Gudrun Sommer / Vinzenz Hediger / Oliver Fahle (Hg.) Orte filmischen Wissens
GUDRUN SOMMER, VINZENZ HEDIGER, OLIVER FAHLE (HG.)
ZÜRCHER FILMSTUDIEN HERAUSGEGEBEN VON
CHRISTINE N. BRINCKMANN
ORTE FILMISCHEN WISSENS FILMKULTUR UND FILMVERMITTLUNG IM ZEITALTER DIGITALER NETZWERKE
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Einleitung
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Kapitel 1: Umrisse des Terrains Malte Hagener Wo ist Film (heute)? Film/Kino im Zeitalter der Medienimmanenz
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Vinzenz Hediger Der Traum vom medienfreien Kind. Bildung unter Medienbedingungen
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Kapitel 2: Archiv, Programmierung, Kanon
Schüren Verlag GmbH Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg www.schueren-verlag.de © Schüren 2011 Alle Rechte vorbehalten Gestaltung: Nadine Schrey Umschlaggestaltung: Bringolf Irion Vögeli GmbH, Zürich Druck: druckhaus köthen, Köthen Printed in Germany ISSN 1876-3708 ISBN 978-3-89472-526-6
Matthias Christen Das bewegliche Archiv. DVD-Editionen als Schnittstelle von Filmwissenschaft, Philologie und Marketingstrategien
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Benoît Turquety Der Künstler, die Anthologie, die Pädagogik. Peter Kubelka und der Kanon des «Essential Cinema»
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Vinzenz Hediger / Alexander Horwath «Ich bin zutiefst davon überzeugt: Der Film ist ein Akt, der sich in einem bestimmten Zeitraum abspielt, und damit ein performativer Akt.» Gespräch mit Alexander Horwath
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Alexandra Schneider / Vinzenz Hediger Vom Kanon zum Netzwerk. Hindi-Filme und Gebrauchsfilme als Gegenstände des Wissens einer post-kinematografischen Filmkultur
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Inhalt
Inhalt
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Kapitel 3: Cinéphilie und pädagogischer Eros
Kapitel 5: Orte des Films und Schichten des Wissens
Bettina Henzler / Alain Bergala «Il les conduit ailleurs». Gespräch mit Alain Bergala zu Cinéphilie, Wissenschaft und Pädagogik
Dorit Müller Zwischen Forschung, Unterricht und Populärkultur. Filmisches Wissen und Orte früher Filmkultur
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Erkki Huhtamo Botschaften an der Wand. Eine Archäologie von Mediendisplays im öffentlichen Raum
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Raymond Bellour Der Filmzuschauer: eine einzigartige Erinnerung
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Annette Kuhn Snow White in Großbritannien (1938)
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Autorinnen und Autoren
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Cary Bazalgette Filmerziehung und Medienkompetenz. Eine englische Perspektive Joachim Pfeiffer Integrative Filmdidaktik. Fächerverbindender Filmunterricht in Deutsch, Kunst und Musik am Beispiel des «Freiburger Filmcurriculums» Volker Pantenburg / Stefanie Schlüter Experimentalfilme vermitteln. Zum praktischen und analytischen Umgang mit dem Kino der Avantgarde
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177
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Kapitel 4: Der Film vermittelt sich selbst Thomas Elsaesser Filmvermittlung zwischen Rückbezüglichkeit, Reflexivität und Remediation: ‹D3D› und Avatar
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Winfried Pauleit Medienwissenschaft und Bildung. Film als Schauplatz der Vermittlung am Beispiel von The Conversation (Francis Ford Coppola, USA 1974)
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Andrea B. Braidt Filmisches Wissen im Spiegel des cinematic television
273
Oliver Fahle Das Material des Films
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Einleitung
Filmisches Wissen, die Frage des Ortes und das Pensum der Bildung
Was Film ist, muss unter den Bedingungen mobiler Medien und digitaler Netzwerke, die Bewegungsbilder überall und jederzeit verfügbar machen, neu gedacht werden. Was wir über Film wissen sollten, wenn wir uns mit einem ehrwürdigen Begriff, dessen Ursprünge in die Anfänge der Moderne zurückreichen, ‹gebildet› nennen wollen, ist bislang im deutschsprachigen Zusammenhang kaum Gegenstand einer ernsthaften Debatte geworden – sieht man ab von den Diskussionen über den mit 35 Titeln überraschend kurzen «Filmkanon» der Bundeszentrale für politische Bildung1 oder den Versuchen deutscher Qualitätszeitungen, mit feuilletongestützten DVDEditionen von «Einhundert Lieblingsfilmen der Redaktion» Leserbindung zu stiften.2 Der vorliegende Band greift diese beiden Stränge auf und formuliert die Frage, was wir unter digitalen Netzwerkbedingungen (noch) unter Film verstehen, als Frage für und an die Film- und Medienwissenschaft und als Frage der Bildung. Der Band geht von der doppelten Annahme aus, dass Film ohne Untersuchung der Orte des filmischen Bildes – und, damit verbunden, ohne eine Kartografie des filmischen Wissens – nicht begriffen werden kann und dass Bildung ohne Kenntnis von Genese und Funktionslogiken der gegenwärtigen Medienkultur, in deren Fokus der Film weiterhin steht, nicht mehr zu denken ist. Im Horizont dieser doppelten Annahme bewegten sich die Beiträge zu der Ringvorlesung «Orte filmischen Wissens», die 1 2
Vgl. [http://www.bpb.de/veranstaltungen/NAHUAB,0,Filmkanon.html]. Die «einhundert Lieblingsfilme» der Redaktion war eine DVD-Reihe, die von der Süddeutschen Zeitung in loser Folge herausgegeben wurde und für einen relativ günstigen Preis am Kiosk zusammen mit der Zeitung oder auch unabhängig von ihr zu haben war. Die Kollektion steht nach wie vor im Online-Shop der Süddeutschen zum Verkauf. Das Vorbild für diese Marketingstrategie liefern die italienischen Tageszeitungen, vorab die linksliberale La repubblica, die im Kioskverkauf DVD-Editionen von ArthouseFilmen zusammen mit der Zeitung gratis verteilte, um die Auflage an Tagen, an denen sie gemessen wurde, entscheidend anzuheben. Über das Verschenken von DVDs konnten die Inserattarife in die Höhe getrieben werden; vgl. dazu Maatz 2006.
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Einleitung
im Sommersemester 2010 vom RuhrForum Filmbildung, einer Initiative der Filmfestivals des Ruhrgebiets, gemeinsam mit dem Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde und den Anstoß zu diesem Band gab. Im Horizont dieser doppelten Annahme bewegen sich auch die folgenden Überlegungen. 1. The Moving Image on the Move Filmwissenschaft war lange Zeit Kinowissenschaft. Wenn Filmtheoretiker und Filmwissenschaftler Antworten auf die Frage «Was ist Film?» suchten, dann mochten diese recht unterschiedlich ausfallen. In einem Punkt aber war man sich einig: Wer über Film nachdachte, dachte zunächst ans Kino. Film, das waren fotochemische Bewegungsbilder auf der Leinwand in einem abgedunkelten Saal, in dem ein Publikum saß, das in der anonymen Intimität ein Gefühlserlebnis teilte.3 Obwohl Filmanalyse in einem strikteren Sinn erst damit anfing, dass Filme auf den Schneidetisch gelegt und Einstellung für Einstellung untersucht wurden – eine Praxis, die Ende der 1960er Jahre einsetzt (Bellour 1999) –, und obwohl die Filmwissenschaft spätestens seit den 1980er Jahren meist mit VHS-Video und später mit DVD-Kopien gearbeitet hat, galt hinsichtlich des Erkenntnisgegenstandes doch dies: Das Kino war das angestammte Territorium des Films, in der kulturellen Praxis wie in der Theorie, und Film und Kino bildeten eine auch im Denken des Films nicht zu trennende Einheit. Kaum aber hatte der Film, der zunächst in Variété-Theatern und auf Jahrmärkten Gastrecht genoss, sein Gehäuse im Kino gefunden – was um 1907 mit den «Nickelodeons» in den USA begann und sich mit der Einrichtung großer ortsfester Kinos für Langspielfilme nach 1911/12 und in Europa nach 1914 fortsetzte –, machte er sich auch schon wieder daran, dieses zu verlassen und an anderen Orten zu zirkulieren. In den 1920er Jahren setzte Pathé formatreduzierte Schmalfilmfassungen erfolgreicher Kinofilme in Umlauf, die auf Pathé-Baby-Projektoren im 9,5mm-Format gezeigt werden konnten (vgl. Schneider 2007; Wasson 2009). In den 1950er Jahren wurde das Fernsehen zum neuen Ort des Films (Boddy 1985) und schuf eine Plattform für die Wiederkehr von vermeintlich ausgespielten Archivbeständen. Diese wurde durch den Videorecorder in den 1970er und die DVD in den 1990er Jahren um die Optionen des (weitgehend) freien Zugangs zum Material und der Überantwortung der Programmhoheit an den Zuschauer erweitert.4 Wohl gibt es das Kino als Spielort noch immer und 3 4
Francesco Casetti (2010) spricht in diesem Zusammenhang vom Erfahrungsmodus der «attendance». Den Ausschlag für die Etablierung von VHS als Standardformat für den Videorecor-
Einleitung
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auf absehbare Zeit, aber vom Einspielergebnis eines Hollywood-Films machen die Einnahmen an der Kinokasse schon längst nur ein Viertel aus (Vogel 2007, 158). Zugleich vervielfältigen sich neben den Spielstätten auch die Anlässe: Es gibt nach Auskunft der Branchenzeitung Variety mittlerweile keinen Tag mehr, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Filmfestival stattfindet (vgl. Gaydos 1998). An der Schwelle zum 21. Jahrhundert nun schaffen mobile Medien und digitale Displays in Verbindung mit globalen digitalen Netzwerken die Möglichkeit, Filmbilder, die von überall (oder nirgendwo) stammen, zu jeder Zeit an jedem Ort zu sehen. Die Aufführung von Kinofilmen folgt – zumindest bei großen Hollywood-Produktionen – schon seit den 1970er Jahren dem sogenannten dayand-date- oder wide-release-Prinzip: Neue Filme werden mit hunderten oder gar tausenden Kopien weltweit in die Kinos gebracht, während es zuvor Monate dauern konnte, bis ein Film von den großstädtischen Zentren in die Provinz gewandert war.5 Selbst unter den Bedingungen des wide release und des Multiplex-Kinos, das eine infrastrukturelle Voraussetzung für diese Marketingstrategie bildet (Acland 2003), unterliegt die Kinoaufführung indes einer Frist: Die Laufzeit im Kino bleibt beschränkt. Zu den Effekten mobiler Computer und digitaler Netzwerke zählt nicht zuletzt, dass sie auch diese Frist aufheben: Sie machen Filmbilder buchstäblich allgegenwärtig.6 Wir leben im Zeitalter einer Medienimmanenz (Hagener), einer «Explosion» des Kinos (Casetti) und einer «Heterotopie» seiner Bilder (Burgin 2004), ein Zeitalter, in dem das Kino als Ort der Erfahrung in seinem klassischen Sinn, wie Serge Daney schon 1993 festhielt,7 in die Krise gerät und schließlich nur noch ein Ort unter vielen ist (wenn auch vielleicht der einzige, an dem man sich einen Film in Ruhe anschauen kann, wie der amerikanische Blogger Matthew Yglesias schreibt).8 «We are only now beginning to understand the massive changes that have assailed the institution of cinema», schrieb Miriam Hansen ebenfalls 1993, als sich diese Umbrüche
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der gab, dass VHS-Kassetten eine Spieldauer von zwei Stunden hatten und damit im Unterschied zu den Sony-Beta-Kassetten mit einer Dauer von 60 Minuten für die Aufzeichnung von Spielfilmen geeignet waren; vgl. dazu Lardner 1987; Wasser 2001; McDonald 2007; Greenberg 2008. Für einen historischen Abriss dieses Umbruchs vgl. Hediger 2005; Hayes/Bing 2006. Dieses Potenzial wird auch tatsächlich genutzt. Betrug der Anteil von Videosichtungen zu Beginn der Nullerjahre noch weniger als 5% am gesamten Aufkommen der Internetkommunikation, so sind es mittlerweile mehr als 51%; vgl. [http://www.wired. com/magazine/2010/08/ff_webrip/all/1]. Vgl. dazu auch den Beitrag von Raymond Bellour in diesem Band. «To me, at least, the movie theater has become an unusual point of refuge from the ubiquitous connectivity of my laptop, smart phone, iPad, etc. – a place where social convention makes you shut up and watch in a way that’s hard to achieve at home»; vgl. [http://yglesias.thinkprogress.org/2010/10/the-back-catalog/ (Zugriff am 24.10.2010)].
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abzuzeichnen und die idealtypischen Konzeptionen von Film, Text und Zuschauerschaft der Filmtheorie der 1970er Jahre fraglich zu werden begannen (Hansen 1993). Fraglich wird durch die genannten Umbrüche aber auch die mittlerweile schon klassisch zu nennende Konzeption des Autorenkinos. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Alexandre Astrucs Losung von der caméra stylo zum demokratischen Prinzip geworden ist. Dachte Astruc 1948 noch daran, dass der Regisseur die Kamera führen kann wie einen Stift und eine Handschrift entwickelt, an der man ihn als auteur erkennt,9 so gilt heute, im Zeitalter der Mobiltelefone, die auch Tonfilmkameras sind, der Laptops, die auch semi-professionelle Schneidetische sind, und von YouTube, der Plattform, auf der jeder ein Publikum finden kann, auch wenn er selten eines findet (vgl. Snickars/Vonderau 2009), dass die caméra jedermanns stylo ist, so zittrig und unleserlich die Handschrift mitunter auch sein mag. 2. Von der Schriftkultur zur Filmbild-Kultur (auf dem Umweg über Zahl und Rechner) Medienimmanenz, Explosion des Kinos und caméra als «stylo de chacun et n’importe qui» bleiben nicht ohne Konsequenzen. Der Buchdruck und später die Zeitung haben die Schrift in der Neuzeit und an der Schwelle zur Moderne in freie Zirkulation gesetzt und damit das, was wir ‹Kultur› nennen, grundlegend verändert (Febvre/Martin 1958; Giesecke 1991), ja überhaupt erst die Voraussetzungen für das geschaffen, was ‹Kultur›, ‹Bildung› oder ‹Geschichte› heißt (Koselleck 2006) – ganz zu schweigen von der Wissenschaft, die ohne das moderne Publikationswesen nicht denkbar wäre (Johns 2000). Man geht nun nicht zu weit, wenn man feststellt, dass die rechnergestützten Techniken der Bildproduktion und -verarbeitung und die digitalen mobilen Displays derzeit im Grunde das Gleiche leisten wie der Buchdruck seinerzeit für die Schrift. Den Anfang des 20. Jahrhunderts markierte der Auftritt des Filmbildes, den Anfang des 21. seine freie Zirkulation. Wenn Béla Balázs im Vorwort zu Der sichtbare Mensch den Film als Überwindung einer seit den Anfängen der Neuzeit von der Schrift und ihrer mechanischen Reproduktion dominierten Kultur feierte, dann gewinnt dieser Umbruch erst jetzt die Tragweite, die ihm der Autor schon zuschrieb, als der Ort des Films nur das Kino war.10 Für den Theoretiker und 9
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Einleitung
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Astrucs Schrift- und Buchmetapher geht übrigens so weit, dass er von einer nahen Zukunft träumt, in der Filme so verfügbar sind wie Bücher, in der «librairie du coin», beim Buchhändler um die Ecke. Schon dreißig Jahre später wurden die ersten Videotheken eröffnet; vgl. auch Hediger 2002. «Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat mit der Zeit das Gesicht der Menschen un-
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Schriftsteller Balázs (wie später auch für Merleau-Ponty) war der Film das Medium der Rückgewinnung einer verlorenen Sichtbarkeit der menschlichen Physiognomie, aber auch einer Unmittelbarkeit von Anschauung und Wahrnehmung. Der Film, so Balázs, legte eine neue und zugleich ursprünglichere Schicht des Wissens frei, die unter dem mittelbaren Wissen der Schriftkultur verschüttet war. Ob er mit seinem quasi-phänomenologischen Glauben an die Unmittelbarkeit filmischer Wahrnehmung richtig lag,11 ist dabei nicht entscheidend: Die Annahme, dass der Auftritt und die Zirkulation von Filmbildern zu einer Umschichtung des Wissens führen, ja – um es mit Foucault zu formulieren – zur Signatur einer neuen Episteme gehören, hat hohe Plausibilität und verdient es, weiter erforscht zu werden. Spricht man in diesem Zusammenhang, wie wir hier vorschlagen, von ‹filmischem Wissen›, so kann dreierlei gemeint sein: Wissen über Film, Wissen durch Film und filmförmiges Wissen. Wissen über Film ist im weitesten Sinne alles, was man darüber wissen kann: Vom Nutzerwissen der ‹Mundpropaganda›, die Freunde und Bekannte darüber aufklärt, ob ein Film den Kinobesuch lohnt, über das Wissen der Filmkritik, die einen stärker objektiven Anspruch erhebt und dort, wo sie sich noch als Kunstkritik versteht, den jeweils neuen Film danach beurteilt, ob ihm ein Platz in der Geschichte des Kinos zusteht; und das lexikalische Wissen der Filmografien, ob es in Buchform niedergelegt ist oder in einer Online-Datenbank wie www.imdb. com; bis hin zum Kanonwissen der Cinéphilen, die alle Filme aller wichtigen Regisseure gesehen haben und mit denen man erst über Kino reden kann, wenn man ebenso weit ist. Hinzu kommt schließlich das wachsende Korpus des Wissens, das die Disziplin der Filmwissenschaft produziert. Wissen durch Film ist Wissen, das aus der Anschauung gewonnen werden kann und das der Film originär hervorbringt: Das Wissen der Wissenschaftler, die einen Zellprozess erst dann beobachten können (oder zu erblicken glauben), wenn sie ihn im extremen Zeitraffer vor sich haben; oder das Wissen, das sich aus einem Lumière-Film von 1902 aus einer Shanghaier Straßenszene über die modischen Präferenzen der Bewohner gewinnen lässt; ferner das geografische Wissen in deutschen Kulturfilmen der 1920er Jahre, von dem Dorit Müllers Beitrag zu diesem Band handelt, aber auch das Wissen über die Fortpflanzungstechnik von reptilienartigen Tier/Stahl-Hybriden aus den Tiefen des Weltalls, das für bestimmte Sci-
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leserlich gemacht. Sie haben so viel vom Papier lesen können, dass sie andere Mitteilungsformen vernachlässigen konnten. […] So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche. […] Nun, der Film ist dabei, der Kultur wieder eine so radikale Wendung zu geben» (vgl. Balázs 2001, 16-17). Für eine Kritik an Unmittelbarkeitstheorien in der Filmphänomenologie vgl. Reichert 2010.
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ence-Fiction-Filme grundlegend ist.12 Was wir wissen, so Niklas Luhmann 1995, wissen wir zumeist so, wie Plato über Atlantis Bescheid wusste: vom Hörensagen (Luhmann 1995). Was wir wissen, so müsste man heute sagen, wissen wir vom Hörensagen und von dem technischen Sehen, das sich mit dem Filmbild ins Werk setzt. Die Techniken des Sehens, die der Film bereitstellt, verhalten sich zu den Gegenständen des Wissens, die sie darstellen, indes keineswegs neutral. Montage, Zeitlupe, Zeitraffer, Hors-champ, Bewegungs- und Affektbilder generieren Objekte von Wahrnehmung und Wissen, die nicht auf die Vergegenwärtigung eines außerfilmischen Referenten reduzierbar sind. Dies illustriert etwa der Fall der erwähnten Wissenschaftler, die die Zeitlupen-Aufnahme eines Zellprozesses beschreiben wie – und als – das Phänomen selbst. Dabei begehen sie weder eine Verwechslung noch erliegen sie einer Täuschung, sondern vollziehen eine ernst zu nehmende ontologische Zuschreibung an das filmische Artefakt: Der Film bringt den Prozess der Zellzerstörung als beobachtbares Phänomen originär hervor – eine Tatsache, der Wissenschaftler mit einer Prosa Tribut zollen, die einen Vorgang, der eigentlich Stunden dauert, als «vigorous movement», «much energy» und «vigorously shaken» wie ein dynamisches Drama beschreibt (vgl. Hancox/Boothroyd 1962). Schließlich, und das ist im Hinblick auf eine ‹filmische› Episteme vielleicht grundlegend, gibt es filmförmiges Wissen, Wissen, das erst unter bestimmten medialen Bedingungen auftreten kann oder in seinen Konturen als solches erkennbar wird. Drei Beispiele mögen dieses Feld umreißen. In einem berühmten Kapitel seines Buchs L’evolution créatrice von 1907 mit dem Titel «Le mécanisme cinématographique de la pensée et l’illusion mécanistique» lässt Henri Bergson die erkenntnistheoretischen Systeme der neuzeitlichen Philosophie unter der Hypothese Revue passieren, dass diese des Lebens und Werdens nicht habhaft werden können, weil sie das Denken so denken, wie ein kinematografischer Aufzeichnungsapparat funktioniert. Sie zerlegen den Prozess des Lebens in statische Momentaufnahmen und werden seiner Einheit nur mittelbar, nämlich durch Zusammenfügen statischer Einzelbilder habhaft (Bergson 1941, 272ff). Bergson 12
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Ein (möglicherweise apokryphes) Beispiel für beiläufige Wissensproduktion durch den Film liefert John McPhee in seinem großen Buch über die Praxis der Geologie und die geologische Struktur des amerikanischen Kontinents: «A zeolite called clinoptilolite is the strongest adsorber of strontium and cesium from radioactive wastes. The clinoptilolite will adsorb a great deal of lethal material, which you can then store in a small space. When William Wyler made The Big Country, there was a climactic chase scene in which the bad guy was shot and came clattering down a canyon wall in what appeared to be a shower of clinoptilolite. Geologists were on the phone to Wyler at once. ‹Loved your movie. Where was that canyon?›» (McPhee 1998, 40).
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erklärt mithin den Mechanismus der filmischen Bewegungsaufzeichnung – wenn auch in kritischer Absicht – zum Modell der neuzeitlichen Epistemologie. In vergleichbarer Weise macht Siegfried Kracauer (1969 und 1977) den Film zum Modell des Denkens und eines bestimmten Wissens, wenn er in seiner Kritik des Historismus die Fotografie und den Film als technisches Analogon eines historischen Bewusstseins veranschlagt, das sich am Detail der kontingenten Erscheinung festmacht und alles unterschiedslos aufzeichnet, was historisch der Fall ist. Und schließlich erweist sich, im Grunde gegen Bergson gedacht, aber immer noch im Geist von dessen kinematografischen Analogien des Denkens, dass sich die Evolutionstheorie Darwins als filmförmiges Wissen definieren lässt. Das Leben als Prozess wird, wie Philipp Sarasin spekuliert (2009, 50ff), erst denkbar, wenn man die unvorstellbar langen Zeitläufe, die es braucht, damit eine neue Lebensform entsteht, auf eine Denkform bringt, die im Grunde dasselbe leistet wie eine Zeitrafferaufnahme. Die moderne Biologie und der Film sind ko-emergent. Morphing ist in diesem Sinne, wie die Paläontologen Zollikofer und Ponce de Léon (2008) festhalten, nicht nur eine Technik, die es erlaubt, den Prozess der Evolution darzustellen; es ist die gedankliche Form des Lebens als Prozess selbst Den Gedanken von Balázs aufgreifend, lässt sich die Hypothese formulieren, dass die freie Zirkulation von Filmbildern eine Umschichtung des Wissens in allen drei genannten Bereichen zur Folge hat oder durch ihre freie Zirkulation neue Formen des Wissens in allen drei Bereichen entstehen. Aus der skizzierten Kartografie der Wissenstypen ergeben sich dabei folgende Zuständigkeiten: Die Untersuchung des ‹filmförmigen› Wissens obliegt einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Medien. Die Untersuchung des Wissens durch Film kann Gegenstand einer Kulturgeschichte der Medien oder einer Medienkulturgeschichte sein, aber auch an der Schnittstelle von Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung neue Akzente setzen. Primär die Filmwissenschaft gehen die Umbrüche des Wissens über den Film etwas an, und sie betreffen zentral auch das, was seit einiger Zeit «Filmvermittlung» heißt:13 die Praxis der pädagogi13
Der französische Begriff für «Filmvermittlung» lautet transmission, also eigentlich «Übertragung». «Filmvermittlung» blendet den technischen Aspekt des Übertragungsbegriffs aus, zugunsten einer Rückbindung an die Person des Vermittlers, und an die Handlung des Zusammenbringens von Film und Publikum unter dem Gesichtspunkt einer Vermehrung des Wissens; dies in Abgrenzung etwa zur «Filmvermarktung». «Filmvermittlung» unterscheidet sich aber auch von «Filmerziehung». Die Rollenhierarchie von Lehrer und Schüler wie auch der institutionelle Rahmen und die damit verbundene Disziplinaritätsanmutung der Schule treten im Begriff der ‹Filmvermittlung› in den Hintergrund; vgl. zur Geschichte und den unterschiedlichen Konzeptionen der Filmvermittlung Bergala 2002 und 2004; Krabel/Schädler/Stuve 2004; Pauleit 2004.
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schen Rahmung des Films in kulturellen und Ausbildungszusammenhängen. Auf diesen Bereich und auf die Dynamiken, die freigesetzt wurden, als der Film sein angestammtes Milieu, das Kino, verließ, konzentrieren sich die Beiträge in diesem Band. 3. Von der Ontologie zur Topologie und Ökologie Als Disziplin, die Wissen über Film produziert, muss die Filmwissenschaft der «Explosion des Kinos» in besonderer Weise Rechnung tragen: Die Frage nach der Umschichtung des Wissens über Filmbilder, die sich unter digitalen Netzwerkbedingungen stellt, betrifft nachgerade ihr Selbstverständnis. Wie eingangs geschildert, bestimmte die Filmwissenschaft ihren Gegenstand ausgehend von dem historisch kontingenten Gebilde des Kinos: fotochemisch generierten Bewegungsbildern in öffentlichen Vorführungen. In diesem Selbstverständnis wurde sie auch durch das elektronische Video nicht erschüttert, was nicht erstaunen muss, da sich die Etablierung der Filmwissenschaft parallel zur Ausbreitung von Video vollzog und durch die Verfügbarkeit des Wissensobjekts Film auf VHS begünstigt wurde. Erst die Einführung rechnergestützter Aufzeichnungs- und Distributionstechniken, die seit den 1990er Jahren den fotochemischen Prozess in der Kamera und den Vertrieb von Filmen auf Zelluloid und Videokassetten abzulösen begannen, stiftet ernsthafte Unruhe in der Filmtheorie. Zwei Probleme stellen sich dabei: ein Problem des Bildes und ein Problem des Ortes. Akut wurde zunächst das Bildproblem. Spätestens seit Bazin machte der Automatismus der fotochemischen Bildgenese und damit der Status des Bildes als Spur oder Abdruck der physischen Welt das Spezifische des Films aus. Seit der Umwidmung der phänomenologisch fundierten Filmtheorie der 1950er Jahre zur Filmsemiotik trug dieses Spezifikum mit einem Begriff von Peirce den Namen «Indexikalität»: Das fotografische Bild ist ein Zeichen – und vielleicht das einzige –, das zugleich Ikon und Index ist, also mit dem Gegenstand sowohl über eine Ähnlichkeitsbeziehung wie eine Beziehung der physischen Verursachung verbunden. Den Index-Charakter wähnte die Filmtheorie Mitte der 1990er Jahre in der Krise:14 Hörte das Filmbild mit dem Übergang zur rechnergestützten Genese doch im Grunde auf, ein physischer Abdruck oder eine Spur des Gegenstandes zu sein, und wurde stattdessen zum Graphen. Ein Theoretiker wie Gene Youngblood verstand unter cinema einfach jede Aufführung von Bewegungsbildern und bestimmte den Unterschied zwischen klassischem und elektronischem/digitalem Kino un14
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Die einschlägige Position einer Krise der Indexikalität formulierten in den 1990er Jahren am deutlichsten Mitchell 1994 und Winston 1995, 259.
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ter Absehung vom Index-Problem als Unterschied zwischen einem «cinema of transition» (Montage-Kino) und einem «cinema of transformation» (Kino der sich potenziell ineinander verwandelnden Bildobjekte) (Youngblood 1989, 27-30). Andere Theoretiker fanden den Weg aus der Krise des Index, indem sie auf eine nur diesem eigene Ikonizität des fotografischen und des Filmbildes abhoben. Tom Gunning etwa prägte den Begriff einer «shared complexity» von Bild und Welt, womit dem Film sein Spezifisches fürs Erste erhalten blieb (Gunning 2004; vgl. auch Hediger 2006a). Nach dem Filmbild und seiner an die Verfahren seiner Herstellung geknüpften Spezifik steht nun aber, mit einer Verzögerung von mehr als zehn Jahren, mit den digitalen Netzwerken und der zunehmenden Mobilisierung von Medien auch der Ort des Films zur Disposition. Die alte ontologische Frage «Was ist Film?» verdeckte, wie eingangs skizziert, schon die topologische Hypothese, dass ‹Film› auch ein bestimmtes räumliches Arrangement, eben ‹Kino› sei. Wenn dieser Band von den «Orten» filmischen Wissens handelt, dann auch deshalb, weil die Frage nach dem Ort die Herausforderung umreißt, mit der sich die Filmwissenschaft durch die neue potenzielle Allgegenwart des Filmbildes konfrontiert sieht. Der Tatsache, dass sich das Kino als Ort des Films nicht mehr von selbst versteht, tragen in symptomatischer Weise Ansätze wie die Medienarchäologie Rechnung, welche die Tradition einer im Zeichen des Stilbegriffs stehenden Kunstgeschichte des Films erweitert und ihn in den Zusammenhang einer Mediengeschichte der Apparate, Techniken und Episteme stellt (Zielinski 2002; Elsaesser 2004; Ernst 2001; Albera/Tortajada 2010). Jenseits oder noch unterhalb von solchen post-strukturalistisch inspirierten Erweiterungen der Filmwissenschaft stellt dieser Band noch einmal die Frage nach dem zweiten Schlüsselelement der klassischen Definition des Objektes Kino – neben dem Filmbild als Index –, dem Kino als Ort. Er legt unter der ontologischen Frage nach dem Was die topologische Frage nach dem Wo frei und rückt das in den Blick, was man auch die Ökologie des Filmbildes nennen könnte: die Untersuchung der Milieus, der medialen und außermedialen Umwelt, in der das Filmbild tut, was es tut.15 15
Dies in Abgrenzung zu einer «media ecology», wie sie Neil Postman im Anschluss an Marshall McLuhan in den 1970er Jahren zu entwickeln versuchte. Unter «media ecology» verstand McLuhan ein auf den Nutzer bezogenes Design von Medienumwelten, das darauf abzielte, dass Medien einander nicht störten. Postman versah diese Konzeption mit einem evolutionshistorischen Twist und fokussierte unter dem Titel «media ecology» die Frage, wie Medien unsere Chancen aufs Überleben erhöhen oder beeinträchtigen können (McLuhan 2004, 271). Festzuhalten ist an McLuhans ursprünglichem Gedanken, dass Medien Umwelten strukturieren, nicht nur Instrumente zu deren Bewältigung sind. In diesem Sinne ist hier auch die Ökologie des Filmbildes zu verstehen; vgl. Strate 2008.
