Mehrfach hat der neue US-Präsident die Allianz für „obsolet“ erklärt und angedeutet, er werde die Beistandsverpflichtung nach Artikel fünf des Nato-Vertrags davon abhängig machen, dass die Mitglieder ihren Anteil gezahlt hätten. In den BaltenRepubliken und in Polen sorgte das für Schockwellen. Aber wie ernst sind Trumps Äußerungen zu nehmen? „Wir fordern nur, dass alle Nato-Länder ihren vollen und angemessenen finanziellen Beitrag zur Allianz zahlen, was viele von ihnen nicht gemacht haben“, erklärte
der Präsident in der vergangenen Woche in einer Rede vor Soldaten in Florida. Und sein Verteidigungsminister hat inzwischen die Samthandschuhe ausgezogen. Auf dem Nato-Verteidigungsministertreffen am Mittwoch in Brüssel stellte der freundliche Herr Mattis den Verbündeten ein Ultimatum. „Ich bin es Ihnen schuldig, Klarheit über die politische Realität in den Vereinigten Staaten zu geben und die Erwartungen der Menschen in meinem Land konkret zu benennen“, sagte der Pentagon-Chef in einer vorbereiteten Rede vor seinen Kollegen. „Amerika wird seiner Verantwortung nachkommen. Aber wenn Ihre Nationen verhindern wollen, dass Amerika sein Engagement in der Allianz zurückfährt, muss jeder von Ihnen zeigen, dass Sie unsere gemeinsame Verteidigung unterstützen.“ Eine deutliche Drohung, die Europäer notfalls ihrem Schicksal zu überlassen. Bis Ende des Jahres soll jedes Land einen Plan vorlegen, wie es das Zwei-Prozent-Ziel erreichen will, forderte Mattis. Und um dieses Mal kein Missverständnis aufkommen zu lassen, ließ er seine Rede schon auf dem Flug nach Brüssel an die mitreisenden Journalisten verteilen. Verteidigungsministerin von der Leyen hat inzwischen realisiert, dass sie die Lage nach ihrem Mattis-Treffen in Washington zu rosig eingeschätzt hat. Die Härte seiner Brüsseler Erklärung hat die Deutschen kalt
Deutschland
erwischt. Noch versuchen sie, sich die Lage schönzureden und verweisen darauf, dass der pensionierte General seine Rede vom Blatt abgelesen habe. Das deute womöglich darauf hin, dass er die Position des Weißen Hauses und nicht seine eigene wiedergegeben habe. Die Lesart des Pentagons ist eine andere: Deutschland ist das ökonomische Kraftzentrum Europas. Im vergangenen Jahr hat das Land einen milliardenschweren Haushaltsüberschuss erwirtschaftet, die Deutschen schreiben in dem Weißbuch der Bundesregierung, dass sie mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen wollen – warum, bitte schön, geben sie dann nicht mehr Geld für Verteidigung aus? Natürlich steht Mattis unter Druck. Aber dieser Druck kommt nicht nur von Trump und seinen Ideologen im Weißen Haus. Auch die Abgeordneten und Senatoren im US-Kongress fragen, wie sie ihren Wählern erklären sollen, dass Amerika seit Jahren für das reiche Deutschland mitzahlt. Es wird unangenehm für Berlin, so viel steht fest. Deutschland sei das wichtigste und größte Land Europas, heißt es im Pentagon, es gebe das Tempo vor. Wenn die Deutschen nicht zahlten, würden sich viele kleine Länder hinter ihnen verstecken. Deshalb wird der Druck aus Washington zunehmen. Gelegentlich höre man in Berlin das Argument, ein militärisch starkes Deutschland würde den Nachbarn Angst einjagen. Noch liegen die Deutschen mit ihrem Verteidigungsbudget in Europa an dritter Stelle hinter den Briten und Franzosen. Zwei Prozent der Wirtschaftskraft aber würden bedeuten, dass der Rüstungsetat von heute 37 auf deutlich über 60 Milliarden Euro steigen müsste. Damit wäre Deutschland mit Abstand die größte Militärmacht in der Mitte des Kontinents. Eine Vorstellung, die den einen oder anderen Europäer nervös machen könnte. Daran solle es nicht scheitern, sagen die Amerikaner. Nennt uns das Land, mit dem wir reden sollen, dann werden wir es davon überzeugen, dass von Deutschland keine Gefahr mehr ausgeht. Verteidigungsministerin von der Leyen hält sich inzwischen an die Devise „If you can’t beat them, join them“ („Wenn du sie nicht besiegen kannst, verbünde dich mit ihnen“). „Es ist ein faire Forderung“, erklärt sie nun bei jeder Gelegenheit und zählt gleichzeitig die vielen Verpflichtungen auf, die Deutschland schon jetzt für die Nato übernommen habe, ob in Afghanistan, der Ägäis, in Mali oder Litauen. Bei ihrem ersten Gespräch in Washington hat Mattis die Liste freundlich quittiert. Aber am Ende zählt für ihn nur eine einzige Zahl, und die fängt mit einem z an und hört mit einem i auf. Zwei sind zwei sind zwei. Darum geht es.
Das weiß auch von der Leyen. Eine plötzliche Steigerung des Militäretats könnte den Druck lindern, den sie braucht, um ihre ehrgeizige Beschaffungsreform durchzusetzen. Schon jetzt hat die Bundeswehr Probleme, ihr Geld sinnvoll auszugeben. Die Strukturen sind zu kompliziert. Niemand weiß das besser als von der Leyens Rüstungsstaatssekretärin Katrin Suder, eine frühere McKinsey-Beraterin. An diesem Dienstagnachmittag sitzt sie mit blassem Gesicht in ihrem Büro, kämpft gegen das aufsteigende Fieber und versucht zu erklären, warum es mit der Beschaffung nicht vorangehen will. Eine kleine Auswahl: Der Etat des Ministeriums ist der einzige der Bundesregierung, bei dem jede Ausgabe über 25 Millionen In der Pflicht Verteidigungsausgaben der Nato-Mitglieder Euro vom HaushaltsNato-Schätzung für 2016, in Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) ausschuss des Bundestags genehmigt Vereinigte Staaten 3,61 werden muss. Diese Grenze besteht schon Griechenland 2,38 seit 1981, wurde nie der Inflation angepasst und läge sinnvoller Großbritannien 2,21 bei der dreifachen Summe. Die Folge ist, Estland 2,16 dass immer mehr Projekte unter die 25-Millionen-Grenze fallen und mit einem beispielPolen 2,00 losen Aufwand durchs Parlament gehievt werden müssen, selbst wenn sie politisch so Frankreich 1,78 unproblematisch sind wie ein Mobilkran. Türkei 1,56 Wegen des Vergaberechts werden immer mehr Entscheidungen angefochten Norwegen 1,54 und damit um Monate verzögert, obwohl sich am Ende fast immer das Ministerium Litauen 1,49 durchsetzt. Rumänien 1,48 Die „Jährlichkeit“ des Haushalts verhindert, dass sich genehmigte Ausgaben für Lettland 1,45 zu spät gelieferte Großprojekte in die nächsten Jahre verschieben lassen. Stellt Portugal 1,38 sich im Herbst raus, dass der neue TransBulgarien 1,35 portflieger A400M im November nicht kommt, muss der Etat hektisch für an1990: Kroatien 1,23 dere Anschaffungen umgeplant wer2,8 % Szenario bis den, damit er nicht verfällt. Albanien 1,21 2024: 2,0 % Suder und ihre Leute haben es in den vergangenen zwei Jahren zum Deutschland 1,19 2016: ersten Mal seit Langem geschafft, 1,2 % Dänemark 1,17 dass kein Geld an den Finanzminister zurückfloss. Doch diese KraftanstrenNiederlande 1,17 Deutsche Verteidigungsgung hat den Apparat an den Anschlag ausgaben seit gebracht. Weil zehn Jahre lang niemand 1990 Slowakei 1,16 eingestellt werden durfte, fehlen in der BeQuelle: Nato Italien 1,11 schaffungsbehörde 1400 Leute. Es wird Jahre dauern, bis die Neuen ausgebildet sind. Tschechien 1,04 Wenn die Rahmenbedingungen nicht geändert werden, ist das Risiko hoch, dass Ungarn 1,01 dieses System an deutlich höheren RüsKanada 0,99 tungsausgaben scheitert. Dann würde eine Steigerung des Verteidigungshaushalts auf Slowenien 0,94 zwei Prozent nichts nützen. „Es kann schon frustrierend sein“, sagt Suder, „ich Spanien 0,91 fühle mich manchmal so, als würde ich mit Belgien 0,85 einem Zahnstocher in die Schlacht geschickt.“ Lux. 0,44 Nato-Ziel: 2% Konstantin von Hammerstein, Peter Müller Rainer Arnold, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, hält eine Zwei-Prozent-Steigerung des deutschen Wehretats für „utopisch“. Geht es dagegen nach CDU-Frau von der Leyen, würde der Verteidigungshaushalt in den nächsten zehn Jahren in der Tat auf den Nato-Zielwert steigen. Doch mehr Geld heißt nicht automatisch mehr und bessere Ausrüstung. Die Wehrbeschaffung ist in allen Ländern notorisch ineffizient, intransparent, politisiert und damit anfällig für Manipulation durch Lobbyisten. Viel Geld beseitigt die Probleme nicht, es verschärft sie, weil mehr Leute an die Fleischtöpfe drängen.
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WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL
Deutschland
Ministerpräsident Seehofer: „Es nutzt uns auch nichts, wenn hier ein neuer Antiamerikanismus entsteht“
„Wir müssen aufpassen“ Parteien CSU-Chef Horst Seehofer, 67, über die prekäre Lage der Union und die Vorzüge Donald Trumps SPIEGEL: Herr Seehofer, Sie haben die Kanz-
lerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik attackiert, Sie haben ihr Rechtsbruch vorgeworfen und sie nicht zum CSU-Parteitag eingeladen. Mittlerweile hat die SPD in den Umfragen zur Union aufgeschlossen. Sind Sie zufrieden? Seehofer: CSU und CDU haben miteinander über den richtigen Kurs in der Flüchtlingspolitik gerungen. Jetzt sind wir sehr geschlossen. Wir unterstützen die CDU und die Kanzlerin aus voller Überzeugung. SPIEGEL: Die Bürger scheinen davon nicht ganz so überzeugt. Wie erklären Sie sich den Aufschwung der SPD in den Umfragen? Seehofer: Die Begeisterung für Martin Schulz kann man nur verstehen, wenn man die Zeit seines Vorgängers Sigmar Gabriel miteinbezieht, den ich persönlich sehr schätze. Die SPD war im Keller, sie hat Woche für Woche demütigende Wahlumfragen lesen müssen. Da liegt es auf der Hand, dass ein neuer Kanzlerkandidat zunächst einmal Aufbruchstimmung auslöst. SPIEGEL: Und Sie glauben nicht, dass diese Entwicklung auch mit Ihnen zu tun hat? Wenn Sie den Leuten über Monate einreden, man könne diese Kanzlerin eigentlich nicht unterstützen, weil sie in einer entscheidenden Frage die falsche Politik 26
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macht, dann glauben Ihnen die Bürger am Ende. Seehofer: Nach dieser Logik wäre die CSU auch für die Kommunalwahlergebnisse in Hessen verantwortlich oder für den Ausgang der Landtagswahlen in MecklenburgVorpommern, in Berlin, Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz. Das wollen Sie doch nicht ernsthaft behaupten. SPIEGEL: Nehmen Sie eine Wechselstimmung in der Bevölkerung wahr? Seehofer: Ich glaube, es ist noch nicht so weit, aber wir müssen aufpassen, dass es nicht so weit kommt. SPIEGEL: Erinnert Martin Schulz Sie auch an Donald Trump? Seehofer: Nein. SPIEGEL: Sie können also die Äußerungen von Herrn Schäuble, der beide verglichen hat, nicht nachvollziehen? Seehofer: Martin Schulz ist ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat. Deshalb setzen ja auch so viele Sozialdemokraten auf ihn. Wir sollten ihn dafür nicht kritisieren, sondern unsere eigenen sachlichen Antworten dagegensetzen. SPIEGEL: Das heißt, Sie plädieren nicht dafür, einen Wahlkampf gegen die Person Schulz zu führen? Seehofer: Wir greifen die politische Haltung von Herrn Schulz an, nicht seine Person.
Das wäre völlig falsch. Wem nutzt es, festzuhalten, in welchen Lokalen Martin Schulz in der Vergangenheit eingekehrt ist … SPIEGEL: … wie es die Unionsabgeordneten im Europaparlament getan haben. Seehofer: Man muss eine politische, an der Sache orientierte Auseinandersetzung führen. Dann werden die Parteien an den Rändern abnehmen und die Volksparteien gewinnen. Das ist ein großer Vorteil eines vernünftigen Wahlkampfes in einer aufgeregten Zeit. Persönliche Herabsetzungen stoßen die Leute eher ab. SPIEGEL: Sie und die Kanzlerin saßen am Sonntag mit Martin Schulz zusammen. Haben Sie sich gegenseitig das Versprechen gegeben, einen sauberen Wahlkampf zu führen? Seehofer: Wir waren uns einig, dass wir das Fairnessgebot im Wahlkampf nicht verletzen wollen. Ich glaube, wir werden das besser hinbekommen, als viele erwarten. SPIEGEL: Wie passt das, was Sie gerade beschrieben haben, eigentlich zu Ihrer positiven Haltung gegenüber Trump? Seehofer: Ich habe von Anfang an gesagt: Manche seiner Entscheidungen halte ich nicht für richtig, ausdrücklich auch den Einreisestopp. Aber generell will er schnell umsetzen, was er vor der Wahl versprochen hat. Was ist daran verwerflich?
SPIEGEL: Es kommt schon darauf an, was
jemand umsetzen will. Seehofer: Dazu habe ich mich ja geäußert.
Aber es nutzt uns auch nichts, wenn hier ein neuer Antiamerikanismus entsteht. Das wäre für Europa, für die Nato und für Deutschland nachteilig. SPIEGEL: Gibt es außer seiner Schnelligkeit noch etwas, das Ihnen an Donald Trump gefällt? Seehofer: Ich verfolge die eine oder andere Rede von ihm. Er spricht die Menschen direkt an und sagt beispielsweise: Ihr habt euren Arbeitsplatz verloren, und ich werden Folgendes tun, damit ihr wieder Arbeit bekommt. Dieses Bemühen, die reale Lebenslage vieler Amerikaner konkret und nicht abstrakt anzusprechen, das gefällt mir. Es tut mir leid: Politik muss konkret sein und nicht abstrakt. Nur dann nutzt sie den Menschen. SPIEGEL: Sie klingen nicht wie jemand, der 2018 mit der Politik aufhören will. Wie lange machen Sie noch weiter? Seehofer: Am 6. Mai werden wir unsere Bundestagsliste aufstellen. Bis dahin will ich in dieser Frage Klarheit schaffen. SPIEGEL: Das heißt, es ist gut möglich, dass Sie als Ministerpräsident und Parteivorsitzender im Amt bleiben. Seehofer: Genau darüber, mit welcher bestmöglichen Aufstellung wir in die Wahlkämpfe gehen, führe ich gerade Gespräche in meiner Partei, auch mit meinen Amtsvorgängern. SPIEGEL: Vor ein paar Monaten haben Sie gesagt, der CSU-Chef müsse nach der Bundestagswahl in Berlin sitzen. Gilt das noch? Seehofer: Wenn ich aufhöre, dann muss der Parteivorsitzende dort sitzen. Falls ich weitermache, ist das anders. Ich glaube, ich habe jetzt mehr als acht Jahre lang gezeigt, dass ich nicht persönlich in Berlin sitzen muss, um dort wirkmächtig zu sein. SPIEGEL: Sie haben immer beteuert, die CSU müsse mit der besten Aufstellung zur Bundestagswahl und zur Landtagswahl 2018 antreten. Kann man sich wirklich vorstellen, dass Sie am Ende sagen: „Wir haben mit Markus Söder bessere Chancen als mit mir“? Seehofer: Wir sehen ja im Moment bei der SPD, dass sich die Antwort auf solche Fragen jede Woche ändern kann. SPIEGEL: Falls Sie noch einmal antreten, würden Sie dann auch als Ministerpräsident über 2018 hinaus im Amt bleiben, falls die CSU die Landtagswahl gewinnt? Seehofer: Wenn ich weitermache, dann wäre das konsequent. Interview: Ralf Neukirch, René Pfister
Video: Seehofer und Merkel – Szenen einer Ehe spiegel.de/sp082017seehofer oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 8 / 2017
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Deutschland
Tarnung Imam Integration Nach den Spitzelvorwürfen gegen Geistliche aus Ditib-Moscheen macht sich Angst unter den Opfern breit. Auch der türkische Geheimdienst MIT spioniert in Deutschland für Erdoğan.
S
eine Predigten klangen warm und Arm politische Gegner sogar in Deutsch- Dezember Strafanzeige und übergab Bevoller Mitgefühl. „Sind wir denn land verfolgen lässt. Die Ermittlungen lege dazu an die Bundesanwaltschaft. Nun nicht alle auf Erden ein Mitglied der richten sich gegen 16 Beschuldigte. Es kritisiert er, dass die Strafverfolger so zögroßen Menschheitsfamilie?“, fragte Hasan trifft ausgerechnet einen Verband, der gerlich waren. „Die Durchsuchungen kaA., Imam im rheinland-pfälzischen Für- bislang für die deutsche Politik als der men zu spät. Durch die Trödelei wurde then, beim Freitagsgebet. Er rief die Gläu- wichtigste Partner galt in der Zusammen- billigend in Kauf genommen, dass sich bigen zum friedlichen Zusammenleben arbeit mit den muslimischen Gemeinden, mehrere Tatverdächtige in die Türkei abauf. „Warum können wir uns nicht vertra- beim Islamunterricht in den Schulen. Die setzen konnten.“ Untätig waren die Ermittler in der Zwigen?“, fragte der Geistliche, dessen Mo- Integrationsbeauftragte der Bundesregieschee zum islamisch-türkischen Dachver- rung, Aydan Özoğuz (SPD), zeigte sich schenzeit allerdings nicht. Der Bundesentsetzt über die Spionagevorwürfe. Zu- nachrichtendienst und das Bundesamt für band Ditib gehört. Monate später, Ende September vergan- gleich riet sie, den Dialog mit Ditib nicht Verfassungsschutz lieferten Erkenntnisse genen Jahres, erstellte Hasan A. eine Liste. abrupt ganz abzubrechen. Dafür sei der nach Karlsruhe. Dadurch kamen die BunEr nannte Männer und Frauen, die er für Verband mit seinen rund 900 Moscheen desanwälte zu dem Schluss, dass die PaMitglieder der Bewegung des islamisti- zu wichtig. Aber kann man mit einer In- piere „mithilfe nachrichtendienstlicher Meschen Predigers Fethullah Gülen hält. Der stitution zusammenarbeiten, in der Imame thoden und zu Zwecken ähnlich jenem eines Geheimdienstes“ entstanden seien. türkische Staatspräsident Recep Tayyip Er- wie Geheimagenten operieren? Tatsächlich überdenken viele BundesDamit war der Weg frei für ein Ermittdoğan macht Gülen und seine Anhänger für den Putschversuch am 15. Juli vorigen länder ihre Zusammenarbeit mit Ditib: In lungsverfahren wegen des Verdachts der Jahres verantwortlich. Er nennt sie Terro- Nordrhein-Westfalen etwa hatte die Lan- „geheimdienstlichen Agententätigkeit“, desregierung Ditib aufgefordert, den Sitz kurz: Spionage. Zwar sind weder die türristen. Sieben Namen und kurze Biografien lie- im Beirat für den Religiösen Islamunter- kische Religionsbehörde noch Ditib Geferte der Imam aus der deutschen Provinz richt ruhen zu lassen. In Rheinland-Pfalz heimdienste, doch wenn sie wie ein Gefür einen Bericht an das Präsidium für re- sind Gespräche über eine engere Koope- heimdienst arbeiten, können ihre Mitarligiöse Angelegenheiten in Ankara, samt ration ausgesetzt. In Bremen betont man beiter verfolgt werden. Gegen sechs Imame waren die Anschulpersönlicher Kommentare: „Wahrt nach die „Staatsferne“ des Verbands als Vorausdem Putschversuch völlig unverändert sei- setzung für eine vertrauensvolle Zusam- digungen so gravierend, dass die Bundesanwaltschaft am 25. Januar Haftbefehle ne Einstellung“, hieß es über einen Mann. menarbeit. Sevim Dağdelen, Bundestagsabgeord- beantragte. Diese lehnte der ErmittlungsUnd über eine Frau: „Über sie wird gesagt, sie habe noch immer eine emotionale Bin- nete der Linken, fordert, die Kooperation richter beim Bundesgerichtshof ab: Es bedung an die Bewegung. Sie ist Hausfrau.“ mit Ditib zu beenden. Mit einer „Organi- stehe „kein dringender Tatverdacht“. Auch Belege dafür, dass es sich tatsächlich um sation, die eine politische Außenstelle Er- als die Bundesanwälte die Telefone von Gülen-Anhänger handelte, blieb der Imam doğans ist“, könne der Staat nicht zusam- Beschuldigten abhören ließen, ergaben sich keine neuen Beweise. So blieb am schuldig. Der warme Menschenfreund er- menarbeiten. Die türkische Regierung nennt die Gü- Ende nur die Razzia. wies sich offenbar als kalter Denunziant. Solche teilweise sehr detailliert geschrieAm vergangenen Mittwoch durchsuch- len-Bewegung Fetö, das Kürzel steht für ten Polizeibeamte die Wohnung des Imam, „Fethullahistische Terrororganisation“. benen Spitzelberichte gibt es nicht nur aus auch die Räume von drei anderen Geistli- Dass Gülen tatsächlich hinter dem Putsch deutschen Regionen. Dem SPIEGEL liegen chen in Nordrhein-Westfalen. Die Ermittler steht, hat Ankara bis heute nicht belegen auch aus anderen europäischen Ländern trafen keinen der Männer an, sie hatten können. Das hindert die Regierung nicht wie Österreich, der Schweiz, Belgien und sich offenbar in die Türkei abgesetzt. Eine daran, mutmaßliche Anhänger jagen und den Niederlanden Berichte über GülenAnfrage nach Kontakt zum Imam beant- diffamieren zu lassen. Anhänger vor, die von den Botschaften wortete der Ditib-Landesverband nicht. Das Schreiben trägt das Datum vom und Generalkonsulaten an das Präsidium Die Beamten nahmen Papiere, Computer, 20. September 2016: Darin fordert die obers- für religiöse Angelegenheiten nach Ankara Festplatten und USB-Sticks mit. Der Ge- te Religionsbehörde die Botschaften und geschickt wurden. Übermittelt wurden neralbundesanwalt wirft den Geistlichen Generalkonsulate der Türkei auf, innerhalb nicht nur Namen von Personen, sondern „geheimdienstliche Agententätigkeit“ vor. einer Woche detaillierte Berichte über Or- auch Hinweise auf Schulen, Kitas, KulturSie seien, so der Verdacht, de facto Spione ganisationsstrukturen und Aktivitäten der und Studentenvereine, die angeblich von der türkischen Regierung. Fetö zu schicken. Viele der Diplomaten er- der Gülen-Bewegung betrieben werden. Die Razzia markiert einen neuen Tief- füllten ihre Aufgabe pünktlich und penibel, In Österreich warnten die Verfasser vor eipunkt in den ohnehin fragilen deutsch-tür- wie die Berichte aus mehreren Konsulaten ner „Unterwanderung“ durch die „Fetö“. kischen Beziehungen. Erst Anfang des Mo- zeigen, die dem SPIEGEL vorliegen. Die Die Botschaft Bern mutmaßte, „gewaltbenats war Kanzlerin Angela Merkel wieder Papiere gingen auch an einen Untersu- reite Aktivisten“ der Gülen-Bewegung seieinmal nach Ankara gereist, um Erdoğan chungsausschuss des türkischen Parlaments, en aus der Türkei geflohen und hätten sich daran zu erinnern, sich an den im Frühjahr der sich mit dem Putschversuch befasst. in der Schweiz „festgesetzt“. 2016 geschlossenen Flüchtlingsdeal zu Im nordrhein-westfälischen EngelskirNachdem erstmals die regierungskritihalten. sche Zeitung „Cumhuriyet“ über die Spit- chen trug Imam Musa A. die Namen von Und nun sucht die Bundesanwaltschaft zeleien berichtet hatte, stellte der grüne 16 Frauen und Männern zusammen, die nach Belegen dafür, dass Erdoğans langer Bundestagsabgeordnete Volker Beck im Spenden für den „Fetö-Terror“ gesammelt 28
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ROBERT GRAHN / EUROLUFTBILD.DE / AKG DEPO PHOTOS / IMAGO
Şehitlik-Moschee in Berlin: Vorstände abgesetzt
THILO SCHMUELGEN / REUTERS
Pro-Erdoğan-Demonstranten mit Gülen-Puppe in Istanbul: Gejagt und diffamiert
Ditib-Sekretär Bekir Alboğa: Ermittlungen richten sich nicht gegen den Verband
hätten. Er nannte auch deren Heimatorte in der Türkei. Dabei gab der eifrige Imam in seinem Papier unbeabsichtigt einen womöglich wichtigen Hinweis für die Ermittler: Da er neu berufen sei, so schreibt Musa A., stützten sich seine Informationen auf die Angaben „eines vorherigen Religionsbediensteten“. Die Spitzelei könnte schon länger Praxis sein. Doğan E., dessen Wohnung am Mittwoch ebenfalls durchsucht wurde, setzte sich als stellvertretender Ditib-Koordinator im Raum Siegburg/Bonn öffentlich für das Miteinander von Christen und Muslimen ein. Noch im Dezember ließ er sich für die Zeitung mit einem evangelischen Pfarrer ablichten. Für die türkische Religionsbehörde allerdings berichtete er nicht nur über angebliche Gülen-Anhänger, sondern auch über Strukturen der als Terrororganisation verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Der Imam Nizamettin S. aus Bergneustadt schließlich berichtete über eine Einrichtung namens „Aktive Lernhilfe“ und bezeichnete diese als „Hort des Bösen“. Die Berichte zeigen, wie der Machtapparat Erdoğans in die deutsche Gesellschaft eindringt und die türkische Gemeinschaft hier zu spalten versucht, bisher weitgehend ungehindert von den deutschen Behörden. Bei den Opfern macht sich zunehmend Angst breit, manche fürchten Gewalt. Solingen, Mitte Juli vergangenen Jahres. Am Morgen nach dem Putsch will Yilmaz Gıze* Tomaten kaufen, als ein Mann auf ihn deutet, „du Terrorist!“ Gıze ruft: „Halt deinen Mund.“ Eine Prügelei bahnt sich an. Die Frauen trennen die Männer und ziehen sie in den Laden. Vor der Fleischtheke entdeckt der Mann Gıze wieder. Er schreit: „Wisst ihr, wer das ist? Das ist der größte Fetö!“ Dass Gıze mit Gülen sympathisiert, glaubt auch ein Moschee-Vertreter aus Wuppertal. In seinem Bericht nennt er eine Schule nahe Solingen, in deren Trägerverein er aktiv ist. Yilmaz Gıze, ein Mann mit schmalen Schultern und wachen Augen, sitzt im Hinterzimmer seiner Apotheke. Früher hätten viele türkischstämmige Solinger ihre Medikamente bei ihm gekauft, erzählt er. „Seit dem Putsch kommt kein Erdoğan-Anhänger mehr.“ Wenn er durch die Stadt spaziert, erkennen ihn die Leute. Jene, die ihn sonst freundlich grüßten, würden sich nun wegdrehen. „Das ist sehr, sehr übel“, sagt Gıze, während seine Hände über den weißen Kittel streichen. Wer als Gülen-Anhänger gilt und möglicherweise auf einer der Listen steht, verliert nicht nur Kunden und Freunde. Er verliert auch seine Freiheit. Gıze reist nicht mehr in die Türkei. Als neulich dort der * Name geändert. DER SPIEGEL 8 / 2017
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Deutschland
Vater seiner Frau starb, blieben sie in So- Oberlandesgericht Koblenz: Das Verhalten gionsattachés in den Konsulaten steuern lingen. Zu groß die Angst, festgenommen der Angeklagten sei nicht als eine gegen die Ditib-Arbeit in ihrer Region, trotz der die Bundesrepublik gerichtete Spionage- gewählten Vorstände in den Vereinen. zu werden. Ditib ist ein wichtiger Baustein im WerAuch Ali Eren* hat Angst, um sich und tätigkeit zu werten. Deutsche Behördenmitarbeiter erleben ben des türkischen Präsidenten um die seine Familie. Eren ist einer von fünf Lehrern aus Nordrhein-Westfalen, die mut- zunehmenden Druck durch ihre türkischen Staatsbürger im Ausland. „Wo immer einer maßlich ausgespäht wurden. Er ist deut- Kollegen. Diese würden sie regelrecht be- unserer Landsleute ist, da sind auch wir“, scher Beamter und unterrichtet an einer drängen, gegen vermeintliche Gülen-An- ist Erdoğans Leitspruch. Ditib wiederum Schule im Ruhrgebiet. Derzeit traut er sich hänger vorzugehen, sagt ein leitender Be- ist auf die verbeamteten Import-Imame nicht mal mehr zum Gebet in seine Stamm- amter. Es seien Fälle bekannt, „in denen von Diyanet angewiesen, sonst könnte es Entscheidungsträger darum gebeten wer- seinen Betrieb nicht aufrechterhalten. DaMoschee. Eren erfuhr schon vor Weihnachten bei den, in Deutschland aktive oppositionelle für nimmt der Verband offenbar politische einem Gespräch in der Schulbehörde, dass Gruppierungen einer aktuellen Bewertung Einflussnahme in Kauf. In einer Reaktion er den türkischen Behörden als angebli- zu unterziehen und entsprechende Maß- auf die Durchsuchungen betont der Vercher Gülen-Anhänger gemeldet worden nahmen zu treffen“, heißt es in einer ver- band: Die Maßnahmen des Generalbundessei. Wer ihn angeschwärzt hat, sei ihm traulichen Analyse des Bundesamts für anwalts hätten sich nicht gegen den DitibVerband, seine Moscheen oder Mitarbeiter nicht gesagt worden. Vor wenigen Tagen Verfassungsschutz. Eine interne Analyse aus dem Bundes- gerichtet, es seien nur die Privatwohnunhabe sich dann noch der Staatsschutz gemeldet. Er solle aufpassen, sich aber auch innenministerium vom Oktober 2016 be- gen der Geistlichen durchsucht worden. Baskın Oran, Politikwissenschaftler an nicht verrückt machen, habe der Polizist schreibt einen alarmierenden Befund: ihm geraten. „Plötzlich wird man zum Op- „Es muss ermittelt werden, ob und inwie- der Universität in Ankara, sagt, Erdoğan fer von Diffamierung und Denunziation“, weit der türkische Geheimdienst MIT betrachte Ditib als ein Instrument, um seisagt Eren. Dabei habe er noch nicht mal mittels nachrichtendienstlicher Einfluss- ne Herrschaft über die Türkei hinweg ausoperationen versucht, getarnt in die Wil- zudehnen. „Die Regierung macht das in Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Wer ist Freund, wer ein Feind? Danach lensbildung von deutschen Institutionen der Türkei genauso. Das System Erdoğan sortiert die Erdoğan-Regierung die Bürger einzugreifen und die öffentliche Meinung beruht auf Spionage.“ So verwundert es längst nicht mehr nur in der Türkei aus. unter anderem durch Desinformation zu nicht, dass die Religionsbehörde Diyanet die „Anschuldigungen nicht akzeptieren“ Um ihre vermeintlichen Gegner in Deutsch- lenken.“ Obwohl die Türkisch-Islamische Union kann, wie Diyanet-Chef Mehmet Görmez land ausfindig zu machen, bedient sie sich auch ihres mächtigen Geheimdienstes MIT. der Anstalt für Religion, kurz Ditib, ein sagte. Die beschuldigten Imame würden Die deutschen Sicherheitsbehörden ge- 1984 in Köln gegründeter Verein nach deut- lediglich Gläubige vor der Gülen-Bewehen davon aus, dass in Deutschland rund schem Vereinsrecht ist, hat Ankara den- gung schützen. Mit dem Start der Deutschen Islam Kon150 MIT-Mitarbeiter an der türkischen Bot- noch direkten Einfluss auf die rund 900 schaft und den Konsulaten arbeiten. Dazu Moscheevereine. Das liegt an der eng ver- ferenz vor gut zehn Jahren hatten sich eine große Zahl von Erdoğan-Fans, die flochtenen Struktur mit der türkischen Re- deutsche Politiker Hoffnungen gemacht, sich als Zuträger für den Dienst verdient ligionsbehörde Diyanet. Diese finanziert dass sich die engen Bande des Vereins zu machen wollen. In einigen Fällen habe die und entsendet die Imame, von denen es Ankara lockern könnten und Ditib zu eiTürkei sogar versucht, ehemalige oder ak- mehr als 900 in Deutschland gibt. Zudem nem unabhängigen Dachverband werden tive MIT-Agenten in deutsche Behörden ist der Ditib-Vorsitzende gleichzeitig Ange- könnte. Immer mehr Ditib-Imame beganhöriger der türkischen Botschaft. Die Reli- nen, zumindest leidlich Deutsch zu spreeinzuschleusen. chen. In mehreren BundeslänAb und an verfängt sich ein dern beteiligte sich der Versolcher Agent im Netz der Ditib band am Islamunterricht in deutschen Spionageabwehr: den Schulen, in Hessen wurde wie der 31-jährige Türke S., Die Organisation des türkisch-islamischen Dachverbands er offiziell als Religionsgemeinder im Dezember in Hamburg Zentrale Aufgaben schaft anerkannt. festgenommen wurde, weil er u.a. religiöse Dienste, Doch spätestens seit dem für den MIT in Deutschland Förder- und BildungsPutschversuch nutzt Ankara gespitzelt haben soll. Er soll programme, Beratung seinen Einfluss auf Ditib, um sich vor allem um Informatiound Seelsorge, Bau von Moscheen die modernen Ansätze wieder nen über Kurden bemüht hain deutschen Städten zu unterbinden und stattdesben. Oder wie Muhammed sen nationalistische Elemente Taha Gergerlioğlu, der als anVorstand, Religionsrat und Religiöse Beiräte zu stärken. Die Şehitlik-Mogeblicher Kopf einer SpitzelDer Vorstandsvorsitzende ist gleichzeitig Religionsattaché. schee in Berlin-Neukölln ist dazelle verdächtigt wurde. Über für ein Beispiel. ein Jahr lang soll sie in Bis vor Kurzem galt sie als Deutschland türkische OppoDiyanet innovatives Vorbild. Mit Gesitionelle fotografiert und betürkische Religionsbildet 15 Landesbehörde in Ankara; aus und sprächskreisen für junge Leute, lauscht haben. und Regionalverbände untersteht dem entsendet die auch mal Themen wie HoDie Bundesanwaltschaft hattürkischen MinisterImame mosexualität behandelten. Mit te Gergerlioğlu sowie seine präsidenten Vorträgen und Führungen, in mutmaßlichen Zuträger wegen denen allein 10 000 Berliner geheimdienstlicher Agententäüber 900 Moscheevereine melden Religionsattaché Polizisten mit Moscheeleben tigkeit angeklagt. Weil die Bedarf türkische Botschaft vertraut gemacht wurden. Mit nach Ankara übermittelten Inan Islam- in Berlin einem einzigartigen Prävenformationen sich im Wesentgelehrten tionsprogramm gegen salafistilichen nicht auf Deutsche be906 Imame und 116 weibliche Islamgelehrte sche Radikalisierung. zogen hatten, entschied das 30
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GUIDO SCHIEFER / EPD KAYHAN OZER / ANADOLU AGENCY / DDP IMAGES
Ditib-Zentralmoschee in Köln: Wichtigster Partner für die Politik
Präsident Erdoğan, Geheimdienstchef Hakan Fidan: Agenten in deutsche Behörden?
Am 10. Dezember allerdings war es mit dem Reformprozess vorbei. Der Religionsattaché erschien zur Vorstandswahl überraschend mit einer neuen Kandidatenliste. Von den alten Vorständen war keiner mehr genannt, sie wurden abgesetzt. Nach und nach schafft der neue Vorstand nun die fortschrittlichen Angebote wieder ab. So steht es jedenfalls in einem Brandbrief, den junge Mitglieder an den Botschaftsrat der Ditib geschrieben haben. Der neue Attaché wolle, „dass wir unsere Beziehungen zu deutschen Organisationen auf ein Minimum zurückfahren“, heißt es. „Die Verbitterung nimmt zu. Jugendliche entfremden sich von unserer Moschee.“ Verfassungsschützer warnen schon länger vor extremistischen Strömungen in einigen Ditib-Moscheen. Man müsse sich nur die Buchbestände in so manchem Moscheeverein ansehen, sagt ein Beamter. „Da erkennen Sie kaum einen Unterschied zur Lektüre der salafistischen Extremisten.“
Auch einige Äußerungen von Ditib-Vertretern ähneln jenen, die man von islamistischen Hasspredigern kennt. So warnte die Ditib-Moschee im oberschwäbischen Bad Waldsee Ende des Jahres auf ihrer Facebook-Seite: „Haltet Euch ja fern von den Feiertagen der Feinde Allahs!“ Als sich Gemeindemitglieder beschwerten und etwa erzählten, sie würden ja auch zusammen mit ihren deutschen Freunden die muslimischen Feste feiern, weist ein Mitarbeiter der Ditib-Moschee sie umgehend zurecht: „Schauen Sie sich Sure 51 an. Ihr könnt euch mit ihnen zusammensetzen, ihr könnt Handel mit ihnen treiben, aber ihr könnt niemals Freunde sein.“ Ähnlich feindselig gegen die christliche Tradition klingt der Imam im badischen Bad Säckingen. Der Geistliche, vor sechs Jahren aus Ankara nach Deutschland entsandt, ist in den sozialen Netzwerken sehr umtriebig. Er stellt seine Predigten auf You-
Tube und bestückt seine Facebook-Seite mit Anweisungen und Lebensweisheiten. Im Dezember rief er dazu auf, nicht mehr in Geschäften einzukaufen, die weihnachtlich geschmückt sind. Schwule und Lesben bezeichnet er als „Homosexuell-Perverse“; Frauen, die unverschleiert sind oder Hosen tragen, sind ihm ein Dorn im Auge, weil sie sich gebärdeten wie Männer. Sedat Şimşek sitzt in seinem Büro vor einem Ständer mit drei kleinen Flaggen, der türkischen, der deutschen und der europäischen. Sie symbolisieren ganz gut, in welcher Zwickmühle der Vorsitzende der Ditib-Nord sitzt. Zu dem Verband gehören 35 Moscheegemeinden in Hamburg und Schleswig-Holstein. Nein, sagt Şimşek, Denunziationen heiße er nicht gut. Nein, eine Steuerung durch Ankara wolle keiner. Nein, ein integrationsfeindliches Klima gebe es bei Ditib nicht. Es seien ein paar schwarze Schafe, über die alle redeten. Şimşek spricht fließend Deutsch. Er war vier Jahre alt, als er aus der türkischen Schwarzmeerregion nach Deutschland kam, mittlerweile ist er deutscher Staatsbürger. Şimşek hat Angst, dass die deutsche Politik Ditib als Kooperationspartner fallen lässt. „Das wäre eine Katastrophe.“ Wie viele der in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Ditib-Vorstände ist Şimşek indes unzufrieden mit der Struktur der Organisation. „Es gibt viele, die daran etwas ändern wollen. Die Muslime in Deutschland brauchen Imame, die sich mit dem Leben hier auskennen und nicht nur mit dem in der Türkei.“ Tatsächlich formt sich unter den jungen Ditib-Mitgliedern derzeit Widerstand gegen die Bevormundung aus Ankara. Sie überlegen, eine eigene Akademie zu gründen, eine Art Thinktank für progressive Muslime. Uli Grötsch, SPD-Innenpolitiker und Initiator der ersten SPD-Islamkonferenz, die im Januar in Berlin stattfand, unterstützt die Reformkräfte: „Ditib muss sich von Diyanet lösen. Für diesen Prozess braucht es aber Dialog und Unterstützung. Unabhängig davon müssen die progressiven Kräfte und deren Engagement gestärkt und handlungsfähig gemacht werden.“ Aydan Özoğuz, die Integrationsbeauftragte der Regierung, sieht ebenfalls nur einen Weg: Der Verband müsse sich von Ankara abnabeln. „Der türkische Staat darf nicht das Vorstandspersonal eines deutschen Islamverbands stellen.“ Auch die Imame müssten langfristig nicht mehr aus Ankara entsandt werden. „Spätestens in zehn Jahren sollten bei Ditib nur noch in Deutschland ausgebildete Imame predigen.“ Aus der türkischen Hauptstadt gibt es dafür allerdings derzeit kein Signal. Maik Baumgärtner, Eren Caylan, Jörg Diehl, Katrin Elger, Martin Knobbe, Maximilian Popp, Jörg Schindler, Fidelius Schmid, Nico Schmidt, Wolf Wiedmann-Schmidt DER SPIEGEL 8 / 2017
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Deutschland
Bonjour tristesse Arbeitsplätze Eine Übernahme durch den französischen Autokonzern PSA könnte für Opel-Werke das Aus bedeuten. Die Regierung will die Jobs sichern, aber am Ende ist sie machtlos.
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Dass sich die Opel-Übernahme für Peugeot und Co. nur rechnet, wenn Fabriken geschlossen und überzählige Jobs gestrichen werden, wissen auch die beteiligten Regierungsvertreter. Zumal die deutsche Politik wenig in der Hand hat, um ihre Interessen durchzusetzen. Weder mit dem Kartellrecht noch mit dem Außenwirtschaftsgesetz ließe sich der Deal stoppen. Von einer „konsensualen Lösung“ ist deshalb im Merkel-Kabinett die Rede, was im
STOCKI / FACE TO FACE
D
ie Opel-Arbeiter, die am vergangenen Mittwoch über den Firmenparkplatz zur Schicht marschierten, sind durch nichts mehr zu erschüttern. Zu lange schon haben sie sich in Rüsselsheim Sorgen um den Arbeitsplatz gemacht. Und so reagierten sie auf die jüngsten Nachrichten mit Galgenhumor: Ob man sich denn schon für einen Französischkurs angemeldet habe, grüßte einer der Kollegen. Bonjour tristesse: Opel geht einer ungewissen Zukunft unter französischer Führung entgegen. Die amerikanische Konzernmutter General Motors (Chevrolet, Cadillac) will ihr Sorgenkind endlich loswerden. Seit 17 Jahren hat ihr Opel nichts als Verluste eingetragen. Neuer Eigentümer soll das Konkurrenzunternehmen PSA (Peugeot, Citroën) aus Paris werden, an dem unter anderem der französische Staat beteiligt ist. Bereits seit Monaten verhandeln Amerikaner und Franzosen über die Details. Nun, da die Gespräche offenbar kurz vor dem Abschluss stehen, wurden eher zufällig auch die betroffenen Mitarbeiter in Deutschland informiert. „Es tut uns leid, dass Sie dies aus der Presse erfahren haben“, schrieb Opel-Chef Karl-Thomas Neumann seinen Leuten in einer Hausmitteilung. Ihm selbst hatte man freilich auch nur wenige Tage früher Bescheid gegeben. Kalt erwischt wurde auch die deutsche Politik. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich ebenso überrascht wie Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries und die Ministerpräsidenten der drei Bundesländer mit Opel-Standorten, Hessen, Thüringen und Rheinland-Pfalz. Hektische Telefonate folgten, eine „Kontaktgruppe“ beim Kanzleramt wurde ins Leben gerufen und rasch eine gemeinsame Linie verabredet. Opel, so verkünden es seither die Verantwortlichen in augenfälligem Optimismus, sei in Frankreich in besten Händen. Von einem schlagkräftigen Bündnis ist die Rede. „Durch den Zusammenschluss würde der zweitgrößte Autokonzern Europas entstehen“, sagt der zum Koordinator berufene Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig: „Dadurch ergeben sich auch zusätzliche Möglichkeiten für Investitionen, Innovationen und Wachstum.“ Aber stimmt das? Oder geht es der Großen Koalition so kurz vor der Bundestagswahl eher darum, die betroffenen OpelMitarbeiter in Sicherheit zu wiegen – und dabei über die eigene Rat- und Hilflosigkeit hinwegzutäuschen?
Wirtschaftsministerin Zypries 2001
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Klartext bedeutet: Deutschland verfügt über keinerlei Druckmittel. So sich Amerikaner und Franzosen einig werden, sind auch die Möglichkeiten der deutschen Gewerkschafter begrenzt. Dann drohen Massenentlassungen in den Werken in Rüsselsheim, Eisenach und Kaiserslautern, und zwischen den jeweiligen Betriebsräten könnte ein Wettkampf um die letzten verbliebenen Jobs entbrennen. Kein Wunder, dass Merkels Leute das Motto „Ruhe bewahren“ ausgegeben haben. Die wirtschaftlichen Daten liefern wenig Grund für Optimismus. Für Opel könnten sich die Franzosen als ziemlich schlechte Freunde erweisen. Branchenkenner fürchten, dass Opel und PSA zu ähnlich sind, um sich ergänzen zu können. Beide Unternehmen setzen auf Masse; ihre Modelle richten sich an dieselben Käufergruppen. Beide balgen sich um den wachstumsschwachen europäischen Markt. Beide leiden unter Überkapazitäten. Bei Peugeot seien die Fabriken nicht voll ausgelastet, bei Opel sogar nur zu etwa 65 Prozent, sagen Experten. Und der frühere Opel-Betriebsratschef Klaus Franz analysiert: „Die ökonomische Situation der beiden Unternehmen ist schlicht zu schwach, um sie einfach zusammenzubinden und dann weiterzumachen wie bisher.“ Beide müssten profitabler werden: „Das wird sicher Spuren hinterlassen.“ Der Auftrag des neuen Konzerns lautet: Kosten senken durch Stellenabbau, Jobverlagerungen, wahrscheinlich auch Werksschließungen. Denn wenn die beiden Konzerne künftig im Verbund produzieren, reicht für eine Modellbaureihe ein Standort. Das Dieselmotorenwerk in Kaiserslautern mit seinen gut 2000 Mitarbeitern wäre gefährdet. In der Dieseltechnik gelten die Franzosen als überlegen. Opel braucht eine Strategie für die nächsten Jahre. Bis vor Kurzem wollte Vorstandschef Karl-Thomas Neumann seine ganze Kraft auf Elektroautos verwenden. Noch im Januar jubelte man in Rüsselsheim über eine wertvolle Zusage von der Konzernmutter General Motors aus Detroit: Opel dürfe künftig eine eigenständige Strategie für Elektromobilität in Europa verfolgen. Für die Deutschen wäre das die Möglichkeit gewesen, endlich eigene EAutos zu entwickeln und zu bauen. Es wäre ein großer Schritt in Richtung Eigenständigkeit gewesen. Doch mit dem Ausstieg von GM sind diese Pläne wohl erst einmal passé.
WAZ FOTOPOOL / ACTION PRESS
Opel-Montage in Eisenach: Seit 17 Jahren nichts als Verluste eingetragen
Unklar ist, ob Opel mit dem Abschied von den Amerikanern den Zugriff auf Patente verliert. Das Elektromodell Ampera-e wird in den USA produziert und steckt voller GM-Technik. Zieht der USKonzern sich mit all seiner Elektrokompetenz zurück, wäre Opel für den neuen Eigentümer nur noch eine bessere Werkbank. Um den Eindruck eines drohenden Kahlschlags zu vermeiden, sind die Verantwortlichen jetzt um Beschwichtigung bemüht. Durch einen Verkauf an PSA, beteuerte Opel-Chef Neumann in einem Schreiben an die Mitarbeiter, bestehe „die große Chance, einen europäischen Champion zu schaffen, der die vielfachen Herausforderungen der Zukunft nachhaltig meistert“. Allerdings zeigt Neumann auch Verständnis für die Verunsicherung seiner Leute. Auch bei ihm seien „noch viele Fragen offen, die heute nicht alle beantwortet werden können“. In den vergangenen Tagen gaben sich Amerikaner und Franzosen Mühe, die Sorgen der Deutschen erst einmal zu zerstreuen. General-Motors-Chefin Mary Barra reiste nach Rüsselsheim und gab sich im Gespräch mit den Arbeitnehmervertretern große Mühe, freundlich zu wirken. Man werde den Franzosen auch gewisse Zusagen abringen. Das Zusammengehen sei eine Chance.
Die Betriebsräte würdigten die Charmeoffensive, was bleibt ihnen auch übrig? Ernsthaften Widerstand können sie kaum leisten; im Gegenzug hoffen sie auf Beschäftigungsgarantien. Auch PSA will die Arbeitnehmer nicht gegen sich aufbringen. Der Konzern verfüge über eine „hohe Kultur des sozialen Dialogs“, heißt es aus Paris, man wolle sich bald mit Betriebsräten und Gewerkschaften austauschen. Teile der Belegschaft könnten hoffen, dass es ihr unter den neuen Konzernherren zumindest nicht schlechter ergeht als unter den alten. Viele Opelaner sind der amerikanischen Konzernmutter und ihrer ständigen Sparvorgaben überdrüssig. Gern würde sich Opel auch auf dem chinesischen Markt umtun, der wegen der Konzernvorgaben aus Detroit bislang verschlossen blieb. Als Regierungskoordinator Machnig mit den Gewerkschaftsleuten telefonierte, sprach er ihnen Mut zu. „Den pessimistischen Alarmismus, der die Beschäftigten unnötig in Sorge versetzt, teile ich nicht“, sagt er. Das Ziel laute, die deutschen Standorte und Arbeitsplätze zu sichern. Das Verkehrsministerium kommt in seiner Lagebeurteilung zu dem Schluss, dass es sich bei den Franzosen um ein kleineres Übel handle. „Schlimmer wäre es doch, wenn die Chinesen Opel von General Motors kauften oder einer der koreanischen
Autokonzerne wie Hyundai“, heißt es aus dem Verkehrsressort. Der SPD-Fraktionsvize und Wirtschaftsexperte Hubertus Heil hält es für entscheidend, dass PSA auch Investitionen garantiert. Die Elektromobilitätsforschung und -entwicklung müsse Deutschland erhalten bleiben. „Wir wären Partner, aber wir sind nicht naiv, was die französische Seite angeht“, sagt Heil. Industriepolitisch hat Frankreich vor allem nationale Interessen im Blick. Ob beim gemeinsamen Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus oder beim Zusammenschluss der Pharmafirmen Hoechst und RhônePoulenc: Am Ende wurden strategische Unternehmensbereiche bei grenzüberschreitenden Fusionen oft nach Frankreich verlagert. Die gut 18 000 Opel-Mitarbeiter in Deutschland müssen sich vorkommen wie Verhandlungsmasse. „Bitte arbeiten Sie weiter voll konzentriert“, schrieb ihnen die General-Motors-Spitze in einem Brief. Doch wer kann in dieser Lage noch konzentriert arbeiten? Simon Hage, Alexander Neubacher, Michael Sauga, Gerald Traufetter
Lesen Sie auch auf Seite 96 Wie praxistauglich sind die neuen Elektroautos von Renault und Opel? DER SPIEGEL 8 / 2017
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MARCO-URBAN.DE
„So kann man nicht arbeiten“ Nordrhein-Westfalen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, 55 (SPD), wirft Innenminister Thomas de Maizière mangelnde Fortschritte bei Abschiebungen vor und hält an einer Vermögensteuer fest. SPIEGEL: Frau Kraft, wie viel Ehrlichkeit braucht Politik? Kraft: Ich bemühe mich immer, ehrlich zu sein, auch in der Politik. SPIEGEL: Wir fragen, weil Sie lange gesagt haben, der beste Kanzlerkandidat der SPD sei Sigmar Gabriel, und jetzt erklären, Sie seien schon immer für Martin Schulz gewesen. Kraft: Ich habe gesagt, dass der Parteivorsitzende das erste Zugriffsrecht hat, und ich habe immer deutlich gemacht, dass der Landesverband Nordrhein-Westfalen loyal zum Vorsitzenden steht. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass Sigmar Gabriel Kanzler könnte. Es ging aber darum, den Kandidaten mit den besten Chancen aufzustellen. SPIEGEL: Martin Schulz sagt, in Deutschland gehe es nicht gerecht zu. Die SPD regiert in der Großen Koalition und in 13 Bundesländern mit, stellt neun Ministerpräsidenten. Was ist da schiefgelaufen? Kraft: Wir haben in den Ländern ein großes Plus an Gerechtigkeit erreicht. Aber wir mussten, gerade was die bundespolitischen Themen angeht, sehr häufig mit der Union Kompromisse machen. Umfassende Verbesserungen für prekär Beschäftigte, bei Leih- und Zeitarbeit, bei Befristung, das wollen wir jetzt durchsetzen mit einem Kanzler Martin Schulz. SPIEGEL: Zur Gerechtigkeit gehören auch gerechte Steuern. Nach Berechnungen der
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SPD-Finanzgruppe könnte die Vermögensteuer zehn Milliarden Euro bringen. Spitzengenossen wie Thorsten Schäfer-Gümbel rücken aber jetzt von ihr ab, er fordert eine Reichensteuer und höhere Erbschaftsteuern. Was wollen Sie? Kraft: In unserem NRW-Wahlprogramm steht auch die Vermögensteuer. Wir wissen aber, dass sie so gestaltet werden muss, dass sie kleinere und mittlere Unternehmen nicht in ihrer Existenz gefährdet. Es muss am Ende ein schlüssiges Gesamtkonzept aus all diesen Elementen sein.
Sonntagsfrage „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Landtagswahl wäre?“ 36 32 Nordrhein-Westfalen Veränderung zur letzten Landtagswahl am 13. Mai 2012 in Prozentpunkten
9* –3,1
+ 5,7
SPD
CDU
AfD
8
7
–0,6
– 4,3
+ 2,5
FDP
Grüne
Linke
5
Angaben in Prozent; Umfrage Forschungsgruppe Wahlen vom 6. bis 8. Februar *2012 nicht als Partei angetreten
SPIEGEL: Sie stehen vor einer kritischen Landtagswahl, derzeit haben Sie in Umfragen, trotz Martin Schulz, keine Mehrheit für Ihre Koalition mit den Grünen. Warum schließen Sie jetzt schon ein rot-rot-grünes Bündnis praktisch aus und sagen, die Linkspartei sei nicht regierungsfähig? Kraft: Ich sage seit 2010, dass die Linke weder regierungswillig noch regierungsfähig ist. Ihr Wahlprogramm zeigt, dass sie nicht regieren will. Sie stellt völlig unrealistische Forderungen auf, die den Finanzrahmen der Schuldenbremse sprengen. Und über die Äußerungen von Sahra Wagenknecht zu Flüchtlingen bin ich nicht nur einmal irritiert gewesen. SPIEGEL: Sorgt Sie die Schwäche Ihres Koalitionspartners nicht? Umfragen sehen die Grünen im Moment bei sieben Prozent. Kraft: Der Wahlkampf hat noch gar nicht begonnen. Umfragen verändern sich, und ich würde mich freuen, wenn die Grünen wieder bessere Ergebnisse erzielen würden. Ihre Hausaufgaben müssen die Grünen aber selber machen. SPIEGEL: Wie wollen Sie frühere SPD-Wähler von der AfD zurückholen? Kraft: Mit guter Politik. Wir freuen uns über knapp 1900 Neueintritte in NordrheinWestfalen. Das sind Menschen, die sich Sorgen machen um die Demokratie und darüber, dass die Schlagbäume wieder runtergehen. Das sind Menschen, die an
SPIEGEL TV WISSEN mit Kindern statt. Ich habe nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. SPIEGEL: Aber Abschiebungen dorthin seien wegen der verschlechterten Lage nicht zu verantworten, sagen die Kritiker. Kraft: Es ist für die Akzeptanz des Themas Flüchtlinge und Asyl wichtig, dass man rechtsstaatliche Verfahren achtet und dann, wenn eine Entscheidung getroffen ist, sie auch umsetzt. Wer keinen Asylgrund hat, und das ist meist auch gerichtlich festgestellt, muss auch zurückgeführt werden. Ich sehe die menschlichen Aspekte, bedaure jeden Einzelfall, wenn ich jemanden treffe. Dann denke ich, mein Gott, eigentlich brauchte derjenige ein vernünftiges Einwanderungsgesetz. Die SPD hat dazu einen Vorschlag gemacht, die Union hat das abgelehnt. SPIEGEL: Sie haben im Fall Amri erklärt, es habe auch Fehler Ihrer Regierung gegeben. Welche Fehler sind das? Kraft: Ich kann nicht das Ergebnis des unabhängigen Gutachtens vorwegnehmen, das wir beauftragt haben. Der gravierendste Fehler war sicher, dass im Terrorabwehrzentrum in Berlin eine Fehlbewertung über die Gefährlichkeit Amris vorgenommen wurde. Menschen machen Fehler, das kann passieren. Aber ich würde mir wünschen, dass auch alle anderen Beteiligten ihre Prozesse auf mögliche Fehler überprüfen. Politik muss sich als lernendes System erweisen. SPIEGEL: Es gibt viel Kritik an der Amtsführung Ihres Innenministers Jäger. Ist er für Sie noch tragbar? Kraft: Ich setze keinen Innenminister ab, nur weil jemand glaubt, ihn im Wahlkampf zum Abschuss freigeben zu müssen. Das ist nicht meine Art, mit Menschen umzugehen. Ralf Jäger hat in beiden Legislaturperioden gute Arbeit abgeliefert. Er hat als erster Landesinnenminister Programme zur Salafismus-Prävention aufgebaut. Wir haben 1200 Polizeistellen mehr seit 2010, 22 Prozent weniger Jugendkriminalität. Ja, die Einbruchszahlen sind zu hoch, doch wir setzen neue Fahndungsmethoden ein, das zeigt Wirkung. SPIEGEL: Der Generalbundesanwalt hat in einem Brandbrief um die Hilfe der Länder gebeten bei der Terrorabwehr, haben Sie ihm schon geantwortet? Kraft: Karlsruhe hat allein 2016 schon 33 große Terrorverfahren an die Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf abgegeben, dreimal so viele wie im Vorjahr. Wir haben ihm vier Richter und Staatsanwälte abgeordnet, sieben weitere stehen bereit. Das heißt, wir unterstützen jetzt schon mehr als die anderen Länder. Interview: Horand Knaup, Barbara Schmid
Video: Krafts Karriere
Mein Name ist Thalente Thalente Biyela ist in Südafrika aufgewachsen, kann weder lesen noch schreiben. Er fährt
Skater Thalente Biyela
mit seinen Freunden Skateboard, bis ein amerikanischer Profiskater sein Talent entdeckt, ihn fördert und ihm damit eine Zukunft ermöglicht.
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 19. 2., 22.40 – 23.25 UHR | RTL
Wenn die Möbel auf der Straße stehen – Die miesen Tricks der Umzugsmafia; Putins Medienkrieger – Innenansichten einer russischen Trollfabrik; Mieterhöhung nach Sanierung – Bürgerprotest
gegen einen Immobilienkonzern.
SPIEGEL GESCHICHTE
DIENSTAG, 21. 2., 21.00 – 21.45 UHR | SKY
Der Kreml – Russlands Machtzentrum Vor Jahrhunderten errichtet, ist der Moskauer Kreml ein Zentrum politischer und kirchlicher Macht. Die Dokumentation nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise in die rund 27 Hektar große Welt und ermöglicht dabei Einblicke, die dem Besucher verwehrt bleiben.
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Thermomix & Co. – Der neue Luxus in Deutschlands Küchen Wenn es um die Ausstattung geht, ist vielen Hobbyköchen das Beste gerade mal gut genug. Kochen als Event.
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Europa glauben. Und natürlich hat es auch etwas mit Martin Schulz zu tun. SPIEGEL: Die Flüchtlingspolitik wird ein zentrales Thema im Wahlkampf sein. Die Bundesregierung will sogenannte Ausreisezentren einrichten, ist das hilfreich? Kraft: Bundesinnenminister Thomas de Maizière kann bisher nicht erklären, wie er sich diese Zentren eigentlich vorstellt. Will er die Menschen in Abschiebehaft nehmen? In welchen Gebäuden, wo sollen die liegen? Klar ist, dass er uns Ländern darauf bald eine Antwort geben muss. SPIEGEL: Was ist mit den Abschiebezentren in Bayern, Manching und Bamberg? Kraft: Dort sollten eigentlich Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern aufgenommen werden, um die Verfahren zu beschleunigen und sie direkt zurückführen zu können. Das haben wir schon Ende 2015 so beschlossen. Jetzt hören wir, dass dort nur Flüchtlinge, die in Bayern ankommen, untergebracht sind. Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern werden nach wie vor auf alle Bundesländer verteilt. SPIEGEL: Ist eine zentrale Unterbringung überhaupt der richtige Weg? Kraft: Unser Hauptproblem sind diejenigen, die wir nicht abschieben können, 3300 Menschen aus Nordafrika sind das, bei denen wir nur schwer die Identität feststellen können, aus Ländern, die kaum Passersatzpapiere ausstellen. SPIEGEL: Die Kanzlerin hat doch gerade mit dem tunesischen Ministerpräsidenten darüber geredet. Kraft: Sie hat aber offenbar nichts Handfestes erreicht. Auch die bisherigen Gespräche von de Maizière mit Tunesien, Algerien und Marokko haben nicht weitergeholfen. Das kann so nicht bleiben, das haben alle Ministerpräsidenten vor gut einer Woche im Kanzleramt deutlich gemacht. SPIEGEL: Um die Beschaffung von Ersatzpapieren soll sich eine spezielle Abteilung der Bundespolizei in Potsdam kümmern. Kraft: Die Idee ist ja richtig, damit nicht mehr jede Ausländerbehörde einzeln losmarschieren muss. Jetzt sagt der Bundesinnenminister, das hätten wir missverstanden. Diese Einrichtung sollte nur koordinieren. So kann man nicht arbeiten. Wir erwarten, dass die Kanzlerin das Flüchtlingsthema endlich zur Chefsache macht. SPIEGEL: Warum schiebt Ihre Landesregierung weiter Flüchtlinge nach Afghanistan ab? Andere rot-grün regierte Länder haben die Abschiebungen dorthin ausgesetzt. Kraft: Wir haben in Deutschland ein gutes und funktionierendes Asylrecht. Mit guten rechtsstaatlichen Verfahren. NRW handelt nach dem Beschluss der Innenministerkonferenz von 2005. Danach schieben wir mit Vorrang und nur nach sorgfältiger Einzelfallprüfung Straftäter, Gefährder und allein reisende junge Männer zurück, es findet faktisch keine Rückführung von Familien
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Deutschland
In der Endlosschleife Bleiberecht Tausende Ausländer werden seit Jahren nur geduldet. Eine Reform sollte für Langzeitfälle eine Perspektive schaffen, doch viele Betroffene erfüllen die Voraussetzungen gar nicht.
