Werner Pieper: Nazis Nazis on Speed Krieger auf Drogen 31.10.2002 | Oliver Köhler
Zwei neue Sammelbände enthüllen, wie systematisch die Nationalsozialisten bei der Stärkung ihrer Truppen vorgingen. Für viele war es der amerikanische Krieg in Vietnam, der für immer das Bild des Soldaten verändern sollte. Anstatt nur dem Klischee des saufenden, prügelnden, aber doch ehrenwerten Schlachtkumpanen zu entsprechen, war der typische Vietnam-GI (oder "Grunt", wie er im Militärjargon Militärjargon bezeichnet wurde) vor allem durch seine Verzweiflung gekennzeichnet. Diese Verzweiflung artete in nicht wenigen Fällen in Rauschmittelsucht aus. Dass diese Information überhaupt an die die Oberfläche kam, verdanken wir heute unter anderem den Erzählungen des Journalisten und Drehbuchautors Michael Herr. Drogen im Militär: erst seit Vietnam? In seinen Artikeln für die Zeitschrift Esquire, die in dem Buch "Dispatches" zusammengefasst und in dem Film "Apocalypse Now" verarbeitet wurden, verrät er, was von der US-Regierung weitgehend verschwiegen wurde. Während Alkoholkonsum in den Anfangsjahren des Krieges zwischen 1965 und 1968 geduldet und oft sogar unterstützt wurde, nahm ab 1968 unter den in Vietnam stationierten Streitkräften der Gebrauch von Marihuana und Heroin stark zu. Bis 1971 hatten Forscher bei über fünfzig Prozent der vorwiegend jüngeren Soldaten einen regelmäßigen Konsum von Rauschmitteln festgestellt. Die Beweggründe waren zweierlei: zum einen zur Beruhigung nach ihren strapaziösen Einsätzen, zum anderen zum Wachhalten und zur Schärfung der Aufmerksamkeit für die nächtlichen Wachen im Dschungel. Schnell wurde der Grunt zum Prototyp des drogenabhängigen Rekruten ernannt. Dabei gehörte er in Wirklichkeit nur zu den Nachfahren einer Soldatenkaste, die auf den Rauschmittelkonsum sowohl zu Kampfals auch Entspannungszwecken zurückgriff: Den Nazi-Streitkräften. Du hast die Pflicht, gesund zu sein! Wie die zweiteilige Neuerscheinung "Nazis on Speed. Drogen im 3. Reich" Reich" verrät, handelt es sich bei dem Phänomen einer aufgeputschten Wehrmacht keineswegs nur um ein Gerücht. Die beiden Bücher von Werner Pieper umfassen eine außerordentliche Sammlung von Originalbeiträgen aus den Jahren 1928 bis 1945 (Band II) und aktuellen Expertenessays (Band I). Es ist das erste Mal, dass Dokumente und Berichte über dieses Thema umfassend veröffentlicht werden. Dennoch: Der einfache Wehrmachtssoldat als Vorreiter für den psychedelischen Grunt? Diese Idee hört sich abwegig an. Schon alleine deshalb, weil die Konzepte
Rausch und Rauschmittel nicht gerade mit nationalsozialistischem Gedankengut vereinbar waren. Wie die leider oft unverhohlen polemischen Essays in Band I verraten, verurteilten verurteilten führende NS-Wissenschaftler zur Zeit der Machtergreifung das nach dem Ersten Weltkrieg besonders verbreitete Suchtverhalten als "debil". Zusätzlich Zusätzlich zu ihrem Hass auf Marxisten, Juden und sogenannte "asoziale" Elemente (zum Beispiel Prostituierte, Bettler und Alkoholiker) verurteilte die nationalsozialistische Moral deprimierte Kriegsveteranen, die dekadenten Kokainexzesse im Berlin der 20er-Jahre und den weitverbreiteten Alkoholismus in der Bevölkerung. Der Konsum von Rauschmitteln trage - scheinwissenschaftlich untermauert - zur Beschädigung des "deutschen