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‹Ökologie› meint dabei zunächst, dass die Frage nach dem Ort weniger mit einer Auflistung institutioneller Raumtypen wie Kino, Kinemathek, Festival, Museum, Wohnzimmer oder öffentlicher Raum beantwortet werden soll. Im Zentrum des Interesses stehen vielmehr – im Sinne der neueren Raumtheorie (vgl. Löw 2001; Dünne/Günzel 2006) – räumliche Relationen16 und Übergänge, wie sie etwa Dorit Müller in ihrem Beitrag über die Zirkulation wissenschaftlicher Darstellungen zwischen Labor, Hörsaal und Kino und zwischen Wissenschafts-, Kultur- und Spielfilm analysiert. Fragt man nach den Orten des Films, dann kommt also zur onto-topologischen Frage «Was ist der Film, wenn er außerhalb des Kinos läuft?», eine zweite Frage hinzu: «Was ist der Raum, wenn er durch ein Bewegungsbild unterbrochen, erweitert, begrenzt, auf jeden Fall aber neu organisiert wird?» Diese Frage stellt sich, wenn zum Beispiel ein Fluggast auf dem Handy des Sitznachbars mehr oder weniger freiwillig Videos von dessen letztem Bar-Besuch zu sehen bekommt und damit die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Raum fraglich wird. Sie stellt sich aber auch, wenn – wie von Erkki Huhtamo in diesem Band untersucht – filmische Displays in öffentlichen Räumen diese zugleich zu Zuschauer- und Ausstellungsräumen werden lassen (vgl. auch Pantenburg 2010). Durch die Arbeit des Bildes überlagern sich dabei scheinbar distinkte Raumtypen (vgl. Günzel 2007), und es entstehen als Funktion der medialen Dispositive neue virtuelle Räume, die weder bloß potenziell sind wie die Planräume der Architektur noch in einem ontologischen Sinne real und aktuell wie die gebauten Räume, in deren Zusammenhang die «urban screen» und die mobilen Medien sich situieren (Deleuze 1969, 269ff).17 ‹Ökologie› meint aber auch, dass Filmwissenschaft in ihrem Fragen nach dem Ort des Films zumindest vorübergehend zur Medienwissenschaft wird. Solange der Film sich in seinem angestammten Territorium bewegte, konnte man in der ruhigen Gewissheit operieren, ein distinktes Medium zu untersuchen – das Leitmedium des 20. Jahrhunderts zumal, und eines, das sich von Buch, Fernsehen, Radio und Zeitung durch ästhetische und technische Merkmale abgrenzen ließ. Filmwissenschaft war eine EinzelmedienWissenschaft, und sie war zugleich eine Kunstwissenschaft, die sich mit einer Kunst befasste, die eine Reihe anderer Künste – namentlich Malerei und Musik – zusammenfügte und weiterentwickelte. Jean-Luc Godard hat 16
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Der Begriff der ‹Ökologie› soll nicht als biologische Metapher aufgefasst werden, etwa analog zu den bis in die 1980er Jahre immer wieder beschworenen Lebenszyklen filmischer Genres. Vielmehr geht es um eine relationale Konzeption des Filmbildes. Für eine Kritik an biologischen Metaphern in der Kunstwissenschaft vgl. Kubler 1962, 7f. «Du virtuel, il faut dire exactement ce que Proust disait des états de résonance: ‹Réels sans être actuels, idéaux sans être abstraits›; et symboliques sans être fictifs» (Deleuze 1969, 269ff).
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einmal den Vorschlag gemacht, den Film im Sinne der ästhetischen Theorie der Frühromantik als Kunst zu bestimmen, die alles kann und alle Künste umfasst, als «progressive Universalpoesie», wie dies auch Joachim Pfeiffer in seinem Beitrag zu diesem Band ausführt.18 Aus der Konvergenz der Künste, mit der sich die Filmwissenschaft schon immer befasst hat, wurde schließlich in den letzten Jahren die Konvergenz der Medien, die analytisch und theoretisch zu durchdringen die Medienwissenschaft sich zur Aufgabe macht. Zunächst geschah dies im Rahmen einer an Leibniz anschließenden Metaphysik des Codes, die im Computer das Medium erkannte, das alle anderen Medien darstellen kann und so die grundlegende Einheit aller Medien denkbar machte.19 Bald aber rückte, zumal in der angelsächsischen Diskussion, der Begriff der convergence in den Vordergrund, der ein dynamisches Sich-aufeinander-Zubewegen aller Medien auf digitalen Plattformen meint und das Ziel der Einheit aller Medien als zwar noch nicht erreicht, aber doch am Horizont stehend markiert (Jenkins 2006). Der Film hat sich um seine Abgrenzung gegenüber den anderen Medien immer schon selbst und lange vor der Theorie gekümmert, besonders in Phasen, in denen neue Medien auf den Plan traten: So in den 1930er Jahren, als Hollywood wieder und wieder seine künstlerische wie epistemische Überlegenheit über das Radio unter Beweis stellen zu müssen glaubte.20 Oder, wie Oliver Fahle in seinem Beitrag aufzeigt, in den 1960er Jahren, als der Film sich reflexiv zum Fernsehen verhielt. An solchen Selbsttheoretisierungen kann sich die Filmwissenschaft buchstäblich ein Beispiel nehmen: Zum einen reflektiert der Film hier auf die technischmedialen Bedingungen der Welt,21 zu der er gehört und die er um sich erweitert, zum anderen vollzieht er diese Reflexion im Medium des Bildes und setzt damit das Bewegungsbild als unhintergehbare Voraussetzung 18 19
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«On peut tout mettre dans un film. On doit tout mettre dans un film» (Godard 1990, 167). Mark J.P. Wolf und Bernhard Siegert haben auf unterschiedliche Weise aufgezeigt, dass die Anfänge des Denkens in binären bzw. digitalen Zeichensystemen in die frühe Neuzeit zurückreichen. Eine systematische Metaphysik des Codes, d.h. eine Erste Philosophie, in deren Zentrum der Gedanke der mathematischen Struktur der Welt («essentiae rerum sunt numeri») und die Annahme steht, dass alle Zahlen sich aus 0 und 1 herleiten, findet sich schließlich bei Leibniz; vgl. Zacher 1973, 209f; Wolf 2000; Siegert 2003. Zu Mathematik und Metaphysik bei Leibniz vgl. auch Serres 1990. In der umfangreichen Literatur über den Wechsel zum Tonfilm findet sich an keiner Stelle eine Überlegung zu der Frage, ob die rasche Einführung des Filmtons in den USA nach 1928 im Zusammenhang mit der Etablierung der nationalen Radio-Networks CBS (1928) und NBC (1929) stehen könnte. Zur ästhetischen Reaktion des Films auf das Radio in den 30er Jahren vgl. Hediger 2010. Zur technisch-medialen Bedingung vgl. Hörl 2009. Für eine technikphilosophische Reflexion auf die mediale Bedingung des Kinos, die analytisch produktiv anhebt, um dann auf eine Kulturkritik durchaus im Geiste der Frankfurter Schule hinauszulaufen, vgl. Stiegler 2001.
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für alles weitere Nachdenken über seine Medialität. Diese doppelte Bewegung – Setzung des Filmbildes, Reflexion der technisch-medialen Bedingung im und ausgehend vom Filmbild – vollzieht Gene Youngblood, wenn er das Kino als Aufführung von Bewegungsbildern definiert und zugleich nach einem zunächst technischen Kriterium in «cinema of transition» und «cinema of transformation» aufteilt. Diese doppelte Bewegung vollzieht auch Oliver Fahle, wenn er im Anschluss an den Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl von einer Unverfügbarkeit des Bildes spricht, einem irreduziblen, in Sprache (oder Code) nicht überführbaren Kern von Bildlichkeit, und zugleich die Materialität des Films zum Thema macht. Medienwissenschaft wird Filmwissenschaft denn auch nicht, indem sie das Filmbild auf eine binäre Zahlenreihe zurückführt und damit der Metaphysik des Codes Recht gibt, und auch nicht, indem sie das Nachdenken über das Spezifische des Films gänzlich ins Zeichen des Konvergenz-Denkens und der vorweggenommenen Einheit der Medien stellt. Zur Medienwissenschaft wird Filmwissenschaft, indem sie die Frage nach dem Medium des Filmbildes stellt, dem Milieu, in dem es sich bewegt, wenn es sein angestammtes Terrain verlässt.22 4. Filmkultur und filmisches Wissen unter digitalen Netzwerkbedingungen Die Frage nach dem ‹Milieu› des Filmbilds macht unweigerlich auch die Filmkultur zur Angelegenheit der Filmwissenschaft. Während im Französischen cinéma im Grunde alles abdeckt, was mit Kino zu tun hat, hat sich im Deutschen und Englischen ‹Filmkultur›/film culture als Begriff für das Ensemble der Praktiken der Zirkulation und der Diskurse um und über den Film als Kunstform durchgesetzt. Dazu gehört Wissen über den Film auch und gerade, insofern es außerhalb von wissenschaftlichen Diskursen produziert und in Umlauf gebracht wird. Angesprochen ist mit ‹Filmkultur› aber immer ein reflexives Moment: Es geht um Film als Kunst und als Element und Faktor von ‹Kultur›, also dem Bereich (oder gesellschaftlichen Subsystem), in dem eine Gesellschaft auf ihre handlungsleitenden Sinnstrukturen reflektiert (vgl. Luhmann 1985).23 Mit Filmkultur in die22
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In einer Art metatheoretischen Konvergenz wird die Kunstwissenschaft spätestens auch dann zur Medienwissenschaft, wenn sie den Auswirkungen der hier behandelten Umbrüche und Dispositivwechsel insbesondere hinsichtlich der Praxis des Ausstellens Rechnung zu tragen beginnt; vgl. dazu Beryl/Cook 2010. «Filmkultur» und der englische Begriff film culture sind weitgehend deckungsgleich. Der Gegensatz von Kultur und Zivilisation, der im deutschkulturellen Kontext im 19. und 20. Jahrhundert leitend war und Kultur mit «trächtiger Fülle» und «seelenhaftem Pathos» verbindet, wie Helmut Plessner einmal formulierte, spielt dabei für die
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sem Sinne befasst sich die Filmwissenschaft denn auch seit einiger Zeit. Neuere Studien zur Geschichte und zur kulturellen Logik des Filmfestivals (de Valck 2007; Jungen 2009), zu den institutionellen und diskursiven Netzwerken der europäischen Filmavantgarde (Hagener 2007) und zur Geschichte der Institutionalisierung des europäischen Kunst-Films in den USA (Guzman 2005), aber auch die teilweise aus den Cultural Studies hervorgegangenen Arbeiten zur Fankultur (Jenkins 1992; Fuller 1996; Jankovic 2002) und zu Remix-Artefakten (Penley 1997; Lessig 2008) zeugen von einer wachsenden Sensibilität für diese Dimension. Von ‹Filmkultur› kann man in dem Moment sprechen, in dem der Film historisch wird, sich ein Bewusstsein seiner Historizität entwickelt und so etwas wie Filmgeschichte als Stilgeschichte und Geschichte großer Werke zum Thema wird; auch dann, wenn er Aufnahme in die Institutionen der Traditionspflege findet, namentlich ins Museum (Decherney 2005; Wasson 2005), aber auch, und in den USA schon in den 1920er Jahren, in die Universität (vgl. insbesondere Polan 2007). Zum Diskurs der Historisierung gehört dabei schon seit den Anfängen die Figur des auteur, des Regisseurs, dem man den Film als genuine künstlerische Leistung zuschreiben konnte.24 Entscheidend sind hier die 1920er Jahre, wobei sich der Umschlag an den Praktiken der Filmkritik und Filmgeschichtsschreibung ebenso festmachen lässt wie an Netzwerken und Institutionen, vom Filmklub über das Festival bis zum Archiv. Eine Kritik, die den Film als Kunstform mit eigenen ästhetischen Kriterien der Beurteilung wahrnimmt, entsteht in den frühen 1920er Jahren, in den USA ebenso wie in Frankreich und im deutschsprachigen Feuilleton; die Beiträge von Siegfried Kracauer für die Frankfurter Zeitung können durchaus als Beispiele gelten.25 Der wahrscheinlich erste Umriss einer Filmgeschichte wird in Frankreich 1914 publiziert (vgl. Sorlin 1996). In den USA erscheint 1925 mit Terry Ramsayes One Million and One Nights die erste buchlange Filmgeschichte, während Georges Michel Coissac im gleichen Jahr in Frankreich seine Histoire du cinématographe. De ses origines à nos jours veröffentlicht. Zu einem ausdifferenzierten Diskurs verfestigt sich die Historiografie wenige Jahre später
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semantische Konturierung des Begriffs ‹Filmkultur› keine entscheidende Rolle mehr (Plessner 1984, 84). Zum Gegensatz von Kultur und Zivilisation und seinen politischen Konsequenzen vgl. auch Lepenies 2006. Zumal in der französischen Debatte über den Film tritt die Figur des Regisseurs als Autor sehr früh in den Vordergrund, während in den Filmkritiken der US-Qualitätspresse noch bis in die 1940er Jahre der Drehbuchautor bei den Credits an erster Stelle genannt und damit als für das Produkt zentral verantwortlicher Künstler markiert wird; vgl. Abel 1975 und 1998. Über die Anfänge der Filmkritik in den USA vgl. Koszarski 1990, 191f und 208f. Für Deutschland vgl. Diederichs 1986.
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mit Léon Moussinacs Panoramique du cinéma und Paul Rothas The Film Till Now 1930, und spätestens mit der Histoire du cinéma der beiden rechtsgerichteten Literaten Bardèche und Brasillach in Frankreich 1935 etabliert sich das später gängige Schema der Kinogeschichtsschreibung als Historiografie von Nationalkinematografien. Stärker aus dem linken politischen Spektrum rekrutiert die Filmklubbewegung der 1920er Jahre ihre Akteure. Cinéclubs verfolgten das Ziel, einem möglichst breiten Publikum ‹wichtige› und hochwertige Filme nahezubringen. Die cinéclubs prägten das Format der Vorführung, das bis heute in Repertoire-Kinos und auch in Festivalsektionen wie dem Forum der Berlinale gängig ist und auch eines der Standardformate dessen bildet, was heute «Filmvermittlung» heißt: eine Vorstellung des Films und des Regisseurs und/oder anderer beteiligter Personen durch einen Kritiker oder einen Vertreter der vorführenden Institution, gefolgt von der Projektion, gefolgt vom «Filmgespräch», der offenen, moderierten Diskussion mit dem Regisseur. Zuerst in Frankreich organisiert, fanden die cinéclubs bald weltweit Nachahmer. Sie waren über internationale Netzwerke verbunden, durch die Filme und Realisatoren zirkulierten, also geradezu auf Tournee gingen (Hagener 2007; MacDonald/Stauffacher 2006). Ebenfalls eine Innovation der späten 1920er/frühen 1930er Jahre waren die Filmarchive. Die Library of Congress sammelte in den ersten Jahren des Kinos Filme, weil Copyright nur für Texte und Werke geschützt wurde, von denen dort Referenzkopien eingelagert wurden (Frick 2005). Nach wenigen Jahren allerdings wurde diese Sammeltätigkeit aufgrund materialtechnischer Probleme eingestellt; die hohe Brennbarkeit der Nitrat-Kopien gab den Ausschlag. Derweil die Filmstudios ihre eigenen Produktionen mehr oder weniger systematisch archivierten, trat das Filmarchiv, das sich die Pflege der filmkünstlerischen Tradition – oder, wie es heute heißt, des «filmischen Erbes» – zum Ziel setzt, Ende der 1920er Jahre auf den Plan. Die Einführung des Tons verleitete die Studios dazu, verbliebene Stummfilm-Kopien systematisch zu vernichten, weil sie davon ausgingen, dass niemand sie mehr würde sehen wollen. Filmliebhaber der cinéclub-Bewegung legten nun die ersten großen Filmsammlungen an. Beispielhaft hierfür ist Henri Langlois, der Gründer der Cinémathèque française, der sich zum Ziel setzte, alle Filme aller von der Kritik und den Kreisen der Filmliebhaber als bedeutend anerkannten Regisseure zu sammeln (vgl. Mannoni 2006). Von Anfang an stand die Institution der Cinémathèque dabei, wie oben skizziert, im Zeichen des Autor-Gedankens: Wichtige Regisseure waren solche, denen man die Autorschaft zuschreiben konnte, deren Filme über ein Œuvre hinweg so etwas wie eine Handschrift und eine thematische Vision zusammenhielt. Das Museum of Modern Art in New
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York behandelt Filme seit seiner Gründung 1932 als moderne Kunstform und als Teil einer Geschichte des Designs und baute unter der Kuratorin Iris Barry eine bedeutende Sammlung auf (Wasson 2005, 149ff). Das British Film Institute und das Reichsfilmarchiv, die von Goebbels gegründete Vorläuferinstitution des Bundesarchiv-Filmarchivs, verfolgten beide eine Sammlungspolitik, die darauf abzielte, die nationale Filmproduktion möglichst vollständig zu archivieren.26 Ob nun eine auteuristische, eine kunst- und designhistorische oder eine nationalkulturelle Politik die Akquisition der Archive regulierte, Kinematheken und Filmarchive bildeten seit den frühen 1930er Jahren zentrale Orte der Filmkultur und der Generierung, Speicherung und Vermittlung filmischen Wissens. Eine Innovation der frühen 1930er Jahre ist schließlich auch das Filmfestival. Das erste Festival wurde 1932 unter der Ägide von Bruno Mussolini, dem Sohn Benito Mussolinis, als Teil der Biennale von Venedig durchgeführt. Die Biennale verstand sich als Plattform eines Länderwettstreits der bildenden Künste: Sie war eine Art Olympischer Spiele in Malerei und Plastik, zu dem die Nationen ihre jeweils bedeutendsten Künstler entsandten, um ihre Werke in den nationalen Pavillons auszustellen. Den Gedanken des Länderwettstreits unter Künstlern übertrugen die Ausrichter des ersten Filmfestivals auf den Film. Nach einem als skandalös empfunden Jury-Entscheid im Jahr 1937, als Jean Renoirs Anti-Kriegsfilm La grande illusion leer ausging und Leni Riefenstahls Olympia den Hauptpreis gewann, beschlossen Amerikaner und Franzosen gemeinsam, ein Gegenfestival in Cannes auszurichten. Die geplante erste Ausgabe vom September 1939 musste aufgrund des Kriegsausbruchs entfallen; das erste Festival von Cannes fand schließlich 1946 statt. Auch hier galt das Prinzip des Länderwettstreits der Künstler. Bis Ende der 1950er Jahre wurden die Filme nicht von einem künstlerischen Direktor ausgewählt, sondern vielmehr von den Kulturministerien der beteiligten Länder, wobei das französische Außenministerium die Koordination übernahm (Jungen 2009, 33ff). Die Berlinale wurde von den amerikanischen Besatzungsbehörden als Plattform einer kulturellen Selbstbehauptung West-Berlins 1950 ins Leben gerufen; andere Festivals wie Karlovy Vary oder San Sebastián, die auch in den frühen 1950er Jahren entstanden, dienten ebenfalls dazu, nationalen Kinematografien internationale Sichtbarkeit zu verleihen (Czach 2004). Die Programmgestaltung von Cannes obliegt seit den späten 1950er Jahren einem künstlerischen Direktor, und neben den großen A-Festivals sind in den letzten Jahren unzählige weitere Festivals mit teilweise höchst 26
Zur Geschichte des Reichsfilmarchivs vgl. Aurich 2009.
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spezifischen thematischen Ausrichtungen entstanden. Mehr denn je aber spielt das Festival unter den Institutionen der Filmkultur eine Schlüsselrolle. Tatsächlich bilden die Filmfestivals mittlerweile so etwas wie einen Markt innerhalb des globalen Marktes. Manche Filme werden von vornherein im Hinblick auf eine Zirkulation im internationalen Festivalmarkt konzipiert, und große Festivals wie Cannes oder Pusan sind zugleich auch Messen und Anlässe, bei denen Produzenten, Verleiher und Geldgeber sich treffen, um neue Projekte zu besprechen und Verträge abzuschließen (Turan 2003; Iordanova 2006). So unüberschaubar die Landschaft mittlerweile geworden ist, so gilt doch weiterhin, dass die großen Festivals wie Cannes, Venedig und Berlin die Taktgeber bleiben (vgl. Mezias et al. 2008). Weiterhin gilt auch, dass Festivals filmisches Wissen produzieren, indem sie über ihre Programme definieren, was Kino ist. Die Auswahl steht dabei nach wie vor in erster Linie im Zeichen von Autor und Nation: Kino, so definieren die Festivals in ihrer Rolle als zentrale Faktoren der Filmkultur, ist das Insgesamt der Filme wichtiger Regisseure, die bevorzugt wichtige Filmnationen repräsentieren. Filmkritik, Filmhistoriografie, Cinéclubs, Programmkinos und Filmfestivals dienen also bis heute als zentrale Orte der Produktion und Vermittlung filmischen Wissens. Parallel zu diesem klassischen Netzwerk und seiner weiteren Entwicklung schaffen medientechnische Innovationen neue Foren filmischen Wissens. Wie erwähnt, entwickelt Pathé bereits in den frühen 1920er Jahren das 9,5mm-Pathé-Baby-Format zur Serienreife und bietet seinen Käufern formatreduzierte Kurzfassungen großer Kinospielfilme für die Sichtung im Eigenheim an (Kermabon 1994). Mit der Entwicklung des 16mm-Formats zu Beginn der 1930er Jahre folgen auch Studios wie Universal diesem Trend (Zimmermann 1995; Schaefer 2002; Streible/Roepke/Mebold 2007). Blieben 9,5mm und 16mm noch einer kaufkräftigen Mittel- und Oberschicht vorbehalten, wird das Fernsehen in den 1950er Jahren zum privilegierten Medium alter Spielfilme und damit zum Katalysator eines filmhistorischen Bewusstseins weit über den Kreis der cinéphilen Kinematheken-Besucher hinaus (vgl. Hediger 2006b). Wenn Stanley Cavell (1979) mit seiner Einschätzung richtig liegt, dass der Film um 1960 historisch wird, also als Kunstform auf die eigene Geschichte zu reflektieren beginnt, dann ist es kaum ein Zufall, das dies im Gefolge der Zirkulation alter Spielfilme im Fernsehen geschieht – eine Tatsache, der mit einer Art medienhistorischer Nachträglichkeit auch die aktuellen Quality-TV-Serien des amerikanischen Fernsehens mit ihrer Reflexion auf die Darstellungsmöglichkeiten des Films Rechnung tragen, wie Andrea Braidt in ihrem Beitrag zu diesem Band aufzeigt. Eine weitere Vertiefung erfährt die Dynamik der Zirkulation von filmhistorischem Wissen außerhalb des klassischen Netzwerks mit der Einfüh-
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rung von VHS und DVD in den 1970er respektive 1990er Jahren, die eine Logik der privaten Sammlertätigkeit ins Werk setzen (Klinger 2006) und mit Quentin Tarantino auch den ersten auteur produzieren, der sich seine filmhistorische Bildung nicht in der Kinemathek, sondern der Videothek aneignet. Es bleibt abzuwarten, welche Verschiebungen in den Praktiken und Wissensformationen die Ablösung der Videothek durch die Internetplattform nach sich ziehen wird, die sich derzeit mit der Entfaltung digitaler Netzwerke vollzieht. Außer Frage steht, dass durch die neuen Medientechnologien eine Vielzahl von Foren filmischen Wissens entstanden ist, das man mit einer von John Fiske (1993) in den Cultural Studies entwickelten Unterscheidung in einer ersten Näherung «populäres Wissen» nennen könnte, im Unterschied zu dem «offiziellen» Wissen, das vom institutionellen Netzwerk von Kritik, Wissenschaft, Kinemathek und Festival produziert wird. Zur Dynamik des filmischen Wissens gehört mithin, dass dieses an Heimkino- und Heimvideo-Technologien gebundene und sich im Web 2.0 weiter entfaltende populäre Wissen die gatekeeper-Funktion der traditionellen Akteure von Anfang an in Frage stellt. Kritiker, Historiker, Programmgestalter und Festivaldirektoren verfügen über eine erhebliche kulturelle Definitionsmacht, die von neuen Formen des Wissens Konkurrenz erhält. Kritiker pflegten festzulegen, welche Filme die Aufmerksamkeit des Publikums lohnten und welche nicht, und erfüllen damit auch eine wichtige Funktion des Marktes. Filme sind Erfahrungsgüter, wie die Ökonomen sagen, man kennt ihre Qualität erst nach dem Konsum, nachdem man schon bezahlt hat. Einen Film anzusehen, ist mithin immer mit dem Risiko der Enttäuschung verbunden, ohne die Option der Rückerstattung von Geld und investierter Zeit. Urteile von Kritikern, deren Geschmack man kennt, dienen dazu, dieses Risiko herabzusetzen. Dabei beurteilt man den Film nicht auf Grundlage der eigenen Präferenzen, sondern auf jener der Präferenz des Kritikers. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert auch die Mundpropaganda: Sie besteht aus Informationen über die Präferenzen anderer (wobei negative Präferenzen höhere Plausibilität haben als positive, weil sie mehr Risiko vernichten: Sich für einen Film zu entscheiden ist auf jeden Fall riskanter als ihn auszulassen ([Iversen 2009]). Die Kulturökonomik spricht in diesem Zusammenhang denn auch von social network markets, von Märkten, die durch Nachahmung der Präferenzen anderer innerhalb von sozialen Netzwerken strukturiert werden (vgl. Potts et al. 2008). Märkte für herkömmliche Güter kommen gemäß den Modellbildungen der Wirtschaftswissenschaften zustande, indem Individuen, die auf die Optimierung ihres Eigennutzens bedacht sind, Tauschbeziehungen miteinander eingehen. In den entsprechenden Modellen geht man davon aus, dass die Beteiligten rational handeln, sich
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also über ihre Präferenzen im Klaren sind und über die Waren ausreichend informiert sind, um sie beurteilen zu können. Kulturgüter allerdings sind so beschaffen, dass die entsprechende Information immer unzureichend bleiben muss. Vielmehr besteht eine Bedingung «symmetrischer Ignoranz», da weder Produzenten noch Konsumenten wissen können, ob das Produkt befriedigend ausfällt. Digitale Netzwerke bringen die Dynamik der social network markets nicht erst hervor; mit dem Problem der symmetrischen Ignoranz kämpft etwa die Filmindustrie seit ihren ersten Tagen. Sie verleihen dieser Dynamik aber eine neue Dimension. Digitale Netzwerke schaffen einen globalen Raum der Zirkulation und zugleich eine globale Arena der Selektion durch ihre «Nutzer», was auch meint: einen Raum der Zirkulation von Informationen über Informationsgüter (vgl. Hutter 2006). Die digitalen social network markets werden so zu einem neuen Raum filmischen Wissens, in dem neue Medien und Akteure der Wissensproduktion auftreten – etwa wenn der Kritiker und Kurator zum Blogger wird. Insbesondere gewinnt das populäre Wissen über Film an Reichweite und Bedeutung. Kinogänger sind auf die Filmkritik immer weniger angewiesen, um sich ein Urteil zu bilden: Mehr denn je verständigen sie sich untereinander. Eine vergleichbare Erosion erfährt im Zeichen des digitalen access die Autorität des Archivars und des Programmgestalters der Kinemathek. Dass Archiv und Autorität etwas miteinander zu tun haben, hat Jacques Derrida (1995) deutlich genug herausgearbeitet; für viele Benutzer namentlich europäischer Filmarchive haben seine Ausführungen den Vorzug der intuitiven Richtigkeit, behindert man doch selbst bei etablierten Forschern bisweilen den Zugang zu relevantem Material. Je mehr Materialien und Inventare von Archiven allerdings online zugänglich sind – und die Medienpolitik der Europäischen Union steht derzeit ganz im Zeichen einer Kultur des access (Rifkin 2000) – , desto stärker wandelt sich die Rolle des Archivars von jemandem, der Zugang reguliert, zu jemandem, der ihn nur mehr organisiert. Dies scheint in ähnlicher Weise auch für die Programmgestaltung zu gelten. Kinemathek-Direktoren wie Henri Langlois oder Peter Kubelka, der neben seiner Arbeit als Experimentalfilmer auch als Direktor des Österreichischen Filmmuseums fungierte, verfolgten – wie Benoît Turquety in seinem Beitrag zu diesem Band aufzeigt – eine stark präskriptive und auch edukative Programmierungspolitik: Filme sollte man nur im Kino anschauen, und im Kino sollte man nur das anschauen, was nach ihrem Urteil zum Kanon gehörte. Wer sich als Direktor einer Kinemathek heute noch auf die großen Autoren der Kinogeschichte konzentriert, riskiert, sein Publikum zu verlieren. Denn DVD-Reihen wie die «Criterion Collection» stellen, wie Matthias Christen in seinem Beitrag zu diesem Band darlegt, gerade
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diesen Kanon ins Zentrum ihrer Editionstätigkeit. Sie verwandeln einstige Programmkino-Besucher gezielt in DVD-Sammler und schaffen damit eine Situation, in der sich eine Kinemathek oder ein Programmkino über eine Traditionspflege, die um Autor und Nation kreist, nicht mehr profilieren kann. Zugleich entstehen damit neue Optionen der Programmierung. Der künstlerische Direktor eines Filmmuseums wandelt sich, wie Alexander Horwath in diesem Band ausführt, mehr und mehr zum Kurator einer Sammlung und verfolgt dabei eine Ausstellungspolitik, die Räume des filmischen Wissens jenseits der etablierten Programmlinien eröffnet: Er wird als Kurator zu einem Kenner und Vermittler seiner Sammlung, wie es bislang eher der Museumskurator im Bereich der bildenden Kunst war. Räume filmischen Wissens jenseits der etablierten Programmlinien eröffnet aber auch der Markt. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht besteht der entscheidende Wettbewerbsvorteil von Internetplattformen gegenüber dem traditionellen Detailhandel darin, dass sie keine Beschränkung des Sortiments kennen. Herkömmliche Händler müssen Ladenlokale mieten und ihr Sortiment regelmäßig aktualisieren, wobei der physische Raum das Sortiment begrenzt. Online-Händler können ihr Lager an einem Ort unterbringen, an dem Raummieten kaum ins Gewicht fallen, weil sie den Verkauf per Versand abwickeln (tatsächlich potenziert das Internet einen Vorzug des Versandhandels, wie er sich im frühen 20. Jahrhundert entwickelte [vgl. Coopey/O’Connell/Porter 1999]). Das heißt auch, dass eine Plattform wie amazon.com potenziell jede verfügbare DVD anbieten kann. Überdies verfügt amazon.com über eine eigene Methode, sein Publikum über die Präferenzen anderer zu informieren. Das Geschäftsmodell basiert auf einem Algorithmus, der Präferenzprofile von Kunden erstellt und ihnen Produkte zum Kauf vorschlägt, die ihrem Profil entsprechen. Zudem klärt uns jede angewählte Seite darüber auf, was Kunden, die ein bestimmtes Produkt gekauft haben, sonst noch gewählt haben. Nach demselben Muster funktioniert auch eine Website wie netflix.com, ein onlineDVD-Verleih, der ebenfalls über einen weitgehend unbeschränkten Katalog verfügt und seinen Nutzern Filme ohne Rückgabefrist nach Hause schickt – ein Geschäftsmodell, das unter anderem von lovefilm.de kopiert wird und weltweit das Ende der Videothek einläutet. Die Kombination von unerschöpflichem Katalog und erschöpfender Information über Präferenzen führt dazu, dass Filme geliehen und gekauft werden, die sonst kein Publikum mehr finden würden. Der Ökonom Chris Anderson spricht in diesem Zusammenhang vom long-tail-Effekt, den man auch als Effekt der potenziell unlimitierten Zirkulationsfähigkeit von nicht-kanonischen Kulturprodukten sehen kann (Anderson 2006).