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ätte Kocou H. aus Togo vor 15 Jahren gewusst, wie sein Leben verlaufen würde, er wäre, so sieht er das heute, womöglich gar nicht in das Flugzeug nach Düsseldorf gestiegen. Er ist 49 Jahre alt und macht gerade Pause, morgens und abends arbeitet er in einer Reinigungsfirma in Rostock, sechs Tage die Woche. Unterstützung vom Staat braucht er nicht. „Ich lebe nicht wie ein Mensch“, sagt er. Für sein Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft in Bad Doberan, einem Städtchen 15 Kilometer westlich von Rostock, zahlt er monatlich 183 Euro Miete. Schlafen kann er dort allerdings nicht, seine Arbeit beginnt morgens um fünf Uhr, so früh fährt noch kein Bus nach Rostock. Also trägt er sein Hab und Gut in einer Reisetasche mit sich herum und übernachtet in der Woche dort abwechselnd bei Kollegen, alles Togoer, auf der Couch oder auf dem Boden. Jeden Sonntag besucht er Freunde mit einer Waschmaschine. Alle drei Monate muss er bei der Ausländerbehörde vorsprechen und um die Verlängerung seiner Duldung bangen. Auch sein Arbeitsvertrag hängt davon ab. Dabei floh H. einst aus seiner Heimat in Westafrika, um in Freiheit zu leben. Präsident Gnassingbé Eyadéma war da bereits seit 34 Jahren an der Macht. Bei einem Fußballspiel im September 2001 hatte H. mit seinen Freunden über Politik diskutiert und die Verhaftung des Oppositionsführers kritisiert, so schildert es H. Drei Tage später habe ihm ein Freund erzählt, zwei Männer auf Motorrädern hätten ihn gesucht – wegen seiner politischen Äußerungen. H. bekam Angst, erzählt er, im Gefängnis zu landen, wie es damals häufiger passiert sei. Deshalb habe er beschlossen, das Land zu verlassen. Er habe alles verkauft, was er besaß, und sich von einem Schlepper nach Ghana bringen lassen. Mit gefälschten Papieren sei er am 12. Oktober 2001 in ein Flugzeug nach Düsseldorf gestiegen. So hat er es in seinem Asylantrag angegeben. Nur drei Monate später kam der Ablehnungsbescheid, eine so zügige Bearbeitung ist heute eher unwahrscheinlich. Es bestünden „Zweifel, ob es sich bei dem Antragsteller überhaupt um einen togoischen Staatsangehörigen handelt“, hieß es. Der Grund für seine Flucht sei „wenig nachvollziehbar“, die Schilderung „arm an Details, vage und oberflächlich“. 36
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H. klagte gegen den Bescheid und stellte später Folgeanträge, doch diese wurden abgelehnt. So hängt er nun seit mehr als 15 Jahren in einer Endloswarteschleife fest. „Das bringt Leute wie mich langsam um“, sagt er. Leute wie er – mit sogenannten Kettenduldungen. Den Duldungsstatus bekommen abgelehnte Asylbewerber, wenn ihre Abschiebung aus verschiedenen Gründen für eine bestimmte Zeit ausgesetzt ist. Ende 2016 lebten genau 153 047 Geduldete in Deutschland. Ein großer Teil stammt aus sogenannten sicheren Herkunftsländern wie Serbien, dem Kosovo oder Albanien. Ob Geduldete in einer eigenen Wohnung leben dürfen, hängt von den Kommunen ab, ob sie tatsächlich arbeiten dürfen, von der Ausländerbehörde. Auf einen Deutschkurs haben sie oft keinen Anspruch. Das mag sinnvoll sein für Menschen, die in Deutschland keine Bleibeperspektive haben und sowieso nach kurzer Zeit mehr oder weniger freiwillig ausreisen oder tatsächlich abgeschoben werden. Was aber tun mit Menschen wie Kocou H., deren Duldungsstatus eben keine Zwischenlösung ist, die ein Konto haben, Steuern zahlen und längst eben doch Teil der deutschen Gesellschaft geworden sind? In seine Heimat zurückzukehren kommt für H. nicht infrage. Inzwischen ist der Sohn von Gnassingbé Eyadéma Präsident in Togo. Kontakt zu seiner Mutter und Schwester hat H. nur selten. Sie sind sauer, weil er ihnen kein Geld schickt, und werfen ihm vor, er vergeude sein Leben. Die Bundesregierung hat eigentlich längst auf das Problem reagiert und im Sommer 2015 eine neue Bleiberechtsregelung
Geduldete Personen in Deutschland nach Hauptherkunftsländern Stand: 30. 6. 2016
Serbien
18002
Afghanistan
15073
Kosovo
13289
Syrien
11286
Albanien
9060
Mazedonien
9024
Irak
7515
153047
geduldete Personen gesamt davon
20 506 seit mehr als zehn Jahren Stand: 31. 12. 2016
eingeführt: Ausländern, die seit acht Jahren geduldet sind, soll unter bestimmten Bedingungen ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt werden; Familien mit minderjährigen Kindern bereits nach sechs Jahren, gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden schon nach vier Jahren. So sollten Kettenduldungen vermieden werden und Menschen, die schon lange hier leben, eine Bleibeperspektive bekommen. Fast 25 400 Erwachsene und 11 000 Jugendliche könnten theoretisch davon profitieren. Tatsächlich hat die Regelung nur einem Bruchteil von ihnen geholfen. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervorgeht, wurde seit dem Sommer 2015 lediglich 4123 Geduldeten und rund tausend Familienangehörigen eine solche Aufenthaltserlaubnis erteilt. Wo liegt die Schwierigkeit? Unklar ist, wie viele langjährig Geduldete überhaupt von den neuen Möglichkeiten wissen. Viele haben keinen Kontakt mehr zu Anwälten oder Beratungsstellen. Zudem ist die Bleiberechtsregelung an mehrere Voraussetzungen geknüpft: Die Antragsteller sollten Deutsch sprechen und ihren Lebensunterhalt „überwiegend“ selbst sichern. Sie dürfen nicht straffällig geworden sein. Wer das nicht alles erfüllt, fällt durch. Roselina A. ist eine davon. Die 18-Jährige spricht zwar fließend Deutsch und hat sich nicht strafbar gemacht, aber eigenes Geld verdient sie nicht. Nicht, weil sie das so will. Sondern weil die Ausländerbehörde ihr nicht erlaubt zu arbeiten. Also kümmert sie sich mit ihrer Mutter um die acht jüngeren Geschwister und bezieht Sozialleistungen. „Das ist ungerecht“, findet die junge Frau mit den langen, schwarzen Haaren. Schließlich könne sie nichts dafür, dass sie als Geduldete gelte. A. ist in Hamburg geboren und aufgewachsen – als Tochter von Geduldeten. In Deutschland wird dieser Status sozusagen weitervererbt. In der Heimat ihrer Eltern, in BosnienHerzegowina und Montenegro, war A. noch nie. Sie ging hier in den Kindergarten, wurde eingeschult. Überhaupt hat sie Deutschland erst zweimal in ihrem Leben verlassen, für Klassenfahrten nach Italien und Amsterdam. Die mussten vorher extra genehmigt werden. Sie ist es gewöhnt, alle sechs Monate bei der Ausländerbehörde vorzusprechen. Der Ablauf ist immer gleich: Morgens kom-
FRANK SIEMERS / DER SPIEGEL
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
Geduldete Kocou H., Roselina A.: Hab und Gut in einer Reisetasche
men, Nummer ziehen, warten, irgend- wartet sie seit neun Monaten. Unwahrwann überklebt ein Sachbearbeiter die scheinlich, dass sie positiv ausfällt. Es ist ein Teufelskreis: Ohne Pass oder alte Duldung mit einer neuen. Nur die Wachleute, die für sie bedrohlich aussahen, Aufenthaltserlaubnis darf A. nicht arbeisind schon länger nicht mehr da. Warum ten. Aber ohne Arbeitserlaubnis kann sie die Asylanträge ihrer Eltern abgelehnt wur- ihren Lebensunterhalt nicht allein bestreiden und warum ihre Duldung trotzdem ten – und so niemals die Voraussetzungen Mal für Mal verlängert wird, das weiß A. für das neue Bleiberechtsgesetz erfüllen. Eine Gesetzeslücke? nicht. Die Bundesregierung will am bestehenDass sie nicht arbeiten darf, fiel erst vor anderthalb Jahren auf. Damals hatte sie den, novellierten Recht nicht rütteln. Ein gerade ihren Hauptschulabschluss und Aufenthaltsrecht „aufgrund reinen Zeitabwollte sich für einen Ausbildungsplatz be- laufs“ sei „für die Zukunft nicht vorgesewerben, sie möchte Kosmetikerin werden. hen“, heißt es im Bundesinnenministerium: Inzwischen hat sie Ausbildungsangebote „Die derzeitigen rechtlichen Regelungen bieten ausreichend Spielraum, um in Einvon zwei Friseursalons. Im März 2016 beantragte sie eine Ar- zelfällen zu sachgerechten Lösungen zu beitserlaubnis – vergebens. Sie habe kei- kommen.“ Welche das im Fall von Roselina A. sein nen Nationalpass und ihre Identität sei nicht nachgewiesen, so begründete die sollen, ist offen. Eine ehemalige Lehrerin hat im Sommer die Hamburgische BürgerAusländerbehörde die Ablehnung. Doch wie sie einen Pass beschaffen soll, schaft schriftlich um Unterstützung gebeist unklar. Sie hat nie einen besessen. Auch ten. A. will vor dem Verwaltungsgericht ihre Mutter hat keinen, die Identität ihrer klagen, damit sie endlich eine ArbeitserEltern ist nicht geklärt. Wohl eher um En- laubnis bekommt. Bei Kocou H. aus Togo stehen die Changagement zu zeigen, stellte A. bei den Botschaften Bosnien-Herzegowinas und Mon- cen auf eine Aufenthaltserlaubnis eigenttenegros Anträge zur Klärung ihrer Staats- lich gut. Er erfüllt alle Voraussetzungen: angehörigkeit. In Montenegro war sie nie arbeitet Vollzeit, ist nie straffällig geworregistriert worden, auf die zweite Antwort den und hat es 2014 geschafft, sechs Mo-
nate lang einen Deutschkurs zu besuchen. Tatsächlich sicherte ihm die Ausländerbehörde bereits im November 2015, nur wenige Monate nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, schriftlich eine Aufenthaltserlaubnis zu, „sofern er einen gültigen Nationalpass vorlegt“. Es ist dieser Nachsatz, der sich als unlösbares Problem herausstellt. Seit fast elf Jahren besitzt H. zwar wieder eine Geburtsurkunde und eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung aus Togo, aber der Ausländerbehörde reicht das nicht. Einen Pass hat er bei der togoischen Botschaft vor zwei Jahren angefordert. Wann er ihn bekommt, ob sein Antrag überhaupt bearbeitet wird, kann ihm am Telefon niemand sagen, E-Mails wurden nicht beantwortet. Jetzt überlegt er, einen Passersatz vor Gericht einzuklagen oder sich an die Härtefallkommission zu wenden. Bis das erreicht ist, muss er sich mit kleinen Verbesserungen begnügen. Seine Sachbearbeiterin hat offenbar verstanden, dass er Deutschland erst mal nicht verlassen wird. Nachdem die letzten 51 Duldungen immer nur um drei Monate verlängert wurden, ist die aktuelle zum ersten Mal sechs Monate lang gültig. Laura Backes Mail:
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Strafjustiz Wer war die treibende Kraft hinter den sadistischen Quälereien im Horrorhaus von Höxter? Angelika W. könnte das Werkzeug ihres Exmannes gewesen sein, doch vor Gericht präsentiert sich eine selbstbewusste Täterin. Von Beate Lakotta
Angeklagte Angelika W., Verteidiger
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FRISO GENTSCH / DPA
So böse, so banal
ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES
Tatort in Höxter-Bosseborn
Deutschland
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wegen zweifachen Mordes. Vor Sommer er seine Frau mit Gummiknüppel und Franzbranntwein vaginal traktierte. Der ist kaum mit einem Urteil zu rechnen. Es ist ein monströser Fall, auch rätsel- Psychiater Michael Osterheider hat Wilfried haft: Warum nur gaben sich Frauen frei- W. in einem vorläufigen Gutachten als willig in die Hände des Duos? Warum ging „Idealtyp des Hangtäters“ beschrieben – als keine der Überlebenden zur Polizei? Das jemanden, der dazu neigt, immer wieder Gericht muss vor allem herausfinden: War ähnliche Taten zu begehen – und ihm Ander Tod der Frauen eingeplant? Wie teilte zeichen des sexuellen Sadismus attestiert. Lustgewinn – war es das, was auch Ansich das Paar die Rollen auf? Wer trägt wie viel Schuld? War tatsächlich der Mann die gelika W. antrieb? Blinde Liebe? Oder treibende Kraft und die Frau sein Werk- doch Angst? Am zweiten Verhandlungstag beschrieb zeug, wie es die Anklageschrift nahelegt? Aufgeflogen war das Paar im April 2016 sie, wie Wilfried W. ihr den Arm verbrüht durch Zufall. Eine Autopanne spätabends habe, so schwer, dass sich die riesige Wunde in einer Dorfdurchfahrt, auf der Rückbank erst nach Jahren schloss. Wie er sie auf diesaß die tödlich geschwächte Susanne F., se Wunde schlug und Blumenerde hineinhalb nackt, auf einer Plastiktüte, damit schmierte, wie er sie mit Ritualen quälte, nichts in die Sitze ging. Notgedrungen rie- denen er Namen gab wie „Decken, Alte“, „Decken, Alte spezial“ oder „Tittenbeißen“. fen sie einen Krankenwagen. „Die anderen schlug und würgte er Fast alles, was die Anklageschrift beschreibt, hat Angelika W. erzählt. Zum Bei- auch“, sagt Angelika W., „aber diese exspiel, wie Anika W. einmal im Hof stürzte tremen Sachen, die machte er nur mit mir. und mit dem Kopf so hart auf die Teer- Anders als die feinen Damen hab ich gedecke aufschlug, dass es krachte. „Ich glau- lernt, Schmerzen auszuhalten.“ „Wie oft wurde dieses ‚Tittenbeißen‘ anbe, sie nippelt uns ab“, soll Wilfried W. später gesagt haben. Aber auch, wie sie selbst gewendet?“, erkundigt sich Richter Emdie Frau mit Handschellen in der Badewan- minghaus, um Takt und Sachlichkeit bene gefesselt, das Wasser aufgedreht und zu müht. „Vielleicht 80-mal, 100-mal. Immer Wilfried W. gesagt habe: „Die ersäuft jetzt.“ wenn er keine andere Frau im Haus hatte. Anfangs hatte Angelika W. bei der Poli- Das war ja dann Erholung. Da konnte ich zei alles auf sich genommen. Sie habe die mich endlich um normale Sachen kümFrauen aus eigenem Antrieb misshandelt. mern, Staubsaugen, Aufräumen.“ Am fünften Verhandlungstag geht im Nach und nach belastete sie ihren Exmann immer schwerer. Oberstaatsanwalt Ralf Saal die „Bild“-Zeitung herum, mit Fotos Meyer sieht Angelika W. als Täterin und aus dem Horrorhaus. Dort lebten die W.s Opfer zugleich: Es sei dem Paar darum ge- in dem heruntergekommenen Gehöft in gangen, die Frauen zu demütigen und einem messihaften Chaos aus Pappkartons, Macht über sie auszuüben. Dabei sei An- Matratzen, Wäsche, DVDs, Nahrungsmitgelika W. jedoch ihrem Exmann „nahezu teln. Warmwasser gab es nicht täglich. In hörig“ gewesen, so weit habe er sie durch den Ställen verendeten Ziegen, Schweine, jahrelange Misshandlungen gebracht. Wür- Hühner im Mist. Zugleich kaufte und verde sich das Gericht dem anschließen, könn- kaufte das Paar, beide Hartz-IV-Empfänte dies, zusammen mit ihrem Beitrag zur ger, mehr als 500 Gebrauchtwagen, auch von dem Geld, das sie anderen Frauen abit Kontaktanzeigen sollen Wil- Aufklärung, ihre Strafe mindern. Angelika W. hat vor Gericht gesprochen, nahmen, angeblich um die 300 000 Euro. fried und Angelika W., heute 46 und 48 Jahre alt, immer neue tagelang. Aber kann man ihr glauben? Wil- All das regelte Angelika W. Frauen in ihr Haus in Höxter-Bosseborn fried W. hat im Prozess bislang geschwiegelockt und gequält haben; vier Opfer gen, mitgeschrieben oder unwillig den ei Gericht erscheint sie in kastenförnennt die Anklage. Das Paar war geschie- Kopf geschüttelt, etwa wenn Angelika vormigen Anoraks und verwaschenen den, Angelika W. gab sich als Schwester trug, wie er die Frauen gewürgt habe. Ein Sweatshirts, dazu eine Ponyfrisur, ihres Exmannes aus. Wilfried W. schwor rundlicher Mann, kurzes graues Haar, wei- Marke Eigenschnitt, keine Schminke, die jeder Frau, sie sei seine große Liebe. Das cher Stoppelbart, Typ großer Teddy. Auf lehnt sie nach eigenem Bekunden ab – wie Paar soll seine Opfer wie Leibeigene ab- seinen Handys fanden sich Liebesbekun- alles, was ihrer massigen Erscheinung gerichtet haben, nach einem System aus dungen zahlreicher Frauen. Bei der Polizei weibliches Flair verleihen könnte. Ein groabstrusen Verhaltensregeln und perfiden beschrieben ihn Zeuginnen durchaus auch bes Gesicht, in dem alles wie aus dem Lot als zärtlichen Liebhaber. Er selbst bestritt geraten wirkt, Nase, Kiefer, Wilfried W. Strafen. In der Untersuchungshaft listete Ange- dort alle Vorwürfe. Die Quälereien habe soll ihr beides gebrochen haben. lika W. die Grausamkeiten auf: Haare aus- allein Angelika begangen. Mit wachem Blick aus dunklen, tief lieZweifel daran weckt unter anderem ein genden Augen taxiert Angelika W. die Wirreißen, an die Heizung ketten, schlagen, treten, verbrühen. Anika W., 33, und Su- Urteil des Amtsgerichts Paderborn aus dem kung ihrer Einlassungen im Publikum, dann sanne F., 41, starben entkräftet durch die Jahr 1995 gegen ihn wegen gefährlicher Kör- sieht man sie oft lächeln: spöttisch, selbstMisshandlungen. Wilfried und Angelika perverletzung; es liest sich wie eine Blau- gefällig. Mit einem Anflug von Melancholie, W. schauten ihnen dabei zu, dokumentier- pause zum jetzigen Fall: Wilfried W. habe so scheint es, wenn sie auf ihre Liebe zu ten das Leiden der Frauen auf Fotos und seine damalige Ehefrau „sklavenartig ge- Wilfried W. zu sprechen kommt – schwer Videos, anstatt Hilfe zu holen. Dafür müs- halten und missbraucht“. Auch damals zu durchschauen, wie es darum heute besen sie sich seit Oktober vor dem Landge- hatte er eine Expartnerin, die ihm beim stellt sein mag. Bei der Polizei erzählte sie richt Paderborn verantworten, angeklagt Prügeln half und ihn anfeuerte, während noch, sie selbst habe sich den Arm verbrüht,
egen Ende des fünften Verhandlungstages zeigt Angelika W. mal wieder, wer aus ihrer Sicht die Regie führt. Seit neun Uhr morgens redet sie schon, erzählt von all den Frauen, die Fehler begingen. Die nuschelten oder Wörter benutzten, die ihr Exmann nicht mochte, sodass er wieder anfing, mit den Augen zu klimpern. Die vergaßen, ihm den Tee hinzustellen oder ihn anzusehen, wenn sie ihm antworteten. Und wie sie deshalb Strafen erfand und vollzog: „Ich wollte nur meine Ruhe. Aber nichts als Scherereien mit den Damen.“ „Aber wenn keine andere Frau im Haus war, wurden Sie selbst ja wieder das Ziel von Wilfrieds Misshandlungen“, baut Verteidiger Peter Wüller ihr eine Brücke, sie führt von Angelika W., der Täterin, hin zu Angelika W., dem Opfer. Die Angeklagte – laut Gutachten verfügt sie über einen überdurchschnittlichen IQ – nickt: „Genau. Dann war ich wieder in Not und Angst vor ihm.“ Aber von ihm weggehen habe sie nicht können, schon gar nicht, seit im Keller die tote Frau in der Gefriertruhe lag, verborgen unter Grillfleisch und Tiefkühlerbsen: „Ich hätte ja nie gewusst, ob er mich nicht doch bei der Polizei anzeigt.“ „Hat er denn damit gedroht?“, fragt der Vorsitzende Richter Bernd Emminghaus erstaunt. „Ja.“ – „Aber das haben Sie noch nie erzählt“, hält Wilfried W.s Verteidiger ihr vor. „So weit sind wir ja noch nicht“, fertigt Angelika W. ihn ab, und zum Richter: „Und wenn wir hier immer um vier Uhr Feierabend machen, kommen wir auch nicht weiter.“ Da geht ein Raunen durch den Saal – und Angelika W., von der Boulevardpresse als „Hexe von Höxter“ betitelt, lehnt sich zufrieden zurück.
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ein Haushaltsunfall. Jetzt spricht sie von ihm als „dem Herrn W.“ oder „dem feinen Herrn“. Aber die Misshandlungen, mit denen er sie gepeinigt haben soll, will Angelika W. nicht verfolgt wissen, bis heute. Also, wie war das mit den Regeln im Hause W.: „Können Sie uns das mal erklären?“, bittet der Vorsitzende. Angelika W. hat sich vorbereitet, sie kramt ein Papier hervor und liest: „Frau hatte zu gehorchen. Frau hatte deutlich zu sprechen. Frau hatte sauber zu sein. Frau hatte vor seinen Augen die Pille einzunehmen …“ Und wenn nicht? „Dann musste sie zum Beispiel auf einen Zettel schreiben: ‚Ich, Anika, verspreche, das Wort ‚pullern‘ nicht mehr in den Mund zu nehmen‘, Datum drunter, Unterschrift.“
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ie Zettel. Hunderte dieser bizarren Schriftstücke muss es gegeben haben, geschrieben von Angelika W. und den anderen Frauen, mit Datum und Unterschrift, der Vorsitzende verliest einige von ihnen aus den Akten, rasch, tonlos: Blatt 751: Meine Fehler und die Strafen: Wenn ich nicht höre, soll Wilfried Max mir den Hintern versohlen. Wenn ich zu faul bin zu antworten, soll Wilfried Max mir fest an den Haaren ziehen. Wenn meine Verarschetour anfängt, soll mir Wilfried Max Ohrfeigen geben. Wenn ich wieder zu sehr an mich denke, soll Wilfried Max auch nur an sich denken. Susanne F. Blatt 745: Die blauen Flecken am ganzen Körper kamen daher, weil ich mich überall gestoßen habe. Meine blauen Pantoffeln waren mir zu groß, deshalb bin ich auf der Treppe ausgerutscht. Der Ganter hat mich gebissen … Dass ich gewürgt wurde, habe ich mir eingebildet. Ich leide oft an Haarausfall. Ich habe es aus freien Stücken geschrieben! Susanne F. Blatt 754: Ich Angelika W. habe Susanne F. getreten, geschlagen, gewürgt, verbrannt, Haare ausgerissen, geschubst, beleidigt, angespuckt, wenn sie mich extra provoziert hat. Herr Wilfried W. war dabei niemals zugegen und hat absolut nichts damit zu tun. A.W. „Wozu ist das geschrieben worden?“, fragt Emminghaus. Angelika W. erklärt, die Zettel hätten im Fall einer Strafanzeige als Nachweis für Wilfried W.s Unschuld dienen sollen. „Haben Sie das von sich aus gemacht?“, fragt Emminghaus. „Das hab ich von mir aus gemacht.“ – „Und das Schlagen, Schubsen, Würgen, hat er Ihnen dazu Anweisungen gegeben?“ – „Nein.“ – „Wilfried hat Ihnen nie konkret gesagt, was Sie machen sollen?“ – „Nein. Aber ich wusste, dass es in seinem Sinne ist.“ Andererseits: Wilfried mochte Frauen mit langem Haar, Angelika schor seine Gespielinnen kahl oder zwang sie, dies selbst zu tun. Wilfried war auf Reinlichkeit er40
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Angeklagter Wilfried W. (2. v. r.), Verteidiger: Das Leiden auf Video dokumentiert
Wie nahmen die gequälten Frauen die picht, Angelika kettete die Frauen nachts an und ließ sie nicht zur Toilette. Ob sie Rollenverteilung des Paars wahr? „Sie haeifersüchtig auf die Frauen gewesen sei? ben erzählt, Christel habe Sie ‚Kampfpan„Nein, ich wollte nur, dass er mich nicht zer‘ genannt“, fragt ein anderer Nebenklafallen lässt. Dass er mich abends kurz in gevertreter. „Hatte sie einen vergleichbaden Arm nimmt. Da hab ich drum gebet- ren Namen auch für Herrn W.?“ Angelika telt und geheult und gefleht, und er hat’s W. überlegt: „Ich glaube, Hase.“ Auch Wilfried W.s Verteidiger Detlev nicht gemacht.“ Um ihn zufriedenzustellen, sagt Angeli- Binder stellt unbequeme Fragen, sie zielen ka W., habe sie sich Strafen ausgedacht, auf Angelika W.s vermeintliche Opferrolle: die keine blauen Flecken hinterließen. „Angeblich hatten Sie Angst, mit ihm al„Die hätten auffallen können, im Super- leine zu sein. Und Angst, er könnte Sie markt.“ In den Akten liegt ein Video, auf fallen lassen – wie bringen Sie das zusamdem man Susanne F. sieht, abgemagert, men?“ „Sie haben gesagt, dass Sie Katzen kahl geschoren, wie sie sich müht, einen mögen. Warum haben Sie dann die Katze schweren Sack sinnlos die Treppe hinauf- in den Trockner gesteckt?“ – „Sie sagen, zuschleppen, dazu Angelika im Komman- Wilfried habe Ihnen nie Anweisung gegedoton: „Mach schon, du Schlampe! Schau ben, zu fesseln oder zu schlagen. Woher wussten Sie dann, dass er das wollte?“ dich doch an, du Stück Dreck …“ Angelika W. reagiert patzig auf Binders Ein Foto von Anika, der Vorsitzende fragt nach einer schwarzen Stelle am Knie. Fragen, dann verfällt sie auf eine neue Tak„Da hab ich sie verbrüht“, erklärt Ange- tik: Ab sofort werde sie seine Fragen nicht lika W. „Das war ihre Verantwortung. mehr beantworten. Es sei denn, der VorSie hat mich auf die Palme gebracht mit ih- sitzende Richter mache sie sich zu eigen. rem Fehlverhalten ihm gegenüber.“ Noch Das Spiel läuft fortan so: „Hatten Sie ein heute kann sie sich echauffieren: „Den schlechtes Gewissen gegenüber den FrauHund gestreichelt und sich mit ungewa- en?“, fragt Binder. Angelika W. schaut hischenen Händen an den Tisch gesetzt. nüber zum Richter, erteilt ihm mit einem Dann sollte ich für ihn rauskriegen: Warum Kopfnicken das Wort, Emminghaus echot: quält sie ihn so? Warum, warum? Da hätte „Hatten Sie …“ Angelika W. antwortet: „Nein.“ Und heute? „Ob die Reue groß in die Frau ja nur antworten müssen.“ Die Mutter des Opfers Anika W. sitzt als meinem Kopf angekommen ist, das kann Nebenklägerin im Saal, ihr Anwalt Roland ich nicht beurteilen“, sagt sie einmal. Aber sie kann stundenlang ausbreiten, Weber hinterfragt Angelika W.s Rechtfertigungen für ihr Tun: schlagen, um nicht was sie tat, nachdem Anika gestorben war. geschlagen zu werden, strafen, um die Frau- Ein Redefluss in geschäftsmäßigem Ton, en zu Wohlverhalten zu bringen, damit sie aus dem Wörter herausragen wie: Leiche, ihre Ruhe hatte. Anika mischte sie Gluta- Gefriertruhe, Fuchsschwanz, Maden, Beinmat ins Essen, das vertrug sie nicht, ihre scheibe, Ofen, Eimer, Asche, Schippe, Fett. Im Saal wird einigen übel. Angelika W. Gelenke schwollen davon an. „Warum haben Sie das gemacht?“ – hingegen lobt sich selbst für ihre Raffines„Um sie zu bestrafen, wenn sie wieder Feh- se: „Ich war schlauer als die Polizei.“ ler gemacht hatte.“ – „Wusste sie, dass sie von Ihnen angereichertes Essen bein „irritierender doppelter Normverkommt?“ – „Nein.“ – „Dann verstehe ich stoß“ liege vor, wenn nicht ein Mann, nicht die Motivation. Wenn das Opfer sondern eine Frau mit Gewalt- oder nicht weiß, dass es bestraft wird, kann es Sexualdelikten in Erscheinung trete, schreibt sich ja nicht verbessern.“ Da bleibt Ange- die Kriminologin Jutta Elz im Vorwort eilika W. die Antwort schuldig. nes Buches über „Täterinnen“. Um dieser
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IN DER SPIEGEL-APP
Irritation „Herr“ zu werden, würden sie nach. „Auf gar keinen Fall“, antwortet An„als Opfer ihrer Vergangenheit oder Ge- gelika W. wie aus der Pistole geschossen. genwart, Ungeheuer oder pathologischer Es habe ihr keinen Spaß gemacht, im GeFall wahrgenommen“ – aber kaum als ge- genteil, es sei lästige, schwere Arbeit gewesen, die ihr keine Zeit für anderes ließ. wöhnliche Gewalttäter. In welchem Maße Angelika W.s sadisti- Und das Holzstäbchen, das sie einer der sche Handlungen einer gestörten Persön- Frauen einführte? „Das war nicht sexuell, lichkeit entspringen, soll gegen Ende des sondern um sie zu demütigen.“ Noch einen Zettel liest der Vorsitzende Verfahrens die Psychiaterin Nahlah Saimeh erklären. Eine Theorie des krankhaf- vor, Blatt 761 der Akte: 07.04.16: Angelika W. hat mich, Susanne ten Sadismus besagt, der Täter reinszenieF., in die Badewanne gestoßen, mit meiner re Traumata aus der Kindheit. Aber Angelika W. hat nichts Passendes Zahnbürste die Toilette geputzt und mir aufzubieten. Als sie Kind war, habe ihre anschließend in den Mund gesteckt … AnMutter einmal gedroht, ihre geliebten gelika hat mir eine Salbentube in meiner Katzen aus dem Haus zu lassen, fällt ihr Nase ausgedrückt, bis ich Nasenbluten hatein. Ab und zu Taschengeldentzug. Und te. Susanne F. sonst? Nichts. Nur Wilfried. „Der hat mich „Ist das alles so passiert, wie es da steht, enttäuscht ohne Ende.“ Aber das kam Frau W.?“ – „Zum Teil ist noch mehr passpäter. siert“, sagt Angelika W. und legt noch mal Aufgewachsen ist Angelika W. auf ei- los: An dem Tag hätten sie unter Zeitdruck nem Bauernhof, ein einfaches Leben, der gestanden, weil sie Eier hätten ausliefern Umgang pragmatisch bis gefühlsarm, aber müssen: „Die gute Frau hatte sich mal wiewohl nicht lieblos. Angelika W. ist gut in der eingenässt, stand da, unten ohne, und der Schule, wird aber gehänselt, weil sie hat sich abgeduscht. Sie wurde und wurde dick ist. „Eine echte Freundin hatte ich nicht fertig.“ Nach der Sache mit der Zahnnie“, sagt sie. Das „Papakind“ lernt Trecker- bürste habe sie sich nicht mal beschwert: fahren, packt auf dem Hof mit an, be- „Sie ist mir noch frech gekommen.“ Das kommt Anerkennung durch Leistung. Sie habe sie „auf hundertneunzig“ gebracht: könnte aufs Gymnasium, lernt aber lieber „Susanne hat dann auf mein Reden selber Gärtnerin. Ihr erster Chef bietet ihr an, die Toilettenbürste genommen und sie sich den Laden zu übernehmen, aber sie traut in die Scheide gesteckt“, sagt Angelika W., Kunstpause. „Aber ganz rein!“ sich das nicht zu. Mit Ende zwanzig dann der erste Mann, Schweigen auf der Richterbank, dann ein Iraker aus der Gärtnerei, verheiratet. unterbricht Emminghaus erst mal die Ver„Ich bin beim Sex auf den Geschmack ge- handlung. Ein Blick in Angelika W.s Gekommen, aber ich wollte ihn nicht seiner sicht: Triumph. Frau ausspannen.“ Über eine Annonce Die Szene, wie Angelika W. sie ausbreilernt sie Wilfried W. kennen: Sonderschü- tet – so abstoßend, so banal, so böse –, ler, abgebrochene Ausbildung als Hunde- lässt das Saalpublikum wie betäubt zurück. führer, Autonarr ohne Führerschein. Da Diese Kälte, diese Brutalität, bei einer ist sie 29 und hat 165 000 Mark auf dem Frau! Hat man das zuvor schon mal erlebt? Konto, er ist 28 Jahre alt und hat Schulden. Doch, hat man. Bei Auftritten ehemaliEr sagt, sie sei seine große Liebe. Nach ger KZ-Aufseherinnen vor Gericht: Auch zwei Monaten heiraten sie. in deren Vorleben deutete meist nichts auf Schon in der ersten Woche ihrer Be- ihr sadistisches Potenzial. Im bürgerlichen kanntschaft, sagt Angelika W., habe er sie Leben wäre es kaum je hervorgetreten – geschlagen. „Aber er hat mir eingeredet, und wenn, wäre es als zutiefst unweiblich dass ich selbst schuld bin, dass er mich be- verabscheut worden. Ausgelebt im Setting strafen muss.“ Er habe von sich gesagt: der Konzentrationslager brachte es den „Ich bin das hohe Gericht.“ Manchmal Frauen jedoch Anerkennung und Aufstieg durfte sie sich ihre Strafe selbst aussuchen. ein, und wohl auch Lustgewinn. Später, längst hatte sie den Job in der Dorothea Binz, Aufseherin im FrauenGärtnerei aufgegeben, habe er ihr eine Art KZ Ravensbrück, schlug Frauen blutig und Drei-Punkte-Plan auferlegt: „Ich sollte ihm malträtierte sie mit ihren Stiefelabsätzen, Arbeit besorgen und einen Führerschein. hetzte ihren Hund auf sie und ließ ihnen Und eine neue Frau, als Entschädigung, die Haare scheren. Ehemalige Gefangene weil ich doch nicht seine Traumfrau war berichteten, man habe sie mit ihrem Liebund ihm drei Jahre gestohlen hatte.“ haber, einem SS-Offizier, Händchen halWilfried W.s Verteidiger fragt: „Der Gut- tend gesehen, wenn eine der Frauen auf achterin sollen Sie gesagt haben, es sei für den Prügelbock geschnallt und ausgeSie eine sexuell erregende Fantasie, ge- peitscht wurde. quält zu werden und einen Schlauch in die Im Untersuchungsgespräch soll die GutVagina eingeführt zu bekommen.“ achterin Angelika W. mit einem solchen Keine Antwort. Vergleich konfrontiert haben. Ihre Ant„Hatte es für Sie etwas Sexuelles, die wort: „Da hätte ich dann früher wohl einen Frauen zu quälen?“, hakt der Vorsitzende Orden bekommen.“ I DER SPIEGEL 8 / 2017
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Das Essen der anderen Rohe Eier zum Frühstück? Mehlwürmer zum Mittag? Oder ein Leben ohne Zucker? Welche Ernährung uns fit, gesund und glücklich macht, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Auf Blogs, Social-Media-Kanälen, in Büchern und TV-Shows preisen Anhänger der Paläo-, Rohkost- und ketogenen Diät ihre Ernährung an. Der Glaube an die eigene Heilkost ist groß, die Verwirrung beim Normalesser perfekt. Kann die Wissenschaft helfen? Sehen Sie die Visual Story im digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
JE TZ T D I GI TA L LES E N
Gestörte Beziehung Demokratie Die einen fühlen sich unverstanden, die anderen übergangen: Um Politiker und Bürger zu versöhnen, testen Kommunen neue Arten der Mitbestimmung.
E
ine kühne Vision hat den Wuppertalern schon einmal Weltruhm beschert. Vor mehr als hundert Jahren bauten sie ihre legendäre Schwebebahn. Nun soll ein weiteres Verkehrsprojekt Geschichte schreiben, eine Seilbahn, die den Hauptbahnhof mit den Südhöhen verbindet. „Zweimal im Leben durch Wuppertal schweben“, heißt es hoffnungsfroh in einem Zukunftskonzept von Stadtverwaltung, Stadtwerken, Stadtsparkasse und Universität. Doch kaum wurde das Vorhaben bekannt, bildeten sich zwei Lager. Gegner formierten sich in der Bürgerinitiative
„Seilbahnfreies Wuppertal“, ihr Logo zeigt eine durchgestrichene Gondel. Fans gründeten den Verein „Pro Seilbahn“ und feierten ihre Stadt „als Wiege von Technik und Fortschritt“. Und mittendrin standen die Lokalpolitiker, die entscheiden müssen. Solche Kämpfe gibt es in vielen Kommunen. Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren, Volksentscheide – quer durchs Land zieht sich eine Spur der Interessengruppen, auch des Widerstands und des Misstrauens gegen gewählte Volksvertreter. „Wenn wir es versäumen, unsere demokratischen Techniken zu erneuern, werden wir bald feststellen, dass unser ganzes System nicht mehr reparabel ist“, schrieb der belgische Autor David Van Reybrouck kürzlich im SPIEGEL (Nr. 47/2016). Er schlug vor, zu einem zentralen Prinzip der athenischen Demokratie zurückzukehren: dem Losverfahren. Dann müssten nicht mehr alle über etwas befinden, wovon nur wenige etwas verstehen. Ein zufällig ausgewählter Teil der Gesellschaft soll stattdessen entscheiden: „Ein Querschnitt der Gesellschaft, der informiert ist, agiert vernünftiger als eine ganze Gesellschaft, die nicht informiert ist.“ In diesem Sinne wollte auch Panagiotis Paschalis „neue Wege ausprobieren“. Er
leitet in Wuppertal das Amt für Bürgerbeteiligung, es ist das erste seiner Art in Deutschland. Über dem Eingang des Rathauses steht, in Anlehnung an Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“, auf einem Plakat: „Lasst uns einfach mehr Wuppertal wagen“. Also wagte er in Wuppertal, was vor zwei Jahrtausenden in Athen üblich war: das Los entscheiden zu lassen. Per Zufallsprinzip wurden im Melderegister 1000 Einwohner ausgewählt. Es sollten, sagt Paschalis, nicht „die üblichen Verdächtigen, die sich sowieso immer für oder gegen was engagieren“, das Projekt dominieren. Michelle Pahl, 36, gehört zu jenen, die das Losglück traf. Die Biologin hat einen Job an der Universität und zwei Hobbys: Ballett und Angeln. „Politisch“ sei sie eher „in der Mitte“ verortet gewesen, sagt sie: interessiert, aber nicht parteipolitisch engagiert, vor jeder Wahl habe sie sich neu entschieden. Nur zuletzt habe sie „nicht mehr gewusst, was ich noch wählen kann“. Pahl hätte eine jener Enttäuschten werden können, die sich von der Politik abwenden. Dann kam die Post von ihrem Oberbürgermeister mit der Bitte, sich als Bürgergutachterin zu engagieren. Pahl war begeistert: „Eine großartige Idee, mit sei-
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KARSTEN THIELKER / DER SPIEGEL
Deutschland
Beraterin Jain „Für wen machen die eigentlich Politik?“
nen Bürgern und deren Wissen umzugehen.“ Gemeinsam mit 47 anderen Anwohnern bildete sie daraufhin „Planungszellen“, in denen verschiedene Aspekte des Seilbahnprojekts behandelt wurden. Vier Tage lang lauschte sie Experten zu Themen wie Baurecht, Finanzen oder Schattenwurf. Sie inspizierte ein Teilstück der möglichen Seilbahnroute, 2,8 Kilo-
meter lang, 165 Meter Höhenunterschied. Sie diskutierte mit der Bürgerinitiative, die für die Bahn streitet, und mit jener, die dagegen ist, sowie mit Mitgliedern des Kleingartenvereins „Edelweiß“, die um ihre Grundstücke fürchten. In Kleingruppen besprachen sie dann Detailfragen, und damit niemand sich zum Meinungsführer aufschwingen konnte, wurden die Gruppen immer wieder neu gemischt. Anstrengend, aufregend und komplex sei das gewesen, sagt Pahl: „Ich habe Respekt gewonnen vor jenen, die sich dauernd mit so was beschäftigen.“ Während die Bürger vier Tage lang Fachwissen erwarben, waren die Politiker der Stadt zum Zuschauen verdammt – eine Demokratieschule für beide Seiten. Das Konzept der Planungszelle gehört zum Instrumentenkasten des Berliner Nexus-Instituts, das in Wuppertal eingeschaltet wurde und schon viele Kommunen in Streitfällen beraten hat. „Der Ton hat sich verschärft“, sagt Nexus-Mitarbeiterin Angela Jain. Zu oft gehe es bei Konflikten zwischen Bürgern und Politik um das „Rechthaben, das Gewinnen“ und nicht mehr um die beste Lösung. „Wir reden ja nicht mehr nur über die sogenannten Abgehängten“, sagt die Beraterin. „Die ge-
sellschaftliche Mitte fühlt sich bedroht und fragt sich: Für wen machen die eigentlich Politik?“ An erster Stelle stehe immer die „frühzeitige Information“ – auch über die Grenzen der Bürgerbeteiligung. Am Ende müsse jemand die Verantwortung tragen. Und wenn man doch einsam entscheide, schulde man wenigstens Transparenz: „Die Menschen müssen nachvollziehen können, wie und warum Entscheidungen zustande kommen.“ Im November übergaben die Mitglieder der Planungszellen ihr Gutachten an den Oberbürgermeister. Eine deutliche Mehrheit sprach sich grundsätzlich für die Seilbahn aus, benannte aber auch offene Fragen. Nun soll der Rat der Stadt über das weitere Vorgehen entscheiden. Michelle Pahl hat durch ihre Arbeit in der Planungszelle, wie sie es ausdrückt, „einen Schub bekommen“. Sie verstehe Politik besser und interessiere sich jetzt auch wieder mehr für die Abläufe. Sie kann sich sogar vorstellen, dass künftig ein Teil der Parlamentssitze nicht über Wahlen vergeben wird, sondern, wie bei der Planungszelle, per Zufall an Bürger. „Das wäre doch eine hübsche Mischung!“ Markus Deggerich
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2004/2005
1995/ 1996
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In der Spielzeit 1991/ 1992 gab es 3387 Inszenierungen an öffentlich getragenen Theatern in Deutschland.
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Früher war alles schlechter Nº 60: Theaterinszenierungen
Von wegen „Theatersterben“. In den Neunzigern wäre es unvorstellbar gewesen, eine Shakespeare-Inszenierung von Peter Stein zu Hause auf dem Sofa zu sehen oder in der Badewanne, mit Prosecco im Kühler und dank YouTube völlig umsonst. Kein Anstehen nach Tickets, Pause nach Belieben, Gähnen ebenso. Es ist sehr viel schwerer, Leute ins Theater zu locken. Dennoch gelingt es. Die Zahl der Inszenierungen an öffentlichen Bühnen ist heute um 50 Prozent höher als in der Spielzeit 1991/92. Die Deutschen gehen weiter massenhaft in ihre Theater, trotz Netflix. Und bei diesen Zahlen sind die elf Millionen Besucher privater Bühnen noch gar nicht gezählt. Weshalb ist das so? Weil das Angebot sich genauso auf-
gefächert hat wie die Vorlieben des Publikums. Die Zahl der Besucher kreist seit Jahrzehnten um die 20-Millionen-Marke pro Spielzeit, die Menge verteilt sich aber auf die stetig wachsende Zahl an Inszenierungen. Man spielt in Fabrikhallen, im Foyer oder auf kleinen Studiobühnen. Deutschland verfügt über die weltweit höchste Theaterdichte. Es gibt 142 öffentlich getragene Stadttheater, Landesbühnen und Opernhäuser. Dazu kommen rund 220 Privattheater, etwa 60 Sinfonie-, Kammer- und Rundfunkorchester und circa 70 Festspiele. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat Deutschlands Theater- und Orchesterlandschaft gerade bei der Unesco als immaterielles Weltkulturerbe nominiert.
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Trends
Lickefett: Das ist unser Haupt-
Gordon Lickefett, 34, Sprecher des Bundesverbands Tattoo, über Selbstzerstörung SPIEGEL: Herr Lickefett, es ist
zum Trend geworden, sich selbst zu tätowieren. Wieso machen Menschen das? Lickefett: Es kostet fast nichts, und vielleicht empfinden Menschen, die das machen, diesen Vorgang als besonders individuell und persönlich. SPIEGEL: Birgt das Risiken für Laien? Lickefett: Ja, ein Laie weiß nicht, in welche Hautschicht 44
DER SPIEGEL 8 / 2017
die Farbe gehört. Ein Laie weiß nicht, wie sich die Tiefe der Hautschichten am Fuß und am Hals unterscheidet. Es besteht das Risiko, sich mit Infektionskrankheiten anzustecken und dass sich das selbst gestochene Tattoo entzündet. Im schlimmsten Fall droht ein anaphylaktischer Schock, eine Abwehrreaktion des ganzen Körpers. Das kann tödlich enden. SPIEGEL: Warum nehmen Menschen diese Risiken in Kauf? Lickefett: Ich denke, das hat was mit Abenteuerlust, Risikofreude und Dummheit zu tun. SPIEGEL: Sie sind Geschäftsführer von Tattoosafe und verkaufen Tattoobedarf.
geschäft, ja. SPIEGEL: Sie liefern also Menschen einer Gefahr aus. Lickefett: Wir verlangen seit vielen Jahren von unseren Kunden einen Gewerbeschein, der beweist, dass sie
CONTRAST / ACTION PRESS
Warum ist hässlich plötzlich cool, Herr Lickefett?
als professionelle Tätowierer arbeiten. Das ist unser Weg, den Markt zu regulieren, weil es keine Gesetze gibt, die das tun. SPIEGEL: Welche Motive sind beliebt bei Selbsttätowierern? Lickefett: Die können sich natürlich kein Porträt der Mama auf den Oberschenkel stechen, weil sie nicht wissen, wie das geht. Die Motive sind meist eher kindhafte Strichzeichnungen. SPIEGEL: Also eher hässlich als cool? Lickefett: Die Selbsttattoos stechen sich vor allem junge Menschen, denen wohl sonst der Weg fehlt, sich individuell auszudrücken. In ihrem Kosmos sind sie dann die Coolsten. twu
QUELLE: DEUTSCHER BÜHNENVEREIN
Bühne
2014 /2015
Gesellschaft alt war, als im Januar 1989 ihr Ururururenkel geboren wurde. Seitdem führt das Guinnessbuch der Rekorde sie als Familie mit den meisten gleichzeitig lebenden Generationen. Nämlich sieben. Nicht zu finden war für Gwen, wie viele Familien es Eine Meldung und ihre Geschichte Warum mit sechs Generationen gibt. Klar wurde: Es sind nur wedie kanadische First Lady zu einer nige. Und wenn es sie mal gibt, werden sie beschrieben ungeplanten Schwangerschaft gratulierte wie ein Naturereignis und dokumentiert mit eingescannten Schwarz-Weiß-Fotografien. Die Nachricht von der Sechsgenerationenfamilie aus era Sommerfeld, 96, gilt in ihrer Familie und darüLethbridge in Kanada ging in der Adventszeit um die ber hinaus als ausgezeichnete Gastgeberin. In dieWelt, als handle es sich um eine besondere Form des ser Eigenschaft stellt sie etwa einmal im Monat Weihnachtsmärchens. Mehrgenerationenfamilie – das Snacks für die Besucher und Rum-Limo für sich selbst klingt ja auch tatsächlich so wohlig märchenhaft, so vollbereit. Dann nämlich erwartet sie in ihrem Häuschen in kommen aus der Zeit gefallen. Nach Bauernhaus und geder kanadischen Stadt Lethbridge Besuch von ihrer Tochteiltem Badewasser. Tatsächlich ter, die Gwen heißt und 75 Jahre aber steht die Familie von Vera alt ist und wiederum selbst eine Sommerfeld, wenn überhaupt, für Tochter hat, die Grace heißt und die Segnungen der Moderne. Noch 59 Jahre alt ist und wiederum im 19. Jahrhundert waren Mütterselbst eine Tochter hat, die Amanund Säuglingssterblichkeit so hoch, da heißt und 39 Jahre alt ist und dass Großeltern nicht selbstwiederum selbst eine Tochter hat, verständlich zum Leben gehördie Alisa heißt, 20 Jahre alt ist und ten. Erst mit der steigenden seit vier Monaten wiederum selbst Lebenserwartung stieg die Anzahl eine Tochter hat, die Callie heißt. von Mehrgenerationenfamilien. Lethbridge liegt am Rand der Die kleine Sensation einer SechsPrärie, nicht weit von den Rocky generationenfamilie wird möglich Mountains entfernt, aus denen durch den medizinischen Fortregelmäßig ein warmer Fallwind schritt und das, was Bevölkerungsdurch die Stadt weht, der Chinook forscher den „Generationenabheißt. Nach ihm ist das KrankenFamilie Sommerfeld stand“ nennen. haus in Lethbridge benannt, in Generationenabstand bezeichdem am 7. Oktober um zwölf Minet den durchschnittlichen Altersnuten nach sechs am Morgen Aliunterschied der Eltern- und Kinsas Baby geboren worden ist. dergeneration, im Schnitt sind das Alisa hatte damit gerechnet, heute 31 Jahre in Kanada. Die dass in der Zeitung von Lethbridge Frauen der Familie Sommerfeld eine Geburtsanzeige erscheinen waren immer schneller. Vera Somwürde. Es erschien allerdings ein merfeld war 21, als sie Mutter wurganzer Artikel. Danach riefen de. Gwen war 16. Grace war 19. Radio- und Fernsehsender an, soAmanda war 18. gar die BBC. Als schließlich SoAlisa schließlich war 20 Jahre phie Grégoire Trudeau, die Frau alt. Sie hatte nicht geplant, so früh des kanadischen Premierministers Aus der „Süddeutschen Zeitung“ ein Baby zu bekommen. In LethJustin Trudeau, auf Facebook grabridge hatten sich die Leute oft genug das Maul zerrissen tulierte, wusste Alisa, dass wirklich etwas Besonderes geüber unverantwortliche Teenagerschwangerschaften, über schehen war. Babys, die die Zukunft der Eltern ruinierten. Dabei, sagt Alisa erzählt gern von ihrer Kindheit. Sie erzählt, wie Alisa, habe keines dieser Kinder die Mütter jemals von irsie mit ihrer Mutter Amanda in alle Achterbahnen des Freigendetwas im Leben abgehalten. Die Nachkommen der zeitparks stieg, wie sie mit ihrer Großmutter Grace zum Vera Sommerfeld seien allesamt willensstark. Zelten an den Red Deer River fuhr, wie sie mit ihrer UrAls ihr im vorigen Jahr erst schlecht wird und sich dann großmutter Gwen Erdnussbutterkekse buk, wie sie in den der Schwangerschaftstest positiv färbt, ist ihr deshalb Sommermonaten das Gemüse im Garten ihrer Ururgroßgleich klar, dass sie das Baby bekommen will. Sie sagt, sie mutter Vera erntete oder mit ihr die Enten füttern ging. sehe viele Vorteile darin, eine junge Mutter zu sein. Sie Nie, sagt sie, habe sie darüber nachgedacht, dass sie eine denke gern darüber nach, welche Sportarten Baby Callie außergewöhnliche Familie haben könnte. Und dass, als sie eines Tages wohl mögen und dass sie selbst noch jung geschwanger wurde, eine kleine Sensation in ihrem Bauch nug sein werde, gemeinsam mit ihrem Kind zu trainieren. heranwachsen würde, auch daran habe sie nicht gedacht, Am 6. Oktober bringt Alisas Ehemann sie ins Chinooksagt sie. Doch seit der Geburt besteht die Familie SommerKrankenhaus. Als das Baby zur Welt kommt, ist auch Alifeld aus sechs Generationen, das Baby Callie hat Vera Somsas Mutter im Kreißsaal. Später kommen die anderen merfeld zur Urururgroßmutter gemacht, eine Seltenheit, Frauen der Familie, eine nach der anderen. Um kurz nach die von Familienforschern als Sensation bezeichnet wird. elf Uhr sind sechs Generationen zusammen im Raum. Es war Gwen, Callies Ururgroßmutter, die als Erste eine Und Vera Sommerfeld hält ihre Urururenkelin im Arm, Ahnung hatte. Sie setzte sich an den Computer und suchte ein Kind, von dem man ausnahmsweise behaupten darf, bei Google nach Familien mit sechs Generationen. Sie dass es ein ganz besonderes ist. fand heraus, dass eine gewisse Augusta Bunge 109 Jahre Maren Keller
Ururur
TIJANA MARTIN / LETHBRIDGE HERALD
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Gesellschaft
Löwenjungen Schicksale Die Brüder Nadim und Khalid sind 12 und 13 Jahre alt, als sie der IS verschleppt. Sie werden gefoltert, umerzogen und mit Sprengstoffwesten nach Kirkuk geschickt, um Ungläubige und sich selbst in die Luft zu jagen. Einer der beiden schreckt im letzten Moment zurück. Von Claas Relotius
V
ier Minuten bevor Nadim, Kind mit Ziegenmilchhändler am Marktplatz sagt, geröteten Augen, den Auslöser an der Junge sei ganz plötzlich losgerannt, seiner Weste ergriff, um sich mit schreiend in die Menge. Zwei Schuhputzer neuneinhalb Kilo Sprengstoff in den Tod behaupten, er habe laut gerufen „Allahu zu reißen, riefen die Muezzine von Kirkuk akbar“, Gott ist groß. Der Polizist, der über Lautsprecher in alle Viertel der Mil- Nadim packte und im letzten Moment lionenstadt zum Abendgebet. Es war ein stoppte, gab noch am Abend, vor FernsehSonntagabend im August, noch immer laut kameras, zu Protokoll: „Er wollte jeden und heiß, genau sieben Uhr. Die Sonne von uns töten.“ Doch keiner dieser Zeugen, kein über dem Nordirak war gerade untergegangen, Hunderte Gläubige strömten Mensch in Kirkuk ahnte, dass Nadim, das zur blauen Moschee neben dem Markt- Kind mit der Bombe um den Bauch, nicht platz, da näherte sich, unbemerkt, aus allein gekommen war. Niemand rechnete einer der engen Backsteingassen, ein dün- damit, dass Nadims Bruder, Khalid, ein ner Junge mit schwarzem Haar und schma- Junge von 13 Jahren, im Augenblick von Nadims Festnahme auf eine zweite Molen Schultern. Nadim, 12 Jahre alt, ging vorbei an Im- schee zulaufen würde, nur in einem andebissläden und Handyshops, an Gemüse- ren Viertel, mit einem weißen Trikot am ständen und Schmuckgeschäften, überall Leib und der gleichen Sprengweste darunstanden Menschen. Er sah alte Männer, ter. Ihre Explosion, so beschwören es Eindie vor den Teestuben Pfeife rauchten, jun- wohner noch Wochen danach, war in der ge Frauen, die Gewürze oder Kleider kauf- ganzen Stadt zu hören, sie hallte durch ten, Kinder in seinem Alter, die auf der Kirkuk wie ein Donner. Die Brüder Nadim und Khalid, heißt es Straße Fußball spielten. Er selbst trug ein viel zu großes rot-blaues Trikot des FC dort heute, kamen aus Mossul, um zu morBarcelona, Rückennummer 10, Aufdruck den, als kaltblütige Killer, Kämpfer des „Messi“. Die Ärmel, so sollte später im „Kalifats“. Dabei waren sie einmal einfach Terrorbericht der Polizei von Kirkuk ste- nur Jungen, die Söhne eines Bauern, gehen, reichten über seine Hände, der boren im Irak. Die Geschichte von Nadim und Khalid Schnitt auffällig weit für seinen Körper; „weit genug, um etwas Schweres darunter ist die Geschichte zweier Kinder, die als Waffen benutzt wurden. Sie handelt von zu verstecken“. Nadim atmete schnell und heftig. Über zwei Geschwistern, die der „Islamische seiner Brust kreuzten sich zwei Drähte, Staat“ verschleppte und zu Selbstmördern verbanden vier Taschen voll Dynamit mit erzog; die in Lagern ohne Entkommen einem Knopf an seiner Hüfte. Zum Ein- das Töten lernten und eines Tages ausgang der Moschee, seinem Ziel, waren es geschickt wurden, sich unter Kurden in die Luft zu sprengen. Nur einer von ihnur noch wenige Meter. Über das, was dann geschah, gibt es heu- nen, Nadim, der Jüngere, kann diese Gete viele Erzählungen. Es gibt Zeugen, die schichte noch erzählen. Nur er hat übererinnern sich, Nadims Blick sei „voller lebt. Das Hochsicherheitsgefängnis der AutoHass“ gewesen, und es gibt andere, die sprechen nur von „blanker Angst“. Ein nomen Region Kurdistan ist eine schwere, 46
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sandfarbene Festung, gebaut für 3000 Gefangene, inmitten einer Wüste. Sie liegt nahe der Stadt Dschamdschamal, eine knappe Autostunde östlich von Kirkuk, fünf Stunden nördlich von Bagdad, nahe der Grenze zu Iran. Wer als Journalist an diesen Ort fährt, wer sicher hinter seine Mauern führen lässt, um Nadim zu besuchen, der muss durch insgesamt sechs Sicherheitsschleusen; vorbei an Checkpoints, vor denen Soldaten mit Maschinengewehren wachen,
AKO RASHEED / REUTERS
Gestoppter Attentäter Nadim, irakische Sicherheitskräfte am 21. August 2016 in Kirkuk: Ein Kind voller Hass oder voller Angst?
vorbei an meterhohen Stacheldrahtzäunen, bis hinter zwei gepanzerte Türen, die vom Trakt für verurteilte Schwerverbrecher in den Trakt für Kämpfer des „Islamischen Staates“ führen. Mehr als 150 Männer sitzen dort in den Zellen, Gefangene aus dem ganzen Irak, Terroristen, Mörder, Massenmörder und seit 30 Tagen auch ein Kind. Seine Zelle liegt am Ende eines langen Flures, ein kalter Raum hinter einer Eisentür, 1,8 Meter lang, 2,5 Meter breit, ohne
Fenster. Eine Glühbirne flackert, aus einem Loch im Boden, der Toilette, steigt übler Geruch. Daneben, auf einer Pritsche, liegt Nadim und starrt gegen die Decke. Ein Junge in Häftlingskleidern, mit hoher Stimme und tiefen Augenrändern, „Marhaba“, hallo, sagt er leise. Es ist ein Nachmittag Ende November, drei Monate nach dem Anschlag seines Bruders, drei Monate nachdem Nadim in Kirkuk verhaftet wurde. Er sieht jetzt noch dünner, kindlicher aus als auf den
Fotos, die damals um die Welt gegangen sind; verwackelte Bilder, gesendet im kurdischen Fernsehen und in den Nachrichten auf CNN, sie zeigten einen weinenden, halb nackten, in Panik schreienden Jungen, festgehalten von Soldaten, die ihm die Sprengweste vom Körper schnitten. Nadim wehrte sich kaum, er schlug nicht um sich, er rief nur den Namen seines Bruders: „Khalid, Khalid!“ Vielleicht, sagt einer der Soldaten, habe er sie warnen wolDER SPIEGEL 8 / 2017
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len. Wahrscheinlich, sagt ein anderer, sei es dafür schon zu spät gewesen. Nachdem die Bombe im benachbarten Stadtteil Kirkuks explodiert war, nachdem sie Nadim in einem Polizeitransporter ins Gefängnis der Stadt gebracht hatten, sprach der Junge fast kein Wort. Er aß nicht, schlief nicht, tagelang. Jede Nacht, berichten Wärter, kreiste er im Dunkel seiner Zelle wie ein Tier. Jeden Morgen, sobald es hell wurde, holten ihn Männer in Uniformen, brachten ihn in einen grellen Raum, wo sie ihn neun Stunden am Tag verhörten. Nadim saß in Handschellen auf einem Stuhl aus Plastik, er sah keinem der Männer in die Augen. Woher er komme, wer ihn und seinen Bruder geschickt habe, fragten sie, wieder und wieder, aber Nadim antwortete nicht. Er schwieg Tage, Wochen, fast zwei Monate. Als im Oktober, etwa 150 Kilometer entfernt, die Offensive der irakischen Armee auf Mossul begann, als der „Islamische Staat“ bald darauf Viertel in ganz Kirkuk angriff, wurde Nadim verlegt und aus der Stadt gebracht. Er kam nach Dschamdschamal, zusammen mit anderen Gefangenen, erst hier fand er eines Morgens im November, ängstlich, seine Stimme wieder. Es begann mit einer Handvoll bunter Wachsmalstifte. Ein Gefängnisarzt ließ sie ihm geben, dazu Bögen aus Malpapier, halb so groß wie seine Pritsche. Nadim sollte malen, worüber er nicht sprechen konnte. Er sollte zeichnen, was ihm widerfahren war. Es vergingen drei Tage und vier Nächte, und dann nahm er die Stifte, dann begann er zu sprechen, dann zeichnete und malte er Seite um Seite, in dunklen Farben und in so einfachen Bildern, wie nur Kinder sie malen, seine eigene Geschichte auf. Einige dieser Bilder handeln von einer friedlichen Kindheit, von bunten Tieren und von Jungen, die Fahrrad fahren oder auf Berge klettern. Andere zeugen von Gewalt, von Folter, Schlägen und Enthauptungen, von bärtigen Männern, die finster und riesengroß erscheinen. Nur Nadim selbst kennt ihre ganze Wahrheit. Aber das, was seine Bilder zeigen, ähnelt den Berichten anderer Kinder, die dem „Islamischen Staat“ entkommen sind. Die Geschichte von Nadim und Khalid setzt sich zusammen aus dem, was er einem Gefängnisarzt von Dschamdschamal erzählt und anvertraut hat, in leisen Worten und in Skizzen von Unsagbarem. Sie beginnt irgendwann vor einem Jahr, im entlegenen Osten des Irak, in einem Bauerndorf der Provinz Dijala. Nadim ist zwölf, ein schmales Kind, das lieber Rechenbücher als den Koran studiert, das nach der Schule angeln geht oder seinen Eltern, Viehhirten, bei der Arbeit 48
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hilft. Sein Bruder Khalid ist 13, schüchtern und blass. „Er hatte Angst vor Ziegen und Kühen“, sagt Nadim, auf jedem Bild von seiner Heimat kommen Tiere vor. Die Familie lebt in einem erdbraunen Haus aus Stein und Lehm. In den Garten davor hat Nadim hohe, strichförmige Palmen gezeichnet, deren Kronen voller roter und gelber Punkte sind, es sollen Granatäpfel und Datteln sein. Die Brüder teilen sich ein Zimmer. Beide gehen in die dritte Klasse, beide haben schon einmal etwas vom „Islamischen Staat“ gehört, haben marschierende Kämpfer im Fernsehen gesehen. Mossul, die ira-
Armen ihrer Mütter, schießen denen, die sich wehren oder fortrennen, in den Rücken. Nadim und Khalid wehren sich nicht. Mit ihrer Schwester Ayalah und anderen Jungen und Mädchen steigen sie stumm auf einen Laster. Ihr Vater, Muhammad, fleht um seine Tochter. Ihre Mutter, Amira, bittet, den Kindern nichts anzutun. Nadim hört, wie seine Eltern weinen, er hört ihre Stimmen, dann vier oder fünf Schüsse, plötzlich wird alles still. Als die Kinder auf dem Laster das Dorf verlassen, sehen Nadim und Khalid ihre Eltern auf der gefrorenen Erde liegen. Die
Nadim-Zeichnung einer Enthauptung: An Puppen und Tieren das Töten geübt
kische Hochburg der Dschihadisten, liegt nur ein paar Stunden entfernt, aber ihre Eltern haben keine Furcht. Ihre einzige Tochter, Ayalah, 16, soll im Frühling heiraten. Sie planen ein großes Fest, auf Nadims Bildern liegt Schnee auf den Bergen, als eines Abends im Winter zwei Dutzend Fremde auf Pick-up-Fahrzeugen ins Dorf kommen. Die Männer tragen Turnschuhe, Kampfanzüge und lange Bärte, auf ihren schwarzweißen Fahnen die Schahada, das Bekenntnis zum Islam. Sie recken Gewehre in die Luft, überfallen jedes Haus und befehlen den Familien, sich am Dorfbrunnen zu sammeln. Dort trennen sie die Alten von den Jungen, zerren Mädchen aus den
Mutter auf dem Rücken. Den Vater auf dem Bauch. Die Fremden fahren mit ihnen, in Dunkelheit und Kälte, die ganze Nacht durch die Wüste. Auf Bildern, die Nadim fast ein Jahr später im Gefängnis malen wird, sind viele der Kinder gefesselt. Nadim malt kleine Strichmännchen ohne Gesicht, manche haben kurze Haare, andere haben Zöpfe, um ihre Arme und Beine malt er Kreise, die aussehen wie Seile. Als der Laster im Morgengrauen, am Ufer des Tigris, eine große Stadt erreicht, sehen Nadim und Khalid ockerfarbene Häuser, Tempel, Märkte, auf den Straßen nur Männer, keine Frauen. Schwarz-weiße Fahnen wehen über Mossul.