Erbgutes" bei, demnach zur "Beschmutzung der Rassenhygiene". Mit Parolen wie "Volksgenossen, denkt an Eure biologische Wehrpflicht!" setzte die NS-Führung den Tabak-, Alkohol-, und Drogenkonsum einem "jüdischmarxistischen Komplott" gleich. Kurz: Wer seinem Körper Schaden zufügte, schadete auch dem Gemeinwohl. Mit Pervitin zum Sieg Davon ausgenommen waren offenbar KZ-Häftlinge und Streitkräfte. Hitler hatte zwar noch 1942 behauptet, es sei falsch, "zu glauben, der Soldat könne nicht leben, ohne zu rauchen. Es war ein Fehler […], jedem Soldaten soundsoviel Rauchwaren zu geben". In akribischer Recherchearbeit verrät aber Pieper, wie die Wehrmachtssoldaten mit dem Amphetaminwirkstoff Pervitin Pervitin ausgestattet wurden, wie sie bei der Heimkehr nur noch mit Schnaps fröhlich wurden, wie die Luftwaffen-Elite Einsätze mit Hilfe von Aufputschmitteln flog und wie Empfehlungen zur Anwendung von Genuss- und Reizmitteln von oberster Ebene geäußert wurden. Für "nächtliche Gewaltmärsche", Wachdienste auf Kriegsschiffen und vor allem als "Wachhaltemittel im Flugbetrieb" seien niedrige Dosierungen Pervitin ratsam, schrieb 1944 in der Zeitschrift "Wehrhygiene" der Flottenarzt F. Grunske. Für "Botengänge im heißen afrikanischen Klima" eigne sich der Genuss der anregenden Kat-Wurzel. Opiate hingegen sollten wegen der Suchtgefahr stets als Genussmittel bekämpft werden. Als Arznei seien sie hingegen unersetzbar - wenn sie unter unter der Aufsicht des Sanitätspersonals eingenommen werden. Im übrigen haben es die Alliierten im Krieg den Nazis abgeguckt - wie in "Nazis "Nazis on Speed" dargelegt wird und ihre Jungs genauso mit Speed versorgt. Ob und wann es darüber was zu lesen gibt? Das ist schon die nächste Frage von vielen, die Werner Piepers Antholgie aufwirft. Oliver Köhler (30) schreibt sch reibt für De:Bug, telepolis und MSNBC.com.
Werner Pieper: Nazis on Speed - Drogen im 3. Reich (Grüne Kraft / Edition Rauschkunde 2002, Band I 20 €, Band II 12.50 €)
Michael Herr: An die Hölle verraten - Dispatches (Rowohlt 1987, die deutsche Ausgabe ist vergriffen und nur antiquarisch zu kriegen, zum Beispiel über www.zvab.de)
www.gruenekraft.net Mehr über den 1971 gegründeten Verlag "Grüne Kraft" von Werner Pieper.
http://www.fluter.de/de/sucht/buecher/1350/ ©2001-2012 fluter.de / Bundeszentrale für politische Bildung
Originalarbeit S. 29 - 31
Drogen im Nationalsozialismus Rezension und Anmerkungen zu: Pieper, W. (Hrsg.): Nazis on Speed. Drogen im 3. Reich, Bd. I und II. Löhrbach, 2002.
Martin Tauss Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Sozialgeschichte
Zusammenfassung Mit einer zweibändigen Publikation über Drogen im N atio- nalsozialismus betritt Herausgeber Werner Pieper bislang wenig erforschtes Terrain. Verschiedene Ebenen des The- mas werden darin erstmals zusammengeführt: das seit 1934 institutionalisierte NS-Programm der „Rauschgiftbe- kämpfung“ einerseits, der Drogengebrauch der NS-Elite, der Drogeneinsatz an der Front und die Drogenversuche im Rahmen der NS-Medizin andererseits. Form und Inhalt der Publikation werden in diesem Beitrag kritisch diskutiert. Historisch wertvoll ist die umfangreiche Sammlung politi- scher, medizinischer, rechtlicher, literarischer und krimino- logischer Dokumente; Analysen und Thesen hingegen bleiben Mangelware.