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Fest steht: Wer sich heute mit Filmkultur befasst und Filmvermittlung betreiben will, muss die Dynamiken der social network markets mit in Rechnung stellen. Denn wer Wissen vermitteln will, sollte eine Vorstellung davon haben, was an Wissen schon vorhanden ist, auch dort, wo man es auf Anhieb nicht vermutet. 5. Medienkultur und Bildung: Kleine Taxonomie der erkenntnisleitenden Affekte Spricht man von Filmkultur und Filmvermittlung, so begibt man sich auch auf das Feld der Pädagogik und dessen, was unter dem Titel «Medienbildung» läuft. In seiner akzeptierten Bedeutung benennt der Begriff, ganz allgemein gesprochen, die Aufgabe, junge Menschen im Umgang mit Medien zu schulen. Vorausgesetzt wird dabei üblicherweise, dass der richtige Umgang damit nicht aus spontaner Aneignung resultiert und ohne pädagogische Anleitung nicht zu haben ist. Die Annahme, dass Medien domestiziert werden müssen und ein Problem für die Pädagogik darstellen, hat dabei tiefliegende kulturelle Wurzeln. So lässt sich festhalten, dass das Denken der Medien von drei großen Geisteshaltungen und Gefühlslagen bestimmt wird, deren Wurzeln teilweise bis in die Antike zurückreichen. Sie werden aber unter den Bedingungen der technischen Entwicklung – von der Fotografie über die Tonaufzeichnung und den Film bis zum Fernsehen und den digitalen Medien – besonders prägnant. Die drei Register des Denkens von Medien sind die Medienphobie, die Medieneuphorie und die Medienvergessenheit. Die Medienphobie, deren Urszene wahrscheinlich die Schriftkritik Platons darstellt, kreist um die Gefahren, die von Medien ausgehen. So verfügt Schrift nach Plato über das Potenzial, Sinn und Bedeutung der lebendigen Präsenz des Geistes zu entziehen: Der Buchstabe tötet den Geist (Blanchot 1984; Derrida 2000). Zum Bestand der Medienphobie gehören ferner Befürchtungen über die verrohende Wirkung des Theaters und anderer Kunstformen, die ebenfalls schon bei Plato zu finden sind und sich in der Neuzeit fortsetzen,27 aber auch die bald nur unterstellten, bald durch 27
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In Platos Politeia stellt Sokrates alle Künste mitsamt dem Theater unter den Verdacht, bloße Mimesis und damit nur an der Erscheinung und nicht am Wesen der Dinge orientiert zu sein (wobei wiederholt, so etwa von Max Statkiewicz, auf das Paradox hingewiesen wurde, dass Platos Kritik an den Künsten sich selbst auf eine dramatische Kunstform, den geschriebenen Dialog, verlässt). Platos – wie man heute sagen würde: medienphilosophische – Kritik an den Künsten und insbesondere am Theater war auf jeden Fall folgenreich. Nicht von ungefähr wird in den westlichen Kulturen das Adjektiv ‹theatralisch› pejorativ verwendet, wie Jonas Barish aufzeigt. Ihren jüngsten Nachhall findet die platonische Medienkritik in den Klagen über die vermeintlich irreführende «Emotionalisierung» von Sachverhalten vermittels ihrer (massen)medialen
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neurologische Forschung untermauerten Szenarien einer bleibenden Schädigung des Gehirns durch Bildschirm- und andere Medien.28 Ganz im Gegensatz zur Medienphobie fürchtet die Medieneuphorie die Potenziale und Wirkungen der Medien nicht, sie feiert sie. Sie behauptet, dass Medien der menschlichen Existenz neue Dimensionen eröffnen und zu einer allgemeinen Steigerung des Seins führen. Marshall McLuhans Formulierung (1964) von den Medien als «extensions of man» ist hierfür ein Beispiel,29 aber auch die These von André Bazin, dass die Fotografie den Dingen ein ewiges Leben im Bild verschafft (vgl. Hediger 2009b). Ferner gehören dazu all jene vortheoretischen affektiven Besetzungen, die um die Erlebnispotenziale kreisen, die durch bestimmte Medien und Dispositive freigesetzt werden. Das Französische, die Sprache des Landes, das mit Pathé den ersten multinationalen Konzern hervorbrachte, der Kinotechnik und Filme ebenso herstellte wie Grammophone und Schallplatten, hat für zwei klassische Formen der Medieneuphorie eigene Begriffe geprägt: mélomanie für eine Musikleidenschaft, die im Sammeln von Schallplatten und anderen Tonaufzeichnungen ihren Ausdruck findet, und cinéphilie für die affektive Besetzung oder vielmehr: Überbesetzung von Kino und Film.30 Doch es gibt dabei auch Positionen, die zwischen Medienphobie und Medieneuphorie oszillieren. Béla Balázs’ Feier des filmischen Bildes, das es uns erlaube, der Physiognomik der Dinge wieder gewahr zu werden, ist ohne Zweifel ein Beispiel für Medieneuphorie und hat zugleich zur Voraussetzung, dass man der Schrift im scharfen Gegensatz zum Bild eine lebensmindernde Wirkung zuschreibt. Genau umgekehrt stellt sich die Verteilung von Medienphobie und Medieneuphorie bei kulturkritischen Autoren von Günther Anders und Daniel J. Boorstin über Guy Debord bis zu Chris Hedges dar, die – um es mit einem Buch-Untertitel von Hedges auszudrücken – «the end of literacy and the triumph of spectacle» diagnostizieren, also das Ende der Schriftkultur und ihre potenziell apokalyptische Substitution durch Dominanz des Bildes (Anders 1956; Boorstin 1961; Debord 1996; Hedges 2009). Solche Autoren loben und lieben die Schrift und fürchten sich vor dem Bild (und dabei ist vor allem das elektronische Bild des Fernsehens gemeint).31
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Darstellung; vgl. Burnyeat 1999; Statkiewicz 2000; Barish 1966; Bruch 2004. Einschlägig ist hier vor allem Spitzer 2006. Zur medieneuphorischen Latenz einer vermeintlichen «Natürlichkeit» der Medien vgl. Rieger 2008. Eine Geschichte der Cinéphilie hat Antoine de Baecque 2003 vorgelegt. Stärker theoretische Perspektivierungen finden sich in deValck/Hagener 2005; Keathly 2005; Martin 2009. Dass die Gegensätze von Schrift und Bild (oder von Sehen/Passivität und Lesen/Aktivität) sich mitunter in ihr Gegenteil verkehren, darf nicht erstaunen. Solche Gegensätze
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Schließlich gibt es neben Medienphobie und Medieneuphorie die Medienvergessenheit. Es handelt sich um eine Haltung, die durch eine Täuschung gekennzeichnet ist, eine Selbsttäuschung des Menschen und zugleich ein Versehen der Kultur. Medienvergessenheit meint, dass wir uns der unhintergehbaren medialen Voraussetzungen von Sinn und Bedeutung und damit auch des Handelns nicht gewahr sind.32 Sie liegt nicht zuletzt dort vor, wo «Inhalt» in Absehung von den Kanälen seiner Übertragung oder den Medien seiner Vermittlung zum Gegenstand gemacht wird, und sie tritt selbst noch in Diagnosen zutage, die besorgt feststellen, dass wir in einer vollständig mediatisierten Gesellschaft leben. Denkt man etwa an die Figur der Mutter, die im frühen 19. Jahrhundert ihrem Kind das Alphabet beibringt, mit der sich Friedrich Kittler in seinem Buch über Aufschreibesysteme um 1800 und 1900 befasst (Kittler 1995, 37-68), so drängt sich die Frage auf, ob es je anders war: Mit der Medialität, der Schrift, gehen Menschen schon seit einigen tausend Jahren um. Die drei Register der Medienphobie, der Medieneuphorie und der Medienvergessenheit strukturieren die gesellschaftliche Wahrnehmung ebenso wie die Praktiken der Medienkultur und die wissenschaftliche Reflexion von Medien. So herrscht auf der Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein weitreichender Konsens über die Gefährlichkeit von Medien, der sich in einer Bildungspolitik niederschlägt, die den Schutz des Kindes mit ähnlicher Verve ins Zentrum stellt wie die Umweltpolitik den Schutz von Natur und Arten. Auf der Ebene der kulturellen Praktiken wiederum findet die Medieneuphorie derzeit kulturellen Ausdruck in der erwähnten Konjunktur des Festivals, dieser kollektiven Feierstunde, die sich mit wachsender Häufigkeit um Film und Medienkunst dreht. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion schließlich haben alle drei Register ihren Ausdruck in eigenständigen Disziplinen oder Forschungsfeldern gefunden. So fokussieren Subdisziplinen der Kommunikationswissenschaft wie die Medienpädagogik und die Medienethik die Gefahrenpotenziale
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sind, wie Jacques Rancière festhält, «tout autre chose que des oppositions logiques entre termes bien définis. Elles definissent proprement un partage du sensible, une distribution a priori des positions et des capcités et incapacités attachées à ces positions. Elles sont des allégories incarnées de l’inegalité» (2008, 19). Zur Instabilität analytischer Dichotomien in der philosophischen Ästhetik und der Theorie der Medien seit Lessing vgl. auch Mitchell 1986. Psychoanalytisch versierte Medienphilosophen deuten die Medienvergessenheit als Ergebnis einer Verdrängung ursprünglicher mediophober Impulse. Jacques Derridas Grammatologie etwa lässt sich als Versuch des Anschreibens gegen die Schriftphobie und Schriftvergessenheit des europäischen metaphysischen Denkens lesen. Ähnlich verweisen die beiden wichtigsten Arbeiten von Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900 und Grammophon, Film, Typewriter, auf ein verdrängtes und vergessenes mediales Apriori zunächst der Literatur und, per extensionem, der Kultur.
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von Medien, ihre schädigenden und manipulativen Wirkungen (wie überhaupt ihre Wirkungen), und entwickeln Strategien und Methoden der Eindämmung. Ferner eignet der Medientheorie wie der Filmwissenschaft seit ihren Anfängen vor mehr als fünfzig Jahren ein deutlicher medieneuphorischer Impuls. Zumindest für die Filmwissenschaft gilt, was Thomas Elsaesser einmal festhielt: Dass Begehren nicht nur einen ihrer Gegenstände darstellt, sondern sie dem Begehren, das der Cinéphile auf sein bevorzugtes Medium richtet, auch ihren Erkenntnisimpuls verdankt. Filmwissenschaft entspringt, zumindest in ihren Anfängen, dem Mehr-wissen-Wollen von Enthusiasten, um nicht zu sagen: von Verliebten. Und schließlich bildet die Medienvergessenheit den Ansatzpunkt von Medienwissenschaft und Medienphilosophie. Die Medienwissenschaft ist in gewissem Sinn eine umfassende Anamnese, eine philosophische Therapie, die auf die medialen Möglichkeitsbedingungen der Kultur reflektiert und den Menschen über die medientechnische Bedingung seines Daseins, ja mitunter auch über seinen Status als Epiphänomen von Medientechnik aufklärt. Wie oben skizziert, wird die Debatte über Medienbildung vom Affekt der Medienphobie dominiert. Die Beiträge zu diesem Band setzen sich dagegen zum Ziel, der Debatte um die pädagogische Herausforderung, vor die uns Medien stellen, unter Rückgriff auf die Denk- und Wissenstraditionen, die sich aus der Medieneuphorie und der (medien)wissenschaftlichen Überwindung der Medienvergessenheit entwickelt haben, eine andere Richtung zu geben. So wird Filmbildung in Frankreich, wie Alain Bergala im Gespräch mit Bettina Henzler ausführt, in den frühen 1980er Jahren aus dem Geist der Cinéphilie geboren. In Erweiterung dieses Ansatzes und unter Einbezug der Erkenntnisgewinne der Medienwissenschaft nimmt dieser Band den Zusammenhang von Medienkultur und Bildung neu in den Blick. Namentlich steht er im Zeichen der Frage, die unter anderem von Cary Bazalgette in ihrem Beitrag formuliert wird, ob eine Konzeption von Medienbildung, die das Erlernen des kompetenten Gebrauchs von Medien ins Zentrum stellt, nicht immer schon zu spät kommt und überdies den eigentlichen Gegenstand von Bildung unter Medienbedingungen verfehlt. Eine Medienpädagogik, die um Medienkompetenz kreist, versteht unter Medienbildung die Erziehung zur «Fähigkeit, selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortlich» mit Medien umzugehen.33 Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Allerdings scheint man damit zu unterstellen, dass die Subjekte dieser Pädagogik über die genannte Fähigkeit zunächst nicht verfügen. Für eine Medienpädagogik, die auf den Begriff der Me33
Vgl.[http://www.medienkompetenz-hessen.de/dynasite.cfm?dsmid=9917 am 15.11.2010)].
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dienkompetenz aufbaut, gilt möglicherweise, was der Philosoph Jacques Rancière für die Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert festhält: Sie basiert auf der Annahme eines fundamentalen Unterschieds der intellektuellen Niveaus und bringt dem Schüler als Erstes seine eigene Unfähigkeit bei, die sie dann zu überwinden sich anschickt (vgl. Rancière 2009, 21).34 Dem steht unter anderem die Einsicht aus dem Beitrag von Stefanie Schlüter und Volker Pantenburg entgegen, dass Kinder für filmische Formprozesse ein besseres intuitives Verständnis haben als die meisten Erwachsenen. Diese überraschende, im Lichte der bisherigen Debatte kontraintuitiv erscheinende These, die allerdings aus der Praxis der Filmvermittlung selbst gewonnen ist, legt nahe, dass möglicherweise gerade im Feld der Medien die Unterschiede des Verständnisses nicht so ausgeprägt sind, wie dies der Begriff einer überhaupt erst herzustellenden Medienkompetenz nahelegt. Was diese Medienkompetenz angeht, so steht dabei in der Regel weniger die Vermittlung von historischem Wissen und von Instrumenten der Analyse im Vordergrund; vielmehr geht es, wie beschrieben, um Maßnahmen zur Vorbeugung gegen die mutmaßlichen Folgeschäden von Medienwirkungen. Weiterbildungsprogramme, die auf der Medienkompetenz aufbauen, bilden denn auch eher Sozialarbeiter aus als Lehrer. Sie formen Spezialisten der Prävention. Wenn es eine gemeinsame Stoßrichtung der Texte in diesem Band gibt, dann die zu fragen, ob im Vordergrund einer Bildung (und Lehrerbildung), die sich Medien zum Gegenstand nimmt, nicht die Fähigkeit stehen sollte, Schülern ausgehend von ihren Vorkenntnissen und Fragen die zeitgenössische Medienkultur durchsichtig zu machen. 35 Die Annahme scheint bedenkenswert, dass es den Adressaten weniger an Kompetenz im Umgang mit Medien fehlt als an Wissen über deren Geschichte und Ästhetik – also an Bildungswissen im durchaus klassischen Sinne. In den fünf Kapiteln des vorliegenden Bandes sind unterschiedlich gelagerte Beiträge zur Debatte um Medienkultur und Bildung versammelt, die auf eine Neuausrichtung zielen. Das erste Kapitel, «Umrisse des 34
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Zur Annahme einer ungleichen Verteilung der Intelligenz in der Pädagogik und die Konsequenzen der Aussetzung dieser Annahme am Beispiel von Joseph Jacotot vgl. auch Rancière 2007. Zur Relevanz von Rancières Denken für die Kunsterziehung vgl. Tanke 2010. So steht etwa auf der Homepage des Hessischen Kultusministeriums im Zusammenhang mit Lehrerfortbildungsangeboten zur Medienkompetenz: «Präventionsansätze sind ein wichtiger Teil der Fortbildung». ‹Prävention›, ein Begriff, der primär in der Medizin verwendet wird, meint ganz allgemein «Problemvorbeugung». Medienbildung, die auf dem Kompetenzbegriff aufbaut, geht demnach davon aus, dass Medien zunächst und zumeist pathogen sind, und zwar im Hinblick auf das Individuum wie auf die Gesellschaft; vgl. [http://www.hessen.de/irj/HKM_Internet?cid=5406401a4f1 04010cae3f78d1d16e317 (Zugriff am 15.11.2010)].
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Terrains», entwirft einen analytischen Rahmen für die beiden großen Fragen, die hier behandelt werden: Was ist Film heute, und was heißt Bildung unter Medienbedingungen? Malte Hagener untersucht in seinem Beitrag «Wo ist Kino heute?» die Konsistenz des Wissensobjekts Films unter den gegenwärtigen Medienbedingungen, die er mit dem an Deleuze angelehnten Begriff der «Medienimmanenz» charakterisiert. Mit einem metatheoretischen Blick auf die Filmwissenschaft legt er dar, wie ein ontologisches und medienhistorisches Fragen nach dem Proprium des Films von einer topologischen Perspektive abgelöst wurde, und erkundet die Konsequenzen dieser Perspektivenverschiebung – für den Gegenstand selbst wie für seine Erforschung. Bei einem Schlüsseltopos medienphobischer Diskurse, beim Ideal eines von medialen Einflüssen gänzlich unberührten Kindes, setzt Vinzenz Hediger mit seinem Beitrag «Der Traum vom medienfreien Kind» an, der im Rückgriff auf die Geschichte des Bildungsbegriffs und im Rahmen einer Re-Lektüre von Rousseaus Émile das Problem der Bildung unter Medienbedingungen aufwirft. Das zweite Kapitel, «Archiv, Programmierung, Kanon», behandelt die Praktiken und institutionellen Rahmungen der Zirkulation filmhistorischen Wissens. Matthias Christen untersucht in «Das bewegliche Archiv» die DVD als Schnittstelle von Filmwissenschaft, Philologie und Marketing. In einer Analyse unterschiedlicher Editionsmodelle zeigt er auf, dass DVDs filmhistorisches Wissen einsetzen, um Filme philologisch zu legitimieren und damit zu nobilitieren, aber auch, um der Edition eines alten Films den Aspekt der Neuheit zu verleihen. Eine radikale Antwort auf die Frage, was man von der Filmgeschichte wissen muss, stellt Benoît Turquety ins Zentrum seines Beitrags: Er zeichnet die Geschichte des Kanons des «reinen Kinos» nach, den Peter Kubelka zusammen mit Jonas Mekas und P. Adams Sitney für das Anthology Film Archive in New York entwickelte – ein früher Versuch der Musealisierung jenseits der klassischen Ansätze der Kinemathek, an dem sich die Dynamik von Filmkanons in fast idealtypischer Weise untersuchen lässt. Alexander Horwath wirft im Gespräch mit Vinzenz Hediger die Frage nach der Rolle des Filmmuseums in der gegenwärtigen Film- und Medienkultur auf und macht sich für ein neues, produktives Verständnis der Rolle des Filmkurators stark. Dessen Aufgabe, so Horwath, sei es, auf der Grundlage einer vertieften Kenntnis jeweiliger Sammlungsbestände Programme zu entwickeln, die neue Felder des filmischen Wissens eröffnen und durchaus auch die etablierten Kanons unterlaufen und erweitern. Alternativen zu den etablierten Kanons weniger für die Filmkultur als für die Filmwissenschaft entwerfen Alexandra Schneider und Vinzenz Hediger in ihrem Beitrag «Vom Kanon zum Netzwerk», der die Frage nach der Organisation von Materialkorpora und
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filmwissenschaftlichen Erkenntnisgegenständen jenseits des dominanten Paradigmas von auteur/nation stellt. Das dritte Kapitel, «Cinéphilie und pädagogischer Eros», gibt einen Überblick über maßgebliche Ansätze und Positionen der Vermittlung. In einem Gespräch mit Bettina Henzler erläutert der Filmkritiker und -theoretiker Alain Bergala die Grundzüge des französischen Modells einer Pädagogik, die den Film zunächst über ästhetische Fragen und Problemstellungen aufschlüsselt und auf die Entwicklung eines Sensoriums für Gestaltungsprozesse abzielt. Aus ihrer langjährigen Erfahrung als Koordinatorin der pädagogischen Initiativen des British Film Institute berichtet Cary Bazalgette von den Erfolgen und Grenzen einer ästhetischen Filmerziehung in Großbritannien, wobei sie von einer Kritik am Paternalismus einer Pädagogik ausgeht, die sich am Begriff der ‹Medienkompetenz› (und der darin implizierten Inkompetenz der jugendlichen Mediennutzer) orientiert. Den bislang vielversprechendsten Versuch einer fächerübergreifende Filmpädagogik an deutschen Schulen bildet das sogenannte «Freiburger Curriculum», das Joachim Pfeiffer vorstellt und erläutert. Den in der Filmvermittlung meist vernachlässigten Experimentalfilm rücken Stefanie Schlüter und Volker Pantenburg ins Zentrum ihrer Überlegungen, die sich aus einer langjährigen Praxis an Schulen und in Kulturinstitutionen speisen. Dabei zeigt sich unter anderem, dass – wie dies in ähnlicher Form auch Cary Bazalgette beobachtet – bei Kindern und Jungendlichen ein spezifisches Interesse an Formfragen, wie Experimentalfilme sie immer aufwerfen, gar nicht erst geweckt werden muss; fern davon, auf den Inhalt fixiert zu sein, sprechen Kinder durchaus auf die bildästhetische Dimension an. Sie sind in diesem Sinne, wie Schlüter und Pantenburg festhalten, im Ansatz immer schon Medienwissenschaftler und werden allenfalls dazu erzogen, es nicht mehr zu sein. Das vierte Kapitel, «Der Film vermittelt sich selbst», geht der Frage nach dem Ort des filmischen Wissens in den Werken nach. Thomas Elsaesser zeigt anhand von James Camerons Avatar, dass Hollywood-Blockbusterfilme die fragenden Zuschauer schon mit in Rechnung stellen und im Film selbst und in seinen peripheren Diskursen dafür sorgen, dass für einen Agenten, der sich um die Vermittlung des Films kümmern würde, kein Platz bleibt. Eine filminhärente Pädagogik in Sachen Medienästhetik und Medientheorie spürt Winfried Pauleit in seiner detaillierten Analyse von Francis Ford Coppolas The Conversation auf, der den Raum des filmischen Wissens auch als akustischen Raum erkundet. Einen Zwischenraum von Fernsehen und Film erforscht Andrea S. Braidt in ihrer Auseinandersetzung mit dem neuen Genre des «Cinematic Television», für das in exemplarischer Weise die US-amerikanische Serie Mad Men steht, eine
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zeithistorische Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und biografischen Entwürfen in der Werbebranche. Unter Einbezug des Foucaultschen Episteme-Begriffs schlägt sie vor, «Cinematic Television» als Ort zu lesen, an dem Fernsehen filmisches Wissen spiegelt und in dieser Brechung neu lesbar macht. Ein Plädoyer für eine dezidiert an Bildfragen und den Strukturen des Films orientierte Analyse führt Oliver Fahle, indem er ausgehend von einer Überlegung des Kunsthistorikers Max Imdahl das Irreduzible der Bildlichkeit ins Zentrum stellt und rekonstruiert, wie der Film in einer differenziellen Auseinandersetzung mit dem Fernsehen in den 1960er und 1970er Jahren seine Spezifik über ästhetische Strategien selbst bestimmt. Das fünfte Kapitel, «Orte des Films und Schichten des Wissens», richtet in der skizzierten ökologischen Perspektive den Blick auf die Relationen des Filmbilds zu seinen Milieus und fragt insbesondere nach dem Zusammenhang von Raum, Wissen und Erinnerung. Dorit Müller geht davon aus, dass die Untersuchung des Umbruchs, der den Anlass und Gegenstand dieses Bandes bildet, eine medienhistorische Perspektivierung verlangt. Sie untersucht die Diskurse, Institutionen, Kulturen und Techniken der Wissensproduktion und -verbreitung seit der Etablierung des Films. Müller konzentriert sich auf die deutsche Kultur- und Spielfilmproduktion und setzt einen Zeitschnitt in der Zwischenkriegszeit. Dabei interessiert sie sich insbesondere für geografisches Wissen, seine Darstellung und Zirkulation im Unterrichtszusammenhang und im Kino. Das Filmbild im urbanen Raum liefert den Ausgangspunkt für die Überlegungen von Erkki Huhtamo, der eine Medienarchäologie der urban screens vorstellt. Huhtamo betrachtet die Vervielfältigung der Bewegungsbilder im öffentlichen Raum als «Gulliverisierung der Medien», ein Prozess, der im 19. Jahrhundert einsetzt und Medien relativ zur Größe des Menschen bald mikroskopisch klein, bald übergroß werden lässt. Raymond Bellour wiederum vertritt die These eines «absoluten Privilegs des Dispositivs». Das Kino, so Bellour, ist ein Erinnerungskörper, der zur vollen Entfaltung nur unter den spezifischen Bedingungen der Vorführung im abgedunkelten Raum kommt. Sie ist eine Liturgie, die einer Glaubensregel folgt, deren Verkörperung der Zuschauer ist. Wenn er diese Glaubensregel verletzt und das Bild den Raum des Kinos verlässt, werde das Filmbild weniger erinnerungsträchtig und damit eines, das einer wesentlichen Dimension seiner ästhetischen Erfahrung beraubt ist. Was vom Film bleibt, wenn der Zuschauer den Kinoraum verlässt, ist eine Frage, die Annette Kuhn nicht mit einem theoretischen Argument, sondern im Rahmen einer auf Publikumsethnografien gestützten kulturellen Memorik des Films zu bearbeiten versucht. Anhand des Fallbeispiels von Walt Disneys Snow White in den späten 1930er Jahren erforscht sie den prekären und ephemeren Wissenstypus der Filmerinne-
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rung. Dabei zeigt sich, dass Kinogänger sich selten an Filme, in der Regel aber an den Ort, also das konkrete Kinotheater erinnern. Die Herausgeber bedanken sich bei Sebastian Altmeyer, Christine N. Brinckmann, Jacqueline Eikelmann, Daniel Hermsdorf, Susanne von der Heyden, Eva Hohenberger, Gabriele Schaller und Michel Vincent. Die Ringvorlesung wurde mit Unterstützung des Instituts für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität, des RuhrForum Filmbildung36 und des Deutsch-Französischen Kulturzentrums Essen realisiert. Vinzenz Hediger, Oliver Fahle, Gudrun Sommer
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Kapitel 1
Umrisse des Terrains
Malte Hagener
Wo ist Film (heute)? Film / Kino im Zeitalter der Medienimmanenz
Es ist in jüngster Zeit vielfach die Rede davon, dass der Film seine textuelle, kulturelle, ökonomische Konsistenz eingebüßt habe und sich in eine Vielzahl von – materiellen wie immateriellen – Fragmenten auflöse. Was bedeutet diese Behauptung der medialen Instabilität, Verflüssigung und Formbarkeit in einer Zeit der rapiden technologischen Entwicklung und zunehmenden Konvergenz der medientechnischen Dispositive? In diesem Beitrag möchte ich einen theoretischen Rahmen skizzieren, der den Film im Zeichen einer radikalen Transformation zu begreifen ermöglicht, die viele Aspekte betrifft: Unternehmensstruktur (Globalisierung, Post-Industrialisierung, Konglomeratisierung), Technologie (der Übergang zum Digitalen), Unternehmensstrategie und namentlich Modelle der Synergie (Marketing, transmediale Produktketten), Bildästhetik und Herstellungsweise (Special Effects, Digital-3D), Zirkulation (Festplatte, Satellit, Internet) und Rezeptionsform (IMAX, 3D, Home Cinema, Mobilisierung und Miniaturisierung). Statt ein weiteres Mal den Tod des Films zu konstatieren oder aber sein ewiges Leben zu proklamieren, will dieser Text begriffliche Werkzeuge für den Film im Zeitalter der Medienkonvergenz bereitstellen und so ein anderes Verständnis der zeitgenössischen Konfiguration unserer Medienkultur eröffnen. Was, wann, wo? Es gibt unterschiedliche Arten, die Geschichte der Filmwissenschaft zu erzählen. So kann man zeigen, wie sie sich auf große Persönlichkeiten, einflussreiche Nationen oder wichtige Schulen und Denkansätze konzentriert hat. Eine andere Möglichkeit, der hier der Vorzug gegeben werden soll, besteht darin, die Geschichte der Filmwissenschaft in drei Phasen zu unterteilen, die durch unterschiedliche Leitfragen gekennzeichnet sind. Von den 20er Jahren bis in die 70er Jahre fragte die Filmtheorie vor allem «Was ist Film?» oder «Was ist Kino?», suchte also nach einer Essenz oder einem ontologischen Substrat, nach etwas, das für den Film als künstlerische Aus-
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drucksform, als soziale Kraft und als kulturelles Phänomen spezifisch und kennzeichnend ist. Die Antworten auf diese Frage nach der Medienspezifik fielen unterschiedlich aus, je nachdem, wer sprach: Ein Realist wie André Bazin sah im Film die indexikalische Spur einer vergangenen Präsenz, ein Soziologe wie Siegfried Kracauer folgerte, dass das Kino auf verschlungene Weise den zukünftigen Kurs einer Gesellschaft vorausahnen lasse, während ein Strukturalist wie (der frühe) Christian Metz ein ebenso weitreichendes wie kompliziertes Zeichensystem erblickte, und eine feministische Poststrukturalistin wie Laura Mulvey sah im Film eine omnipotente und überwältigende Maschine zur Aufrechterhaltung und Naturalisierung von sexueller Differenz in der Gesellschaft.1 Trotz aller grundsätzlichen Unterschiede zielten in dieser Phase praktisch alle theoretischen Texte im Kern auf das Gleiche ab: auf eine Essenz, die den Film besonders macht und ihn von anderen kulturellen Ausdrucksformen und Kunstrichtungen unterscheidet.2 Im Zuge der New Film History der späten 1970er Jahre, die bis dato vernachlässigte Felder wie das frühe Kino oder die Vorgeschichte der Kinematografie im 19. Jahrhundert erschloss, trat an die Stelle der ontologischen Frage «Was ist Film?» die medienhistorische Frage «Wann ist Film?». Eine der lebhaftesten Debatten, die ihren Höhepunkt zur Hundertjahrfeier des Kinos 1995 (selbst wiederum ein umstrittenes Datum) erreichte, drehte sich um die Ursprünge und Anfänge des Films (vgl. dazu Elsaesser 2002).3 Im Kern ging es um das Problem, was man genau unter der ‹Erfindung des Films› versteht und welche Kriterien man anwendet, um ein Datum dafür zu bestimmen. Eines der Ergebnisse war, dass die legendäre Veranstaltung der Gebrüder Lumière im Grand Café am Boulevard des Capucines nicht länger als ‹Geburt des Kinos› bezeichnet wurde, sondern stattdessen als ‹die erste öffentliche Präsentation eines projizierten Filmstreifens mit einem bestimmten Mechanismus vor einem zahlenden Publikum›. Andere Mitbewerber wie Edisons Kinetoscope, Ottomar Anschütz’ Schnellseher oder das Bioskop der Skladanowsky-Brüder qualifizierten sich aus verschiedenen Gründen nicht als Kandidaten für ‹das erste Mal›. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde seit den 1980er Jahren auch die Genealogie der präkinematografischen optischen Instrumente im 19. Jahrhundert gründlich erforscht und neu geschrieben, wobei die stabile Konfiguration einer linearen Film1 2
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Siehe in der entsprechenden Reihenfolge Bazin 2004; Kracauer 1979; Metz 1972; Mulvey 1989. Diese Phase ließe sich noch einmal unterteilen in einen ontologisch geprägten Abschnitt («Was ist Film?» bei Bazin und Kracauer) und einen, der eher nach den gesellschaftlichen Funktionalisierungen und Rahmungen fragt («Was macht Film?» bei Metz und Mulvey); beide Abschnitte verbindet jedoch die totalisierende Vorstellung, dass sich Film in einer übergreifenden Theorie fassen ließe. Eine genealogische Erkundung der ersten Jahre des Kinos bietet Rossell 1998.