Gesellschaft
beim Predigen ein Messer in der Hand hält. Er redet laut auf sie ein, befiehlt ihnen, Verse nachzusprechen, die Nadim und Khalid zu Hause, im Koranunterricht ihrer Dorfschule, noch nie gehört haben. Nadim hat keinen dieser Verse vergessen. Er sitzt in seiner Zelle, er sagt sie nacheinander auf, wie schüchterne Kinder Gedichte aufsagen, zu Boden sehend, atemlos. Sure 9, Vers 41: Ziehet aus, leicht und schwer, und eifert mit Gut und Blut in Allahs Weg.
CLAAS ROLOTIUS / DER SPIEGEL
Ihre Entführer bringen sie in ein Lager, zusammen mit mehr als hundert Jugendlichen. Es sind Jungen und Mädchen aus allen Gegenden des Irak, aus eroberten Städten und aus niedergebrannten Dörfern, die ältesten von ihnen sind 16, die jüngsten noch keine 8. Die Männer geben ihnen Süßigkeiten. Sie sagen den Kindern, sie würden jetzt hier leben und ihre Eltern nie mehr wiedersehen. Die Mädchen, sagen sie, sollen den Kämpfern Mossuls dienen und dem „Islamischen Staat“ neue Kinder schenken. Die Jungen, sagen sie, sollen im „Kalifat“ zur Schule gehen, den Umgang mit Waffen
Türluke in Nadims Gefängniszelle: 1,8 Meter lang, 2,5 Meter breit, ohne Fenster
üben und jeden Tag mehr über den „heiligen Krieg“ erfahren. Und eines Tages, wenn sie stark genug seien, Großes zu vollbringen, würde man ihnen den Namen „Laith“ geben, Löwen. Nadim und Khalid verstehen nicht, aber sie fürchten sich und stellen keine Fragen. Die Männer sperren sie in ein großes, dunkles Haus, so beschreibt es Nadim, mit 70 anderen Jungen sollen sie auf dem Boden schlafen wie Soldaten. In der ersten Nacht schläft keines der Kinder und auch nicht in der zweiten. Am Anfang, berichtet Nadim, beginnen alle Tage mit Gebeten. Ihre Schule ist eine zerstörte Moschee, ihr einziger Lehrer ein Mann, der sich Imam nennt und
In Mossul lernen sie diese Verse auswendig, sechs Stunden am Morgen, vier Stunden am Abend. Sure 2, Vers 193: Und bekämpfet sie, bis die Verführung aufgehört hat und der Glaube an Allah da ist. Der Lehrer bringt ihnen bei, dass es nur einen wahren Glauben gebe und nur ein wahres Kalifat. Sure 2, Vers 191: Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt. Zehnmal am Tag, in weißen Gewändern, singen sie Lieder über Mossul, Rakka und
Blutvergießen, bis Nadim und Khalid davon träumen. Sure 9, Vers 39: So ihr nicht auszieht, wird Er euch strafen mit schmerzlicher Strafe. Sie singen, mit schwarzen Stirnbändern, dass nicht zu kämpfen Sünde sei und im Krieg zu sterben das kostbarste Geschenk. Sure 4, Vers 74: Und so soll kämpfen in Allahs Weg, wer das irdische Leben verkauft für das Jenseits. Und wer da kämpft in Allahs Weg, falle er oder siege er, wahrlich, dem geben wir gewaltigen Lohn. Einmal in der Woche, wie bei einer Prüfung, fragt der Imam die Verse ab. Macht einer der Jungen Fehler, werden alle bestraft, mit Peitschenhieben und Schlägen. Bärtige Männer prügeln mit Stöcken auf ihre Rücken, 200 Hiebe auf nackte Haut, bis die jüngsten Kinder bewusstlos werden. In stillen Nächten, wenn sie nebeneinander im Schlafsaal liegen, hört Nadim andere Jungen weinen. Auch Khalid, seinen Bruder. Sie wissen nicht, wo sie sind, weshalb sie festgehalten werden und wie lange noch. Sie wissen, dass ihre Eltern tot sind, aber wollen es nicht glauben. Heimlich sprechen sie zu ihnen, beten um Hilfe, aber niemand hört sie, niemand kommt, um sie zu retten. Nach zwei oder drei Monaten, als der Winter vorüber ist, so erzählt es Nadim, lernen sie, in kleinen Gruppen Sprengsätze zu basteln. Sie lernen an Holztischen wie in Klassenzimmern, wie man schwarzes Pulver und Nägel vermischt, in Taschen füllt, diese Taschen durch Drähte miteinander verbindet, sie gezielt zur Explosion bringt. Einmal, als sie auf einer Straße in Mossul das Zünden üben, sehen sie in der Ferne ihre Schwester. Sie erkennen sie nur an ihrem Gang, schwarz verhüllt bis auf die Augen, ein schwerer, grauhaariger Mann an ihrer Seite. Ayalah nickt ihren Brüdern zu, aber sie redet nicht mit ihnen. Sie verschwindet in einem Haus, der Mann geht hinter ihr her. Es ist das letzte Bild, sagt Nadim, das er von seiner Schwester hat. In Dschamdschamal sitzt der Junge, in sich zusammengesunken, auf seiner Pritsche. Seine nackten Füße hängen in der Luft, berühren kaum den Boden. Er sieht keinem Fremden, der in seine Zelle tritt, je in die Augen, er weicht allen Blicken aus. Manchmal, wenn er erzählt, spricht Nadim hastig wie ein Kind und manchmal kalt und fluchend wie ein Greis. Aber er spricht nie geordnet, immer durcheinander, so als würden in seinem Kopf zu viele Stimmen laut. Er hat die Mädchen aus seinem Dorf nie wiedergesehen, sagt Nadim, er weiß nicht, DER SPIEGEL 8 / 2017
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ob sie und seine Schwester heute noch am Leben sind. Über Mossul wird es Frühling, Khalid und er hören die Vögel singen, erzählt Nadim, als für die Jungen in der Moschee das Beten endet. Der Imam bestellt einen Fernseher und zeigt den Jungen ein Video. Dieses Video, stundenlang, unterlegt mit den aufgezeichneten, hellen Gesängen der Kinder, zeigt explodierende Autos und Häuser, Panzer, die auf Menschen schießen, Männer, die Knienden den Kopf abschlagen, Frauen und Soldaten, die in Käfigen verbrennen. Keiner der Jungen darf wegsehen. Nadim und Khalid wird schwindelig, ihr Bauch zieht sich zusammen, sie müssen sich übergeben. Das Video, es verfolgt sie Tag und Nacht, aber bald zeigt der Imam es jeden Morgen, bald sollen die Jungen selbst das Töten lernen. Die Männer geben ihnen scharfe Messer und Stoffattrappen in orangefarbenen Overalls, mit heller Haut und blonden Haaren. Sie sagen, sie sollen das Enthaupten üben. Die Jungen gehorchen. Sie schneiden den Puppen die Kehle durch, dann trainieren sie es an Hühnern und an Hunden. Eines Morgens, als Vermummte einen Mann an Ketten ins Lager der Kinder führen – einen Ungläubigen, sagen sie –, drücken sie einem der Jungen einen Dolch in die Hand, befehlen ihm, den Gefangenen zu schächten. Der Junge, keine 14 Jahre alt, Sommersprossen, weint, schlägt die Hände vor sein Gesicht. Sie geben ihm eine weiße Pille, er spült sie mit Wasser oder Limonade hinunter. Dann tötet er, zitternd, einen Menschen. Nadim sieht die Bilder noch immer vor sich, er hört noch immer die Geräusche. Ein halbes Jahr später, im Gefängnis von Dschamdschamal, hockt er in seiner Zelle und macht die Bewegung nach, führt Daumen und Zeigefinger an seinen Hals wie eine Klinge. Er habe das Töten in Mossul hundertmal geübt, sagt er. An Puppen. An Tieren. Auch an Menschen? Nadim schüttelt den Kopf, sieht zu Boden. Vor ihm, auf kaltem Beton, liegen Bilder, die er Stunden zuvor gemalt hat. Es ist vor allem Gewalt darauf zu sehen, viel Rot, viel Blut, es hat auf Nadims Hände abgefärbt. Kann ein Junge wie er beides sein, Opfer und Attentäter? Geisel und Killer? Kind und Terrorist? In Dschamdschamal suchen sie nach einer Antwort. Das Gefängnis war einmal Fort, es gehörte der irakischen Armee, Saddam Hussein diente es als Folterkerker. Später, als US-Truppen in den Irak einmarschiert waren, als Nadim und Khalid bald nach dem Krieg geboren wurden, bauten die USA Dschamdschamal zur Anstalt aus, schickten Häftlinge aus Bagdad und Abu Ghu50
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raib hierher. Es gilt heute als eines der mo- vor zweieinhalb Jahren dort gelebt, an eidernsten Gefängnisse des Nordirak, mit nem Krankenhaus gearbeitet. Als eines Einzelzellen und Hochsicherheitstrakten, Abends schwarz gekleidete Kämpfer die mit Krankenstation und Haftrichtern. Aber Stadt überfielen, als ihr Anführer dort das worauf niemand vorbereitet war, nicht die „Kalifat“ ausrief, packte Mahmud seinen Anstaltsleitung, nicht die Wärter, nicht die Rucksack, ließ sein Haus und seinen Job zurück und floh nach Kurdistan. Richter, war ein Kind. Er sei kein Psychologe, keiner, der sich Nadims Zellentür wird dreimal am Tag geöffnet. Einmal am Morgen, wenn Wärter mit Kindern oder Mördern auskenne, sagt ihn, getrennt von allen anderen Insassen, er, „nur ein einfacher Arzt“. Aber weil es zu den Duschen führen. Einmal am Mittag, in Dschamdschamal keine Psychologen wenn Wärter ihn, getrennt von allen an- gibt, soll er sich um Nadim kümmern. Er deren, in den Speisesaal bringen und über soll herausfinden, ob das Militär den Junden Hof spazieren lassen. Die Kämpfer gen entlassen darf oder ob Nadim, der an des „Islamischen Staates“ dürfen nur alle unruhigen Tagen noch immer die schwarz-
Nadim-Zeichnung einer IS-Fahne: Die Eltern weinten, dann fielen Schüsse, dann war alles still
drei Tage aus ihren Zellen, aber es sind weiße Fahne der Terroristen malt, weiterviele, und jede Woche werden es mehr, hin eine Gefahr ist. Am Anfang, als Nadim in diese Zelle jede Woche kommen neue Gefangene hierher. Jeder dieser Kämpfer könnte Nadim kam, wusste Mahmud kaum einen Weg, kennen, jeder ein Komplize oder eine Be- mit ihm zu sprechen. Er habe keine eigedrohung sein. Die Wärter, die auf den Jun- nen Kinder, sagt er, er habe nie die richgen aufpassen, die einmal stündlich durch tige Frau gefunden. Alles, was Mahmud eine kleine Luke in seine Zelle blicken, sie wusste, war, dass er den Jungen nicht sollen ihn bewachen und gleichzeitig be- zwingen konnte zu reden, aber dass fast alle Kinder gern malen. Also ließ er ihm schützen. Wenn sich die Tür das dritte Mal am das Papier und die Stifte geben. Also hoffTag öffnet, tritt ein schmächtiger, freund- te er, anhand der Bilder, die Nadim zeichlich lächelnder Herr herein, der keine nen würde, seine Gefühle und Gedanken Uniform, sondern Wollpullover trägt und zu erkennen. Nadim nennt den Arzt nie Mahmud. Nadim sagt, dass er ihn Mahmud nennen soll. Mahmud, 39, einer von drei Gefäng- „Doktor“, sagt er, aber Mahmud ist der nisärzten, stammt aus Mossul, er hat bis Einzige, dem Nadim in die Augen schaut.
Gesellschaft
Sie spielen häufig mit Murmeln, schnippen Nadim hat versucht, Mahmud auch diesen mit kleinen, runden Steinen gegen die Zel- Teil seiner Geschichte zu erzählen, mehr lenwand. Wenn Nadim gewinnt, wälzt sich als ein Dutzend Mal, aber er hat es nie Mahmud auf dem Boden und singt ein ara- ganz geschafft, er kam nie bis zu der Stelle, bisches Kinderlied über einen dicken Käfer, als er die Bombe auf dem Marktplatz zünso lange, bis Nadims Züge weicher werden, den sollte. Er sitzt im Schneidersitz auf seiner Pritbis über sein Gesicht beinahe ein Lächeln huscht. Wenn Mahmud gewinnt, setzt er sche, umklammert mit beiden Händen seisich neben den Jungen, legt eine Hand auf ne Füße, wippt mit dem Körper auf und dessen Knie oder einen Arm um dessen ab. „Langsam, langsam“, sagt Mahmud, Schulter und bittet ihn, von Mossul zu er- „keine Angst.“ Nadim hat ein großes Blatt Papier neben sich liegen, ein paar bunte zählen. Sie sitzen jetzt, im grellen Licht der Zel- Stifte, er beginnt schwarze Kreise zu male, genauso nebeneinander. Sie könnten len, vier Räder, ein dunkles Fahrzeug. Er Vater und Sohn sein, wenn die schwere Ei- atmet schwer, er erzählt ganz leise.
Nadims Trikot: „Weit genug, um darunter etwas zu verstecken“
sentür nicht wäre, der Notizblock in Mahmuds Händen und die Angst in Nadims Augen. Der Junge sagt dem Doktor, dass es für ihn und Khalid kein Entkommen gab. Dass er andere Jungen fliehen sah und dass die Männer, die sie schnappten, ihnen einzelne Finger oder die Hand abhackten. Er erzählt, dass Weinen unter Strafe stand und dass die Männer jeden Monat, nach dem Freitagsgebet, Menschen von Häusern „hoch wie Türme“ warfen. Nadim sagt Mahmud, mit geschlossenen Augen, Khalid und er „wollten nie töten“, nicht in Mossul und auch nicht in Kirkuk. Der Befehl, sich in Kurdistan in die Luft zu sprengen, kam irgendwann im Sommer.
Es ist eine Nacht Mitte August, als die Männer ihn und Nadim wecken und beiden Brüdern die Augen verbinden. Sie führen sie aus dem Schlafsaal, schieben sie in ein Auto und fahren sie aus Mossul heraus. Als der Morgen graut, nehmen sie ihnen, scheinbar irgendwo am Stadtrand, die Augenbinden ab, Khalid sitzt auf dem Beifahrersitz, Nadim dahinter. Er sieht neben sich zwei Männer mit Kampfanzügen und langen Bärten. Im Fußraum, vor ihnen, liegen Sprengwesten, die gleichen, mit denen sie wochenlang trainiert haben. Nur der Mann am Steuer des Autos, ohne Kampfanzug und ohne Bart, fährt mit den Brüdern weiter. Es ist nicht klar, welche Route er nimmt, wie genau er mit
den Kindern nach Kurdistan gelangt, aber wahrscheinlich ist, dass er von Mossul aus nach Süden fährt, bis zu der Stadt Hawidscha, von dort aus Richtung Nordwesten, durch arabische Dörfer und Provinzen, über unbewachte Grenzen. Nadim kann aus dem Fenster sehen, er sieht am Anfang nur Wüste, dann weite Ölfelder, von denen schwarzer Rauch aufsteigt, schließlich, als sich dahinter eine große Stadt erhebt, erreichen sie Kirkuk. Sie ziehen dort in eine Wohnung, mit Männern, die arabisch sprechen. Sie bleiben für fünf oder sechs Tage. Jeden Abend, ehe der Muezzin zu rufen beginnt, führen die Männer sie zu den Märkten, in die Einkaufsviertel, zu den schiitischen Moscheen. Nadim und Khalid sollen die Ungläubigen sehen, sie sollen sich merken, wo sie beten, wo sie lachen, wo sie am einfachsten zu töten sind. Die Männer gehen den Plan mit ihnen durch wie eine Choreografie. Abend für Abend binden sie den Jungen kiloschwere Gewichte um, ziehen ihnen Fußballtrikots darüber, die Jungen überall auf der Welt tragen, eines von Messi und eines von Ronaldo. So führen sie beide, durch die arabischen Viertel, in die Altstadt von Kirkuk, Khalid in den Westen, Nadim in den Osten. Dort sollen die Brüder warten, bis zum Sonnenuntergang, bis zur Gebetszeit, bis die Plätze vor den Moscheen voll mit Menschen sind. Erst dann, sagen die Männer, sollen „Allahs Löwen“ den Knopf an ihrer Weste drücken. Der Tag, an dem es geschehen soll, ist ein Sonntag. In der Nacht davor sitzen die Männer mit Nadim und Khalid in ihrem Versteck an einem Tisch. Sie geben ihnen viel zu essen, sagen, das Paradies sei voller Süßigkeiten, aber die Jungen können nichts essen. In der Wohnung läuft ein Radio. In arabischen Nachrichten hören sie, am gleichen Abend, in einer Stadt in der Türkei sei eine Bombe explodiert. Sie hören, 50 Menschen, Hochzeitsgäste, seien jetzt tot. Der Attentäter, verstehen Nadim und Khalid, war ein Kind. Nadim schläft nicht in dieser Nacht. Die Brüder liegen, bewacht und getrennt voneinander, in zwei Zimmern, sie können sich nicht sehen, nicht mehr miteinander sprechen. Irgendwann am nächsten Tag, Nadim erinnert sich kaum, wie verschwommen, legen die Männer ihnen die Sprengwesten um, befestigen sie mit zwei Gurten an ihren Schultern und mit Leinentüchern um ihre Hüften. Nadim sagt, dass ihm die Männer Angst machten. Dass sie ihm drohten, seiner Schwester wehzutun, würden er und Khalid fortrennen oder Hilfe rufen. Er erzählt, dass sie ihm weiße Pillen gaben. Er weiß nicht, was es war, bloß, dass er, sobald er diese Pillen hinunterschluckte, fast DER SPIEGEL 8 / 2017
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Oft beten sie gemeinsam, für Nadims kein Gefühl mehr spürte, nur noch ein Männer und Frauen, schwer. „Der Attentäter“, als Einziger getötet und laut Ärzten Bruder, für seine Eltern und für seine Pochen in der Brust. So verließ er wohl am späten Nach- nicht mehr zu erkennen, „war ein Kind Schwester, die vielleicht immer noch in Mossul ist, vielleicht auch nicht. Wenn mittag, auf den Straßen von Kirkuk war männlichen Geschlechts“. Es vergingen drei Tage, dann tauchte Mahmud die Zelle verlässt, betet er häufig, es fast 40 Grad Celsius heiß, die Wohnung. Khalid, der Ältere, ging zuerst, Nadim, der am selben Ort eine schwarz-weiße Karte auf dem Flur oder an seinem Schreibtisch, auf, die Visitenkarte des IS. Sie trug ein noch ein zweites Mal, für Nadim. Jüngere, ging nach ihm. Der Doktor sieht ihn an, und er sieht Nadim hat kaum noch Erinnerungen Siegel aus Blut und Sprengstoffpulver, auf an den Weg, weiß nicht mehr, ob er Mi- ihrer Rückseite das Foto eines Jungen: ein nicht einen Killer, nur ein Kind. Er sieht dieses eine Video aus Kirkuk, sieht wie nuten oder Stunden bis zur Altstadt lief. Foto von Khalid. In Dschamdschamal malt Nadim heute, Nadim von der Moschee fortrennt und Er sieht heute, mit verzerrtem Gesicht, nur noch einzelne Bilder vor sich, die drei Monate danach, manchmal das Para- die Menschen um ihn herum nicht tötet, sondern vor dem Tod beFrauen auf den Märkten, wahrt. Er stellt sich auch die Männer vor den Teedessen Bruder Khalid vor, stuben, die Fußball spieund er sieht nicht einen lenden Kinder. „Sie haMörder, der hundert Menben gelacht“, sagt Nadim. schen mit sich riss, sondern Dann ist es, als breche sein einen, der nur vier von ihGedächtnis ab, als seien nen verletzte. Mahmud die Augenblicke danach sieht, mit jedem Tag klarer, wie ausgelöscht. dass in zwei Jungen, „vollUm 19.04 Uhr, vermerkgepumpt mit Bösem“, sagt ten Polizisten aus Kirkuk er, „ganz plötzlich etwas in ihrem Bericht, „lief ein Gutes siegte“. Junge schreiend über den Er glaubt nicht, dass NaMarktplatz … er griff undim gefährlich ist, aber er ter sein Trikot, versuchte, weiß auch nicht, wohin mit sich mit einer Bombe in ihm. die Luft zu sprengen“. In seinem Arztzimmer Es gibt von diesem Auin Dschamdschamal, der genblick, von den SekunBlick durchs Fenster geht den auf dem Marktplatz, weit hinaus in die Wüste, nur ein Handyvideo, von hört Mahmud jede Woche einem Passanten zufällig von neuen Anschlägen im gefilmt. Es zeigt, anders Irak, in der Türkei, in als manche Polizisten es Europa. Er hört, dass der beschreiben, anders als die „Islamische Staat“ in Mosmeisten Zeugen sich ersul immer schwächer wird, innern, wie Nadim nicht aber auch, dass immer auf die Moschee zulief, mehr Kinder, Jungen und sondern weg von ihr, weg Mädchen von dort aus in aus dem Gedränge, weg den Krieg ziehen. Die vom Marktplatz, vielleicht meisten von ihnen sterben 80, 90 Meter weit, auf eiwie Khalid. Einige, wie Nane unbefahrene, fast mendim, überleben, aber welschenleere Straße. ches Leben, sagt Mahmud, Nadim weiß nicht mehr, steht Nadim noch offen? weshalb. Er kann heute Vor ein paar Tagen saß nicht mehr sagen, warum Bekennerfoto von Khalid, 2016: Eine Explosion wie ein Donner der Doktor mit ihm bis spät er nicht tat, was die Mänam Abend in seiner Zelle. ner ihm befohlen hatten; Da war eine Frage, auf die warum er, anstatt zum Einer spät gekommen war und gang der Moschee zu gehen, dahin rannte, wo er niemanden mehr dies. Es ist kein Blut auf diesen Bildern, die ihm keine Ruhe ließ. Mahmud fragte keine Gewalt, nicht einmal Menschen, nur Nadim, weshalb er nicht auf Hilfe gewartet töten konnte. Um 19.33 Uhr, eine halbe Stunde später Täler, Flüsse, kleine Tiere. Die Landschaft, habe; warum er, als er in Kirkuk auf dieser und rund tausend Meter entfernt, steht im sie sieht aus wie in Dijala, seiner Heimat, menschenleeren Straße stand, trotzdem den Bericht der Polizei, „explodierte in Kirkuk ein Junge wie er könnte dort Kühe oder Auslöser an seiner Weste griff, trotzdem eine Bombe“. Es gibt kein Video davon Ziegen treiben, jeden Morgen klettern, je- versuchte, sich in die Luft zu sprengen. Nadim stritt das nicht ab, er senkte nur und fast keine Zeugen, niemanden, der den Abend angeln gehen. Es gibt Tage, da fragt Nadim, wo Khalid, seinen Kopf, nahm seine Bilder und fing Khalid, einen Jungen im Ronaldo-Trikot, sein Bruder, heute ist, im Paradies oder in an, das, was er gezeichnet hatte, mit einem kommen sah. Die Explosion in einer Gasse nahe der der Hölle. Mahmud, der Doktor, antwortet einzigen Stift zu übermalen. Vielleicht wollte er nie wieder etwas sedrittgrößten Moschee der Stadt, aber weit dann, dass Khalids Überreste auf einem entfernt von ihrem Eingang, weit entfernt Friedhof nahe Kirkuk liegen. Er sagt auch, hen, fühlen, erinnern. Vielleicht suchte er vom Pulk der Gläubigen, sprengte drei dass Allah kein Monster, sondern voller damals, in Kirkuk, nur Erlösung. Er malte alles schwarz. Häuserwände, verletzte vier Menschen, Gnade sei. 52
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Gesellschaft
das Halbfinale der French Open verloren, erstaunlich, dass ein amerikanischer Hymnensänger sie derartig umhaut. Auf Hawaii! Amerika muss ja nicht nur Donald Trump ertragen, es hat auch Pearl Harbor überlebt. Ich mag Andrea Petkovic. Sie nimmt ihren Sport ernst und hat ein gutes Lachen. Aber wenn ich sie sehe, denke ich manchmal: Relax. Ihre Niederlagenanalyse erinnert an ein orthodoxes Selbstbestrafungsritual. Marija Scharapowa kreischt, wenn sie den Ball schlägt, Andrea Petkovic brüllt: „Uffta“. Ich saß bei den US Open in New York mal direkt Leitkultur Alexander Osang wünscht sich am Spielfeldrand und hab genau zugehört. Wirklich: Uffta. eine Hymne, die er singen kann. Weil sie ihr Abitur mit 1,2 gemacht hat, wird Andrea Petkovic von Journalisten gern als Intellektuelle behandelt. So wie einst der Trainer Rehhagel, den der „Stern“ mit ch war neun oder zehn Jahre alt, als mir in der Aula dem Thomas-Mann-Experten Walter Jens zum Gespräch der 30. Oberschule Berlin-Prenzlauer Berg mitgeteilt bat. Da denkt man als Sportler schnell, man ist für den wurde, dass von nun an nicht mehr der Text der DDRWeltfrieden verantwortlich oder steht im Visier eines durchNationalhymne gesungen werde. Eine Begründung dafür gedrehten amerikanischen Präsidenten. gab es nicht. Weil ich, neben meiner Klassenkameradin Aber das nur nebenbei, es liegt vor allem an der Hymne. Annegret Teschner, der einzige Nichtpionier meiner Klasse war, dachte ich: Vielleicht haben sie es nur den anderen Wie soll man ein Gefühl zu einem Landeslied entwickeln, erklärt. Seitdem habe ich nie wieder eine Nationalhymne dessen erste Strophe man nicht singen darf? Da stimmt gesungen. Ich habe das im Alltag kaum vermisst, aber seltdoch was nicht. Eine Hymne, die nacheinander durch die sam ist es schon. Hände von Ebert, Hitler und Adenauer gegangen ist? Eine Daran musste ich am letzHymne, die die Ostdeutschen ten Wochenende denken, als verordnet bekamen wie Lees auf Hawaii zu einem weibertran? Diskuswerfer Christeren deutschen Hymnenzwitoph Harting, geboren in schenfall kam. Cottbus, wurde angezeigt, weil er nach seinem OlympiaUnsere Tennisfrauen spielsieg in Rio tanzte und pfiff, ten im Fed-Cup gegen die während das Lied der DeutUSA. Ein Amerikaner sang schen gespielt wurde. Als die das Deutschlandlied. Er fing Deutschen bei der EM gegen von vorn an, mit der ersten Italien rausflogen, hieß es Strophe. Man muss davon gleich: Es liegt daran, dass sie ausgehen, dass er mit der verdie Hymne nicht aus vollem wickelten Geschichte des Herzen mitsingen. Niemand Deutschlandliedes nicht verkam auf die Idee, dass es vieltraut war. Musik: Haydn, leicht aber an Mesut Özil geText: Hoffmann von Fallerslegen haben könnte. leben. Die Sozialdemokraten machten es in der Weimarer Nationalstolz Das letzte Mal, dass ich Republik zur Hymne aller eine große Menge aus ganDeutschen, später beschlossen die Nazis, allenfalls noch zem Herzen die deutsche Hymne habe singen hören, war die erste Strophe zu singen – sie hatten inzwischen das auf einer Pegida-Demonstration. Horst-Wessel-Lied. Nach dem Krieg gab es eine Weile nichts Ich weiß nicht, bei welchem Lied Jérôme Boateng aus zu singen, aber als Bundeskanzler Adenauer beim Besuch ganzem Herzen mitsingen könnte, ich habe mir jetzt noch in Chicago mit dem Karnevalslied „Heidewitzka, Herr Kamal die ostdeutsche Hymne angeschaut. Musik: Hanns Eispitän“ empfangen wurde, beschloss er, zum Deutschlandler, Worte: Johannes R. Becher. Eisler war Schönberg-Schülied zurückzukehren. Bei offiziellen Anlässen allerdings ler, Becher versuchte sich mit 19 umzubringen, um Heinrich sollte nur mehr die dritte Strophe gesungen werden. von Kleist nachzueifern. Sie mussten beide vor den Nazis ins Exil fliehen. Im Text geht’s um Frieden mit den Völkern Der Amerikaner, der die Hymne auf Hawaii sang, beder Welt, um Pflügen, Aufbauen, um ein einheitliches gann mit „Deutschland, Deutschland über alles“, die TenDeutschland und eine Sonne, die schön wie nie über ihm nisfrauen schauten erst verlegen und sangen dann zusamerscheint. Alles gut. Die Wörter Sozialismus und Volksmen mit ein paar deutschen Schlachtenbummlern mit der eigentum kommen nicht vor. Bei der Rennrodelweltmeisdritten Strophe gegen die erste an. Der Amerikaner hielt terschaft 2015 in Lettland wurde die Hymne schon versegut dagegen. Er erinnerte mich an die Backgroundsängerin hentlich abgespielt. Niemand kam anschließend auf die Cissy Houston, die unbeirrt weitersang, als Elvis Presley Idee, die Deutsche Bank zu plündern. bei einem Auftritt in Las Vegas im Song „Are You LonesoIch könnte sie singen. Aber das bin nur ich. me Tonight“ einen Lachanfall bekam. Elvis konnte nicht Vielleicht fällt Steinmeier was ganz Neues ein. Hymnen mehr, er brach vor Lachen beinahe zusammen. fallen in sein Ressort. Der neue Bundespräsident könnte Die Deutschen auf Hawaii aber lachten nicht. Einer der sich zur Inspiration anhören, wie Cissy Houston in „Are Schlachtenbummler sah aus, als würde er gleich einen Krieg You Lonesome Tonight“ gegen Elvis ansingt. Man will weianfangen, die Spielerin Julia Jörges weinte, und Andrea nen und lachen zugleich. Es ist das pure Glück. Petkovic sagte, das sei das Schlimmste, was ihr im Leben So etwas würde ich gern fühlen, wenn ich meine Hymne passiert sei. Petkovic ist als Baby aus Jugoslawien nach singe. Deutschland gezogen, ihr Vater war ihr Trainer, sie hat mal
Heidewitzka
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LEX RAYTON / IMAGEBROKER / MAURITIUS IMAGES
Enteisung eines Lufthansa-Jets
Lufthansa
Chefs planen weiteren Ableger Ihre jüngste Gehaltserhöhung könnte sich für die Piloten der Fluglinie als Bumerang erweisen. Die Lufthansa-Führung will den jüngsten, vergleichsweise teuren Tarifkompromiss mit ihren Konzernpiloten nutzen, um auch im Langstreckengeschäft einen neuen, günstiger operierenden Billigableger zu etablieren. Vorbild ist die Kurzstreckentochter Eurowings, die dem Cockpitpersonal deutlich weniger zahlt als die Mutter. Um die Zusatzausgaben für die geplante Vergütungserhöhung der Piloten wieder einzuspielen, sollen 40 bestellte Jets, die eigentlich für die Lufthansa gedacht waren, ab Herbst 2018 bei einer neu gegründeten Gesellschaft landen. Erste Details will der Aufsichtsrat bereits in seiner nächsten regulären Sitzung
Frauenquote
MDax-Unternehmen bewegen sich nicht Auch knapp zwei Jahre nach der Einführung der gesetzlichen Frauenquote für Daxund MDax-Konzerne zeigen die Unternehmen wenig Ehrgeiz, ihren Frauenanteil im Vorstand wirklich zu erhöhen. Nach einer Studie der Anwaltskanzlei Allen & Overy hinken vor allem die MDax-Unternehmen hinterher. So haben sich 75,6 Prozent aller im 54
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MDax notierten Unternehmen die Zielgröße null verordnet. Was nichts anderes heißt, als dass drei Viertel aller Unternehmen bis zum Ablauf der ersten selbst gewählten Frist nicht vorhaben, Frauen in den Vorstand zu berufen. Gerade mal 7,3 Prozent der Gesellschaften gaben an, eine Quote von 30 Prozent oder mehr erreichen zu wollen. Etwas besser sieht es in den DaxKonzernen aus. Zwar hat sich auch hier ein Drittel der Unternehmen für die Zielgröße
am 15. März diskutieren und beschließen. Das Vorhaben läuft inoffiziell unter dem Projektnamen „Cityline 2“, in Anlehnung an die früher für den Regionalverkehr zuständige Lufthansa-Tochter. Sie betreibt heute ausgewählte Langstreckenverbindungen sowie Zubringerdienste in die Verkehrsdrehscheiben Frankfurt und München. Bei ihren Plänen beruft sich die Lufthansa-Spitze unter anderem auf ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom vergangenen Oktober. Demnach darf die Bezahlung der Flugzeugführer bei neu gegründeten Ablegern von den angestammten, seit Jahrzehnten bestehenden Konzernstandards abweichen. did
null entschieden. Aber immer- „Ich vermute, dass sich der politische und öffentliche hin 37 Prozent streben einen Druck bisher in erster Linie Frauenanteil von 10 bis 14,9 auf die Dax-Konzerne gerichProzent, 25,9 Prozent einen Anteil von 15 bis 29,9 Prozent tet hat. Die Unternehmen des MDax stehen hier nicht und 3,7 Prozent einen Anteil so sehr im Fokus.“ Ob sich von 30 Prozent und mehr die Zahlen in absehbarer Zeit Frauen im Vorstand an. ändern, bleibt abzuwarten. „Das zeigt, dass das ArguDenn auch für die erste und ment, es gebe nicht ausreizweite Führungsebene sind chend qualifizierte Frauen, die Ziele der Dax- und MDaxnicht stimmen kann“, sagt Studienautorin Katharina Stü- Konzerne überschaubar: Hier soll der Frauenanteil gerade ber. Denn je größer der Konmal um rund 15 beziehungszern sei, desto mehr qualiweise 20 Prozent steigen. sam fizierte Frauen fänden sich.
Geldwäsche
Blockierter Untersuchungsausschuss Der Panama-Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments, der sich mit Geldwäsche und Steuerhinterziehung in der EU beschäftigt, wird von den EU-Ländern blockiert. Ende Januar sagten der estnische und maltesische Finanzminister die im Ausschuss geplante Anhörung ab. Die britische Regierung schickte nur subalterne Beamte, als der Ausschuss vergangene Woche in London mehr über die zahlreichen Steuerparadiese unter den britischen Kronkolonien wissen wollte. Angeforderte
Griechenland
IWF will weniger Geld geben Der Internationale Währungsfonds (IWF) wird sich voraussichtlich nur mit einem Betrag von bis zu fünf Milliarden Euro am dritten Rettungspaket für Griechenland beteiligen. Von dieser Größenordnung gehen die europäischen Geldgeber aus. Ursprünglich war von 16 Milliarden Euro die Rede. Vergangene Woche schwenkte der IWF nach langem Streit auf die Linie der Europäer ein, von den Griechen als Gegenleistung für frisches Geld Primärüberschüsse von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu verlan-
Dokumente werden dem Ausschuss von den Mitgliedsländern nur zögerlich zur Verfügung gestellt. Die kollektive Abwehr wird sogar von einer Ratsarbeitsgruppe koordiniert, weil viele EU-Staaten sich in Steuerdingen nicht vom EU-Parlament in die Karten schauen lassen wollen. „Die Mitgliedstaaten verhindern weiter Aufklärung und decken somit Geldwäsche, Steuerhinterziehung und auch Terrorfinanzierung“, sagt Fabio De Masi, Ausschussmitglied für die Linke. Als Reaktion kamen die Ausschusskoordinatoren am Montag überein, den Ausschuss um bis zu ein halbes Jahr zu
Panama-Stadt
verlängern. „Das Blockadeverhalten im Rat können wir so nicht hinnehmen“, sagte der Ausschussvorsitzende Werner Langen (CDU). „Eine vernünftige Untersuchung
der Steuervermeidungspraktiken in mehreren EULändern setzt Zugang zu Dokumenten voraus.“ Einen Abschlussbericht strebt er nun für November an. mp, pau
gen. Der Primärüberschuss beschreibt das Etatplus, bevor die Schulden bedient werden. Lange hatte der IWF seine Beteiligung an dem 86-Milliarden-Programm verweigert, weil er ein Plus von allenfalls 1,5 Prozent für realistisch hielt. Um die Überschüsse zu erzielen, muss Griechenland zusätzlich in seinem Rentensystem sparen und den Arbeitsmarkt flexibilisieren. Die Geldgeber hoffen, dass die anstehenden Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich Athen zur schnellen Einwilligung bewegen, weil je nach Wahlausgang die Fortsetzung des Programms schwieriger werden könnte. rei
Deutsche Bank
Die krisengeplagte Deutsche Bank bekommt einen neuen Großaktionär. Neben Scheich Hamad Bin Jassim Al-Thani aus Katar und seinem Cousin, die zusammen knapp zehn Prozent kontrollieren, sowie dem amerikanischen Fondsriesen Blackrock wird in Kürze ein weiterer Investor mindestens drei Prozent an der Deutschen Bank halten. Perspektivisch erwäge der neue Großaktionär, seine Beteiligung auf bis zu zehn Prozent aufzustocken, heißt es in Finanzkreisen. Auch die Katarer haben grundsätzlich
Interesse gezeigt, ihren Einfluss auszubauen, gegebenenfalls im Verbund mit anderen Investoren. Der neue Großaktionär soll jedoch nicht mit Katar in Verbindung stehen. Der Einstieg kommt in einem Moment, da der Druck der Aktionäre auf Vorstandschef John Cryan wächst, die Strategie der Bank zu korrigieren und sie nach Jahren des Schrumpfens wieder auf Wachstum zu trimmen. Doch das Kapital ist knapp, und mit dem Einstieg des neuen Großaktionärs geht keine Kapitalerhöhung einher. Als wahrscheinlich gilt, dass die Deutsche Bank bis zu 30 Prozent ihrer Vermögensverwaltung an die Börse bringt. mhs
Verkehr
land und seinen europäischen Nachbarn auf“, heißt es zur Begründung. Betroffen seien vor allem Grenzregionen, es seien „erhebliche wirtschaftlich nachteilige Auswirkungen“ zu erwarten. Im Bundesrat wird damit gerechnet, dass der Antrag eine Mehrheit im Verkehrsausschuss findet. Damit ist auch eine entsprechende Stellungnahme bei der nächsten Sitzung des Bundesrats am 10. März wahrscheinlich. Weil es sich bei der Maut um ein sogenanntes Einspruchsgesetz
handelt, können die Länder das Inkrafttreten zwar nicht verhindern, das Verfahren allerdings in die Länge ziehen und so gefährden. Eigentlich will Dobrindt das Prozedere bis Ende März abschließen und keine Zugeständnisse mehr machen. In diesem Fall könnte der Bundesrat den Vermittlungsausschuss anrufen und die Entscheidung bis zur Bundestagswahl verschleppen. Dobrindt würde dann mit seinem Projekt auf den letzten Metern doch noch scheitern. böl
Länder machen gegen Pkw-Maut mobil
JENS BÜTTNER / DPA
VISITPANAMA.COM / TMN / DPA
Wirtschaft
Im Bundesrat formiert sich Widerstand gegen die von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) geplante Ausländermaut. Rheinland-Pfalz und das Saarland wollen kommende Woche im Verkehrsausschuss der Länderkammer einen Antrag einbringen, in dem sie fordern, den Gesetzentwurf abzulehnen. Die Maut „baut Schranken zwischen Deutsch-
Neuer Investor steigt ein
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Die Polyesterschwemme Textilien Knitterfrei, formstabil und vor allem billig: Inzwischen enthalten rund 60 Prozent der Kleidung Polyester. Die Kunstfaser ist der große Treiber der Fast-Fashion-Industrie – und entpuppt sich als Recycling-Desaster. 56
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GUNNAR KNECHTEL / LAIF
Schneiderei der spanischen Modekette Zara in Arteijo
Wirtschaft
S
echzig neue Kleidungsstücke kauft len, schnell zu verarbeiten und vor allem über ihre Leuchtturmprojekte in Sachen jeder Deutsche durchschnittlich pro billig“, erklärt die Textilexpertin von Green- Biobaumwolle. Dabei wird auch die nachJahr. Mehr als einen Artikel pro Wo- peace. Die Plastikfäden auf Erdölbasis sind haltig produzierte Naturfaser oft munter che. Wer das nicht glauben will, sollte sich jederzeit und in Massen verfügbar, kein mit Polyester versetzt. Das spart Geld bei die YouTube-Videos von Stephanie an- schlechtes Wetter, keine politischen Un- der Produktion und Gewicht beim Transschauen: ein rosa Samtkleid für neun Euro, wägbarkeiten bringen die Produktion ins port, weil der Kunststoff so leicht ist. Zueine Camouflagejacke für zehn Euro, ein Wanken. Durch die immer schnelleren dem ist Polyester einfacher zu pflegen, naStricktop für drei Euro – 17 Kleidungs- Zyklen der Modeindustrie sei der Ver- hezu knitterfrei und formstabil. In den stücke präsentierte die junge Frau im De- brauch in den vergangenen zehn Jahren Nachhaltigkeitsberichten der Textilketten zember ihren Abonnenten, in 22 Minuten, „regelrecht explodiert“ (siehe Grafik). wird zwar auf die Qualität und Strapazier2 Sekunden. Im Januar waren es ebenfalls Mehr als 60 Millionen Tonnen Chemiefa- fähigkeit der Kleidung hingewiesen. Dass 17 Teile in 16 Minuten, 46 Sekunden, da- sern werden jährlich hergestellt, das meiste das Geschäftsmodell Fast Fashion auf dem runter drei Pyjamasets mit Comicmotiven davon in China. Polyester ist mit über 80 Prinzip basiert, was heute Trend ist, ist für je sieben Euro. Prozent der unangefochtene Spitzenreiter. schon morgen Müll – darüber findet sich Tatsächlich hat der Polyesterboom dazu jedoch kein einziger Satz. „Haul“, englisch für „Beute“, nennt sich Tatsächlich ist die Langlebigkeit der das Videoformat, bei dem zumeist Teenager beigetragen, dass sich der Absatz von Kleiihre jüngsten Shoppingschnäppchen im dung zwischen 2002 und 2015 fast verdop- Polyesterfaser für das schnell wechselnde Akkord vorführen. Oft wird aus dem Kin- pelt hat: 2014 wurden laut Greenpeace Angebot eher ein Hindernis. Und für die derzimmer gesendet, die Klamotten wer- weltweit mehr als 100 Milliarden Klei- Umwelt entpuppt sich das Kunststoffgeden direkt aus der Tüte gezogen. „XXXL dungsstücke neu produziert. Inzwischen misch in mehrfacher Hinsicht als Belastung. „Bei jedem Waschgang werden aus den Primark Haul“ heißt die Serie von Stepha- sind nicht nur Teelichter bei Ikea, sondern nie, die sich im Netz „Golightly“ nennt, auch Babybodys und Schals ein Mitnah- Plastikfasern sogenannte Mikropartikel ausnach Holly Golightly, Hauptfigur in Tru- meartikel, der in jedem Discounter und gespült“, erklärt Meike Gebhard, „diese geman Capotes Roman „Frühstück bei Tiffa- Drogeriemarkt mal eben mit in die Ein- langen ins Grundwasser und über die Meere auch wieder in unseren Nahny“. Dabei hätte sich das Partyrungskreislauf.“ Die Teilchen, die girl aus den Fünfzigerjahren den Mit heißer Nadel 80 nur wenige Mikrometer groß Konsumrausch, den ihre deutsind, können auch von modersche Namensvetterin zelebriert, Weltweiter Bedarf an textilen Fasern*, in Mio. Tonnen Polyester * 43,5% davon werden für Kleidung verwendet. nen Kläranlagen meist nicht hewohl nicht vorstellen können. 60 Quelle: Textile World rausgefiltert werden und sind bioImmer mehr. Immer öfter. ImBeginn des logisch nicht abbaubar. Der Abmer billiger. So lautet der DreiFast-Fashionrieb aus den Polyesterstoffen klang der Modeindustrie inzwi40 Booms wurde bereits in Meeresschneschen. Früher gab es Wintercken und Speisefischen in der und Sommerklamotten. Und Nord- und Ostsee nachgewiesen. Übergangsmäntel. Heute sind 12 zum Vergleich: 20 „Solch langfristige Folgen für die bis 14 Kollektionen im Jahr keiBaumwolle Umwelt und letztlich ihre eigene ne Seltenheit. Täglich wird in Gesundheit haben die Konsuden Filialen von Primark, H&M menten selten im Blick“, sagt oder C&A neue Ware einge- 1980 2010 2020 2030 1990 2000 Gebhard. räumt. Bei Zara braucht ein KleiDie 48-Jährige ist promovierte Umweltdungsstück vom Entwurf auf dem Reiß- kaufstasche wandert. Längst sind auf dem brett bis ins Regal nur zwei Wochen. Fast Planeten mehr Kleidungsstücke im Um- ökonomin und Geschäftsführerin der Fashion ist der Fachausdruck für diesen ra- lauf, als die Weltbevölkerung jemals wird Nachhaltigkeitsplattform Utopia.de. Sie predigt nicht Verzicht, sondern setzt auf santen Wandel. tragen können. Das Prinzip funktioniert auch deshalb, Hohe Baumwollpreise in der Vergangen- bewussten Konsum. „Die Preisspirale nach weil der Stoff, aus dem die meisten Must- heit hätten den Polyestertrend zusätzlich unten, die wir derzeit in der Mode erleben, haves geschneidert sind, Polyester ist. Wäh- angeheizt, erklärt Andreas Engelhardt, der haben wir zuvor schon bei den Lebensmitrend Plastiktüten heute als Ökosünde gel- in seinem Report „The Fiber Year“ jährlich teln beobachtet“, sagt Gebhard. ten, enthalten fast 60 Prozent der Kleidung die globale Produktion aller Kunst- und Beim Billighackfleisch vom Discounter mittlerweile Polyesterfasern. Naturfasern auflistet. „Eigentlich ist eine blenden die Konsumenten das Tierwohl aus. Allerdings merkt das kaum jemand. Chemiefaser wie Polyester besonders sta- Auch YouTube-Bloggerin Stephanie denkt Denn damit sich der Pulli aus Plastik nicht bil und langlebig“, weiß der Faserfach- wahrscheinlich nicht darüber nach, dass die genauso anfühlt wie seine Verpackung, mann, „doch diese Vorteile werden durch Jeans, die sie gerade in die Kamera hält, wird er in der Regel mit einer Naturfaser die aktuelle Schnelllebigkeit der Mode kon- von einer Gleichaltrigen in Bangladesch wie Baumwolle gemischt. Der Laie kann terkariert.“ oder Pakistan genäht wurde, deren Wochendann ein T-Shirt selbst bei einem PolyesterWeder Primark noch C&A noch H&M lohn nicht einmal dem entspricht, was die anteil von rund 80 Prozent nicht von ei- oder Zara wollen konkrete Zahlen zu ih- Hose hierzulande im Laden gekostet hat. nem klassischen Cotton-Shirt unterschei- rem aktuellen Polyesterverbrauch liefern. Gebhard rät Verbrauchern deshalb beim den. Der Trugschluss fällt dem Kunden Keine der Modeketten kann oder will da- Kauf von Kleidung zu mehr Reflexion. meist erst auf, wenn das schicke Shirt rüber Auskunft geben, wie hoch der durch- Niemand müsse ganz verzichten. Aber: schon nach dem ersten Tragen verdächtig schnittliche Kunstfaseranteil in ihren Klei- Statt Masse sollte es besser Klasse sein. müffelt oder er vor der Waschmaschine dern ist. Ein kleiner Test spricht aber Bän- „Die beste Ökobilanz hat immer noch die das Etikett studiert. de: Wer im Onlineshop von H&M das Hose, die lange getragen wird.“ „Der Einsatz von Polyester hat den Auf- Stichwort Polyester in die Suchmaske einDieses Credo zu beherzigen dürfte eistieg von Fast-Fashion-Ketten überhaupt gibt, erhält auf Anhieb über 7000 Treffer. gentlich nicht schwerfallen. Schließlich gibt erst möglich gemacht“, sagt Alexandra PerStatt über den Fast-Fashion-Katalysator in Umfragen so gut wie jeder Deutsche zu, schau. Die Kunstfaser sei „leicht herzustel- Polyester reden die Unternehmen lieber Kleider im Schrank zu haben, die er kaum DER SPIEGEL 8 / 2017
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IM NAMEN DER T O TEN
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oder noch nie getragen hat. Tatsächlich Beispiel aus der Kleidung herausgeschnithat sich in den letzten 15 Jahren die durch- ten wurden. Zum anderen stecken die techschnittliche Tragedauer von Kleidungs- nischen Verfahren, um unterschiedliche stücken halbiert. Weil sich die modische Kunstfasermixe wieder in ihre Einzelteile Halbwertszeit von Klamotten immer wei- zu zerlegen und als Garne zu verwenden, ter verkürzt, wächst der Textilmüllberg un- noch im Entwicklungsstadium. Ganz zu aufhörlich. Was bei Umweltaktivisten zu schweigen davon, dass sie für die Bekleieiner Art Endlagerstimmung führt: Mode dungsindustrie wirtschaftlich bereits inteist dank der billigen Synthetikstoffe ein ressant wären. Wenn Firmen wie Nike, Levis oder Wegwerfprodukt. Aber Kunstfasern wie H&M daher Turnschuhe, Jeans oder Polyester sind nicht totzukriegen. Abendkleider aus recycelAuch das Sammeln tem Polyester präsentievon Altkleidern löst das ren, dann sind das SonDilemma nicht, es verländermodelle, meist aus gert das Leben der Kleialten PET-Flaschen, die der meist nur auf kurze mehr als Marketinggag Sicht. Dabei sind die denn als massentaugliche Deutschen Weltmeister Alternativen zu verstedarin: Rund eine Million hen sind. Tonnen wird hierzulande Wie klein die Mengen jährlich in Containern gean Recyclingmaterial im sammelt, die Branche YouTube-Bloggerin Stephanie Verhältnis zu der eigentsetzt gut 350 Millionen Heute Trend, morgen Müll lichen Massenmode ist, Euro um. Gut 50 Prozent der gesammelten Texti- zeigt der Nachhaltigkeitsbericht von H&M: lien werden für den globalen Secondhand- Die Schweden gelten unter den Textilmarkt aussortiert, dabei ist auch der schon riesen als einer der größten Nutzer von rezum Teil gesättigt. Afrikanische Länder cyceltem Polyester und damit als Vorzeiwie Simbabwe haben sogar Importverbote gekonzern. Dabei stammt laut eigenem für alte Kleidung verhängt. 30 bis 40 Pro- Bericht gerade einmal ein Prozent der Gezent der Kleidung werden direkt geschred- samtproduktion von H&M aus Recyclingdert und taugen maximal als Putzlappen fasern – der Polyesteranteil wird überhaupt nicht näher beziffert. Wenn man mit dieser oder Dämmmaterial. Wenig zielführend ist deshalb auch, dass Bilanz schon zu den Vorbildern der Branimmer mehr Modeketten Klamotten in ih- che gehört, kann man sich ausmalen, wie ren Filialen zurücknehmen. Zutiefst wider- schlecht es um die Verwendung von recysprüchlich sei das, sagt Thomas Ahlmann celten Materialien steht. Dass es auch anders geht, zeigt das Beivon Fairverwertung, dem Dachverband gemeinnütziger Altkleidersammler. „Denen spiel der Firma Lauffenmühle aus dem badischen Lauchringen. Seit geht es doch nicht wirk1834 fertigt das mittelstänlich darum, den Textildische Unternehmen Texabfall langfristig einzutilien, heute hat man sich dämmen. Warum sollten auf Gewebe für Berufssie sonst ihren Kunden für Ca. und Schutzkleidung spedie abgegebene Kleidung neue Kleidungszialisiert. Der Betrieb ist wieder Rabattgutscheine stücke kauft jeder einer der wenigen in für Neuware schenken?“ Deutsche pro Jahr, Europa, der die kompletAlexandra Perschau trägt diese aber te Produktionskette von von Greenpeace hält das nur halb so lange der Faser bis zum Stoff Engagement schlicht für wie vor 15 Jahren. im eigenen Haus vereint. scheinheilig. Sie spricht Quelle: Greenpeace Die Textilingenieure von einem „großen Recyhaben vor einiger Zeit cling-Mythos“, es sei „eine falsche Annahme“, dass aus alten T-Shirts eine Polyesterfaser entwickelt, „die zwar neue Hosen entstünden. „Tatsächlich geht die gleichen technischen Eigenschaften wie es dabei nur in homöopathischen Dosen konventionelles Polyester aufweist, sich um die Wiedergewinnung von Fasern zur aber durch Mikroorganismen rückstandsHerstellung neuer Textilien.“ Von Kreislauf- und schadstofffrei zersetzen lässt“, sagt fähigkeit oder einem „closing the loop“, Unternehmenssprecherin Corona Bregenwie Experten sagen, ist die konventionelle zer. Am Ende wird aus der Polyesterfaser wiederverwertbarer Humus. Modeindustrie noch Lichtjahre entfernt. Ein Zustand, den die meisten T-Shirts Denn auch bei der Wiederverwertung ist der hohe Kunststoffanteil das größte von Primark oder Zara wohl leider nur in Hindernis. Zum einen scheitert das Faser- sehr ferner Zukunft erreichen werden. zu-Faser-Recycling schon an so banalen Denn Polyester verrottet im Schnitt erst Fragen wie der Identifizierung der einge- nach rund 500 Jahren. Simone Salden setzten Bestandteile, weil Etiketten zum Mail:
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QUELLE XXXL PRIMARK HAUL GOLIGHTLY / YOUTUBE
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Wirtschaft
Teure Tochter
die Deutsche Bank im Frühjahr 2009 zwei Aufsichtsräte bei der Postbank installiert habe – Exmanager Tessen von Heydebreck sowie Werner Steinmüller, der heute dem Vorstand der Deutschen Bank angehört. Diese Vorwürfe haben schon andere erhoben, ein erstes Verfahren in der Angelegenheit zieht sich seit Jahren zäh durch die Instanzen. Radtke-Rieger und ihre Kollegen haben aber nicht nur interne Dokumente der Postbank aufgetan, die den Einfluss des Mutterkonzerns seit 2008 „eindeutig belegen“, wie Radtke-Rieger findet. Sondern sie stehen auch in Kontakt mit einem ehemaligen Postbank-Mitarbeiter, der seinen früheren Arbeitgeber schwer belastet. Vor allem Steinmüller übte demnach in der Postbank einen maßgeblichen Einfluss aus, weil er nicht nur Aufsichtsrat, sondern auch Vorsitzender des Kreditausschusses war. Dieser bekommt Darlehensentscheidungen ab einer bestimmten Größenordnung vorgelegt, sei aber vor Steinmüllers Berufung „stets den Empfehlungen der Fachabteilungen“ gefolgt, schreibt der Whistleblower in einem Statement. Dann aber habe es intern Weisung gegeben, dass es für jegliche Entscheidung des Kreditausschusses „auf die Stimme von Herrn Steinmüller ankomme“, schreibt der Mann weiter. „Wir müssen Herrn Steinmüller an Bord haben“, habe es geheißen. Steinmüller zeigte Engagement in seiner neuen Rolle. Er ließ sich Kreditanträge in
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HARTMUT MÜLLER-STAUFFENBERG / ACTION PRESS
sein Deutsche-Bank-Büro faxen und sandte von dort auch seine Entscheidung zurück, teils versehen mit etlichen „Empfehlungen“ für sein Plazet. Eine Kreditlinie für VW über 100 Millionen Euro etwa wurFinanzen Der Deutschen de im Sommer 2009 „aufgrund von erBank drohen Milliardenheblichen Konzentrationsrisiken“ auf 50 forderungen wegen der Millionen Euro beschränkt – Konzentrationsrisiken beider Kreditinstitute, der Übernahme der Postbank. Deutschen Bank und der Postbank, so zumindest der Whistleblower. Insgesamt will Anwältin Radtke-Rieger osef Ackermann platzte fast vor Stolz, bei 32 Kreditentscheidungen den Einfluss als er am 12. September 2008 den Einder Deutschen Bank nachweisen können. stieg der Deutschen Bank bei der PostSie und ihre Kollegen sind sich ihrer Sache bank verkündete. Man sichere sich so „für so sicher, dass sie zum Großangriff blasen alle Zeiten“ eine „dominante Position“, und einen Prozess nach dem sogenanndas sei doch „ein sehr smarter Move“. ten Kapitalanleger-MusterverfahrensgeDafür wollte der Schweizer der Deutsetz (KapMuG) planen. Der Entscheid schen Post insgesamt 29,75 Prozent ihrer wäre anwendbar für alle klagenden InvesPostbank-Aktien abnehmen, um die Bank toren. mit den vielen Privatanlegern bald darauf Fünf von zehn nötigen Anträgen für ein ganz zu übernehmen. solches Prozedere hat die Kanzlei schon Mittlerweile hat sich der smarte Move in eingereicht, und dass der zuständige Richein nicht enden wollendes Drama verwanter in Köln nicht abgeneigt ist, hielt er in delt. Seit Jahren gibt es ein absurdes Hin einem schriftlichen Hinweis fest: „Es ist und Her um einen möglichen Wiederverdamit zu rechnen, dass noch weitere Perkauf der gelben Tochter. Jetzt trommeln sonen gleichgelagerte Ansprüche anhängig auch noch Anlegeranwälte aus Deutschland machen werden“, deshalb sei es „erwäund den USA Investoren aus aller Welt für genswert, ein Musterverfahren einzuleieine Musterklage zusammen. Es geht um ten“. Um auch internationale Investoren Schadensersatzansprüche von bis zu 1,6 Milfür eine solche Klage zu begeistern, haben liarden Euro wegen der Übernahme. sich Radtke-Rieger und ihre Kollegen mit Drei Tage nach Ackermanns Auftritt im der US-Kanzlei Hausfeld zusammengetan, Post-Tower ging die US-Bank Lehman die gerade schon 20 000 Kläger geBrothers pleite, die Finanzkrise esgen VW aktiviert hat. kalierte – und Ackermanns Pläne Die Deutsche Bank gibt sich gewurden Makulatur. Ein Übernahlassen. Man habe sich „im Rahmen meangebot an die übrigen Postder Übernahme der Postbank stets bank-Aktionäre in diesen Zeiten? korrekt verhalten. Entsprechende Das wollte Ackermann vermeiden. Klagen sind unserer Überzeugung So achtete die Deutsche Bank danach unbegründet“, erklärt sie. rauf, dass ihr Anteil an der PostAllerdings hat das Institut schon bank jahrelang nicht über die marund zwei Milliarden Euro für die gische Grenze von 30 Prozent stieg, Integration und die neuerliche Abab der man zu einem solchen Antrennung der Postbank verpulvert. gebot gesetzlich verpflichtet ist. Denn die war jahrelang SchlachtErst 2010 machten die Frankfurfeld für den Machtkampf zwischen ter ein Übernahmeangebot an alle Ackermann-Nachfolger Anshu Jain Aktionäre – für 25 Euro pro Aktie. und Privatkundenchef Rainer NesVor der Lehman-Pleite hätte der ke um die strategische Ausrichtung Kaufpreis bei über 57 Euro gelegen. des Konzerns. 2015 stellte Jain die Diese Differenz wollen etliche InPostbank erneut zum Verkauf. vestoren wiederhaben. Ihre ArguJain und Neske sind mittlerweile mentation: Auch wenn die Deutweg – die Postbank nicht. sche Bank formal zunächst nur MinUnd schon wird am nächsten Kaderheitsaktionär gewesen sei, habe pitel des Dramas geschrieben: Nach sie seit September 2008 bei der PostInformationen des SPIEGEL hat der bank quasi durchregiert. „Die Deutsche Bank hatte sich neue Vorstand um John Cryan die über Optionen weitere PostbankVerkaufspläne ad acta gelegt. Die Aktien der Post gesichert“, erläutert Vollintegration der Postbank in die Antje Radtke-Rieger von der AnDeutsche Bank gilt intern als sicher. waltskanzlei Schirp, Neusel & PartGerungen wird nur noch um die ner. Das Vorgehen von Post und Modalitäten – und um die Frage, Deutscher Bank bei der Postbank wie man die neuerliche Kehrtwensei zudem abgestimmt gewesen. de den eigenen Aktionären erkläDas werde dadurch deutlich, dass ren will. Postbank-Filiale in Berlin: „Seit 2008 quasi durchregiert“ Martin Hesse, Anne Seith DER SPIEGEL 8 / 2017
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Vorsprung durch… Betrug Dieselskandal Interne Dokumente und die Aussagen eines beurlaubten Motorenentwicklers belasten Audi-Chef Stadler. Wie lange kann er sich noch an der Spitze der VW-Tochter halten?
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Audi erklärt dazu: „Die durchgeführten Untersuchungen haben sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Aus Sicht unseres Unternehmens sind alle offenen Fragen ausgeräumt. Darüber hinaus kommentieren wir diesen Sachverhalt nicht.“ Ausgangspunkt für den Betrug bei Audi war die Frage: Wie können Dieselmotoren die strengen Abgasgesetze in den USA einhalten? Als Stadler den Chefposten in Ingolstadt übernahm, standen die Entwickler vor einem Dilemma. Der Stickoxidausstoß hätte mit einer hohen Menge an eingespritztem Harnstoff, der auch AdBlue genannt wird, verringert werden können. Allerdings hätten die Autos dafür einen großen Tank benötigt. Den einzubauen wäre aber schwierig gewesen. Oder die Kunden hätten oft nachfüllen müssen.
ULRICH BAUMGARTEN / PICTURE ALLIANCE / DPA
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udi-Chef Rupert Stadler kann überzeugend den getäuschten Boss geben. „Ich hab meine Leute mehrfach gefragt: Sind wir sauber?“, erzählt Stadler gern. Er habe ihnen gesagt: „Legt die Dinge auf den Tisch!“ Ihm sei versichert worden, Audi habe im Gegensatz zur Konzernmutter Volkswagen keine Betrugssoftware in seinen Dieselmotoren. Mehrfach hätten seine Experten dies gesagt. Doch das war falsch. Audi hatte eine verbotene Motorsteuerung und musste den Betrug, den Stadler anfangs dementiert hatte, später eingestehen. Stadler sagt: „Seitdem glaube ich keinem mehr.“ Aber kann man Stadler glauben? Kann man ihm diese Nummer noch abnehmen? Was wusste der Mann, der einst sogar als Kandidat für den Posten des Vorstandsvorsitzenden im VW-Konzern gehandelt wurde, vom Betrug mit mehr als 80 000 DreiLiter-Dieselmotoren von Audi, die auch in Volkswagen- und Porsche-Modelle eingebaut wurden? Interne Unterlagen von Audi aus dem Jahr 2008 belasten Stadler, der 2007 die Führung der Marke übernommen hat. Die Dokumente belegen, dass der Abgasbetrug mit Audis Dieselmotoren in der Amtszeit Stadlers generalstabsmäßig vorbereitet wurde. Audi-Techniker schlugen die „Einführung zweier Betriebsmodi“ vor: Auf dem Prüfstand sollten die Abgase bestmöglich von Stickoxiden gereinigt werden, zu „>90%“, beim normalen Fahrbetrieb dagegen nur zu „30–70%“. Der geplante Betrug ist auf mehreren Schaubildern einer internen Präsentation („SCR Systementwicklung“) festgehalten. Damit niemand die Brisanz der vorgeschlagenen Lösung verkennt, haben die Techniker eine Zeile im Text unterstrichen: „In den USA höchst kritisch.“ Belastet wird der Audi-Chef zudem durch die Aussagen des einstigen Entwicklungschefs für Dieselmotoren, Ulrich Weiß. Bei einem Arbeitsgerichtsprozess in Stuttgart legte dessen Anwalt Hans-Georg Kauffeld Dokumente vor, die belegen sollen, dass Audi-Chef Stadler schon im Jahr 2012 von dem Dieselbetrug erfahren habe. Ein interner Vermerk vom 27. November 2012 hält fest, in den USA entsprächen „die heutigen Fahrzeugkonzepte bei den geforderten Emissionsstandards nicht mehr den aktuell mit den Behörden verhandelten Zulassungsbedingungen für Diesel-Fahrzeuge“.