In der historischen Drogenforschung sind Kriegszeiten aufgrund ihres dynamischen Effekts hinsichtlich der Verbreitung und des Konsums von psychoaktiven Stoffen bekannt. Dieser Wirkungszusammenhang lässt sich anhand zahlreicher Beispiele von der Antike bis in die Zeitgeschichte veranschaulichen: Man denke an die gezielte Verwendung stimulierender und/oder angstlösender Mittel (z.B. Opium bei den Eroberungszügen Alexanders des Großen, Opium und Kaffee in den osmanischen Heeren, Kokain bei deutschen und französischen Kampffliegern im Ersten Weltkrieg), an die Etablierung neuer Konsumsitten (der Siegeszug der Zigarette im Krimkrieg und im Ersten Weltkrieg), an die unkritische medizinische Verwendung von schmerzstillenden Mitteln (z.B. Morphium im amerikanischen Sezessionskrieg oder im deutsch-französischen Krieg) oder an die Drogenprobleme von Soldaten in Extremsituationen (z.B. die Heroinepidemie amerikanischer GIs im Vietnamkrieg). Die psychologische Grunddisposition der Drogenkonsumenten in Kriegszeiten ist geprägt durch Stress, Angst, Schockerlebnisse und existentielle Bedrohung, durch die Aufweichung sonst gültiger Normen und insgesamt niedrigere Hemmschwellen. Dies und die im Kriegsfall leichtere Erreichbarkeit der Drogen ergeben eine nahezu ´ideale´ Ausgangslage für den Drogeneinstieg. Somit kommen oft auch jene Bevölkerungsgruppen mit Drogen in Kontakt, die normalerweise kaum Zugang zu ihnen hätten, da die materiellen Voraussetzungen, die notwendige Mobilität, aber auch die Vorbildwirkungen dafür fehlen. Die neu erworbenen Verhaltensmuster bestimmen dann aber weit über die Dauer der Kriege hinaus die generelle Drogeneinstellung,
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die Präferenz für bestimmte Stoffe und Konsumformen sowie die Marktentwicklung (Vgl. Bolognese-Leuchtenmüller 1992). Dass die Zeit der NS-Herrschaft ein schlecht ausgeleuchtetes Kapitel deutscher Drogengeschichte ist, hat der Herausgeber eines jüngst erschienenen Sammelbands zu diesem Thema mit untrüglichem Instinkt erkannt. Werner Pieper, Ex-Dealer und Leiter eines deutschen Buch- und CD-Verlags, versteht sich u.a. als Publizist für „Nutzer psychoaktiver Substanzen“ und hat in seinen bisherigen Veröffentlichungen zahlreiche Tabus lustvoll aufgegriffen. Mit dem Projekt über Drogen im 3. Reich begibt er sich nun waghalsig auf ein weitläufiges Terrain, dessen Koordinaten erst ansatzweise vermessen worden sind. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Drogenkulturen und Drogengeschichte hat im deutschsprachigen Raum – verglichen mit der angloamerikanischen Forschung – auffallend spät eingesetzt. Auffallend auch, dass in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur noch keine umfassende Arbeit über den Stellenwert von Drogen im Nationalsozialismus greifbar ist. Es blieb einem anarchischen Verleger wie Pieper vorbehalten, verschiedene Ebenen des Themas in einer Publikation zusammenzuführen: das seit 1934 institutionalisierte NS-Programm der „Rauschgiftbekämpfung“ einerseits, den Drogengebrauch der NS-Elite, den Drogeneinsatz an der Front und die psychopharmakologischen Tier- und Menschenversuche im Rahmen der NS-Medizin andererseits. Der Herausgeber weiß, dass seine Arbeit weder konsistent akademisch noch erschöpfend ist; viel eher handelt es sich um ein Sammelsurium von „Trophäen“ und „Fundstücken“, um das Ergebnis einer „mehrjährigen Jagd“, um eine „sub jektive, interdisziplinäre Zusammenstellung“ unterschiedlichster Themengebiete: „Dabei fehlt mir das methodische und fachliche Wissen, ein wenig die akademische Sorgfalt, vor allem aber ausreichend Zeit und Geld, Bücher zu erstellen, die ich selber als ´definitiv´ bezeichnen würde.