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geschichte, die alles von der Emergenz des Kino-Langfilms her dachte und die bis dahin noch unhinterfragt vorausgesetzt werden konnte, zunehmend ins Wanken geriet (vgl. dazu Crary 1990; Mannoni 2000; von Dewitz/Nekes 2002). Die Frage nach dem Wann impliziert einen historischen Zweifel an dieser Genealogie des Mediums und der kulturellen Ausdrucksform Film, der sich in jüngster Zeit zum epistemologischen Zweifel an der Stabilität des Films in seiner derzeitigen Form verschoben hat. Derweil der Film, der schon oft totgesagt wurde, wieder einmal einen Frühling erlebt, zugleich aber auch seltsam entlokalisiert erscheint, können wir diesen Zweifel am Gegenstand der Filmwissenschaft neu formulieren als «Wo ist Film?» oder «Wo ist Kino?». Diese Frage überhaupt zu stellen erschien lange Zeit nachgerade sinnlos, weil es sich beim Kino um ein Gebäude handelte, das man bezeichnen, umrunden und betreten konnte, und auch der Film als materieller Bildträger dem bloßen Auge zugänglich war. Und selbst wenn man über das Kino als soziales Ereignis nachdachte, als Herstellungsmethode oder Dienstleistung, waren die Praktiken und Institutionen weitgehend stabil, örtlich gebunden und damit einfach abzugrenzen und zu benennen. Heute hat sich die Situation gewandelt. Ein Film kann als materielle Kopie noch immer vom Kurierdienst geliefert werden. Er kann aber auch über eine Satellitenverbindung übertragen, in Privaträumen illegal über das Internet heruntergeladen oder an einer Straßenecke auf einer raubkopierten DVD gekauft werden; er kommt in die Privatsphäre über Breitbandkabel oder W-Lan, wird auf Laptops und Mobiltelefonen konsumiert, man findet ihn in der Galerie und im Museum, aber auch in der Spielarkade und auf YouTube. Der Film ist allgegenwärtig, überall und nirgends zugleich. Es ist die Frage nach dem Ort des Films – seinem materiellen, kulturellen und metaphorischen Ort –, die ich nun diskutieren möchte, indem ich die Logik des Wissensobjekts Film in einem Moment nachzeichne, in dem er als Ware und Text nicht länger gebunden und stabil und aufgrund seines dispersiven, flüchtigen und flüssigen Status immer schwieriger zu (be)greifen ist. Die Instabilität des Films Wenn man das Kino als Institution und System betrachtet, lassen sich drei heuristische Bezugsrahmen finden, die Grenzen markieren, die der Film derzeit überschreitet und verschiebt. Zunächst kann er nicht länger als materiell und textuell stabiles Objekt beschrieben werden. Ein Film war lange Zeit zunächst ein physisches Objekt, ein Satz von Spulen, die man inspizieren konnte. Er bestand aus Akten, die in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet wurden, um vor einer Gruppe von Personen projiziert zu werden, die (zumeist gegen Eintrittsgebühr) Raum und Zeit einer be-
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stimmten Vorführung teilten. Heute, da ein Film auf Video oder auf DVD ins Haus kommt, digital gespeichert und über Datennetze verbreitet wird, gibt es keine solch kollektiv geteilte Grundlage mehr. Nicht nur die Länge war ehemals vorgegeben, sondern auch die Lebensdauer vorherbestimmt, weil jeder Film einen praktisch identischen Parcours durchlief, der in einigen Wochen von first-run-Kinos (Premierentheater) über second-runHäuser (große Häuser in Kleinstädten) zu third-runs (Vorortkinos, Nachspielorte, Provinzkinos) führte. Danach wurden Filme zu Medienabfall, der heutzutage ironischerweise den wertvollsten Aktivposten der Studios ausmacht, der so genannte back catalogue, der im Fernsehen und auf DVD endlos recycelt und neuen Verwendungen zugeführt wird, Remakes, Sequels und Spinoffs hervorbringt, Synergien und Merchandising in endlosen Variationen erzeugt (vgl. Hediger 2005). Mit der materiellen Stabilität und Gegenständlichkeit ist auch die textuelle Stabilität fraglich geworden: Im Kino hatte ein Film eine vorgeschriebene Dauer und Reihenfolge, die von den Zuschauern weder verändert noch verlangsamt oder beschleunigt werden konnte. Der Videorecorder war der erste Schritt hin zu einer flexibleren und veränderbaren Form, während die DVD und die Zerlegung in YouTube-Clips und Ausschnitte heutzutage eine Vielzahl an Zuund Ausgängen zum Film gestatten, unbegrenzte Wiedergabe, schneller Vorlauf, Zeitlupe und frame capture. Diese Veränderungen transformieren den Film fundamental als materielles Objekt und als textuelles Artefakt und betreffen damit auch das Kino als kulturelle Institution. Die zweite weitreichende Transformation kann mit den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Medienindustrie in Verbindung gebracht werden. Die Logiken von Synergie und Cross-Marketing erzeugen gezielt eine größere Instabilität des Objekts Film. Filme können von Computerspielen, Comics oder Fernsehserien adaptiert werden, sie schaffen ihre eigenen Fortsetzungen, Spielzeuge, Happy Meals oder Websites, sie geben Anlass für T-Shirt-Herstellung und Diskussionsgruppen, für Kultpublikum und Internetparodien. Heute ist ein Film vor allem ein Knotenpunkt in einem großen und komplexen Netzwerk von Produkten und Dienstleistungen, die weit über ihn hinaus reichen. Auch wenn diese Entwicklungen sehr viel älter als die derzeitigen Transformationen sind, so haben sich doch Intensität und Reichweite tiefgreifend gewandelt. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, wenn die Filmgeschichte derzeit gerade an früheren Beispielen der Instabilität des Dispositivs Kino jenseits des kommerziellen Spielfilms aufzeigt, dass der Film niemals so stabil war, wie man lange Zeit geglaubt hatte.4 Eine kursorische Passage durch die zehn finanziell erfolg4
Man denke etwa an das Interesse am Amateurfilm, am Gebrauchs-, Lehr- und In-
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reichsten amerikanischen Titel des Jahres 20075 soll aufzeigen, wie sich die Ausdehnung des Netzwerks verwandter Objekte und Dienstleistungen gewandelt hat. Spider-Man 3 (Sam Raimi), Shrek the Third (Chris Miller), Transformers (Michael Bay), Pirates of the Caribbean: At World’s End (Gore Verbinski), Harry Potter and the Order of the Phoenix (David Yates), The Bourne Ultimatum (Paul Greengrass), 300 (Zack Snyder), Ratatouille (Brad Bird), I Am Legend (Francis Lawrence), The Simpsons Movie (David Silverman) sind alle in unterschiedlicher Weise Teil eines Franchise, das den Film selbst ökonomisch übersteigt. Fünf dieser zehn Titel (Spider-Man, Shrek, Pirates, Harry Potter, Bourne) sind Sequels, also Fortsetzungen, vier (Spider-Man, Transformers, 300, Simpsons) basieren auf vorher existierenden Comics oder Animationen, einer (Pirates) bezieht seine Inspiration von einer Themenparkattraktion, zwei (Harry Potter, I Am Legend) greifen auf Erfolgsromane zurück, und alle zogen eine ganze Reihe von DVD-Veröffentlichungen nach sich (collector’s edition, director’s cut, extended version, ultimate critical edition, gold edition, platinum edition etc.).6 Es ist hier nicht der Platz, die vielfältigen und überlappenden Verästelungen dieser zehn Filme durchzugehen, die auch dank der Tatsache so erfolgreich sind, dass sie – ein wenig wie die Transformers selbst, die in dieser Hinsicht eine Allegorie ihres eigenen ökonomischen Status darstellen – ihre Form so leicht verändern können. Eine solche Flexibilität ist längst Voraussetzung für das Interesse an einem Stoff – einer property, wie dies marktförmig in Hollywood genannt wird. Wie John Caldwell zum Prozess der Stoffentwicklung bemerkt, der immer schon als plurales Netzwerk der Vermarktungsmöglichkeiten gesehen wird: [...] story ideas will be developed as diversified entertainment properties that can be seen (as cinema, television, and pay per view), heard (as soundtracks, CDs, and downloads), played (as video games), interacted with (as linked online sites), ridden (as theme park attractions), touched (cell phones/pod casting), and worn (as merchandise). (Caldwell 2008, 232)
Insofern ist also ein Film auch in ökonomischer Perspektive nicht länger stabil und festgeschrieben, sondern multipel und formbar. Die Fähigkeit, sich flexibel immer neuen Gegebenheiten anzupassen, ist zur ökonomischen Notwendigkeit geworden. Die Kinoeinnahmen allein decken nur noch in Ausnahmefällen die Vermarktungs- und Produktionskosten ab,
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dustriefilm, aber auch an der paratextuellen Existenz des Films in Trailern, Plakaten, Soundtracks etc.; vgl. dazu insbesondere Schneider 2010. Die Zahlen stammen von http://www.the-numbers.com/ (Zugriff am 10.05.2008). Eine kulturelle Neueinschätzung des Kinos via Heimtechnologie bietet Klinger 2006. Insbesondere zur DVD vgl. Bennett/Brown 2008.
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die mittlerweile im Schnitt bei weit über 100 Millionen Dollar liegen. Zugleich bildet die Kinoauswertung die Voraussetzung für das wichtigste Gut, das man in der Medienwelt erwerben kann: Aufmerksamkeit. Erst in den sekundären und tertiären Märkten (DVDs, Sequels, TV, Spielzeug, Kleidung, Soundtracks, Computerspiele, Bücher oder Themenparkattraktionen) erwirtschaften die Studios, die allesamt von weltweit operierenden Medienkonglomeraten kontrolliert werden,7 die Gewinne, die durch den Aufmerksamkeitsfluss des Kinos generiert wurden. Deshalb ist das Kino hinsichtlich seiner Rolle in der heutigen Medienkultur auch schon als «billboard in time» (Elsaesser 2000, 11–22) bezeichnet worden, also als zeitlich ausgedehnte Reklamefläche, die Werbung macht für Produkte, die erst später auf Nebenmärkten Gewinne erzielen. Drittens aber entfaltet der Film eine kulturelle Präsenz weit über seine multiplen Plattformen und synergistischen Erscheinungsweisen hinaus. Ein Anzeichen dafür ist die zeitgenössische Kunst, die ohne den Film nicht mehr vorstellbar ist, der ihr Ideen, Orte, Figuren, Wahrnehmungen und Affekte liefert. Ich meine damit nicht nur direkte Zitate und Anspielungen oder den Einsatz von so genanntem «found footage» in der Film- und Installationskunst (vgl. dazu Blümlinger 2009). Von der Präsenz des Films in der Kunst zeugen auch vage Gefühle und indirekte Verweise nicht nur auf bestimmte Werke, sondern im Sinne einer Evokation des Kinos als einer Maschine, die affektive Begegnungen und starke Wahrnehmungen ermöglicht. Um nur einige Beispiele zu nennen: Jeff Walls sorgfältig komponierte Fotografien erscheinen wie Momentaufnahmen aus einer Filmszene; Cindy Shermans Untitled Film Stills antizipieren mit ihren seltsamen Orten, Posen und Kostümen Aushangfotos von Filmen, die noch zu drehen wären; Matthew Barneys Cremaster-Zyklus transponiert die Logik des Blockbusters (multiple Einstiegs- und Ausgangspunkte, endlose Wiederverwertung des gleichen Materials, fetischistische Ausstellung von Objekten aus dem Film, Wahrzeichen aus Architektur, Natur und Kultur, Anekdoten aus der Produktionsgeschichte) als ‹Museumsfilm› (Keller/Ward 2006) erfolgreich in die Kunstwelt; und Shirin Neshats Hochglanz-Installationen wären ohne unser kulturelles Wissen um kinematografische Codes der Mise-en-scène und der Narration nicht vorstellbar.8 Der Film ist mehr als je zuvor zu einer Lingua franca geworden, die überall auf der globalisierten Welt verstanden wird und damit Geltung und Relevanz beanspruchen 7 8
Zur ökonomischen Dynamik der zeitgenössischen Medienindustrie vgl. McDonald/ Wasko 2008; Grainge 2008; Miller 2009. Siehe zur Interrelation von Film und Installationskunst verschiedene Ausgaben der Zeitschrift Cinéma & Cie (Nr. 8, Herbst 2006; Nr. 10, Frühjahr 2008; Nr. 12, Frühjahr 2009).
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kann. Film ist ein Medium der Kommunikation – wie Sport, Kochen oder Mode –, in dem Individuen und Gemeinschaften Kontakt miteinander und mit Außenstehenden eingehen. Mehr denn je gilt, was ein fürs Kino sensibilisierter französischer Soziologe wie Edgar Morin schon im Kontext der Filmologie-Bewegung in den 1950er Jahren festhielt: In der Art, wie Menschen sprechen, sich kleiden und benehmen, in der Art, wie wir Bilder wahrnehmen und verstehen, leben wir in einem kinematografischen Universum – der Film ist zu einer eigenen Kultur geworden, zu einer Lebensform (vgl. Morin 2010). Natürlich könnte dies noch historisch und systematisch differenziert werden, nach den Großproduktionen der Blockbuster und den staatlich subventionierten europäischen Filmen, nach der billig hergestellten Genreware auf DVD und den Filmen aus emerging countries, die auf Festivals ihr Publikum finden und häufig von westlichen Finanziers co-produziert werden. Mein grundlegendes Argument zielt jedoch darauf ab, dass diese Differenzierungen für die Zirkulation und Präsenz des Films insgesamt höchstens noch von sekundärer Bedeutung sind. Weder die kinematografisierte Gegenwartskunst noch der zitathaft hochgerüstete Verweisapparat eines Tarantino, um zwei Beispiele zu geben, interessieren sich für solche Unterscheidungen, die der traditionellen Filmkultur lieb und teuer waren. Damit ist auch indirekt angedeutet, dass es eben nicht um eine veränderte Logik geht, die sich kausal auf die Digitalisierung zurückführen lässt, sondern dass diese Entwicklungen komplexer und weitreichender sind, in ihren Gründen wie auch in ihren Resultaten. Der Film im Zeitalter der Medienimmanenz Wenn es zutrifft, dass der Film einen Großteil seiner materiellen, textuellen, ökonomischen und kulturellen Stabilität verloren hat und sich stattdessen in einer unscharfen, verschwommenen Allgegenwart zeigt, so ist es wichtig hinzuzufügen, dass die drei skizzierten Felder – das kulturelle, das ökonomische und das ästhetische, um ihnen schematische Namen zu geben – tatsächlich keine exklusiv gegebenen Gegenstände sind, sondern ineinander übergehen und eher unterschiedliche Schichten beschreiben als distinkte Objekte. Was für einen Wirtschaftsanalysten oder einen Aktionär ein Aspekt der ökonomischen Verästelungen eines Films sein mag, könnte für einen Zuschauer ein Anzeichen für textuelle Instabilität sein, während dasselbe Phänomen in kultureller Hinsicht die Beziehung eines bestimmten Films mit anderen Werken der Populärkultur erhellen könnte. Jeder Versuch, diese unterschiedlichen Schichten auf definitive Weise zu entwirren und zu unterscheiden, ist zum Scheitern verurteilt, weil es sich
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um unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Phänomen handelt. Aus diesen Beobachtungen folgt, dass das Kino das Gewebe des Alltagslebens derart durchdrungen hat, dass es sinnlos erscheint, von einer Beziehung zwischen Realität und Film auf traditionelle Weise zu sprechen. Deshalb können wir nicht länger beanspruchen, dass es auf der einen Seite eine Realität gibt, die authentisch und von den Medien unberührt ist, während auf der anderen Seite ‹die Medien› existieren, die diese Welt abbilden oder repräsentieren. Wir leben im Zeitalter der Medienimmanenz, in dem es keinen transzendentalen Horizont mehr gibt, von dem aus wir Urteile über die allgegenwärtigen medialisierten Erfahrungen abgeben können. Der Begriff der Immanenz evoziert die Philosophie von Gilles Deleuze, der es darum geht, die binäre Logik zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmendem, zwischen Innen und Außen zu überwinden. Diese von Deleuze und Guattari beschriebene Immanenzebene bildet die Grundlage, von der man ausgehen muss, eine Immanenz, die der Transzendenz nicht gegenübergestellt werden kann wie in einer binären Logik, sondern die sich selbst immanent ist. In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass die Medien eine Immanenzebene bilden, insofern es keine Möglichkeit gibt, über sie hinaus oder von ihr unabhängig zu denken. Unsere Erfahrungen – unsere Erinnerungen und Identitäten, Perzepte und Affekte, Emotionen und Gedanken – sind immer schon medialisiert, sodass wir in gewisser Weise im Kino sind, selbst wenn dies (physisch) nicht der Fall ist. Wir sind ins Zeitalter des Kamerabewusstseins eingetreten, in dem unsere Vorstellungen vom Selbst und der Welt durch Rahmen bestimmt sind, die der Film und die Medien mit vorgeben. Mein Vorschlag besteht nun darin, dass es keinen fundamentalen Zweifel an der audiovisuellen Welt geben kann, die in unserer Umgebung am Anfang des 21. Jahrhunderts so durchdringend und allgegenwärtig geworden ist, dass dazu keine Position des Außerhalb mehr existiert, kein Ort, wo man den medialen Bildern entkommen könnte. Im heutigen Medienuniversum sind selbst unsere Wahrnehmung und unser Denken kinematografisch geworden. Patricia Pisters formuliert dies in Anlehnung an Deleuze so: «[W]e now live in a metacinematic universe that calls for an immanent conception of audiovisuality and in which a new camera consciousness has entered our perception» (2003, 16). Damit bewegen wir uns jenseits der klassischen philosophischen Opposition, in der Ontologie – die Dinge sind außerhalb des Subjektes in der Welt – und Epistemologie – alles ist im wahrnehmenden Subjekt vorhanden – diametral gegenübergestellt werden. Stattdessen argumentiert diese Position für die Immanenz der mediatisierten Bilder und Töne in uns und der Immanenz von uns in diesen Bildern und Tönen. Die klare Unterscheidung zwischen einem Akt
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der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Subjekt zerfällt, da die Immanenzebene einen Ausweg aus dieser traditionellen Opposition bietet. Psycho around the clock Zwei ganz unterschiedliche Beispiele von gegenüberliegenden Enden des kulturellen Wertesystems, die in einiger Hinsicht komplementär sind, in anderer wiederum unvereinbar, sollen dies erläutern helfen. Das erste Beispiel ist eine bereits klassisch zu nennende Installation aus den 1990er Jahren, Douglas Gordons 24 Hour Psycho (1993). Das Kunstwerk besteht aus einer handelsüblichen Videoversion von Hitchcocks Klassiker, verlangsamt um das Zwölffache auf eine Geschwindigkeit von etwa zwei Bildern pro Sekunde, sodass eine Einstellung von zehn Sekunden rund zehn Minuten dauert. Der Film hat, so vorgeführt, die Laufzeit, die der Titel ankündigt: 24 Stunden, ein ganzer Tag also, nach dem alles wieder von vorne beginnt. Der Zeitrahmen des Kino- oder Fernsehprogramms (bestimmte Anfangszeiten und eine festgelegte Dauer) geht über in eine Endlosschleife des immergleichen Materials. Gordons künstlerische Arbeit besteht nicht im Erzeugen neuer Bilder, sondern in der Auswahl eines bestimmten Gegenstandes aus dem schier bodenlosen Reservoir der Populärkultur, das in mehreren Parametern verändert wird. Gordon transformiert nicht nur die temporale, sondern auch die räumliche Dimension: Der Film wird unter Eliminierung des Tons auf eine schräg im abgedunkelten Raum hängende Leinwand projiziert; der Besucher kann um sie herumgehen und die Rückseite betrachten, wo das gleiche Bild seitenverkehrt sichtbar ist. Der Effekt ist der einer tiefgreifenden Verfremdung, die einen weiteren Beleg für die Immanenz der Medienkultur liefert: Psycho und insbesondere seine halsbrecherische Montage in der Duschszene sind kulturelle Ikonen, die sofort identifizierbar sind, selbst wenn man den Film nicht kennt.9 Die berühmte Duschszene werden die meisten Besucher von 24 Hour Psycho allerdings in einer Galerie kaum erleben, weil niemand gewillt sein dürfte, mehrere Stunden auf eine Szene zu warten, die er oder sie jederzeit zu Hause sehen kann. Natürlich ist es möglich, Begriffe wie ‹Aneignung› oder ‹Kidnapping› auf Gordons künstlerische Praxis anzuwenden (vgl. beispielsweise Broeker 2007), aber was ist mit einer solchen Operation zu gewinnen? Damit verlagert man die Begriffe auf bekanntes Gebiet, in diesem Fall biografische und kunsthistorische Ansätze, die einen interpretativen Rahmen rund um die Person (und den Geist) des Künstlers eröffnen. Was mir hingegen als wich9
Dies war möglicherweise auch der Ausgangspunkt für Gus Van Sants Remake (1998) wie auch der Grund für dessen finanziellen Misserfolg.
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tigster Punkt an Gordons Arbeit erscheint, ist die Tatsache, dass es für den Künstler und sein Publikum offenbar nicht länger möglich ist, Zugang zur Außenwelt zu erhalten, ohne auf Rahmen und Referenzen zurückzugreifen, die dem Kino entlehnt sind. Künstlerische Praktiken verweisen notwendig auf andere Medien: Das ist die Bedingung, die in Gordons Arbeit zu Tage tritt. Durch diese kybernetisch anmutende Drehung werden das selbstbegrenzte System und die Umwelt austauschbar: Das Kino ist die Welt, mit der die zeitgenössische Kunst fertig werden muss, doch die Welt ist ebenso das Kino, und zwar ohne jene klaren Grenzen, die es ermöglichen würden, einen Archimedischen Punkt außerhalb der eigenen Person zu finden, von dem aus das Bild sich als isoliertes Objekt betrachten ließe. Diese neuartige Konfiguration der Medienimmanenz hat auch Konsequenzen für den Status des Bildes, die sich in paradigmatischer Form an Douglas’ Installation zeigen. Die längste Zeit seiner Geschichte wurde das Bild als eine Repräsentation angesehen, ein Zeichen, das für etwas Abwesendes stand, ein Referenzsystem, das von einem kulturell hervorgebrachten Symbol auf etwas natürlich Existierendes jenseits davon verwies. Ich glaube, dass diese Beziehung in ihren Grundfesten erschüttert wurde: Heutzutage ist ein Bild zunächst einmal nichts als es selbst – ein Bild. In Douglas’ Installation stehen Hitchcocks Bilder nicht in einer semiotischen Beziehung für etwas anderes; sie sind keine Präsenz, die auf eine Absenz hinweist, sondern präsentieren sich ganz einfach als Bilder: Die Art, wie die Leinwand aufgehängt ist, gestattet es, die Bilder von der Rückseite zu betrachten, sodass sie völlig flach werden, buchstäblich ihre Tiefe einbüßen. Dieses räumliche Arrangement hat den Effekt, die (imaginäre) Dreidimensionalität zu zersetzen und stattdessen das Bild als zweidimensionale Fläche auszustellen. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass es sich um ein vergrößertes Videobild handelt, das sichtbare Spuren der Bildcodierung und die mindere Qualität des VHS-Standards ausstellt. Die Abwesenheit des Tons und die nicht vorgegebene räumliche Positionierung zur Leinwand schwächen weiterhin die zentripetale Sogwirkung der klassischen Filmform, die durch die Zentralperspektive, eine klare Bestimmung narrativer Ziele, einen darauf abgestimmten Toneinsatz und die daraus resultierende Kohärenz der diegetischen Welt konstruiert wird. In der Konsequenz verwandelt dies das Bild von einem indexikalischen Zeichen, der Spur einer vergangenen Präsenz, in eine opake zweidimensionale Informationstafel. Heutzutage kann das Bild in Echtzeit (re-)konstituiert werden, und es besteht häufig aus multiplen Rahmen, die visuelle Elemente, Text und Daten mischen (Hagener 2009). Die scheinbare Transparenz des klassischen Kinos – von D.W. Griffith bis hin zu den neuen Wellen verstanden als Einblick in eine (andere) Welt – verwandelt sich in
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die opaken Datenmonitore des Informationszeitalters, wie von Gilles Deleuze vorhergesagt: Die neuen Bilder haben nichts Äußeres (kein hors-champ) mehr und gehen in kein Ganzes mehr ein; vielmehr haben sie eine Vorderseite und eine Rückseite, die sich umkehren, aber nicht übereinander legen lassen; sie verfügen gleichsam über die Fähigkeit, sich um sich selbst zu drehen. Sie sind Gegenstand einer fortlaufenden Reorganisation, bei der ein neues Bild aus einem beliebigen Punkt des vorhergehenden Bildes entstehen kann. Die Raumorganisation verliert damit ihre privilegierten Richtungen – allen voran das Privileg der Vertikalen, von dem nach wie vor die Position der Leinwand zeugt – zugunsten eines ungerichteten Raums, der unaufhörlich seine Winkel und Koordinaten verändert, seine Vertikalen und Horizontalen vertauscht. Und selbst die Leinwand, auch wenn sie immer noch vertikal aufgehängt ist, scheint nicht mehr auf die Position des Betrachters zu verweisen, wie dies bei einem Fenster oder auch bei einem Bild der Fall ist, sondern stellt eher eine Informationstafel dar, eine undurchsichtige Oberfläche, auf der die ‹Daten› verzeichnet sind. Information tritt an die Stelle der Natur, und die Überwachungszentrale, das dritte Auge, ersetzt das Auge der Natur. (Deleuze1991, 339f)
Diese pessimistische und kulturkritische Aussage am Ende des zweiten Bandes der Kinobücher fasst kurz und bündig die Logik der neuen Bilder zusammen, denen wir immer häufiger begegnen: Sie sind reversibel und modular, omni-direktional und in Echtzeit aus einer Datenbank erzeugt, weder fotografisch basiert noch indexikalisch mit der Vergangenheit verbunden. Untote Piraten Am anderen Ende des kulturellen Spektrums haben manche Kritiker10 hinsichtlich des zeitgenössischen Blockbusters beklagt, dass das heutige Kino nicht länger an einer äußeren Welt interessiert sei, zu der eine realistische Darstellung im Film Eingänge eröffnet. Dieses Argument impliziert eine normativ realistische Ästhetik: Film soll die Realität wiedergeben, was auch immer damit überhaupt gemeint ist. Stattdessen recyceln heutige Hollywood-Großproduktionen wie Pirates of the Caribbean (Gore Verbinski, USA 2003–2007) Handlungselemente und Standardfiguren, Genrestereotypen und visuelle Tropen, Spezialeffekte und überwältigende Bilder, um daraus ein abgeschlossenes Universum zu erzeugen. Der Film 10
Vgl. etwa Kent Jones 1996. Eine weniger pessimistische Haltung dazu bietet Schwaab 2007.
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allegorisiert sogar seinen eigenen Status zwischen Leben und Tod, wenn untote Piraten im Film eine tragende Rolle spielen – ein untotes Genre präsentiert untote Standardfiguren als Allegorien seiner eigenen Bedingung der Möglichkeit. Die Welten solcher Filme wie The Lord of the Rings (Peter Jackson, USA 2001-2003), Spider-Man (Sam Raimi, USA 2002-2007) oder eben Pirates of the Caribbean weisen nur entfernt Ähnlichkeit zu jener Welt auf, in der wir leben. Und doch: anstatt das Verschwinden eines traditionellen Realismus zu beklagen, sollten wir lieber der Tatsache ins Auge sehen, dass wir ein metakinematografisches Universum bewohnen, in dem all unsere Affekte und Perzepte durch Tropen und Stereotypen geregelt sind, die wir von den Medien gelernt haben. Tatsächlich ist nicht die Realität als solche verloren gegangen oder die Möglichkeit, diese in Film und Fernsehen darzustellen, sondern der Glauben daran, dass sich die Komplexität der Welt einfach in eine filmische Darstellung übersetzen ließe, die auf den Regeln des Realismus basiert.11 Diese Veränderungen zeitigen natürlich auch Folgen für die Erzählweise, in der sich diese filmischen Geschichten präsentieren. Zunächst einmal geht Pirates of the Caribbean auf einen «Ride» in Disneyland zurück, eine denkbar ungewöhnliche Quelle für einen Film. Dieses Fahrgeschäft bietet keine klare Handlungslinie mit entwickelten Figuren und einer vorwärts treibenden Narration, sondern eine Folge von abgeschlossenen Tableaus, die eher atmosphärische Intensitäten und vage Affekte erzeugen als feste Strukturen. Der Film, so könnte man sagen, greift diesen modularen Ansatz mit seiner narrativen Struktur auf: Eine Reihe relativ autonomer Szenen entfaltet sich in einer Abfolge, die eher willkürlich als notwendig erscheint. Diese modulare Narrationslogik bietet entscheidende Vorteile in einer kulturellen Situation der Medienimmanenz. Ökonomisch betrachtet gestattet sie die Rekombination von Modulen aus dem Film in anderen Zusammenhängen, also die Wiederverwendung, Neuausrichtung und Umwandlung, das «Repurposing» und «Repackaging», wie es in der Medienindustrie genannt wird. Eine spektakuläre Actionsequenz kann in ein Computerspiel eingehen, eine Liebesszene zum Musikvideo verarbeitet werden, während Requisiten wie Piratenschiffe, Waffen oder exotische Kostüme sich als Kinderspielzeug vermarkten lassen. Selbst wenn man den Großfilmen vergangener Epochen wie Metropolis (Fritz Lang, D 1926), Gone with the Wind (Victor Fleming, USA 1939), The Ten Commandments (Cecil B. DeMille, USA 1956) oder Borsa11
An dieser Stelle könnte man über die Rückkehr vermeintlich realistischer Stile von den ‹Rändern› (China: Jia Zhangke; Philippinen: Brillante Mendoza; Unterklasse Belgiens: Dardenne-Brüder; Mikrobeobachtungen: Berliner Schule) nachdenken, die aber immer schon metamedial angelegt sind und ihre eigene Existenz mitreflektieren.