Audi-CEO Stadler „Die Audi-Motoren sind sauber“
Auf zwei Erprobungsfahrten, die eine im Sommer, die andere im Winter, testeten Audi-Techniker die großen Geländewagen von Volkswagen (Touareg) und Audi (Q7) mit dem Drei-Liter-Dieselmotor. Sie kamen zu erschreckenden Ergebnissen. Der AdBlue-Verbrauch des Touareg läge „in Kundenhand“ bei bis zu acht Litern auf 1000 Kilometer. Der vorgesehene Tank fasste aber nur 16 Liter. Der Touareg-Fahrer müsste also alle 2000 Kilometer AdBlue tanken. Ziel der Entwickler aber war es, dass der Stoff nur bei der üblichen Inspektion nach 10 000 Kilometern nachgefüllt werden sollte. Der „Vorsprung durch Technik“, den Audi in seiner Werbung verspricht, schien in diesem Fall offenbar nicht erreichbar. Audi sicherte sich den Vorsprung durch Betrug – und das, zumindest intern, auch ganz offen. Ein Audi-Techniker schrieb in einer E-Mail, „ganz ohne Bescheißen“ werde man es nicht hinbekommen. Auf Präsentationen schildern Audi-Entwickler ihren „Lösungsansatz: Einführung zweier Betriebsmodi“. Der Motor sollte im „Effizienzmodus“ so gesteuert werden, dass immer ausreichend AdBlue zugesetzt wird. Damit könnte der Stickoxidausstoß maximal verringert werden. Im „Sparmodus“ dagegen sollte der Einsatz wählbar sein. Als „Fazit“ schlugen sie ein „Cycle Beating“ vor. Jene verbotene Technik, nach der ein Motor nur im Testzyklus die Grenzwerte einhält. Mit der Einführung dieser Motorsteuerung begann der Dieselbetrug bei Audi. Und es begann eine langwierige Auseinandersetzung zwischen Vertriebs- und Kaufleuten auf der einen und Technikern und Entwicklern auf der anderen Seite. Zur zweiten Gruppe gehörte der damalige Chef der Dieselmotorenentwicklung Ulrich Weiß. Der heute 48-jährige Techniker hatte das Problem mit den viel zu klein dimensionierten AdBlue-Tanks von seinen Vorgängern geerbt und thematisierte die heikle Frage immer wieder in diversen Arbeitskreisen des Konzerns. Wäre es nicht besser, Behörden und Kunden die Wahrheit über die Abgasreinigung zu sagen, statt mit zweifelhaften Softwareschaltungen zu arbeiten, wollte Weiß wissen. Wäre der Konzern nicht besser beraten, deutlich zu sagen, dass die hohen Umweltnormen bis zur Entwicklung neuer Motoren nur durch das häufige Nachfüllen des AdBlue-Zusatzes zu erreichen seien? Für die Vertriebsabteilung, die vor allem den Absatz im Blick hat, war dies offenbar
JOHN MUGGENBORG
Audi-Verkaufsräume in New York: „In den USA höchst kritisch“
ein Ding der Unmöglichkeit. Um die Abgaswerte einzuhalten, argumentierten sie, müsste in manchen Modellen alle 2000 bis 3000 Kilometer AdBlue aufgefüllt werden. Das sei den Kunden nicht zu vermitteln, zumal in einigen Fällen für ein Auftanken des Zusatzes sogar eine Werkstatt aufgesucht werden müsse. Als Folge einer offenen Kommunikation des Problems drohten gravierende Absatzrückgänge und ein herber Imageverlust. Festgehalten sind die teils hitzigen Diskussionen der beiden Seiten in Protokollen und Präsentationen mehrerer hochkarätiger Arbeitskreise. Entwickler Weiß hat einige von ihnen in seinem Arbeitsgerichtsprozess eingebracht, mit dem er seine Weiterbeschäftigung bei Audi erreichen will. Denn er ist wegen seiner Verwicklungen in die Affäre beurlaubt worden. Die Dokumente sind nicht nur für den Konzern brisant, sondern auch für AudiChef Stadler. Denn ihm, behauptet Weiß’ Anwalt Kauffeld, seien einige der Arbeitskreise direkt zuzuordnen. Die entsprechenden Dokumente und Protokolle habe er gekannt. Darin finden sich klare Aussagen der Vertriebsexperten. So heißt es in einem Vermerk vom November 2012, beim weiteren Umgang mit der Dieselproblematik müssten „Image- und Volumenrisiken“ unter allen Umständen vermieden werden. Der Anwalt des Motorenentwicklers fasst die Situation vor Gericht wie folgt zusammen. Stadler habe gesagt: „Die Audi-
Motoren sind sauber.“ Weiß habe entgeg- Affäre versprochen, den Bericht der USKanzlei veröffentlichen würde. Erst wurde net: „Nein, wir haben ein Problem.“ Als der Skandal aufflog, will Weiß für der Termin dafür immer wieder verschoeinen offenen Umgang mit den Amerika- ben. Jetzt will der Wolfsburger Konzern nern eingetreten sein. In einer von ihm den Bericht doch nicht veröffentlichen – verfassten Präsentation für eine Anhörung aus juristischen Gründen, heißt es. Kann sein. Aber wie glaubwürdig sind bei den US-Behörden ist die Umschaltfunktion der Motoren auf mehreren Seiten solche Aussagen noch, wenn immer neue erläutert. Doch dieses Papier kam bei den Details an die Öffentlichkeit kommen, die US-Behörden nie an. „Die Präsentation den Schluss nahelegen: Der Vorstandschef wurde vom Vorstand zusammengestri- von Audi muss von dem Betrug gewusst haben. Wenn es so war, muss er gehen. chen“, argumentiert Anwalt Kauffeld. Auf Fragen zu all diesen Sachverhalten Und wenn der Mann, der dieses Unternehantwortet Audi mit den immer gleichen men seit zehn Jahren führt, tatsächlich Sätzen: „Die durchgeführten Untersuchun- nichts mitbekommen haben sollte, dann gen haben sich ausführlich mit diesem The- wäre er auch nicht der Richtige auf diesem ma beschäftigt. Aus Sicht unseres Unter- Posten. Audi muss 80 000 Autos in den USA renehmens sind alle offenen Fragen ausgeräumt. Darüber hinaus kommentieren wir parieren oder von seinen Kunden zurückkaufen. Zusammen mit den Strafen wird diesen Sachverhalt nicht.“ Stadlers Vertraute argumentieren, die der Dieselbetrug die Marke wohl 2 Milmit der internen Aufklärung betraute liarden Euro kosten. Das ist wenig im VerKanzlei Jones Day sei allen Hinweisen, die gleich zu den mehr als 20 Milliarden, die jetzt bekannt werden, bereits nachgegan- Volkswagen für die Folgen des Skandals gen, auch den Vorwürfen des einstigen Mo- bislang aufbringen muss. Aber es ist zu torenchefs Weiß. Die Anwälte hätten ihre viel, um nicht die Frage nach der VerantErkenntnisse dem US-Justizministerium wortung des Audi-Chefs zu stellen. Stadler schließt einen Rücktritt kategoübermittelt. Und dieses hätte gewiss Anklage gegen den Audi-Boss erhoben, wenn risch aus. Vor einigen Wochen sagte er es Belege für dessen Schuld entdeckt hätte. dem „Handelsblatt“, das komme für ihn Jones Day habe aber offenbar alle Vorwür- „definitiv nicht“ infrage: „Zu den Aufgaben eines CEO gehört es, das Unternehfe entkräften können. Mag sein. Man könnte dies prüfen, wenn men gerade in schwierigen Zeiten mit ruder VW-Konzern, wie vom Vorstandsvor- higer Hand zu steuern.“ sitzenden Matthias Müller zu Beginn der Frank Dohmen, Dietmar Hawranek DER SPIEGEL 8 / 2017
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Wirtschaft
„Wir sind kein Dinosaurier mehr“ Energie EnBW-Chef Frank Mastiaux über den Umbau seines Unternehmens, das Ende von Kohleund Atomstrom und die Frage, warum die Zukunft im Bau von Straßenlaternen liegt
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Schwache Leistung Gewinn und Verlust von EnBW, in Mio. € 1157 768 484 125
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2009 2010 2011 2012 2013
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EnBW-Energieträgermix Stromabsatz aus Produktion, Handel und Vertrieb 2015
Erneuerbare Energien
Nicht erneuerbare Energien
Kerne ne
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kürzlich für noch einmal fünf Jahre verlängert. Sind Sie damit der letzte Chef bei EnBW? Mastiaux: Nein. Ich gehe davon aus, dass es auch nach mir Chefs in diesem Konzern geben wird. SPIEGEL: Warum sollte es einen Dinosaurier der Energieversorgung wie EnBW in 10 oder 20 Jahren noch geben? Mastiaux: Schon Ihre Wortwahl ist falsch: Wir sind längst kein Dinosaurier mehr. Wir sind seit einigen Jahren dabei, das Unternehmen grundlegend zu erneuern. Und wir sind damit auf einem sehr guten Weg. SPIEGEL: Mit Verlaub, der Name EnBW steht seit Jahrzehnten für Milliardengewinne aus Kohle und Atomkraft. Beides ist ein Auslaufmodell. Mastiaux: So will es die Energiewende. Aber wir sind von Kohle und Atomkraft nicht mehr so abhängig. SPIEGEL: Warum? Mastiaux: Weil wir uns früh darauf eingestellt haben. Wir werden unsere restlichen Atomkraftwerke schließen und zurückbauen, wie vereinbart. Das wird viel Geld kosten und einige Jahre dauern. Aber wir haben ein sehr gutes Team – und mit ein wenig Glück können wir sogar noch ein Geschäft daraus machen. SPIEGEL: Wie das? Mastiaux: Überall in Europa werden Kernkraftwerke stillgelegt und müssen fachgerecht abgerissen und entsorgt werden. Es gibt also einen großen Bedarf, und wir wollen anderen Betreibern von Nuklearanlagen unsere Expertise anbieten. SPIEGEL: EnBW besitzt aber nicht nur Atom-, sondern auch gut ein halbes Dutzend Kohlekraftwerke. Wollen Sie die auch stilllegen? Mastiaux: Wir sehen uns unsere Kraftwerke jeden Monat sehr genau an. Anlagen, die
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SPIEGEL: Herr Mastiaux, Ihr Vertrag wurde
den Umwelt- und Rentabilitätsstandards nicht mehr standhalten, melden wir zur Stilllegung an. Bei rund einem Drittel unserer Steinkohlekapazitäten ist das bereits geschehen. SPIEGEL: Weil die Anlagen nicht mehr wirtschaftlich sind … Mastiaux: … und weil sie den künftigen Klimavorgaben nicht mehr genügen werden. Die ehrgeizigen Vorgaben werden in Deutschland Strom aus Kohle grundsätzlich infrage stellen. Auch auf diesen Umbruch bereiten wir uns vor. SPIEGEL: Kraftwerke zu schließen ist noch keine Zukunftsstrategie. Mastiaux: Das ist richtig. Es wäre auch schlimm, wenn wir in den vergangenen Jahren nichts anderes gemacht hätten. Wir haben aber massiv in Netze und in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert. Mit diesen beiden Bereichen verdienen wir inzwischen deutlich mehr Geld als mit den konventionellen Kraftwerken. SPIEGEL: Das ist auch nicht schwer, wenn der alte Teil immer weiter schrumpft.
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Der Name EnBW stand in Deutschland wie kaum ein anderer für Strom aus Kohle und Atomkraft. Vier große Kernkraftwerke garantierten dem Konzern nahezu die Hälfte seines Jahresgewinns. Zumindest bis zu dem von der Bundesregierung verordneten Ausstieg aus der Risikotechnologie im Jahr 2011 und der danach konsequent umgesetzten Energiewende. EnBW musste umsteuern und verpflichtete dazu im Jahr 2012 den ehemaligen Leiter der E.on-Ökostromsparte Frank Mastiaux. Der heute 52-jährige Manager hat dem Unternehmen eine inzwischen viel beachtete Radikalkur verordnet.
Ko Sonstige 3,2
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51,5 %
Mastiaux: Das ist nicht der ausschlaggeben-
de Grund. Wir haben die Kapazitäten bei den erneuerbaren Energien inzwischen verdreifacht. Und wir nehmen beim Ausbau spürbar Geschwindigkeit auf. SPIEGEL: Das heißt konkret? Mastiaux: Wir werden 2017 jede Woche ein neues Windrad aufbauen, in der zweiten Jahreshälfte sogar jeden dritten Tag. Wir haben neue, intelligente Systeme in der Solartechnik entwickelt, die wir gerade in den Vertrieb bringen. Dazu kommen unsere großen Offshore-Windparks. Ich denke, damit können wir uns sehen lassen. SPIEGEL: Sie hätten einen deutlich größeren Sprung beim Ökostrom machen können, wenn die Übernahme des Ökostrombetreibers Prokon geklappt hätte. Woran ist der Deal gescheitert? Mastiaux: Ich glaube, dass die Zeit noch nicht reif war. Viele Prokon-Eigentümer haben uns nicht abgenommen, dass wir es mit der Veränderung wirklich ernst meinen. Sie haben gedacht, Ökostrom sei für uns nur ein Feigenblatt, um die traditionellen Aktivitäten zu kaschieren. Entsprechend groß war ihre Zurückhaltung, uns ihre Anteile an Prokon anzubieten. SPIEGEL: Glauben Sie, das wäre heute anders? Mastiaux: Ich würde es hoffen. Den Ruf eines Unternehmens wie EnBW ändert man nicht über Nacht. Man muss den Ankündigungen Taten folgen lassen. Das geschieht jetzt und wird nach außen immer sichtbarer. Und lässt sich auch an den Zahlen ablesen. SPIEGEL: Das heißt? Mastiaux: Bei Windparks an Land zählen wir zu den drei größten Entwicklern in Deutschland. Außerdem haben wir gerade die Investitionen für einen dritten Offshore-Windpark in der Nordsee mit einer Kapazität von über 500 Megawatt freigegeben. Die schwierige Technik auf hoher See beherrschen wir mittlerweile sehr gut. Die Parks funktionieren reibungslos, und jede dieser milliardenschweren Anlagen bringt uns bei der erneuerbaren Stromerzeugung einen wirklich großen Schritt nach vorn. SPIEGEL: Trotzdem dürfte das alles nicht reichen, ein Unternehmen wie EnBW mit seinen rund 20 000 Mitarbeitern auf Dauer zu finanzieren. Mastiaux: Das ist richtig. Die Umstellung auf ökologische Stromerzeugung war nur ein erster Schritt. Inzwischen stehen wir aber vor der nächsten Phase, der Energie-
BERTHOLD STEINHILBER / LAIF / DER SPIEGEL
EnBW-Manager Mastiaux „Geprüft und ganz direkt wieder verworfen“
wende 2.0. Auch die müssen wir beherzt angehen, denn die Veränderungen werden noch tiefer greifend sein. SPIEGEL: Was verstehen Sie unter Energiewende 2.0? Mastiaux: Bislang waren die Veränderungen stark von Politik und Regulierung getrieben. Unternehmen wie EnBW haben auf Verordnungen oder Gesetze, wie den Atomausstieg, reagiert. Jetzt gehen wir in eine Phase, in der der Veränderungsdruck vom Markt ausgeht: Neue Wettbewerber, ein neues Kundenverhalten und digitale Geschäftsmodelle bestimmen die neue Energiewelt. Es geht darum, anders mit Kunden zusammenzuarbeiten, Trends frühzeitig zu erkennen, neue Technologien zu nutzen und in attraktive Produkte umzusetzen. Das sind ganz neue Herausforderungen. SPIEGEL: Vor allem aber nichts, was man einem behäbigen Energieversorger zutraut. Mastiaux: Warten wir es ab. Energieversorger haben in der Tat Jahrzehnte gut gelebt, ohne sich bewegt haben zu müssen. Genau das haben wir bei EnBW aber geändert. Es kann ja nicht sein, dass Kunden weltweit mit einem Mausklick Reisen buchen und Produkte kaufen können, der Abschluss eines simplen Stromvertrags aber zu einem bürokratischen Kraftakt wird. SPIEGEL: Was genau haben Sie verändert? Mastiaux: Wir haben unsere Organisation umgekrempelt, Hierarchien abgeschafft und sind dabei, viele kleine, flexible Teams zu installieren, die weitgehend autark arbeiten. Im Kern haben wir unsere Veränderungsfähigkeit gestärkt. Wir müssen als Unternehmen in der Lage sein, heute überzeugende Lösungen für die Elektromobilität bereitzustellen, morgen Produkte für das vernetzte Unternehmen und übermorgen für technische Entwicklungen, die wir noch nicht einmal kennen. Das ist die Herausforderung der Energiewende 2.0. SPIEGEL: Die Chefs Ihrer Konkurrenten bei RWE und E.on haben ihre Unternehmen aufgespalten. Dort gibt es jetzt eine Art Bad Bank mit dem alten Kraftwerkspark und einem Zukunftsbereich mit Ökoenergie und bunten Sitzecken wie bei Google. Wäre das für EnBW nicht auch eine Lösung gewesen? Mastiaux: Wir haben ein solches Modell geprüft und direkt wieder verworfen. SPIEGEL: Warum? Mastiaux: Eine Aufspaltung allein erzeugt keine Veränderungsfähigkeit. Dazu kostet sie zu viel Geld und Zeit. Das Geld haben wir lieber in den Ausbau der erneuerbaren Energien gesteckt. Die Zeit haben wir genutzt, um den Konzern umzubauen, unsere Mitarbeiter zu motivieren und neue Produkte zu entwickeln. DER SPIEGEL 8 / 2017
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SPIEGEL: Herausgekommen ist: eine Stra-
ßenlaterne.
Mastiaux: (lacht) Das ist nicht fair, da muss
man anders draufgucken.
Bettina Flitner
DER SPIEGEL
DER SPIEGEL im Gespräch mit Alice Schwarzer: live
Alice Schwarzer, die Ikone der deutschen Frauenbewegung, zieht mit den SPIEGEL-Redakteuren René Pfi ster und Markus Feldenkirchen eine Bilanz ihres jahrzehntelangen Kampfes. Sie spricht über Angela Merkel, Hillary Clinton und den Feminismus in Zeiten von Supermachos wie Donald Trump oder Wladimir Putin.
Montag, 20. Februar 2017, 20.00 Uhr, Spiegelsaal, Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de. Eintritt: 15,30 Euro, ermäßigt 12 Euro. Einlass ab 19 Uhr. Änderungen vorbehalten.
SPIEGEL: Wie denn? Mastiaux: Die Straßenlaterne ist eines von
vielen neuen EnBW-Produkten, aber ein echtes Multitalent. Sie ist ein Schlüssel für einen Geschäftszweig, von dem wir uns in Zukunft viel versprechen. Dabei geht es um den Aufbau und die Steuerung urbaner Infrastruktur, also Verkehrs- und Energiesysteme, Breitbandnetze oder sensible Sicherheitsprojekte. SPIEGEL: Dieses Geschäft verbindet man mit Unternehmen wie Bosch, Siemens, vielleicht noch der Telekom. Aber warum EnBW? Mastiaux: Weil wir in diesem Bereich jahrzehntelange Erfahrung und hohe Expertise haben. Wir betreiben nicht nur Kraftwerke, sondern auch komplexe Stromnetze oder IT-Systeme mit einer Zuverlässigkeit und Sicherheit, die weltweit ihresgleichen sucht. Dieses Wissen können wir auf andere Infrastrukturprojekte übertragen. SPIEGEL: Die wären? Mastiaux: Ich denke etwa an Schnellladenetze für Elektroautos, wie wir sie derzeit für Tank & Rast oder Hyundai bauen. An sensible Datennetze, aber auch an Verkehrssteuersysteme in Kommunen und Städten. Es gibt da eine ganze Reihe von Anwendungen, die wir anbieten können. SPIEGEL: Und was hat das alles mit der Laterne zu tun? Mastiaux: Diese Straßenlaterne ist eine Schlüsseltechnologie für solche Infrastruktur, weil sie viele Bereiche abdeckt. Sie dient als Notrufsäule, kann Elektroautos aufladen, Lärm, Temperatur und Feinstaubbelastung messen. Sie kann Verkehrsbewegungen erfassen und natürlich Daten in jeder Form empfangen, weiterleiten und drahtlos zur Verfügung stellen. Damit eignet sie sich für umweltorientierte Verkehrssteuerung, für Parkraummanagement oder die Steuerung von autonom fahrenden Autos. SPIEGEL: Haben Sie auch schon welche verkauft? Mastiaux: Ja, viele sind sogar bereits im Einsatz. In Gemeinden wie Schönau und Ettlingen überwachen sie den Verkehrsfluss, in australischen Städten den Parkraum, in Norwegen gibt es Tests zur Luftmessung. Aber um all das geht es uns primär gar nicht. SPIEGEL: Worum dann? Mastiaux: Städte und Gemeinden werden in den nächsten Jahren weltweit viele Milliarden Euro in den Aufbau und die Erneuerung ihrer Infrastruktur investieren müssen. Die intelligente Laterne hilft uns, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und zu zeigen, dass wir ihre Probleme kennen und lösen können. Das ist der eigentliche Sinn. Interview: Frank Dohmen 64
DER SPIEGEL 8 / 2017
Wirtschaft
Juristisches Gezerre V. HARTMANN / FUNKE FOTOSERVICE / ACTION PRESS
Luftfahrt Hinterbliebene der Germanwings-Katastrophe fürchten, von ihren Anwälten über den Tisch gezogen zu werden – und drohen ihnen mit Klage.
A
m Ende geht es darum, den Wert eines menschlichen Lebens zu bestimmen: Gibt es Kinder, die der Tote hätte versorgen müssen? Sind Kredite abzubezahlen? Und wie viel hätte das Opfer bis zur Rente verdient, wenn es an einem Frühlingsmorgen in Barcelona nicht an Bord einer Germanwings-Maschine gestiegen wäre? In jenes Flugzeug, das der Kopilot Andreas Lubitz mit 149 Personen in einen Berg in den französischen Alpen gesteuert hat. Viele der Hinterbliebenen der Flugkatastrophe vom 24. März 2015 haben inzwischen einen Schlussstrich unter die Tragödie gezogen, zumindest in materieller Hinsicht. Sie haben sich mit der Versicherung von Lufthansa über Entschädigungssummen geeinigt. Allerdings nicht alle – und unter denen sorgt der nun anstehende zweite Jahrestag der Katastrophe für Unruhe. Denn 35 Familien haben den Opferanwalt Christof Wellens aus Mönchengladbach und die New Yorker Kanzlei Kreindler & Kreindler als Rechtsbeistand beauftragt. Die Juristen hatten ihren Mandanten eine besonders hohe Entschädigungssumme in Aussicht gestellt, weil sie sich nicht nur in Deutschland außergerichtlich vergleichen, sondern die Lufthansa vor einem Gericht in den USA verklagen wollten. Der juristische Kniff: Sie prozessieren gegen die Flugschule der Lufthansa im USBundesstaat Arizona, an der Lubitz trotz seiner vorhergehenden schweren Depression ausgebildet worden war. Doch der Vertrag, den die Hinterbliebenen dafür unterzeichnet haben, könnte sich jetzt als Fehler erweisen. Denn nach dem zweiten Jahrestag können die Ansprüche auf Schadensersatz in Deutschland gegen die Fluggesellschaft nicht mehr geltend gemacht werden – trotzdem haben Wellens und Kreindler in Deutschland bisher keine Klage für ihre Mandanten eingereicht. Jetzt läuft die Zeit ab. Das Augenmerk der Juristen liegt auf dem Verfahren in den USA, glaubt man bei Lufthansa. Je näher die Ausschlussfrist rückt, desto nervöser werden die Angehörigen. Sollten
Überführung von Germanwings-Opfern*: Besonders hohe Entschädigungssumme
Wellens und die US-Anwälte die Ansprüche in Deutschland verspielen, will ein Teil von ihnen den Schaden von Anwalt Wellens ersetzt haben. Zwei Hinterbliebene haben deshalb bereits ihren eigenen Anwälten Schadensersatzklage angedroht. Sie lassen sich dabei von einem anderen bekannten Opferanwalt vertreten, dem Hannoveraner Ulrich von Jeinsen. Denn es geht um durchaus hohe Summen: Die Angehörigen eines Familienvaters etwa, der bei einer solchen Flugkatastrophe umkommt, können mit Hunderttausenden Euro für den Verlust ihres Ernährers rechnen. In internen Rundbriefen versucht Wellens seine aufgebrachten Mandanten zu beruhigen. Man werde „auch in Deutschland die notwendigen Schritte einleiten“, damit die Ansprüche „nicht der Verjährung unterfallen“. Deshalb werde man das Gespräch mit der Lufthansa suchen, notfalls Klage einreichen. Doch aus Sicht jener, die ihren eigenen Anwalt in Regress nehmen wollen, gibt es einen entscheidenden Haken: Sie haben ihren Vertrag mit der New Yorker Kanzlei geschlossen. In dem steht, dass man den Amerikanern die „ausschließliche Berechtigung und volle Autorität zur Wahrnehmung aller juristischen Schritte“ erteile. In einer separaten Erklärung gegenüber Wellens steht, Kreindler würde auch „für den Kontakt mit den Haftpflichtversicherungen“ zuständig sein. Einen deutschen Schadensersatzprozess aber können die US-Anwälte nicht führen, weil sie dafür keine Zulassung besitzen. * In Haltern am See im Juni 2015.
Anwalt Wellens aus Mönchengladbach wäre theoretisch dazu in der Lage – das könnte jedoch als Kündigung des Mandantenvertrags zwischen den Hinterbliebenen und Kreindler ausgelegt werden. Die Sorge der Hinterbliebenen ist, dass dann eine Klausel in Kraft tritt, nach der die Amerikaner auf alle auch in Deutschland erstrittenen Gelder ein „Pfandrecht“ haben, damit „Kosten“ aus ihrem Verfahren abgegolten werden können. Für die Angehörigen wäre das eine Horrorvorstellung: Sollte man sich mit der Lufthansa vergleichen, würde Kreindler das erstrittene Geld einfrieren lassen? Kreindler-Anwalt Marc Moller bestreitet das, man werde den Hinterbliebenen nur ein Honorar berechnen, wenn die Klage in den USA erfolgreich sei. Was Wellens in Deutschland erstreite, wolle man nicht anrühren. „Wir alle haben uns verpflichtet, das Beste für unsere Mandanten zu erwirken“, sagt er. Wellens erklärt, seine Kanzlei sei für die deutschen Rechtsfragen zuständig und werde „nach Rechtsanwaltsvergütungsgesetz“ dafür bezahlt. Die Angehörigen, die den eigenen Anwälten nicht mehr recht trauen, wollen das allerdings schriftlich von Wellens und Kreindler. Die wiederum spekulieren darauf, dass die Lufthansa sich kurz vor dem Jahrestag vergleichen will, im Rechtsstreit in den USA und in Deutschland. Die Juristen der Fluggesellschaft aber wehren sich gegen die Vermischung des amerikanischen Verfahrens mit den deutschen Schadensersatzansprüchen. Das juristische Spiel auf dem Rücken der Hinterbliebenen hat also erst begonnen. Gerald Traufetter DER SPIEGEL 8 / 2017
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Wirtschaft
besitzer waren glücklich, weil sie ein paar Euro hinzuverdienten. Heute funktioniert die Untermiete professionell per App, über 11 000 private Stellplätze sind in der Vermittlung, viele davon in Parkhäusern. Ampido verdient daran, weil es 30 Prozent Provision behält. Sogar Kommunen planen inzwischen, einen Teil Verkehr Die Suche nach Parkihrer Stellflächen über Ampido zu verwalplätzen ist in Städten ein ten. Köln, Stockholm und Barcelona maAlbtraum. Start-ups versprechen chen den Anfang. „Im Berufsverkehr können wir für Entlastung sorgen, weil durch Abhilfe: indem sie den nächsten eine Vorreservierung der Parksuchverkehr freien Stellplatz voraussagen. reduziert wird“, sagt Pakasathanan. Doch was ist, wenn der gebuchte Parker glaubt, zu viel Miete zu be- platz von einem anderen weggeschnappt zahlen, sollte nach München worden ist? Die App hat für solche Fälle schauen. Dort gibt es ein Objekt eine Denunzierfunktion: Der Nutzer solle in der Stollbergstraße, das ist fünf Meter ein Foto schießen, die Zentrale des Startlang, keine drei Meter breit und fensterlos. ups kümmere sich um einen AbschleppEs kostet trotzdem 14 Euro Miete pro Qua- wagen, während der Kunde einen Ersatzdratmeter im Monat. Es ist ein Tiefgara- stellplatz bekomme. Die Idee könnte den Markt grundlegend genstellplatz. Der Parkplatzirrsinn hat Deutschland verändern: Parkhauskonzerne wären dann fest im Griff: Jedes dritte Auto, das in der bloß noch Anbieter von Parklücken, abGroßstadt unterwegs ist, fährt laut einer hängig von verschiedenen Plattformen. Studie der Prognos AG nur herum, weil Die Parkplatzbetreiber müssten Provisiosein Fahrer eine Lücke sucht. 560 Millio- nen bezahlen. nen Stunden im Jahr sind die Deutschen Die Konkurrenz um das Geschäft mit abdemnach allein mit dem Aufspüren von gestellten Autos ist groß. Siemens etwa setzt Abstellplätzen beschäftigt. auf Sensoren an den Straßen, die einen freiDas ist vertane Zeit – aber eben auch en Parkplatz erfassen. Das dürfte allerdings ein Markt für diejenigen, die Abhilfe ver- mühsam werden, da die Kommunen zu wesprechen. Rund ein Dutzend Start-ups in nig Geld für die notwendigen Investitionen Leipzig, Berlin oder München sind entstan- haben. Schon jetzt ist Parkraumbewirtschafden, die das Zivilisationsproblem Park- tung für sie häufig ein Minusgeschäft. platznot lösen wollen. Auch die deutschen Autokonzerne miAmpido ist eines davon. Als die Univer- schen im Kampf um die Lücke mit. BMW sität Köln ihr Parkhaus abreißen ließ, frag- und Mercedes basteln an Lösungen, bei ten die Studenten Adalbert Rajca, 34, und denen Fahrzeugsensoren die Parksituation Yasotharan Pakasathanan, 33, bei Anwoh- im Vorbeifahren scannen. Experten rechnern nach, ob sie deren Garagen tagsüber nen damit, dass mindestens sechs Prozent nutzen könnten, weil die ohnehin meist aller Autos als Datenlieferanten vonnöten leer standen. Bei den Kommilitonen fand wären, bis ein solches System funktioniert. das Angebot Anklang, und die Garagen- Zumal die Fehlerquote hoch ist: Was ist
Kampf um die Lücke
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eine Einfahrt, was ein Parkplatz? Vor allem aber ist die Frage unbeantwortet, wem die Daten am Ende gehören. Außerdem bleibt das Grundproblem bestehen: Nur weil gerade ein Parkplatz frei geworden ist, heißt das nicht, dass er noch unbesetzt ist, wenn der Autofahrer mit der App das Signal bekommen hat und seinen Wagen zur vermeintlichen Lücke lenkt. So könnte die gut gemeinte Hilfe schnell zu neuem Frust führen. Silvan Rath geht deshalb einen anderen, schnelleren Weg. Sein Start-up Parktag liest Handydaten aus und berechnet so die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Stellen einen Parkplatz zu bekommen. Das System schlägt also Alarm, bevor die Lücke überhaupt frei geworden ist. „Ein Smartphone produziert stündlich ein Gigabyte an Daten von 13 Sensoren. Die werten wir aus“, sagt er. Bricht das WLAN ab, hat der Besitzer wohl gerade das Büro verlassen. Registriert das Gerät Erschütterungen, wird er zum Auto laufen, ändert sich der Luftdruck, sitzt er drin und fährt gleich los – ein Platz wird frei. „Die Fehlerquote liegt bei zwei Prozent. Alle Daten werden ohnehin ständig erhoben. Wir nutzen sie nur“, relativiert Rath mögliche Datenschutzbedenken. In Berlin funktioniert das System schon leidlich, in anderen Städten fehlt die kritische Nutzermasse. „Niemand wird sich künftig extra eine App nur fürs Parken herunterladen“, glaubt Rath, „das muss in Mobilitätssoftware integriert sein.“ Bis dahin bleibt Platz für simplere Geschäftsmodelle. Wie das des US-Startups Luxe. Hier übernimmt ein Fahrer den Wagen des Kunden, der per App zum gewünschten Ort beordert wurde, und parkt ihn irgendwo. Per Smartphone bestellt man sein Auto bei Bedarf wieder zurück. Kosten für den Dienst: rund fünf Dollar die Stunde. Martin U. Müller Mail:
[email protected]
Mangelwirtschaft
Parkplatzbesitzer melden sich bei Start-ups wie Ampido an: Kommunen, Firmen, Betreiber von Parkhäusern, aber auch Privatpersonen, die Stellflächen vermieten wollen. E-Ladestationen sind gleichfalls vernetzt.
Funktionsweisen von Parkplatz-Apps
Die App leitet den Autofahrer zu freien Parkplätzen. Als Vermittler erhält Ampido einen Anteil am Parkentgelt.
Ein anderes System setzt auf Sensoren an Straßen und Plätzen, die frei werdenden Parkraum melden.
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Autos mit Sensortechnik registrieren im Vorbeifahren Parklücken und melden diese einem Cloud-Server. Ist der Anteil solcher Fahrzeuge groß genug, ergibt sich aus ihren Daten ein ständig aktualisiertes Parkraum-Gesamtbild.
Software in Smartphones verrät indirekt, ob die Besitzer ihr Fahrzeug gerade nutzen. App-Programme analysieren den Datenstrom und bewerten regional die Aussichten auf frei werdende Parkplätze.
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OPEL
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In Rüsselsheim geht der Sprit aus
THE NEW CRAZY So kommen deutsche Firmen mit Trump zurecht
MD17-512
Wut in Paris Die Proteste gegen die brutale Festnahme eines 22-Jährigen afrikanischer Abstammung in Aulnay-sous-Bois schwappen aus den Vororten nach Paris. Wie hier, nahe der Metrostation Barbès, tragen Hunderte Jugendliche zwei Wochen nach dem Polizeiübergriff ihre Wut ins Zentrum der französischen Hauptstadt. Noch ist kein Ende der Unruhen absehbar: Die Sicherheitskräfte sollen ihr Opfer mit einem Schlagstock vergewaltigt haben.
Analyse
Neue Nachgiebigkeit Warum Polen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit weiter betreiben wird Am Dienstag soll in Brüssel ein Brief aus Warschau eingehen. Die nationalkonservative Regierung Polens muss sich schriftlich verteidigen gegen den Vorwurf, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verletzen. Die EU-Kommission wirft Warschau unter anderem vor, das Verfassungsgericht faktisch außer Kraft gesetzt zu haben. Wie schon zweimal zuvor wird das Schreiben aus Warschau wohl wieder in allerletzter Minute eintreffen. Polen hat wenig Grund, zuvorkommende Eile an den Tag zu legen – und schon gar keinen, einzulenken. Im Gegenteil: Die Chancen, dass die von Jarosław Kaczyński kontrollierte Regierung auch diesmal trotz der schwerwiegenden Vorwürfe ungeschoren davonkommt, sind besser denn je. Derzeit hat niemand in der EU ein Interesse daran, den Konflikt mit dem sechstgrößten Mitgliedstaat zuzuspitzen. Der Brexit, ein erneut drohender Grexit, ein irrlichternder US-Präsident und ein aggressiv auftretender Wladimir Putin in Mos70
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kau gefährden Europa. Hinzu kommen die nationalpopulistischen Bedrohungen in Frankreich und den Niederlanden. Ein Indiz für die neue Nachgiebigkeit gegenüber Polen war der Besuch von Kanzlerin Angela Merkel vor zehn Tagen in Warschau. Das Treffen mit Kaczyński verlief so harmonisch, dass seine Berater schwärmten, zwischen den beiden stimme die „Chemie“. Die einzige Möglichkeit, Warschaus Fehlverhalten zu bestrafen, wäre, Polen gemäß Artikel 7 des LissabonVertrags in der EU das Stimmrecht im Rat zu entziehen. Doch für diese Option gibt es nicht die nötige Einstimmigkeit, Ungarn hat sein Veto angekündigt. Also wird die EU das mit großer Geste vor mehr als einem Jahr eingeleitete Rechtsstaatlichkeitsverfahren wohl unauffällig auslaufen lassen. Und Kaczyński wird nicht versäumen, dies als großen Sieg auszuschlachten. Sein Justizminister arbeitet bereits daran, auch die übrigen Gerichte der Regierung zu unterwerfen. Jan Puhl
Ausland Lawine aus dem Norden Unter Barack Obama hatte die Zahl der Abschiebungen aus den USA nach Mexiko bereits Rekordhöhen erreicht. Wenn Donald Trump umsetzt, was er angekündigt hat, droht dem Nachbarland nach Einschätzung von Experten nun ein logistischer und humanitärer Albtraum. Bis zu dreimal pro Woche waren in der Amtszeit Obamas Jets mit Abgeschobenen in der mexikanischen Industriestadt Ciudad Acuña an der Grenze zu Texas gelandet. 2,8 Millionen illegale Einwanderer, zumeist Lateinamerikaner, wurden so in ihre Heimat zurückgeschickt. Donald Trump könnte mehr als viermal so viele Menschen deportieren
Indien
Fußnote
1 Hektar
Land steht seit Kurzem jedem Russen im äußersten Osten des Landes zu – und zwar umsonst. Russlands Regierung sucht dringend Siedler für die Gebiete am Pazifik, am Grenzfluss Amur und im sibirischen Jakutien. Wer seinen Hektar fünf Jahre lang bebaut, darf ihn anschließend behalten. Das Angebot gilt seit dem 1. Februar für alle Russen. Seither sind mehr als 25 000 Bewerbungen eingegangen.
Indien erwägt, ein bedingungsloses Grundeinkommen für seine 1,3 Milliarden Bürger einzuführen. Das Finanzministerium empfiehlt, jedem Inder 7620 Rupien (107 Euro) pro Jahr zu geben. Das wäre zwar weniger als der gesetzliche Monatsmindestlohn in den Städten, aber genug, um Millionen aus bitterer Armut zu befreien. Die Armutsquote würde von 22 auf unter 1 Prozent sinken. Die Umsetzung dauert: Es fehlen Bank-
konten, in vielen Dörfern gibt es nicht einmal Geldautomaten. Aber das Konzept, das auch in reichen Ländern wie Finnland diskutiert wird, ist für Indien attraktiv: Rund 950 verschiedene Sozialhilfeprogramme gibt es im Land, unter anderem für subventionierte Nahrungsmittel und Dünger. Ein großer Teil der Hilfe landet in den Händen korrupter Mittelsmänner. Das würde sich ändern. Zudem wären Hausfrauen mit eigenem Einkommen weniger von ihren Ehemännern abhängig. lh
AKSHAY GUPTA / LIGHTROCKET / GETTY IMAGES
ARNAUD ANDRIEU / SIPA / ACTION PRESS
Rupien für alle
lassen wie sein Vorgänger in acht Jahren: Über elf Millionen Einwanderer leben ohne Papiere in den USA, so Schätzungen. „Mexiko ist auf diese Menschenmasse nicht vorbereitet“, sagt Padre José Guadalupe Valdés Alvarado, ein katholischer Priester in Piedras Negras. „Die Grenzstädte sind nicht in der Lage, so viele unterzubringen.“ Trump will auch Einwanderer abschieben, die sich geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben, sei es, weil sie zu schnell gefahren sind oder mit Alkohol am Steuer erwischt wurden. „Hunderttausende Familien werden zerrissen“, warnt der Padre. Geistliche auf beiden Seiten der Grenze wollen sich bald im texanischen Brownsville treffen, um über das Drama der Deportierten zu beraten. jgl
Familie im Bundesstaat Uttar Pradesh
Trumps Woche Das Wochenende verlief noch einigermaßen okay. Donald Trump verbrachte es mit seinem neuen besten Freund, dem Premierminister von Japan, den er auf Twitter „Premier Shinzo“ nannte, dessen Nachname aber Abe ist und dessen Hand er bei der Begrüßung eindrucksvoll schüttelte. Sie waren zusammen golfen in Florida, in Trumps exklusiver Mar-a-Lago-Residenz, wo sie inmitten der zahlenden Gäste später die Raketenkrise mit Nordkorea besprachen. Trump war auch glücklich mit dem Auftritt seines erst 31-jährigen Beraters Stephen Miller in diversen TV-Shows, in denen Miller versicherte, dass künftig „niemand die Macht des Präsidenten infrage stellen wird“, was totalitär klang, aber zu einem lobenden Tweet des Präsidenten führte. Am Montag kam dann der sehr gut aussehende Premierminister von Kanada zu Besuch, auch das war irgendwie schön. Dann aber verdüsterte sich die Stimmung im Weißen Haus. Trumps Team erlebte eine Krise nach der anderen, seine Zustimmungsrate fiel auf gut 40 Prozent – ein historisches Tief für einen Präsidenten so früh in seiner Amtszeit. Schließlich musste nach nur 24 Tagen Sicherheitsberater Michael Flynn zurücktreten, weil er noch vor Amtsantritt heimlich mit dem russischen Botschafter über die Aufhebung der Sanktionen gesprochen und den Vizepräsidenten belogen hatte. Trump wusste laut Angaben des FBI seit mehr als zwei Wochen davon, sagte aber lieber nichts, auch nicht seinem Vizepräsidenten Mike Pence. Es müssen ja nicht alle so gut informiert sein wie er. DER SPIEGEL 8 / 2017
EDEL RODRIGUEZ FÜR DEN SPIEGEL
Mexiko
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Ausland
Trumpgate USA Die Affäre um den entlassenen Sicherheitsberater Mike Flynn hat Präsident Donald Trump in eine schwerwiegende Krise gestürzt. Wie eng waren die Verbindungen seiner Mitarbeiter zu Russland wirklich?
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s sind Tage, in denen wieder eine der berühmtesten Fragen der amerikanischen Politik gestellt wird. Sie lautet: „Was wusste der Präsident, und wann wusste er es?“ Die Frage, die jetzt in den Kommentaren und den Überschriften der großen US-Medien zu lesen ist, hatte der republikanische Senator Howard Baker 1973 als Kovorsitzender des Untersuchungsausschusses zur Watergate-Affäre gestellt. Der Präsident, um den es damals ging, war Richard Nixon. Es war eine andere Zeit, ein anderer Präsident. Nun geht es um Donald Trump, der erst 24 Tage im Amt war, als sein chaotisches Weißes Haus von einer politischen Krise erfasst wurde, deren Ausmaß sich noch nicht abschätzen lässt. Es geht um den diese Woche zurückgetretenen Nationalen Sicherheitsberater Michael Flynn, der vor Trumps Amtsantritt heimlich mit dem russischen Botschafter sprach, offenbar auch über die Aufhebung der Sanktionen. Es geht um die undurchsichtigen Beziehungen Trumps und seiner Getreuen zu Russland. Und schließlich um die Frage, wie tief die Einmischung russischer Geheimdienste in den US-Wahlkampf reichte. Es gehört zu den anstrengenden Ritualen des Washingtoner Politikbetriebs, dass jedem angeblichen Skandal in Erinnerung an Watergate das Anhängsel „-gate“ verpasst wird: Monicagate (für den Skandal um Monica Lewinsky), Emailgate (für Hillary Clintons privaten Mailserver), Pussygate (für Donald Trumps bekannt gewordene Äußerungen über Frauen). Doch diesmal ist die Angelegenheit schwerwiegender. Ernst zu nehmende Kommentatoren wagen den Vergleich mit dem Urskandal der US-Politik. Die Affäre um General Flynn, Donald Trump und die Russen hat das Potenzial, den Präsidenten zu lähmen, noch bevor er richtig im Amt angekommen ist. Sie könnte ihn im äußersten Fall gar stürzen. „Was wusste der Präsident, und wann wusste er es?“ Darauf muss Trump nun antworten. Bisher sind seine Erklärungen alles andere als schlüssig, sie zielen darauf zu vernebeln. Schuld sind für ihn die Medien, schuld sind die Mitarbeiter, die Informationen durchgestochen haben. „Michael Flynn ist ein wunderbarer Mann, die Medien haben 72
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ihn sehr, sehr unfair behandelt“, sagte Trump am Mittwoch während der Pressekonferenz mit dem israelischen Premier Benjamin Netanyahu, „es sind die FakeMedien, wie ich sie nenne“. Es sei ein „illegaler Akt“, dass Dokumente geleakt wurden, „das passiert seit Langem, aber jetzt passiert es noch heftiger“, sagt Trump. Doch beides kann nicht richtig sein. Flynn kann nicht zugleich das Opfer einer falschen Medienberichterstattung und illegaler Geheimdienstleaks sein. Ihren Ursprung nahm die Krise in der vergangenen Woche, als die „Washington Post“ enthüllte, dass Flynn bereits Wochen vor dem Regierungswechsel mit dem russischen Botschafter Sergej Kisljak über die Sanktionen gesprochen hatte. Die geheimen Transkripte der abgehörten Gespräche wurden Flynn zum Verhängnis. Denn am selben Tag, an dem Flynn mit dem Russen telefonierte, hatte Präsident Obama die Ausweisung von 35 russischen Diplomaten verfügt, als Antwort auf die Einmischung Russlands in den Präsidentschaftswahlkampf. Am Tag nach dem Gespräch gab Präsident Wladimir Putin überraschend bekannt, Russland werde nicht mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren – obschon sie zuvor angekündigt worden waren. Trump twitterte daraufhin: „Ich wusste doch immer, dass er schlau ist.“ Da Flynn in dem Gespräch die Sanktionen angesprochen hatte, liegt die Vermutung nahe, dass er den Russen ihre Aufhebung in Aussicht gestellt hatte. Das verstößt zum einen gegen geltende Gesetze. Vor allem aber wirft es die viel größere Frage auf, wie weit die Absprachen zwischen Trumps Team und Russland noch gingen. Die „New York Times“ meldete am Dienstag: Mehrere Mitglieder der Kampagne hätten regelmäßig Kontakt zu russischen Geheimdienstleuten gehabt. Geht es also um Landesverrat? „Das ist eine tiefe Krise“, sagt der Historiker Alex Keyssar von der Harvard Kennedy School. Sollte sich herausstellen, dass es enge Verbindungen während des Wahlkampfs zwischen Russland und der TrumpKampagne gab, könnte das seine Präsidentschaft gefährden. „Trump ist schon jetzt nachhaltig beschädigt.“ Flynn belog auch den Vizepräsidenten Mike Pence, der deshalb am 15. Januar
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Weißes Haus in Washington
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fälschlicherweise behauptete, das TrumpTeam habe keinerlei Kontakt mit Russland gehabt. Unklar ist, warum Flynn, der einst den Geheimdienst DIA geleitet hatte, nicht bedacht hatte, dass Gespräche des russischen Botschafters abgehört werden. Kurz nach dem Regierungswechsel konfrontierte ihn das FBI mit seinen Erkenntnissen. Flynn erzählte beim FBI-Verhör offenbar nicht die ganze Wahrheit. Währenddessen warnte das Justizministerium den Präsidenten: Sein Nationaler Sicherheitsberater sei womöglich von russischer Seite erpressbar. Das war am 26. Januar. Vizepräsident Pence erfuhr von der Angelegenheit erst zwei Wochen später aus der „Washington Post“. Als die Affäre öffentlich wurde, bestritt Trump zunächst, von der Angelegenheit Kenntnis zu haben. Erst als der Druck nicht mehr auszuhalten war, trennte er sich von Flynn. In Washington glaubt kaum jemand, dass mit dem Rücktritt Flynns der Fall aufgearbeitet ist. Noch immer ist die Frage ungeklärt, warum das Weiße Haus den Sicherheitsberater trotz der Vorwürfe über Wochen weiterarbeiten ließ. Hatte Flynn wirklich mit den Russen verhandelt, ohne Trump einzubeziehen? Vieles spricht dagegen – unter anderem, dass Trump nicht wütend auf Flynn zu sein scheint. Das eigentliche Verbrechen scheint in Trumps Augen die Tatsache zu sein, dass die Gespräche Flynns bekannt wurden. Der Präsident will nicht wahrhaben, dass ihm keine vier Wochen nach Beginn der eigenen Amtszeit die Kontrolle über das Weiße Haus zu entgleiten scheint. Es ist die schwerste Krise seiner jungen Präsidentschaft. Sie umfasst die innere Verfasstheit seiner Regierung, den innersten Machtzirkel, den kleinen Kreis der Leute, mit denen Trump angetreten ist, Washington und das politische System der Vereinigten Staaten aufzumischen. Vieles hängt nun davon ab, wie die Republikaner im Kongress darauf reagieren und ob es eine offizielle Untersuchung des Falls Flynn geben wird. Der Fraktionschef im Senat, Mitch McConnell, will die Untersuchung in den Ausschüssen belassen. Dann hätte Trump wohl eher wenig zu befürchten. Der republikanische Senator Rand Paul, der sonst gern als unabhängiger Geist auftritt, lehnte eine Untersuchung gegen Trump ab. Unter Parteifreunden ergebe dies keinen Sinn, sagte er mit entwaffnender Ehrlichkeit. Paul Ryan, der Sprecher des Repräsentantenhauses, will die Leaks untersuchen, nicht die Affäre, genau wie Trump es sich wünscht. Doch es gibt auch Republikaner, die eine tief greifende Untersuchung fordern. Dazu gehören nicht nur Trump-Kritiker und Russland-Falken wie John McCain, sondern auch der Außenpolitiker Bob Cor-
Beraterin Conway: Ein Duell zwischen Republikanern und Trumps radikalen Einflüsterern
ker, den Trump zwischenzeitlich als Außenminister im Blick hatte. Am Ende steht und fällt die Unterstützung der Republikaner für Trump mit dessen Zustimmungswerten in der Bevölkerung und den Aussichten für die anstehenden Kongresswahlen im Herbst 2018. Mit knapp 40 Prozent liegen Trumps Werte zwar bereits zu Beginn seiner Präsidentschaft auf einem historisch einmaligen Tiefpunkt. Unter Republikanern liegen sie allerdings bei 80 Prozent und mehr. Nach jetzigem Stand ist unwahrscheinlich, dass es im Senat überhaupt zu einem Amtsenthebungsverfahren kommen könnte. In Washington dominiert die Parteipolitik, für die zurzeit benötigte Mehrheit von 216 Stimmen im Repräsentantenhaus brauchten die Demokraten 23 Überläufer
Das Weiße Haus unter Trump ist eine Bühne, auf der andauernd Chaos herrscht. der Republikaner. Die Affäre kann die Trump-Regierung dennoch lähmen. Der Fall Flynn macht deutlich, was falsch läuft im Weißen Haus. Es ist ein erschreckendes Beispiel für den unverantwortlichen Umgang mit Diplomatie und mit der Wahrheit innerhalb Trumps engsten Kreises. Der Fall Flynn zeigt die frühe Erosion von Macht im Umfeld des Präsidenten, die Überforderung Trumps mit der Komplexität seiner Aufgabe und die Unwilligkeit, Schwächen aufzuarbeiten und abzustellen. Die Geheimdienste, die Trump wegen seiner bewundernden Worte für Putin und der russischen Einflussnahme im Wahlkampf von Anfang an misstrauten, scheinen dem Präsidenten den Krieg erklärt zu haben: Die Durchstechereien aus dem In-
neren sind da nur ein Teil der Geschichte. Das „Wall Street Journal“ meldete diese Woche, dass die Dienste begonnen hätten, Trump Informationen vorzuenthalten, weil sie ihm nicht trauten. Der Präsident wiederum will einen New Yorker Milliardär damit beauftragen, die Dienste komplett umzustrukturieren – daraus könnte ein langer Kampf werden. Im Weißen Haus bahnt sich ein Duell zwischen den gemäßigten Republikanern und Trumps radikalen Einflüsterern an. Auf der einen Seite stehen Stabschef Reince Priebus und der bislang loyale Vizepräsident Mike Pence. Auf der anderen Seite stehen der rechte Chefstratege Stephen Bannon und sein 31-jähriger Politikberater Stephen Miller. Und irgendwo dazwischen Trumps ehemalige Wahlkampfmanagerin Kellyanne Conway. Senator John McCain fällte über das zerstrittene Weiße Haus ein vernichtendes Urteil: „Was nationale Sicherheit angeht, ist es dysfunktional“, sagte er. „Wer trifft die Entscheidungen? Ist es Herr Bannon? Ist es der 31-Jährige? Ist es die Militärführung? Die müssen das auf die Reihe kriegen.“ Es gehört zum Herrschaftsprinzip Trumps, dass er niemanden zu mächtig werden lässt, und so bekämpfen sich in seiner Regierung alle gegenseitig. Im Moment scheint Stabschef Priebus auf Trumps Abschussliste zu stehen, der fanatische Jüngling Miller hat den Chef hingegen nach einigen Fernsehauftritten begeistert. Seinen Pressechef Sean Spicer kritisiert er offenbar regelmäßig, nicht zuletzt weil die Fernsehsendung „Saturday Night Live“ ihn so treffend parodiert hat. Trump hat ein Klima des Neids und der Missgunst geschaffen, in dem nahezu jede verfügbare Information in Echtzeit an die Medien durchgestochen wird. Vier Wochen nach seinem Amtsantritt gleicht der Regierungssitz einem Haufen Einzelkämp-
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Sicherheitsberater Flynn, Präsident Trump am 6. Februar: Frustriert und überfordert vom Amt
fer, wie es ihn an der 1600 Pennsylvania wohl zu weich mit Russland umgegangen. In Moskau werden die neuen Töne irritiert Avenue noch nie gegeben hat. Das Weiße Haus unter Trump ist eine wahrgenommen. Von einer „kalten DuBühne, auf der andauernd Chaos herrscht, sche“ sprach Leonid Sluzki, Vorsitzender auf der sich stets mehrere unglaubliche Ge- des Auswärtigen Ausschusses der Duma. schichten gleichzeitig abspielen, Skandale, Zu früh, so Sluzki, habe man Trump zu Fehlleistungen, Auftritte bizarrer Figuren, Russlands Verbündeten gezählt. Jetzt seien Kämpfe rivalisierender Gangs innerhalb „unsere vorschnellen und übertriebenen der Regierung. Das Prinzip, mit dem Erwartungen“ gedämpft worden. In der Tat hat die Trump-Begeisterung Trump schon den Wahlkampf beherrscht hatte, setzt sich auch in der Präsidentschaft in Russland hohe Wellen geschlagen – auch fort: Man redet ununterbrochen über ihn im Staatsfernsehen, in der Hauptnachrichund seine Leute. Das Weiße Haus von Do- tensendung des Moderators Dimitrij Kisnald Trump übertrifft die Machenschaften, seljow. Diese Woche wurde eine Anorddie sich Fernsehserien wie „West Wing“ nung aus dem Kreml bekannt: Die jubelnde Berichterstattung sei einzustellen. und „House of Cards“ ausdachten. Der Präsident selbst erscheint dieser Die Machtspiele haben auch auf die Politik Trumps Auswirkungen. Aus der Au- Tage zunehmend überfordert von den Aufßenpolitik hält sich Trump offenbar so weit gaben, die mit dem Amt auf ihn zugekomwie möglich heraus. Außenminister Rex men sind. „Politico“ zitiert mehrere VerTillerson ist geräuschlos und professionell traute, die von einem Mann berichten, der in sein Amt gestartet. Verteidigungsminis- sich das Präsidentsein einfacher vorgestellt ter James Mattis will offenbar einen russ- hat, der frustriert ist von der Realität des landfreundlichen Kurs nicht mitmachen. Regierens. Trump, der bisher ein großes Es ist ein zufälliger Nebeneffekt der ersten Familienunternehmen führte, muss sich Großkrise: Die US-Außenpolitik könnte plötzlich mit dem gewaltigen Regierungssich gerade nach dem Abgang von Flynn apparat auseinandersetzen. Er stelle imin normalere Bahnen begeben als zunächst mer wieder einfachste Fragen zu Themen, gedacht. „Flynn war ein Albtraum für nur mit Details wolle er sich nicht beschäfjeden, der mit ihm gearbeitet hat“, sagt tigen. Trump hat, so heißt es, Schwierigder Wissenschaftler Thomas Wright vom keiten, zu verstehen, warum es so lange Brookings-Institut in Washington, „Trump dauert, bis der Senat seine Minister bestäkönnte nun von gemäßigten Stimmen ein- tigt und warum Richter seine Anordnungehegt werden.“ Ein Grund zur Gelassen- gen blockieren können – wie sein Einreiheit sei dies dennoch nicht. „Die USA tre- severbot, das er am Donnerstag zurückzog, ten insgesamt global nicht als ein so ver- weil er ein juristisch besser abgestütztes lässlicher Partner auf, wie dies früher der erlassen will. Während der ersten Wochen im Amt Fall war“, sagt er, „das System Abschreckung funktioniert damit in manchen Kri- saß Trump fast durchgehend allein im Weißen Haus, während seine Familie in New sen auch nicht mehr.“ Seit der Flynn-Affäre wirkt die neue Re- York blieb. Trump schaute morgens Kagierung plötzlich so, als wolle sie bewusst belfernsehen und sendete immer wieder Härte im Umgang mit Russland zeigen. wütende Tweets, wenn ihm die BerichtUnvermittelt forderte Trumps Pressespre- erstattung nicht passte. An diesem Samstag reist Trump nach cher das Land zur Rückgabe der Krim auf, und der Präsident twitterte, Obama sei Orlando. Bei einer Veranstaltung im Stil
seiner Wahlkampfauftritte will er endlich wieder Anhänger treffen. Er will im Jubel baden, sich zurückversetzen in die schöne Zeit vor dem Wahltag, als die Verpflichtungen der Regierungszeit noch weit entfernt schienen. Die Erinnerung an seinen Sieg, so scheint es, gehört zu den wenigen Dingen, die Trump zum Leuchten bringen und die seine Tage wärmen. Trump braucht Bestätigung. Die vielen Anfeindungen, Probleme, Affären, denen er täglich ausgesetzt ist, bekommen seinem Nervenkostüm nicht. Vermutlich redet der Präsident deshalb am liebsten immer wieder von seinem „sehr, sehr großen Sieg“. Gern spricht er von den 306 Wahlmännern, die er gewonnen habe. Er sprach davon bei der Pressekonferenz mit dem kanadischen Premier Justin Trudeau, er redete darüber, als er in Anwesenheit des israelischen Premiers Benjamin Netanyahu nach dem zunehmenden Antisemitismus im Land gefragt wurde. Dem japanischen Premier Shinzo Abe erzählte er davon. Als er am Donnerstag für seine Pressekonferenz vor die Medien trat, um über die Affäre Flynn zu reden, redete er erneut vom „größten Wahlsieg seit Ronald Reagan“, was nachweislich falsch ist. Er wiederholte wenig logische Argumente, die vielleicht seine Anhänger überzeugen werden: Flynn habe nichts falsch gemacht, aber er habe ihn gefeuert, weil Flynn Pence die Unwahrheit gesagt habe. Die „Leaks“ seien „absolut echt“, aber die Medienberichterstattung sei „absolut falsch“. Er habe, sagte er, Flynn nicht gesagt, er solle mit den Russen sprechen, er hätte es aber getan, falls er das Gefühl gehabt hätte, Flynn spreche nicht mit ihnen. Der Mann habe nur seinen Job getan. Das lässt viele Fragen offen. Trump redete wieder über die „unehrlichen Medien“, er tobte und zeterte und sagte: „Ich tobe und zetere nicht, ich habe hier eine großartige Zeit.“ Er gab einen Ausblick darauf, wie er sich wohl verhalten würde, wenn es tatsächlich zu einer groß angelegten Untersuchung der Affäre Flynn kommen sollte: Er gräbt sich ein, verteidigt die Welt aus „alternativen Fakten“, in die er sich selbst zurückgezogen hat. Die Strategie könnte funktionieren. Die Regeln von 1973 gelten nicht mehr. Damals, zu Zeiten von Watergate, gab es eine einzige Öffentlichkeit, sie war nicht in verschiedene Realitäten zersplittert, in denen nur noch die Fakten geglaubt werden, die von der eigenen Seite stammen. Und es gab Republikaner, die gewillt waren, gegen ihren eigenen Präsidenten zu ermitteln. Christian Esch, Gordon Repinski, Mathieu von Rohr
Video: Trumps Freunde, Trumps Feinde spiegel.de/sp082017trump oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 8 / 2017
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Vom Niedergang des Kalifats Analyse Eine Studie des Londoner King’s College untersucht erstmals umfassend die Finanzeinnahmen des IS und erklärt das Geschäftsmodell der Gruppe.