“ (16f.). Dies ist eine durchwegs realistische Einschätzung, wenngleich selbst die Sorgfalt stark zu wünschen übrig lässt. Zitate etwa werden oft nur unzureichend gekennzeichnet oder überhaupt nicht ausgewiesen, z.T. auch unvollständig oder doppelt präsentiert. Die Grenzen zwischen Quellen, Sekundärliteratur und dem Fließtext des Herausgebers sind demnach schwer zu erkennen. Das Spektrum der Autoren erscheint allzu bunt, die historiographische Präsentation der Beiträge ist wenig konzeptualisiert und folgt einem wilden Erzählen. Die Erzählhaltung des Herausgebers tritt dafür umso deutlicher zutage und schwankt zwischen enthusiastischer Affirmation (in Bezug auf Ikonen rauschfreundlicher Subkulturen von Klaus Mann bis hin zu Timothy Leary und Jan Delay) und heftiger Ablehnung (in Bezug auf den „Krieg gegen die Drogen“). Das Buch ist allen Opfern der staatlichen „Rauschgiftbekämpfung“ gewidmet, wodurch die inhaltliche Ausrichtung des Unterfangens klar zum Ausdruck kommt: Im Mittelpunkt stehen die verborgenen Kontinuitäten der deutschen Drogengeschichte, die über die historische Zäsur von 1945 hinausreichen und deren terminologische und ideologische Relikte in Drogenmentalität und Drogenpolitik auch 29
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heute noch prägend seien. Tatsächlich werden die Kontinuitäten, Brüche und Verschiebungen im Drogendiskurs des 20. Jahrhunderts (sowie die sich darin kristallisierenden Konflikte) nur unter Einbeziehung größerer Zeiträume transparent. Der USGermanist Scott J. Thompson etwa verortet in seinem Beitrag die ästhetischen Voraussetzungen des faschistischen Kampfes gegen „entartete Kunst“ u.a. im „prohibitionistischen Realismus“ eines Thomas Mann oder György Lukács, während er in Walter Benjamins utopischem Konzept der profanen Illumination einen Vorläufer der psychedelischen Protestbewegung der späten 60er Jahre identifiziert (59 – 69). Ebenso spannend ist sein Ansatz einer Begriffsgeschichte der Drogen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Thompson zeigt, wie die nationalsozialistische Propaganda das vielfältige Drogenwissen aus der Zeit der Weimarer Republik nivelliert und zum Verfall einer präzisen psychopharmakologischen Terminologie beigetragen hat. Die Sprache der NS-„Rauschgiftbekämpfung“ benutzte Schlüsselwörter wie „Gift“ oder „Krankheit“ als effektive Metaphern für die Bedrohung eines imaginierten reinen, d.h. arischen „Volkskörpers“. Die Termini „Rauschgift“, „Suchtgift“, „Genussgift“ oder gar „Volksgift“ wurden in der Öffentlichkeit als scheinbar wissenschaftliche Begriffe platziert und mit einer pejorativen Konnotation versehen: „Although Paracelsus was lauded as an ally of the Nazi movement by leading Nazi functionaries in the medical establishment of the Third Reich, such as Gerhard Wagner [...], Leonardo Conti [...], and even Julius Streicher [...], Paracelsian ideas on dosage and poison are glaringly absent in the literature of Rauschgiftbekämpfung .“ .“ (157)1 Nicht die Dosis, sondern die Kategorie der „Fremdheit“ bestimmte das Gift, wie ein von nationalsozialistischen Größen viel zitiertes Diktum aus Viktor Rekos Werk Magi- sche Gifte (1936) vor Augen führt. „Die größte Giftwirkung“, so heißt es dort, „entfalten stets die landesfremden, die rassefremden Berauschungsmittel.“ Die semantische Umwertung der Drogenterminologie diente der Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen. In dem vom NS-Regime vorgegebenen völkisch-rassistischen Diskurs wurden die Ausgrenzung, der Ausschluss und die Ausmerzung des Fremden zur Staatspflicht. Der Beitrag des Kriminologen Holger Mach skizziert den nationalsozialistischen Kampf gegen die Drogen anhand zahlreicher Quellen unter dem Aspekt der Exklusion, denn die Ächtung von Drogenhändlern und –konsumenten gliederte sich ein in die weit reichende Verfolgung von sozialen Randgruppen und Minderheiten (209 – 220). Die NSRauschgiftideologie produzierte ein doppeltes Feindbild: Auf der einen Seite galten manche Drogenkonsumenten als „Asoziale“, die sich den völkischen Verpflichtungen entziehen; andererseits konnte die geächtete Aktivität des „Rauschgifthandels“ mit einer gebrandmarkten Minderheit gekoppelt werden. „Ein bevorzugtes Hauptbetätigungsfeld