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lino (Jacques Deray, FR/IT 1970) prinzipiell die Fähigkeit zur Modularität zusprechen will, so unterscheiden sich die möglichen Anschlüsse nicht nur in der schieren Anzahl, sondern etwas anderes fällt noch stärker ins Gewicht: Heutige Blockbuster sind von außen nach innen konstruiert, die Mikroskripte zur Zielgruppenadressierung und Sekundärvermarktung sind von vornherein festgelegt und platziert. Während die älteren Beispiele von einer Idee ausgingen, um dann möglicherweise Anschlüsse in einem zweiten Schritt zu integrieren, so ist Film heute weder als Objekt noch als Erfahrung etwas, dass ein für alle Mal abgeschlossen wäre, sondern eröffnet immer wieder andere Zugänge und Verlängerungen. Für die Zuschauer ermöglicht die modulare Filmform auf der anderen Seite direkten Zugriff, flexible Formatierungen wie auch persönlichen Besitz. Während die klassische Cinephilie auf der flüchtigen Natur der projizierten Bilder und der Unzugänglichkeit des Films als materiellem Objekt basierte, baut die zeitgenössische Form auf ständigen Zugriff und absolute Ubiquität auf.12 Der/die Zuschauer/in kann den Film in elektronischer Form besitzen und endlos seine/ihre Lieblingsszenen ansehen, und damit eröffnet er sich auch für Eingriffe, Veränderungen und Neuzusammenstellungen. Zweimal Leben Auf der documenta 12 (2007) kuratierte Alexander Horwath, Leiter des Österreichischen Filmmuseums und Cinephiler par excellence, ein Filmprogramm, das sich von einem anderen Ansatzpunkt aus ähnlichen Fragen der Immanenz des Films widmete. Horwath nannte das Programm, das sich auf den von Deleuze so genannten «modernen Film» bezog – der älteste Film wie auch die programmatische Eröffnung war Roberto Rossellinis Viaggio in Italia (IT 1954) –, «Second Lives» («Zweimal Leben») und bezog sich damit sowohl auf die Fähigkeit des Mediums, uns als Zuschauer (für eine begrenzte Zeitspanne) am Leben einer anderen Person teilhaben zu lassen, wie auch auf die Ära von Second Life, die virtuelle Netzwerkwelt, die online von Millionen Avataren bevölkert wird.13 Horwaths kuratorischem Text vorangestellt ist ein Motto von Deleuze, das die komplizierte Beziehung zwischen Kino und der Welt, die wir bewohnen, betrifft: Es ist zweifelhaft, ob das Kino hierzu ausreicht; doch wenn die Welt zu einem schlechten Film geworden ist, an den wir nicht mehr glauben, kann dann nicht ein wahres Kino dazu beitragen, uns Gründe dafür zu liefern, an die ohnmächtig gewordenen Körper zu glauben? (ibid.) 12 13
Für diese unterschiedlichen Formen der Cinephilie vgl. de Valck/Hagener 2008. http://www.documenta.de/786.html?&L=0 (Zugriff am 10.09.2010).
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Dieses Argument stellt die klassische Hierarchie zwischen Film und Welt auf den Kopf. Im heutigen Universum der Medienimmanenz repräsentiert der Film nicht länger Realität, sondern wird zur Welt in dem Sinne, in dem sich kein Ort mehr finden lässt, von dem aus ein prämediales Universum vorstellbar ist. Der Film – ob gelungen oder nicht, ob im Kino oder Fernsehen, in der Galerie oder auf dem Mobiltelefon – bietet uns immer wenigstens zwei Dinge: ein zweites Leben, das wir zeitweise bewohnen können, aber auch ein anderes Leben für uns selbst. Wenn ein Film gelungen ist, verschafft er uns für einen Moment Teilhabe an einem anderen Leben, aber er hat auch die Kraft, uns dauerhaft zu verändern. Es ist diese Fähigkeit, Schwellen zu überschreiten und Grenzen zu überwinden, die fundamental wichtig für den Film ist. Selbst wenn manche den Film als eine im Verschwinden begriffene Kunstform betrachten, weil sie als Maßstab an Medienspezifik, Indexikalität und anderen Essentialismen festhalten, wie sie die Debatte über weite Strecken des 20. Jahrhunderts dominiert haben, so glaube ich, dass der Film mehr als je zuvor präsent ist, egal wie zerstreut und flexibel, modular und flüchtig, populärkulturell und künstlerisch ambitioniert er auch sein mag. Von diesem Punkt aus betrachtet leben wir immer schon in Bildern, aber die Bilder auch in uns.
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Vinzenz Hediger
Der Traum vom medienfreien Kind Bildung unter Medienbedingungen
Wir müssen nicht die Zuschauer in Schauspieler/ Akteure verwandeln und Unwissende in Gelehrte. Wir müssen das Wissen anerkennen, das im Unwissenden am Werk ist, und die Aktivität, die dem Zuschauer eigen ist. Jeder Zuschauer ist bereits Akteur seiner Geschichte, jeder Schauspieler, jeder Mann der Tat ist der Zuschauer derselben Geschichte. Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer
Seit einigen Jahren unterrichte ich an der Universität einen Kurs, der den Titel «Hollywood verstehen» trägt und auch «Einführung in die Filmanalyse» heißen könnte. Diesen Kurs pflege ich mit einem Satz zu eröffnen, dessen primäre pädagogische Funktion darin besteht, den Studierenden den Zugang zur Materie zu erleichtern, der aber zugleich eine Programmatik zum Ausdruck bringt. Der Satz lautet: «Hier lernen Sie nichts, was Sie nicht schon wissen». Der Satz basiert auf zwei Vorannahmen. Erstens: Die Studierenden wissen bereits, wie das Register funktioniert, das bisweilen als der «dominante Modus» des filmischen Erzählens charakterisiert wird.1 Man mag diese Fähigkeit nicht so hoch einschätzen wie zum Beispiel jene, die ersten fünfzig Verse der Odyssee auswendig auf Griechisch aufzusagen oder eine «Nocturne» von Chopin auf dem Klavier zu spielen, aber in einem durchaus emphatischen Sinn können die Studie1
Noël Burch spricht in seinem einflussreichen Buch Praxis du cinéma von einem «institutional mode of representation», innerhalb dessen das Hollywood-Kino den dominanten Modus darstellt. Den Begriff des ‹Modus› der Produktion greifen Bordwell, Staiger und Thompson in ihrer Studie zum klassischen Hollywood-Kino wieder auf, allerdings weitgehend ohne Burchs ideologiekritische Stoßrichtung zu teilen; vgl. Burch 1969; Bordwell/Staiger/Thompson 1985; zur Frage des Modus des Erzählens vgl. auch Bordwell 1997.
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renden einen Film sehen. Ihre Wahrnehmung ist entsprechend geschult; sie verstehen, und verstehen sich auf das Idiom des Films. Woher das entsprechende Wissen kommt, wo es doch in der Schule nicht vermittelt wird, sei fürs Erste dahingestellt. Die Erfahrung jedenfalls lehrt, dass es dieses Wissen gibt und man als Dozent damit rechnen kann. Und zweitens: Dieses Wissen ist, um es mit einem Begriff des Wissenschaftsphilosophen Michael Polanyi auszudrücken, weitgehend implizit (Polanyi 1985).2 Entsprechend lautet das Lernziel des Kurses, dieses Wissen explizit, also ausdrücklich zu machen, ihm «propositionale Struktur» zu verleihen. Der Einleitungssatz könnte demnach lauten: «Hier lernen Sie ausdrücklich zu machen, was Sie implizit schon wissen». Auch wenn der Fortschritt, den die Studierenden in dem Kurs erzielen, nur im Reflexivwerden von implizitem Wissen besteht, so lässt sich doch behaupten, dass ich mich im weiteren Horizont einer zum Repertoire moderner Geisteshaltungen zählenden Aufklärung bewege, wenn ich ihnen dabei behilflich sein will, Hollywood zu verstehen. «Anschauungen ohne Begriffe sind blind», heißt es bekanntlich bei Kant, und die ganze Übung des Kurses besteht darin, vermeintlich blinde Anschauungen auf Reflexionsniveau zu heben.3 Aber einmal abgesehen davon, dass es Konsens sein dürfte, dass es immer gut ist, über Kompetenzen reflexiv zu verfügen, stellt sich doch die Frage: Verdient das, was wir da zusammen betreiben, auch den anspruchsvollen Namen «Medienbildung»? Die Frage ist durchaus berechtigt. ‹Medienbildung› im gängigen Sinn des Begriffs kreist um das Problem der «Medienkompetenz», wie er etwa im Rahmen des «Bielefelder Medienkompetenz-Modells» entwickelt wurde (Baacke 1980; 1998),4 beziehungsweise um das Problem der media literacy, wie es im angelsächsischen Kontext genannt wird (wobei media literarcy eine Erweiterung des um 1970 in die erziehungswissenschaftliche Debatte 2
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Im Sinne einer Unterscheidung von Jürgen Mittelstraß lässt sich dieses Wissens zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen ansiedeln: Also zwischen einem Wissen über Fakten und Verfahren unter bestehenden, bereits gesetzten Zwecken und einem Wissen über die Rechtfertigung von Zielen und Zwecken: Es ist ein Wissen um Verfahren und Techniken der filmischen Darstellung und zugleich ein Wissen um die Zwecke ihrer Verwendung. Für eine Anwendung dieser Unterscheidung auf die neuen Medien vgl. Marotzki 2004. Mit einer Unterscheidung von Ernst Tugendhat könnte man sagen: «Es gibt zwei Phänomene, das epistemische Selbstbewusstsein und das praktische Sichzusichverhalten, und diese beiden fallen nicht unter eine einheitliche Gattung» (Tugendhat 1997, 32). Das immer schon vorhandene Wissen über Film wäre demnach ein praktisches Sichzusichverhalten, das es auf die Ebene des epistemischen Selbstbewusstseins zu heben gilt. Für ein Filmbildungskonzept, das im Zeichen des Kompetenzbegriffs steht, vgl. [http://www.laenderkonferenz-medienbildung.de/091210_Filmbildung_LKM.pdf].
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eingeführten Konzepts der visual literacy darstellt).5 Unter ‹Medienkompetenz› versteht man dabei die Fähigkeit, «selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortlich» mit Medien umzugehen.6 Sie muss, etwa im Verständnis von Aufenanger, insbesondere auch «zu medienpolitischen Aktivitäten im Sinne von Partizipation befähigen, ohne dass dabei die Perspektive der anderen (Solidarität), die noch nicht so weit sind, vergessen wird».7 Das fürsorgliche Element dringt auch im Begriff der media literacy durch, der impliziert, dass es ein mediales Analphabetentum gibt, das bekämpft werden muss: Nur wer über media literacy verfügt, vermag so selbstbestimmt und verantwortungsvoll am Leben einer modernen Gesellschaft teilzunehmen wie jemand, der Lesen und Schreiben kann (vgl. Goldfarb 2002). ‹Medienkompetenz› und media literacy bezeichnen demnach nicht etwas, über das die Adressaten von Medienbildung immer schon verfügen, sondern etwas, das sie sich erst noch aneignen müssen.8 Es gilt, dass das «medienkompetente Subjekt […] der pädagogischen Anstrengung [bedarf]; es entsteht nicht von selbst und auch nicht aus sich selbst heraus, und erst recht nicht aus der bloßen Rezeption und Nutzung von Medien und ihren Produkten» (Theunert 1999, 50-59). Medienbildung, so könnte man aus solchen Bestimmungen umgekehrt schließen, setzt als ihre eigene Rechtfertigung voraus, dass ihre Adressaten, wenn man sie sich selbst und 5
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Der Begriff visual literacy wurde 1969 von Jack Debes, einem Entwickler für visuelle Präsentationsgeräte bei Eastman Kodak, in die Debatte eingeführt; vgl. Debes 1969. Ging es Debes noch primär um eine Bestimmung und Ordnung menschlicher Vermögen zur Dekodierung visueller Information, so wird unter visual literacy im Sinne von Paul Messaris derzeit – ganz analog zur «Medienkompetenz» und zur media literacy – die Fähigkeit verstanden, mit dem visual overload der zeitgenössischen Kultur selbstbestimmt umzugehen; vgl. Messaris 1994. Brian Goldfarb führt zum Verhältnis von media literacy und visual literacy aus: «To have media literacy in the late twentieth century was to have privileged access to knowledge. Media literacy was, by and large, a vaunted form of visual literacy» (Goldfarb 2002, 31). Das Konzept der visual literarcy ist dabei in den Erziehungswissenschaften mehr oder weniger seit seiner Einführung umstritten; vgl. dazu Cassidy und Knowlton 1983, die behaupten, dass in den rund fünfzehn Jahren seit seiner Einführung keine brauchbaren empirischen Forschungsresultate im Zeichen des visual literacy-Konzepts erzielt wurden. Vgl. [http://www.medienkompetenz-hessen.de/dynasite.cfm?dsmid=9917. (Zugriff am 15.11.2010)]. Vgl. [http://www.ajs-bw.de/media/files/ajs-info/ausgaben_altbis05/aufenanger.pdf]. Theorien der media literacy gehen von einem bestimmten Niveau von literacy im Umgang mit Medien aus, gründen ihren pädagogischen Anspruch aber darauf, dass dieses Niveau nicht ausreiche. So hält etwa W. James Potter fest, dass, wer über eine durchschnittliche media literacy verfügt, jemandem vergleichbar ist, dessen sprachliche und intellektuelle Entwicklung etwa auf dem Niveau eines Fünfzehnjährigen stehengeblieben ist. Media literacy wird dabei unter der Hand auch zu einem Distinktionsmerkmal: «Are we media literate? Of course we are. […] The more you are aware of how the media operate and how they affect you, the more you gain control over those effects, and the more you will separate yourself from typical media users who have turned over a great deal of their lives to the media without realizing it» (Potter 2010, xvii).
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den Medien einfach überlässt, fern von jedem gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein einen fremdbestimmten und destruktiven Umgang damit pflegen. Wer keine Medienbildung genossen hat, ist ignorant und inkompetent, ein hilfloser Analphabet in der Welt der Medien.9 Soweit Medienbildung auf die Herstellung von «Medienkompetenz» und media literacy zielt, unterstellt sie einen Unterschied der intellektuellen Niveaus: Die Lehrer wissen Bescheid, die Schüler sind ignorant und inkompetent.10 Wenn ich nun die Frage stelle, ob mein pädagogischer Ansatz den Titel «Medienbildung» verdient, dann nicht zuletzt deshalb, weil er diese Unterstellung unterschiedlicher Niveaus der Intelligenz zunächst einmal aussetzt. Der Satz «Hier lernen Sie nichts, was Sie nicht schon wissen», geht zum einen davon aus, dass die Studierenden mit Filmen immer schon selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortungsvoll umgehen, und zum anderen, dass sie, um den Schritt vom impliziten zum expliziten Wissen zu tun, keines Lehrers bedürfen, der ihnen zunächst einmal das Ausmaß ihrer Ignoranz deutlich macht. Sie brauchen höchstens einen Moderator, der ihnen in einem Prozess des Selbsterlernens behilflich ist. Zu einer Konzeption von Medienbildung, die um den Begriff der Kompetenz kreist, verhält sich ein Ansatz, der davon ausgeht, dass die Studierenden über das wesentliche Wissen schon verfügen, möglicherweise genauso antithetisch wie der Ansatz des radikalen Spätaufklärers Jacotot zu den pädagogischen Konzepten, die in der Moderne schließlich dominant wurden, wenn er von der intellektuellen Gleichheit aller Menschen ausging, also auch von der von Lehrer und Schüler.11 Denn was auch immer für ein 9
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Eine Diskursanalyse entsprechender Debatten würde wahrscheinlich zu Tage fördern, dass die Assoziation von unreguliertem Mediengebrauch und Analphabetismus zu den nicht-kontroversen Grundannahmen eines medienkritischen pädagogischen Diskurses gehört. Als Beispiel möge hier die Figur des «leseunlustigen Jungen» dienen, die Heike Schmoll in einem Kommentar zur Pisa-Studie 2010 auf der Frontseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entwirft: «[…] unklar ist, wie es gelingen könnte, die wenig leselustigen und entsprechend leseunfähigen Jungen, die zwar im Internet stöbern, aber kaum Bücher anrühren, zum Lesen zu bringen». Wer im Internet «stöbert», liest nicht, ja darf von vornherein als «leseunfähig» gelten; vgl. FAZ, 8. Dezember 2010, 1. In seiner Kritik der modernen Pädagogik formuliert Jacques Rancière zugespitzt, dass das Erste, was ein Pädagoge seinen Zöglingen beibringen müsse, ihre eigene Unfähigkeit sei; nur das Festhalten an einem Intelligenzunterschied rechtfertige die Position des Lehrers und eine Fortsetzung seiner Tätigkeit; vgl. Rancière 2009, 21. Es ist im Übrigen durchaus möglich, wie Winfried Marotzki dies tut, am Begriff der «Medienkompetenz» im Namen eines erweiterten Begriffs von Medienbildung Kritik zu üben. Marotzki moniert insbesondere die funktionalistische Reduktion des Medienkompetenz-Begriffs und plädiert stattdessen für einen Medienbildungsbegriff, der die Dimension des Wissens stärker berücksichtigt und Medienbildung als kontinuierlichen Prozess des Sich-Bildens im Aneignen von Wissen auffasst. Ohne die Setzung eines Wissensgefälles zwischen dem Pädagogen und seinen Adressaten kommt aber auch dieser Ansatz nicht aus; vgl. Marotzki 2004. Zu Jacotot und seiner Konzeption einer Pädagogik, die auf der Annahme einer Gleich-
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Wissen es ist, das ich meinen Studierenden unterstelle, Medienkompetenz in dem etwa von Theunert definierten Sinn ist es nicht.12 Der Spannung, die sich aus diesem Gegensatz ergibt, will ich im Folgenden auf den Grund gehen. Ich möchte dabei meine eigene Frage ernst nehmen: Unter welchen Bedingungen verdient das, was ich in meinem Seminar anbiete, den Titel «Medienbildung»? Da die Antwort nicht lauten kann, dass ich fortan einfach unterstelle, meine Studenten könnten nicht, was sie doch offensichtlich können, und da ich es überdies für wenig fruchtbar halte, die skizzierte Antithese polemisch zu vertiefen, will ich die Frage nach der Medienbildung anders stellen: als Frage nach Bildung unter Medienbedingungen. Eine solche Reformulierung bedeutet in erster Linie eine doppelte historische Perspektivierung des Problems. Das Anliegen der Medienbildung im skizzierten Sinn wird virulent unter den Bedingungen der Proliferation technischer Medien wie Film, Fernsehen und Computer. Fragt man nach Bildung unter diesen Bedingungen, dann fragt man zunächst einmal, ob die Zäsur der technischen Medien die maßgebliche ist. In aktuellen medienkritischen Debatten geht man oft davon aus, dass alles in Ordnung wäre, wenn die Kinder vor allem lesen und schreiben würden, anstatt sich Filme und Fernsehbilder anzuschauen. Vergessen geht dabei, dass die Schrift auch ein Medium ist und, nicht zuletzt, dessen Wirkung – als ϕαρμακον, als Gift und Heilmittel zugleich – in der Medienphilosophie schon ausgiebig bedacht worden ist. Tatsächlich beginnt die Geschichte der Medienphobie spätestens mit der Schriftkritik Platons, wie Jacques Derrida aufgezeigt hat (vgl. insbesondere Derrida 1967). Entsprechend erscheint es sinnvoll, die Hypothese zu erproben, dass Bildung immer schon mit bestimmten medialen Bedingungen zu rechnen hatte – zum Beispiel mit jener der Schriftlichkeit (vgl. dazu insbesondere Kittler 1995, 65-68) –, von denen die technischen Medien nur eine neue, wenn auch bedeutsame Variation und weitere Ausfaltung darstellen.13 Dass man sich mit einer solchen Aus- und Entfaltungshypothese in Widerspruch zu einer starken Tradition des medienkritischen Denkens setzt, das Schrift
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heit der Intelligenzen basiert und ohne das Konzept einer strukturellen und nur durch Erklärung zu behebenden Verständnisunfähigkeit auskommt, vgl. Rancière 2007. Auch die Charakterisierung als media literacy oder gar visual literacy scheint nicht zutreffend. Brian Goldfarb merkt an: «Visual Literacy has been an inadequate trope for the study of visual culture and media pedagogies because it misidentifies looking and visual modes of knowledge and communication as forms of language and literacy. One does not become ‹literate› in visual media in anything other than a metaphorical way» (Goldfarb 2002, 19). Für einen Ansatz aus dem Bereich der Medienbildung, der im Sinne der hier vertretenen Position im Anschluss an Innis und McLuhan davon ausgeht, dass «Medien die Grundkoordinaten für die Sinneswahrnehmung ändern und damit die Konstruktion von Wirklichkeit und der kulturellen Ordnung» vgl. Marotzki 2007, 79.
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mit Rationalität, Intelligenz und einer von Verantwortungsbewusstsein geprägten Zivilisation assoziiert und das Aufkommen der technischen Bildmedien und insbesondere des Fernsehens zum Anfang des Endes dieser Zivilisation, ja zum Zivilisationsbruch ausruft, sei dabei in Rechnung gestellt und in Kauf genommen.14 Zum anderen stellt sich die Frage, wie sich «Medienbildung» begriffsgeschichtlich aufschließen lässt und ob die Geschichte des Begriffs «Bildung» mögliche Wege aufzeigt, andere Semantiken in der Konstellation von Medien und Bildung freizulegen als diejenigen, die sich im Zeichen pädagogischer Ansätze entwickelt haben, die primär auf die pathogenen Potenziale von (technischen) Medien fokussieren.15 Zu einer solchen doppelten historischen Perspektivierung möchte ich im Folgenden zumindest einen Zugang eröffnen. I Zunächst gilt es festzuhalten, dass, wer über Bildung spricht, dies im Grunde nur auf Deutsch tun kann. Der Begriff der Bildung ist zwar in Teilen deckungsgleich mit dem englischen education oder dem französischen éducation. Wenn etwa Rousseau sein entsprechendes Buch Émile ou de l’éducation nennt, meint er mit éducation ausdrücklich nicht eine Berufsausbildung oder eine Erziehung zu einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion (also nicht die «formation» des «citoyen»), sondern die Ausformung des Individuums zum Menschen. Und wenn die Amerikaner heutzutage von einer «world class education» sprechen, meinen sie damit nicht einfach das Studium einer bestimmten Fachrichtung an einer sehr teuren Elite-Universität, sondern die Ausformung eines Ensembles von (wissenschaftlichen, aber auch professionellen) Kenntnissen, sozialen Kompetenzen und Beziehungsnetzen, die ihnen nach dem Studium eine erfolgreiche Lebensgestaltung erlauben. Dieser Aspekt der Ausformung eines Individuums, eines Subjekts, das in der Lage ist, sein Menschsein zu entfalten, macht durchaus eine Kernbedeutung des deutschen Bildungs14
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Einschlägig sind hier zunächst vor allem amerikanische Autoren wie der Historiker und ehemalige Librarian of Congress Daniel Boorstin, der im Journalisten und Historiker Chris Hedges seinen jüngsten Nachfolger gefunden hat, aber auch französische Denker wie Guy Debord. Zumeist wird diese Kritik aus einer linksliberalen oder linken Position heraus formuliert; vgl. Boorstin 1961; Debord 1996; Hedges 2009. In bildungspolitischer Hinsicht maßgeblich dürfte – jedenfalls auf Bundesebene – die von einer Expertenkommission des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erarbeitete Definition sein: «Medienbildung umfasst Medien als Gegenstand des Lernens und das in hohem Maße selbstgesteuerte und selbstverantwortete Lernen mit Medien, das im Lebensverlauf zunehmende Bedeutung gewinnt und eingeübt sein will» (Schelhowe/Grafe/Herzig/Koubek/Niesyto/vom Berg/Coy/Hagel/Hasebrook/Kiesel/Reinmann/Schäfer 2009, 4).
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begriffs aus. Éducation ist Prozess und Resultat zugleich, und world class education ist im amerikanischen Sprachgebrauch durchaus etwas Dinghaftes, das man zumindest seiner Möglichkeit nach buchstäblich erwerben kann. «Bildung» ist auch Prozess und Resultat, aber zugleich noch mehr als das. Zum einen hat «Bildung» im ursprünglichen Sinn eine theologische Dimension, impliziert eine Transzendenz: Bildung ist die Schöpfung des Menschen nach dem Vorbild Gottes; und das Sich-Ausrichten auf ein Ideal seiner selbst, das im Begriff der Bildung auch zu Zeiten der Aufklärung und danach mitgemeint ist, bewahrt diese theologisch grundierte Spannung. Zum anderen aber ist «Bildung», wie Reinhart Koselleck festhält, einer jener Kollektivsingulare der deutschen Sprache wie «Geschichte» und «Fortschritt», die sich um 1800 herausbilden und über mehrere Bedeutungsschichten verfügen (Koselleck 2006). «Geschichte» ist Prozess und Resultat zugleich, das Sich-Ereignen historischer Ereignisse und das Ensemble der Geschichten, die Geschichte ausmachen, aber auch, und beidem vorausgehend, die Möglichkeitsbedingung historischer Erfahrung. Erst wenn es «Geschichte» gibt, kann ich als Einzelner an historischen Ereignissen teilhaben oder meine Erfahrung in einen Horizont stellen, der diese zur «historischen Erfahrung» macht. In vergleichbarer Weise – und mit dem Begriff der Geschichte im Übrigen verknüpft – ist «Bildung» Prozess, Resultat, und zugleich ein grundlegendes System des Wissens, das prinzipiell offen ist. Es kann immer wieder neue Wissensgegenstände in sich aufnehmen und ist jedem zugänglich, der sich eine Kenntnis dieser Gegenstände in ihrem Zusammenhang anzueignen gewillt ist.16 Wenn wir also von «Medienbildung» sprechen, verhandeln wir einen Neologismus der deutschen Sprache, ein Kompositum von Bildung und Medien, das die semantischen Schichten des Bildungsbegriffs mitführt. Allerdings kann es weitere Nebenbedeutungen entfalten, je nachdem, wie man die Beziehung der Kompositbegriffe zueinander auffasst. Ist der Gegenstand der «Medienbildung» die Bildung von Medien, die Bildung durch Medien oder eine Bildung, die Medien zum Anlass und Gegenstand hat? Können Medien gebildet werden, können Medien bilden, oder brauchen wir unter Medienbedingungen eine Bildung, die dieser spezifischen Lage angemessen ist? So reizvoll es ist, sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen, wie Medien gebildet werden können, so sind es doch zumeist 16
Die Erziehungswissenschaft unterscheidet ganz im Sinne dieser Differenzierung zwischen «strukturaler» und «materialer» Bildung. «Strukturale» Bildung meint dabei den offenen Prozess des Sich-selbst-Ergreifens im Lernen; «materiale» Bildung das System der Wissensgegenstände; vgl. dazu Marotzki 1990. Für eine Anwendung des Begriffs der «strukturalen Bildung» auf den Bereich der Medien im Allgemeinen vgl. Marotzki/Jörissen 2008.
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und zunächst die zweite und die dritte Lesart, die anklingen, wenn der Begriff der ‹Medienbildung› gebraucht wird. Dass Medien – hier verstanden im Sinne der klassischen Dispositive der sogenannten Massenmedien, also Radio und Fernsehen – bilden können und es auch sollen, gilt in der Bundesrepublik seit der Einrichtung der ARD 1950 und dem Rundfunkstaatsvertrag als ausgemacht, der einen Informations-, Kultur- und Bildungsauftrag für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten festschreibt (vgl. Pake 2004, 223ff und 305ff; Kops 2005). Eine solche rechtlich abgesicherte und damit im Grunde justiziable Rückbindung der elektronischen Massenmedien an das Konzept der Bildung und damit – mehr oder weniger ausdrücklich – auch an bürgerliche Kultur erschien vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Dritten Reiches als unabdingbar. Dass die bürgerliche Kultur und mit ihr «Bildung» in ihrem seit dem 19. Jahrhundert etablierten Sinn überholt seien, gehörte zu den zentralen ideologischen Themen der Nationalsozialisten (vgl. Koselleck 2006; Kroll 2004, 73ff), und es war nicht zuletzt das elektronische Medium des Radios, in und mit dem dieses Ideologem umgesetzt wurde17 – etwa durch den gezielten Einsatz populärkultureller Formate wie des Wunschkonzerts (Koch 2003). Der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zielt, obwohl er an den Kulturauftrag geknüpft ist, indes nicht so sehr auf eine Wiederherstellung des bürgerlichen Kulturkosmos vor dem Nationalsozialismus. Er hebt vielmehr ab auf eine semantische Schicht des Bildungsbegriffs, der die Politik und die Rolle des Bürgers in der Politik betrifft. ‹Bildung› war ein politisch offener, aber letztlich neutraler Begriff; Bildung hatten und zur Bildung gehörten Vertreter aller politischen Richtungen. Seit dem Zweiten Weltkrieg meint Bildung nicht zuletzt – wenn nicht sogar in privilegierter Weise – politische Bildung, was im Wesentlichen heißt: die koordinierte Herstellung einer Befähigung zur Ausübung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten im Sinne des Grundgesetzes, also einer liberalen Demokratie und einer rechtsstaatlichen Grundordnung. Dazu leisten die journalistischen Programme der öffentlich-rechtlichen Sender ihren Beitrag, indem sie dem Informations- und Bildungsauftrag nachkommen; es erfüllt ihn aber auch eine Institution wie die Bundeszentrale für politische Bildung, der wir unter anderem in jüngster Zeit auch einen Kanon großer Filmkunstwerke zu verdanken haben. Wie alle pädagogischen Anstrengungen kann auch der Bildungsauftrag nie ganz erfüllt werden. Nicht nur bleiben immer ein paar Ungebildete übrig und wachsen neue Generationen nach, die sich ihre Bildung erst erwerben müssen. Gemäß dem, was Jacques Rancière die «Logik der päd17
Zur Rolle der Rundfunkmedien vgl. grundlegend von Saldern/Marßolek 1998.