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oher bekommt der „Islamische Staat“ (IS) eitasievoll auspressen zu können. Zu diesem Zweck war gentlich sein Geld? Wie finanziert sich die die präzise Kenntnis aller Macht- und Besitzverhältnisse „reichste Terrororganisation der Welt“? Wer die überaus dienlich. Immer neue Steuern, Strafen und AbArtikel und Politikerstatements der vergangenen Jahre lasszahlungen der zwischenzeitlich bis zu acht Millionen verfolgt hat, bekam ein Bild davon – aber eines, das nur Untertanen des IS brachten der Gruppe umgerechnet Hunin Teilen der Realität entsprach. Immer wieder tauchten derte Millionen Euro ein. als wichtige Einnahmequellen Entführungen und Antiqui„Eine andere wichtige Einnahmequelle für den IS, das tätenschmuggel auf, auch wenn es für beides kaum Belege geht ganz deutlich aus den uns vorliegenden Dokumenten gab. Und Politiker verlangten, die Geldströme für den IS hervor“, sagt Terrorexperte Peter Neumann, einer der aus dem Ausland endlich trockenzulegen. Reiche Geldgevier Autoren der Studie, „war die Konfiszierung von Eiber aus den Golfstaaten, das kannten sie noch von al-Qaigentum, also der Wiederverkauf von Grund und Boden, da. Doch auch dafür fehlten Beweise. Häusern, Autos, aber auch Schmuck.“ Wissenschaftler vom Londoner King’s College haben Es ist ein Geschäftsmodell, das zusammenbricht, wenn nun in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsprüfungsdie Territorialstrategie nicht mehr funktioniert, der IS gesellschaft Ernst & Young versucht, die Finanzen des IS nicht mehr expandiert. Und das ist gerade der Fall. Seit systematisch zu analysieren. Unter dem Titel „Kalifat im Monaten verliert die Terrorgruppe Territorien, Menschen Niedergang“ untersuchten sie mithilfe von Medienberichund Ölquellen. Zwischen Sommer 2014 und November ten, IS-Unterlagen, öffentlich zugänglichen Regierungs2016, so die Studie, seien die vom IS kontrollierten Gedokumenten und eigenen Recherbiete im Irak um 62 Prozent, in chen, wie sich der IS finanziert – Syrien um 30 Prozent zurückgeDurchschnittliche Einnahmen des IS* und wie es zurzeit um seine Finangangen. in Millionen US-Dollar zen steht. Schrumpft das Kalifat, schrumpDie Studie, die dem SPIEGEL fen dessen Einnahmen; die räubeQuelle: International Centre for the Study of Radicalisation 1600 rische Beuteökonomie greift nicht und der „Washington Post“ exklu*Schätzung gesamt mehr. Das Gesamtbudget der siv vorab vorliegt, soll auf der Gruppe habe sich so innerhalb von Münchner Sicherheitskonferenz 1200 zwei Jahren ungefähr halbiert – vorgestellt werden. Sie räumt auf von in der Studie geschätzten 970 mit dem Klischee von klandestinen davon: Plünderungen, Konfiszierungen Millionen bis zu 1,89 Milliarden Geldgebern – für die gebe es keine und Geldstrafen 800 US-Dollar im Jahr 2014 auf 520 bis Beweise, so die Autoren. Wichtigszu 870 Millionen Dollar im vergante Einnahmequellen der OrganisaSteuern und genen Jahr. tion seien auch nicht GeiselnahGebühren Mit weiterem Niedergang sei zu men und Antikenschmuggel, son400 rechnen, da der IS in absehbarer dern an erster Stelle „Steuern und Öl Zeit auch Mossul im Nordirak verGebühren“, die in den vom IS erEntführungen lieren werde, die größte Stadt, die oberten Gebieten erhoben werden. 0 2016 2014 2015 er je eingenommen hat. Drei weiDann erst folgten der Ölverkauf tere Gründe benennt der Bericht, und schließlich „Plünderungen, die sich negativ auf die Einnahmen Konfiszierungen und Geldstrafen“. des IS ausgewirkt hätten: die Entscheidung der ZentralSchon im Jahr 2014 nahm der IS dank Steuern und Geregierung in Bagdad, die Gehaltszahlungen für ihre Anbühren geschätzte 300 bis 400 Millionen Dollar ein; im gestellten in Mossul und anderen besetzten Gebieten einFolgejahr sollen es bereits, so die Studie, bis zu 800 Milzustellen, die bis dahin dem IS zugutekamen; die Tatsache, lionen Dollar gewesen sein. Ausdrücklich warnt der Bedass die US-Luftwaffe seit Oktober 2015 Ölförderanlagen richt vor „ernsten Fehleinschätzungen“, die sich aus der und Tanklastzüge des IS bombardierte; und drittens, den Verkennung des „Islamischen Staats“ ergäben, der „funVersuch, Schmuggelgeschäfte über die türkische Grenze damental anders“ sei als frühere terroristische Gruppen. zu unterbinden. Eine Organisation, die sich schon früh so unabhängig wie Nur auf jenen Bereich, der Europas Bevölkerung direkt möglich gemacht habe von ausländischen Geldgebern und bedroht, dürfte der Rückgang der IS-Finanzen geringe klassischer Terrorfinanzierung, sei aber auch mit traditioAuswirkungen haben: Terroranschläge. Denn deren Kosnellen Antiterrorkonzepten nicht zu treffen. ten sind minimal. „Einer Schätzung französischer BehörIm Kern lässt sich das Geschäftsmodell des IS so beden zufolge wurden für die Anschläge vom 13. November schreiben: Die jeweilige Vorhut der Kämpfer investierte 2015 in Paris nicht mehr als 20 000 Euro aufgewendet“, so viel in die Unterwanderung und den Aufbau geheimdienstPeter Neumann. „Und sowohl die Brüsseler wie auch die licher Strukturen in den später zu erobernden Gebieten. Pariser Attentate wurden durch Kredite finanziert.“ Zum einen, um diese militärisch einzunehmen, zum anderen, um deren Bewohner ebenso erbarmunglos wie fanChristoph Reuter 76
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Ehemaliger Todesschütze Matobato
Philippinen Seit dem Amtsantritt von Präsident Rodrigo Duterte starben mehr als 7000 Menschen im „Drogenkrieg“. Eine Politikerin, die gegen den Staatschef ermittelt, fürchtet um ihr Leben. Ihr wichtigster Zeuge, ein früherer Auftragskiller, versteckt sich im Regenwald. Von Katrin Kuntz
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CARLO GABUCO / DER SPIEGEL
Der Sündenfall
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erstreckt sich ein Tal in den verschiedensten Schattierungen von Grün, ein schlammiger Fluss rauscht in der weiten Ebene. Hinter ihm steht eine Holzhütte, am Boden liegen zwei alte Matratzen für ihn und seine Frau, die bei ihm ist. „Ich habe vor dem Senat versucht, das System der Todesschwadronen zu erklären“, sagt Matobato und schenkt Kokoswasser in Gläser. „Ich kenne es aus Davao ja so gut wie sonst kaum jemand.“ Edgar Matobato sagt, er sehe es als seine Pflicht an zu sprechen. Heute herrsche in seinem Land eine ähnliche Straflosigkeit wie unter Diktator Ferdinand Marcos, der 1972 das Kriegsrecht verhängte. Mehr als 3000 Menschen wurden getötet, viele Leichen mit Folterspuren entstellt am Straßenrand abgeladen, so wie es heute mit den Opfern des Drogenkriegs geschieht.
mindest was die Entscheidung über Leben und Tod angeht. Rund sieben Monate nach Dutertes Amtsantritt sind mehr als 2500 Menschen bei offiziellen Polizeioperationen gestorben, etwa 5000 starben durch Todesschwadronen – maskierte oder unmaskierte Killer, die auf Motorrädern patrouillieren. Sie richten Menschen mit Kopfschüssen hin, wickeln Paketband um die Köpfe und lassen sie ersticken. Sie schlachten ihre Opfer ab wie Tiere, mitten am Tag, neben einem 7Eleven-Shop, an einer Kreuzung, beim Mittagsschlaf am Kiosk. Jeder weiß, dass es jeden jederzeit treffen kann. Die Leichenschauhäuser in der Hauptstadt Manila horten die Toten, die niemand abholt. Die Gefängnisse sind überfüllt. Unter dem Deckmantel des Antidrogenkampfes begleichen viele Philippiner in-
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL
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er Mann, der von sich behauptet, er sei am Tod von mehr als 1000 Menschen beteiligt gewesen, sitzt auf einem Plastikstuhl inmitten eines tropischen Paradieses und zerhackt eine frische Kokosnuss mit einer Machete, wumm, der klare Saft läuft über seine Hände, tropft auf seine schwarzen Sneakers. Edgar Matobato war, so sagt er es selbst, 25 Jahre lang Mitglied der Todesschwadronen der Stadt Davao im Süden der Philippinen, gegründet habe sie der heutige Präsident des Landes Rodrigo Duterte. Matobato lächelt schüchtern, da hinten hat er Maracujas angebaut, dort wachsen Guaven, die Erde in seinem Versteck ist fruchtbar, die Luft würzig, Hühner gackern, ein lauer Wind streichelt sein grauschwarzes Haar. Matobato sieht die Schönheit, aber sie interessiert ihn nicht. Er hat seit einigen Jahren nur einen Wunsch: „Dass Duterte vor mir in den Knast geht“, sagt er. „Und dass es Gerechtigkeit gibt für all die Ermordeten.“ Matobato, 57 Jahre, ein kleiner, gedrungener Mann mit sanftem Gesichtsausdruck, Ehemann und Vater von fünf Kindern, lebt in einer Hütte auf einer philippinischen Insel, weit weg von jeder Zivilisation. Er steht unter dem Schutz der Kirche; das staatliche Zeugenschutzprogramm hat er freiwillig verlassen, denn sein Gegner beherrscht diesen Staat nun. Wer zu Matobato gelangen will, muss Autos wechseln, Hügel hinaufklettern, sich verpflichten, nichts über seinen Aufenthaltsort zu verraten. Denn Edgar Matobato ist der wichtigste Zeuge bei einem bislang einmaligen Vorgang im Land. Er hat den Präsidenten im vergangenen September unter Eid vor dem Rechtsausschuss des Senats beschuldigt, während seiner Zeit als Bürgermeister der Stadt Davao eine Armee aus Killern aufgebaut zu haben. Ihre Mitglieder, sagt er, operierten inzwischen landesweit. Matobato bezichtigte sich mit seiner Aussage auch selbst. Als Gründungsmitglied der Todesschwadronen habe er „mehr als 50 Menschen“ getötet. Hunderte weitere habe er entführt, gequält, zerstückelt, im Meer versenkt, verscharrt. Er habe seinen Kollegen beim Morden assistiert. Bürgermeister Duterte habe die Opfer ausgesucht, Tötungsbefehle gegeben und vor Edgar Matobatos Augen mindestens einen Menschen selbst umgebracht. Auf allen Sendern, allen Titelseiten war Matobatos Gesicht zu sehen. Konnte ein so harmlos wirkender Mann diese Verbrechen begangen haben? Welche Folgen würde es für ihn haben, dass er sich dem Präsidenten entgegenstellte? Weil Matobato keinen fairen Prozess erwartet und fürchtet, dass seine früheren Gefährten ihn noch einmal foltern, traut er sich nicht mehr auf die Straße. Vor der Veranda, auf der er an diesem Mittag sitzt,
Leiche eines angeblichen Drogendealers in Manila: „Ich würde sie gern abschlachten“
Nur, dass im ersten halben Jahr unter Duterte bereits doppelt so viele Menschen starben wie in fast einem Jahrzehnt unter Marcos. Duterte hat seinen Wählern versprochen, die Philippinen vom organisierten Verbrechen, von Drogen und Korruption zu befreien. Und die wählten ihn, weil sie einen Erlöser in ihm sahen, der anders ist als das Establishment. Doch er hat sein Land mit seiner Vollstreckermentalität in kurzer Zeit an den Abgrund geführt. Einmal verglich er sich selbst mit Hitler, allerdings mit einer falschen Zahl. „Hitler massakrierte drei Millionen Juden. Jetzt gibt es hier drei Millionen Drogenabhängige. Ich würde sie gern abschlachten.“ Die Presse auf den Philippinen ist relativ frei, die Menschen trauen sich, offen zu sprechen. Doch de facto sind die Philippinen zu großen Teilen ein Polizeistaat, zu-
zwischen offene Rechnungen mit ihren Feinden oder störenden Nachbarn. Prozesse? Gibt es kaum. Es gibt vor allem zwei Menschen, die dem Präsidenten gefährlich werden können. Es ist ein ungewöhnliches Tandem. Die Senatorin und Juristin Leila de Lima, die im September 2016 eine Untersuchung im philippinischen Senat anstrengte, als nach Dutertes Amtsantritt immer mehr Menschen ermordet wurden. Und Edgar Matobato, ihr Zeuge, der behauptet, er habe sie vor sieben Jahren einmal umbringen sollen – im Auftrag Dutertes. Auf der Terrasse seines Schutzhauses blickt Matobato schüchtern zu Boden. Um seinen Hals trägt er eine Perlenkette mit einem Kreuz daran. Wie spricht man von einer unermesslichen Schuld? Matobato wählt nüchterne Worte, er hangelt sich entlang an Zeiträumen, Daten, DER SPIEGEL 8 / 2017
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Verdächtige in einer Zelle in Manila: Kaum einer von ihnen weiß, warum er hier gelandet ist
Namen. Er erinnert sich gut an den Moment, in dem Duterte ihn als Killer rekrutierte. Es war im Jahr 1988, Matobato sagt, er war einmal Paramilitär und Bauer gewesen, habe die Felder seines Vaters bestellt, der von der kommunistischen New People’s Army geköpft worden war. Im März kam der Bodyguard des neuen Bürgermeisters Rodrigo Duterte auf ihn zu und bot ihm einen Job in der Gemeindeverwaltung an. Man ließ ihn in ein Hotel kommen. Duterte habe ihm und sechs anderen Männern erklärt, es sei ihre Aufgabe, Davao von Kriminellen zu säubern: Vergewaltigern, Kleinkriminellen, Dealern. Duterte habe die neue Truppe „Lambada Boys“ genannt, sagt Matobato. Es sollte die erste Zelle der Todesschwadronen sein. Matobatos erster Toter war ein Mann in einem Billardcafé. Was ihm vorgeworfen wurde, weiß er nicht mehr. Matobato sagt, ein Polizist habe ihm in einem Hotel eine Waffe gegeben, etwas zu essen, dann fuhren sie los. „Ich war nicht sehr nervös, weil die Polizei ja bei mir war“, sagt Matobato. Er ging in das Billardcafé und drückte ab. Er war erstaunt, wie leicht es war. 1993 habe er miterlebt, wie Duterte selbst einen Ermittler des Justizministeriums erschossen habe. Der Mann habe nach einer Schießerei verletzt am Boden gelegen, Duterte habe ihn „fertig gemacht“. Der Bürgermeister habe die Opfer höchstpersönlich bestimmt, sagt Matobato. 80
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Die Vorsteher eines Viertels hätten ihm Listen mit Informationen über vermeintliche Kriminelle übermittelt. „Er allein entschied dann über ihr Leben.“ Für gewöhnliche Kriminelle hätten sie 3000 Pesos erhalten, rund 57 Euro, für Hochrangige 6000 Pesos, sagt Matobato. Sein offizieller Job war es, bei der Gemeinde „Märkte, Terminals und Schulen“ zu bewachen. Matobato sagt: „Nach sechs Monaten war ich überzeugt, ich helfe den guten Menschen, indem ich die schlechten töte.“ Seiner Familie sagte er nichts. Die Zelle wuchs über die folgenden drei, vier Jahre auf 100 Killer an, etliche ehemalige kommunistische Rebellen hätten sich angeschlossen. Die meisten hätten offiziell Jobs bei der Polizei gehabt. „Daher gab es nach einem Mord nie Ermittlungen.“ Matobato erzählt seine Geschichte hoch konzentriert. Er wirkt, als gehe es ihm vor allem darum, verstanden und gehört zu werden. Er kann noch immer kaum fassen, dass die Behörden nicht gegen ihn ermitteln. Er zeigt eine Kladde voller Dokumente, die seine Anstellung in Davao belegen sollen. Matobato sagt, sein Gewissen plage ihn. „Ich sehe die Gesichter der Toten jede Nacht.“ Sie suchten ihn heim wie Geister. Er schaut zu seiner Frau, als sie still vorbei zur Wäscheleine geht. Liebt sie ihn noch, mit dieser Vergangenheit? „Sie bleibt bei mir“, sagt er leise und blickt zu Boden.
Matobatos eidesstattliche Versicherung besteht aus 87 Fragen und Antworten. Sie beschreibt, wie Duterte in Davao ein System etablierte, in dem nur jene profitierten, die loyal waren. Wer zum Kommando gehörte, dem konnte niemand etwas anhaben. Und wer dazugehören wollte, musste extrem brutal sein. Da der Staat auf den Philippinen unter Duterte selbst zum Verbrecher geworden sei, kann Matobato seine Schuld nicht sühnen. Die Verbündeten des Präsidenten im Senat erklärten Matobato für „unglaubwürdig“. Der Justizminister – der Kriminelle nach eigener Aussage nicht für menschlich hält – sagte, Matobato verbreite „Lügen“. Duterte behauptete, ihn nicht zu kennen. Dabei prahlte er vor Kurzem selbst damit, Menschen umgebracht zu haben. Der Rechtsausschuss, vor dem Matobato aussagte, stellte seine Arbeit zum Thema ein. Nun erzählt Matobato, wie er und die anderen sechs Gründungsmitglieder der Todesschwadron vorgingen. Wie sie Opfer vor ihrem Tod entführten. Wie sie die Toten verschwinden ließen. „Bevor wir ihren Körper zerteilten, zogen wir sie aus und verbrannten ihre Kleider, um Beweise zu vernichten. Dann schütteten wir Speiseöl über ihren Körper, damit sie nicht riechen.“ Duterte habe bei der Prozedur manchmal zugesehen und überprüft, ob sie den Richtigen umgebracht hatten, bevor sie ihn in einem Steinbruch verscharrten.
Ausland
stinkt, die Kranken siechen vor der Zelle auf dem Boden. Ein Spaziergang durch einen beliebigen Slum gleicht einem Trip in eine erbarmungslose Unterwelt. In einem Haus, dessen Standort geheim bleiben muss, kann man einen 18-jährigen Jungen namens Ryan treffen. Er erzählt, wie er ein Massaker überlebte, bei dem sechs seiner Freunde starben. Keiner von ihnen habe je etwas mit Drogen zu tun gehabt, sagt er. „Wir hatten Musik aufgedreht und lachten, dann raste ein Motorrad vorbei, und ein Mann feuerte in unser Wohnzimmer.“ Der Junge konnte sich im Badezimmer verstecken. Weil er überlebte, denken die Nachbarn, dass er schuldig sei. Auch ihn schützt jetzt die Kirche. In seinem Bein steckt eine Kugel. Unschuldige Opfer wie er sind das, was Duterte einen „Kollateralschaden“ im Drogenkrieg nannte. Die Jagd auf vermeintliche Drogensüchtige und Dealer unter Duterte folgt einem einfachen Prinzip. Laut Matobato ist es ebenfalls bekannt aus Davao: Die Vorsteher eines „Barangays“ – der kleinsten Verwaltungseinheit auf den Philippinen – erstellen eine Liste mit Verdächtigen, die sie der Polizei geben. Die Namen kommen von den Bewohnern und werden ungeprüft übernommen. So kann ein Mensch, der Streit mit seinem Nachbarn hat oder Schulden, schnell auf Dutertes Abschussliste geraten. Als Nächstes klopfen Polizisten mit dieser Liste an Türen, verwarnen die Menschen. Wer Besserung gelobt, liegt häufig bald trotzdem tot auf der Straße. So lief es jedenfalls bis vor ein paar Wochen, bis Polizisten einen südkoreanischen Geschäftsmann entführten, Lösegeld forderten und ihn ermordeten. Erst da rief Duterte seinen Verfolgungsapparat demonstrativ zur Ordnung, offiziell sind die Aktionen für den Moment eingestellt.
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Im Jahr 2013, sagt Matobato, sei der Wendepunkt gekommen. Damals habe das Davao Death Squad schon etwa 300 Mitglieder gehabt. Er habe drei junge Frauen entführt, angeblich Dealerinnen, sie seien etwa so alt gewesen wie seine Kinder. „Bevor sie getötet wurden, haben meine Kollegen sie vergewaltigt“, sagt Matobato. Er selbst habe nicht mitgemacht. „Ich wusste aber, dass die Frauen unschuldig waren.“ Jahrzehntelang hatte er in Kauf genommen, dass bei einem Mord auch Unschuldige getötet werden können, doch nun schrieb er einen Brief an seinen Teamleiter und sagte, er sei inzwischen alt und wolle die Truppe verlassen. Eine Woche lang hätten ihn die anderen in der Polizeistation gefoltert. Er konnte entkommen, wandte sich schließlich an die Philippinische Kommission für Menschenrechte und kam über das Justizministerium in ein staatliches Zeugenschutzprogramm. Doch als klar wurde, dass Duterte Präsident werden könnte, trat er aus dem Programm aus, weil er sich nicht mehr sicher fühlte. Seitdem schützt ihn die Kirche. Vor seiner Wahl zum Präsidenten hatte Duterte versprochen, Kriminelle in die Bucht von Manila werfen zu lassen, „um die Fische zu mästen“. „So kam es. Alles, was wir heute in Manila sehen, kommt aus Davao“, flüstert Matobato. „Ich erkenne unseren Stil wieder, wie wir die Opfer mit Paketband umwickelt haben, die Szenerien, die wir arrangiert haben: einen billigen Revolver neben dem Toten, damit es aussieht, als hätte er sich gewehrt. Wir hatten auch immer Drogen dabei, die wir dem Opfer zusteckten.“ Nur die Schilder, die sie am Tatort platzierten, hätten sich leicht geändert. Statt „Ich bin ein Dealer“, stehe jetzt darauf: „Ich bin ein Dealer, mach es mir nicht nach.“ „Alles, was ich getan habe, waren Befehle, es war nichts Persönliches“, sagt er am Ende seiner Erzählung. Dann beginnt Edgar Matobato lange zu weinen. Wenn man in diesen Tagen durch einen Slum von Manila geht, kann man sehen, wie das System aus Davao sich ausgebreitet hat. Man begegnet trauernden Nachbarn, die neben einem Toten wachen, der beim Schlafen neben den Kindern erschossen wurde. Weil die Tochter kein Geld für die Beerdigung hat, liegt er schon mehr als eine Woche aufgebahrt in einem Sarg. Auf einem heruntergekommenen Friedhof spielen drei Kinder im Alter von zehn Jahren, sie erzählen von einer Massenbeerdigung mit 13 Toten und türmen herumliegende Schädel zu einer Pyramide auf. Im Gefängnis einer Polizeistation sitzen 84 Männer in einer etwa 20 Quadratmeter großen Zelle. Sie brüllen ihre Geschichten durch die Gitterstäbe. Kaum einer von ihnen weiß, warum er hier gelandet ist. Es ist unerträglich heiß und
Senatorin de Lima in ihrem Büro „Die Werte unserer Gesellschaft verrotten“
Doch die Todesschwadronen machen weiter. Und der Präsident will in Zukunft auf die Armee setzen, um in den Slums zu operieren. Sollte es so kommen, wird der Drogenkrieg wohl noch brutaler werden. „Die Sache mit der Armee ist reine Kosmetik“, ruft Senatorin Leila de Lima in ihrem Büro in Manila, und ihre Stimme überschlägt sich vor Wut. „In Wirklichkeit herrscht hier längst Kriegsrecht.“ Es gebe keine Menschenrechte mehr. „Und die Werte unserer Gesellschaft verrotten.“ Leila de Lima, ebenfalls 57 Jahre alt, ist neben Matobato die zweite Person im Land, die seit Jahren vergebens versucht, dem heutigen Präsidenten gefährlich zu werden. Sie ist eine elegante, kräftig geschminkte Frau, trägt eine gemusterte Bluse, wie ein Paradiesvogel sieht sie aus, „ein Versuch, mich gut zu fühlen“, sagt sie und lächelt. Sie gehört den Liberalen an, der langjährigen Regierungspartei. Auf ihrem Schreibtisch liegen zwei Handys, auf denen immer neue Textnachrichten mit Todesdrohungen eingehen, daneben der neue Report von Amnesty International über die Tötungen. Es ist ein Bericht, den de Lima selbst gern geschrieben hätte. „Doch ich hatte keine Chance“, sagt sie. Von der Verfolgerin Dutertes wurde auch sie zur Verfolgten. In ihrem Vorzimmer sitzen jetzt Bodyguards. Leila de Lima traf Duterte zum ersten Mal im Jahr 2009. Damals war sie noch Vorsitzende der Philippinischen Kommission für Menschenrechte. Sie las einen Bericht der Vereinten Nationen über die Todesschwadronen in Davao. Sie war elektrisiert, die Jagd auf Mächtige, die Menschenrechte missachten, hatte sie als Juristin schon immer interessiert. De Lima stellte ein Team zusammen und flog in die Heimatstadt Dutertes, sie führte Interviews, befragte Zeugen. Es kam zu öffentlichen Anhörungen in einem Hotel. Einmal war auch Duterte anwesend. De Lima sagt, sie habe damals eine folgenschwere Entscheidung getroffen, weil sie dem damaligen Bürgermeister öffentlich eine Frage stellte. Sie lautete: „Wie sollen diese Morde in Davao ohne den Segen der lokalen Regierung geschehen sein?“ Duterte habe sie nur stumm angesehen. Dann habe er zu einem Monolog ausgeholt und über die Tradition der Gewalt in Davao referiert. Er habe über die Bewegung der „Alsa Masa“ gesprochen, die in den Achtzigerjahren in Davao die Kommunisten bekämpften. Diese Wächtertrupps seien hier eben heimisch. De Lima fand damals keine Beweise, die Duterte oder die Polizei in Davao mit den Schwadronen in Verbindung gebracht hätten. Aber sie sagt: „Er hat nichts vergessen.“ Jahre später erfuhr sie durch Matobato, dass Duterte sie habe ermorden lassen wollen. Matobato sagte aus, eine Truppe DER SPIEGEL 8 / 2017
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Überlebender Ryan: „Ein Motorrad raste vorbei, und ein Mann feuerte in unser Wohnzimmer“
von 80 Männern habe auf de Lima und ihr Team gewartet, als sie eine Halde untersuchen wollte, in der die Schwadronen ihre Opfer vergruben. De Limas Glück sei gewesen, dass sie sich weniger weit in das Gelände vorwagte, als die Männer dachten. „Sobald Duterte zum Präsidenten gewählt worden war, begannen in Manila die Morde“, sagt de Lima. Als frühere Justizministerin und Vorsitzende der Menschenrechtskommission bereitete de Lima die Untersuchung im Senat vor. Ihr Überraschungszeuge war Matobato, dem sie zum ersten Mal als Justizministerin begegnet war, als er im Jahr 2014 Schutz vor seinen Exkollegen suchte. Der Mann könne weder lesen noch schreiben, „aber er kennt die Situation in Davao. Ich halte ihn für glaubwürdig“. Nach seiner Aussage begann die Schlammschlacht. Duterte nannte die Todesschwadronen „einen Mythos“ und de Lima „eine amoralische Frau“, die sich besser erhängen solle. Der Rechtsausschuss des Senats stellte alle Untersuchungen ein, ohne Matobatos Aussagen im Detail zu überprüfen. Duterte behauptete, seine Gegnerin de Lima habe als Justizministerin Schweigegeld von Drogenbossen erhalten. Seine Alliierten im Senat entfernten sie von ihrem Posten als Vorsitzende des Ausschusses. Es fanden Anhörungen gegen sie statt, einer der Zeugen verlas ihre Telefonnummer und ihre Adresse im Fernsehen. Auf YouTube gibt 82
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es gefälschte Videos, die zeigen sollen, wie sie mit Drogenbossen eine Party feiert. Im Oktober wurde sie angeklagt wegen Drogenhandels, den sie innerhalb eines Gefängnisses von Manila ermöglicht haben soll. De Lima nennt die Anschuldigungen „eine fabrizierte Story, die mich zum Schweigen bringen soll“. Duterte habe den Senat früh gewarnt: Greift nicht in meinen Drogenkrieg ein. Insgesamt liegen 16 Anzeigen gegen sie vor. De Lima will gegen Duterte ein Amtsenthebungsverfahren wegen Massenmords anstrengen. Aber der Präsident ist immer noch sehr beliebt, seine Zustimmungsrate beträgt laut Umfragen bis zu 86 Prozent. Seine Partei hat die Mehrheit im Senat. Und amtierende Präsidenten sind durch eine Immunitätsregel vor Strafverfolgung geschützt. De Lima appelliert deshalb an den Internationalen Strafgerichtshof, gegen Duterte wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu ermitteln. De Lima sagt: „Ich bin unschuldig.“ Aber sie weiß, wie stark der Apparat ist und wie mächtig der Präsident. Anfang des Monats haben sich zum ersten Mal Angehörige aus einem Slum mit ihrer Geschichte an die Justiz gewandt. Ein Mann, der sagt, er habe ein Massaker durch die Polizei überlebt, berichtet, dass die Beamten anschließend darüber berieten, wie sie nach ihren Exekutionen den Tatort inszenieren sollten. Die Aussage des Mannes
bestätigt, was der Zeuge Edgar Matobato über die Methoden der Todesschwadronen in Davao berichtete. Der Fall könnte der erste dieser Art sein, der vor Gericht verhandelt wird. Das wäre ein Erfolg für Senatorin de Lima. Die meisten Opfer des Drogenkriegs sind Arme, und die können es sich selten leisten, sich zu wehren. Duterte hat ein Klima geschaffen, in dem ein Gerücht zum Tod führen kann, und es ist kein Ende in Sicht. De Lima und Matobato führen einen Kampf, den sie schwer gewinnen können. An einem Morgen im Februar tritt Senatorin Leila de Lima noch einmal in den Saal des Senats, in dem auch Matobato sprach. Sie hat nicht mehr viel zu sagen, das Parlament interessiert sich nicht mehr für die Todesschwadronen von Davao, auch nicht für die Vorwürfe gegen den Präsidenten. Stattdessen reden die Abgeordneten an diesem Morgen über die mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Staat soll noch mehr Härte zeigen. Die Anwesenden tauschen ihre Argumente aus, die Debatte wird hitzig, nach einer Stunde erhebt sich Leila de Lima von ihrem Stuhl. „Die Todesstrafe ist falsch“, sagt sie nur. Dann nimmt sie ihre Akten und verlässt die Sitzung. Sie hat keine Zeit zu verschwenden. Sie glaubt, die Regierung führe einen Krieg gegen die Armen und verfolge ihre Fürsprecher. Leila de Lima erwartet ihre Verhaftung. I
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* Fotomontage in südkoreanischen Fernsehnachrichten.
auf Geheiß des Vaters als „Genosse General“ begrüßen. Seine Schulzeit verbrachte Jong Nam in Genf – ähnlich wie der heutige Diktator, der Schulen nahe Bern besuchte. Als er nach neun Jahren nach Pjöngjang zurückkehrte, geriet er mit seinem Vater aneinander: Vom „öden Alltag“ bei Hofe floh er regelmäßig in die Kellerbar eines Luxushotels. Dort zechte er mit Freunden und sang japanische Popsongs. Seine Aussichten auf die Thronfolge verspielte der Erstgeborene endgültig 2001: Bei der Einreise nach Japan ließ er sich mit einem gefälschten Reisepass erwischen – angeblich wollte er mit seinem Sohn Disneyland bei Tokio besuchen. Vater Kim verstieß ihn. Fortan pendelte Jong Nam als Playboy und Geschäftsmann zwischen Peking und Macau. Nach dem Tod des Vaters soll sein Onkel Chang Song Taek 2012 bei der chinesischen Führung die Möglichkeit ausgelotet haben, den Erstgeborenen als Ersatz für den reizbaren Diktator Jong Un zu installieren. Japanische Medien spekulieren nun, dies sei auch ein Grund dafür gewesen, dass der Onkel 2013 als „Verräter“ hingerichtet worden sei. In den folgenden Jahren verzichtete der Halbbruder auf öffentliche Äußerungen. Es hat ihm nichts genutzt. Warum er ausgerechnet jetzt sterben musste, bleibt allerdings ein Mysterium. Diktator Kim Jong Un verfolgt in der Zwischenzeit weiter seine nuklearen Pläne und lässt mit aller Kraft atomare Sprengköpfe entwickeln, mit denen er seine Mittelstreckenraketen bestücken will. Wenn ihm dies gelingen sollte, könnte er der Welt bald eine nukleare Krise bescheren. Wieland Wagner Mail:
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Filmreif
Das gilt für die Regierung in Seoul, die schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse an einem Kollaps des Nordens hat. Und es gilt für die USA und deren Verbündeten Japan, die Kims Terror gern als VorNordkorea Mit dem Attentat wand nehmen, um gegen China aufzurüsten. auf seinen Halbbruder zementiert Der inzwischen ermordete Jong Nam Kim Jong Un seine Macht. fürchtete seit Anfang 2012 um sein Leben: Damals bat er den angesehenen japanior Feiertagen lässt Nordkoreas Dik- schen Journalisten Yoji Gomi, noch mit tator Kim Jong Un es gern krachen. der Veröffentlichung von freimütigen EKurz vor dem Geburtstag seines Mails zu warten, die beide ausgetauscht 2011 verstorbenen Vaters Kim Jong Il ließ hatten. Andernfalls könne das Regime daer am Sonntag eine Mittelstreckenrakete für sorgen, „dass mir etwas zustößt“. Spävom Typ „Pukguksong-2“ abfeuern, die ter soll er seinen Halbbruder, den Diktator, nach Angaben aus Pjöngjang mit einem in Pjöngjang per Brief angefleht haben, nuklearen Sprengkopf bestückt werden ihn und seine Familie nicht zu töten. Doch der Diktator kennt kein Erbarmen. kann. Der Versuch sei erfolgreich verlaufen, jubelten heimische Medien, der Führer Vermutlich trug er dem Halbbruder dessen Kritik nach, die dann in Japan eben doch habe alles selbst überwacht. Wenige Tage später geriet Kim erneut als Buch erschien. „Wer in dieser Welt norin die Weltnachrichten, doch diesmal mal denkt“, schrieb Jong Nam, „kann eine schwieg das Regime zunächst auffällig: In dynastische Erbfolge in dritter Generation der malaysischen Hauptstadt Kuala Lum- nicht billigen.“ Mit Sozialismus sei das pur starb Kims Halbbruder Jong Nam, 45, nicht vereinbar. Nicht einmal Chinas einsan den Folgen eines Giftanschlags, verübt tiger Herrscher Mao Zedong sei auf so eine angeblich von zwei jungen Frauen. Eine Idee gekommen. Der Halbbruder äußerte von ihnen trug ein fröhliches T-Shirt mit auch Zweifel, ob der junge Thronfolger der Aufschrift „LOL“ – die Abkürzung für das Format besitze, um die darbenden Un„Laughing Out Loud“. Nur ein Mann, so tertanen zu regieren, schrieb aber, die beidie naheliegende Vermutung, könne den den hätten einander nie persönlich getroffilmreifen Mord befohlen haben: der Dik- fen. Er bezeichnete sich selbst als Befürworter von Reformen und einer Öffnung tator in Pjöngjang. Dass beide Ereignisse in so kurzer Folge nach chinesischem Vorbild. Dafür habe er abliefen, mag Zufall sein. Doch beide zei- sich auch beim Vater eingesetzt. Tatsächlich war Jong Nam als ältester gen: Kim schert sich nicht darum, wie die Sohn ursprünglich als Erbe der KimWelt über ihn denkt. Indem er seine besorgniserregenden Dynastie vorgesehen. Er stammte aus der Fortschritte bei der Entwicklung von Ra- Verbindung Kim Jong Ils mit der Filmketen vorführte, forderte Kim vor allem schauspielerin Sung Hae Rim. Schon als den neuen US-Präsidenten Donald Trump Neunjähriger mussten die Hausdiener ihn heraus – und zwar genau in dem Moment, als dieser in Florida mit Japans Premier Shinzo Abe über die Gefahren beriet, die von der jüngsten Atommacht ausgehen. Mit dem mutmaßlichen Attentat auf den Halbbruder fern der Heimat warnte Kim nun nicht nur potenzielle Widersacher. Er demütigte auch seinen Nachbarn China, der Jong Nam jahrelang Zuflucht gewährt hatte und ihn gerüchteweise als möglichen Ersatzherrscher in der Reserve hielt. Auf dem Flughafen von Kuala Lumpur wollte Jong Nam gerade für die Rückkehr nach Macau einchecken, wo er mit seiner Familie im Exil lebte. Aber auch nach dem Attentat wiegen die geopolitischen Interessen der beteiligten Mächte schwerer als ein totes Mitglied der Familie Kim. Das gilt für die kommunistische Führung in China, die Nordkorea als Puffer gegen den proamerikanischen Süden braucht und trotz des zunehmend schwierigen Verhältnisses weiter mit Rohstoffen versorgt.
Halbbrüder Kim Jong Nam, Kim Jong Un*: „Kein Erbarmen“ DER SPIEGEL 8/ 2017
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Lift in den Himmel Am „Hundert-Drachen-Aufzug“ in der chinesischen Provinz Hunan, der zu einem Aussichtspunkt führt, wirft ein als Gott des Reichtums verkleideter Mitarbeiter rote Umschläge für Touristen in die Tiefe, um ihnen Glück zu bringen. Das fast 330 Meter hohe Bauwerk gilt als höchster Outdoor-Lift der Welt.
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Wissenschaft+Technik Psychologie
Bildung
Verdächtige Kapuzenmänner
„Hüpfend die Zahlen kennenlernen“
Wer eine Polizeiuniform trägt, verhält sich oftmals auch so ähnlich wie ein Polizist – das haben Wissenschaftler der kanadischen McMaster University bei Experimenten mit Studenten herausgefunden. Die Forscher steckten Versuchsteilnehmer in Fantasie-Polizeiuniformen und ließen sie am Computer Aufgaben erledigen, die viel Konzentration erforderten. Doch dann blinkten auf dem Bildschirm plötzlich Fotos von Männern in Kapuzenpullis auf, die mit einem niedrigen Sozialstatus und Kriminalität assoziiert werden. Jetzt zeigte sich: Die uniformierten Studenten ließen sich durch die Kapuzenmänner weitaus leichter ablenken als Kommilitonen einer Vergleichsgruppe, die lediglich zivil gekleidet waren. Offenbar führt schon das Tragen einer Uniform zu einer Art unbewusstem Profiling, wie es auch echten Polizisten unterstellt wird. vh
Zahlen kennenlernen, schneiden später auch bei anderen Rechenaufgaben besser ab. Ihr virtueller Zahlenstrahl im Kopf ist messbar besser ausgeprägt; und wir wissen inzwiSPIEGEL: Sie leiten das Schulschen, dass die Zahlenstrahlprojekt „Mathe mit der MatQualität die Matheleistungen te“. Rennen die Erstklässler bis in die fünfte Klasse bei Ihnen wild durchentscheidend prägt. Aleinander, wenn sie Relerdings profitieren nur chenaufgaben lösen? die durchschnittlichen Cress: So schlimm ist es und die guten Schüler. nicht. Aber wir haben Die Schwachen sind von in der Tat die ErfahCress den Hüpf-Übungen leirung gemacht, dass Beder überfordert. wegung beim Mathelernen hilft. Um rechnen zu kön- SPIEGEL: Soeben hat auch eine nen, muss man eine möglichst Studie dänischer Forscher genaue Vorstellung der Zahergeben, dass Kinder besser len im Kopf haben, von ihrer Rechnen lernen, wenn sie Anordnung am sogenannten sich dabei bewegen. Zahlenstrahl. Wir trainieren Cress: Das überrascht mich das, indem die Kinder zum nicht. Zahlen und RäumlichBeispiel die „3“ oder die „15“ keit sind im Gehirn eng durch Gehen oder Hüpfen an miteinander verknüpft. einer Linie entlang sinnlich Durch die gezielte Bewegung erfahren. So spüren sie am ei- im Raum entwickelt sich genen Leib die Verknüpfung schneller eine innere Vorvon Zahlengröße und Raum. stellung von Zahlen: rechts sind die großen, links die SPIEGEL: Was hilft das, wenn kleinen. vh die Anforderungen steigen?
Cress: Kinder, die hüpfend die
CHRISTOPH JÄCKLE
Ulrike Cress, 51, Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in Tübingen, über die segensreiche Wirkung von Bewegung im Mathematikunterricht
Kommentar
Zum Heulen
VCG / GETTY IMAGES
Kann ein ausgestopfter Wolf ängstliche Gemüter beruhigen? Seine Fans haben sich bereits verabredet, um dem toten Wolf durch das Ablegen von Rosen die letzte Ehre zu erweisen. Schäfer erwägen eine Gegendemo, auf der sie von Wölfen gerissene Lämmer zur Schau stellen wollen. Ende Mai soll der „Problemwolf“ MT6 erstmals in Hannover präsentiert werden – genauer gesagt das, was von ihm übrig ist. Niedersachsens Umweltministerium und das landeseigene Wolfsbüro haben angeordnet, den Kadaver des Wolfsrüden aufzutauen. Danach soll er ausgestopft und Teil einer Wanderausstellung werden. Das Präparat dürfte tatsächlich von museumspädagogischem Wert sein: Das von Tierschützern zärtlich „Kurti“ getaufte Jungtier ist der erste Wolf in Deutschland, der seit der Rückkehr der Raubtiere im offiziellen Regierungsauftrag erschossen wurde – von einem Polizisten. Ausgestopft soll er einen sachlicheren Umgang mit dem Reizthema Wolf anstoßen; er ist aber auch Mahnmal für das Versagen von Politik und Wolfsmanagement.
Kurti musste sterben, weil er nicht wolfsgemäß scheu war und sich Menschen, Hunden und Kinderwagen genähert haben soll. Die „Entnahme“ des Tieres war wohl vor allem als vertrauensbildende Maßnahme für die aufgeschreckte Bevölkerung gedacht. Die Botschaft: Wölfe, die zu aufdringlich erscheinen, werden notfalls getötet – wie gefährlich die Tiere wirklich sind, spielt dabei keine Rolle. Soeben wurde in Sachsen ein weiterer Jungwolf zum Abschuss freigegeben. Die Gemüter beruhigen solche amtlichen Tötungen nicht: Die Debatte um die Rückkehr der Wölfe wird eher noch hysterischer geführt – von beiden Seiten. Zu hoffen bleibt, dass die Ausstellung auch Grundlagen des realen Verhaltens der großen Beutegreifer vermittelt: Nicht jeder neugierige Jungwolf ist ein Problemtier – problematisch sind vielmehr Menschen, die Wölfe filmen und füttern. Wenn das gelänge, hätte Kurti seiner Spezies einen letzten Dienst erwiesen. Julia Koch Mail:
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Titel
Der Fake-Burger Ernährung Forscher entwickeln Fleisch, das nicht mehr von Tieren stammt. Die Steaks und Würste der Zukunft bestehen aus Pflanzen oder reifen in Bioreaktoren. Der Wandel ist überfällig: Die Viehindustrie macht krank und schadet der Umwelt. „Es ist absurd, ein ganzes Huhn aufzuziehen, nur um seine Brust oder seine Flügel zu essen; lasst uns diese Teile einzeln züchten, in einem geeigneten Medium.“ Winston Churchill 1931
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as reizt den Menschen eigentlich am Steak? Ist es der unverkennbare Duft nach geröstetem Tier, herb, dunkel, animalisch, der entsteht, wenn es in der Pfanne brutzelt? Ist es die leicht metallische Note, die sich im Mund ausbreitet, die Geschmacksexplosion mit Nuancen von Karamell, Ananas und Kohl? „Am wichtigsten ist der Geruch nach Blut“, erklärt Pat Brown, Chef der kalifornischen Firma Impossible Foods. „Alle Fleischfresser springen darauf an.“ Von einer in der Nähe aufgebauten Theke weht verführerischer Grillduft herüber. Ein Hamburger röstet dort, Fett rinnt heraus und tropft zischend auf die Grillplatte. Eine von Browns Mitarbeiterinnen nimmt ein paar Salatblätter, eine Tomatenscheibe, Ketchup und zwei Brötchenhälften und stapelt alles aufeinander. Oben hinein steckt sie ein Stäbchen mit einem Fähnchen. „Impossible“ steht darauf. Das Wort ist Programm. Denn hier im Hauptquartier von Impossible Foods in Redwood City bei San Francisco wird das vermeintlich Unmögliche möglich gemacht. Der Burger, zum Testessen serviert mit Ökobrause, schmeckt wie jeder andere Hamburger. Die Bulette sieht aus wie Fleisch. Sie riecht wie Fleisch. Sie fühlt sich im Mund an wie Fleisch. Doch sie ist kein Fleisch. Eine Reihe von Schälchen, gefüllt mit Flüssigkeiten, Pürees und Raspeln, hat Firmenchef Brown neben der Bräterei aufstellen lassen. Pappschildchen geben den Inhalt preis. „Kartoffeleiweiß“ steht da, „Leghämoglobin“, „Zucker und Aminosäuren“, „Sojaprotein“, „strukturiertes Weizeneiweiß“, „Kokosnussöl“, „Xanthan“. Dies sind die Zutaten für den – fast – perfekten Fake-Burger. Jahrelang tüftelte Brown mit seinem Team im Labor, bevor er Hackfleisch präsentierte, das keines ist. Wörter wie „Bratling“ hört der Firmenchef ungern. „Pflanzenbasiertes Fleisch“ nennt er seine Erfin86
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dung. Das größte Geheimnis der Rezeptur ist das Leghämoglobin, ein mit dem Blutfarbstoff Hämoglobin verwandter Stoff. Brown fand ihn in den Wurzelknollen von Sojapflanzen. Im Bioreaktor lässt der ehemalige Mediziner die rote Substanz nun von genveränderten Hefezellen herstellen. Vor allem das „Häm“ mache den typischen Fleischgeschmack aus, sagt er. „Tiere sind im Prinzip Biofabriken, die Pflanzen in Fleisch und Milchprodukte umwandeln“, sagt Brown. Nur sei dieser Prozess sehr ineffizient, „und deshalb versuchen wir, diese natürliche Technologie durch eine bessere zu ersetzen“. In ausgewählten Restaurants in New York und San Francisco lässt sich der Impossible Burger verkosten. Und Brown will hoch hinaus. „Wir haben vor, das gesamte Hackfleisch der Welt auf diese Weise zu produzieren“, sagt er: „Wenn die Leute in 50 Jahren einen Burger essen, wird er nicht aus Rindfleisch hergestellt sein.“ Sieht so die Zukunft der Ernährung aus? Fleisch aus Pflanzen? Es wäre besser für die Erde. Der Tanz um das saftige Kalb und das würzige Schwein verursacht gewaltige ökologische Schäden. Rund 18 Prozent der menschengemachten Klimagase entstehen bei der Fleischproduktion, schätzt die Uno. Die Herstellung von Steaks und Würsten trägt mehr zur Erderwärmung bei als der gesamte Auto- und Flugverkehr – und allein in Deutschland, jüngster Rekord, werden im Jahr 8,25 Millionen Tonnen produziert. Vor allem das Rind gilt als Klimakiller. In seinem Pansen vergärt Gras. Dabei entsteht Methan. Der Wiederkäuer rülpst und pupst, das Gas steigt auf und legt sich um die Erde wie eine Decke, die verhindert, dass Wärmestrahlung ins All entweicht. Methan wirkt als Treibhausgas 25-mal so stark wie CO2. Sogar 300-mal so klimawirksam ist Lachgas, die zweite Klimasünde der Viehhaltung. Lachgas entweicht beim Ausbringen von Dünger. Und fast die Hälfte der Getreideernte wird an Kühe verfüttert. Insgesamt dienen daher etwa 70 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche weltweit der Fleischproduktion. Es ist eine Situation entstanden, in der die Viehhaltung einerseits den Planeten
Zutaten für pflanzenbasiertes Fleisch, fleischlose
FOTOS: WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL
„Impossible“-Bulette: „Wenn die Leute in 50 Jahren einen Burger essen, wird er nicht aus Rindfleisch sein“
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zerstört, Fleisch andererseits so billig ist wie nie zuvor. Doch McDonald’s kann seinen Hamburger nur deshalb für einen Euro verkaufen, weil die externen Kosten der Fleischproduktion – der Wasser- und Landverbrauch, die Belastungen für Umwelt und Klima – gar nicht bezahlt werden. Um 40 Prozent müsste Rindfleisch teurer sein, damit auch nur die bei seiner Produktion entstandenen Klimaschäden ausgeglichen werden, haben Forscher der Universität Oxford errechnet. Wie ein kranker Patient verliert die Umwelt mit jedem Entrecôte, mit jedem Parmaschinken und jedem Hähnchenschenkel einen Teil ihrer natürlichen Widerstandskraft. Entwaldung, Wüstenbildung, Wasserknappheit, Überdüngung, Artensterben, Armut, Hunger, soziale Unruhen – all dies wird dem Vieh angelastet. Umweltaktivisten predigen deshalb Verzicht. Ein Veganer, rechnet der Filmemacher Kip Andersen in der Dokumentation „Cowspiracy“ vor, spare verglichen mit einem Fleischesser 380 Liter Wasser, 20 Kilogramm Getreide und über 2000 Liter CO2 ein. Täglich. Kein Wunder, dass Fleischessen zunehmend zum Genuss der Ignoranten wird, verpönt wie das Fahren von Geländewagen in der Stadt. Und es stimmt ja: Wer den Fleischkonsum halbiert, hilft dem Planeten ungleich mehr als derjenige, der auf die nächste Flugreise verzichtet. Und gesünder wäre es auch (siehe Kasten Seite 90). Doch die Wirklichkeit ist komplexer als die einfachen Botschaften der Fleischgegner. In Deutschland beispielsweise ist die Rinderhaltung eng mit der Milchwirtschaft gekoppelt. Wer Milch, Joghurt und Käse
Labor für Leghämoglobin-Produktion*: „Am wichtigsten ist der Geruch nach Blut“
isst, kann das Roastbeef gleich dazulegen. Auch das Sonntagsei kommt aus einem Huhn, das am Ende noch gegessen wird. Vor allem aber giert der Mensch nach Fleisch. Zu glauben, er werde vom Fleisch lassen, ist Illusion. Im Durchschnitt gönnt sich heute jeder Erdenbürger doppelt so viel Fleisch wie noch vor 50 Jahren. Gleichzeitig liegt der Anteil der freiwilligen Vegetarier weltweit bei nur etwa fünf Prozent. Jeder Deutsche verspeist statistisch in seinem Leben 30 Schweine, 2 Rinder, * Bei der Firma Impossible Foods im kalifornischen Redwood City.
Planet Fleisch
18%
Wenn sich die Essgewohnheiten nicht ändern, ist eine globale Klima- und Ökokrise unabwendbar. Statistisch verspeist jeder Deutsche in seinem Leben . ..
2 Rinder
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ein halbes Kalb, 20 Puter und 400 Hühner. In den USA, weltweit führend im Fleischverbrauch, liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei 97 Kilogramm jährlich. Bis 2050 könnte der globale Fleischbedarf um weitere 48 Prozent ansteigen. Die Nachfrage nach Milchprodukten soll ähnlich schnell wachsen. 9,7 Milliarden Menschen werden dann auf der Erde leben. Sie alle mit tierischem Eiweiß zu versorgen ist eine epochale Herausforderung. „Wir müssen mehr mit weniger schaffen“, räumt Cameron Bruett ein, Nachhaltigkeitsexperte der Firma JBS, des größten Fleischproduzenten der Erde.
der Klimagase werden durch die Fleischproduktion verursacht – mehr als durch Autos, Flugzeuge und Züge zusammen.
400 Hühner
Schweine
Schon heute leben auf der Erde ...
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Millionen Rinder
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Milliarden Schweine
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Milliarden Hühner
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Drastischere Worte findet Carlos Saviani, Ernährungsexperte des World Wide Fund for Nature (WWF): „Global gesehen essen wir viel zu viel Fleisch; wenn sich der Trend nicht umkehrt, werden wir die Klimaziele verfehlen und viele Ökosysteme irreparabel schädigen.“ Und Bruce Friedrich vom amerikanischen Good Food Institute fordert einen radikalen Umbruch. „Wir werden nicht 9,7 Milliarden Menschen mit einem System ernähren können, das so ineffizient ist wie die heutige Viehwirtschaft“, sagt er. Friedrichs Vision ist eine Fleischproduktion, die ohne Tiere auskommt. Der Aktivist setzt auf Schnitzel auf Pflanzenbasis und auf Steaks aus Bioreaktoren. Auch Milch, Käse, Leder und Gelatine sollen künftig ohne Tiere entstehen. Rinder, Schweine, Schafe und Hühner würden dann nur noch zur Folklore einer versunkenen Landwirtschaftsära gehören; ihr Fleisch soll ein rares Luxusprodukt sein. „Im Moment essen wir Fleisch trotz der tierschutzwidrigen und umweltzerstörerischen Weise, in der es produziert wird“, sagt Friedrich: „Ein Steak, das heutigem Fleisch gleicht, aber nicht dieselben ethischen und ökologischen Probleme mit sich bringt, werden die Menschen lieben.“ Der Aufstieg des Menschen zum Fleischfresser begann vor drei Millionen Jahren. Eine Klimakatastrophe suchte damals die Savannen Afrikas heim. Viele Tiere verschwanden. Zwei Primaten der Gattung Australopithecus jedoch überlebten: Der eine Affe blieb Vegetarier. Der andere jedoch, der Vorfahr des Menschen, begann, Fleisch zu fressen. Die neue Powernahrung trieb ihn zu körperlichen und geistigen Höchstleistun-
gen. Fleisch nämlich hat zwei entscheidende Vorteile gegenüber pflanzlicher Nahrung: Einerseits enthält es sehr viel Eiweiß und wichtige Mikronährstoffe. Andererseits ist es verhältnismäßig leicht verdaulich. Dank des prähistorischen Energieriegels schrumpfte beim Menschenurahn der nun weniger beanspruchte Verdauungstrakt. Die überschüssige Energie steckte er in die Hirnentwicklung. Die spätere Erfindung des Kochens, das Nährstoffe noch leichter zugänglich macht, beschleunigte diese Entwicklung. „Die Ernährungsumstellung war zunächst sehr hilfreich für unsere Vorfahren“, sagt die Autorin Marta Zaraska, die ein Buch über die Fleischlust des Menschen geschrieben hat. „Wir entwickelten ein größeres Gehirn und wurden sozialere Wesen, weil Fleisch geteilt werden musste.“ Mit Fleisch im Gepäck sei es dem Menschen zudem leichtergefallen, von Afrika aus nach Norden vorzustoßen. So wichtig wurde dieses Nahrungsmittel für den Menschen, dass er eine quasireligiöse Beziehung zu ihm aufbaute. Fleisch sei zu allen Zeiten Zeichen von Macht und Männlichkeit gewesen, von Wohlstand und Aristokratie, berichtet Zaraska. Der Erfolg von Zeitschriften wie „Beef!“ oder von Luxusgrills zeigt, dass Fleisch bis heute Identität stiften kann. Der Mensch sei von Natur aus geradezu süchtig nach Fleisch, sagt Zaraska. Und wie so oft bei Suchtstoffen, hat zu viel des Guten schlimme Folgen. Denn so hilfreich Fleisch einst bei der Entwicklung des Menschen war, so schädlich ist es, wenn es im Übermaß genossen wird. Krankheiten wie Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes, Gicht und Krebs kön-
nen ihre Ursache im Genuss von zu viel Fleisch haben. Die Abhängigkeit zu brechen ist schwer. Zwar stagniert der Fleischkonsum in den Industrieländern. In Schwellenländern wie China oder Brasilien jedoch wächst er dafür um so schneller. Selbst viele Inder taugen nur als Vorzeigevegetarier, solange sie arm sind. So manch einer, der mehr verdient, genießt auch in Indien Filet Mignon – allerdings vom Wasserbüffel und nicht von der heiligen Kuh. Eine einfache Wahrheit steckt dahinter: Sobald es sich der Mensch leisten kann, kauft er Fleisch.
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onglu, eine Autostunde außerhalb der ostchinesischen Zehnmillionenstadt Hangzhou: Ein Viehlaster zwängt sich ein Tal hinauf. Die Kurven werden immer enger, der Geruch saurer. Hinter der letzten Kurve steht ein großes Tor mit einem stilisierten Schweinerüssel darauf, dahinter fünf Fabrikhallen – die Zhejiang Whiteshire Breeding Co. Ltd., eine moderne Schweinezuchtfarm. „Wir verladen heute 250 Jungsauen, sie gehen alle nach Südchina“, sagt Schweinezüchter Zhang Wenhou, 31, als seine Kollegen die ersten Tiere aus dem Stall scheuchen, „alles Zuchttiere“, sagt er, „American Yorkshire, allerbeste Rasseschweine.“ In China ist die Schweinezucht eine Wachstumsbranche. 1982, als der Wirtschaftsaufschwung des Landes begann, aß jeder Chinese im Schnitt 13 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Inzwischen gönnt er sich fast fünfmal so viel – vor allem Schwein, das in China traditionell ein Symbol für Wohlstand ist. Das chinesische Schriftzeichen für „Familie“ zeigt ein Schwein unter
2050 werden ca. zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Wollte jeder von ihnen genauso viel Fleisch verbrauchen, wie jeder Deutsche schon heute, wären
drei Erden notwendig.
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der weltweiten Agrarfläche werden für die Viehwirtschaft genutzt.