des Juden ist der Rauschgifthandel“, schrieben etwa Hanns Andersen und J. Keller in ihrem antisemitischen Pamphlet Der Jude als Verbrecher (1937). Die Bedrohung der Volksgemeinschaft durch „Rauschgiftkriminalität“ wurde mit der im Nationalsozialismus praktizierten Feindbildinszenierung des „verbrecherischen Juden“ personifiziert. Das Fortleben des „gefährlichen Fremden“ nach 1945 ist in den massenmedial generierten Dealer-Diskursen unschwer zu erkennen, wiewohl dieses Feindbild seither durch andere Inhalte gespeist worden ist (Vgl. Mach; Scheerer 1998, Stehr 1998). Über die historischen Vorboten der NS-„Rauschgiftbekämpfung“ erfährt der Leser von Piepers Dokumentation nur sehr wenig. Es ist nicht ganz richtig, dass die biologische, soziale, fiskalische und moralische Abwertung des problematischen Drogenkonsumenten in der „deutschen Diskussion vor dem Faschismus“ keine Vorläufer hatte (Vgl. 209). Die Wurzeln dieser Programmatik finden sich in den Aktivitäten der nationalen Guttempler-Orden, die neben kirchlichen Vereinen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Anti-Alkoholismus-Propaganda zu tragen begannen. Ebenso unterschlagen werden die in Frankreich und Deutschland entwickelten Degenerationstheorien, welche das politisch unheilvolle Paradigma des Sozialdarwinismus in der Suchtforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts implementierten. Und schließlich wurde der legislative Kampf gegen die Betäubungsmittel zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Druck der USA erfolgreich internationalisiert. Die geistigen Grundlagen der nationalsozialistischen „Rauschgiftbekämpfung“ stammen aus protestantisch geprägten Abstinenzideologien sowie aus einer völkischnationalistisch gewendeten Eugenik und „Rassenhygiene“.2 Werden in Piepers Publikation die Wurzeln der NSDrogenpolitik vernachlässigt, so kommt deren Erbe ein großer Stellenwert zu. Gemeint ist hier nicht nur die gesellschaftliche Stigmatisierung drogenabhängiger Personen, sondern auch der Import von ehemaligen NS-Wissenschaftern in die USA und die geheimen Drogenversuche der CIA in der Nachkriegszeit (Vgl. auch Koch; Wech 2002) sowie die ideologischen Affinitäten zwischen der NS„Rauschgiftbekämpfung“ „Rauschgiftbekämpf ung“ und dem US-amerikanischen „War on Drugs“ (Vgl. auch Wisotsky 1998). Weitere wissenschaftlich wertvolle Beiträge stammen von Torsten Passie, der sich mit der deutschen Meskalinforschung zwischen 1912 und 1945 beschäftigt (234 – 243), sowie von Wolf-Reinhard Kemper und Hartmut Nöldeke, die sich mit dem Drogeneinsatz an der Front auseinander setzen. Kemper berichtet von einer Amphetaminmischung aus Kokain, Eukodal und Pervitin, einer „neuerfundenen Energiepille“, die 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen an Gefangenen getestet wurde und die als Leistungsdroge den Umschwung im Kriegsgeschehen bringen hätte sollen (122 – 133). Das seit 1938 produzierte Pervitin wurde zunächst als wahres Wundermittel angesehen, bis
1 Der Begriff „Rauschgift“ „Rauschgift“ taucht bereits in wissenschaftlichen wissenschaftlichen Monographien Monographien aus aus der Zeit der Weimarer Weimarer Republik Republik auf (u.a. bei Louis Lewin), wird wird dort allerdings allerdings nicht auf pejorative Weise verwendet. 2 „The official Nazi Kampf against ebrietas ebrietas was itself itself a long forgotten forgotten importation importation of American American Prohibition Prohibition wedded to Nazi racial hygiene and enforced by a police state apparatus ever ready to legitimize the performance principle of German fascism by invoking the ´wholesome popular sentiment´ expressed in the National Socialist realist aesthetic.“ (59)