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agogischen Beziehung» nennt, kann der Abgrund, der die Intelligenz des Lehrenden von jener der Schüler trennt, nie ganz überwunden werden: Was dem Schüler immer fehlen wird, «außer er wird selbst zum Meister, ist das Wissen von der Unwissenheit, die Kenntnis des exakten Abstandes, der das Wissen von der Unwissenheit trennt».18 Solange als Adressaten des Bildungsauftrags eine Gruppe – oder Masse – von Unwissenden vorausgesetzt wird (und werden können), bleibt stets ein Abstand zwischen dem Sein und dem Sollen, eine Spannung, die es rechtfertigt, den Bildungsauftrag schon aus prinzipiellen Gründen nie aufzugeben. Dies gilt umso mehr, als die Bedingungen für die Erfüllung des Bildungsauftrags sich in den letzten dreißig Jahren, so der Konsens, im Zuge und aufgrund der Einführung des dualen Rundfunksystems deutlich verschlechtert haben. Das private Fernsehen ist der Treiber einer vor allem seit den 1990er Jahren konstatierten «Boulevardisierung» des Journalismus,19 wobei darunter etwa mit Renger eine Verfallserscheinung, ein Übergang vom seriösen Informationsjournalismus zu einem «sich an die Begierden und Unterhaltungswünsche des Publikums anbiedernden, minderwertigen Sensationsjournalismus» zu verstehen ist (Renger 2001, 71).20 Indem es sich den «Begierden und Unterhaltungswünschen» anbiedert und «minderwertige» Programme anbietet, macht das private Fernsehen es den öffentlichrechtlichen Sendern schwer ihrem Bildungsauftrag nachzukommen, so die Einschätzung von Journalisten und Publizistikwissenschaftlern (vgl. etwa Stock 2005). Die Feststellung, dass im Zuge der allgemeinen Boulevardisierung der Bildungsauftrag vernachlässigt wird, gehört denn auch zu jeder 18
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«Die Rolle des Lehrers […] besteht darin, den Abstand zwischen seinem Wissen und der Unwissenheit des Unwissenden aufzuheben. Die Lektionen und Übungen, die er gibt, haben zum Ziel, zunehmend den Abgrund zu verringern, der sie voneinander trennt. Leider kann er den Abstand nur reduzieren, indem er ihn immer wieder von neuem erschafft. Um die Unwissenheit durch das Wissen zu ersetzen, muss er immer einen Schritt vorausgehen und zwischen sich und dem Schüler eine neue Unwissenheit aufbauen» (Rancière 2009, 18f). Entsprechende Titel wissenschaftlicher Publikationen seit den 1990er Jahren lauten etwa Boulevardisierung der Information im Privatfernsehen (U.M. Krüger, 1996), Boulevardisierung von Information. Streitkultur und Streitgespräche im Fernsehen (Wilfried Schütte, 1996), Boulevardisierung der TV-Nachrichtenberichterstattung (M. Muckenhaupt, 1998). Es ist auf Anhieb nicht zu eruieren, wer den Begriff der ‹Boulevardisierung› geprägt hat. Der Begriff der ‹Boulevardisierung› wurde in der Übersetzung tabloidization in den englischsprachigen kommunikationswissenschaftlichen Diskurs exportiert; vgl. dazu Esser 1999; Turner 1999. Es verdient in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden, dass die ungarische nationalkonservative Regierung von Ministerpräsident Orban ein kontroverses Mediengesetz, das im Herbst 2010 erlassen wurde und eine zentrale, mit Parteigängern der Regierungspartei besetzte Kontrollinstanz für alle Medien vorsieht, unter anderem damit rechtfertigte, dass es einer «jahrelangen Tendenz zur Boulevardisierung» im Fernsehen Einhalt zu gebieten gelte. Der Begriff der ‹Boulevardisierung› kann mithin auch als Element der Rechtfertigungsrhetorik einer dezidiert anti-liberalen Medienpolitik Verwendung finden; vgl. Mayer 2011.
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ernsthaften Diagnose des aktuellen Zustandes von Rundfunk und Fernsehen. So oder so besteht der Bildungsauftrag aber fort: Er stellt nach wie vor und weiterhin eine medienpolitisch handlungsrelevante Norm dar. Medien können und sollen also bilden, auch wenn sie dies ohne die Implantierung einer (auch rechtlich) verbindlichen Norm nicht spontan tun. Gerade weil der medienpädagogische Diskurs davon ausgeht, dass sie nicht ohnehin und spontan bilden, bedarf es einer Medienbildung im zweiten möglichen Sinn: einer Schulung und Erziehung des Publikums und der user. Das Ziel ist, wie eingangs schon angeführt, die Erziehung zu einem autonomen, «kreativen» Umgang mit Medien. Es geht also um einen Umgang mit Medien, in dem das Subjekt sich den Medien gegenüber behauptet und nicht durch diese seiner Autonomie beraubt wird. Eine solche Erziehung ist notwendig, weil die Autonomie, auf die sie abzielt, aus Sicht der Medienpädagogik nicht vorausgesetzt werden kann. Im Gegenteil. Die medienpädagogische Angst vor den Medien ist zunächst einmal Angst vor einem Kontrollverlust: Medien schaffen Umgebungen, in denen sich «Kinder leicht der elterlichen Kontrolle entziehen können», um eine Schlüsselformulierung aus einem Feuilleton-Artikel über Internet-Spielsucht in Südkorea zu zitieren (Seelmann 2010, 19). Kinder, die sich der elterlichen Kontrolle entziehen, können aber, so die Implikation, in den medialen Umgebungen, in die sie entschwinden, nicht autonom handeln. An die Stelle der Kontrolle tritt in dieser Perspektive nicht Autonomie, sondern Abhängigkeit – Abhängigkeit, so könnte man sagen, nicht mehr von den Eltern oder anderen Autoritäten, sondern von den Medien, bis hin zur Sucht. Dort wo Medienbildung im Sinne einer Erziehung zu ‹Medienkompetenz› ansetzt, geht sie denn auch davon aus, dass das Subjekt aus der medienverschuldeten Unmündigkeit herausgeführt werden muss: ‹Medienkompetenz› ist das verinnerlichte Substitut der elterlichen Kontrolle in Umgebungen, die die Eltern nicht mehr kontrollieren (vgl. auch Buckingham 2003, 24ff). Woher aber rührt die geradezu unerschütterliche Gewissheit, dass es so etwas wie eine spontane Autonomie des Subjekts in seinem Umgang mit Medien nicht geben kann? Unter anderem ist diese Gewissheit das Produkt einer regelrechten Industrie der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Wirkungsforschung, die sich immer wieder aufs Neue, und beim Auftritt jedes neuen Mediums erneut, mit denselben Fragestellungen um den Nachweis bemüht, dass Medien – und vor allem technische Bildmedien – schädliche Wirkungen vorab auf Kinder haben.21 Die Geschichte der Erforschung von 21
Für eine Frühgeschichte der Medienwirkungsforschung vgl. Wartella/Reeves 1985. Für eine Wissens- und Mediengeschichte der Medienwirkungsforschung vgl. insbesondere Otto 2008. Zum intellektuellen Klima, das zur Entstehung der Medienwir-
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Medienwirkungen bei Kindern beginnt um 1900 und erlebt in den USA mit den Payne-Fund-Studies22 einen ersten Höhepunkt, die vergleichbare Studien in anderen Ländern nach sich ziehen, so etwa den Report of the Departmental Committee on Children and the Cinema, der in Großbritannien 1950 erscheint.23 Kreisen die frühen Studien ums Kino, so gerät in den 1960er Jahren das Fernsehen in den Fokus der Untersuchung sowie in jüngerer Zeit das Computerspiel und schließlich das Internet.24 Im Vordergrund steht dabei in der Regel die psychologisch-kriminologische Frage nach Aggression und Delinquenz; untersucht wird die Hypothese, dass es einen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Aggressionsbereitschaft gibt, aber auch etwa die Vermutung, dass eine der Folgen des übermäßigen Medienkonsums Dickleibigkeit sein könnte (Spitzer 2006).25 Der französische Soziologe Edgar Morin hat in einem Beitrag zur Révue intérnationale de filmologie schon in den 1950er Jahren darauf hingewiesen, dass empirische Studien über Medienwirkungen, die eine Besorgnis um das Wohl der Kinder in die Gewissheit eines schädlichen Einflusses neuer Medien überführen sollen, in erster Linie in protestantischen nordeuropäischen Ländern und in den USA vorkommen (Morin spricht von den «puritanischen» Ländern); vergleichbare Studien sind aus dem lateinisch-katholischen Kulturkreis nicht bekannt.26 Es scheint also so etwas
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kungsforschung in den 1930er Jahren geführt hat, ferner auch Peters 1996. Motion Pictures and Youth, 9 Bde. New York: Macmillan 1933–1935; vgl. für eine historische Perspektivierung Jowett/Jarvie/Fuller 1996. Report of the Departmental Committee on Children and the Cinema, London: H.M. Stationary Office 1950. Für einen Überblicksartikel zur einschlägigen Literatur zu Videospielen vgl. Griffiths 1999. Für einen Überblicksartikel zur Forschung im Bereich digitale Medien/Netzwerkkommunikation vgl. Te Wildt 2004. Spitzer geht so weit, die Außenpolitik der Regierung Bush auf den in den USA schon so lange währenden und so tief gehenden Einfluss des Fernsehens zurückzuführen. Eine solche ins Magische reichende Attribution gesellschaftlicher Wirk- und Definitionsmacht ruft die Rolle in Erinnerung, die das Fernsehen in Tobe Hoopers Poltergeist (USA 1981) spielt. «In den Vereinigten Staaten wie in England sind die Verantwortlichen (Eltern, Erzieher, Funktionäre) von einer inneren Unruhe angetrieben: Als Puritaner nehmen sie das Kino sehr ernst. Diesem Ernst entspricht der Ernst ihrer Nachforschungen. In Frankreich, wo man – dies sei nur in Klammern angemerkt – den Unterschied zwischen zugelassenen Filmen und solchen, die für Kinder verboten sind, nicht kennt, wird das Kino als Ganzes entweder auf die leichte Schulter genommen oder als tragische Gegebenheit angesehen. Einerseits glaubt der größte Teil der öffentlichen Meinung, der sich von der Religion gänzlich entfernt hat, keineswegs, dass die Lockmittel der fleischlichen Irrwege oder des Verbrechens die kleinen, fragilen Seelen der Kinogänger auf den Weg der Ausschweifung und der Delinquenz bringen könnten. Andererseits wendet sich ein Bruchteil der Bevölkerung, der den Vorgaben der katholischen Kirche folgt, vom Kino einfach ab und verbietet es seinen Kindern» (Morin 2010, 78).
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wie eine Kulturspezifik der Erkenntnisinteressen in der Medienwirkungsforschung zu geben, die überdies konfessionelle Wurzeln haben könnte.27 Zur Verifikation dieser These wäre eine Untersuchung notwendig, die an die Arbeiten zur Geschichte der Medienwirkungsforschung etwa von Isabell Otto und John Durham Peters anschließt und eine religionssoziologische Perspektive mit ins Spiel bringt.28 So oder so aber kommt in dem Bild, das sich die Wirkungsforschung und im Verbund mit ihr die Medienbildung von ihren Subjekten und Adressaten machen, eine moralische und anthropologische Dimension ins Spiel, in der zugleich ein weiteres Mal das theologische Erbe des Bildungsbegriffes aufscheint – weniger im Sinne einer Transzendenz, eines Idealbildes des Selbst, auf das hin der sich Bildende sich entwirft, als vielmehr im Sinne einer genaueren Konturierung der Immanenz, die es in dieser Anstrengung zu überwinden gilt. Eine Medienpädagogik, der es um «Medienkompetenz» zu tun ist, will nicht nur einen Abstand des Wissens oder einen Unterschied der Intelligenzen überwinden, wie ihn Jacques Rancière in seiner Logik der pädagogischen Beziehung umreißt. Sie hat es mit Subjekten zu tun, die über Medien nicht einfach zu wenig wissen; vielmehr stehen die Subjekte, die an die Medienkompetenz herangeführt werden müssen, um es mit einem Begriff des ehemaligen niedersächsischen Justizministers und Kriminologen Christian Pfeiffer zu formulieren, immer schon am Rande einer «Medienverwahrlosung»,29 und Medienbildung versteht sich entsprechend als Projekt der Prävention und damit der Sozialhygiene.30 Offen bleibt zunächst, ob die Quelle des Übels bei den Medien liegt oder Ausdruck einer inhärenten moralischen Korruption des Subjekts ist. Manche Kritiker machen Unterschiede zwischen einzelnen Medien, was ihre Gefährdungspotenziale angeht. Bisweilen geben sie, wie eingangs skizziert, der Schrift, die sie mit Rationalität und 27
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Es sei hier der Anekdote halber angemerkt, dass der bedeutende katholische Medientheoretiker Marshall McLuhan in den 1950er Jahren Versuche unternommen hat, seine Thesen empirisch zu verifizieren. Er kooperierte unter anderem mit einem größeren Forschungsprojekt über Medienwirkungen, wobei es ihm nur bedingt gelang, seine Partner von der Relevanz seiner Fragestellungen zu überzeugen; vgl. dazu Dotzler 2008; Shepperd 2010. Die spirituellen und religiösen Dimensionen des Kommunikationsbegriffs arbeitet bereits Peters (1999) heraus. Den Begriff «Medienverwahrlosung» führte Pfeiffer 2003 im Anschluss an den Amoklauf des Erfurter Gymnasiasten Robert Steinhäuser in die Diskussion ein. Rund ein Fünftel der 12–17-jährigen, so Pfeiffers Einschätzung, litten an «Medienverwahrlosung». Diesen Befund macht der Kommunikationswissenschaftler Hans-Dieter Kübler wiederum zum Ausgangspunkt eines Konzepts von Medienbildung, das auf «Informationskompetenz» abzielt; vgl. [http://www.mediacultureonline.de/fileadmin/bilder/kuebler_medienverwahrlosung.pdf]. Vgl. dazu etwa [http://www.hessen.de/irj/HKM_Internet?cid=5406401a4f104010cae 3f78d1d16e317 (Zugriff am 15.11.2010)].
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Autonomie verbinden, den Vorzug vor den technischen Bildmedien. Ein Autor wie Manfred Spitzer wiederum hebt den positiven Einfluss der Musik und der akustischen Medien auf die Entwicklung der Hirnstrukturen hervor, während er, darin in einen allgemeinen Konsens einstimmend, die technischen Bildmedien und insbesondere das Fernsehen für besonders schädlich hält (Spitzer 2005).31 Unabhängig davon, welches Medium man jeweils favorisiert – Konsens herrscht zwischen Autoren wie Spitzer, Debord, Stiegler und Hedges (und damit zwischen deutschen, französischen und amerikanischen Medienkritikern) darüber, dass die elektronischen Bildmedien und vor allem das Fernsehen immer schädlich sind.32 Darüber hinaus aber ist das Problem eines der Verfasstheit der Subjekte. Zumindest die Rede vom «Publikum», wie sie im Zusammenhang mit der Boulevardisierung geführt wird, legt den Schluss nahe, dass das Problem, mit dem die Medienbildung kämpft, ein moralisches mit einer anthropologischen Wurzel ist. Das «Publikum», wie Renger es versteht, hat «Begierden» und «Unterhaltungswünsche», denen auf der Angebotsseite «minderwertige» Programme entsprechen. Boulevardisierung gibt es, weil das «Publikum» aus Menschen besteht, die ihrer Natur nach korrupt, d.h. von minderwertigen Begierden und Unterhaltungswünschen geleitet sind, und Boulevardisierung ist eine «Zerfallserscheinung», die sich einstellt, wenn man den niederen Motiven nicht nur keinen Einhalt gebietet, sondern ihnen zu ihrem Recht verhilft. Das «Publikum», um das es hier geht, ist nun keine empirische Größe. Nach den Daten, die belegen würden, dass es in seiner Gesamtheit von minderwertigen Begierden getrieben ist, sucht man in den einschlägigen Publikationen vergeblich. Vielmehr handelt es sich um eine anthropologische Bestimmung. In der Diktion von Kants Moralphilosophie würde man sagen, dass das «Publikum» aus Menschen besteht, die immer schon die falschen, nämlich sinnliche Triebfedern (heute würde man sagen: Motive) für ihr Handeln gewählt haben, Triebfedern, die im Widerspruch zu den Imperativen der Vernunft stehen, von denen das autonome Subjekt sich leiten lässt. Geht man davon aus, dass 31
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Man ist versucht, angesichts dieser Privilegierung des Akustischen über das Visuelle noch einmal über McLuhans These nachzudenken, dass demokratische Gesellschaften – auch als Folge des Buchdrucks und der damit zusammenhängenden Kultur des Individualismus – visuell verfasst seien, totalitäre dagegen akustisch; vgl. McLuhan 1994. Vgl. Bernard Stieglers (2008) Beitrag zu dieser Debatte, der um das Konzept einer «Proletarisierung» der Massen kreist, einen systematischen Rückbau der Errungenschaften der Aufklärung durch das Nicht-Wissen des Fernsehens. Die anhaltende Virulenz fernsehkritischer Positionen, wie sie zuerst in der Kulturkritik der 1950er und 1960er Jahre entwickelt wurden, just in dem Moment, in dem das Fernsehen in der digitalen Netzwerkkommunikation aufzugehen beginnt, wirft die Frage auf, woher diese negative Privilegierung durch die Kritik rührt und welche mediengeschichtliche Bewandtnis es damit hat.
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sich die Zuschreibung von falschen Begierden und «Unterhaltungswünschen» auch auf das «medienverwahrloste» Subjekt der Medienbildung übertragen lässt, dann handelt es sich bei diesem Subjekt um eines, das im Sinne einer Bestimmung aus Immanuel Kants «Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft» «radikal böse» ist, insofern es immer schon die sinnlichen Triebfedern des Handelns den vernünftigen vorgezogen hat und damit einer Fremdbestimmung den Vorzug vor der Selbstbestimmung gegeben hat (Kant 1956, 666ff; vgl. auch Höffe 2007, 258ff). Kants Rede vom «radikal Bösen» stellt eine philosophische Reformulierung der (katholischen) Lehre von der Erbsünde dar (vgl. Weidner 2007), wenn auch mit einer dezidiert protestantischen Note: Sie macht dem Individuum die Erbsünde als «intelligible Tat» zurechenbar, als eine Handlung, die außerhalb der Zeit vollzogen wurde und für die es, obwohl sie empirisch nie stattgefunden hat, entsprechend auch die Verantwortung übernehmen muss. Ob man nun Kindern und Jugendlichen ihre Medienverfallenheit als intelligible Tat zurechnet oder sie, rousseauistisch, als medieninduzierten Fall aus einem vormedialen Zustand kindlicher Unschuld denkt: Die schicksalhafte Unvermeidlichkeit, mit der das Subjekt den korrumpierenden Potenzialen der Medien erliegt, verdeutlicht die anthropologische wie theologische Erblast des Begriffs der Medienbildung. ‹Bildung› weist, wie skizziert, eine Dimension von Transzendenz auf und meint nicht zuletzt die Anstrengung des Sich-Entwerfens hin auf ein quasi-göttliches Idealbild. Eine Medienbildung, die sich an Subjekte richtet, von denen vorausgesetzt wird, dass sie nicht von sich aus autonom, d.h. verantwortungsvoll und moralisch wertvoll handeln,33 und die mit einem «radikal bösen» Publikum rechnet, liefert dazu das eschatologische Gegenstück: Sie kämpft im Zeichen eines säkularisierten Verständnisses der Erbsünde gegen das Übel der Medienverfallenheit. Ob der pädagogische Ansatz meines «Hollywood verstehen»-Kurses dem Anspruch der Medienbildung genügt, steht mithin schon deshalb in Frage, weil er ohne anthropologische Voraussetzungen und ohne – wie auch immer säkular verbrämten – heilsgeschichtlichen Aufwind auskommt. Tatsächlich ist mein Ausgangspunkt bloß empirisch: Die Studierenden wissen in offenkundiger Weise, wie ein Film funktioniert; es kommt darauf an, dass sie es sagen lernen. Uneingeholt bleibt im Begriff der Medienbildung bislang der grundlegende, umfassende (um nicht zu sagen: transzendentale) Sinn von Bil33
Im Horizont einer kantianischen Ethik handelt moralisch, wer aus den richtigen Motiven handelt. Eine Handlung kann im Ergebnis moralisch wertvoll sein, sie ist moralisch aber nur, wenn sie moralischen Motiven entspringt. Für eine Kritik an dieser Konzeption vgl. insbesondere Williams 1982, 20-39.
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dung: der Aspekt des offenen Systems von Wissensgegenständen, das, was in der Erziehungswissenschaft auch «materiale Bildung» genannt wird. Es liegt auf der Hand, dass Medien für eine Pädagogik, die ihren Auftrag darin sieht, strukturell den Medien verfallene Menschen fähig zu machen, selbstbestimmt damit umzugehen, keine Bildungsgüter sind, sondern eher Bildungshemmnisse, wenn nicht sogar Quellen des Übels. Wie aber sähe eine Bildung aus, die Medien als möglichen Gegenstand von Bildung und damit als Bildungsgüter ernst nimmt? Was passiert etwa mit unserem Verständnis von digitalen Netzwerken, wenn wir das Internet – wie etwa Winfried Marotzki dies vorschlägt – als «Kultur- und Bildungsraum» auffassen (Marotzki 2004), und was mit unserem Verständnis von Internetservern, wenn diese nicht mehr in erster Linie als fürchtenswerte provider von Abhängigkeit und Sucht verstanden werden, sondern im Horizont einer Mediengeschichte, wie sie Markus Krajewski in seinem Buch über die Figur des Dieners entwirft, in dem Server und E-mail-Clients als informationstechnologische Re-Iterationen der literarischen Gestalt des Dieners auftreten (Krajewski 2010)? II Mit Blick auf das klassische Hollywood-Kino, den amerikanischen Mainstream-Film der 1910er bis 1950 Jahre, hielt der Philosoph Stanley Cavell, lange einer der wenigen Großen seines Fachs, die sich ernsthaft mit dem Film auseinandersetzten, einmal fest, dass es nicht darum gehe, ob Film eine Kunst sein könne. Die Frage sei vielmehr, warum es so lange gedauert hat, bis er eine wurde. Unter ‹Kunst› versteht Cavell dabei die moderne Kunst, wobei er auf einen bestimmten Augenblick der Entwicklung abzielt – the moment in which history and its conventions can no longer be taken for granted; the time in which music and painting and poetry (like nations) have to define themselves against their past; the beginning of the moment in which each of the arts becomes its own subject. (Cavell 2002, XXVI)
Von einer Kunst im modernen Sinn ist also erst zu sprechen, wenn die Praxis dieser Kunst von einem Bewusstsein der Geschichte und der Geschichtlichkeit der Kunstform zeugt. Dieser Punkt ist nach Cavell erst um 1960 erreicht, etwa mit Godards A Bout de Souffle, der die Geschichte des amerikanischen Gangsterfilms Revue passieren lässt und fast nur aus filmhistorischen Referenzen besteht. Von solchem reflexiven Geschichtsbewusstsein war das Hollywood-Kino in der Tat lange Zeit frei. Es war, wie David Bordwell, Kristin Thompson und Janet Staiger in ihrem großen Buch The Classical Hollywood Cinema von 1985 festhielten, eine klassische Kunst,
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insofern sie Regeln folgte, die keine Urheber kannten und doch verbindlich waren. Aus Sicht der Hollywood-Produzenten stellte dies kein Defizit dar. Als zu Beginn der 1930er Jahre mit der Einrichtung der ersten Filmmuseen und Filmabteilungen in Kunstmuseen wie dem Museum of Modern Art die kunstgeschichtliche Historisierung des Films einsetzte, standen die Hollywood-Studios diesem Vorhaben äußerst skeptisch gegenüber und kooperierten nur zögerlich mit den Museen und Archiven. Sie produzierten kontinuierlich Neuheit innerhalb der Regeln einer klassischen Kunst. Eine Aufbewahrung des Alten, eine Valorisierung der Hits vom vorletzten Jahr, stand im Widerspruch zur Logik ihrer Produktion (vgl. Wasson 2005). Aber auch in einem anderen Sinn blieb es dem Film erspart, eine moderne Kunst zu sein. Die Kunst der Moderne (wenn wir darunter in etwa den Zeitraum verstehen, in dem es so etwas wie «Bildung» gibt, also die letzten rund zweihundert Jahre) kennzeichnet sich dadurch, dass sie immer einen unausgesprochenen Rest bei sich führt, ein «ästhetisches Unbewusstes», wie Jacques Rancière es formuliert (Rancière 2006). Die Werke der Kunst der Moderne verstehen sich zumeist nicht von selbst. Sie erfordern eine hermeneutische Anstrengung, und es ist nicht zuletzt ein Rest an Unausdeutbarem, der ihnen ihren Status als Kunstwerke sichert. Ohne Auslegung kommen sie nicht aus, und doch gehen sie in dieser Auslegung nie auf. Adorno, vielleicht der wichtigste philosophische Theoretiker der hermetischen Moderne, formuliert diesen Zusammenhang in seiner ästhetischen Theorie so: «In ihrer Bewegung auf die Wahrheit hin bedürfen die Kunstwerke eben des Begriffs, den sie um der Wahrheit willen von sich fernhalten» (Adorno 1970, 201). Hollywood-Filme nun lassen nichts ungesagt: Sie sind, wie oft von der Theorie festgehalten wurde, «transparent», und sie arbeiten mit einem Höchstmaß an Redundanz. Die Eröffnungssequenz von John Hustons erster Regiearbeit The Maltese Falcon (USA 1941) ist hierfür exemplarisch. Eine schöne Frau (Mary Astor) sucht den Privatdetektiv Sam Spade (Humphrey Bogart) auf und erklärt ihm ihr Anliegen: Er soll ihre Schwester suchen, die seit einigen Tagen verschwunden ist. Kaum ist sie mit ihrer Schilderung fertig, geht die Tür auf und Spades Partner kommt herein. Spade fasst das bisher Gesagte noch einmal zusammen – um ihn auf Stand zu bringen, natürlich, aber auch, damit alles zweimal gesagt ist. Keine Kunst, die den Begriff um der Wahrheit willen von sich fernhält, keine Kunst, die ein Nicht-Bedachtes, ein ästhetisches Unbewusstes mit sich führt; zumindest wäre beides nicht auf Anhieb erkennbar. Vielleicht eine klassische, sicher aber keine moderne Kunst. Kein Wunder also, dass das Kino auf der Liste der Bildungsgüter nicht zuoberst steht. Stanley Cavell mag in seinem Buch The World Viewed (1979) behaupten, dass das klassische
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Hollywood-Kino mindestens 400 Meisterwerke hervorgebracht habe, also mehr als alle elisabethanischen Dichter zusammen. Gehör findet, zumindest in Deutschland, nach wie vor eher Adornos Diktum aus den Minima Moralia: «Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus» (2008, 51). Das Theater mag eine moralische Anstalt sein, das Kino ist, in Adornos Sicht, das Gegenteil einer Bildungsanstalt und der Film mithin auch kein Bildungsgut, ja nachgerade ein Anti-Bildungsgut. Als Bildungsgut eignet sich der Hollywood-Film schon deshalb nicht, weil er keine Arbeit macht: weil er, vermeintlich, keine besondere hermeneutische Anstrengung erfordert und, als «aistheis» und «bloße Unterhaltung» keine reflexive Haltung zum Werk herbeizuführen vermag. Bildung ist ein Prozess der Selbstverbesserung, der Ergreifung des eigenen Selbst in seiner unverwechselbaren Individualität, und sie ist zugleich Arbeit, die Anstrengung der Überbrückung eines Spalts, der durch dieses Selbst geht. Dass Bildung Arbeit sei, ist ein Gedanke, der auf Hegel zurückgeht und bei Adorno, aber bei weitem nicht nur bei ihm, ein virulentes Nachleben führt. Die Arbeit der Ausdeutung des ästhetisch Unbewussten bildet den Menschen. Für Adorno können dabei im Prinzip alle Kunstformen Bildungsgüter hervorbringen. Auch in diesem Sinne ist er modern im Sinne einer Wissensordnung, wie sie nach 1800 entsteht: Es gibt keine Hierarchie der Künste, wie sie vor 1800 noch bestanden hatte; keine Kunst ist inhärent wertvoller als eine andere. Jede Kunst ist aber auch imstande, das hervorzubringen, was man Anti-Bildungsgüter nennen kann, also Artefakte, die uns, wenn wir mit ihnen in Kontakt kommen, auf dem Weg zu unserem Soll-Ich zurückwerfen. Gute Kunst, die uns auf unserem Bildungspfad zu uns selbst weiterbringt, ist dabei – für Adorno ebenfalls ganz im Sinne Hegels – Kunst, die auf der Höhe ihrer Zeit ist, und gebildet ist, wer nicht zuletzt durch eine Auseinandersetzung mit der Kunst seiner Zeit auf deren Höhe kommt – in der Musik etwa, als Adorno seine Ästhetische Theorie schrieb, die Zwölftonmusik Schönbergs oder in der Literatur die Werke von Beckett. Das Kino allerdings macht eben keine Arbeit, es ist bloße «Unterhaltung». Man kann darauf hinweisen, wie dies Richard Dyer vorschlägt, dass die Qualitäten, die man mit entertainment verbindet, auch diejenigen sind, die in der europäischen Moderne traditionellerweise mit gesellschaftlichen Utopien verbunden wurden (Dyer 1992). Doch das hilft nichts. Das Kino wird bei Adorno nicht unter der Rubrik ‹Kunst› verhandelt, sondern als paradigmatischer Ort der Kulturindustrie, wobei er «Industrie» durchaus im Sinne eines Topos der Kunstkritik, wie er im 19. Jahrhundert von John Ruskin folgenreich etabliert wurde, als Antithese zur Kunst begreift (und damit letztlich hinter dem Verhältnis von Kunst und Technik zurückbleibt,
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wie es die Avantgarden der 1920er und 1930er Jahre herausarbeiten) (vgl. Francastel 1956, 23ff). Was aber kümmert uns die Kinoaversion, die filmische Medienphobie eines Philosophen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, zumal Adornos Philosophie der Kunst bereits von unterschiedlicher Seite einer grundlegenden Kritik unterzogen wurde und seine Haltung zum Kino mit Einschränkungen mittlerweile sogar in Deutschland als eher kurios und überholt gelten darf?34 Gertrud Koch hat vor einiger Zeit schon dargelegt, wie Adorno am Leitfaden der Begriffe Mimesis und Bilderverbot für ein Denken des Kinos jenseits kulturkritischer Aversionen fruchtbar gemacht werden kann (Koch 1993). Mich interessiert hier allerdings ein anderer systematischer Punkt. Das Bemerkenswerte an dem Satz aus den Minima Moralia ist letztlich, dass der Philosoph – und man mag dies als Ausdruck einer an Nietzsche geschulten intellektuellen Redlichkeit sehen – sich selbst zum «Publikum» zählt. Adorno ist nicht weniger als die zeitgenössischen Kritiker der «Boulevardisierung» der Meinung, dass es ein Problem mit minderwertigen Programmen gibt, die «Begierden und Unterhaltungswünsche» befriedigen. In seiner Sicht erscheint das Kino als Ort einer tragischen Verstrickung, an dem falsche Bedürfnisse hervorgebracht und kultiviert werden, und zwar auf eine Weise, die uns von der Einsicht in unsere tatsächliche Lage abhalten und die Illusion auf der Leinwand zum Stoff einer 34
Für eine Metakritik an der Kritik der Kulturindustrie vgl. insbesondere Cowen 2000. Tatsächlich gehört ja zu den Folgen von A bout de souffle und des Autorenfilms der 1960er Jahre die akademische Nobilitierung des Films: Sobald er in dem Sinne eine Kunst geworden war, den Cavell benennt, war es möglich, Kanons zu bilden und nach dem Vorbild der nationalen Philologien und Literaturwissenschaften eine Filmwissenschaft zu etablieren, was in Frankreich und den USA in den 1970er Jahren geschah und in Deutschland mit der Einrichtung von Studiengängen für Theater-, Film- und Fernseh- bzw. Medienwissenschaft ebenfalls in den 1970er einsetzte (etwa in Frankfurt, wo die späteren ProfessorenInnen Karsten Witte, Heide Schlüpmann und Christine Noll Brinckmann federführend waren) und mit der Einrichtung einschlägiger Institute Mitte bis Ende der 1980er Jahre in Köln, Frankfurt, Berlin und Zürich institutionell auf Professorenebene verankert wurde. Zugleich ist es hier heute noch möglich, im Rahmen einer Reflexionsästhetik in der Nachfolge Adornos die Position zu vertreten, dass ein reflexives Sich-Verhalten zum Werk im Kino nicht möglich sei und dass es dort bloß aisthetische Erfahrung gebe, aber keine ästhetische; vgl. Rebentisch 2003. Die Selbstverständlichkeit, mit der Cavell das klassische Hollywood-Kino genauso zum Anlass und Anstoß seines Philosophierens macht wie die Schriften Wittgensteins, hat hierzulande noch nicht wirklich Schule gemacht; dass es eine Filmphilosophie in Deutschland bislang nur in Ansätzen gibt, lässt sich auch auf das Fehlen jener bürgerlichen Kinokultur zurückführen, auf die sich etwa Gilles Deleuze verlassen konnte, als er den Kanon der Cahiers du cinéma zum Stoff eines Denkens von Bild und Affekt jenseits spät-cartesianischer Subjekts- und Zuschauertheorien erhob. – Die Forderung nach einer Aufnahme des Films ins Curriculum des Deutschunterrichts wird übrigens in der deutschsprachigen Filmwissenschaft schon in den frühen 1970er Jahren erhoben; vgl. dazu Noll Brinckmann 1973.