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Zwei Schnitzel pro Woche Gesundheit Warum Mediziner eine Halbierung des Fleischkonsums empfehlen
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er liebe Gott sieht alles, nur nicht, was in der Wurst ist.“ Dieses bayerische Sprichwort scheint die Weltgesundheitsorganisation zu bestätigen: Ende 2015 warnte ein von der WHO beauftragtes Expertengremium, der Fleischkonsum führe jedes Jahr weltweit zu rund 50 000 Krebstodesfällen. Vor allem verarbeitete Ware sei gefährlich, erklärten die Wissenschaftler – und stellen damit den Wurstverzehr auf eine Stufe mit Rauchen und Radioaktivität. Salami, Würstchen, Räucherspeck, Trockenfleisch und andere verarbeitete Fleischprodukte könnten Darmkrebs verursachen. Grund zur Panik besteht gleichwohl nicht. Denn das Votum des Expertengremiums besagt lediglich, dass sich ein kausaler Zusammenhang zwischen Fleischprodukten und Krebs nachweisen lässt. Das tatsächliche individuelle Krebsrisiko durch Fleischverzehr aber ist viel geringer als beim Rauchen. Ein Rechenbeispiel: Wenn sich 100 Deutsche jeweils 10 Scheiben Salami oder 5 Scheiben Fleischwurst pro Tag zusätzlich aufs Brot legten, erkrankten statistisch gesehen sieben statt sechs irgendwann im Leben an Darmkrebs – einer mehr als sonst. Auch nicht verarbeitetes rotes Fleisch, also zum Beispiel Steaks, Schnitzel oder Hamburger aus Schwein oder Rind, wurde als wahrscheinlich krebserregend eingestuft. Für den Effekt gibt es mehrere mögliche Ursachen. So entstehen beim Braten und Grillen krebserregende Substanzen. Zudem könnte der eisenhaltige Blutfarbstoff-Bestandteil Häm im Darm die Bildung von krebserregenden Substanzen anregen; dies würde erklären, warum weißes Fleisch, das von Geflügel stammt, nicht als krebserregend gilt. Medizinnobelpreisträger Harald zur Hausen wiederum vermutet, dass in Rindfleisch vorkommende Infektionserreger eine Rolle bei der Krebsentstehung spielen. Zu viel Fleisch ist aber auch aus anderen Gründen ungesund. Allerlei Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes und Gicht werden darauf zurückgeführt – vor allem verarbeitetes Fleisch wie Wurst gilt als schädlich. Das liegt am hohen Fett- und Salzgehalt; das Fett führt zu Übergewicht und lässt das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall 90
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steigen, während das Salz den Blutdruck in die Höhe treibt. Einige Studien deuten sogar darauf hin, dass Wurst Menschen biologisch altern lässt und sie so anfälliger macht für Zivilisationskrankheiten jeder Art. Gehört aber Fleisch nicht andererseits zu einer ausgewogenen Ernährung? Drohen ohne tierische Produkte Mangelerscheinungen? Das stimmt nur für eine rein vegane Kost. Wer sogar auf Eier, Milch und Käse verzichtet, riskiert in der Tat einen Mangel an Vitamin B12, was zu Nervenschäden und Blutarmut führen kann. Insbesondere für Kinder, Schwangere und Stillende ist eine vegane Ernährung deshalb nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) potenziell gesundheitsschädlich. Eine abwechslungsreiche vegetarische Ernährung hingegen, zu der auch Milchprodukte gehören, kann ohne Einschränkungen empfohlen werden. Wichtige Fleisch-Inhaltsstoffe sind in pflanzlichen Lebensmitteln enthalten: Viele grüne Gemüsesorten enthalten Eisen, Eiweiß steckt in Hülsenfrüchten und Sojaprodukten. Wer dennoch nicht ganz auf Fleisch verzichten mag, sollte wenigstens nicht zu viel davon essen. Die DGE schlägt als Obergrenze 600 Gramm pro Woche vor – derzeit liegt der Durchschnittsverzehr der Deutschen rund doppelt so hoch. Konkret bedeutet die DGE-Empfehlung: maximal zwei Schnitzel und 200 Gramm Wurstaufschnitt pro Woche. Veronika Hackenbroch
Verzicht Wer den Fleischkonsum reduziert, lebt gesünder und hilft Klima und Umwelt. Jeder Deutsche isst etwa
165 Gramm Fleisch pro Tag.
Die Gesundheitsempfehlung liegt bei höchstens 86 Gramm täglich, das ist etwas mehr als die Hälfte des derzeitigen Durchschnittsverbrauchs. Es entspricht etwa einem Frankfurter Würstchen.
einem Hausdach. China produziert rund die Hälfte aller Schweine auf der Welt. „Und genau so wird es auch weitergehen“, ist Huang Xinggen, 64, überzeugt, der aus Tonglu stammt und vor zwei Jahren in die Schweinezucht einstieg. Der Staat unterstützte Huang bei der Finanzierung seiner Zuchtfarm. Doch der Staat macht ihm auch Auflagen: In spätestens einem Jahr muss er vollständig für die Entsorgung aufkommen. Bislang läuft der Großteil der Gülle in Betonkavernen unter der Farm. „Wir bauen jetzt ein Kraftwerk“, sagt Huangs Schwiegersohn: „Das Gas wird unseren steigenden Energiebedarf decken.“ Die „Zhejiang Whiteshire“Anlage ist erst der Anfang. Huang Xinggen will fünf Zuchtfarmen bauen. Alles, sagt Huang, sei besser als die bäuerliche Armut, in der er aufgewachsen sei. Es sind Männer aus Huang Xinggens Generation, die China heute regieren. Vielen von ihnen kann das Land gar nicht genug Schweinefleisch produzieren. Doch das hat seinen Preis: Vor allem die Urbanisierung führt zu ökologischen Problemen. „Einerseits darf die Tier- und Futtermittelproduktion nicht zu weit von den reichen Megastädten entfernt sein, andererseits ist das Land dort viel zu knapp“, sagt Hu Xiangdong von der Chinesischen Akademie für Landwirtschaftliche Forschung. Und je mehr Tierfutter die Betriebe zukaufen müssten, desto mehr steige die Umweltbelastung. Vor allem aber sorgt sich die Regierung um die Gesundheit der Bevölkerung. Vor wenigen Monaten stellte das Gesundheitsministerium neue Ernährungsrichtlinien vor, von Umweltschützern weltweit als Epochenwende gefeiert. Nicht mehr als 40 bis 75 Gramm Fleisch täglich sollen die Chinesen künftig essen. Das käme fast einer Halbierung des Fleischkonsums gleich. Anders als früher gehe es heute nicht mehr darum, Mangelernährung zu vermeiden, sondern gegen Krankheiten wie Fettleibigkeit vorzugehen, sagt Dr. Ma Guansheng von der Universität Peking, der die „Ernährungspagode“ erstellt hat. Als Verbündeten für die Kampagne haben die Chinesen den Schauspieler Arnold Schwarzenegger gewonnen. In TV-Spots wirbt der „Terminator“ für eine fleischärmere Welt. In verschwitztem Hemd (Achtung: Klimawandel!) stapft Schwarzenegger darin durch eine staubige Wüstenei. „Less meat, less heat, more life“, mahnt er, weniger Fleisch, weniger Hitze, mehr Leben. Tatsächlich würde die Halbierung des Fleischkonsums – hochgerechnet auf eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Chinesen – eine Verringerung des Treibhausgasausstoßes um 1,3 Milliarden Tonnen CO2Äquivalente bis 2030 bedeuten. Ohne diesen Beitrag Chinas, so fürchten Experten,
JIN YUEQUAN / PICTURE ALLIANCE / DPA
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Industrielle Schweinefleischverarbeitung in China: Traditionell ein Symbol für Wohlstand
sei das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klima- Ein Rindersteak ist bis zu sechsmal so tern am Amazonas zeichnen. Er ist kein klimaschädlich wie eine Hühnerbrust des- Großgrundbesitzer, seine Farm reicht so abkommens nicht mehr zu erreichen. Der „New York Times“-Kolumnist Tho- selben Gewichts. Seine Produktion ver- eben zum Überleben. Dennoch ist auch Guimarães mitverantwortlich für das Dramas Friedman sagte es so: „Wenn der ,chi- braucht dreimal so viel Wasser. „Diesen heiligen Tieren vergangener Zei- ma am größten Strom der Erde. nesische Traum‘ derselbe Traum ist, den Denn dass der Urwald stirbt, liegt vor Amerika träumt – Big House, Big Car, Big ten haftet heute ein Hauch von Pestilenz Mac für jedermann –, dann braucht die an“, notierte der US-Umweltaktivist Jere- allem an den Rindern. Brasilien ist größter my Rifkin in seinem Bestseller „Imperium Fleischexporteur der Welt. Schon jetzt leMenschheit einen anderen Planeten.“ Doch werden die Chinesen auf die Wei- der Rinder“: „Wie hufscharrende Heu- ben hier mehr Rinder als Einwohner: Über sung ihrer Führung hören? Prognosen wei- schrecken schwärmen sie über die Weide- 200 Millionen der Tiere grasen auf den sen in eine andere Richtung. Bis 2030 soll flächen Europas, Amerikas, Afrikas und Ebenen des Landesinneren, viele von ihder Fleischkonsum keinesfalls abnehmen, Australiens aus und verschlingen alles, was nen auf einstigen Urwaldböden. in einer Jahrmillionen währenden EntwickJedes Jahr dringen die Rinderzüchter sondern noch um 50 Prozent ansteigen. und Sojafarmer tiefer in das Urwaldgebiet Inzwischen wächst sogar die Nachfrage lung entstanden ist.“ vor. Staatliche Kontrolle gibt es kaum. Mit nach Rindfleisch aus Japan oder Australien, das sich die Chinesen bislang kaum leisten ovo Santo Antônio im Bundesstaat ein paar Pistoleros, Schmiergeld für Umkonnten. In den teuren Restaurants Pekings Mato Grosso, Brasilien: Die 210 weltbehörde und Justiz sowie guten Beliegen nun rohe Wagyu- oder Angus-Steaks klapprigen Nelore-Kühe von Odo- ziehungen kann in Mato Grosso jeder zum in den Auslagen, die für wohlhabende Kun- rico Guimarães stehen zwischen verkohlten Großgrundbesitzer werden. „Korruption und die Abwesenheit des den nach Gusto gegrillt werden. Baumstümpfen. Bei vielen der weißen RinAuch eine Premiere ist dieser Mode ge- der kann man die Rippen zählen, so mager Staates sind hauptverantwortlich für die schuldet. 2015 flog eine Boeing 747 von sind sie. Brasiliens Amazonasgebiet hat die Zerstörung des Amazonasgebiets“, sagt Australien nach Zentralchina. An Bord: schlimmste Dürre aller Zeiten hinter sich. John Carter, Chef der Hilfsorganisation 150 lebende Rinder. Die Australier hoffen „Ich musste meinen Kühen auf die Beine Aliança da Terra (Bündnis der Erde). „Der auf einen Teil des erwarteten 60-Milliar- helfen, damit sie nicht an Entkräftung ster- Wald hat keinen kommerziellen Wert, nur den-Dollar-Rindfleischmarkts in China. ben“, erzählt Guimarães. Mücken surren der Boden.“ Carter kennt die Nöte der Farmer. Auf Rindfleisch aber verursacht die meisten um den Kopf des 74-Jährigen, seine Hände seiner ehemaligen Farm „Esperança“ Umweltschäden. Pro Gramm Rindereiweiß sind gezeichnet von schwerer Landarbeit. werden bis zu 150-mal so viel Klimagase Der alte Mann entspricht nicht dem Bild, (Hoffnung) hielt er selbst über 9000 Rinfreigesetzt wie pro Gramm Sojaprotein. das Umweltschützer von den Rinderzüch- der. 1998 kam der Texaner nach Mato
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Wiederkäuer mit Methanbehälter in Argentinien*, Rinderherde in Brasilien „Wie hufscharrende Heuschrecken schwärmen sie über die Weideflächen Europas, Amerikas, Afrikas und Australiens aus“
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Grosso. Zu seinen Verbündeten wurden Ein Großteil der Tiere ist für den Export mast ist ökologisch problematisch. Die letzdie Indianer. Das Reservat der Xavantes bestimmt. „Nach Europa und in die USA ten Wochen ihres Lebens werden die Überlag nahe seiner Farm. Als Landbesetzer in verkaufen wir nur Fleisch mit Herkunfts- see-Rinder in Mastanlagen mit Soja vollihr Gebiet eindrangen und einen Teil des nachweis“, sagt Maurício Tonhá, Direktor gestopft, um möglichst viel Muskelmasse Urwalds niederbrannten, bildete er einige von „Estância Bahia“, dem größten Rin- anzusetzen. Rund 80 Prozent der globalen Sojaernte landen in den Trögen von RinKrieger zu Feuerwehrleuten aus. Allein in derauktionshaus Mato Grossos. diesem Jahr hat Carters freiwillige FeuerCarter hält das Überwachungssystem dern und Schweinen. Auch Deutschland wehr über hundert Brandherde gelöscht. für „Augenwischerei“. Satellitendaten je- importiert pro Jahr etwa sieben Millionen Carter spürt, wie sich das Klima verän- doch zeigen, dass sich der Kahlschlag zu- Tonnen Soja für die Tiermast – und ist dadert, sieht, wie der Urwald verschwindet, mindest verlangsamt hat. McDonald’s, her mitverantwortlich für die Rodungen wie sich weite Teile des Landes in Steppe Walmart, Woolworths, JBS, Cargill – viele und Monokulturen in Argentinien, Brasiverwandeln. „Das unter mir war vor 20 der großen Akteure würden nun immerhin lien und Paraguay. Das geht nicht nur zulasten der ArtenJahren endloser Wald“, sagt er, während an einem Tisch sitzen, sagt Carlos Saviani er mit seiner Cessna über Mato Grosso vom WWF: „Vor zehn Jahren hätten die vielfalt in Übersee. Der Futterimport erfliegt. Heute gleicht die Landschaft einem Firmenvertreter noch den Raum verlassen, möglicht viel zu große Tierbestände auch Flickenteppich. Sojafelder und Viehweiden wenn man Rinderhaltung und Abholzung in Deutschland. Ihre Gülle belastet hiesige Böden, Flüsse und das Grundwasser. ziehen sich bis an den Horizont. Reste von in einem Satz genannt hätte.“ Doch in Banff wurde auch deutlich, dass Wald liegen, Inseln gleich, in der Einöde. Doch was sind die Selbstverpflichtungen „In der Trockenzeit kann ich kaum fliegen, der Industrie wirklich wert? Saviani sitzt Rind nicht gleich Rind ist. Die Kuh rundso dicht ist der Rauch von den Rodungen“, für den WWF im „Global Roundtable for weg als Planetenkiller zu bezeichnen ist sagt Carter. Sustainable Beef“, einem Zusammen- nicht ganz fair. Die Umweltbilanz hängt Um den Raubbau einzudämmen, grün- schluss von Fleischindustrie und Umwelt- davon ab, wie das Tier gehalten wird. dete er die Aliança da Terra. Über 1200 verbänden. Im kanadischen Skiresort Rinderfarmer haben sich angeschlossen. Banff in den Rocky Mountains traf sich ensbüttel-Röst, Dithmarschen, eine Carter und seine Leute beraten sie, wie der Kreis vor einigen Monaten, um über Autostunde nördlich von Hamburg. man umweltschonend produziert. Carter Rinderzucht zu streiten. Landwirt Hans Karstens, 65, hat hält nichts von Organisationen wie GreenIn den holzgetäfelten Hallen des schloss- seine Mastbullen in einem flachen, rot peace oder dem WWF. Aber er versteht artigen Fairmont Hotel wurde schnell deut- geklinkerten Stall untergebracht. Es sind viel von Bodenbewirtschaftung und Rin- lich: Außer Ankündigungsprosa hat die In- nervöse, massige Tiere, deren Brust aufderzucht. „Der Krieg gegen die Abholzung dustrie noch nicht viel anzubieten. Gerade gepumpt ist wie bei Bulldoggen. lässt sich nur gewinnen, wenn man die Pro- in den größten Produktionsländern, in BraIm Stall nebenan stehen 150 Milchkühe, duzenten vor Ort einbindet“, sagt er. silien, Argentinien, Australien und den leichter im Wuchs, aber „äußerst robust“, Doch es ist ein fast aussichtsloser Kampf. USA, ist die Rinderzucht von Nachhaltig- wie Karstens versichert, dahinter die KälWenige Großkonzerne kontrollieren in der keit weit entfernt. ber, zarte Wesen mit flauschigen SchnauFleischindustrie die Lieferkette und diktieVerheerend wirkt sich nicht nur die zen, langen Wimpern und glänzenden Auren die Preise. Der mächtigste von ihnen Landzerstörung aus. Auch die Intensiv- gen. Durch die offenen Stallwände geht ist JBS. In Mato Grosso betreibt die Firma der Blick hinaus auf fettes Grünland. Schlachthöfe und Mastfarmen. Die Tiere, insgesamt gut 500 an der Zahl, Auswahl Die Umweltorganisation Greenpeace sind rot-weiß gescheckt. „Rotbunt-DN“ Geflügelfleisch ist umweltfreundlicher vermittelte ein Abkommen zwischen den heißt die Rasse, erklärt Karstens. DN steht als Schweinefleisch. Fleischkonzernen und Supermarktketten für „Doppelnutzung“. Karstens’ Tiere sind Brasiliens. Die Supermärkte verpflichten Champions in gleich zwei Disziplinen: sich, nur „entwaldungsfreies“ Fleisch zu Jede der Kühe gibt etwa 9000 Liter Milch verkaufen – solches also, das nicht von Farpro Jahr. Und die Bullen setzen viel Fleisch men stammt, die wegen illegaler Abholan, das sich gut verkaufen lässt. zung angezeigt worden sind. Die Herkunft Milch und Steak – in Deutschland sind des Rindfleisches lasse sich bis zur Farm sie häufig noch eng verschränkt. Kühe müszurückverfolgen, versichern die Umweltsen nämlich jedes Jahr kalben. Sonst verschützer. siegt ihr Milchstrom. Die Hälfte der Kälber Wie das „Tracking“ funktioniert, lässt ist männlich. Sie nicht zu mästen wäre eine sich auf der Farm „Mantiqueira“ bei dem Verschwendung von Ressourcen. Karstens Städtchen Água Boa beobachten, eine widersetzt sich dem Trend zu Hochleistungsknappe Flugstunde von Carters Ranch entrassen. Als Folge kommt der Dithmarscher Die meisten Ressourcen verbraucht fernt. Bis zu 32 000 Rinder werden hier Bauer fast mit dem aus, was sein Land herRindfleisch, vor allem solches aus Übersee. gleichzeitig in sogenannten Feedlots gegibt. Seine Rinder mampfen vor allem GrasIn Deutschland ist die Rindfleischproduktion mästet. Cowboys haben die Tiere mit und Maissilage aus eigenem Anbau. Kraftan die Milchproduktion gekoppelt. Ohrchips markiert, die in einer klimatisierfutter muss er nur wenig zukaufen. Wer Milch, Käse und Joghurt kauft, ten Zelle aus Glas per Scanner eingelesen „Ökonomische und nachhaltige Ziele kann das Roastbeef gleich dazulegen. werden. überschneiden sich häufig“, erläutert GeDie Rinder werden nach Alter und Ge- Landverbrauch pro Tonne Rindfleisch in Hektar reon Schulze-Althoff von Vion, einem der wicht sortiert, ein Computer bestimmt das größten Fleischproduzenten Deutschlands. Futtergemisch. Tausende Rinder drängen „Und Nachhaltigkeit kann auch Intensivsich an den Futterrinnen, der Gestank der haltung bedeuten.“ Wer die Welt mögFäkalien raubt den Atem. lichst ökologisch mit tierischem Eiweiß versorgen wolle, müsse ehrlich rechnen. Ein Rind, das sein Leben lang auf der niederländische * Das von der Kuh ausgestoßene Methan wird in einem brasilianisches Rind Milchkuh Kunststoffcontainer gesammelt. Weide steht, nutzt zwar ausschließlich lo-
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kale Ressourcen, wächst jedoch langsam und furzt dabei viel Treibhausgas in die Atmosphäre, weil mehr Gras im Pansen über längere Zeit mehr Methan erzeugt. Ein Rind dagegen, das sehr schnell gemästet wird oder besonders viel Milch produziert, braucht zwar mehr Kraftfutter, erzeugt aber nicht so viel Methan. Welches Rind also hat die bessere Ökobilanz pro Kilogramm Eiweiß? „Diese Debatte ist nicht entschieden“, sagt Schulze-Althoff. Der Experte fordert „robuste Rassen“, um die „Nutzungsdauer“ zu verlängern. Er will die „Futterverwertung“ optimieren und das „Güllemanagement“ verbessern. Zudem müsse das Grasland gut bewirtschaftet werden. Dann könnten die Weiden der Luft sogar CO2 entziehen. Manche Experten schlügen gar Hormongaben oder die Nutzung leistungsfördernder Antibiotika vor, um Rindfleisch nachhaltiger zu erzeugen, berichtet SchulzeAlthoff. „Ich bin kein Freund derartiger Methoden“, sagt er, „aber mit mehr Effizienz bekomme ich einfach mehr Ertrag an den gleichen Knochen.“ Aber will der Mensch wirklich Tiere essen, deren Leben einzig auf Effizienz getrimmt war? Die Massentierhaltung schont vielleicht die Umwelt, weil sie dazu beiträgt, tierisches Eiweiß möglichst ressourcenschonend herzustellen – doch für die Tiere sind Fleischfabriken eine Qual. Selbst Karstens’ Vorzeigerinder in Dithmarschen verlassen nie den Stall. Es würde ihre Energiebilanz ruinieren. Und am Ende eines armseligen Lebens steht immer der Bolzenschuss. Über 50 Rinder warten an diesem Nachmittag im Stall des Vion-Schlachthofs in Bad Bramstedt. „Übernachtungsgäste haben wir hier nicht“, sagt Betriebsleiter KaiUwe Harms und blickt zu den Tieren. „Das wird alles heute noch weggeschlachtet.“ Jedes der Rinder wird in den nächsten Stunden einzeln durch einen schmalen Gang in eine Betäubungsbox trotten. Sein Kopf wird fixiert. Dann knallt ein Metallbolzen mit 16 Bar Druck auf den Rinderschädel. Das Tier ist sofort betäubt und wird an ein Laufband gehängt. Ein Schlachter durchtrennt die Halsschlagader. Der Tod tritt durch „Blutentzug“ ein. Mit Ketten wird die Haut nach unten abgezogen. Aus ihr wird Leder. Der „Schlachtkörper“ wandert weiter durch die Anlage, wird mit Motorsägen zerteilt, von Veterinären geprüft, später von Männern in handliche Teile zerschnitten. Etwa 2800 Rinder werden hier pro Woche geschlachtet, 120 000 im Jahr. Jungbullenhälften hängen in langen Reihen in den Hallen. Jedes Teil von ihnen findet seine Abnehmer: die erstaunlich mächtige Leber, Zunge, Herz und Nieren, die Markknochen für die Suppe. Das Haupt geht zur „Kopfzerlegung“, der Pansen wird zu 94
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Kutteln, in China essen sie den Blättermagen. In einer Lagerhalle hängen die „Edelteile“ zur „Reifung“, ein enzymatischer Prozess, der auch die Leichenstarre löst. Vion zeigt die Schlachtung im Internetvideo, „um aufzuklären“, sagt Schulze-Althoff. Doch erst live wird deutlich, welche rohe Gewalt dazu gehört, ein so großes Tier wie ein Rind zu schlachten. Es ist eine blutige, verstörende Erfahrung, die Tötung am Fließband. Am Ende liegen T-Bone-Steaks und Rippchen fein säuberlich unter Plastikfolie. Will der Mensch das? So brutal es erscheint, schöner töten als bei Vion in Bad Bramstedt geht kaum. Und es gibt eine stille Übereinkunft, dass dieses Töten in Ordnung geht, dass sich der Mensch des Tieres bedienen darf, bis in den Tod. Doch was, wenn es eine Alternative gäbe? Fleisch aus Pflanzen, wie den Impossible Burger aus Kalifornien? Oder noch besser: Fleisch aus Fleisch – ohne dass dafür ein Tier sterben muss.
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aastricht, Niederlande: Schon am Eingang des „Expositie & Congres Centrum“ grüßt der Visionär von einem Plakat herab. Mark Post, blassgrüne Augen, randlose Brille, hohe Stirn, Experte für „regenerative Medizin“. Ein Sponsor hat den Wissenschaftler in Überlebensgröße auf Papier gebannt. Ein treffliches Symbol, denn es geht um die vielleicht wichtigste landwirtschaftliche
Erderwärmung Welches Fleisch das Klima am stärksten belastet, in Kilogramm CO2-Äquivalent pro Kilogramm Fleisch*
Mastrind
67,6 Schwein
6,1
Milchrind
18,2 Huhn
5,4 ca. Quelle: FAO 2013 *bezogen auf das Schlachtgewicht
zum Vergleich:
Laborfleisch
3,4
Revolution seit der Domestizierung des Viehs. Mark Post tüftelt daran, Fleisch im Bioreaktor herzustellen. Echtes Fleisch. 2013 präsentierte er den weltweit ersten Hamburger aus dem Labor. Aus wenigen Muskelvorläuferzellen eines Rinds hatte der Mediziner 20 000 winzige Muskelfasern gezüchtet und sie zu 120 Gramm Hackfleisch geformt. Ein Chefkoch briet das Fleisch. Die österreichische Ernährungsforscherin Hanni Rützler durfte kosten. „Nahe an Fleisch, nur nicht so saftig“, kommentierte sie das Geschmackserlebnis. Die Hälfte des Burgers ließ sie liegen. Doch Post ging es nicht um den Geschmack, sondern ums Prinzip. Der Forscher verfolgt eine einfache Frage: Braucht es wirklich ein ganzes Tier, um Fleisch zu gewinnen? Fleisch ist Muskel. Lässt sich der nicht auch ohne Skelett, Fell, Organe, Kopf und Schwanz herstellen? Ein Laborsteak würde, verglichen mit herkömmlichem Fleisch, 35 bis 60 Prozent weniger Energie und 98 Prozent weniger Land verbrauchen, haben Forscher aus Oxford errechnet. 80 bis 95 Prozent weniger Klimagase würden entstehen. Einige wenige Tiere könnten ausreichen, um als Zellspender die ganze Welt mit Eiweiß zu versorgen. Eine faszinierende Vision – aber ist sie auch realistisch? Post erschuf den teuersten Hamburger der Geschichte: 250 000 Euro spendierte Google-Gründer Sergey Brin für die Herstellung. Geht es auch billiger? Drei Jahre nach der Pioniertat trafen sich die Zellforscher unlängst in Maastricht. Wie können Muskelzellen am besten gezüchtet werden? Welche Bioreaktoren kommen für eine Massenproduktion infrage? „Wir haben große Fortschritte gemacht“, sagt Post. Der Preis pro Kilogramm Zuchthack liege schon jetzt bei nur noch 75 Dollar und werde weiter fallen. In seinem Labor an der Universität Maastricht holt der Mediziner eine Plastikdose aus einem Kühlschrank, gefüllt mit einer fingerhutgroßen Portion Kunstfleisch. „Hier drin befinden sich zwei Milliarden Muskelzellen“, sagt er und hält das Rinderhack ins Licht. „Daraus lassen sich leicht zehn Tonnen Rindfleisch züchten.“ Post plant bereits den Bau von Bioreaktoren „mit 25 000 Liter Fassungsvermögen, die 10 000 Menschen jährlich mit Fleisch versorgen könnten“. 2019 sollen die ersten Fleischfabriken stehen. Sogar Steaks will er im Labor erzeugen. Post vergleicht die Technik mit dem Züchten künstlicher Organe für die Transplantationsmedizin. „Unser Problem ist sogar weniger komplex“, sagt er, „wir brauchen keine echten Blutgefäße, sondern könnten ein künstliches Gefäßsystem verlegen.“
FRANCOIS LENOIR / REUTERS
Dithmarscher Bauer Karstens, Doppelnutzungsvieh: Champions in zwei Disziplinen
In-vitro-Fleisch-Proben aus dem Labor an der Universität Maastricht: Billigalternative der Zukunft
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as also wird in den Supermärk- ne und Geflügel müssten wieder zu den ten der Zukunft liegen? Ist es Resteverwertern der Landwirtschaft wertatsächlich denkbar, dass Fleisch den. Für das Rind fordert er eine Rückkehr von Tieren keine Rolle mehr spielen zur Weidewirtschaft. „Momentan wird das Rind zum Schwein gemacht“, sagt Wolter. wird? Klar ist: Wie bisher kann es nicht wei- „Macht es wieder zu dem, was es ist: ein tergehen. Wollten alle 9,7 Milliarden Men- Wiederkäuer.“ 26 Prozent der Erdoberfläche sind Grasschen des Jahres 2050 genauso viel Fleisch verbrauchen wie jeder Deutsche schon land, überwiegend so karg, dass darauf gar kein Getreide oder Gemüse angebaut werheute, wären drei Erden notwendig. Verzicht ist deshalb unumgänglich. „Wir den kann. Wiederkäuer wie Rinder oder müssen zwei Drittel runter vom Fleisch- Schafe, die Gras auf geradezu wundersame konsum“, sagt Markus Wolter vom WWF Weise in Eiweiß verwandeln, können diese Deutschland. Und wer weniger isst, hofft Flächen nutzbar machen. Sie konkurrieren der Umweltschützer, wird bereit sein, dabei nicht einmal mit der menschlichen mehr zu zahlen. „Fleisch muss wieder zu Ernährung. Als Biopremiumprodukt, so etwas Wertvollem werden“, sagt er. Die die Vision, wird herkömmliches Fleisch jüngst vorgeschlagene Mehrwertsteuer- künftig jene erfreuen, die es sich leisten erhöhung für tierische Produkte wäre ein können. Alle anderen werden sich auf Ersatzprodukte einstellen müssen. erster Schritt in diese Richtung. Auch erste Industrievertreter sehen das Für Wolter liegt die Zukunft der Fleischproduktion in der Vergangenheit. Schwei- so. „Die zunehmende Sorge um das Tier-
wohl führt dazu, dass wir unsere Strategien ändern“, sagt Paulo Gaspar vom portugiesischen Geflügelkonzern Lusiaves, der in Maastricht mitdiskutierte. „Bald wird es nur noch Biofleisch geben“, glaubt Gaspar. Der Preis für Fleisch werde weiter steigen, weil die Verbraucher immer bessere Haltungsbedingungen einforderten. „Gezüchtetes Fleisch wird die Billigalternative der Zukunft sein“, sagt Gaspar. Bruce Friedrich vom Good Food Institute glaubt sogar, dass Rinder, Schweine und Hühner schon bald gar keine Rolle mehr für die Ernährung spielen könnten. „Bis 2050 wird das meiste Fleisch aus Bioreaktoren kommen oder aus Pflanzen hergestellt werden“, prophezeit er. Zuchtfleisch werde sogar gesünder als herkömmliches Fleisch sein. Hormone, Antibiotika, Salmonellen – nichts von alldem müsste das Kunsthack belasten. Sobald es überzeugende alternative Fleischangebote gebe, würden die Leute das Schlachten von Tieren vielleicht sogar komplett infrage stellen, sagt Friedrich: „Ich bin gespannt, wie wir uns ethisch weiterentwickeln werden.“ Und auch kulinarisch könnten einige Überraschungen anstehen, sollte das neue Fleischzeitalter tatsächlich anbrechen. Zum Abendprogramm der MaastrichtKonferenz gehörte der Besuch des „Cube Design Museum“ im nahen Kerkrade. „Meat the Future“ heißt eine Ausstellung, die dort noch bis Juni 2017 läuft. Ein Team von Köchen, Designern und Künstlern um den Niederländer Koert van Mensvoort hat dort Modelle von 30 Zuchtfleischgerichten aufgebaut, die künftig auf unseren Tellern liegen könnten. „Knabberbesteck“ zum „Abnagen“ ist zum Beispiel dabei, bestehend aus „Zuchtfleisch rund um eine Surrogat-Knochenstruktur“. Auf einem anderen Teller liegt „Zuchtfleisch-Eis“, das die „samtige Struktur von Eis mit dem Geschmack beliebter Fleischsorten kombiniert“. „Das gestrickte Steak“ besteht aus besonders lang gezüchteten Muskelgewebesträngen. Die „FleischAustern“ sind in „einem Meer von warmem Nährserum“ gezüchtet worden. „Uns geht es nicht darum, die Zukunft vorherzusagen, sondern um das Ausloten möglicher Chancen und Albträume“, sagt van Mensvoort. „Aber sicher ist, dass sich die Ernährungsgewohnheiten ändern werden.“ Übrigens auch bei den Getränken: „Zu Fleisch-Austern empfiehlt sich ein kräftiger Rotwein“, heißt es auf der Speisekarte. Philip Bethge, Jens Glüsing, Bernhard Zand Mail:
[email protected]
Animation: Die Deutschen und das Fleisch spiegel.de/sp082017fleisch oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 8 / 2017
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FOTOS: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Renault Zoe bei SPIEGEL-Testfahrt, Cockpit, beim Stromtanken: Im Lkw-Tempo über die Autobahn
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Mobilität Ausgerechnet Renault und Opel bringen die ersten Elektroautos heraus, die hohe Reichweiten bieten und trotzdem bezahlbar sein sollen. Möglich wird dies durch verbesserte Batterien. Doch wie alltagstauglich sind die neuen Strommobile wirklich?
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er französische Automobilhersteller Renault steht in erster Linie für nichts. Dass die blasse Marke mehrfach die Formel-1-Weltmeisterschaft gewann, dürfte so wenigen Menschen bewusst sein wie die überraschende Tatsache, dass sie derzeit eines der fortschrittlichsten Autos der Welt im Programm hat. Es ist ein Kleinwagen mit der Modellbezeichnung Zoe. Er fährt mit Strom – und 96
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neuerdings fast doppelt so weit wie sein Vorgänger: in der gültigen europäischen Normmessung 400 Kilometer mit einer Batterieladung. Der Wert ist umso erstaunlicher, als der Akku, mit dem das geht, nicht mehr Platz einnimmt als der etwa halb so starke zuvor und den Wagen auch kaum teurer macht. Mit einem Preis von 32 900 Euro ist der Zoe der erste Vertreter einer neuen Ent-
wicklungsstufe von Elektroautos, die von einem achtbaren Fortschritt der Batterietechnologie profitieren. Der nächste wird – noch eine Überraschung – ein Opel sein. Gegen Mitte des Jahres will die Tochter des amerikanischen GM-Konzerns, derzeit auf der Wunschliste von Peugeot, die ersten Exemplare des Ampera-e in den Handel bringen; das kompakte Allzweckauto soll im Normzyklus mit einer Batterie-
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ladung mehr als 500 Kilometer weit fahren, der Preis aber unter 40 000 Euro bleiben. Das Signal ist eindeutig: Die etablierten Autokonzerne wollen die Herrschaft zurückbekommen über das Auto der Zukunft. Sie wollen sich nicht mehr von einem kalifornischen Branchenneuling vorführen lassen, sondern das schneller leisten, was Tesla sich erst für die nahe Zukunft vornimmt: ein gebrauchstüchtiges Elektroauto anzubieten, das auch normale Menschen bezahlen können. „Unser Auto“, sagt Opel-Manager Ralf Hannappel über den Ampera-e, „wird die Tür öffnen zum Massenmarkt Elektromobilität.“ Wie schnell und wie weit diese Tür aufgeht, muss sich aber noch zeigen. Zuerst stellt sich die Frage: Warum stoßen Renault und Opel sie auf? Wo bleiben die prestigereichen Firmen Mercedes, BMW und Audi? Deutschlands PS-Elite hat den Aufbruch in die Elektromobilität gründlich vermasselt. BMW verhob sich mit einer Leichtbau-Initiative, die am Ende mehr Geld fraß, als spürbare Effekte brachte. Heraus kam das Modell i3; es sieht erklärungsbedürftig aus und ist dem günstigeren Renault Zoe technisch unterlegen. Mercedes und Audi gingen noch zögerlicher und ohne klare Strategie in die neue Ära, tüftelten an Starkstrom-Sportwagen à la Tesla – und begruben sie bald. Frühestens im kommenden Jahr werden sie nun gebrauchstüchtige E-Autos mit Reichweiten von 500 Kilometern und mehr in den Handel bringen. Audi entschied sich für ein E-SUV, das oft fälschlich als „Q6“ bezeichnet wird, tatsächlich aber „e-tron quattro“ heißen soll. Wirklich im Rückstand zu anderen Herstellern fühlt sich Projektleiter Siegfried Pint nicht. Er sagt, es sei „eher eine angebotsseitige Aufholjagd als eine technologische“, womit die Haftgrenze sophistischer Rhetorik erreicht sein dürfte. „Jeder, der ein neues Produkt bringt, macht jetzt enorme Sprünge in der Reichweite“, setzt Pint hinzu, denn die Batteriezellenentwicklung befinde sich, grafisch dargestellt, „in einer Linkskurve“; sie geht also stramm nach oben. Diese Fortschrittskurve muss aber noch lange ansteigen, wenn am Ende ein Batterieauto herauskommen soll, das die Langstreckentauglichkeit eines konventionellen Pkw erreicht. Die im Normzyklus ermittelten Reichweiten werden rasch zur Illusion, wenn der E-Mobilist tatsächlich auf die Reise geht. Die Prüfstandsfahrt bildet vorwiegend Stadtverkehr ab, mithin einen Geschwindigkeitsbereich, in dem der Elektromotor enorm sparsam arbeitet und bei jeder Bremsung auch noch Energie in den Akku zurückspeist. Eine Autobahnfahrt bedeutet dagegen eine unentwegte und starke Batterieentladung.
Der SPIEGEL unternahm mit dem Renault Zoe eine 450 Kilometer weite Probefahrt von der Importzentrale des Herstellers in Brühl bei Köln zum Redaktionssitz in Hamburg. Die Reise dauerte einschließlich zweier Ladepausen zehn Stunden. Das Durchschnittstempo entsprach also etwa der Höchstgeschwindigkeit eines Mopeds. Obendrein lieferte die Reise einige Erkenntnisse über die rätselhafte Bedienbarkeit derzeitiger Stromzapfsäulen. Der Testfahrer war mit einer von Bosch für die Renault Deutschland AG entwickelten App unterwegs, die als eine Art elektronischer Generalschlüssel die E-Tanksäulen verschiedener Stromanbieter freischalten soll. Gleich beim ersten Tankstopp misslang das Stromzapfen. Ein kundiger RenaultMitarbeiter aktivierte den Anschluss mit einem telematischen Ferneingriff. Bei der zweiten Ladepause war solche Mühe nicht nötig: Zu Werbezwecken verschenkte der Anbieter dort seinen Strom an durchreisende E-Tanker – es sind ja noch Exoten. Sollte ein Unternehmensberater sich der Sache annehmen, könnte er den Stromanbietern empfehlen, alle Ladesäulen mit Lesegeräten für EC- und Kreditkarten auszustatten. Das dürfte nicht die größte Hürde auf dem Weg zur Elektromobilität sein. Diese ist nach wie vor physikalisch-chemischer Natur: Autos auf Fernfahrten sind Energiefresser und Batterien noch immer sehr schlechte Energiespeicher: Im Lkw-Tempo um die 90 km/h und mit laufender Heizung verbraucht der Zoe etwa 15 Kilowattstunden pro 100 Kilometer, kommt also höchstens 250 Kilometer weit, um mit einer kleinen Reserve die nächste Zapfstelle zu erreichen. Fährt man hingegen konstant mit der auf Autobahnen üblichen Richtgeschwindigkeit von 130 (sehr viel mehr schafft der Wagen ohnehin nicht), steigt der Verbrauch auf rund 24 Kilowattstunden, und die Reichweite sinkt auf gut 150 Kilometer.
Beim zügigen Nachladen mit 22 Kilowatt füllt sich der Akku innerhalb von rund anderthalb Stunden auf etwa 80 Prozent; der kundige Elektrofernfahrer macht dann auch Schluss, weil der Akku auf den letzten 20 Prozent sehr viel träger Ladung aufnimmt. Die nächste Fahretappe fällt dann aber entsprechend kürzer aus. Batterieladen sei wie Bierzapfen, sagt Opel-Ingenieur Hannappel: „Oben kommt der Schaum.“ Auch der Ampera-e kann seine volle Batteriekapazität nicht nutzen, wenn das Tanken schnell gehen soll. Immerhin soll der Elektro-Opel den Strom mehr als doppelt so schnell aufnehmen wie der Zoe: maximal 50 Kilowatt Ladeleistung. Die Versuchsingenieure, die das Modell derzeit letzten Praxistests unterziehen, fahren bevorzugt von Rüsselsheim in die mehr als 400 Kilometer entfernten Alpen. Und das funktioniere recht gut, versichert Projektleiter Rainer Bachen. Auch bei harter Beanspruchung komme der Wagen gut 300 Kilometer weit. Doch was ist hart? Und was ist weit genug? Wie lang darf die Tankpause sein? Was werden die Menschen in Zukunft von ihrem Auto erwarten? Werden sie auf Langstrecken ohnehin nicht mehr die Straße nutzen – oder das Elektroauto nur als Zweitwagen? Stefan Niemand, verantwortlich für das Thema Elektrifizierung bei Audi, hat zwar noch kein Produkt, aber einen kompromisslosen Anspruch: „Das entscheidende Kriterium für den Durchbruch des Elektroautos wird die Erstwagentauglichkeit sein.“ Er will „keine grüne Banane auf den Markt bringen“. Audi lebt, wie Mercedes und BMW, von teuren Autos; die Kunden dieser Marken werden kaum bereit sein, Luxuspreise für kompromissbehaftete Produkte zu zahlen. Doch Batterieautos, die wie moderne Diesel-Pkw mit Tempo 180 von München nach Berlin fahren können, ohne anzuhalten, wird es womöglich noch lange nicht geben. Audi-Manager Niemand sieht als wichtigsten Zwischenschritt eine drastische Verkür-
Stromspitze Die ausdauerndsten Elektroautos 1
nach NEFZ-Norm bei Stromkosten von 25 Cent / kWh 3 für 80 % der Batteriekapazität 2
Opel Ampera-e
Tesla Model S 100D
Renault Zoe Z.E. 40
Gespeicherte Energie ............................ 60 kWh .............................. 100 kWh ................................. 41 kWh Reichweite 1 ........................................... 520 km ................................ 632 km ................................ 400 km Stromkosten 2 ...................... ca. 2,90€/100 km ............... ca. 4,10€/100 km .............. ca. 2,60€/100 km Laden (max. Leistung) ................................ 50 kW ................................ 120 kW .................................. 22 kW Ladedauer 3 ............................... ca. eine Stunde ............... knapp eine Stunde ........ ca. eineinhalb Stunden Preis ......................................... unter 40000 € ............................ 114300 € .............................. 32900 € DER SPIEGEL 8 / 2017
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DPA
zung der Tankpause: „Sie mögen heute nachdem Evonik schon ausgestiegen war. gewaltig Energie fressen, die Ökomission noch darüber lachen, aber wir werden über- Akkuzellen, erklärte das Daimler-Manage- des alternativen Antriebs geradezu verment, seien eben doch nur eine „Commo- höhnen und dabei noch Subventionen gemorgen mit einem Megawatt laden.“ Wenn das gelänge, würden 100 Kilowatt- dity“ – also ein beliebiges Bauteil, das man nießen. stunden innerhalb von sechs Minuten in in gleicher Qualität von verschiedenen LieWenn Toyota recht behielte, entstünde den Akku sausen; das wäre fast schon feranten beziehen könne. für die Autohersteller und ihre Lieferanten Volkswagen, an allen Batterieprojekten ein paradiesisches Geschäftsfeld; denn vergleichbar mit der Füllzeit eines Erdgasautos. Ein schöner Traum, doch die bislang unbeteiligt, erwägt nun den Bau ei- ein Auto, das beide Antriebsstränge vordeutschen Autokonzerne können ihn aus ner eigenen Akkufabrik. Mehr als hundert halten muss, bringt noch mehr Geld als eigener Kraft nicht wahr werden lassen. Wissenschaftler und Ingenieure bereiten an- ein konventionelles. So schätzt Peter GutzDie Stromkonzerne sind gefragt. Eine Au- geblich den elektrochemischen Erstschlag mer, Technikchef des Zulieferimperiums tobahntankstelle, die täglich Tausende des Wolfsburger Konzerns vor. Der Einstieg Schaeffler, das Absatzszenario des Jahres Megawatt-Tanker bedienen soll, hätte den soll mit der kommenden Generation von 2030 ein: „Ich kann mir vorstellen, dass Lithium-Akkus erfolgen; sie nennen sich dann 30 Prozent der weltweit gebauten Stromverbrauch einer Kleinstadt. Und dann bleibt noch die Frage: Welche Festkörper- oder Solid-State-Batterien, weil Autos rein elektrisch fahren, 40 Prozent Akkuzelle soll das aushalten? „Batterien sie keinen flüssigen Elektrolyt mehr haben einen Hybridantrieb und 30 Prozent noch sind wie Menschen“, sagt Opel-Entwickler und so ohne Feuergefahr mehr Ladung auf- einen konventionellen Antrieb haben.“ Bachen: „Sie fühlen sich am wohlsten bei nehmen können sollen. Wie VW diesen Die absolute Zahl der jährlich produetwa 20 Grad und bevorzugen gemächliches Technologiesprung aus dem Stand schaffen zierten Kraftfahrzeuge werde bis dahin will, ist Fachleuten ein Rätsel. Aufnehmen und Abgeben von Energie.“ von heute rund 90 Millionen auf etwa Der Autokonzern, der am meisten von 120 Millionen ansteigen. Das bedeutet, Je schneller eine Batterie geladen wird, desto schneller altert sie und verliert Batterien versteht, heißt Toyota – als Pio- dass dann noch nahezu die gleiche AnKapazität. Im Auto muss ein zahl von VerbrennungsmotoAkku aber 1000 Ladezyklen ren wie heute produziert wird und mehr unbeschadet übersteund reichlich neue Komponenhen, denn Lithium-Akkus sind ten obendrein. So hat der Geso teuer, dass ein Ausfall einem triebeproduzent ZF diverse Totalschaden gleichkommt. Ein Mischantriebe bis hin zum reiAkku mit einem Energieinhalt nen E-Modul im Programm. von einer Kilowattstunde kos„Wie kein anderer können wir tet derzeit etwa 200 Euro, das Komponenten in bestehende 60-kWh-Paket im Ampera-e Antriebsstränge integrieren“, also 12 000 Euro. sagt Jörg Grotendorst, Leiter Der kalifornische E-Pionier der Elektrodivision der traTesla bietet mit seinen 120-Kiditionellen Zahnradfabrik. ZF lowatt-Ladesäulen das Maxistellt inzwischen auch Elektromum, das bislang im Straßenmotoren her und bald eine eiverkehr realisiert wurde. Wie gene Steuerelektronik – nur keigut die von Tesla verwendeten ne Batterie. Panasonic-Akkus das ertragen, Und das könnte ein Killerbleibt abzuwarten. Professor kriterium werden. „Sollten die Martin Winter, Deutschlands Zulieferer nicht in die Zellproführender Experte im Fach duktion einsteigen, wird sich Elektro-Opel Ampera-e: Türöffner für den Massenmarkt? Elektrochemie mit einem Lehrihnen die Frage stellen, was für stuhl in Münster, hält diese Ladeleistung nier der Hybridantriebe einst Türöffner sie übrig bleibt, wenn die großen Zellprofür „kaum noch zu steigern, ohne dass die ins Zeitalter der Elektromobilität. Für die duzenten Asiens komplette Batterieanerste Generation seines Hybridmodells triebssysteme anbieten“, mahnt BatterieZellen Schaden nehmen“. Das Hauptproblem aller deutschen Au- Prius stellte er die Akkus selbst her, seit professor Winter. Und im nächsten Schritt tokonzerne besteht darin, dass sie von Jahren arbeitet er eng mit Panasonic zu- könnten die Batteriehersteller dann gleich dem Bauteil, in dem gerade die Revolution sammen, und er verfügt über ein eigenes das ganze Auto bauen. stattfindet, nicht genug verstehen. Sie stel- Batterielabor, das in Fachkreisen als weltWinter sieht eine „Blaupause der Entlen selbst keine Batteriezellen her. Derzeit weit einzigartig gilt. wicklung in der UnterhaltungselektroDoch ausgerechnet Toyota glaubt nicht nik“. Als die Flachbildschirme in die Ferndominieren drei Zellproduzenten das weltweite Feld der Elektromobilität: Der ja- daran, dass es schon bald das vollwertige seher einzogen, setzten zwei südkoreapanische Tesla-Ausrüster Panasonic sowie Akku-Auto geben wird. „Wir sehen durch- nische Lieferanten sich durch, schraubten die südkoreanischen Technologieriesen aus Fortschritte in der Batterieentwicklung, bald darauf noch Rahmen und Füße an Samsung und LG. Die extrem kompakten aber noch keine spektakulären“, sagt Ge- ihre Bildschirme und beherrschen heute LG- Zellen sind es, welche die höheren rald Killmann, einer der führenden An- als Hersteller von Fernsehgeräten den Reichweiten der E-Mobile von Renault und triebsentwickler in der Brüsseler Europa- Weltmarkt. zentrale des Konzerns. Das Batterieauto Opel erst möglich machen. Es sind dieselben Firmen, die auch in Daimler hatte zusammen mit dem Esse- bleibe einstweilen ein Stadtfahrzeug. der Batterietechnik den Ton angeben: SamBei Langstreckenautos hingegen, so der sung und LG. ner Chemiekonzern Evonik versucht, eine Christian Wüst Art Klon der LG-Zelle zu bauen, und im Toyota-Stratege, würden Mischantriebe Video: sächsischen Kamenz eine Fabrik eröffnet. den Markt dominieren, sogenannte PlugTestfahrt mit dem Zoe Das Produkt war aus Sicht vieler Experten in-Hybride, die rein elektrisch und auch top, doch der Stuttgarter Autokonzern mit Verbrennungsmotor fahren. Mitunter spiegel.de/sp082017elektroauto stoppte das Projekt aus Kostengründen, sind es Riesen-SUVs, die in beiden Modi oder in der App DER SPIEGEL 98
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Bestattungen Wurden im Regensburger Krematorium heimlich Organe und Gliedmaßen entsorgt? Zeugen berichten von illegaler Leichenverbrennung.
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mmer dienstags zwischen 10.30 Uhr und 11.30 Uhr fuhr die ominöse Unbekannte in einem schwarzen Honda am Regensburger Krematorium vor. Aus dem Kofferraum entlud sie heikle Fracht: jeweils zwei bis vier Müllbeutel, gefüllt mit menschlichen Organen – Herzen, Lungen, Nieren und Lebern. Auch abgetrennte Füße und Arme lieferte die Fremde immer wieder ab. Mitarbeiter des Krematoriums verteilten die Körperteile auf die vorhandenen Särge und verbrannten sie sodann mit den darin liegenden Verstorbenen. Was klingt wie der Plot eines billigen Horrorfilms, war in der Oberpfalz offenbar blutige Realität. Wenn stimmt, was ehemalige Mitarbeiter des Krematoriums gegenüber der örtlichen Staatsanwaltschaft zu Protokoll gaben, dann wurde in Regensburg über viele Jahre eine recht unappetitliche Form der Einäscherung betrieben. Nach den bisherigen Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft Regensburg bleibt rätselhaft, woher die Müllsäcke mit den Organen und Gliedmaßen stammten. Es besteht der Verdacht, dass die Körperteile bei medizinischen Eingriffen wie Amputationen angefallen sind. Unerklärlich ist bislang auch, warum sich Mitarbeiter des Krematoriums an der mutmaßlich illegalen Organentsorgung beteiligt haben sollten. Schon in der Vergangenheit gerieten Krematorien gelegentlich ins Zwielicht. So wurden Mitarbeiter des Hamburger Krematoriums Öjendorf vor einigen Jahren verurteilt, weil sie Zahngold aus der Asche von Verstorbenen geklaubt hatten. Aus dem Krematorium auf dem Kölner Westfriedhof verschwand vor drei Jahren die Urne mit der Asche eines Verstorbenen – knapp ein Jahr später tauchte sie in einer Mülltonne wieder auf.
ARMIN WEIGEL / DER SPIEGEL
Marias Müll
JÜRGEN LOESEL / VISUM
Einäscherung eines Sarges
Krematorium Regensburg „Dann müssen wir zusperren“
Die gruseligen Vorgänge in Regensburg aber wären wohl ohne Vorbild: Nach Schätzungen von Ermittlern sollen am Dreifaltigkeitsberg über die Jahre weit mehr als 1000 Müllsäcke mit menschlichen Körperteilen entsorgt worden sein. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, müssten etliche Angehörige damit rechnen, dass ihre Verstorbenen nicht allein die letzte Ruhe gefunden haben. Schon seit vorigem Sommer ermittelt die Staatsanwaltschaft unter dem Aktenzeichen 110 UJs 68780/16 mit bayerischer Gemütlichkeit „wegen Vorfällen im Regensburger Krematorium“ gegen Unbekannt. Auch gut ein halbes Jahr nach Beginn der Untersuchungen wurde einer von womöglich mehreren Verdächtigen noch immer nicht zu den Vorwürfen befragt, obwohl er in Zeugenvernehmungen schwer belastet worden sein soll: Armin Walling, der Leiter der Abteilung für Bestattungswesen in Regensburg. Auf Nachfrage lässt Walling von der Pressestelle der Stadt Regensburg lediglich mitteilen, er habe „nichts von den jetzt behaupteten Unregelmäßigkeiten“ gewusst. Zeugen berichten hingegen, auf den Beginn der Ermittlungen habe er ausgesprochen dünnhäutig reagiert. „Wenn ich rauskriege, dass hier einer Interna ausgeplaudert hat, dann setzt es was!“, habe Walling gedroht. Wenig später sei der Abteilungsleiter noch deutlicher geworden: „Wenn das rauskommt, müssen wir das Krematorium zusperren“, habe Walling gepoltert. Er selbst äußert sich dazu nicht. Die Zeugen berichten über weitere unappetitliche Vorkommnisse. So seien während der Trauerfeiern in einem Korb Kollekten gesammelt worden, die ihre Adressaten aber nur selten erreichten. Wenn der Pfarrer das Geld nicht schnell genug eingesammelt habe, hätten Mitarbeiter des Krematoriums zugegriffen. 5000 bis 6000 Euro seien jährlich zusammengekommen und auf ein Konto der Raiffeisenbank in Regensburg eingezahlt worden. Gegen Ende des Jahres sei die Beute dann von Walling an Kollegen ausgeschüttet worden, berichtet ein Mitarbeiter des Krematoriums. „Dieser Vorwurf ist abwegig“, lässt Walling ausrichten. Bei anderer Gelegenheit sollen im Regensburger Krematorium auf höchst kreative Weise Transportkosten reduziert worden sein. Als das Unternehmen DHL ab Mai 2016 einen Spezialtarif für den Versand von Urnen einführte, so berichten Mitarbeiter des Krematoriums, habe Walling angeordnet, Urnen nicht mehr als solche zu deklarieren. Statt der für Urnenversand nun fälligen Gebühr von 42,54 Euro pro Sendung seien die Gefäße mit den sterblichen Überresten weiter als einfaches Paket für wenige Euro in den Versand gegangen. Die Stadt Regensburg DER SPIEGEL 8 / 2017
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teilt dazu mit: „Diesbezüglich hat es noch nie irgendeine Auffälligkeit oder Beschwerde gegeben.“ Angesichts der angeblich in Müllsäcken angelieferten Leichenteile geraten solche Unregelmäßigkeiten ohnehin fast zur Petitesse. Als Schlüsselfigur der Ermittlungen könnte sich jene ominöse Botin erweisen, die Zeugen aus dem Krematorium nur als „Maria“ kennengelernt haben wollen. In wessen Auftrag war die Unbekannte unterwegs? Eine mögliche Erklärung bietet die Pressestelle der Stadt an: Eine Anlieferung von Leichenteilen sei „in unregelmäßigen Abständen durch das anatomische Institut der Universität Regensburg“ erfolgt. Die Darstellung der Stadt sei „nicht korrekt“, sagt hingegen Ernst Tamm, Chef des Instituts für Humananatomie und Embryologie der Universität Regensburg. „Die Abholung und der Transport zur Kremation erfolgt durch die städtische Bestattung der Stadt Regensburg.“ Zuvor würden Leichname „von Mitarbeitern des Instituts für Anatomie in Holzsärge eingesargt“. Tamm: „Müllsäcke kommen selbstverständlich nicht zum Einsatz!“ Im Übrigen, so der Institutschef, führe man über jeden Vorgang „genau Buch“. Dass seine Mitarbeiter im Krematorium Leichenteile aus der Anatomie der Universität verschwinden ließen, sei „völlig ausgeschlossen“. Auch Eingeweihten in Regensburg erscheint es plausibler, dass die geheimnisvolle Maria im Auftrag einer Fachfirma tätig war, die sich um die Entsorgung menschlicher Organabfälle kümmert. Solche Spezialfirmen werden etwa von Krankenhäusern gebucht, um bei Operationen entnommene Organe oder amputierte Gliedmaßen abtransportieren zu lassen. Der Umgang mit derart hochsensiblem Material ist streng geregelt. Verstaut in schwarzen Kunststofffässern, werden die Körperteile in eine Verbrennungsanlage gebracht, die für die Beseitigung dieses besonderen Abfalls zugelassen ist. In Regensburg wäre aber nicht etwa das ortsansässige Krematorium zuständig, sondern die Abfallverwertung Augsburg GmbH. Klinikmüll zu entsorgen ist teuer. Ließ eine Fachfirma heimlich Organe und Körperteile kostengünstig im Regensburger Krematorium verbrennen? Laut der Zeugen endeten die wöchentlichen Müllsacklieferungen im Mai 2015, seinerzeit gab es einen Wechsel in der technischen Leitung. Anfang der Woche ließ die Staatsanwaltschaft, womöglich aufgeschreckt durch die SPIEGEL-Recherchen, die Räume des Krematoriums durchsuchen und Akten sowie Datenträger beschlagnahmen – mit fraglichen Erfolgsaussichten. Die echten Beweisstücke sind längst verbrannt. Frank Thadeusz Mail:
[email protected]
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Splash im Goldfischglas Tierschutz Als einer der letzten Zoos der Welt präsentiert ein Tierpark auf Teneriffa noch immer umstrittene Shows mit Schwertwalen. Der Zoodirektor will die Orcas sogar züchten.
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h nein! Will sich Morgan etwa schon wieder umbringen? Fast eine Minute lang liegt der Orca aus dem Loro Parque auf Teneriffa bereits neben seinem Becken auf dem Trockenen. Aus ähnlichen Bildern hatten Tierschützer im vergangenen Sommer eine Selbstmordtheorie gestrickt. Das Schwertwalweibchen sei verzweifelt. Die Aktivisten forderten seine sofortige Freilassung. Doch Morgan ist nicht lebensmüde. „Völliger Blödsinn“, sagt Wolfgang Rades, zoologischer Direktor des Loro Parque, „Morgan ist nur neugierig.“ Wie zur Bestätigung gleitet das Tier von der Plattform zurück ins Wasser. Mit kräftigen Schwanzschlägen treibt sich der Wal durch das Becken des Zoos auf der Kanareninsel. Orcas in Gefangenschaft spalten die Gemeinde der Tierfreunde wie kaum ein anderes Thema. Organisationen wie Peta oder die Born Free Foundation beklagen,
dass die Meeressäuger in öden Betonbecken gequält würden. Bestätigt fühlen sich die Aktivisten durch Filme wie „Blackfish“ (2013), der das Schicksal von Tilikum beschrieb. Der 1986 vor Island gefangene Wal lebte über 30 Jahre in Pools der US-Firma Sea World und starb im Januar. Sea World hat angekündigt, künftig keine Schwertwale mehr zu züchten. Auf der anderen Seite stehen Zoos wie der Loro Parque, die sich dem Druck der Tierschützer nicht beugen wollen. Als einer von drei Zoos in Europa (die anderen befinden sich im französischen Antibe und in Moskau) bietet der Tierpark seinen Besuchern weiterhin Shows mit Schwertwalen an – und ist auch noch stolz darauf. „Ich kann mich doch nicht ins Bockshorn jagen lassen, nur weil es ein paar Typen so darstellen, als wär das hier eine Metzgerei“, sagt Loro-Parque-Besitzer Wolfgang Kiessling, 79, der den Zoo 1972 gründete. „Fel-
ALAMY / MAURITIUS IMAGES
Wissenschaft
Orca im Loro Parque auf Teneriffa „Isolationshaft“ oder „Luxusleben“?
senfest“ ist der Patriarch davon überzeugt, dass es seinen Tieren gut geht. „Unsere Orcas führen ein Luxusleben“, beteuert auch Direktor Rades. Der Zoologe, einst selbst Skeptiker der Schwertwalshows, fordert nun sogar, die Zucht der Tiere fortzusetzen. „Die Fortpflanzung gehört zum Leben dazu“, sagt Rades, „wenn wir die Tiere halten, sind wir verpflichtet, sie auch zu züchten.“ Der erste Orca für einen Zoo wurde 1965 vor Kanadas Pazifikküste gefangen. Im Jahr davor hatte sich die Firma Sea World gegründet. Es war der Beginn einer Multimillionen-Dollar-Vergnügungspark-Industrie, die bis heute floriert. Fast 60 Orcas leben derzeit noch in Themenparks weltweit. Etwa 25 der Tiere stammen aus der Wildnis, die anderen sind Nachzuchten. Bis zu zehn Tonnen wiegt ein Schwertwal. In der Wildnis schwimmen die Tiere leicht hundert Kilometer täglich. Sie werden in ein komplexes Sozialgefüge geboren, ohne das sie kaum überleben können, und verständigen sich über eine eigene Sprache. Doch ist es noch zeitgemäß, solche hochintelligenten, schon durch ihre schiere Größe schwer zu haltenden Tiere einzusperren wie im Goldfischglas? „Auf keinen Fall“, sagt Erich Hoyt von der Organisation Whale
and Dolphin Conservation, der die Tiere seit 40 Jahren erforscht: „Ein Orca in Gefangenschaft verliert alles, was ihn ausmacht: Seine Bezugsgruppe, die Chance zu jagen, seine angestammte Nahrung.“ Das Leben in den Pools gleiche einer Art „Isolationshaft“, bestätigt auch John Jett. Der Zoologe von der Stetson University in Florida war einst selbst Trainer bei Sea World. Viele der Tiere würden apathisch in den Becken treiben, berichtet er. Die intensive UV-Strahlung der Sonne verbrenne die Haut der dümpelnden Wale. Von Langeweile geplagt würden die Tiere an den Metallgittern nagen und dabei ihre Zähne zerbrechen, die sich deshalb laufend entzündeten. „Es ist ein deprimierendes Bild“, sagt Jett. Aus sozialer Isolation entwickle sich schließlich Wahnsinn, glaubt er. So erkläre sich auch, warum gefangene Orcas immer wieder durch Aggressivität auffielen. Mehrere Tiertrainer sind von Orcas getötet worden. Tilikum ertränkte 2010 in Orlando die Trainerin Dawn Brancheau und soll für den Tod zweier weiterer Menschen verantwortlich sein. Im Loro Parque kam am Heiligabend 2009 der 29-Jährige Alexis Martínez ums Leben. Schwertwal Keto rammte ihn und zog ihn in die Tiefe. Keto lebt immer noch auf Teneriffa. Martínez’ Tod sei ein Unfall gewesen, sagt Loro-Parque-Direktor Rades. Die Trainer dürften seither nicht mehr zu dem Wal ins Wasser. Die Rückenflosse des Tieres hängt schlapp herab – auch das eine Folge der Gefangenschaft, sagen Tierschützer. Doch geht es dem Wal und seinen Artgenossen wirklich so schlecht? Sechs Orcas leben im Loro Parque in drei miteinander verbundenen Pools, die mehr als achtmal so viel Wasser fassen wie ein Olympisches Schwimmbecken. Das Wasser wird aus untermeerischen Kavernen heraufgepumpt. „Wir haben das beste Wasser der Welt“, prahlt Parkbesitzer Kiessling und blickt hinüber zu den Walen, die gerade eine morgendliche Trainingsstunde absolvieren. Rasend schnell jagen die Tiere dabei durch die bis zu zwölf Meter tiefen Becken und katapultieren ihren Körper kraftvoll in die Höhe. Splash! Später nimmt ein Tierarzt Blut- und Urinproben. Einer der Wale legt sich dafür auf eine der Plattformen. Auch eine Ultraschalluntersuchung führen die Trainer durch. „Wir prüfen den Zustand der Eierstöcke“, sagt Rades, „derzeit wollen wir Nachwuchs noch verhindern.“ Rades glaubt, dass die Tiere im Zoo „als Botschafter ihrer Art“ eine wichtige Funktion erfüllen. „Die Schönheit und das Charisma dieser Tiere kann die zunehmend naturentfremdete Bevölkerung für den Erhalt der Natur sensibilisieren.“ Zehn Prozent der Eintrittsgelder des Loro Parque – seit 1994 rund 17 Millionen Dollar – fließen in Artenschutzprojekte,
auch in solche, die Schwertwale schützen, berichtet Rades. Zwar sind Orcas nicht unmittelbar bedroht. Weltweit gibt es etwa 50 000 Exemplare. „Doch die Lebensbedingungen in den Ozeanen verschlechtern sich zusehends“, sagt Rades. In den Zoos gewonnene Erkenntnisse über Haltung und Zucht der Tiere könnten deshalb eines Tages überlebenswichtig für die Art werden. „Wenn wir Orcas erst dann in Zoos studieren, wenn nur noch ein paar von ihnen existieren, ist es zu spät.“ Auch Kiessling kann mit der Kritik der Tierschützer nichts anfangen. „Wir hören immer, dass Orcas in der Wildnis täglich kilometerweit schwimmen“, sagt er, „aber das tun sie ja nur, weil sie es müssen.“ Orcas hätten nicht „die Vorstellung der grenzenlosen Freiheit wie wir Menschen“. Kiessling: „Ich glaube, dass die Tiere zufrieden mit dem Leben hier sind, sie kennen ja gar nichts anderes.“ Fünf der sechs Schwertwale im Loro Parque sind Nachzuchten. Allein Schwertwal Morgan kennt den Ozean. Er wurde 2010 halb verhungert vor der niederländischen Küste entdeckt. Das Tier hatte seine Gruppe verloren, wog nur noch 425 Kilo. Der Loro Parque nahm den Pflegefall auf. Zwei Tonnen wiegt das Orca-Weibchen heute. Inzwischen hat sich gezeigt, dass Morgan fast taub ist, vermutlich der Grund für seine Havarie. Tierschützer fordern dennoch, den Orca wieder freizulassen. Es wäre ein Todesurteil, sagt Rades. Wer hat recht? Ethisch ist die Sache verzwickt. Es sei immer die „Verhältnismäßigkeit“ zu prüfen, sagt der Berliner Tierethiker Jörg Luy. Nützt die Gefangenschaft dem Tier, zumindest der Art? „Unter welchen Voraussetzungen würde der Orca freiwillig den Zoo der Wildnis vorziehen, das ist die entscheidende Frage“, sagt Luy, „ich kann mir nicht vorstellen, dass der Wal einen solchen Deal eingehen würde.“ Macht es sich Zoodirektor Rades also zu leicht? Der Loro Parque investiert viel in seine Orcas. Ihnen mag es tatsächlich gut gehen, aber in anderen Tierparks gibt es noch immer die öden Betonbecken, in denen die Schwertwale dahinvegetieren. Und davon könnten bald noch mehr gebaut werden. Das Geschäft mit Orca-Shows nimmt gerade Fahrt auf. In vielen Schwellenländern Asiens und in Russland entstehen neue Vergnügungsparks. Seit 2012 haben russische Fischer mindestens acht Schwertwale für den Handel gefangen. Für 2017 hat die russische Regierung den Fang von zehn weiteren Tieren erlaubt. Das geht auch Rades zu weit. „Orcas der Wildnis zu entnehmen ist nicht mehr zeitgemäß“, sagt er, „das zeigt einmal mehr, wie widersinnig der Zuchtstopp für die Tiere ist.“ Philip Bethge Mail:
[email protected] DER SPIEGEL 8 / 2017
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Ausstellungen
ANDERS SUNE BETG / VG BILD-KUNST, BONN 2017
Neue Nostalgie
Elmgreen/Dragset-Installation, 2014
Hauptstadt
Gehrys Bau für Barenboim Wenn er etwas will, bekommt er es meistens auch. Daniel Barenboim, Pianist, Dirigent und bestens in der deutschen Kulturpolitik vernetzt, kann sich über ein neues Heim für seine Barenboim-Said-Akademie in Berlin freuen. In einem ehemaligen Magazingebäude der Staatsoper Unter den Linden, deren Generalmusikdirektor Barenboim ist, hat jetzt sein West-Eastern Divan Orchestra auch eine Heimat. Kernstück des Baus ist der Pierre Boulez Saal, ein elegantes, holzgetä102
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feltes Oval, unentgeltlich entworfen von dem amerikanischen Stararchitekten Frank Gehry. Am 4. März wird er eröffnet. Der Spielort ist, was Bühne und Bestuhlung angeht, flexibel und kann bis zu 682 Zuhörer aufnehmen. Im Berliner Musikbetrieb soll der Saal zwischen dem Kammermusiksaal der Philharmonie mit seinen 1100 Plätzen und den kleineren Sälen der Stadt eine Lücke schließen. Die Kosten für das Gesamtprojekt liegen bei gut 35 Millionen Euro, 21,4 Millionen stammen aus dem Bundeshaushalt, der Rest ist durch Spenden zusammengekommen. kro
Man sieht sie selbst nicht, doch ihre Spuren verraten, dass sie noch nicht richtig angekommen sind. Das „Zu verkaufen“Schild steht noch vor dem Haus, niemand hat den Dachgepäckträger des Jaguars abgeladen. Im Innern wird es skurril: Ein riesiger Raubvogel sitzt auf dem Kinderbett. Mit schwarzem Humor nehmen die Künstler das Unsicherheitsgefühl der Gegenwart auf. Wie eine Nebenwirkung stellt sich dabei die Sehnsucht nach den vermeintlich guten alten Vor-BrexitZeiten ein, als die Welt noch berechenbarer schien. So handelt die Schau von einer neuen Nostalgie, die wie ein großes Jammern wirkt und keinem hilft. uk
VOLKER KREIDLER
Für die Künstler Michael Elmgreen und Ingar Dragset ist die Welt ein Szenenbild, das man unterhaltsam umgestalten kann. Nun hat sich das dänisch-norwegische Duo für die Schau Die Zugezogenen ein Bauwerk in Krefeld vorgenommen, das „Haus Lange“, das einst nach Plänen des Architekten Ludwig Mies van der Rohe errichtet worden war. Bewohnt hat die Villa ein Textilfabrikant, später wurde aus ihr ein Museum. Für die Dauer der Ausstellung, die an diesem Wochenende beginnt, verwandelt sie sich wieder zum (fiktiven) Wohnhaus. Die neuen Bewohner sind eine (ebenso fiktive) deutsche Familie, die wegen des Brexit aus England zurückgekehrt ist.
Pierre Boulez Saal in Berlin
Kultur Schmerztherapie Hoch oben in den Schweizer Alpen liegt ein Sanatorium, in dem sich die Reichen und Mächtigen von den Mühen der Ebene erholen wollen. Inspiriert von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, erzählt Hollywoodregisseur Gore Verbinski in seinem Horrorfilm A Cure for Wellness von dem ehrgeizigen Jungmanager Lockhart (Dane DeHaan), der den Vorstandsvorsitzenden eines US-Konzerns aus der Kur zurück
Szene aus „A Cure for Wellness“
Literatur
gödie anbot, als das Leben von jemandem leben zu müssen, den du verachtetest.“ Ein junger Mann, der die Pro- Mit unerbittlicher Konsequenz entfaltet sich das vinz verlässt, um ein SchickVerhängnis eines begabten sal zu haben, irgendeines: Adoleszenten, den LangeDas kann die Ausgangslage weile und das Bedürfnis nach einer Burleske sein, eines Transzendenz auf Grenzen Entwicklungsromans, aber zutreiben. Als Bewacher auch eines Trauerspiels. Bei dem korsischen Autor Jérôme eines Checkpoints im Libanon erlebt er ein Attentat, Ferrari, 48, geht die Tendenz bei dem sein Freund und sein ins Düstere. Ein Gott ein Tier, Ausbilder sterben, von nun die Geschichte eines franzöan hängt seine Seele in Fetsischen Söldners, ist rhetozen. Die Suche nach Sinn risch als Rede gehalten, im im Kampf und die Sehnsucht typisch rhapsodischen Ton nach Gott im Tod sind ein des Goncourt-Preisträgers: altes Thema der männlich„Du zürntest deinen Eltern, heroischen Literatur; selten dass sie waren, was sie schon immer gewesen sind, du zürn- hat ein Autor so harte Worte gefunden, um diese schwarze test deinen heimatlichen Spielart des Existenzialismus Bergen, dass sie nicht die zu beschwören und Hochplateaus Asiens plausibel zu machen. waren, und du zürn- Jérôme Ferrari Ein Gott ein Tier Und das, von der test dir selbst, dass Schönheit der Spradu unter einem Him- Aus dem Französischen von Christian che abgesehen, ganz mel ohne Zukunft Ruzicska. Seccesohne ein Quantum geboren warst, der sion; 112 Seiten; Trost. es dir keine andere Tra- 20 Euro.