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wachsende Kritik in der NS-Ärzteschaft 1941 dazu führte, das Präparat dem Opiumgesetz zu unterstellen; die faktische Verwendung im Krieg war hingegen ungebrochen. Unter dem Eindruck der schweren Abwehrkämpfe im fünften Kriegsjahr setzte sich schließlich die Auffassung durch, Schädigungen des Menschen durch Überforderung und/ oder aufputschende Mittel müssten in Kauf genommen werden, wenn der Auftrag nicht anders zu erfüllen sei. Verbandsärztliche Weisungen des Oberkommandos der Wehrmacht verdeutlichen dabei das Credo der NS-Medizin, die sich nicht am Wohl des Individuums, sondern des Volksganzen orientiert: „Überbelastungen und Verluste sind möglich. Sie können das ärztliche Gewissen nicht belasten, die Lage fordert jeden Einsatz.“ (OKW 829/44 Geh., „Besondere Hinweise“ des Verbandsarztes, zit. auf 142) Welche Rolle dem Amphetaminkonsum am Niedergang und an der Zerschlagung des 3. Reiches zukommt, bleibt Spekulation, ebenso wie der Drogengebrauch des Führers (ein Gegenstand unzähliger Gerüchte und Verschwörungstheorien) und eines maßgeblichen Teils der NS-Elite. Dass Hitler selbst große Mengen an Pervitin konsumiert hat, dafür gibt es zumindest triftige Indizien (Vgl. 129); die Ausführungen über die versteckte Polytoxikomanie des bekennenden Vegetariers und vorgeblich Abstinenten beruhen allerdings nicht auf geprüftem Quellenmaterial. Bilanz
Die Brisanz von Piepers Projekt ist unübersehbar. Zum Zielpublikum der zweibändigen Publikation gehören gleichermaßen „Fachleute“ und „Nicht-Fachleute“. Der Verdienst des Herausgebers liegt im Umfang seiner Quellensammlung, die er selbst als „Steilvorlage“ für interessierte Wissenschafter versteht (Vgl. 16). Insbesondere der zweite Band bietet eine reichhaltige Dokumentation politischer, medizinischer, rechtlicher, literarischer und kriminologischer Dokumente sowie ein Verzeichnis der verwendeten Sekundärliteratur – eine wahre Fundgrube unterschiedlichster Mosaiksteine. Fundierte Analysen und Thesen hingegen bleiben im Verhältnis zur Dichte des Materials absolute Mangelware.
Summary A new report is dedicated to elucidate the role of psychotro- pic substances in the Third Reich. Editor Werner Pieper tries to melt different levels of investigation: Hitler´s Fight Against Drugs, the ´doping´ of soldiers, drug use in the Nazi leadership and scientific drug experiments in concentration camps. Although the report presents a wide range of historical documents, its analytical approach is scanty.
Literatur
Bolognese-Leuchtenmüller, B.: Geschichte des Drogengebrauchs. Konsum – Kultur – Konflikte – Krisen. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde, Nr. 1, 1992. S. 4 – 18. Koch, E.; Wech, M.: Deckname Artischocke. Die geheimen Menschenversuche der CIA. München, 2002. Mach, H.; Scheerer, S.: Vom ehrbaren Kaufmann zum gewissenlosen Dealer – Zum Wandel der moralischen Bewertung des Drogenhandels in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Paul, B.; Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.): Drogendealer – Ansichten eines verrufenen Gewerbes. Freiburg i. Breisgau, 1998. S. 57 – 77. Stehr, J.: Massenmediale Dealerbilder und ihr Gebrauch im Alltag. In: Paul, B.; Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.): Drogendealer – Ansichten eines verrufenen Gewerbes. Freiburg i. Breisgau, 1998. S. 95 – 108. Wisotsky, S.: A Society of Suspects: The War on Drugs and civil Liberties. In: Gros, H. (Hrsg.): Rausch und Realität. Eine Kulturgeschichte der Drogen, Bd. 3. Stuttgart, 1998. S. 243 – 251.
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