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existenziellen Täuschung machen. Das Kino ist, mit anderen Worten, nicht einfach nur schlechte Kunst: Es ist eine gefährliche und auf sehr effektive Weise schädliche Kunstform, eine Wunschmaschinerie, die der Entfaltung des Selbst im Sinne von Bildung im Wege steht. Im Unterschied zu den Kritikern der «Boulevardisierung», die sich vom «Publikum» stets – implizit oder explizit – ausnehmen, anerkennt Adorno, und darauf kommt es an, die Begierden und Unterhaltungswünsche des «Publikums» als seine eigenen. Er, der Philosoph, ist es, der ins Kino geht, und er tut es immer wieder. Darin liegt der Sinn der Formulierung «Aus jedem Besuch…»: Der Philosoph macht die intelligible Tat des radikal bösen Subjekts der Medienkultur empirisch zu seiner eigenen, indem er offenbar regelmäßig ins Kino geht, obwohl er weiß, dass es seiner Bildung schadet. Die Unmündigkeit des Publikums ist für diesen Philosophen seine eigene und damit in einem emphatischen Sinne selbstverschuldet. Aufklärung fängt für ihn damit an, dass er den Ausgang aus dem Kino sucht, und sein Aufklärungsprojekt scheitert daran, dass er immer wieder nur den Eingang findet. Die Herausforderung, die Adorno der aktuellen Medienbildung stellt, besteht mithin nicht nur darin, dass er sich selbst zum Subjekt einer Medienbildung – einer Bildung durch Medien und unter Medienbedingungen – macht, womit «Medienbildung» aufhört, ein Projekt der psychosozialen Gentrifizierung sogenannter bildungsferner Schichten zu sein, und zu einem Problem des gebildeten, ja hoch gebildeten Individuums wird. Die Herausforderung besteht ferner darin, dass er in dem Moment, in dem er «Ich» sagt, zugleich das Projekt der Bildung am Medium scheitern lässt. Das Medium entmachtet das Ich: Indem Adorno sich der Gefahr stellt, die er dem Kino zuschreibt, und sich zugleich an dieses verliert, legt er – zuhanden einer metatheoretischen Betrachtung – die Quelle und Dynamik der Medienphobie frei. Geht man mit Wittgenstein davon aus, dass Philosophie auch und gerade eine Therapie des Denkens ist, stellt sich die Frage, ob die Angst der Entmachtung des Ich durch das Medium einer Therapie zugänglich ist. Eine solche philosophische Therapie scheint nicht zuletzt eine Voraussetzung dafür zu sein, dass das Kino als Bildungsgut denkbar wird und nicht mehr nur als Bildungshemmnis. Anfangen könnte man die Therapie, indem man mit einer Unterscheidung von Freud fragt, ob es sich um eine neurotische Angst oder eine Realangst handelt. Eine Realangst ist eine Angst vor äußeren Gegebenheiten, die eine tatsächliche Bedrohung darstellen. Die neurotische Angst wiederum ist die Angst, dass das Ich von den Anforderungen des Es, die sich dem Bewusstsein entziehen, überwältigt und vernichtet werden könnte – eine Angst also, die keiner realen äußeren Bedrohung entspricht, sondern ein inneres Bedrohungsszenario nach
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außen verlagert oder, wie es gut psychoanalytisch heißt, projiziert.35 Und anfangen könnte man ferner mit der Frage, ob Medienphobie medienspezifisch ist. Adorno hat einen guten, und vielleicht den dauerhaftesten Teil seines Werkes einer Philosophie und Soziologie der klassischen Kunstmusik gewidmet, die in einer profunden Werkkenntnis und hohen Sensibilität für die musikalische Form gründet. Das technische Bildmedium Kino hingegen löst in ihm einzig den Rückzug auf ein Selbst aus, das sich durch den äußeren Anlass des Mediums in seiner Substanz und Struktur bedroht wähnt.36 Die Medien und Künste scheinen sich also hinsichtlich ihres angstgenerierenden Potenzials zu unterscheiden. Andererseits hat Derrida, wie bereits erwähnt, Platos Schriftkritik als frühe Instanz einer Medienphobie, einer medieninduzierten Angst vor dem Selbstverlust entziffert. Dass der Buchstabe den Geist tötet, dass der Sinn sich im Medium der Schrift der reinen Selbstpräsenz des Subjekts entzieht: Das mutet nunmehr an wie eine frühe Variation des Szenarios der Entmachtung des Ich durch das Medium, die Adorno im Kino erlebt. Zumindest die Schrift scheint sich als Auslöser der Medienphobie genauso zu eignen wie das technische Bild.37 Diese beiden therapeutischen Fragen – Ist Medienphobie eine neurotische oder eine Realangst, und ist sie medienspezifisch? – haben als Horizont, auf den sie sich beziehen, eine andere, epistemologische Frage, nämlich: Steht Bildung unter Medienbedingungen notwendigerweise im 35
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Freud trifft diese Unterscheidung erstmals in der Schrift «Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als ‹Angstneurose› abzutrennen» aus dem Jahr 1895: «Die Psyche gerät in den Affekt der Angst, wenn sie sich unfähig fühlt, eine von außen nahende Aufgabe (Gefahr) durch entsprechende Reaktion zu erledigen; sie gerät in die Neurose der Angst, wenn sie sich unfähig merkt, die endogen entstandende (Sexual-) Erregung auszugleichen. Sie benimmt sich also, als projizierte sie diese Erregung nach Außen» (1971, 46). Freud baut diese Position in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1916-1917 weiter aus, lässt sie aber später im Horizont der zweiten Topik zugunsten der Unterscheidung zwischen automatischer Angst und Angst als Signal fallen; vgl. dazu «Hemmung, Symptom und Angst» in: Freud 1971, 229ff. Aufschlussreich ist eine Gegenüberstellung des Kinozuschauers aus den Minima Moralia mit der Figur des Konzertbesuchers, den Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung mit Odysseus vergleichen, der sich an den Mast seines Schiffes binden lässt, um den Gesang der Sirenen hören zu können, ohne ihrem Lockruf zu erliegen. Odysseus dient Horkheimer/Adorno als Metapher für das bürgerliche Subjekt und seine Ökonomie des Begehrens: Die Musik entwirft einen utopischen Zustand, dem sich dieses Subjekt, das sich über Verzicht und Aufschub konstituiert, nur unter kontrollierten Bedingungen und temporär aussetzen darf. Der Zuhörer im Konzertsaal behält die Kontrolle; der Zuschauer im Kinosaal verliert sie, und er verliert sich an eine falsche Utopie. Beispiele für eine virulente Klang- und Musikphobie sind mir allerdings nicht bekannt. Immerhin gibt es das Syndrom der Aufzeichnungsphobie. So weigerte sich der Dirigent Sergiu Celibidache zeitlebens, Aufzeichnungen seiner Konzerte zu veröffentlichen. Seine Argumentation entsprach im Wesentlichen der platonischen Schriftkritik: In der Aufzeichnung gehe das Präsentische der Aufführung verloren.
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Zeichen der Medienphobie? Oder anders gefragt: Ist Bildung unter Medienbedingungen jenseits der Medienphobie überhaupt denkbar? Um herauszufinden, ob sich das Übel des medieninduzierten Selbstverlustes überhaupt aus der Welt schaffen lässt oder ob es eher eine Plage oder zumindest eine tragische Bedingung ist, wäre zunächst zu klären, wie es in die Welt kommt. Einen Ansatzpunk dafür, zumindest im Umriss, bietet einer der klassischen Texte des modernen Bildungsdiskurses, JeanJacques Rousseaus Emile oder Über die Erziehung von 1762 (1998). III Rousseau hat sich naturgemäß keine Gedanken darüber gemacht, was wir heute die «technischen Medien» nennen. Die größte Gefahr für das Kind besteht in seinen Augen, verknappt gesagt, in einer voreiligen Sozialisierung: einer allzu frühen und allzu schnellen Einführung in die Gepflogenheiten der Erwachsenen, vor allem die Manieren der urbanen Zivilisation. Im zweiten Buch des Emile, seines Gedankenexperiments einer gelingenden Erziehung eines Knaben, formuliert Rousseau ein Axiom: Setzen wir als unbestreitbare Maxime fest, dass die ersten Regungen der Natur immer richtig sind. Es gibt keine ursprüngliche Verdorbenheit im menschlichen Herzen. Es gibt dort nicht ein einziges Laster, von dem man nicht sagen könnte, wie und woher es dort eingedrungen ist. (Rousseau 1998, 211)
Gegen die christliche Lehre von der Erbsünde und gegen die Lehre von der radikalen Bosheit des Menschen, die sein Leser Kant entwirft, vertritt Rousseau die Position, dass der Mensch ursprünglich gut sei. Alles Übel, so die Konsequenz, kommt von außen. Gleichwohl bedarf das Übel, um uns zu treffen, der Komplizität des Subjekts. Alle unsere Übel, so Rousseau, «sind imaginäre, außer einem, dem Verbrechen, und das hängt von uns selbst ab» (ibid., 190). Das Übel ist nicht substanziell, sondern immer imaginär. Näherhin entspringt es dem Versuch, mehr zu wollen, als man kann, und mit seinen Wünschen über das hinauszugehen, was man hat. Das Übel entspringt mithin dem, was anderswo ‹Einbildungskraft› heißt: der Fähigkeit, sich die Welt über den unmittelbaren Horizont der eigenen Wahrnehmung und der eigenen Bedürfnislagen hinaus vorzustellen. Der wahrhaft freie Mensch, so Rousseau, ist frei vom Sog des Vorstellungsvermögens, das ihn von sich wegzieht.
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Der wahrhaft freie Mensch will nur das, was er kann, und tut nur, was ihm passt. Dies ist mein oberster Grundsatz. Er braucht nur auf die Kindheit angewandt zu werden, und alle Erziehungsregeln werden sich daraus ableiten lassen. (ibid., 195)
Daraus lässt sich für die Erziehung des Kindes Folgendes schließen: […] Bis zu dem Augenblick, da die Vernunft, die Führerin der Eigenliebe, erwacht, ist es daher von höchster Wichtigkeit, dass das Kind nichts tut, weil es gesehen oder gehört wird, nichts, mit einem Wort, in Bezug auf andere, sondern nur das, was die Natur von ihm fordert; dann wird es nur recht tun. (ibid., 211)
So weit das Ideal eines Kindes, das unversehrt von den Verheerungen des Sozialen und des eigenen Vorstellungsvermögens aufwachsen möge. Die Lage, mit der wir aber aktuell konfrontiert sind, präsentiert sich ganz anders. Rousseau skizziert sie über mehrere Seiten, noch bevor er seine Leitlinie für die erfolgreiche Kindererziehung formuliert. Namentlich beklagt er, dass wir überall sind, nur nicht bei uns selbst: So hängen wir an allem, klammern uns an alles: Zeit, Orte, Menschen, Dinge – alles, was ist, alles was sein wird, ist für jeden von uns von Bedeutung; unsere Person ist nur noch der geringste Teil unserer selbst. Jeder dehnt sich sozusagen über die ganze Erde aus und wird auf dieser ganzen großen Fläche verletzlich. (ibid., 192)
Aber wie geschieht dies? Ist es allein das Vorstellungsvermögen, das diese Ausdehnung bewirkt? Rousseau stellt die Frage selbst: Ist es die Natur, die die Menschen so weit über sich selbst hinausführt? Ist sie es, die will, dass jeder seine Bestimmung durch andere erfährt – und das nicht selten als letzter –, so dass mancher glücklich oder unglücklich gestorben ist, ohne sich dessen jemals bewusst gewesen zu sein? (ibid.)
Die Antwort auf diese Frage gibt Rousseau mit einem Beispiel, und hier kommt das Mediale ins Spiel: Ich sehe einen frischen, fröhlichen, kraftvollen Menschen; seine Gegenwart strahlt Freude aus, aus seinen Augen spricht Zufriedenheit und Wohlbefinden, er ist das Abbild des Glücks. (ibid.)
So weit die Ausgangsposition. Nun folgt das, was in den Handbüchern der Dramaturgie das «auslösende Ereignis» genannt wird: Da kommt ein Brief mit der Post. Der glückliche Mensch betrachtet ihn, er ist für ihn. Er öffnet ihn, liest ihn. Augenblicklich verändert sich seine Miene, er
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erbleicht, er fällt in Ohnmacht. Wieder zu sich gekommen, weint er, gerät außer sich, stöhnt, rauft sich die Haare, die Luft hallt wider von seinen Schreien, er scheint von fürchterlichen Krämpfen geschüttelt. Wahnsinniger, was hat dir dieses Papier nur angetan? Welches Glied hat es dir ausgerissen? Welches Verbrechen hat es dich begehen lassen? Was hat es letztlich in dir selbst verändert, um dich in den Zustand zu versetzen, in dem ich dich nun sehe? (ibid.)
Die Antwort folgt, indirekt, im nächsten Satz: Wäre der Brief verloren gegangen, hätte eine barmherzige Hand ihn verbrannt, so wäre, scheint mir, das Los dieses zugleich glücklichen und unglücklichen Sterblichen ein seltsames Problem gewesen. Sein Unglück, werdet ihr sagen, war eine Realität. Ganz recht, aber er fühlte es nie. Wo war es also? Sein Glück war imaginär. Ich verstehe: Gesundheit, Fröhlichkeit, Wohlbefinden, Seelenruhe, das alles sind nur Illusionen. Wir existieren nicht mehr da, wo wir sind, sondern nur da, wo wir nicht sind. Hat es da noch Sinn, den Tod so zu fürchten, wenn uns das bleibt, worin wir leben? Oh Mensch! Lebe dein Leben in dir selbst, und du wirst nicht mehr unglücklich sein. (ibid., 192f)
Nicht nur unser Unglück ist imaginär, auch unser Glück ist es. Wie Rousseau formuliert: «Wir existieren nicht mehr da, wo wir sind, sondern nur da, wo wir nicht sind». Woran liegt das? «Wäre der Brief verloren gegangen, so wäre […] das Los des zugleich glücklichen und unglücklichen Sterblichen ein seltsames Problem gewesen». Nur ist der Brief eingetroffen, und damit ist es kein seltsames Problem mehr, sondern eine Bedingung, die man in einem Satz mit dem inklusiven, auf eine anthropologische Bedingung referierenden Personalpronomen «wir» beschreiben muss: «Wir existieren nicht mehr da, wo wir sind, sondern nur da, wo wir nicht sind». Das ist die Struktur eines Selbstverlusts, der einem Tod gleichkommt: Jedenfalls hat es gar keinen Sinn mehr, den Tod zu fürchten, wenn es einmal so weit gekommen ist. Geschuldet ist diese todesgleiche Zerstreuung ins Anderswo weder allein dem menschlichen Vorstellungsvermögen, in dem die Wurzel des Übels zumindest teilweise liegt, und auch nicht allein dem Medium Brief, sondern der korrosiven Reaktion, die stattfindet, wenn Vorstellungsvermögen und Medien aufeinandertreffen. Wenn dieses Aufeinandertreffen stattfindet, dann dehnen wir uns über die ganze Erde aus und werden auf dieser großen Fläche verletzlich. Die Lektüre des Briefes mündet in ein Sterben des Selbst. Das Ziel der Erziehung, wie Rousseau es im Anschluss an diese Passage formuliert, muss darin liegen, die Lektüre des Briefes in der Entwick-
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lung des Kindes möglichst lange hinauszuzögern, möglichst so lange, bis die Vernunft die Führung übernommen hat. Emile entwirft mit anderen Worten die Urszene der Medienbildung im oben skizzierten Sinn. Medien, so die Hypothese, destabilisieren das Selbst und pervertieren das ursprünglich Gute im Menschen. Nur wenn das Kind schon vernünftig ist und autonom, kreativ und verantwortungsvoll mit dem Brief umgehen kann, ist es gegen das Übel des medieninduzierten Selbstverlusts gefeit. «Emile», dieser fiktionale Protagonist eines großen Gedankenexperiments, ist mit anderen Worten die erste Inkarnation des Traums von einer Kindheit ohne Medien. Noch bevor irgendjemand an die Erfindung des Fernsehens gedacht hatte, war Emile das erste Kind, das nicht fernsehen durfte. Emile ist eine theoretische Fiktion, so wie es auch die Fiktion des Naturzustandes in der modernen Staatstheorie bei Rousseau ist (vgl. etwa Figal 1989), und eine theoretische Fiktion mit praktischen Konsequenzen. Zwei Dinge verdeutlicht die Lektüre Rousseaus: Von Anfang an steht das pädagogische Denken der Moderne und damit auch das Denken der Bildung im Zeichen einer zumindest ambivalenten Reflexion ihrer medialen Bedingungen, und von Anfang an, und über Adorno weiter bis hin zur zeitgenössischen Debatte über Medienbildung, steht das Denken der Medien im Zeichen der theoretischen Fiktion des medienfreien Kindes. So sehr steht die Debatte im Zeichen dieser Fiktion, dass die Frage, ob es ein solches Kind tatsächlich geben könnte, gar nicht aufkommt. Sie mag eine regulative Idee sein, aber als solche ist sie nicht merklich kontrovers, und als solche wirkt sie. Was aber, wenn es das medienfreie Kind gar nicht gibt, nicht einmal seiner von Rousseau so suggestiv erträumten Möglichkeit nach? Welche Alternativen hätten wir, jenseits seiner Fiktion, mit den medialen Bedingungen von Bildung zurechtzukommen? Bildung, so hatte ich eingangs mit Blick auf die historische Semantik des Begriffs festgehalten, lebt von einer Spannung zwischen einem Ist-Ich und einem Soll-Ich, einer aus dem Theologischen ererbten Transzendenz des Bildes, auf das hin ich mich in der Anstrengung der Bildung selbst entwerfe. Bildung wäre im Sinne Rousseaus eine glückverheißende Übung, solange ich ganz in mir selbst damit befasst bleibe: mich in meinem Bildungsstreben nicht auf andere beziehe und vor allem nicht in mediatisierte Beziehungen zu anderen trete. Das medienfreie Kind verlässt sich ganz auf seine Anlagen und bildet sich im Raum eines anti-medialen Solipsismus. Kurz nach Rousseau, in der Romantik, wird ausgerechnet der von ihm noch mit Verdacht belegte Brief zum Leitmedium der Bildung. Der Bildungsroman, diese Erzählung von der Ausformung und Pflege des Selbst, hat zunächst und zumeist die Form des Briefromans, und der romantische
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Brief ist das Medium, über das die Gebildeten sich ihrer Bildung und ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zur Bildung versichern (Bohrer 1987). Es gibt also in der Moderne, um eine große medienhistorische AntiThese zu entwerfen, zwei Typen von Briefen: Es gibt den Rousseauschen Brief, das Medium, das dem solipsistisch in seiner Medienfreiheit verharrenden Individuum Unglück bringt und das bisherige Glück als Illusion entlarvt, das Medium, das mich von mir wegzieht, mich aus meinem Lebenszusammenhang herausreißt, über die ganze Erde verteilt, mich verletzt und verletzlich macht; und es gibt den romantischen Brief, ein Medium, das Gebildete in ihrer Bildung – ihrem Sich-Bilden und ihrem Teilhaben an der Bildung – miteinander verbindet, also ein Medium der Korrespondenz und der Korrespondenzen, das Bildung überhaupt erst ermöglicht. Es scheint, als ob in dieser Alternative, der Gegenüberstellung des Rousseauschen Briefs, der die Bildung unterläuft, und dem romantischen Brief, der sie ermöglicht, eine dritte, in den eingangs skizzierten Bedeutungen von ‹Medienbildung› noch nicht eingeholte – aber im Vorausgehenden immer wieder angedachte und, man muss es so formulieren: angemahnte – semantische Schicht des Begriffs greifbar würde: Die Bedeutung von Bildung als offenes System von Wissensgegenständen, das sich in Medien konstituiert und diese in sich einholen kann. Mein Vorschlag wäre, dass man sich für die weitere Diskussion über Medienbildung an diesem Korrespondenzbegriff von Medien orientiert, statt, wie meistens bisher, an phobisch grundierten Bedrohungsszenarien des Medialen. Im Sinne einer Wittgenstein’schen philosophischen Therapie kommt es darauf an, sich einen Begriff davon zu machen, dass es um das medienfreie Kind immer schon geschehen ist: dass es immer schon in mediis rebus ist, in einer Welt, die medial verfasst ist, in der es mit sich und anderen in Beziehung tritt, indem es über Medien korrespondiert. Wenn man das so sieht – also auf die mit Rousseau zur Bedingung der Bildung werdende Medienphobie zugunsten eines Korrespondenzbegriffs von Medien verzichtet –, dann erscheint vielleicht unversehens auch ein kleiner Schritt wie etwa der vom impliziten Wissen, das sich das Kind spielerisch erworben hat, zum expliziten, das es als vernunftgeleitete Kreatur auf den Begriff bringen und weitergeben kann, als ein etwas größerer Schritt.
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Kapitel 2
Archiv, Programmierung, Kanon
Matthias Christen
Das bewegliche Archiv DVD-Editionen als Schnittstelle von Filmwissenschaft, Philologie und Marketingstrategien
Mit Blick auf DVDs und DVD-Editionen ist eine Unterscheidung hilfreich, auch wenn sie, wie sich rasch zeigen wird, nicht mit absoluter Trennschärfe zu halten ist. Die DVD ist – wie das Nachfolgemedium Blue Ray – ein Glied in der verlängerten Wertschöpfungskette, die neu auf den Markt kommende Filme nach der ersten, gewöhnlich drei bis sechs Monate zurückliegenden Auswertung im Kino durchlaufen. Als «new exhibition window» (McDonald 2007, 123) hat die DVD, seit sie 1996 in Japan und 1997 auf dem amerikanischen Markt eingeführt wurde, eine enorme wirtschaftliche Bedeutung erlangt. 2004 machte der DVD-Verkauf rund die Hälfte des jährlichen Ertrags von Hollywoodproduktionen auf dem heimischen Markt aus, während auf das herkömmliche Kinogeschäft nur mehr knapp ein Viertel entfiel, sodass die alte Hierarchie der Auswertungsformen auf den Kopf gestellt und die Rede von Video als nachgeordnetem «ancillary market» obsolet war (vgl. Klinger 2008, 19; McDonald 2007, 126, 150ff; Hight 2005, 6). Die DVD verhilft jedoch nicht nur neuen Filmen zu einem erweiterten ökonomischen life cycle (McDonald 2007, 123), sie ist zugleich ein Trägermedium, über das historische Titel ins Filmangebot zurückkehren und nach einer Phase mehr oder minder ausgeprägter kultureller Latenz wieder eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Unabhängig davon, ob eine Ausgabe auf DVD direkt an einen first run im Kino anschließt oder aus größerem zeitlichen Abstand einen neuen Verwertungszyklus eröffnet, bleiben die pragmatischen Rahmenbedingungen allerdings die gleichen. In beiden Fällen ist die DVD Teil eines Prozesses, in dem sich während der letzten zwanzig Jahre die Sehgewohnheiten massiv verändert und sich der Filmkonsum vom Kino als lange Zeit prioritärer Spielstätte stärker zugunsten von non- oder post-theatrical venues verlagert hat. Die Anbindung des Filmkonsums an das home entertainment und dessen technische Infrastruktur ist, wie Barbara Klinger in Beyond the Multiplex. Cinema, New Technologies and the Home (2006) zeigt, wesentlich älter als die DVD und lässt sich über das Mitte des Jahrhunderts aufkommende Fernsehen bis in
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die 1920er Jahre zurückverfolgen, als Firmen wie Pathé anfingen, Schmalfilmfassungen für den Heimgebrauch zu vertreiben. Die Einführung der DVD hat diese von unterschiedlichen Medien und Praktiken getragene Entwicklung nicht nur beschleunigt und dadurch nachhaltig das Verhältnis der Spielstätten zueinander verändert; mit ihr ist auch ein neuer Ort filmischen Wissens entstanden. Ich meine damit nicht das diffuse, potenzielle Wissen, das die einfache und länger anhaltende Verfügbarkeit eines immer breiter werdenden Angebots von Titeln schafft. Vielmehr geht es mir im Folgenden um die neuartigen Wissenskulturen, mit der DVDs den Film in Form von Extras, special features oder Bonusmaterialien auf vielfältige Weise supplementieren und rahmen. Die technische Voraussetzung dafür bildet die erweiterte Speicherkapazität, über die die DVD als digitaler gegenüber den älteren analogen Trägern VHS und Beta verfügt.1 Die zusätzlichen Wissensangebote, die als – optionale – Extras den Filmkonsum begleiten, sind ebenso wenig homogen wie die Funktionen, die die DVD als Träger für das verfügbare Programm an Filmen und deren Verwertung übernimmt. In Bonus Features gehen brancheneigene Wissenstraditionen genauso ein wie solche, die ihren Ursprung in kulturellen Praktiken außerhalb der Filmindustrie haben. Ich werde mich im Folgenden mit diesen wechselnden Traditionsbindungen, der Art, den Genres und den Aufgaben beschäftigen, die das von DVDs vermittelte Wissen übernimmt. Zu diesem Zweck unterscheide ich vorab zwei Wissensformen oder -paradigmen, die weniger die verwendeten Mittel als die Ziele und die an der Wissensproduktion beteiligten Akteure trennen: ein ökonomisches, das sich vorrangig an Strategien des Filmmarketings orientiert, und eines, das ich ‹philologisch› nenne, weil es sich stärker an die traditionellen Buchwissenschaften und deren Praktiken im Umgang mit Texten hält. Auf der gleichen technischen Grundlage aufbauend, dem gesteigerten Archivpotenzial des digitalen Trägers, versorgen beide die Nutzer mit einem informationellen Mehrwert. Dass die Zwecke divergieren und die Produktion des Wissens von unterschiedlichen Gruppen getragen wird, bedeutet nicht, dass die Paradigmen sich gegenseitig ausschließen. Ich werde die beiden zunächst getrennt skizzieren, um dann ihren Querverbindungen und vor allem der Frage nachzugehen, wie und warum auch vorrangig ökonomisch motivierte DVD-Editionen auf philologische Techniken und Diskurse zurückgreifen.
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Das ökonomische Paradigma Die DVD hat, so Klinger (2008, 24), im Anschluss an ihre analogen Vorgänger die heimischen vier Wände definitiv zur «most popular and profitable site of film exhibition» gemacht. Damit sie jedoch als Glied einer immer weiter in den Privatbereich der Nutzer verlängerten Wertschöpfungskette funktioniert, muss das Angebot, das sie als Produkt macht, sich ausreichend von den bereits bestehenden Vertriebsformen abheben. Die Kunden werden für das mediale repackaging bekannter Inhalte nur dann Geld ausgeben, wenn sich damit glaubhaft die Erwartung eines Mehrwerts verbindet. Die Hersteller der Hardware, der Abspielplattformen und Datenträger, und die Inhaber der Nutzungsrechte an der filmischen Software verfolgen dabei eine Strategie der doppelten Abgrenzung. Gegenüber den älteren Videoformaten (VHS, Betamax) war dies – und ist es beim Nachfolger Blue Ray erneut – die massiv beworbene «aura of quality», der tatsächliche oder vermeintliche Zuwachs an Bild- und Tonqualität, der für die nötige Produktdifferenzierung sorgt.2 Im Verhältnis zum Kino übernimmt diese Aufgabe dagegen das Mehr an Informationen, das die supplementäre Wissensproduktion der Extras bietet. Der versprochene Informationszuwachs folgt im Rahmen einer unmittelbar an den theatrical release anschließenden Verwertungskette gewöhnlich dem Muster eines ‹Blicks hinter die Kulissen›. DVD-Extras appellieren an eine Neugier, die der vorgängige Kinobesuch idealerweise weckt, aber im Zuge einer informationellen Arbeitsteilung nicht befriedigt: Making-ofs geben Auskunft über die Produktionsgeschichte des Films; Auszüge aus Storyboards liefern die Baupläne für einzelne Einstellungen nach; technische Dokumentationen informieren rückblickend über Spezialeffekte und die Gestaltung von besonders anspruchsvollen Szenen; während Stars von der Zusammenarbeit am Set berichten. Statt den Kinobesuch zu ersetzen, ist die um Bonusmaterial ergänzte DVD also darauf ausgelegt, ihn im Zuge eines repeat viewing besser informiert fortzuführen. Trotz der Aura unbedingter technischer Modernität, mit der die DVD und neuerdings Blue Ray regelmäßig umgeben werden, geht ein Großteil der dabei eingesetzten Techniken der Wissensvermittlung auf branchenübliche Marketingstrategien zurück, die mit der Industrialisierung der fiktionalen Langfilmproduktion in den 1910er Jahren be2
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Zur DVD als Speichermedium vgl. McDonald 2007, 55ff.
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McDonald (2007, 59ff) verweist darauf, dass der versprochene Qualitätsgewinn ungeachtet des technischen Fortschritts auch ein nicht in allen Punkten eingelöster werbewirtschaftlicher Claim ist, da die für die DVD notwendigen hohen Datenkompressionsraten – trotz der gegenüber VHS verbesserten Bildqualität – weitere Verluste an Bildinformation mit sich bringen.