Kein Quantum Trost
Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
nach New York holen soll. Doch Lockhart erleidet einen Unfall und findet sich als Patient der Heilanstalt wieder, die sich mehr und mehr als Hölle erweist. Mit kafkaeskem Humor quält Verbinski seinen Helden und unterzieht ihn einer Läuterung, bei der viel Blut fließt. Zwar geißelt der Film Lockharts Karrierismus etwas zu plakativ. Dennoch ist es vergnüglich und spannend, dem Helden durch ein surreales Labyrinth zu folgen, in dem die Grenzen zwischen Gesunden und Kranken verwischen. lob
Leib und Hoffnung
TWENTIETH CENTURY FOX
Kino
Renaissance des Körpers, weiterhin: Es reißt nicht ab und hört nicht auf. In Washington der größte Marsch seit nationalem Gedenken, in Polen und Kroatien, in Mazedonien und Rumänien Zigtausende auf der Straße, im regenfeuchten Herbst wie im bitterkalten Winter, in prosperierenden Volkswirtschaften wie in den Armenhäusern Europas. In coolen Mützen oder alten Anoraks, in die Landesfahne gewickelt oder die blaue mit Sternchen schwenkend: überall Menschen, die mit nichts als ihrem Leib und ihrer Hoffnung ausgestattet sind – und einem Smartphone natürlich, das die atavistische Einheit von Raum und Zeit mit einer weiteren sozialen Dimension versieht; wir hier!, zugleich dokumentiert und in die Welt verschickt, so wie von den Native Americans und ihren Unterstützern, die im Schneetreiben gegen die geplante Dakota-Pipeline antanzen. Ein Stresstest für das System: Wo die Körper unversehrt bleiben, wo die Polizei sie nicht blutig prügelt, Panzer sie nicht zur panischen Masse zusammenquetschen oder Wasserwerfer sie zu fliehenden Einzelnen machen, kann von Gewaltenteilung noch die Rede sein. In der Türkei, in Ägypten, beim „Migrationspartner“ Äthiopien: vorbei. Niederkartätscht. Im Übrigen: Der Romanist Erich Auerbach schrieb in Istanbul seine „Mimesis“, der Chemiker Fritz Arndt, der Komponist Paul Hindemith, die Psychoanalytikerin Edith Weigert, der Politiker Ernst Reuter, der Architekt Bruno Taut und Hunderte mehr fanden während des Nationalsozialismus Zuflucht in der Türkei, wie wäre es mit einer offiziellen Einladung der deutschen Regierung an die entlassenen Akademiker im Erdoğan-Staat? Der Körper in der Menge, das kann ein warmes, solidarisches Gefühl sein, aber auch Massenschüchternheit erzeugen: Wenn es zu wenige sind, wenn es zu wenig Gleichschritt gibt oder auch zu viel, dann kriecht die Einsamkeit hoch, dann ziehen sich die Schultern zusammen und das Herz, dann folgt die bange Frage: Was mache ich hier? So eine Demo ist ein fragiles Ding; jäh kann die Menge ihre Transzendenz verlieren und zu einem fremden Haufen werden. Eine gellende Stimme im Megafon, ein Transparent mit dem falschen Slogan, ein stolpernder Sprechchor, der sich verwinselt, und schon ist der Mensch alleiner, als er jemals war. Und potenzielles Opfer von Gewalt. Wolf Biermann erzählt in seiner Autobiografie von den Weltjugendfestspielen in der DDR, einer ostdeutschen Wiederaufnahme des Kulissenerfolgs Olympia 1936, knapp vierzig Jahre später. Allein war er zum Alexanderplatz gestromert, wurde erkannt und fand sich wieder in einem Pulk von zugereisten Linken aus aller Welt, wachen Mitbürgern und hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi, kostümiert als „unsere Menschen“. Kein Panzer weit und breit, aber zahllose Einsatzgruppen. Um ihn herum entstand ein Ring aus vielleicht fünfzig Personen, dicht gedrängt. Einer davon war Joachim Sauer, eigentlich abgestellt, als Doktorand der Humboldt-Universität, für den ideologischen Kampf. Aber er schwieg. Sodass aus dem Überwachungskörper ein solidarischer wurde. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine Anwesenheit. An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.
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Kultur
„Es braucht mehr als einen Picasso“ SPIEGEL-Gespräch In Berlin sollte die Sammlung des Teheraner Museums für zeitgenössische Kunst gezeigt werden. Aber iranische Behörden verweigerten die Ausfuhr. Die damalige Kaiserin Farah Pahlavi hatte die Werke zusammengetragen. Seit 38 Jahren lebt sie im Exil.
D
JEROME BONNET / DER SPIEGEL
ie Fotos von den Eröffnungsfeierlichkeiten des Tehran Museum of Contemporary Art aus dem Jahr 1977 zeigen ein Land, das es heute nicht mehr gibt. Man sieht Männer lasziv in engen Hosen tanzen, sie tragen dunkle Brillen, Performancekünstlerinnen sind nur mit roten Wollfäden bekleidet. Der Hedonismus der Siebzigerjahre ist auf diesen Fotos zu erkennen, der Aufbruch einer jungen Generation, die es damals auch in Iran, in Teheran gab. Diese Bilder, die nun in Berlin zu sehen sind, hat die iranische Fotografin Jila Dejam gemacht*. Sie sollten ursprünglich eine geplante Ausstellung im Dezember in der Berliner Gemäldegalerie mit Werken aus dem Tehran Museum of Contemporary Art begleiten, die gedacht war als Symbol einer kulturellen Annäherung zwischen dem Westen und Iran nach dem sogenannten Nukleardeal. Die damalige iranische Kaiserin Farah Pahlavi hatte die Sammlung in den Siebzigerjahren initiiert. Dahinter steckte auch der Traum von einem weltoffenen, modernen Land, das auch ein grausames Unrechtssystem war. Die Revolution von 1979 beendete den Traum und ersetzte das alte Unrechtssystem durch ein neues. Die Kunstwerke selbst haben diese Revolution erstaunlicherweise überlebt. Sie lagern nahezu unzugänglich im Keller des Museums. Der ehemalige Außenminister FrankWalter Steinmeier hatte bei einem Besuch in Teheran 2015 überraschenderweise die Zusage für eine Ausstellung von insgesamt 60 iranischen und internationalen Kunstwerken aus dieser Sammlung in Berlin bekommen, darunter ein Gemälde von Mark Rothko und Jackson Pollocks „Mural on Indian Red Ground“. Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hatte davon gesprochen, dass man nicht nur den Dialog mit Iran fördern, sondern auch die „liberalen Kräfte, die Zivilgesellschaft“ stärken wolle. Am Ende blieb die Ausfuhrgenehmigung durch die iranische Regierung aus. Farah Pahlavi, inzwischen 78 Jahre alt, lebt seit 1979 im Exil. Sie empfängt in ihrer Pariser Wohnung, umgeben von moderner Kunst und Bildern ihrer Familie.
Exkaiserin Pahlavi in Paris: „Wir wollten ein modernes Land werden“
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DER SPIEGEL 8 / 2017
* Ausgestellt im Box Freiraum in Berlin-Friedrichshain. Das Gespräch führte die Redakteurin Susanne Koelbl.
JILA DEJAM 1977 JOERG GLAESCHER / LAIF; JACKSON POLLOCK / VG BILD-KUNST, BONN 2017
JILA DEJAM 1977 JOERG GLAESCHER / LAIF; MARK ROTHKO / VG BILD-KUNST, BONN 2017
Eröffnung des Teheraner Museums für zeitgenössische Kunst, Performance 1977, Rothko-Werke, Pollock-Gemälde im Tresorraum „Die Sammlung gehört zum Erbe Irans“ SPIEGEL: Madame Farah Pahlavi, wären Sie nach Berlin gereist, um die Werke Ihrer Kunstsammlung wiederzusehen, die Sie einst in Iran zusammengestellt haben? Pahlavi: Aber ja! Auf jeden Fall, wenn auch erst nach den Eröffnungsreden. Daran hätten sie mich nicht hindern können. Deutschland ist ein freies Land! SPIEGEL: Mit „sie“ meinen Sie das AjatollahRegime in Teheran? Pahlavi: Sicher. Die Ausstellung war aus zwei Gründen interessant, erstens weil sie etwas Positives aus unserer Zeit gezeigt hätte, das vor der Revolution entstanden ist. Zweitens sprachen plötzlich viele Leute und die Medien wieder über mich, darüber, was wir gemacht haben damals, und nicht so viel über das heutige Regime. SPIEGEL: Die iranische Regierung hat keine Ausfuhrgenehmigung erteilt. Haben die Ajatollahs noch immer Angst vor Ihnen, 38 Jahre nach dem Sturz von Schah Reza Pahlavi? Pahlavi: Viele Menschen sprechen noch immer von meinem Mann. Es macht mir Mut, wenn Iraner auf der Straße, ob hier in Paris oder in den USA, mich umarmen und küssen, vor allem junge Leute, die später geboren wurden, nachdem wir das Land verlassen mussten. Durch Internet und Fernsehen wissen sie, wie Iran früher war, und sie machen ihre Eltern für die heutige Situation verantwortlich.
SPIEGEL: Haben Iran und der Westen, insbesondere Deutschland, mit dem Scheitern der Ausstellung die Gelegenheit zur Annäherung verpasst? Pahlavi: Wenn Sie einen Dialog haben wollen, der zur Öffnung Irans führt, braucht es mehr als einen Picasso. Man müsste für mehr Freiheit und Menschenrechte im Land arbeiten. Aber Deutschland und der Westen machen bereits wieder Geschäfte mit Iran. Das scheint ohnehin das Wichtigste zu sein. SPIEGEL: Warum haben Sie damals moderne Kunst gekauft? Pahlavi: Ich war in den frühen Sechzigerjahren oft in Kunstgalerien, traf dort Künstler, kaufte ihre Werke. Die Reichen in Iran interessierten sich nur für alte iranische Kunst. Eine iranische Malerin fragte mich, warum es kein Museum für moderne iranische Künstler gebe. Daraus entstand die Idee, ein Museum für moderne Kunst aus Iran und aus dem Ausland aufzubauen. SPIEGEL: Sie holten die Amerikanerin Donna Stein als Kuratorin. Die Eröffnung des Museums war ziemlich avantgardistisch, einige Tanzeinlagen auch provokativ und lasziv, jedenfalls für ein eher traditionelles und konservatives Land, wie es Iran damals war. Die meisten Menschen lebten in Armut. Lebten Sie in einem anderen Iran? In einer Blase? Pahlavi: Ich glaube nicht. Iran war kein konservatives Land. Ich verstehe nicht, dass
einige Leute glauben, nur im Westen könne es Museen für moderne Kunst geben. Ich bin viel durch Iran gereist und habe mit den Menschen gesprochen. Mein Mann arbeitete daran, das Land voranzubringen. Er nannte es die Weiße Revolution. SPIEGEL: Ein Modernisierungsprogramm für die iranische Gesellschaft, das den Einfluss der Traditionalisten schwächen sollte. Pahlavi: Wir wollten ein modernes Land werden. Mein Ehemann hat eine Landreform initiiert, die den Feudalismus abschaffen sollte. Es ging um Frauenrechte, Arbeiterrechte, die Verstaatlichung von Wäldern und Wasserressourcen. Erziehung, Krankenhäuser, Büchereien, Wirtschaft, Industrie – wir wollten den Fortschritt. Die Religiösen um Ajatollah Khomeini waren natürlich dagegen. SPIEGEL: Eine US-Zeitung schrieb damals, die Eröffnung des Tehran Museum of Contemporary Art provoziere den „Zusammenprall einer der ältesten Zivilisationen mit der modernen Welt des Westens der Siebzigerjahre“. Pahlavi: Das ist eine überhebliche Behauptung. Iraner haben so viel Kultur und Geschichte. Persepolis wurde nicht von Sklaven, sondern von bezahlten Arbeitern gebaut. Kyros der Große, der im 6. Jahrhundert vor Christus lebte, erschuf so etwas wie die erste Charta der Menschenrechte. DER SPIEGEL 8 / 2017
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JILA DEJAM 1977
Kultur
AP
UPI / DPA
Initiatorin Pahlavi, Kuratorin Stein 1977: „Keine negativen Reaktionen“
Schahfamilie 1967, Demonstration in Teheran 1979*: „Unsere Feinde waren gut organisiert“
Es wird uns oft vorgeworfen, dass wir es zu eilig hatten. Ich erinnere mich an eine spätere Unterhaltung mit Henry Kissinger, dem ich sagte: Vielleicht wäre der Umsturz nicht passiert, wenn wir fünf, sechs Jahre früher begonnen hätten. Er antwortete, dann wäre es fünf, sechs Jahre früher passiert. SPIEGEL: Die Sammlung enthält Gemälde wie Francis Bacons „Two Figures Lying on a Bed with Attendants“, auf dem zwei nackte Männer zu sehen sind. Pahlavi: Ich erinnere mich nicht an negative Reaktionen auf das Bild, bei der Eröffnung waren alle glücklich und stolz. Homosexuelle wurden nicht überall in Iran akzeptiert, aber es gab sie, wenn auch nicht so offen wie in Europa. Aber diese Leute heute ... SPIEGEL: ... Sie meinen die Kleriker? Pahlavi: Das sind für mich keine Iraner. Ich bitte Sie, was passierte denn, als die Kleriker die Macht übernahmen? Junge Frauen, die demonstriert hatten, wurden vergewaltigt, bevor man sie aufhängte, damit sie nicht ins Paradies kommen. SPIEGEL: Die Revolution begann nur wenige Monate nach der Eröffnung des Museums. 106
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War die Revolution nicht auch eine Reaktion auf die tiefe Spaltung der Gesellschaft, die ungerechte Verteilung des Reichtums, den kapriziösen Lebensstil der Elite? Pahlavi: Zumindest was den Ankauf der Kunst für das Museum angeht, habe ich nie Kritik gehört. Heute gehört die Sammlung zum kulturellen Erbe Irans und ist ein Vielfaches wert. SPIEGEL: Warum haben Sie und Ihr Mann die Strömungen in der iranischen Gesellschaft nicht realisiert, die dann zum Ende Ihrer Herrschaft führten? Pahlavi: Wir hatten die Lage nicht im Griff, sonst wäre das ja nicht passiert. Unsere Feinde waren gut organisiert, wir nicht. Viele wurden in palästinensischen Lagern, in Kuba und anderen Ländern trainiert. SPIEGEL: Der Schah verfügte über eine der größten und bestausgerüsteten Armeen der Region. Pahlavi: Die Kommunisten aus der Sowjetunion, aus China und die Linken waren gegen uns, sie machten gemeinsame Sa* Mit Plakat des Revolutionsführers Ajatollah Khomeini.
che mit Khomeini. Mein Mann nannte es die unheilige rot-schwarze Allianz, rot für die Kommunisten, schwarz für die religiösen Eiferer. Wir wussten nicht genug darüber, was in den Moscheen passiert, haben das unterschätzt und konnten nicht glauben, dass nach allem, was der Schah für sein Land getan hatte, er durch jemanden wie Khomeini ersetzt werden könnte. Auch die Berichterstattung im Westen über Iran half unseren Gegnern. Khomeinis Reden liefen ja schon auf BBC, noch bevor die Kassetten in Iran eintrafen. SPIEGEL: Viele hassten den Schah und liebten gleichzeitig die Schahbanu, ihre Kaiserin. Ein Ajatollah bot Ihnen die Rückkehr an, wenn Sie zuvor Ihren Mann töteten. Pahlavi: Noch einmal: Diese Menschen sind keine Iraner. Sie haben so viele Menschen getötet, sie haben das Land zerstört. SPIEGEL: Der Geheimdienst Savak folterte systematisch, um Oppositionelle entweder zum Schweigen oder zum Sprechen zu bringen, mit Elektroschocks, Verbrennungen, dem Ausreißen von Zähnen und Fingernägeln, Vergewaltigung. Pahlavi: Da wurden viele Lügen erfunden und Dinge übertrieben. Einige der Linken, die anfangs die Revolution unterstützten, bekannten später, dass sie damals Lügen verbreitet hatten, um ihr Ziel zu erreichen. Darf ich in diesem Zusammenhang auf Dr. Emadeddin Baghi hinweisen, einen ehemaligen Religionsstudenten, der die Aufgabe hatte, die Zahl der politischen Gefangenen der Pahlavi-Ära zu untersuchen, und überrascht war, dass es lediglich 3200 waren anstatt der 100 000, wie von den Eiferern behauptet? SPIEGEL: Eine international anerkannte wissenschaftliche Aufarbeitung über die Zahl der politischen Häftlinge und Ermordeten steht bis heute aus. Selbst wenn es viel weniger gewesen wären, waren es doch Menschenrechtsverletzungen. Warum schritten Sie nicht ein? Pahlavi: Ich konnte nichts dagegen unternehmen. SPIEGEL: Sie waren die Kaiserin, Sie und Ihr Mann konnten alles. Pahlavi: Nein, so einfach war das nicht. Es gab eine Regierung und viele andere einflussreiche Leute. SPIEGEL: War es nötig, zu foltern und zu töten? Pahlavi: Nein, und wenn es stimmt, bedauere ich es. Ich wünschte, das wäre nicht geschehen. 38 Jahre sind jetzt vergangen, und all diese völlig übertriebenen Geschichten werden bis heute immer wieder erzählt. Ich wünschte mir, Sie würden darüber schreiben, was heute in der Islamischen Republik passiert. SPIEGEL: Verzeihen Sie, aber die Berichterstattung im SPIEGEL über die Zustände im Iran ist ausführlich und kritisch. Wussten Sie von den Folterungen?
Pahlavi: Ich hörte davon, aber ich war nicht sicher, ob es wirklich wahr war. Sie vergleichen jetzt unser Land mit westlichen Demokratien, aber wir konnten so eine Demokratie nicht über Nacht herstellen. Es dauert, Menschen Bildung zu verschaffen, damit sie sich politisch engagieren. Wir haben Filme produziert, Bücher gedruckt, Büchereien gegründet. Wir brachten Bücher in die entlegensten Dörfer, mit Jeeps, mit Eseln. Sie müssen die Menschen mit Augenmaß beurteilen, das Positive und das Negative, und ich denke, dass im Leben meines Mannes das Positive schwerer wiegt als das Negative. SPIEGEL: Hätte Ihr Mann entschiedener den Aufstand bekämpfen müssen? Pahlavi: Es gibt viele, die sagen, dass der Schah härter hätte reagieren müssen, die Aufständischen ins Gefängnis bringen oder töten. Aber mein Mann sagte: „Ich will meinen Thron nicht mit dem Blut meiner Landsleute verteidigen.“ Und der Westen unterstützte den Aufstand. SPIEGEL: Nach Ihrer Flucht wollte kein Land Sie und Ihre Familie aufnehmen. Wie überlebt man solch einen tiefen Fall? Pahlavi: Sport half mir. Es gab viele, die mich unterstützt haben. Und ich wusste immer, wer mein Mann gewesen war und wer ich bin, ich wollte den Lebensmut meines Mannes stärken und den meiner Kinder, schon aus Gründen der eigenen Wertschätzung. Mir war klar, mein Feind leidet nicht, wenn ich an ihm leide. SPIEGEL: Wurden Sie depressiv? Pahlavi: Ja. Ich ging zu einem Psychologen. Einige Zeit lang nahm ich Medikamente, aber die machten alles nur noch schlimmer. Heute sage ich mir, ich habe es bis hierher geschafft, es sind jetzt 38 Jahre, und wenn ich umfalle, falle ich um. Was soll’s! SPIEGEL: Ihre Tochter Leila hat es nicht überlebt. Sie und auch einer Ihrer Söhne, Ali Reza, nahmen sich das Leben. Pahlavi: Das ist eine Wunde in meinem Herzen, die nicht heilt. Beide waren so intelligent und so bemüht, mit ihren Problemen fertigzuwerden. Ich frage mich oft, was hätte ich tun können? Aber sie sind nicht mehr da. Auf der Straße wurde meinen Kindern nachgerufen: „Nieder mit dem Schah!“ Wir sind von einem Ort zum anderen gezogen. Sie waren so jung, sie hörten und lasen so viel Negatives, im Fernsehen, in der Zeitung. Gott weiß, was sie ertragen haben. SPIEGEL: Und die Zukunft Irans? Pahlavi: Ich möchte optimistisch bleiben. Unser Land wurde in unserer langen Geschichte so oft überfallen und hat dennoch seine Identität bewahrt. Die Menschen dort sind sehr mutig, vor allem Frauen, sie sind mutiger als Männer. SPIEGEL: Madame Farah Pahlavi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control); nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Belletristik 1 2
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Sachbuch
Martin Suter Elefant
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(1)
Eckart von Hirschhausen Wunder Rowohlt; 19,95 Euro wirken Wunder
Elena Ferrante Meine geniale Suhrkamp; 22 Euro Freundin
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Roger Willemsen Wer wir waren
Diogenes; 24 Euro
S. Fischer; 12 Euro
3
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Elena Ferrante Die Geschichte eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro
3
(4)
Peter Wohlleben Das geheime Leben Ludwig; 19,99 Euro der Bäume
4
(2)
Paul Auster 4321
4
(3)
Andrea Wulf Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
Rowohlt; 29,95 Euro
C. Bertelsmann; 24,99 Euro
5
(5)
Hanya Yanagihara Ein wenig Leben
5
(6)
Horst Lichter Keine Zeit für Gräfe und Unzer; 16,99 Euro Arschlöcher!
6
(5)
Gerhard Wisnewski Verheimlicht – vertuscht – Kopp; 14,95 Euro vergessen 2017
7
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Peter Wohlleben Das Seelenleben Ludwig; 19,99 Euro der Tiere
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Wolf Biermann Warte nicht auf Propyläen; 28 Euro bessre Zeiten
9
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Michail Gorbatschow Kommt endlich zur Vernunft – Benevento; 7 Euro Nie wieder Krieg!
Hanser Berlin; 28 Euro
In ihrem überbordenden Epos erzählt die US-Amerikanerin die Geschichte einer jahrzehntelangen Freundschaft zwischen vier Männern
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(6)
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(7)
Sebastian Fitzek Das Paket
Droemer; 19,99 Euro
Jürgen von der Lippe Der König der Tiere
Knaus; 16,99 Euro
Joanne K. Rowling Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind. Das Originaldrehbuch Carlsen; 19,99 Euro
9
(8)
Joanne K. Rowling / John Tiffany / Jack Thorne Harry Potter und das Carlsen; 19,99 Euro verwunschene Kind
10 (11) Matthias Brandt Raumpatrouille
10 (11) Dalai Lama Der Appell des Dalai Lama 11
(8)
Benevento; 4,99 Euro
Hubert Wolf Konklave
C. H. Beck; 19,95 Euro
12 (16) Matthias Thöns Patient
ohne Verfügung
Kiepenheuer & Witsch; 18 Euro
11 (12) Nele Neuhaus
an die Welt
13 (13) Harald Lesch / Klaus Kamphausen
Im Wald
Die Menschheit schafft sich ab
Ullstein; 22 Euro
Komplett Media; 29,95 Euro
12 (10) T. C. Boyle
Die Terranauten
Hanser; 26 Euro
14 (18) Wilhelm Schmid
Gelassenheit
13 (16) Juli Zeh
Unterleuten
Piper; 22 Euro
Luchterhand; 24,99 Euro
Insel; 8 Euro
15 (19) Dalai Lama / Desmond Tutu /
Douglas Abrams Das Buch der Freude
14 (13) Simon Beckett
Totenfang
Lotos; 22,99 Euro
Wunderlich; 22,95 Euro
16 (10) Bernd-Lutz Lange 15 (14) Horst Evers Der kategorische
Imperativ ist keine Stellung beim Sex Rowohlt Berlin; 16,95 Euro
Das gabs früher nicht
Aufbau; 19,95 Euro
17 (15) Carolin Emcke
Gegen den Hass 16 (17) Jojo Moyes Ein ganz
neues Leben
Wunderlich; 19,95 Euro
18
(–)
17 (20) Lucinda Riley Die Schattenschwester
Aufbau; 25 Euro
18 (15) Martin Walser Statt etwas oder Rowohlt; 16,95 Euro
19 (18) Christoph Ransmayr
Cox Die Entscheidung
19
(–)
Charles Foster Der Geschmack von Malik; 20 Euro Laub und Erde
20
(–)
Richard David Precht Tiere denken
S. Fischer; 22 Euro
20 (19) Charlotte Link Blanvalet; 22,99 Euro
Peter Walther Hans Fallada Walther beschreibt den deutschen Schriftsteller als einen von Krankheiten und psychischen Problemen gepeinigten Künstler
Goldmann; 19,99 Euro
Der letzte Rank
S. Fischer; 20 Euro
Goldmann; 22,99 Euro
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Die exklusive Kino-Preview! Präsentiert von
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DER SPIEGEL – das deutsche Nachrichten-Magazin.
Die Preview-Aktion wird am Dienstag, dem 28.02.2017, stattfinden. Sie können zwei kostenlose Kinokarten – solange der Vorrat reicht – von Samstag, den 18.02.2017, 12 Uhr, bis Dienstag, den 28.02.2017, 18 Uhr, unter den angegebenen Telefonnummern reservieren. Achtung: Die Tickets sind nicht übertragbar. Missbrauch wird zur Anzeige gebracht.
Berlin Filmkunst 66 Bleibtreustraße 12 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 0*
Düsseldorf Atelier-Kino im Savoy Graf-Adolf-Straße 47 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 1*
SILENCE 1638 brechen Pater Sebastião Rodrigues (Andrew Garfield) und Pater Francisco Garpe (Adam Driver) von Portugal ins für die westliche Welt völlig abgeschottete Japan auf, um der Wahrheit hinter den unvorstellbaren Gerüchten nachzugehen, dass ihr berühmter Lehrer Cristóvão Ferreira (Liam Neeson) von seinem Glauben abgetreten sei. Nach ihrer Ankunft erleben sie die brutale und unmenschliche Verfolgung der Christen durch die japanischen Machthaber. Angesichts der Ereignisse in einer Gesellschaft, die keine Toleranz kennt und in der der Tod an der Tagesordnung ist, stellt sich Sebastião auf seiner Reise durch das von der Gewaltherrschaft der Shogune zerrissene Land die immerwährende Frage: Wie kann Gott zu all dem schweigen?
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Basierend auf historischen Ereignissen erzählt SILENCE in monumentalen Bildern von der außergewöhnlichen Kraft des menschlichen Glaubens und dem spirituellen Überlebenskampf eines jungen Priesters im Japan des 17. Jahrhunderts. Das Drehbuch verfasste Regisseur Martin Scorsese zusammen mit Jay Cocks in Anlehnung an den Roman „Schweigen“ von Shūsaku Endō.
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Frankfurt am Main Harmonie Dreieichstraße 54 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 2*
Hamburg Passage Kino Mönckebergstraße 17 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 3* Hannover Kino am Raschplatz Raschplatz 5 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 4*
Köln
Cineplex Hohenzollernring 22 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 5*
Leipzig
Passage Kinos Hainstraße 19a Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 6*
München Kino Münchner Freiheit Leopoldstraße 82 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 7*
Nürnberg
Cinecittà Gewerbemuseumsplatz 3 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 8*
Stuttgart Metropol Bolzstraße 10 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 62 62 – 9* *Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
Kultur
Russlands Himmel
Europa Eine Reise in den Osten eines zerrissenen Kontinents. Sechste Etappe: Jalta. Von Navid Kermani Kaunas
Vilnius
Schwerin Warschau Breslau Köln
Auschwitz
Krakau
Chatyn
Minsk
Swetlahorsk
Kiew Donezk Odessa Kertsch Sewastopol
Jalta
Kermanis Reise (VI) Im Oktober vergangenen Jahres veröffentlichte der SPIEGEL eine vierteilige Reportage des Kölner Schriftstellers Navid Kermani über seine Exkursion in den Osten Europas. Sie begann in Schwerin und führte bis in die Ukraine. Im Januar nun setzte er seine Expedition entlang des Risses fort, der sich dort zwischen Ost und West auftut: von der Krim bis in den Kaukasus.
Dritter Tag In Jalta klingen die Straßennamen mehr als siebzig Jahre nach der Konferenz, auf der Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt wurde, noch immer versöhnlich. Die Uferpromenade, die nach Lenin benannt ist, geht nahtlos in die Roosevelta über, und die Hauptverkehrsader, die sich entlang des Flusses zieht, heißt am einen Ufer Moskowskaja, am anderen Kiewskaja, als wären Russland und die Ukraine brüderlich am Wasser vereint. Ansonsten tragen auffallend viele Straßen die Namen von Dichtern, die sich in Jalta erholt, vergnügt und getroffen haben, Puschkinskaja, Gogolja, Tschechowa und so weiter. Jalta, das war einmal Russlands südlicher Himmel. Seit die Krim 2014 wieder zu Russland gehört, ist das Mondäne allerdings weitgehend museal: Die Kreuzfahrtschiffe, die für die Stadt die wichtigste Einnahmequelle waren, legen nicht mehr an. Natalja Dobrynskaja ist Chefredakteurin eines Reisemagazins für die Krim und von so überbordendem, herzlichem Temperament, dass man schnell ahnt, warum sie die Gastfreundschaft zum Beruf gemacht hat. „Ja, der Tourismus ist leider eingebrochen“, räumt sie ein, nur um einen Satz später von der Euphorie des 16. März 2014 zu schwärmen, als die Halbinsel über den Anschluss an Russland abstimmte. Von Narzissen berichtet sie, die auch sie an Erstwähler verteilte, vom allgemeinen Gefühl, jetzt oder nie werde ihr Schicksal neu geschrieben. Gab es denn auch pragmatische Gründe, sich von der Ukraine zu lösen, möchte ich 110
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wissen. Sicher, antwortet Natalja und verweist auf die Fischfabriken, bekannt in der ganzen Sowjetunion, die durch die Privatisierung zugrunde gerichtet worden seien, überhaupt, der Verfall der Straßen, Schulen, öffentlichen Gebäude. Vielleicht habe die Regierung in Kiew andere Regionen ebenfalls vernachlässigt, das wisse sie nicht genau, hier jedoch habe man immer schon nach Russland geschaut und Vergleiche angestellt. Und dann auch noch die Ablehnung des Russischen als zweite Amtssprache, die das Parlament im Februar 2014 beschloss, obwohl kaum jemand auf der Krim Ukrainisch beherrscht – das habe wie eine Ausladung gewirkt. Am Tag des Referendums, berichtet Natalja, habe es so gestürmt, dass ihre Nachbarin, eine alte Frau, die seit sechs Jahrzehnten als Wärterin im TschechowMuseum arbeite – von der Schwester Tschechows persönlich eingestellt! –, auf dem Weg zum Wahllokal vom Wind erfasst worden und gegen eine Mauer geprallt sei. Im Krankenhaus habe die älteste Wärterin Tschechows dennoch ihre Stimme für Russland abgegeben. Überhaupt sei der Tag sehr emotional gewesen, wenn auch zugegeben bitter für die Gegner des Anschlusses. Ihr eigener Bruder, der seit dreißig Jahren in Kiew lebe, habe angekündigt, die Heimat nicht mehr zu betreten, solange sie von Russland besetzt sei. Er bleibe natürlich ihr Bruder, sie telefonierten oft und stritten dann jedes Mal über Politik. Im Inneren verstehe sie ihn auch, nicht nur wegen seiner ukrainischen Frau, sondern weil er von Anfang an den Maidan unterstützt habe, genauso wie sie die Krimtataren verstehe, die in der Sowjetunion viel Leid erfahren hätten; aber sie selbst sei wie die allermeisten Bewohner der Krim nun einmal Russin und könne nicht anders, als sich über die Wiedervereinigung zu freuen. Das Haus, in dem sie wohne, hätten 1850 ihre russischen Urgroßeltern gebaut. Ich frage Natalja nach Europa. „Warum sollten wir zu Europa gehören?“, fragt sie zurück. „Nur um leichter Visa zu bekommen?“ „Ihr Bruder würde sagen, wegen der Werte, also Demokratie, Menschenrechte, Freiheit.“ „Vielleicht habe ich andere Werte. Vielleicht finde ich zu viele Freiheiten gar nicht so gut. Die Freiheit etwa, die sich ,Charlie Hebdo‘ nimmt. Oder die Freiheit, Waffen zu besitzen wie in den USA. Vielleicht meine ich nicht, dass Homosexuelle heira-
ten müssen. Vielleicht bin ich auch religiös und glaube an das, was in der Bibel steht.“ Weil ich noch in einem Dorf außerhalb von Jalta verabredet bin, erkundige ich mich nach dem russischsten Ort, den es in Jalta gibt. „Das Tschechow-Museum!“, ruft Natalja spontan und bietet an, mich zu begleiten. Das Stadtbild, das sich mir auf dem Weg bietet, hat Anton Tschechow selbst treffend beschrieben als „eine Mischung von Europäischem, das an die Ansichten von Nizza erinnert, und von etwas Billigem und Schäbigem“. Mit dem Billigen und Schäbigen, damit meinte er unter anderem die vielen „Hotelkästen“, die sich seither nur noch vermehrt haben. Als wir an der Deutsch-Russischen Gesellschaft vorbeikommen, fragt Natalja, ob ich meinen Landsleuten Guten Tag sagen möchte. Meinen Landsleuten?, frage ich zurück und denke dann, ja, warum eigentlich nicht? Irgendwie gehört dann auch ein Iraner, dessen Eltern vor sechzig Jahren nach Deutschland gezogen sind, zum selben Volk wie die Deutschen, deren Vorfahren im 19. Jahrhundert nach Russland ausgewandert sind – oder umgekehrt, sie Russen, ich Deutscher, als ob das so wichtig wäre. Die Leiterin der Gesellschaft freut sich jedenfalls ungeachtet meiner Herkunft sehr, unsere Sprache zu hören, die sie selbst mit einem entzückenden Akzent spricht. Ihre Versammlungen werden auf Russisch abgehalten, weil nicht mehr alle Mitglieder der Gesellschaft Deutsch verstehen. Ebenso wie die Krimtataren wurden auch die Deutschen unter Stalin deportiert, konnten allerdings schon 25 Jahre früher zurückkehren, Mitte der Sechzigerjahre. Nun ist ihre Kultur wieder am Verschwinden, weil die meisten Deutschen nach Deutschland ausgewandert sind. Das sei traurig, sagt die Leiterin, die ebenfalls Natalja heißt und genauso herzlich wie die Chefredakteurin des Reisemagazins ist; die Deutschen hätten unter Katharina der Großen so viel zur Entwicklung der Krim beigetragen und genössen bis heute einen guten Ruf, strebsam und fleißig, wie wir nun einmal seien. Ich glaube, Natalja meint tatsächlich mich mit. Die Gesellschaft bemühe sich, die zweihundert verbliebenen Deutschen in Jalta zu halten, und betreibe viel Aufwand für deren deutsche Bildung. Und ja, manche Krimdeutsche seien bereits zurückgekehrt, wenn auch vorläufig nur für eine Ferienresidenz am Meer. Als wir zum Museum weiterfahren, meint Natalja – also die russische Natalja, nicht die Krimdeutsche –, dass sie im Herzen
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Uferpromenade in Jalta, Journalistin Dobrynskaja, Politiker Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin in Jalta 1945 „Vielleicht finde ich zu viele Freiheiten gar nicht so gut“ DER SPIEGEL 8 / 2017
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eigentlich noch Sowjetbürgerin sei. Sie wisse um die Verbrechen unter Stalin, die Deportationen, die Gulags, und wolle bestimmt nicht die Uhr zurückdrehen. Aber es sei doch auch schön, zu einer wirklichen Familie von Völkern zu gehören, diese Sicherheit, überall im Riesenreich zu wissen, wie man sich verhält, damit einem mit Respekt begegnet wird. Und die Krimtataren, frage ich, werden die ebenfalls respektiert? Sicher habe es Spannungen gegeben, als die Tataren zurückkehrten, sie hätten ihre alten Häuser zurückhaben wollen, Ansprüche gestellt, oft genug die Häuser einfach besetzt. Da hätten viele Russen natürlicherweise Angst gehabt, aus ihren Häusern vertrieben zu werden, sich in ihrer eigenen Nachbarschaft wie Fremde zu fühlen. Das Land, das der Staat angeboten habe, hätten die Krimtataren abgelehnt, weil sie wie ihre Vorfahren in der Nähe des Meeres leben wollten, das verstehe sie wiederum auch. Allein, am Meer sei der Boden nun einmal am teuersten und am dichtesten besiedelt. Das sei Anfang der Neunzigerjahre auch schlicht ein riesiges Chaos gewesen, in dem jeder an sein eigenes Überleben gedacht habe. „Also war es aus Ihrer Sicht ein Fehler, dass die Krimtataren zurückgekehrt sind?“, frage ich. „Nein!“ Natalja klingt beinah erschrocken: „Sie wollten zurück in ihr Land, das muss man verstehen. Es ist nun einmal ihr Land.“ Hundert Jahre sind vergangen, seit Anton Tschechow seinen Garten auf einem öden Stück Land in der Nähe eines tatarischen Friedhofs angelegt hat; mehr als die Hälfte der Bäume, Sträucher und Weinreben soll er selbst gepflanzt haben. Gärten breiten sich auch in den Stücken und Erzählungen aus, die er in seinen letzten Lebensjahren auf der Krim schrieb, nicht zuletzt als der Ort, an dem sich Menschen ihre Liebe erklären. Aber auch das Schrecklichste lässt Tschechow in der Natur geschehen, die von Menschen gestaltet worden ist, so das Fällen der Bäume am Ende des „Kirschgarten“, das Anfang des 20. Jahrhunderts den Untergang einer, seiner Welt vorausgenommen hat. Was für eine Welt war das? Ich betrete das Haus und fühle mich vom ersten Schritt an in eines seiner Stücke versetzt, ja, als ob Tschechow seine eigene dramatische Figur gewesen wäre, die Diele, in der er seinen Hut abgelegt hat, die Küche, in der er sich auch mal selbst einen Tee gekocht haben wird, der Salon, in dem kein Geringerer als der greise Tolstoi oft saß, die Schlaf- und Gästezimmer, die Porträts seiner schönen Frau, der Esstisch mit den Stühlen, die ebenfalls noch original sind, überhaupt, die Sitzgelegenheiten: Fauteuils, Sofas, Bänke, dazu die Betten. Dass wir nicht wie Asiaten auf dem Boden sitzen, war in Russland bereits
Sängerin Sarychalil, Heimatdorf Maloretschenskoje Ihre Söhne lernen vier Sprachen: Krimtatarisch, Russisch, Ukrainisch und Arabisch
ein geflügeltes Wort, als Katharina die Große wie in so vielen anderen Gebieten des Riesenreichs auch auf der Krim eine Siedlung nach der anderen nach europäischem Vorbild bauen ließ. Darum sieht der Ort, den Natalja den russischsten von Jalta nennt, wie ein vornehmes Bürgerhaus aus, das ähnlich in Frankreich, Deutschland oder Norditalien stehen könnte, auch in einem Gründerzeitviertel von Beirut oder Alexandria. In welcher anderen Welt war ich hingegen gestern in der Altstadt von Bachtschyssarai, der Hauptstadt der Krim bis zur russischen Kolonisierung, wo die Häuser noch einen Innenhof haben statt eines Gartens, man die Schuhe an der Tür auszieht und auf dem Teppich Platz nimmt, um zu essen. Nur ein paar Kilometer und zugleich einen ganzen Kontinent entfernt.
Auch die Tataren haben der Krim eine reiche Kultur geschenkt – aber wie seltsam, dass sie, die asiatische, heute auf Europa angewiesen ist, um sich fortzuentwickeln. Es ist bereits Abend, da ziehen wir wieder die Schuhe aus, bevor wir ein Haus betreten. Von Herzen freundlich, vielleicht sogar dankbar für den ausländischen Besuch, begrüßt uns die Sängerin Elwira Sarychalil, die mit ihren Eltern in das Dorf ihrer Großeltern zurückgekehrt ist, etwa fünfzig Kilometer östlich von Jalta an der Küste. Nach vielen Anträgen und weil der Bürgermeister sich wirklich bemüht hat, durfte der Vater ein Haus bauen, allerdings oberhalb der Ortschaft an einem Hang, der eigentlich viel zu steil ist. Zum Glück war er von Beruf Ingenieur und sah vor dem inneren Auge die Terrasse mit dem schönsten Meerblick weit und breit. Inzwischen
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wohnt bereits die nächste Generation im Haus, die beiden Söhne Elwiras, die vier Sprachen lernen, Krimtatarisch, Russisch, Ukrainisch und ein bisschen Arabisch, weil Bildung über ihre Zukunft entscheiden wird. Das haben Elwiras Eltern in der Verbannung gelernt und ihr deshalb die Ausbildung auf einem der besten Konservatorien der Ukraine ermöglicht. Heute ist sie sowohl für modernen Jazzgesang als auch für ihr traditionelles Liedgut bekannt und am bekanntesten für die Verbindung aus beidem. So wie man an ihrer Tür die Schuhe auszieht und dennoch auf Stühlen sitzt. Nach dem Abendessen, das mich in den Fernen Osten versetzt, projiziert der stolze Vater Konzerte von YouTube an die Wohnzimmerwand, in Kiew, Berlin oder Amsterdam. Auf der Krim hat Elwira lange kein Konzert mehr gegeben, und wenn sie sich im Ausland zu kritisch, also proeuropäisch, äußern würde, bekäme sie wie viele andere Künstler Schwierigkeiten nach der Heimkehr oder könnte gar nicht mehr zurück. „Hast du nie darüber nachgedacht wegzuziehen“, frage ich, „nach Kiew, Berlin oder Amsterdam, wo du singen kannst?“ „Nein“, antwortet Elwira, „die Landschaft hier, die dringt in meinen Gesang. Wir alle sitzen so viel wie möglich auf der Terrasse.“ Dann singt sie ein altes Volkslied, in dem die Brauen der Geliebten wie Meereswellen sind, die sich unruhig heben und besänftigt wieder senken.
Vierter Tag Mit dem Blick aufs Meer wache ich auf. Bis jetzt hat es auf der Krim immer nur geregnet, das habe ich gar nicht erwähnt, weil ich in der vorausgegangenen Folge des Reiseberichts die Schönheit der Landschaft festhalten wollte und nicht, dass die Krim bei Regen nicht viel anders aussieht als das Siegerland, in dem ich aufwuchs – die Küste war in den dichten Wolken ja kaum zu erkennen. Jetzt jedoch strahlt die Sonne, und weil es gestern Nacht geschneit hat, sind nicht nur die weit entfernten Berge, sondern auch die Hügel, die sich im Halbrund an die kleine Bucht schmiegen, wie mit Puderzucker bedeckt. Der Kieselstrand ist allerdings nicht eben formvollendet bebaut, eine verlassene Imbissbude aus morschen Brettern oder sogar Wellblech neben der anderen, die etwas erhöhte Promenade aus nacktem Beton, die hässlichsten Treppen, die zum Wasser führen, und dazwischen Stege unterschiedlicher Länge und Beschaffenheit, als hätte jeder Angler seine eigene Rumpelkammer verbaut. Die Tretboote, die aufeinandergestapelt sind, wirken ebenfalls wie weggeworfen. Aber dann gehe ich zum Ende der Bucht und springe, um nicht nass zu werden, von Stein zu Stein um die Klippe he-
rum. Plötzlich stehe ich allein auf einem weiteren, unbebauten Strand. Wie Elwira schaue ich aufs Meer und vergesse die Welt, in der ich gerade bin. Das wird selbst im Krieg so gewesen sein, in den Weltkriegen, die Mitte der beiden vorigen Jahrhunderte auf der Krim ausgetragen wurden, dass ein britischer, russischer, französischer, türkischer oder deutscher Soldat an einem ruhigen Tag aus seinem Lager heraustrat, vielleicht weil nach langem, kaltem Regen, der mit Schnee vermischt war, erstmals wieder die Sonne schien. Dann blickte er aufs Meer und dachte an seine Liebste zu Hause, an die Kinder, an seine alltäglichen Sorgen und Nöte oder versank einfach für einen Moment in der Landschaft, atmete das Salz, hörte die Wellen, schloss die Augen und spürte das warme Licht. Er vergaß alles ringsherum. Ob heute wieder ein größeres Unheil naht, von dem die Spannungen auf der Krim, die Kriege im nahen Donbass und auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres nur ein Vorbote sind? Im Osten der Türkei, im Norden des Irak, im südlichen Kaukasus und überall in Syrien, selbst im Jemen, in Libyen und noch weiter entfernt – oder ist das bereits ein einziger großer Krieg? Seit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten, die viele Autokraten euphorisiert hat, spricht Moskau von einem „neuen Jalta“, einer neuerlichen Aufteilung der Welt in Einflusssphären, der vermutlich noch ein paar weitere Kriege vorangehen würden, damit die Bereitschaft zum kalten Frieden wächst. Vielleicht fühle ich deshalb den Impuls so stark, einfach am Strand zu bleiben, der von Menschen unberührt ist. Wir fahren weiter die Küste entlang Richtung Russland. Die Griechen, erzählt unser junger Fahrer Ernes, haben nicht nur Mythen, Weinreben und unzählige Ruinen hinterlassen, sie haben der Krim auch viele Ortsnamen geschenkt, die geblieben sind, als Katharina die Große sie weiter nördlich in die Steppe deportieren ließ, um in ihren Dörfern Russen anzusiedeln. Das heißt also – erst jetzt geht es mir auf –, dass die griechischen Dörfer, durch die ich in der Ostukraine fuhr, erst eine Folge der zaristischen Kolonisierungspolitik sind; unreflektiert
Aus diesem Kuddelmuddel auf der Krim, das oft genug kriegerisch war, besteht der Reichtum, den man Zivilisation nennt.
hält man ja alles Griechische für antik. Auf der Krim hingegen waren die griechischen Ortsnamen zweitausend Jahre alt, als sie von der Sowjetunion ausradiert wurden. So viele Völker, die auftauchen, wo sie dem Schulatlas nach gar nicht hingehören, die wandern, vertrieben werden oder sich miteinander, nebeneinander arrangieren, selten zu Freunden werden und wenn, dann meistens erst, nachdem sie sich die Köpfe eingeschlagen haben, Griechen, Russen, Tataren, Deutsche, Juden, Armenier und Dutzende weitere Völker allein auf der Krim. Am Ende hat jedes Volk, sofern es nicht ausgelöscht wurde, Ansprüche, Vorwürfe, Traditionen, Lieder oder schlicht ein Stück Boden von seinen Vorfahren geerbt, auf das andere ebenfalls ein Anrecht haben, sodass die Saat für neue Konflikte gesät ist. Aber genau daraus, aus nichts anderem als diesem Kuddelmuddel, das gerade auf der Krim häufig genug kriegerisch war, weltkriegerisch sogar, besteht eben Geschichte, soweit sie von Menschen gemacht wird, allerdings nicht nur Geschichte, sondern auch Kultur, die sich stets in der Abgrenzung von anderen Kulturen herausbildet, besteht der Reichtum, den man Zivilisation nennt. Es gibt keine Monokulturen, nirgends. Es gibt nur friedliche und nicht friedliche Wege zusammenzuleben, sofern man bereit ist, den anderen nicht auszulöschen. Immer zerklüfteter wird die Landschaft, immer karger die Vegetation, immer kleiner die Dörfer, die am Wegrand auftauchen. Das Smartphone, das uns Richtung Russland navigiert, schlägt bei allen fünf Gebetszeiten Alarm, ohne dass Ernes deswegen bisher angehalten hat. Diesmal jedoch ruft es zum Freitagsgebet, und weil beinah gleichzeitig eine große Moschee auftaucht, deren Fassade weiß leuchtet, biegen wir von der Küstenstraße ab. Ich bin auch neugierig, weil in dem kleinen Dorf außerdem eine Kirche steht, die ebenfalls neu gebaut und genauso gesichtslos zu sein scheint. Rund um die Moschee sind die Straßen unbefestigt und die Stromleitungen sehr improvisiert aufgehängt, die Häuser dafür neu: Die Krimtataren wohnen hier, die aus der Verbannung in ihr Heimatdorf zurückgekehrt sind. Aber trotz der Gebetszeit finden wir die Moschee verschlossen, und die Männer marschieren in mehreren Pulks in die andere Dorfhälfte, in Richtung der Kirche, die es in der Sowjetunion ebenso wenig gab. Sind hier etwa alle zum Christentum konvertiert? Wir folgen den Krimtataren in den alten Teil des Dorfes, den ihre Eltern oder Großeltern bewohnt haben, laufen an der Kirche vorbei, die ebenfalls verschlossen ist – gut, es ist Freitagvormittag, wie gesagt –, begegnen weder freundlichen noch unfreundlichen Russen, die nun in den Häusern wohDER SPIEGEL 8 / 2017
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nen, und gelangen durch eine unscheinbare Passage zwischen zwei Mauern zu einer Eisentür, von der aus eine Treppe hochführt zum Gebetsraum der alten Moschee, die in der Sowjetunion ein Lagerraum war. An die vordere Fassade wurde ein anderes Haus angebaut. Die Männer berichten, dass sie vor ein paar Jahren die Tür aufgebrochen und das Lager leer geräumt hätten. Niemand brauchte mehr das Zeug, Tafeln für sowjetische Festtage, kaputtes Schulinventar und was nicht alles mehr. Selbst der Ortsvorsteher drückte ein Auge zu. In dem alten Gebetsraum fühlten sie sich einfach wohler, sagen sie. Außerdem ist die neue Moschee, die mit türkischem Geld erbaut wurde, viel zu groß für die wenigen Tataren, die über die Jahrhunderte nicht ausgelöscht wurden. Als wir zum Auto gehen, spricht uns eine alte Frau an und fragt, ob wir Nachrichten aus der Ukraine hätten. Dass wir Reisende sind, Ausländer, scheint offensichtlich zu sein. Wieso aus der Ukraine, fragen wir. Die Frau stammt aus dem Donbass, genau gesagt aus Luhansk, und kam vor drei Jahren ins Dorf, um ihren Sohn zu pflegen, der von Banditen zusammengeschlagen worden war; da brach plötzlich der Krieg aus, und der Sohn ließ sie nicht mehr zurück. Inzwischen verbietet er ihr, Nachrichten zu sehen. Angeblich sei alles beim Alten geblieben, ihr Haus unbeschädigt, doch das glaube sie ihm nicht. Ob wir wüssten, wie es in Luhansk heute aussehe, wann der Krieg vorbei sei. Was antwortet man einer alten Frau? Auf dem Rückweg zur Küstenstraße sehen wir einen Mann mit Zigarette im Mund, der in den Weinreben die Zweige abschneidet. Ich frage ihn, ob der Wein früher besser war oder heute. „Früher“, antwortet der Mann und meint nicht etwa die Zeit vor dem Anschluss an Russland, sondern die Sowjetunion: „Da gaben sie uns mehr Dünger.“ Er wisse nicht, warum es heute an Dünger fehle, da er nur Angestellter der Sowchose sei, müsse 140 Reben schneiden, um seinen Lohn zu erhalten, da bleibe nicht einmal für eine Zigarettenpause Zeit. Seit dem Anschluss an Russland werde der Lohn immerhin pünktlich ausgezahlt, das sei früher anders gewesen. Mit früher meint er diesmal die Ukraine. Ein paar Dörfer weiter führt uns Ernes in die Heimat, aus der seine Großeltern 1944 deportiert wurden. Ein Lkw, der vor dem Haus vorfuhr, eine halbe Stunde, um die wichtigsten Gegenstände, Dokumente und den Koran der Familie einzupacken, dann auf die Ladefläche, wo die Nachbarn schon versammelt waren, und von dort in einen überfüllten Güterwaggon, der sieben Tage bis ins ferne Asien durchfuhr, ohne dass jemand aussteigen durfte, ohne dass etwas hineingereicht wurde, Nahrung, 114
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Nachrichten oder Hoffnung, nur Wasser gelegentlich. Ernes’ Vater kommt seit der Rückkehr einmal im Jahr vorbei, um das Haus seiner Eltern zu besuchen. „Und das ist kein Problem?“, frage ich. „Nein, nein“, versichert Ernes. „Die jetzigen Bewohner sind freundlich und laden uns jedes Mal zum Tee ein.“ Neben dem Ortsschild aus der sowjetischen Zeit steht eine Steinsäule mit dem krimtatarischen Namen Ay Serez, der aus dem Griechischen abgeleitet ist. Fünfmal sei die Säule bisher zerstört worden, sagt Ernes, mal sehen, wie lange die sechste Säule hält. Wir fahren durch das Dorf, das sich wie die meisten Dörfer an der Küste den Berg hochzieht, und parken den Wagen in einer der obersten Gassen. Zwei Geschosse haben die kleinen Häuser, das untere aus Stein, das obere aus Holz, und sind aufgeteilt in Wohnungen. In der Tür, an der Ernes vorsichtig klopft, erscheint eine Frau mit einer Strickmütze auf den blonden Haaren. Über den Pullovern trägt sie eine rote Skijacke. Mehr geschäftsmäßig als begeistert lässt sie uns in ihr Wohnzimmer eintreten, in dem sie auch isst und schläft. Der einzige Gegenstand in dem vollgestellten Raum, der nicht zweckmäßig erscheint, ist ein kleines Aquarium. Seit ihrer Geburt lebt Tatjana in dem Haus, aus dem Ernes’ Familie deportiert wurde. Ihr Vater, der aus Zentralrussland stammt, bekam es 1957 zugeteilt. „Hatte er eine Wahl?“, frage ich. „Nein, er war in einem Kinderheim aufgewachsen.“ Tatjana wusste als Kind schon, dass in dem Haus einmal Krimtataren gewohnt hatten, aber als sechsköpfige Familie hätten sie zu viele eigene Sorgen gehabt, um darüber zu sprechen. Inzwischen ist sie 56 Jahre alt und hat 35 davon gearbeitet, die längste Zeit als Hausmeisterin in einem Sanatorium am Meer. Von ihrem Mann ist sie geschieden, die Kinder leben irgendwo und haben eigene Kinder. Ihre Rente beträgt 7000 Rubel, umgerechnet gut hundert Euro. Was gedeiht, baut sie im Vorgarten selbst an. Zum Heizen reicht das Geld dennoch nicht. Ich frage, ob sie Sorge gehabt habe, vertrieben zu werden, als mit der Perestroika
Die Frauen im Nachtlokal tragen die langen, glatten Haare und lange, körperbetonte Kleider – wie Frau und Tochter Trump.
die Krimtataren zurückkehrten. Nein, sagt Tatjana, einzelne Tataren hätten sich bereits in den Siebzigerjahren in ihr altes Dorf durchgeschlagen, das seien nette Leute, die Kinder seien mit ihren aufgewachsen. Und als der Vater von Ernes zum ersten Mal vor ihrer Tür stand? „Das war im Sommer 1989“, erinnert sich Tatjana sofort: „Er hat geweint wie ein Kind, das hat mich natürlich gerührt. Ich habe ihm einen Tee gekocht.“ „Und hatten Sie immer noch keine Angst?“ „Nein, warum denn? Er hat uns angeboten, die Wohnung zu kaufen, aber das wollten wir nicht, und das hat er akzeptiert. Wo hätten wir denn hingehen sollen? Wissen Sie, wir haben keine Spannungen mit den Tataren, wir haben ganz andere Probleme.“ „Was sind denn Ihre Probleme?“ „Dass wir nach so vielen Jahren immer noch keinen Wasseranschluss haben, zum Beispiel. Dass wir das Wasser in Kanistern ins Haus tragen müssen. Das ist wirklich ein Problem, besonders im Winter.“ „Hat sich denn seit dem Anschluss nichts verändert?“ „Gar nichts hat sich verändert.“ „Und sind Sie dennoch froh, dass die Krim wieder zu Russland gehört?“ „Ich bin froh, dass es keinen Krieg gibt. Darüber bin ich froh.“ Gegen Abend erreichen wir den östlichsten Ort der Krim: Dass Kertsch sage und schreibe 2600 Jahre alt ist, sieht man der Stadt nicht an – kein Wunder, wurde sie doch bereits im vierten Jahrhundert nach Christus von den Hunnen zerstört und seither ein ums andere Mal, etwa 1855 von Briten und Franzosen sowie keine hundert Jahre danach noch einmal von den Deutschen. Die Kirche jedoch, eine der ältesten byzantinischen Kirchen überhaupt, erbaut im achten Jahrhundert, die steht noch – und das, obwohl der Boden seismografisch aktiv sei, hebt der Priester stolz hervor. Selbst die Herrschaft der Tataren, die aus der Kirche eine Moschee gemacht hätten, habe die Kirche wie durch ein Wunder überlebt. Eigentlich hatte er schon die Tür abschließen wollen, aber so sehr freut er sich über die seltenen Besucher aus dem Ausland, dass er das Licht noch einmal angeschaltet hat und uns jeden Winkel zeigt. Der Gottesdienst fand im zweiten, größeren Schiff statt, das im 19. Jahrhundert angebaut worden ist. Dabei hätte die kleine Kirche aus dem frühen Mittelalter für die wenigen Gläubigen allemal genügt. Der Besuch sei nur an Werktagen so schwach, entschuldigt sich der Priester und betont, dass die Russen selbst in der Sowjetunion fromm geblieben seien. Seither nehme die Frömmigkeit geradezu explosionsartig zu.
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„Und die Jüngeren sind in der Kirche ebenfalls aktiv?“, frage ich. „Ja“, versichert der Priester, „nur an Werktagen eben nicht.“ Der Priester selbst ist noch nicht alt, keine vierzig, würde ich schätzen. Mit dem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, den er über einem schwarzen Hemd trägt, den hinten zum Zopf gebundenen Haaren und dem sorgfältig geschnittenen Bart könnte er auch in einem amerikanischen Film Pate stehen. In der Hand hält er ein Smartphone, einen elektronischen Türöffner fürs Auto und einen Rosenkranz, der um die Finger gewickelt ist. „Russland und Glaube, das sind praktisch Synonyme“, fährt der Priester fort. Ob es stimmt, frage ich, dass die Krim für Russland so heilig sei wie der Tempelberg für Juden und Muslime, wie es Präsident Putin in seiner programmatischen Rede zur Lage der Nation erklärt hat. Das sei unbestreitbar, antwortet der Priester und führt nicht allein
Schriftsteller Tschechow vor seinem Haus in Jalta um 1900, Führerin im Tschechow-Museum Der russischste Ort Jaltas
den Großfürsten Wladimir an, der im zehnten Jahrhundert auf der Krim getauft worden sei und damit die Christianisierung der Ostslawen eingeleitet haben soll. Auf den bezog sich bereits Katharina die Große, um den Anspruch auf die Krim theologisch zu begründen. Der Priester jedoch spricht auch von einem Fußabdruck, den Johannes der Täufer hinterlassen habe. Es sei leider schon zu dunkel, sonst könnte ich ihn im Innenhof der Kirche sehen. Von solchen Wundern habe ich auch in Jerusalem gehört. Der Priester löscht das Licht, verschließt die Kirche, verabschiedet sich freundlich und drückt auf den elektronischen Türöffner seiner Geländelimousine, die aus welchem Grund auch immer ein ukrainisches Kennzeichen hat. Die Frist zum Umtausch sei doch längst verstrichen, wundert Ernes sich, für den die Krim immer zu Europa gehören wird. Weil das Meer unberechenbar ist, setzen wir noch am Abend aufs Festland über.
Zumal im Winter kommt es vor, dass die Fähre über Stunden, wenn nicht Tage ausfällt. Obwohl es keine Zollabfertigung mehr gibt, dauert es ewig, bis die Fähre ablegt. Und so lange sie auch gewartet hat, es sind trotzdem nur wenige Passagiere an Bord. Als unser Auto aufs Festland rollt, ist es zu spät geworden, um noch bis zur nächsten Stadt zu fahren. Über das Internet buchen wir ein Hotel auf dem freien Feld. Wie sich herausstellt, ist es so frei nicht, denn nebenan steht ein Tanzlokal aus Blockholz, vor dem viele Autos geparkt sind. „Wer seid ihr denn?“, fragt der breitschultrige Türsteher belustigt, als wir nicht gerade im Ausgehlook vor ihm stehen. „Menschen“, antwortet der Fotograf Dmitrij Leltschuk ironisch. „Ach so“, grinst der Türsteher, „ich dachte schon, ihr seid Türken.“ Ich betrete das Tanzlokal und fühle mich vom ersten Schritt in eine Persiflage auf Russland versetzt: Die Frauen tragen uniform die langen, glatten Haare, den Mittelscheitel, die überdehnten Lidschatten und ein körperbetontes langes Kleid wie Frau und Tochter Trump. Und die Männer sehen, nein, nicht wie das Oberhaupt der Präsidentenfamilie aus, mehr wie seine Leibwächter. Das Rollenmodell scheint weltweit wiederzukehren; fragt sich nur, wer von wem kopiert. Die Musik jedenfalls, zu der seltsamerweise nur die Frauen tanzen, ist zu 100 Prozent vom einstigen Klassenfeind. Die Männer ziehen lieber an der Schischa, als ob sie – zum Glück liest nicht der Türsteher mit – Türken wären. Ich denke an das Arbeitszimmer zurück, das aussah, als hätte es Tschechow erst gestern verlassen, der Schreibtisch noch mit Papieren bedeckt, das Telefon so groß wie heute ein Tischcomputer, die Schale für die Visitenkarten seiner Besucher. Dort, auf jenem Stuhl, schrieb Tschechow seine großen Dramen, in denen sich jeder immerfort nach Moskau sehnt. „Und vergeht noch ein wenig Zeit“, heißt es in den „Drei Schwestern“, „so zweihundert, dreihundert Jahre, und man wird auf unser jetziges Leben genauso zurückblicken, mit Schrecken und einem spöttischen Lächeln, alles Heutige wird eckig und schwerfällig erscheinen, sehr unbequem und merkwürdig. Oh, was wird das wahrscheinlich für ein Leben, was für ein Leben …“ Gewiss, die Zuversicht trog, die Tschechow dem Offizier Werschinin in den Mund gelegt hat, die Zuversicht der frühen Moderne, denn es wurden „keine Menschen geboren, die besser sind als Sie“. Andererseits haben wir noch hundert oder zweihundert Jahre Zeit. Im übernächsten Heft: Von Krasnodar nach Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien DER SPIEGEL 8 / 2017
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ten Weltkrieg, schließlich die Finanzkrise von 2008 an und die Aushöhlung des amerikanischen Geschäftsmodells, des reinen und knallharten Kapitalismus. Zerstört durch jene Kräfte, die er „Partei von Davos“ nennt, die globale Machtelite, die sich jedes Jahr im Januar in den Schweizer Alpen trifft. Blumen welken, Obst verfault, grauer Schimmel überzieht die Welt. In einer Szene sieht man einen Banker, der sich mit zwei Escortdamen im Bett wälzt. Eine Stimme Filmkritik Im Kopf von Stephen Bannon: höhnt: „Ich bekomme das Haus in den Hamptons, den Seine Dokumentation „Generation Zero“ Privatjet, die Boni und die Konten in Übersee. Und wenn von 2010 zeigt, was er wirklich denkt. die Dinge schiefgehen? Dann übernehmt ihr, die Middle Class, die Rechnung.“ Klar, es war hemmungslose Gier am Werk in den Jahren s gibt Menschen, die nennen Stephen Bannon nur vor dem Kollaps 2008. Aber woher kam sie? War es die Darth Vader. Das Dunkle der Macht, ihm gefällt Aufhebung der Trennung von Investment und normalen das. In einem Interview nach dem Wahlsieg im NoGeschäftsbanken oder das Aufkommen von Kreditausfallvember sagte Bannon: „Dick Cheney. Darth Vader. Satan. Versicherungen in den Neunzigerjahren? Oder die immer Das ist Macht.“ Er weiß um die Wirkung von Bildern, Myneuen Risiko-Modellrechnungen, die Mathe-Nerds in den then und Erzählungen. Donald Trump ist Bannons erfolgNullerjahren konzipierten? War es möglicherweise alles reichste Inszenierung. Ohne Darth Vader würde Trump zusammen? Darauf aber geht Bannon nicht wirklich ein. wahrscheinlich immer noch auf seinen Baustellen herumSchuld an dem Kollaps seien die gesellschaftlichen Neuestiefeln und im Fernsehen hilflose Azubis feuern. rungen der Sechzigerjahre. In den Nullerjahren hat sich Bannon als Produzent und Ausgerechnet in Woodstock hätte sich eine rücksichtsRegisseur von Dokumentarfilmen versucht. Wer wissen lose und egoistische Generation die kulturelle Vorherrmöchte, wie es im Kopf von Trumps Chefideologen ausschaft gesichert, ihr Weltversieht, was ihn antreibt, wen besserungswahn hätte Werte er warum hasst und wen und wie Religion und Familie, Diswas er zum Wohle Amerikas ziplin und Arbeit durch einen zerstören möchte, dem sei Kult des Egos ersetzt. Man „Generation Zero“ empfohsieht Bilder des Punkrockers len, einen als Dokumentation Billy Idol, von Michael Jackgetarnten Propagandafilm, son und Larry Hagman alias bei dem Bannon im Jahr 2010 J. R. Ewing. Hippies in den Regie führte, als er sich als Sechzigerjahren, Yuppies in politischer Filmemacher verden Siebziger- und Achtzigersuchte und von 2004 an Dojahren, die sich in den folkumentationen produzierte genden Jahrzehnten auf Koswie „In the Face of Evil: Reaten der Wehrlosen bereichert gan’s War in Word and Deed“, hätten. „Border War: The Battle Over Auch mit der schwarzen Illegal Immigration“ oder Bürgerrechtsbewegung wird „Occupy Unmasked“. Von abgerechnet. Martin Luther heute aus betrachtet, ist „GeKing und Co. trügen ebenfalls neration Zero“, in ganzer große Schuld an der SubLänge bei YouTube zu sehen, prime-Krise, weil plötzlich so etwas wie das Manifest der auch Afroamerikaner die MögAlt-Right-Bewegung. lichkeit für Hauskredite beAmerika, so stellt es Bankommen sollten. Mit solchen non dar, stehe an einem weltAuswüchsen des Kapitalishistorischen Scheideweg. Bemus müsse es ein Ende hadrohliche Bilder, begleitet Szenen aus „Generation Zero“ ben, allein Gott und der von dröhnender UntergangsManifest der Alt-Right-Bewegung Markt sollten wieder alles musik, werden aneinandergeregeln. Schluss mit den Sechzigerjahren und ihren Fraureiht. Wirbelstürme, schwarze Wolken, weit aufgerissene, enrechten, mit dem Bemühen um sozialen Ausgleich, nach Fleisch schnappende Haischnauzen, zusammenstürmit Clintonbushobama, mit der Partei von Davos. Weg zende Wohnblocks, Massensterben in den Schützengräben damit. Auslöschen. Ansonsten drohten Amerika Zustände der Weltkriege: Diese Metaphern wählt er, um von den wie im säkularen, sozialistischen Europa, das nur schwaJahren der Clintons, Bushs und Obamas zu erzählen, als ches Wachstum und aufgeblähte Regierungsapparate sich angeblich das Establishment Washingtons mit Banken kenne. und Hollywood zusammentat, um die einfachen Menschen Wer das System zerstören will wie Bannon, der muss auszuplündern. Die Wehrlosen, die Steuerzahler, die kämpfen. Nicht mit Transparenten und Blumen, sondern Middle Class, die „forgotten men and women“. wie die Männer am Omaha Beach im Zweiten Weltkrieg. Vier große Krisen diagnostiziert Bannon in der GeZurück in die Apartheid der Fünfzigerjahre, als das schichte Amerikas: die Jahre der amerikanischen RevoluEstablishment des Landes so makellos weiß war wie die tion im 18. Jahrhundert, den Bürgerkrieg Nord gegen Süd Zäune der Vorstädte. im 19. Jahrhundert, die Große Depression und den ZweiThomas Hüetlin
Rache für Woodstock
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Sport Fangewalt in den drei höchsten deutschen Fußballligen, Saison 2015/16 davon durch die Bundespolizei
607
420
davon durch die Länderpolizei
eingeleitete Strafverfahren
3041
1253
1673 2434 226
1399 Spiele 380
1625
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Strafverfahren gegen Fußballfans bei Spielen in Stadien der ersten drei Ligen
Spiele 306
inklusive Uefa-Wettbewerbe, Pokal- und Länderspiele
Spiele 306
2010/11
Quelle: Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS)
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2011/12
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8329
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2014/15
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Fußball
„Die Stimmung ist elektrisch“ Gary Lineker, 56, englischer Ex-Nationalspieler und BBC-Moderator, über Fans in Dortmund und auf der Insel SPIEGEL: Mr Lineker, haben Sie schon mal von der gelben Wand gehört? Lineker: Natürlich, das ist die Südtribüne in Dortmund. Ich war schon mehrmals dort. 25 000 Menschen, alle in Gelb, die Stimmung ist elektrisch. SPIEGEL: Gerade haben Zuschauer darauf Banner hochgehalten, auf denen der Sportchef von Leipzig zum Suizid aufgefordert wurde. Vor dem Stadion warfen Ultras Steine auf Leipzig-Fans. Lineker: Ein grausamer Vorfall. SPIEGEL: Jetzt wird die Tribüne für ein Spiel gesperrt. Finden Sie das richtig? Lineker: Ich bin ein Freund von Rivalität, ohne sie wäre der Fußball langweilig. Und ich kann verstehen, dass die Dortmunder RB Leipzig nicht mögen. Aber Steine werfen ist unverzeihlich. SPIEGEL: Könnte so etwas in England geschehen? Lineker: Kaum. Wenn die Veränderungen im englischen Fußball eine positive Seite haben, dann ist es, dass wir die Hooligans in den Stadien besiegt haben. Wenn ich mich an die Gewalt erinnere,
die auf den Rängen herrschte, als ich noch gespielt habe: Da können wir heute stolz sein. SPIEGEL: Woran liegt das? Lineker: Wir haben die Stehplätze aus den Stadien verbannt. Auf den Rängen darf kein Alkohol mehr getrunken werden. Und, da sind wir dann bei der negativen Seite, die Ticketpreise sind extrem hoch. SPIEGEL: Nun stammt nur noch ein Bruchteil der Zuschauer aus unteren Schichten. Lineker: Ich habe immer dafür gekämpft, die Preise wieder zu senken. Jeder sollte sich ein Ticket leisten können. Die englischen Vereine sind auf den Erlös aus dem Ticketverkauf nicht angewiesen. Das Geld, das der TVDeal in die Kassen spült, reicht vollkommen aus. SPIEGEL: Jeden zweiten Samstag kommen rund tausend Fans aus England nach Dortmund, um die Stimmung zu erleben. Selbst auf St. Pauli, in der Zweiten Liga, trifft man Dutzende Engländer. Lineker: Das sagt alles, oder? Es ist für diese Fans attraktiver, aus London für 40 Euro
nach Deutschland zu fliegen, den Bus zum Stadion zu nehmen und für 20 Euro ein Ticket zu kaufen, als ein Arsenal-Spiel zu sehen. SPIEGEL: Dort herrscht oft eine Stimmung wie in der Oper. Lineker: Wenn man es positiv sehen will, kann man sagen, dass heute viele Familien ins Stadion gehen, auch viel mehr Frauen als zu meiner Zeit. Und in Liverpool, Leicester und Everton ist die Stimmung oft noch gut. SPIEGEL: Verfolgen Sie den deutschen Fußball?
Lineker: Ja, sehr aufmerksam. Die Deutschen machen vieles richtig. Die Stadien sind großartig, der Kommerz hält sich noch in Grenzen. Diese 50-plus-1-Regel, die die Stimmenmehrheit für Kapitalanleger verhindert, sollte die Liga unbedingt beibehalten. Sie ist der Damm, der euch vor Premier-League-Zuständen schützt. Ich habe gelesen, dass Leipzig diese Regel schon umgeht. Wenn man nicht aufpasst, wird Leipzig euer Chelsea. Dann ist der Weg für das Geld geebnet. Interview: Marius Buhl
LARS BARON / BONGARTS / GETTY IMAGES
CAN NGUYEN / DDP IMAGES
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Verletzte Zuschauer durch Fangewalt bei Ligaspielen
Südtribüne in Dortmund beim Spiel gegen Leipzig
DER SPIEGEL 8 / 2017
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Die Kampfkinder Thaiboxen Bank ist erst 11, sein Bruder Benz ist 15 Jahre alt. Wie Zehntausende Kinder verdienen sie Geld mit Muay Thai, Thailands Nationalsport. Sie kämpfen, um zu überleben – und träumen von der großen Karriere in Bangkok.
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ein erster Gegner an diesem Freitagabend ist eine Mücke. Bank tänzelt in kurzer Sporthose durch den Boxring und schlägt seine nackten Fäuste in die Luft. Einmal, zweimal, dreimal. Die Mücke ist schneller. Bank ist elf Jahre alt, er hat seinen Spitznamen von seinem Vater, weil der hoffte, dass sein Sohn ihn einmal reich machen wird. Die Hälfte seines Lebens hat Bank in diesem Ring mit den zerschlissenen Seilen verbracht. Der Ring ist in Hua Hin aufgebaut, einem Badeort am Golf von Thailand. Er steht auf vier Betonwänden, gefüllt mit Holzspänen, darauf liegen eine geflickte Plane und ein fleckiger, hellbrauner Teppich, der nach Schweißfüßen riecht. Über
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dem Quadrat, an einem Holzpfahl, der das Dach stützt, hängt der Skelettschädel eines Wasserbüffels. Er soll Glück bringen. In vier Stunden wird Bank ein paar Straßen weiter in einer Boxhalle unter dem Gegröle Dutzender Menschen einem anderen Elfjährigen gegenüberstehen. Er wird ihm die Fäuste auf die Brust schlagen, den Ellenbogen ins Gesicht stoßen und seine Knie in die Rippen rammen. Er wird das machen, was er am besten kann: Thaiboxen. Muay Thai, wie es in der Landessprache heißt, ist eine der härtesten Kampfsportarten der Welt, ein unerbittliches Duell der Extremitäten. Ein spitzer Ellenbogen kann die Haut aufreißen wie ein scharfes Messer, ein Tritt gegen den Kopf in Sekun-
denschnelle bewusstlos machen. In Thailand ist der Sport ein kulturelles Vermächtnis, dessen Ursprung bis ins siebte Jahrhundert reicht. Der Legende nach schlug der thailändische Kämpfer Nai Khanom Tom 1775 zehn birmanische Aggressoren mit Fäusten und Füßen nieder. Heute sind Thaiboxer Volkshelden. Die besten bekommen für einen Auftritt mehrere Zehntausend Euro. Der Sport ist ein Produkt der Unterhaltungsindustrie geworden, Millionen verfolgen die Kämpfe im Fernsehen. In Bangkoks größten MuayThai-Stadien Lumpinee und Rajadamnern ist an einem Kampfabend bis zu eine Million Euro Wettgeld im Umlauf. Schon mit den jüngsten Thaiboxern wird ein Geschäft gemacht. Bis zu 30 000 Kinder
Sport
SANDRA HOYN / DER SPIEGEL
SANDRA HOYN / DER SPIEGEL
wird. Und er bläute ihm ein, niemals xen oder weitermachen und ein Champion Schmerzen zu zeigen, egal wie weh ein werden.“ Benz hat 105 Kämpfe bestritten Tritt tut. „Punktrichter schauen dir ins Ge- und 85 davon gewonnen. Jeden Monat sicht“, erklärte er seinem Sohn, „sie er- kommen 2 bis 3 dazu. Doch seine müden Augen verraten, dass er genug vom Kämpkennen den Schwächeren sofort.“ Banks Vater heißt Biau, 50, er ist ein fen hat. Erst kürzlich musste Benz mit Husten brummiger Mann, der sich Schwäche nie leisten konnte. Seine Mutter knallte ihm die und Fieber in den Ring. Seine Beine waren Hand ins Gesicht, wenn er nicht spurte, sein schwer. Er bekam einen Haken in die RipVater im Training den Boxhandschuh. Neun pen, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Jahre lang war er Profi, bis ihm ein Gegner Er fiel um wie ein vom Blitz getroffener im Ring das rechte Schienbein brach. Biau Baum. Sein Vater war sauer, weil er viel ging jeden Tag zu einem Mönch und ließ es Wettgeld verloren hatte. Dabei kennt Benz kaum etwas anderes salben. Das Bein verheilte. Kämpfen konnte er danach nicht mehr. Er sagt: „Muay Thai als Training, er hätte gern mehr Zeit für sich. Er kann seine Freundin nur in der war die beste Lebensschule.“ Vor 15 Jahren zimmerte Biau aus Holz- Schule sehen. Wenn seine Kumpel ins platten und Bambusrohren das Boxcamp Kino gehen, ist er beim Training. Das Traiin Hua Hin und begann, einige Jugendliche ning frisst seine Jugend. So klingt es, wenn und später seine Söhne zu trainieren. Vor er erzählt. Aber aufzuhören wäre eine ein paar Jahren nahm er vier Kinder aus Schmach. Für ihn, für seinen Vater, für der Nachbarschaft auf, die keine Eltern sein Boxcamp. Thaiboxer, die im Ring aufgeben, verlieren ihr Gesicht. mehr haben. Er gab ihnen ein Zuhause. Dafür müssen die heute 12- und 13-JähAber der Weg ins Profigeschäft ist lang. rigen in die Schule gehen und zwei Regeln Thaiboxpromoter sagen, die wenigsten halbefolgen. Nummer eins: Kein Alkohol, kei- ten bis Anfang zwanzig durch. Viele erliene Zigaretten, keine Drogen. Nummer gen den Frauen und dem Schnaps, sobald zwei: Trainiert wird von Montag bis Sams- sie etwas Geld verdient haben. Ob jemand tag mit einem Trainer. Er selbst könne Karriere macht, hängt auch von dem Glück nicht mehr, sagt Biau: „der Rücken“. ab, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Trainingsbeginn ist um fünf Uhr morSeine Chance hatte Benz im Herbst. Ein gens, zuerst acht Kilometer laufen, die letz- Promoter aus Hua Hin hatte ihm einen ten 50 Meter davon im Sprint, es folgen Kampf in Hongkong verschafft, in einer 250 Kniestöße gegen den Sandsack, Schlag- Arena vor 10 000 Menschen gegen einen übungen und Schattenboxen. Abends das Chinesen, der elf Jahre älter war. Benz erThaiboxer Bank Ganze noch einmal, dazu 100 Liegestütze, hielt 8000 Baht Antrittsprämie, gut 200 100 Klimmzüge, 300 Rumpfbeugen. Euro, aber er verlor. Seitdem hat er keinen Drei Stunden bevor Bank in den Ring größeren Kampf mehr bekommen. Zuminunter 15 Jahren hauen sich mehrmals im steigen wird, reicht ihm sein großer Bruder dest habe er mal im Hotel schlafen können, Monat auf die Knochen – für ein Preisgeld eine Schüssel mit Hühnchen und Reis. „Iss im Einzelzimmer, sagt er: „Luxus“. In Hua Hin schläft Benz zusammen mit zwischen 10 und 40 Euro pro Kampf. Sie endlich“, sagt er zu ihm, „sonst schlägst seinem Bruder und den vier anderen Junträumen von einer glitzernden Karriere in du wie ein Mädchen.“ Banks Bruder ist 15, er lässt sich drillen, gen in einem fensterlosen Raum mit drei Bangkok, der Welthauptstadt des Thaiboxens. Aber die wenigsten Hoffnungen er- seit er 7 ist. Er heißt Benz – wie Mercedes- löchrigen Matratzen, drei wackeligen füllen sich, nur die besten Kämpfer können Benz. Sein Vater fand den Namen gut, Schränken und einem Regal, in dem eine „weil er für Qualität steht“, erzählt er. Als Dose Rattengift steht. von dem Sport leben. Die Jüngeren im Boxcamp stören sich Dreieinhalb Stunden vor dem Kampf Benz einmal keine Lust auf die Plackerei sitzt Bank neben dem Ring in einem Korb- hatte, stellte ihn Biau vor die Wahl: „Du nicht an diesem Leben. Sie sind stolz, Thaistuhl und schmust mit einem Stofftier. Die kannst aufhören und hier nie wieder bo- boxer zu sein und in einem Camp mit guMickymaus ist das Einzige, was daran erinnert, dass er noch ein Kind ist. Bank ist ein drahtiger Junge mit tiefen Augenlidern. Seine Mutter wollte ihn nicht. Sie versuchte, ihn mit Pillen abzutreiben. Es klappte nicht. Bank kam zwei Monate zu früh zur Welt. Der Darm war durch eine Lücke in seiner Bauchwand gedrungen, drückte den Bauchnabel nach außen, bis er ballongroß war. Die Ärzte mussten ihn operieren. Seitdem ist sein Bauchnabel ein dicker Hautknoten. Bank wuchs bei seinem Vater auf. Der steckte ihm mit sechs Jahren Boxhandschuhe über und machte aus einem schmächtigen Jungen einen starken. Er lehrte ihn, dem Gegner auf die Brust zu schauen, um rechtzeitig zu sehen, wann er zuschlagen Kämpfer Bank (M.): Mit sechs Jahren steckte ihm sein Vater Boxhandschuhe über DER SPIEGEL 8 / 2017
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Sport
tem Ruf trainieren zu dürfen. Wenn sie Matte und streckt seinem Trainer die Kurz nach 22 Uhr steigt Bank in den Ring, über Biau sprechen, den Mann, der ihnen Arme entgegen. Der bullige Mann mit sein Körper glänzt vom Öl. Es soll die Durchein Zuhause geschenkt hat, nennen sie ihn dem Oberlippenbart zieht vier Rollen blutung fördern. Aus den Lautsprechern du„Papa“. Fragt man sie, wofür sie kämpfen, Mullbinden und zwei Rollen Tape aus delt eine Oboe, sie klingt wie die Töne von einem Rucksack und beginnt, Banks Schlangenbeschwörern. Die Luft ist warm sagen sie: „für Papa“. Um den Kindern Essen und Kleidung Fäuste und Handgelenke zu bandagieren. und verbraucht. Bank weiß: Wenn er heute kaufen zu können, steigen Biau und sein „Fest genug?“, fragt er. „Sitzt“, antwortet verliert, verlieren auch sein Vater, der TraiHalbbruder jeden Morgen auf zwei Jetski Bank. ner, die Freunde, alle, die auf ihn Geld geKnochenbrüche sind beim Thaiboxen setzt haben. Verlieren ist keine Option. und ziehen Touristen auf einem Bananenboot übers Meer. Doch das Geschäft lahmt, nicht ungewöhnlich. Bank hat sich noch Bank tritt aus der roten Ecke in die Ringseit vergangenen August im Zentrum von nie ernsthaft verletzt. Die einzige Narbe mitte, zwischen seinen Lippen blitzt der Hua Hin und im Süden des Landes mehre- auf seinem Körper stammt von einem Mundschutz, er verbeugt sich, führt den re Bomben explodiert sind. Das Geld aus Sturz mit dem Fahrrad, sie zieht sich über Wai Khru Ram Muay auf, einen traditioden Kinderkämpfen ist deshalb noch wich- seine Oberlippe. Sportärzte sagen, das Ge- nellen Tanz zu Ehren seines Trainers. Um tiger geworden. Biau verwahrt es in einer fährlichste beim Muay Thai seien die Schlä- den Kopf trägt er den Mongkon, ein Stirnabgegriffenen Gürteltasche aus Kunstleder, ge auf den ungeschützten Kopf. Ein Medi- band, das ihm einen Sieg schenken soll. die er um seine Brust geschnallt hat, wie zinerteam aus Bangkok hat herausgefunBanks Gegner ist aus Kanchanaburi aneinen Talisman. Kinderschutzorganisatio- den, dass die Gehirne von Kindern aus gereist, einem Ort, etwa 230 Kilometer nen nennen das Preisboxen „Ausbeutung Boxcamps teilweise aussehen wie die von nordwestlich von Hua Hin. Sein KampfnaMinderjähriger“. Biau nennt es „sich um Verkehrsunfallopfern. Die Kampfkinder me lautet „Pornmongkol“ und bedeutet haben Probleme, sich Dinge zu merken. die Familie kümmern“. so viel wie „Geschenk Gottes“. Er ist ebenUm 21.30 Uhr hämmert in der Boxhalle falls 35 Kilogramm schwer, mit 1,58 Meter Mindestens 800 000 Minderjährige schaffen in Thailand als Prostituierte an, Hun- Techno aus zwei mannshohen Stereobo- drei Zentimeter größer. Sein Trainer sagt: derttausende Waisenkinder arbeiten für xen, die ersten Zuschauer setzen sich an „Wir sind gekommen, um zu siegen.“ Drogenbanden. Boxcamps sind für Kinder die Tische um den Ring. Darunter sind Die Regeln für Kinderkämpfe sind dieeine Alternative jenseits der Kriminalität. braun gebrannte Touristen, Fünfzig- bis selben wie für Erwachsene. Geboxt wird Zweieinhalb Stunden vor dem Kampf Sechzigjährige in Hawaiihemd oder Leo- maximal fünf Runden à drei Minuten, bezündet Bank ein Dutzend Räucherstäb- pardenkleid, die für ein Ticket 1000 Baht wertet von drei Punktrichtern. Erlaubt ist chen an, er geht auf die Knie und betet alles außer Spucken, Haarereißen, Beißen, vor einem abgewetzten Sandsack für sich Kopfstöße und Schläge oder Tritte in die und seinen Gegner. Hinter ihm liegt auf Genitalien. einem Holztisch ein buntes Arbeitsheft. „Den packst du“, sagt der Trainer und Darauf steht in rot-blauen Druckbuchstamassiert Bank den Nacken. Der Junge ben: „Express English“. steht regungslos da, der Schweiß perlt über Bank mag die Schule nicht. Dort muss sein Gesicht. Später wird er sagen, er habe er still sitzen, was er schlecht kann. Gerade sich in dem Moment vorgestellt, wie er wiederholt er die vierte Klasse. Wenn er bezahlt haben, umgerechnet 26,50 Euro – den anderen „umhaut“. an der Tafel das thailändische Wort für zehnmal so viel wie die Thailänder. Mit Der Ringrichter gibt den Kampf frei. „Himbeere“ schreiben soll, hofft er, dass verschränkten Armen sitzen sie auf Plas- Bank und sein Gegner tänzeln umeinander ihm die Mädchen in der ersten Reihe die tikstühlen und nippen ungeduldig an ihrer herum, ihre Köpfe reichen kaum über das Buchstaben zuflüstern. Seine Tante sagt, Bierflasche. Sie wollen etwas geboten be- oberste Ringseil. Am äußersten Rand des Schuld an der Schreibschwäche sei die kommen für ihr Geld. Rings kauert ein dünner Mann mit ZiegenDas Programm für diesen Abend steht bart und gibt der Gruppe brüllender MänFrühgeburt. Banks Klassenlehrerin meint, er übe zu wenig und fehle oft: „Thaiboxen schwarz-weiß gedruckt auf einem kleinen ner hinter sich wilde Handzeichen, die nur wird wohl seine einzige Chance bleiben, Flyer: Namen und Fotos der Kämpfer für sie verstehen. Es sind die Zeichen, die das neun Begegnungen, die Hälfte von ihnen Wettgeschäft regeln. Geld zu verdienen.“ Bank sagt, er träume davon, einmal so sind Jungen und Mädchen im Alter zwiDie Anzahl der Finger bestimmt die gut zu werden wie Buakaw Banchamek, schen 8 und 15 Jahren. Eine Altersbe- Höhe des Wettbetrags und die Quote. Wer den sie in Thailand verehren wie einen schränkung gibt es nicht, die Eltern müssen 1000 Baht auf Bank setzt, kann nur 300 Popstar. Der Thaiboxer stammt aus einer nur eine Einverständniserklärung unter- Baht gewinnen, etwa acht Euro. Der armen Bauernfamilie und bekommt für ei- schreiben. Gemacht hat das hier keiner. Grund für die schlechte Quote ist simpel: Banks Trainer kneift die Augen zusam- Die Männer wissen, dass Bank härter tritt nen Kampf 32 000 Euro. Er hat Millionen Klicks auf YouTube, er ist Filmstar und hat men, er überprüft das Foto des heutigen als sein Gegner. Sie begleiten jeden seiner Gegners auf dem Flyer. Es kann vorkom- Schläge mit einem lauten „Oii“. selbst eine Boxschule gegründet. Biau glaubt, dass sein Sohn einmal Profi men, dass die andere Ringecke heimlich Die Männer erzählen, sie seien besessen wird und es nach Bangkok schafft. Er er- ihren Kämpfer gegen einen größeren, vom Wetten – „wie alle Thailänder“. Sie mahnte ihn, in der Schule nichts vom Thai- schwereren tauscht, erzählt er. „Wo gemo- tippen am liebsten auf Kinderkämpfe, boxen zu erzählen, das gebe nur Ärger. gelt werden kann, wird gemogelt.“ Dies- „weil die unberechenbarer sind“, sagen sie, Bank erzählte es trotzdem. In der zweiten mal hat er keine Bedenken. „ehrlicher“. Keinen von ihnen interessiert, Bevor der Ringsprecher den ersten dass Wetten im Land seit 1935 offiziell verKlasse schlugen ihn drei Mitschüler, sie wollten testen, was er kann. Bank verprü- Kampf ankündigt, erklingt die National- boten ist. Weil es die Behörden auch nicht gelte alle drei. Am Ende musste sich Biau hymne. Alle in der Boxhalle erheben sich, interessiert. Und so wandern in der Boxvor den Eltern der Jungen rechtfertigen. starren auf das riesige Porträtfoto des kürz- halle in Hua Hin zügig die Geldscheine Er verstand das Theater nicht. In seiner lich verstorbenen Königs Bhumibol, das durch die Reihen. Mittendrin steht Banks Welt kämpft man nicht drei gegen einen. unter der Hallendecke hängt. Bank springt Vater Biau und nimmt einen tiefen Zug Eine Stunde vor dem Kampf hockt vor einem Spiegel von einem Bein aufs von seiner Zigarette. Er hat 2000 Baht auf Bank in der Boxhalle in Hua Hin auf einer andere und boxt gegen sich selbst. seinen Sohn gesetzt.
Wenn er verliert, verlieren auch sein Vater, der Trainer, Freunde, alle, die auf ihn gesetzt haben.
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SANDRA HOYN / DER SPIEGEL SANDRA HOYN / DER SPIEGEL
Boxcamp-Besitzer Biau (3. v. l.) beim Hahnenkampf: „Money, money, money“
SANDRA HOYN / DER SPIEGEL
Thaiboxer Benz: „Der Name steht für Qualität“
Gewinner Bank beim Einsammeln des Trinkgelds: Dreckig gesiegt
Bank provoziert von der ersten Minute an. Immer wieder klopft er sich auf die linke Schulter, um dem Jungen in der blauen Hose zu sagen: Komm, schlag mich doch. Aber die blaue Hose schlägt nur halbherzig. Kurz vor Ende der ersten Runde hat Bank genug vom Abtasten, marschiert auf seinen Gegner zu und knallt ihm den linken Fuß gegen den Kopf. Der Schweiß spritzt, ein lautes „Uuuhhh“ geht durch die Boxhalle. In der Kampfpause greift der Trainer Bank mit beiden Armen um die Brust und wuchtet ihn kurz nach oben, damit er seine Beine ausschütteln kann. Als Bank wieder steht, brüllt er ihn an: „Du musst mehr tun, sonst kommt der noch.“ Drei weitere Runden braucht Bank, um seinen Gegner mürbezumachen. Überfallartig tritt er ihm mit dem Schienbein gegen Oberschenkel und Wade. Er klammert und stößt dem anderen dabei abwechselnd die Knie in die Rippen, sodass man sich fragt, was Knochen eigentlich aushalten. In der fünften Runde trifft Bank seinen Gegner mit dem Fuß unter der Gürtellinie. Der sackt zusammen, kniet auf dem Ringboden, das Gesicht schmerzverzerrt. Der Ringrichter unterbricht den Kampf, ermahnt Bank und schickt ihn in die Ecke. Eine Minute später zwingt Bank den Jungen mit zwei kurzen, gezielten Tritten gegen die linke Wade erneut in die Knie. Der Ringrichter bricht den Kampf ab, Bank gewinnt durch technischen Knockout. Die Menge johlt, beklatscht den Sieger, der dreckig gesiegt hat. Aber das interessiert niemanden. Noch während sein Gegner am Boden liegt, fällt Bank vor ihm nieder, verbeugt sich, zollt ihm Respekt. Danach bekommt er von seinem Trainer einen 100-BahtGeldschein zwischen die Lippen geklemmt. Eine symbolische Aufforderung an die Zuschauer, es ebenso zu tun. Erschöpft schleicht Bank durch die Stuhlreihen der Touristen, um Trinkgeld einzusammeln. 1000 Baht kassiert er, noch einmal so viel wie das Preisgeld. Das meiste davon muss er an seinen Vater abgeben, der davon auch den Trainer bezahlt. Bank wünscht sich ein Fahrrad, aber daraus wir so schnell nichts. Biau baut ein neues Boxcamp außerhalb der Stadt mit modernen Fitnessgeräten und einem größeren Zimmer für die Kinder. Neulich sind die Arbeiter von der Baustelle abgehauen mit dem Lohnvorschuss von 100 000 Baht, rund 2650 Euro. „Money, money, money“, sagt Biau, nie habe er genug davon. Bank, Benz und die anderen Jungs werden noch eine ganze Weile kämpfen müssen. Matthias Fiedler Videoreportage: Ein Trainingstag mit den Thaiboxern spiegel.de/sp082017boxer oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 8 / 2017
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Impressum
Service
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion)
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KOORDINATION INVEST IGATIV Jürgen
(1923 – 2002)
Dahlkamp (
[email protected]), Jörg Schmitt (
[email protected])
CHEFREDAKTEUR
KOORDINATION MEINUNG Markus Feldenkirchen, Christiane Hoffmann
Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.)
MULT IMEDIA Jens Radü; Alexander Epp, ST ELLV. CHEFREDAKTEURE
Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit, Alfred Weinzierl HAUPTSTA DT BÜRO Leitung: René Pfister, Michael Sauga, Christiane Hoffmann (stellv.). Redaktion Politik und Wirtschaft: Dr. Melanie Amann, Sven Böll, Markus Dettmer, Horand Knaup, Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, Christoph Schult, Anne Seith, Britta Stuff, Gerald Traufetter, Wolf WiedmannSchmidt. Autoren, Reporter: Markus Feldenkirchen, Konstantin von Hammerstein, Marc Hujer, Alexander Neubacher, Christian Reiermann, Marcel Rosenbach D E U TS C H L A N D Leitung: Cordula Meyer, Dr. Markus Verbeet, Annette Großbongardt (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldungen). Redaktion: Laura Backes, Katrin Elger, Michael Fröhlingsdorf, Hubert Gude, Charlotte Klein, Petra Kleinau, Gunther Latsch, Miriam Olbrisch, Andreas Ulrich, Antje Windmann, Michael Wulzinger. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Jan Fleischhauer, Julia Jüttner, Beate Lakotta, Bruno Schrep (frei), Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Redaktion: Maik Baumgärtner, Sven Becker, Markus Deggerich, Sven Röbel, Michael Sontheimer (frei), Andreas Wassermann, Peter Wensierski. Autoren, Reporter: Stefan Berg, Martin Knobbe, Jörg Schindler W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler, Susanne Amann (stellv.), Markus Brauck (stellv.). Redaktion: Simon Hage, Isabell Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Müller, AnnKathrin Nezik, Simone Salden, Jörg Schmitt. Autoren, Reporter: Dietmar Hawranek, Michaela Schießl AUS L A N D Leitung: Britta Sandberg, Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Katrin Kuntz, Jan Puhl, Sandra Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Marian Blasberg, Clemens Höges, Ralf Hoppe, Susanne Koelbl, Christoph Reuter WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech KULT UR Leitung: Lothar Gorris, Sebastian Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike Knöfel, Tobias Rapp, Katharina Stegelmann, Claudia Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Nils Minkmar, Elke Schmitter, Volker Weidermann, Marianne Wellershoff GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, Özlem Gezer (stellv.), Guido Mingels (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Hauke Goos, Maik Großekathöfer, Barbara Hardinghaus, Maren Keller, Ansbert Kneip, Dialika Neufeld, Bettina Stiebel, Jonathan Stock, Takis Würger. Autoren, Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Gutsch (frei), Alexander Osang, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp S P O RT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion:
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Dr. Susanne Weingarten (stellv.); Redaktion: Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. EvaMaria Schnurr
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Jensen (stellv.) S C H LU S S R E DA KT I O N Gesine Block; Christian Albrecht, Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Katharina Lüken, Stefan Moos, Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels
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Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Louise Jessen, Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm TITELBILD Arne Vogt; Suze Barrett, Svenja Kruse, Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg REDA KT IONSVERT RE TUNGEN D E U TS C H L A N D BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin;
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Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße 8, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Fax 86679-11 FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch,
Martin Hesse, An der Welle 5, 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Fax 97126820 KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, Fax 9204449 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Anna Clauß, Conny Neumann, Rosental 10, 80331 München, Tel. 089 4545950, Fax 45459525 ST U T TGA RT Jan Friedmann, Büchsen-
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Oratorien und Operetten stellte. Der in Schweden geborene Sänger war klug genug, Wagner-Partien zu meiden, und auch das ermöglichte ihm eine der längsten und erfolgreichsten Sängerkarrieren des 20. Jahrhunderts. Nicolai Gedda starb am 8. Januar in der Nähe von Lausanne. kro EGON SCHWARZ, 94 In letzter Minute floh er 1938 mit seinen Eltern – der Vater war ein jüdischer Kaufmann – aus Wien. Nach abenteuerlicher Reise kam Egon Schwarz schließlich in Bolivien an, arbeitete in Bergwerken und als Wanderarbeiter auch zwischen Chile und Ecuador. Währenddessen las er alles, was ihm flüchtige Bekannte schenkten. Kriminalromane, Thomas Mann, was es so gab. Er las und las, begierig und klug, machte im ecuadorianischen Cuenca sein Abitur, studierte Jura, später in Colum-
bus und Seattle Germanistik. Er lehrte dann Germanistik an der Harvard University, prägte in St. Louis an der Washington University das legendäre Germanistische Institut. Schwarz war ein Pionier der Auslandsgermanistik und stellte in einem Sammelband die Dichter vor, deren Bücher während der Nazizeit verbrannt worden waren. Der Gelehrte war ein großer Erretter verschwundener Werke. Sein eigenes Buch „Unfreiwillige Wanderjahre“ ist eine der erstaunlichsten Exilgeschichten der deutschen Literatur. Egon Schwarz starb am 11. Februar in St. Louis. vw ANNE DORN, 91 Ihr erster Roman „Hüben und drüben“ über eine von der deutschen Teilung zerrissene Familie erschien 1991. Da war die gebürtige Sächsin, die wie ihre Protagonistin seit Jahren als „Abtrünnige“, wie es im Buch heißt, im Westen lebte, bereits 65 Jahre alt, hatte vier Kinder zeitweise allein großgezogen und bei Funk und Fernsehen gearbeitet: Hörspiele und Drehbücher geschrie-
ULLSTEIN BILD
MARKUS SCHOLZ / DPA
MICHAEL NAURA, 82 Jemand wie er wirkte heute aus der Zeit gefallen, hätte er im Radio eine Sendung. Der langjährige Chef der NDRJazzredaktion spulte nicht lapidar ein Programm ab, spielte mal hier die neueste Platte, kündigte mal dort eine aktuelle Tournee an – nein, Nauras Jazzsendungen waren Inszenierungen. Akribisch bereitete sich der autodidaktische Pianist vor, zu jedem Musiker hatte er eine Geschichte zu erzählen. Seine sonore Stimme war ein Markenzeichen, wegen seiner Kompetenz war er weit über die Grenzen Norddeutschlands hinaus eine Instanz, was ihn mitunter auch zu Überheblichkeit verleitete. Naura konnte gnadenlos verreißen, aber auch zärtlich loben. Unter seiner Ägide kamen fast alle Größen des Jazz in die Aufnahmesäle des NDR, um Radio- und Fernsehmitschnitte einzuspielen. Die zunehmende Quotenfixierung seines Haussenders verfolgte er nach seiner Pensionierung 1999 von seinem Bauernhaus bei Husum aus – voller Zorn, wohlgemerkt. Viel lieber schrieb er in den letzten Jahren Texte für die „Zeit“. Michael Naura starb am 13. Februar im nordfriesischen Schwabstedt. jat
INTERFOTO
AL JARREAU, 76 Es sagte viel über den Zustand des amerikanischen Jazz aus, dass in dessen Heimatland kaum jemand Notiz von einem der talentiertesten Sänger jener Zeit nahm. Al Jarreau musste 1976 erst im Hamburger Klub Onkel Pö auftreten, der NDR dieses Konzert aufzeichnen, der Deutsche Siggi Loch ihn bei dem Label WEA protegieren, Al Jarreau einen Deutschen Schallplattenpreis bekommen – bevor die Amerikaner realisierten, wie begabt er war. Der in Milwaukee geborene Pfarrerssohn verstand es wie kein Zweiter, diverse Instrumente nachzuahmen. So improvisierte er Soli, die es eigentlich gar nicht geben konnte, denn er hatte ja nur seine Stimme. Jarreau interpretierte gern Coverversionen wie „Spain“ von Chick Corea, „Take Five“ von Paul Desmond oder „Your Song“ von Elton John. Einem neuen Publikum wurde er mit eigenen, von Pop angehauchten Songs wie „Alonzo“ oder „Boogie Down“ bekannt. Am Ende gewann Al Jarreau sechs Grammys in drei Kategorien – Jazz, Pop, R&B –, was niemand außer ihm schaffte. Stars wie George Benson, David Sanborn oder auch Klassikdiva Kathleen Battle suchten die Nähe zu Jarreau. Im vergangenen Jahr trat er auch vor Barack Obama im Weißen Haus auf, damals schon im Sitzen; wie er auch seine letzte Tournee in Deutschland mit der NDR Bigband nur noch mit Mühen absolvieren konnte. Al Jarreau starb am 12. Februar in Los Angeles. jat
NICOLAI GEDDA, 91 Er beherrschte sechs Sprachen akzentfrei, und sein Opernrepertoire war mit 50 Partien enorm. Mit seiner hellen, biegsamen und ungemein kultiviert geführten Tenorstimme war Nicolai Gedda über Jahrzehnte der ideale Interpret für das französische und leichte italienische und deutsche Fach. Hier setzte er Maßstäbe. Zahlreiche Aufnahmen belegen seine Meisterschaft, die sich auch in den Dienst von
ISOLDE OHLBAUM / LAIF
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Nachrufe
ben, Regie geführt sowie avantgardistische Multimediaprojekte mitgestaltet. Dorn zeigte in dem Roman, wie die unterschiedlichen Systeme die Menschen prägten und den Austausch miteinander erschwerten. Auch ihr Erinnerungsbuch „Geschichten aus tausendundzwei Jahren“ (1992) ist autobiografisch angelegt und erzählt mit präzisen Beobachtungen von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und der Identitätssuche. 2011 veröffentlichte die umtriebige Autorin eine Auswahl ihrer Gedichte („Wetterleuchten“). Anne Dorn starb am 8. Februar in Köln. kle DER SPIEGEL 8 / 2017
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Selige Himmelsmacht Früher wäre alles ganz einfach gewesen: dynastische Heirat, und Frieden in ganz Nordamerika. Bei der Begegnung des kanadischen Premiers Justin Trudeau, 45, weltläufiger Multikultiliberaler mit vollem Haar und Boxkompetenz, mit Ivanka Trump, 35, im Weißen Haus zu Beginn der vergangenen Woche, schien dies eine naheliegende Möglichkeit. Zumindest die Blicke der Prinzessin deuten auf Himmelsmacht und Seligkeit,
wie die Fotos belegen, und da ihr Papa sie eingestandenermaßen liebt, hätte er in früheren Zeiten sicher nicht gezögert, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Märchenhaft standesgemäß außerdem, da Trudeau, Sohn des ehemaligen kanadischen Premiers, die Prinzenrolle auf den attraktiven Leib geschrieben ist. Unter den Tudors wäre das alles kein Problem gewesen: Auszahlung an die lästigen Angetrauten oder ein politischer Prozess mit Scheidung und Verdammung. Und die Kinder auf eine Insel. Aber die Moderne macht alles unnötig kompliziert. es
Rollentausch
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Die Frau des ehemaligen britischen Premierministers beginnt ein neues Leben als Modedesignerin. Vergangenen Montag stellte Samantha Cameron, 45, ausgewählte Stücke ihres Labels Cefinn im Londoner Kaufhaus Selfridges vor. Berufstätige Frauen sind die Zielgruppe. Die meisten Stücke können in der Waschmaschine gereinigt werden, sie kosten zwischen 100 und 450 Pfund. Cameron hat die vergangenen Monate viel Zeit in ihrem Büro verbracht,
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während ihr Mann sich um den Nachwuchs kümmerte. Dass er gerade so viel Zeit habe, sei natürlich praktisch, sagt die Autodidaktin. Erst 2010, als sie in 10 Downing Street wohnte, nahm sie Nähunterricht, während die Kinder in der Schule waren. Damals spielte sie zum ersten Mal mit dem Gedanken, ein Label zu gründen, und wollte die Grundlagen des Handwerks verstehen lernen. Sie sei ungeduldig und wohl nicht sehr geschickt, gibt sie heute zu, sie habe viel geflucht in der Zeit. ks
Liebesgabe Der Twitter-Mitbegründer und Softwareentwickler Jack Dorsey, 40, hat sich selbst ein Valentinsgeschenk gemacht – für rund sieben Millionen Dollar. Die Summe investierte der Amerikaner in TwitterAktien und verbreitete die Neuigkeit am vergangenen Dienstag unter dem Hashtag #LoveTwitter. Das muss wohl wirklich Liebe sein: Werbeeinnahmen sinken, die Nutzerzahlen entwickeln sich schlechter als erhofft, Umsätze gehen zurück. Dass das
Unternehmen nicht einmal den „Trump-Effekt“ nutzen konnte, also keinen wirtschaftlichen Vorteil aus der ebenso manischen wie öffentlichkeitswirksamen Nutzung des Dienstes durch den US-Präsidenten zog, werten Anleger als besonders bedenklich. Dorsey versucht offensichtlich, mit dem Aktienkauf Moral und Stimmung zu heben. Der TechMilliardär ist der achtgrößte Aktionär. Sein Vermögen hat sich laut „Forbes“ seit Anfang 2015 mehr als halbiert: auf 1,3 Milliarden Dollar. ks
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL
Personalien
Der Augenzeuge
„Einfach gut drauf“ Neue Freiheit
EPA / REX / SHUTTERSTOCK
Sie ist jetzt 49 Jahre alt, und natürlich weiß Nicole Kidman, wie rar gute Rollen für Frauen jenseits der vierzig sind. Deshalb gibt sie sich selbst Jobs: über ihre Produktionsfirma Blossom Films. Diesen Sonntag startet bei Sky die HBO-Miniserie „Big Little
Lies“ nach dem gleichnamigen Bestseller der Australierin Liane Moriarty („Tausend kleine Lügen“), die von Blossom Films koproduziert worden ist. Kidman spielt in der Geschichte über eine scheinbare Kleinstadtidylle, die sich zum Albtraum entwickelt, eine der drei weiblichen Hauptrollen. Die anderen sind mit Shailene Woodley und Reese Witherspoon besetzt. Kidman, die sich als Produzentin gern einmischt, ist so zufrieden mit dem Ergebnis, dass sie jetzt mehrere Romane mit starken weiblichen Charakteren für die Filmrechte optioniert hat. Die Oscarpreisträgerin sagte der „New York Times“, dass sie keinen bestimmten Karriereplan verfolge. Sie suche einfach nach interessanten Stoffen und talentierten Regisseuren, die noch unbekannt sind. Sollte sie nicht fündig werden, könne sie sich immer noch nach Hause in Nashville zurückziehen und sich um ihre beiden jüngeren Töchter kümmern. ks
Der 16-jährige Mohammed Al Ayd Al Amour, Flüchtling aus Syrien, fuhr beim Karnevalsumzug in Schönenbach im Bergischen Land auf dem Wagen des Prinzen mit: Er gehörte zum Gefolge des Dreigestirns Prinz Christian II., Bauer Thorben und Jungfrau Tine.
„Als die Aufforderung des Landesamts für Zentrale Polizeiliche Dienste bekannt wurde, dass Flüchtlinge sich von Karnevalsveranstaltungen fernhalten sollen, bin ich ziemlich erschrocken. Ich sollte doch auf dem Prinzenwagen mitfahren! Aber die Schönenbacher Karnevalisten sagten: Jetzt erst recht, so einen Unsinn lassen wir uns nicht vorschreiben. Kurz darauf wurde die Anweisung auch wieder einkassiert. In Schönenbach sind meine Familie und ich seit Oktober 2015 zu Hause. ,Du kommst als Freund und nicht als Flüchtling‘, mit diesen Worten begrüßte mich der Präsident der Karnevalisten hier. Und so wurde ich Senatsmitglied. Das sehe ich schon als eine große Ehre, ich, der Junge aus Daraa, wo der syrische Aufstand entstanden ist. Erst mal wurde ich eingekleidet, das Gefolge trägt schwarzen Anzug, weißes Hemd mit roter Fliege und das weiß-rote Schiffchen auf dem Kopf. Zum Glück gab es auch einen schwarzen Mantel, es kann ziemlich kalt werden auf so einem offenen Wagen – und morgens hatte es noch geschneit. Der Schönenbacher Zug ist immer der erste im Rheinland, damit die Leute von anderswo hier mitfeiern und wir zu deren Zügen gehen können. Ich weiß zwar nicht genau, was Karneval eigentlich bedeutet. Aber es ist toll und macht einfach Spaß. Die Leute sind gut drauf, sie tanzen und singen. Es spielt keine Rolle, welche Religion du hast oder woher du kommst, wir sind alle Menschen, die miteinander feiern. Ein paar Lieder kann ich schon. Im vorigen Jahr haben meine Geschwister und ich den Zug zum ersten Mal erlebt. Das Kamellewerfen hat uns erst gewundert, wir haben dann ein paar aufgehoben, vorsichtig probiert und festgestellt: Das kann man essen. In den nächsten Tagen haben wir als Gefolge noch einige Auftritte. Während der Woche kann ich leider nicht dabei sein. Die Schule geht vor, ich will in diesem Jahr den Hauptschulabschluss schaffen. Aber an der Nubbelverbrennung in der Nacht zum Aschermittwoch nehme ich wieder teil. Dann ist der Karneval vorbei.“ Aufgezeichnet von Barbara Schmid
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„Gegenüber Kanzlerin Merkel hat der Amtsbewerber Schulz nur den höheren Unterhaltungswert. Allein deshalb kippt Merkel aber nicht.“ Norman Schmitt, Erkrath (NRW)
Haben Sie bei der Titelfrage nicht Ausrufezeichen und Fragezeichen verwechselt?
Schulz hat die Frage, ob er ein Populist sei, treuherzig verneint; und das war, wie sich im Verlauf des Interviews zeigte, keineswegs gelogen. Denn mit seinen rührend vorgetragenen Beteuerungen, er wisse, wie es dem kleinen Mann gehe, ist es ihm gelungen, sich über Populismus hinweg zu unverhohlener Anbiederung zu steigern.
Was ist Schulz nun? Ein Stadionsprecher bei einem Bundesligaspiel oder ein Bratwurstverkäufer auf einem Markt, der seine Ware anpreist? Nur wenn die Sozialdemokratie die Hartz-IV-Gesetze in den Mülleimer der Geschichte wirft, hat sie eine Chance, den Kanzler der Republik zu stellen.
Peter Wachter, Nürnberg
Henning Behrens, Hamburg
Angela Burr, Bonn
Nein, sie kippt nicht, kanzlerdämmern tut Merkel allerdings schon, freilich ein Prozess, der sich quälend lang wohl hinziehen wird. Ihr könnt noch so brillant anschreiben und „anzeichnen“ gegen sie: Wir alle und der Scheinriese werden wohl noch lange zu leiden haben an ihr.
Die CSU hat ihre Obergrenze erreicht. Die freistaatlichen Rechtsausleger sollten für mindestens eine Legislaturperiode gezwungen werden, sich in ihre Alpenfestung oder besser in ihre Bierzelte zurück-
Ich lasse mich von der Begeisterung für Schulz nicht anstecken, halte ihn dennoch für die bessere Alternative gegenüber Merkel. Die Bemerkungen Schäubles zu Schulz kann ich nicht gutheißen. Bei der CDU herrscht mittlerweile wohl blanke Panik. Wie lange halten die Treueschwüre gegenüber Merkel noch an? Ich gebe mal eine gewagte Prognose ab: Wir werden ein Kanzlerduell Schäuble gegen Schulz erleben.
Hau drauf Nr. 7/2017 Titel: Merkeldämmerung – Kippt sie?; Finanzminister Wolfgang Schäuble attackiert den neuen SPD-Kanzlerkandidaten Nr. 6/2017 SPIEGEL-Gespräch mit Martin Schulz
Dr. med. Peter Hornung, Aichach (Bayern)
Nicht Frau Merkel ist der Grund, dieses Mal nicht die CDU zu wählen. Wer will denn schon ernsthaft, dass Herr Seehofer in diesem Land noch etwas zu sagen hat?
HARALD TITTEL / DPA
Alfred Kastner, Weiden (Bayern)
Anna Oberdörfer, Eberhardzell (Bad.-Württ.)
Da Seehofer nicht in eine Regierung eintreten will, wenn die 200 000-Obergrenze für Flüchtlinge im Koalitionsvertrag nicht vereinbart werden kann, so wäre doch eine Koalition von SPD und CDU mit einem Kanzler Martin Schulz möglich, wobei die CDU als Juniorpartner und die CSU gar nicht vertreten sein wird. Felix Kötting, Havixbeck (NRW)
Schulz ist nur deshalb so stark, weil viele Bürger das Gesicht Merkels nicht mehr sehen wollen. Es war einfach lange genug. Dieter Bogedain, Überlingen (Bad.-Württ.)
Das Interview hat mich endgültig in meiner Meinung bestärkt, dass wir nach der großen Machttaktikerin Angela Merkel mit Martin Schulz den größten Dampfplauderer als Bundeskanzler bekommen würden. Rainer Trendelberend, Düsseldorf
Schulz kann die Kanzlerin kippen; da sind sich die Medien sicher. Genauso sicher waren sie sich, dass es keinen Brexit und keinen Trump als US-Präsidenten geben würde. Angela Merkel kann also aufatmen.
Schulz-Anhänger
zuziehen. Leider kann dies nur gelingen, wenn man Merkel die Zustimmung verweigert. Sie hätte die Trennung von der CSU vollziehen sollen und nicht, wie bei vielen anderen richtigen Positionen, auf halbem Weg stehen bleiben dürfen. Hans-Jürgen Sippel, Georgsmarienhütte (Nieders.)
Bizarr, dass Schulz so tut, als würde Deutschland auseinanderfallen. Das stimmt ja nun gar nicht. Karin Buttigieg, Vorwerk (Nieders.)
Schulz ist auf dem richtigen Weg. Er sollte noch den unwürdigen Umgang des SPDEstablishments mit Lafontaine beenden, eine Friedens-Cohiba mit ihm rauchen, dazu ein Gläsle alkoholbefreiten ROTkäppchensekt. Ingo Roth, Freiburg im Breisgau
Herr Schulz ist der Garant dafür, dass die SPD ihren Status als Volkspartei nicht verlieren wird. Mehr wird er nicht leisten können. Welcher Wähler wird das Wahlprogramm der SPD wirklich lesen?
Die SPD muss völlig Schulz-besoffen sein, wenn sie akzeptiert, dass dieser den immerhin bedeutenden Einfluss der SPD in den vielen Jahren der Großen Koalition kleinredet und dabei noch Applaus erhält, nicht nur von den eigenen Genossen, die damit auch ihre damalige und heutige Führungsmannschaft desavouieren, sondern auch von der Öffentlichkeit.
Sonja Heiden, Dortmund
Herbert Nölting, Hamburg
Rolf Hospach, Laupheim (Bad.-Württ.)
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Nachdem Schulz die SPD wieder zum Leben erweckt hat, sieht die Union ihre Felle davonschwimmen und greift in Panik zu Mitteln, die sie perfekt beherrscht: immer „feste druff“, wird schon was hängen bleiben. Gerhart Schreiber, Gütersloh
Mit den für mich unfassbaren Aussagen des Bundesfinanzministers hat hoffentlich kein schmutziger Wahlkampf begonnen. Deutsche Politiker demokratischer Parteien mit den Aussagen und Reaktionen von Trump gleichzusetzen ist perfide. Paul Sehl, Düsseldorf
Anstatt Größe zu beweisen und Martin Schulz als einen respektablen Gegner zu sehen, verfällt auch Schäuble der reflexhaften Verweigerung der Anerkennung und dem politischen „Hau drauf, und lass dabei kein gutes Haar am Gegner“. Antje Abels-Wieck, Melsdorf (Schl.-Holst.)
Absolut niedrig im Niveau war das Bashing des designierten Kanzlerkandidaten der SPD; außerdem zeigt Wolfgang Schäuble damit einen erheblichen Mangel an Souveränität. Judith von Oepen, Mönkeberg (Schl.-Holst.)
Es stellt sich die Frage, ob die CDU gut beraten ist, einen Bluthund, der sich trotz aller Verdienste für die Partei um den Lohn einer Kanzlerschaft betrogen fühlt, auf den politischen Gegner zu hetzen. Willi Nethen, Kempen (NRW)
Briefe
Nr. 6/2017 Erstklassiger Jurist und wütender Kolumnist – die zwei Gesichter des Bundesrichters Thomas Fischer
Nach 30 Jahren Verteidigertätigkeit kann ich nur feststellen: Ich wünschte mir mehr Richter am Bundesgerichtshof vom Schlage eines Thomas Fischer. Jahrzehntelang hatte man den Eindruck, in Karlsruhe sitzen nur Richter, die so verstaubt sind wie manche der Gesetze, die sie anwenden müssen. Ralph Dobrawa, Gotha
Vielleicht ist dieser Hohepriester des Rechts lediglich so eine Art Lady Gaga für Deutsche? Vor allen Dingen jedoch ist er eine Beleidigung für alle wahren Rocker. Hans Gerd Göbert, Remscheid
Ich habe gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil es stark religiös motiviert ist und Grundrechte einschränkt.
Super getroffen
Dr. Wolfgang Klosterhalfen, Düsseldorf
Meine Erfahrungen korrespondieren mit Ihrer Beobachtung, dass Germanisten in den öffentlich geführten Diskursen so gut wie keine Rolle spielen. Es liegt mir fern, gerade junge Leute – als 70-Jähriger quasi naserümpfend – als durchweg ungebildet oder
Nach der Lektüre wird mir vor meinem eigenen Ende angst und bange. Klare und rechtlich einwandfreie Entscheidungen zur Palliativmedizin und Sterbehilfe fehlen mehr denn je. Im Gegenteil: Palliativmedizin und Sterbehilfe werden gegeneinander ausgespielt. Aber es gibt auch die „Deklaration der Menschenrechte Sterbender“, die bereits 1975 in den USA von Palliativmedizinern erarbeitet wurde und die unter anderem beinhaltet: „Ich habe das Recht, schmerzfrei und in Frieden und Würde zu sterben.“
Nr. 6/2017 Die Krise der Germanistik
TIM WEGNER / DER SPIEGEL
Gehobenes Duckmäusertum
Ursula Thielemann, Hamburg
Ein Richter braucht nicht nur juristisches Wissen, sondern auch Persönlichkeit mit Empathie sowie natürliches Rechts- und Urteilsvermögen. Wenn aber die Äußerungen an Verstand und Logik im Vergleich zu so einer hohen Position hinterherhinken wie bei Fischer, sind Zweifel angebracht. Denn exzellenter Jurist und unlogischer, pöbelhafter Autor vertragen sich nicht. Wilhelm Kütt, Stuttgart
So ist das halt nicht Nr. 6/2017 Essay von John Raulston Saul: Warum Kanada die Integration von Flüchtlingen so gut gelingt
Die Situation in Kanada mit der hier zu vergleichen ist aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen absurd. Tausende Ozeankilometer schützen Kanada vor der Migration aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Horst Albrecht, Düsseldorf
Wir können Fischer nicht dankbar genug sein, dass er seine scharfsichtigen und nachdenklichen Geistesfrüchte allen Tischsitten des gehobenen Duckmäusertums zuwider und unabhängig von drohendem Unmut oder Applaus von der falschen Seite zu Gehör bringt. Nicht Schelte sollte die Reaktion sein, sondern Auseinandersetzung, aber mit der Sache und nicht mit der Person.
Den Deutschen würde es auch sehr gefallen, wenn wir uns diejenigen raussuchen könnten, die wirklich unseren Schutz benötigen, nämlich Kinder und Familien. Nur: So ist das halt in Europa nicht. Michael Benson, Greven (NRW)
ASHLEY GILBERTSON / VII / REDUX / LAIF
Frank Darchinger, Bonn
Schmerzfrei und in Frieden Nr. 6/2017 Die Neuregelung der Sterbehilfe kriminalisiert Ärzte und schadet den Patienten
Ja, das Gesetz ist schlecht gemacht, schlampig formuliert, unklar in der Zielsetzung und ein Fremdkörper im System des deutschen Strafrechts. Wie schon bei seiner Entstehung vorhergesagt, verunsichert es die Palliativmediziner und erschwert daher die schmerzfreie Begleitung bis zum Lebensende, die eine zivilisatorische Errungenschaft ist. Damit ist es kontraproduktiv zu seinem erklärten Ziel. Wegen der vermeintlichen Gefahr der Fremdbestimmung wird der Wille der Betroffenen übergangen. Sie werden zu Leiden und Entwürdigung gezwungen und haben das hinzunehmen. Dr. jur. Bernhard Labudek, München
Syrische Flüchtlingsfamilie in Kanada
Die Syrer in Kanada werden nach Religion und Ausbildung ausgewählt – Rosinenpickerei, was die Integration einfacher macht. Jeroen van Klinken, Nieuwegein (Niederl.)
Das müsste jeder Abgeordnete lesen, es trifft viele wunde Punkte der Einwanderungspolitik, der unterlassenen Integrationskultur – und hat konkrete Lösungsvorschläge. Georg Kääb, München
Korrektur zu Heft 7/2017, Seite 72: „Der entzauberte Vollstrecker“
Ann-Kristin Achleitner gehörte im September 2015 nicht dem Aufsichtsrat der Deutschen Börse an.
Germanistikstudent in Frankfurt am Main
nicht bildungswillig zu bezeichnen. Aber man hat oft den Eindruck, der richtige Gebrauch der elektronischen Medien würde bereits als Inhalt an sich angesehen und der „Bildungskram“ nur als unnötiger Ballast. Reineke Schmoll-Eisenwerth, Niederkassel (NRW)
Die Germanistik sollte sich den neuesten digitalen Medien und Inhalten und ihren Vertretern öffnen. Neue Ansätze – neue Konzepte! „Der Komplexitätsgrad von Kafka-Deutungen ist nicht mehr steigerbar!“ Richtig – und das gilt auch für andere vor mehr oder weniger längerer Zeit renommierte Autoren. Also auf in die digitale Welt und linguistische Probleme auf diesem Gebiet angehen! Fake News in den sozialen Medien – welche Sprache wird da gebraucht? Wie kann man das erkennen? Renate Breuel, Kaiserslautern
Man fühlt sich als Germanist in seiner Arbeit durch Ihre Darstellung super getroffen. Und unsere armen Studierenden in ihrer verblendeten Zufriedenheit – totale Loser! Prof. Dr. Moritz Baßler, Münster
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wir brauchen fachlich exzellente Germanisten, die die Landessprache vermitteln können, in der Schule und außerhalb. Unsere Rechtschreibung ist in freiem Fall. Grammatik, Wortschatz und Stilvermögen müssen viel intensiver geübt werden als bislang – eine Mammutaufgabe. Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt, Alfter (NRW)
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe (
[email protected]) gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und unter www.spiegel.de zu archivieren. DER SPIEGEL 8 / 2017
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Zitate
Aus einer dpa-Meldung: „Einen Tag nach dem tödlichen Einsturz eines Hochhauses in Teheran sind die Räum- und Bergungsarbeiten nur langsam vorangekommen.“
Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) zum SPIEGEL-Titel „Sankt Martin“ über Martin Schulz (Nr. 5/2017): Das Magazin DER SPIEGEL macht den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zum „Sankt Martin“ – und löst mit dieser Würdigung des Politikers aus Würselen Verwunderung beim Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki aus. „Dabei sind ja eigentlich wir von der katholischen Kirche für Heiligsprechungen zuständig“, sagte der Erzbischof am Sonntag dem Kölner Bistumssender domradio. „Aber vielleicht weiß der SPIEGEL schon mehr?“
Schild der Stadt Karlsruhe Aus den „Husumer Nachrichten“: „Der Handlauf, der an der Gewässerkante dafür sorgen soll, dass bewegungsbeeinträchtigte Menschen ins Wasser fallen können, wurde komplett zerstört.“
Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ Aus der „Welt“ über Prinzessin Caroline: „Sie zog sich in die Provence zurück, wo sie ganz unglamourös und bodenständig lebt. Olle Klamotten, Pferde, Dackel, Philosophen auf dem Nachttisch.“
Aus einer Anzeigenbeilage der „Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln“
Die britische „Sun“ zum SPIEGEL-Bericht „Ich will es nicht machen“ über den Fußballer David Beckham (Nr. 6/2017):
Am 25.2.2017 in der nächsten SPIEGELAusgabe 9/17
Themen im März: „Was ist deutsch?“ Dieter Borchmeyer fragt nach dem Selbstverständnis einer Nation
Hinweis in „Zeitbild Medical“, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, zum Thema Kinderwunschbehandlung: „,Wir wünschen uns ein Kind …‘ in den Sprachen: Deutsch, Russisch, Türkisch.“
Dirk Kurbjuweit über James Gordon Farrells Romantrilogie eines untergehenden Weltreichs
Aus der „Ostfriesen Zeitung“
Volker Weidermann über Benjamin Leberts „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“
Aus dem „Nordbayerischen Kurier“: „Der Bund richtet eine Dokumentationsund Beratungsstelle für den Wolf ein.“
Außerdem: neue Krimis und Thriller
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DER SPIEGEL 8 / 2017
Vergangene Nacht wurde die Polizei eingeschaltet, weil der Exkapitän der englischen Nationalmannschaft befürchtete, dass weitere Enthüllungen aus einem Datensatz geleakter Mails zwischen ihm und seinen Beratern kommen könnten. Das Dossier, das wie eine Bombe eingeschlagen hat, war bei der Website Football Leaks gelandet und von europäischen Medien, darunter dem SPIEGEL, veröffentlicht worden. Die Literaturwissenschaftler Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke in der „Frankfurter Allgemeinen“ zum SPIEGEL-Bericht „Schiller war Komponist“ über das Studienfach Germanistik (Nr. 6/2017): Wir Schattengewächse stehen plötzlich im ungewohnt grellen Licht der Öffentlichkeit … Auf dem Cover des Nachrichten-Magazins prangt Donald Trump, der in IS-Manier die Freiheitsstatue enthauptet hat, und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, ist auch die „Krise der Germanistik“ zurück – in einer scharfen Diagnose (um nicht zu sagen Obduktion) des Germanisten und SPIEGEL-Redakteurs Martin Doerry. Und wir halten namentlich als vermeintliche Stichwortgeber her oder auch als Symptome: in den wenig schmeichelhaften Rollen eines Bestattungsunternehmers vom Bodensee, der offenbar rasch den Sargdeckel über dem Patienten zugeknallt sehen will, und zweier Frankfurter Towers von überschaubarer Höhe, denen zur Situation ihres Fachs so visionäre Dinge einfallen wie, dass Studierende verflucht oft auf ihr Handy schauen (in der Tat ein genuin germanistisches Phänomen) und am Beginn ihres Studiums nicht selten verwirrt sind.
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