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reits aufgekommen sind.3 Lange vor den DVD-Extras haben Pressehefte, Werbehelfer für Kinobetreiber, Featurettes und von den PR-Abteilungen lancierte Zeitschriftenartikel dem Publikum geboten, was sich als ‹kontrollierter Einblick in die filmische Werkstatt› beschreiben lässt. Ein Beispiel dafür, wie und zu welchem Zweck in dieser brancheneigenen Tradition Wissen vergeben wird, bietet das Making-of zu Ridley Scotts Gladiator (USA 2000), das Teil des Bonusmaterials der sogenannten «Collector’s Edition» (Columbia Tristar Home Video, 2000) ist. In einer Interviewsequenz verrät Hauptdarsteller Russell Crowe, wie es sich anfühlt, gemeinsam mit einer Gruppe von Raubtieren vor der Kamera zu stehen. Nachdem sich ein Fachmann in Gestalt eines Tiertrainers einleitend für die Gefährlichkeit der Situation verbürgt hat, wird im Zusammenspiel von Interviewtext und (pseudo-)dokumentarischem Bildmaterial konsequent suggeriert, Crowe habe sich dem Risiko persönlich ausgesetzt. Um diese Authentiebehauptung zu untermauern, inszenieren Regisseur und Star ein kleines Rollenspiel: Crowe macht sich lustig über die Weisung der Produktionsfirma, vorsichtshalber das Fußballspielen während der Drehpausen bleiben zu lassen, obwohl es gemessen am Auftritt mit den Tigern ein «girly game» sei. Scott gibt im Gegenzug den väterlichen Bedenkenträger, der mit seiner zur Schau gestellten Sorge («It’s still dangerous») rückwirkend den (Über-)Mut des Darstellers beglaubigt. Der Blick, den das Making-of hinter die Kulissen gewährt, ist also nicht darauf berechnet, das kinematografische Erlebnis nachträglich durch rückhaltlose Transparenz der Arbeitsabläufe zu entzaubern. Es zielt im Gegenteil darauf ab, die Leistung der Beteiligten herauszustreichen und sujet- und genretypische Gefährdungssituationen zu authentisieren. Zum gleichen Zweck werden in ähnlichen Fällen bei älteren Filmen die exorbitanten Versicherungssummen aufgeführt, die angesichts des Risikos, das die Schauspieler eingehen, angeblich nötig waren.4 Die Einbindung in Marketingstrategien bestimmt, wie viel an Wissen tatsächlich preisgegeben wird: Die Äußerungen des Fachmanns, Crowes forscher Ton («getting your ass swiped by tigers») und seine Unbotmäßigkeit im Umgang mit Autoritäten («Kiss my butt. Love Russell») sind alle darauf berechnet, das Starimage des ‹echten Kerls›
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Auch wenn der Begriff making-of erst in den 1970er Jahren aufkommt, geht, was er bezeichnet – die werbewirksame Beschäftigung der Filmindustrie mit sich selbst und ihren Produkten – in die 1910er Jahre zurück (vgl. Hediger 2001, 133ff). Zur Geschichte und den Grundlagen der Filmvermarktung vgl. Hediger/Vonderau (2009a), insbesondere den Beitrag von Janet Staiger «Waren anpreisen, Kunden gewinnen, Ideale verkünden». Siehe den Werbehelfer des Panorama-Filmverleihs zu Viktor Tourjanskys Salto Mortale (BRD 1953).
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zu stärken, das eine Schlüsselrolle für die Vermarktung des Films spielt.5 Dagegen blendet der Blick hinter die Kulissen aus, was die Glaubwürdigkeit des Star-Images beeinträchtigen könnte, insbesondere dass selbst Stars wie Crowe mit einer ausgesprochen robusten Physis nicht den Raubtieren auszusetzen sind, sodass das als «girly game» abgetane Fußballspiel tatsächlich eine größere Gefahr für die Produktion darstellt als die Tiger. In der einzigen Szene, in der es wirklich zum verbal beschworenen Kontakt mit den Raubtieren kommt, steht daher – wie sich im verlangsamten Bilddurchlauf zeigt – nicht Crowe, sondern ein Double vor der Kamera. Die Kontrolle über den Bildfluss und die analytischen Möglichkeiten, die das Trägermedium als Folge davon eröffnet, laufen in diesem Fall den Authentisierungsbemühungen zuwider, die die flankierende Wissensvergabe unternimmt. Unfreiwillig tut sich eine nicht restlos kontrollierbare Ambiguität des Trägermediums und seiner digitalen Technik auf, die mit dem das filmische Erlebnis authentisierenden Informationsangebot die Möglichkeit schafft, es analytisch aufzubrechen. Während das Wissen, das solche Making-ofs vermitteln, in seiner Tragweite und Qualität begrenzt ist, sofern es primär der Vermarktung des Films dient, scheint ein anderes, als Bonus Feature häufig wiederkehrendes Genre des kontrollierten Einblicks in die filmische Werkstatt vertrauenswürdiger: die Dokumentationen zur technischen Verfertigung von Spezialeffekten. In «Weta Digital», einem Beitrag zum Bonusmaterial der «Special Extended DVD Edition» von The Lord of the Rings: The Fellowship of the Ring (NZ/USA 2001; New Line Home Entertainment 2002), deren Ausstattung stilbildend für eine ganze Generation ähnlicher Extras geworden ist (vgl. Hight 2005),6 ergeht sich Regisseur Peter Jackson im Lob auf den Fortschritt der Computertechnik, die es ermögliche, Tolkiens Bücher endlich werkgetreu auf die Leinwand zu bringen. An einem praktischen Beispiel, der «Elvish ruins»-Sequenz, wird vorgeführt, was die neue Technik zu leisten imstande ist. Die Dokumentation setzt mit der fertigen Filmszene ein, um dann, einer analytischen Dramaturgie folgend, zum herkömmlichen, nicht computergenerierten und noch unbearbeiteten Ausgangsmaterial zurückzukehren. Es ist durch die eingeblendete Zählung der Frames und die absichtlich niedrig gehaltene Bildqualität deut5 6
Zur Bedeutung von Stars für die Filmwerbung vgl. Stephen Lowry «Glamour und Geschäft. Filmstars als Marketingmittel» (in: Hediger/Vonderau 2009a). Die «Special Extended DVD Edition» von The Lord of the Rings ist im übrigen ein Musterbeispiel dafür, wie die dem Kino gegenüber verfolgte informationelle Privilegierung sich in einer Binnendifferenzierung des Videomarktes fortsetzt. Im Rahmen einer «two-tier marketing strategy» (Hight 2005, 5) werden von großen Produktionen häufig mehrere DVD-Ausgaben nacheinander mit einem wachsenden Informationsangebot auf den Markt gebracht.
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lich als vorläufige und ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Rohform markiert. Schritt für Schritt werden anschließend die einzelnen Stadien der Bildbearbeitung vorgeführt, bis schließlich das eingangs präsentierte Ergebnis eingeholt ist. Nach der Art einer «before-and-after narrative», einem gängigen rhetorischen Muster des Industriefilms (vgl. dazu Hediger/Vonderau 2009b, 35-49, besonders 37), soll der Abgleich der traditionell erzeugten Vorlagen mit dem fertigen computergenerierten Bild das Publikum von den enormen Vorteilen überzeugen, die das neue Verfahren mit sich bringt. Die Technik, der sich die Visual Effects verdanken, ist in letzter Konsequenz die gleiche wie jene, die es erlaubt, das fertige Resultat als DVD in Umlauf zu bringen. Features wie «Weta Digital» betreiben also eine Rückkopplung von Bilderzeugungs- und Distributionsverfahren, die die DVD als Endprodukt mittelbar an der Aura der überlegenen Leistungsfähigkeit digitaler Technik teilhaben lässt. In beiden zitierten Beispielen – dem Making-of und der technischen Dokumentation – zielt das Mehrwissen, das der Blick hinter die Kulissen gewährt, auf eine komplexe Verschränkung von Nähe und Distanz zum Produkt und der Industrie, die es herstellt. Der Einblick soll Respekt für das Können, den Mut und den Aufwand wecken, den alle Beteiligten für die Herstellung des Films und damit zugunsten des Publikums betrieben haben. Die «Elvish ruins»-Sequenz, um die es in «Weta Digital» geht, dauert im fertigen Film nur wenige Sekunden, während die technischen Erläuterungen ein Vielfaches an Zeit in Anspruch nehmen. Wenn, so das Kalkül, das «Weta Digital» nahelegt, selbst auf eine kleine und für die Handlung periphere Szene so viel an Energie und Ressourcen verwendet wird, wie groß muss erst der Aufwand für die komplette Trilogie sein. Dabei ist unerheblich, ob die Nutzer die hochkomplexen Prozesse der digitalen Bilderzeugung tatsächlich verstehen, Hauptsache, sie sind von deren spektakulären Resultaten beeindruckt. Was Features wie «Weta Digital» schaffen, ist weniger tatsächliches Fachwissen als eine gefühlte, niederschwellige Expertenkultur, die mit einem Minimum an verwertbaren Informationen auskommt, solange die Ergebnisse in der Wertschätzung durch die Zuschauer stimmen. Indem sie das Publikum zu privilegierten Mitwissern machen, lassen beide Extras – Making-of und technische Dokumentation – es zugleich an der filmischen Produktionsgemeinschaft teilhaben und ziehen so die Distanz wieder ein, die sie durch die auf Respekt und Staunen angelegte Strategie der Überhöhung filmindustrieller Arbeitsabläufe schaffen. Die supplementäre Wissensbildung dient demnach nicht nur der Differenzierung des Produktangebots, sondern auch des Publikums: Die Nutzer ei-
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ner mit entsprechenden Bonus Features versehenen DVD erfahren mehr als gewöhnliche Kinobesucher. Er oder sie gehört, wie Klinger (2006, 68ff) es ausdrückt, zu einem exklusiven Kreis von «Insidern», der freilich allen offen steht, die bereit sind, den Kaufpreis oder die Leihgebühr für eine DVD aufzubringen. In beiden Fällen ist die Wissensproduktion demnach primär auf die Vermarktung des Films abgestellt: «Viewers do not get», so Klinger (ibid., 72), «the unvarnished truth about the production, they are instead presented with the ‹promotable› facts [...]».7 Angesichts der ökonomischen Zwecksetzung kommen Robert Alan Brookey und Robert Westerfelhaus in ihrem wegweisenden Aufsatz zum «DVD extra text» zum Schluss, die DVD sei «perhaps the ultimate example of media-industry synergy, in which the promotion of the media product is collapsed into the product itself» (Brookey/Westerfelhaus 2006, 72). Das philologische Paradigma Im Gegensatz zu den angeführten Vermarktungsstrategien richtet sich die Wissensproduktion im zweiten, philologischen Paradigma vorrangig nach dem textwissenschaftlichen Referenzmodell der Edition, der Herausgabe von meist historischen Werken, die, was Bestand und Deutung angeht, nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind und daher der Aufarbeitung und Vermittlung bedürfen. Erstes Ziel einer Edition ist es, für eine verlässliche materiale Grundlage zu sorgen. Oft muss der betreffende Text aus einer lückenhaften Überlieferung erst wieder hergestellt werden, bevor er erneut in Umlauf gebracht werden kann. Herausgeber von DVD-Editionen, die wie die amerikanische Firma Criterion Collection dem philologischen Paradigma folgen, verzeichnen daher in den Extras die Herkunft des Materials, das Format, die allenfalls vorgenommenen restauratorischen Maßnahmen und die technischen Verfahren, die beim Transfer des Zelluloidbildes auf den digitalen Träger eingesetzt wurden. Sie betreiben also nach dem für Texteditionen üblichen Grundsatz der Transparenz Quellenkritik und Überlieferungsgeschichte. Für die Produktion der Extras sind, soweit sie sich im ökonomischen Paradigma bewegt, in der Regel interne Abteilungen der Studios, ihre für den Bereich home entertainment zuständigen Tochterunternehmen oder aber spezialisierte unabhängige Firmen zuständig, die auch für das Wer7
Die in den Demonstrationen der Leistungsfähigkeit digitaler Bilderzeugungsverfahren vorherrschenden technophilen Diskurse sieht Klinger vorrangig an ein männliches Zielpublikum gerichtet, das im Rahmen häuslicher Arbeitsteilung bevorzugt über die Anschaffung der notwendigen technischen Hardware entscheide. Zum «white male technocentric ethos» vgl. ibid., 89f.
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be- und Pressematerial zum jeweiligen Film verantwortlich zeichnen. Für die philologischen DVD-Editionen wird die Wissensbildung gewöhnlich von den industriellen Werbediskursen institutionell entkoppelt und Fachpersonal aus dem Archivbereich oder der akademischen Filmwissenschaft übertragen, zumal bei Filmen älteren Datums von Cast und Crew, die ansonsten einen Großteil der Extras bestreiten, niemand mehr lebt. Das mit der Produktion des Bonusmaterials betraute Personal steht in diesem Fall nicht in unmittelbarer Abhängigkeit von den Produzenten des Films und deren wirtschaftlichen Interessen und ist insofern freier in der Auswahl der supplementären Wissensbestände, braucht beispielsweise nicht auf ein Star-Image wie das von Crowe als schützenswerten Asset Rücksicht zu nehmen. Vorrangige Aufgabe ist es, Produktionen filmhistorisch einzuordnen, im Werk des Regisseurs, in Stil- und Genretraditionen, sei es in Begleitheften oder in Form eines fortlaufenden Voice-over-Kommentars. Neben Quellen zur Entstehungsgeschichte des Films erlauben es DVDs dank ihrer Speicherkapazität auch, Zeugnisse für sein kulturelles Nachleben in die Edition aufzunehmen. So bietet die Criterion-Ausgabe von Benjamin Christensens Häxan von 1922 zusätzlich zum Audiokommentar eines dänischen Stummfilmexperten eine spätere Version des gleichen Films aus dem Jahr 1968 mit einer Voice-over-Narration von William S. Burroughs und einem Jazz-Score. Statt eines kontrollierten Einblicks, der bestimmte, ökonomisch förderliche Lesarten bevorzugt, verorten die Extras hier den Film in wechselnden Traditionskontexten und eröffnen mit der Möglichkeit einer vielfältigen Referenzbildung unterschiedliche, nicht notwendig kompatible Perspektiven. DVD-Editionen erfüllen als Ort philologischer Wissensbildung im Verhältnis von Fachwissenschaft und Publikum eine doppelte Aufgabe. Sie sind, sofern sie für eine mehr oder minder verlässliche Materialbasis sorgen, Teil einer nach innen gerichteten disziplinären Selbststabilisierung, wie sie die Textphilologien in einer wissenschaftsgeschichtlich früheren Phase bereits geleistet haben. Gleichzeitig bietet die DVD als Massenmedium Gelegenheit, die erarbeiteten filmhistorischen und -theoretischen Wissensbestände im Rahmen eines «knowledge transfer between the academia, the canon and the public» (Bennett/Brown 2008, 118) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Filmarchive wie das BFI, die Cinémathèque Suisse oder das Deutsche Filminstitut verlegen daher seit einigen Jahren eigene DVD-Serien. Diese Reihen – so die von einer Gruppe europäischer Archive herausgegebene «edition filmmuseum» – machen nicht nur historische Werke erneut zugänglich. Sie sind zugleich Teil einer Strategie der kulturellen (Selbst-)Legitimation der Institutionen, die ihrer ansonsten im Verborgenen geleisteten Arbeit zu größerer Sichtbarkeit ver-
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helfen und die Öffentlichkeit für die Belange einer filmhistorischen Traditionssicherung sensibilisieren. Die Entscheidung, welche Filme ediert werden – und welche nicht –, beinhaltet, wie die Rede von der Transferleistung zwischen «the academia, the canon and the public» deutlich macht, regelmäßig ein Urteil über ihren ästhetischen und kulturellen Wert. Die amerikanische Criterion Collection, die als erste philologische Filmeditionen verlegt hat, verbindet ihre Ausgaben in der Selbstbeschreibung als «a continuing series of important classic and contemporary films» ausdrücklich mit dem Anspruch der Kanonbildung. Auch Caroline Millar, die Herausgeberin der BFI-eigenen DVD-Reihe, knüpft die editorische Entscheidung an den Wert des jeweiligen Films, wenn sie den Umfang der Extras danach bemisst.8 Filme, die Gegenstand einer philologischen Edition werden, sind nach dieser Gleichung den gesteigerten Aufwand offenkundig wert, und sofern sie nicht bereits kanonisiert sind, bildet eine Edition den ersten Schritt auf dem Weg dorthin.9 Die leichte Verfügbarkeit von Titeln, die mediale Integration von Filmkonsum und Wissensangeboten und die Möglichkeit einer Kanonbildung qua editorischer Serie machen die DVD zum idealen Mittel einer systematisch betriebenen Filmdidaxe. Der Filmwissenschaftler und Pädagoge Alain Bergala hat daher im Auftrag des französischen Bildungsministeriums 2000–2002 eine eigens für den Gebrauch in Schulen auf hundert Titel angelegte Sammlung von DVDs («L’Eden cinéma») zusammengestellt, wovon bislang gut dreißig erschienen sind.10 Bergala sieht auch in den Extras marktüblicher DVD-Ausgaben ein didaktisches Potenzial (vgl.
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Siehe das Interview mit Millar in Bennett/Brown 2008, 119. Als Ort einer philologischen Wissensproduktion und -vermittlung bietet die DVD nicht nur Gelegenheit, Kanonbildungen zu festigen, sondern auch bestehende Werthierarchien zu unterlaufen und neu zu bestimmen, wie ein Beispiel aus der (akademischen) Praxis zeigt: Im Rahmen eines Projektmoduls, das ich 2009/2010 am Filmwissenschaftlichen Institut der FU Berlin leitete, haben die Studierenden sich Alfred Halms Der Mann auf dem Kometen (D 1925) angenommen. Der Film, einer von gut hundert des heute weitgehend vergessenen Regisseurs, wird kaum als überragendes Kunstwerk durchgehen, vertritt aber als Sensationsfilm ein Genre, das in den 1920er Jahren enorm produktiv war und von dem trotz seiner internationalen Popularität nur wenige Beispiele erhalten sind. Die Wissensbestände, die die Studierenden im Rahmen einer zunächst fiktiven DVD-Edition erarbeitet haben, bewogen das Bundesarchiv Filmarchiv, in Zusammenarbeit mit EYE, Film Instituut Nederland, Halms Film zu rekonstruieren, zu sichern und allenfalls tatsächlich auf DVD verfügbar zu machen. Die supplementären Wissensangebote wären in diesem Fall also nicht bloß ‹Extras› zu einem vorab approbierten Titel; indem sie ihn filmhistorisch verorten, schaffen sie die notwendige Voraussetzung dafür, dass der Film überhaupt wieder zugänglich wird und in die Filmgeschichte zurückkehrt. Siehe dazu das Kapitel «Hundert Filme für eine andere Bildung» in Bergala 2006, 68ff.
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Pantenburg 2008a), bemängelt aber, dass sie die Möglichkeiten nicht nutzen, die DVDs als neues, nicht linear organisiertes Medium bieten: Die echte Innovation der DVD im Filmunterricht [...] liegt auf einer anderen Ebene: Dieses neue Trägermedium gestattet es, neue pädagogische Methoden zu finden und zu praktizieren, die bis jetzt wegen der Linearität der Videowiedergabe nicht praktikabel waren. (Bergala 2006, 81)
Neben Titeln mit fortlaufendem Audiokommentar enthält die Reihe «L’Eden cinéma» daher DVDs, in denen es den Nutzern selbst überlassen bleibt, zwischen unkommentierten Filmausschnitten zu einem gemeinsamen Oberthema wie ‹Perspektive› durch hypertextuelle Verknüpfungen Bezüge herzustellen.11 Mit seiner neuartigen «Pädagogik des Fragments» verfolgt Bergala ein doppeltes Ziel. Zum einen koppelt er die Vermittlung von der Instanz einer autoritativen, ‹wissenden› Stimme (ibid., 82) ab, die laut Brookey und Westerfelhaus (2002) häufig genutzt wird, um entgegen der Vielfalt der Optionen, die das Menü den Nutzern suggeriert, bestimmte, in der Regel ökonomisch favorable Lesarten des Films durchzusetzen. Vor allem aber zielt Bergalas Pädagogik auf eine veränderte Pragmatik filmischen Wissens. Es soll nicht einfach bereitgestellt, sondern im Umgang mit dem Material selbsttätig erworben, eingeübt und verankert werden. Im Sinn des Ideals einer umfassenden (ästhetischen) Bildung erhebt Bergala so die DVD über die flankierende Wissensvergabe hinaus zu einer Form des Filmkonsums, die die Nutzerinnen und Nutzer persönlich involviert und in ihrer gesamten Entwicklung betrifft. Konvergenz von Ökonomie und Philologie Als Medium eines filmwissenschaftlichen knowledge transfer verhelfen DVD-Editionen den beteiligten Institutionen nicht nur zu einer breiteren Öffentlichkeit und damit zu wachsendem symbolischen Kapital. Sie eröffnen ihnen auch neue Einkommensquellen; die DVD-Reihe des BFI gehört mittlerweile zu den «most lucrative revenue streams» des Archivs (vgl. Bennett/Brown 2008, 116). Dass auch bei philologischen Editionen Marketingüberlegungen eine Rolle spielen, ist daher nicht verwunderlich. Weniger selbstverständlich ist hingegen, dass Ausgaben von DVDs, die dem ökonomischen Paradigma zugehören, umgekehrt genauso das philologische belehnen. Im dritten Teil dieses Beitrags beschäftige ich mich daher mit Querverbindungen und Konvergenzen zwischen den beiden zunächst getrennt behandelten Paradigmen. Die ökonomisch motivierte Wissensbil11
Siehe dazu die ausführlichen Analysen von Bettina Henzler 2009 und 2010.
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dung verfolgt, so meine These, über die beschriebenen Marketingstrategien hinaus eine zweite Agenda, und sie tut dies, indem sie ungeachtet der Qualität der supplementierten Informationsbestände bei deren Vermittlung auf philologische Konzepte und Verfahren zurückgreift. Das am Medium Buch orientierte philologische Paradigma ist im Übrigen nicht nur kulturhistorisch älter; es geht auch innerhalb der Mediengeschichte der DVD selbst dem ökonomischen Paradigma voraus. Ein Großteil der Bonus Features, die heute im DVD-Massenmarkt für die nötige Produktdifferenzierung gegenüber dem Kino sorgen, sind bereits Mitte der 80er Jahre von der erwähnten Firma Criterion Collection entwickelt worden. Sie produzierte zunächst auf Laserdiscs und später auf DVD kommentierte und mit Bonusmaterial versehene Filmeditionen für ein kleines, zahlungskräftiges Sammlerpublikum (vgl. Kendrick 2001; Schauer 2005). Erst als mit der DVD ein billigerer, massenmarkttauglicher Träger zur Verfügung stand und das wirtschaftliche Potenzial erkennbar wurde, das supplementäre Wissensangebote für die verlängerten Wertschöpfungsketten besitzen, fingen die großen amerikanischen Produktionsfirmen an, eigene DVD-Editionen aufzulegen.12 Die Anleihen beim philologischen Paradigma betreffen vorrangig zwei Bereiche: das Konzept von Autorschaft und Kommentierung sowie die Traditions- und Kanonbildung. Ich werde mich kurz mit diesen beiden Aspekten beschäftigen, bevor ich abschließend eine Erklärung versuche, warum es zu einem solchen Rückgriff kommt. Die DVD hat für den Film, der als arbeitsteilige, industrielle Praxis ein traditionell schwieriges Verhältnis zur Autorschaft hat, den Begriff des ‹Autors› in einer Weise aufgewertet, dass Catherine Grant (2008) von einer eigentlichen «auteur machine» spricht. DVDs haben einen neuen Markt für Director’s Cuts geschaffen, die genauso wie die Anleihen beim philologischen Paradigma insgesamt einer doppelten Agenda folgen: Sie erlauben als vergleichsweise billige Träger Regisseurinnen und Regisseuren ihre Filme frei von den ästhetischen Kompromissen, die sie unter dem Druck der Geldgeber für die Kinofassung eingehen mussten, nachträglich noch einmal und nun in einer ihren Vorstellungen eher entsprechenden Version herauszubringen und so ihre Autorschaft deutlicher kenntlich zu machen.13 Gleichzeitig dient der Director’s Cut als Format einer weiteren 12 13
Zu den anfänglichen Widerständen Hollywoods gegen die Einführung der DVD vgl. McDonald 2007, 107ff. Siehe dazu Bergala (2006, 106f): «In nicht allzu ferner Zukunft wird der Regisseur die ‹Kinoversion› eines Films vielleicht als Kompromissversion betrachten, die den kommerziellen Vertriebs- und Nutzungserfordernissen entgegenkommt, bis etwas später seine ‹Autorfassung› auf DVD veröffentlich wird: diese Entwicklung ist schon im Gang».
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Binnendifferenzierung des DVD-Markts; in diesem Fall liefert die angeblich kompromisslosere Umsetzung den Anlass für ein neuerliches repakkaging bereits bekannter Inhalte. Neben dem Director’s Cut sind es vor allem die Audiokommentare, die als Bonus Feature zur Stärkung der Autorposition beitragen. Im Kommentar zu The Devil Wears Prada (USA 2006) tritt Regisseur David Frankel eingangs mit dem für das Genre üblichen auktorialen Gestus auf («Hello, I’m David Frankel, and I am the director of The Devil Wears Prada.»). Er erhebt damit vorab Anspruch auf die Urheberschaft des Films, vertritt aber zugleich, indem er seine «collaborators» umgehend am Diskurs beteiligt, ein differenziertes Modell filmischer Autorschaft, das neben der Person des Regisseurs weitere Sparten (Kamera, Drehbuch, Kostüm etc.) mit einschließt («I am doing this DVD commentary with some of the fantastic collaborators, the extraordinary people who work with me behind the camera, behind the scenes»; Herv. M.C.). Was über die gemeinsame Kommentierung des Films an Wissen vermittelt wird – etwa die Markenkennung von Accessoires («It’s Louis Vuitton») –, bleibt in diesem Fall deutlich hinter dem komplexen Begriff von Autorschaft zurück, der in der diskursiven Anlage als solcher steckt. Der Kommentar selbst schafft unabhängig von der Qualität des vermittelten Wissens eine Wertigkeit, als deren personaler Träger der Autor fungiert.14 Dass ein Werk überhaupt Gegenstand der Kommentierung wird, dient als Ausweis einer wie auch immer gearteten kulturellen Bedeutung. Als von Haus aus philologische Technik, die im Umgang mit kanonischen Texten, der Bibel und den antiken Klassikern entstanden ist, unterstellt der begleitende Kommentar unweigerlich, dass eine vertiefte Beschäftigung mit seinem Gegenstand notwendig und lohnend ist und das Werk zu Recht die (knappe) Aufmerksamkeit der Nutzer beansprucht. Diese Bedeutungsprätention birgt freilich die Gefahr, dass sich – wie im Beispiel von The Devil Wears Prada – zwischen Gegenstand und Kommentar ein allzu offensichtliches Missverhältnis auftut. Branchenvertreter haben daher vor einem drohenden Überhandnehmen des «special-edition treatment» gewarnt – unter Verweis auf die impliziten Werterwartungen, die sich mit den philologischen Praktiken verbinden: «It [the special-edition treatment] was intended for movies like Citizen Kane» (Mermelstein 2007).15
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Zur Funktion von Autorschaft, als diskursive Instanz Werterwartungen an Texte zu stabilisieren, vgl. Michel Foucaults «Was ist ein Autor?» (2000, 215). George Feltenstein, Senior VP of theatrical catalog marketing of Warner Home Video, in: David Mermelsteins Variety-Artikel «Have DVD Bonus Features Gone Bogus? Added Disc Material Loses its Buzz» (2007).
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Als personaler Träger des Werts ist die Figur des Autors eng mit dem zweiten belehnten philologischen Konzept verbunden – dem der Traditions- und Kanonbildung. Das zeigt ein Beispiel deutlich, das beides, Autorschaft und Traditionspflege, im Titel führt: die sogenannte «Coppola Restoration» der Godfather-Trilogie. Unter dem Titel «Emulsion Rescue. Revealing The Godfather» dokumentiert ein gut halbstündiger Beitrag zum Bonusmaterial detailliert die digitale Restauration des historischen Filmmaterials, insbesondere der Farben. Indem es Fachleuten ausgiebig Gelegenheit bietet, sich über die Vorzüge digitaler Restaurationsverfahren zu verbreiten, bedient das Feature die aus dem ökonomischen Paradigma bekannten technophilen und Insiderdiskurse (vgl. die angeführten Extras zu The Lord of the Rings und The Gladiator) und verfolgt damit – natürlich – das Ziel, die historisch werdende Godfather-Trilogie gewinnbringend in die nächste Ära des digitalen home entertainment zu bringen. Nathan Carroll hat in «Unwrapping Archives: DVD Restoration Demonstrations and the Marketing of Authenticity» (2005) darauf aufmerksam gemacht, dass Features wie «Emulsion Rescue», die mittlerweile zur Standardausstattung historischer Filmeditionen gehören, gerade wo sie mit dem Anspruch auftreten, das Original (wieder) sichtbar zu machen, dieses im Interesse marktökonomischer Überlegungen verdecken: At the end of the day consumers are not being sold archival restoration techniques so much as new consumer standards for evaluating the aesthetic transformation of films across space and time. Film viewers are sutured into an evolving market-driven restoration paradigm where both analog and digital forms are part of the new mutant life cycle of a film. Any perceived historical loss or cultural rupture is numbed by the spectacular consumer value of restored films [...]. (Carroll 2005, 27)16
Ungeachtet der filmhistorischen Problematik, die in der Anpassung älterer Filme an aktuelle technische Standards liegt, hat die Demonstration der neuesten Technik in «Emulsion Rescue» allerdings einen zweiten, rückwärtsgewandten Zeitvektor. Sie schafft mit dem Kaufanreiz ein Bewusstsein dafür, dass Filme eine materiale Basis besitzen, die erhalten werden muss, was archivarische Institutionen und entsprechende Experten verlangt. Indem es Umfang und Kosten der konservatorischen Maßnahmen dokumentiert, belegt das Feature zugleich in einer Art evaluativem Zirkelschluss, dass der betriebene Aufwand durch den Wert des Films gerechtfertigt ist, The Godfather also in den filmhistorischen Kanon gehört. 16
Zur Digitalisierung von Archivbeständen und den filmhistorischen Problemen, die sie aufwirft vgl. Fossati (2009).
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Dass Traditionspflege und ökonomische Interessen zusammengehen, zeigt The Coppola Restoration stellvertretend für eine Entwicklung, die die Filmindustrie als ganze betrifft. Je wertvoller die historischen Filmbestände, die libraries der Studios, vor dem Hintergrund der durch die DVD verlängerten Nutzungskette wurden, umso mehr Gewinne aus dem Geschäft mit digitalen Videoformaten hat man in jüngerer Zeit in die Archivstrukturen investiert (vgl. Carroll 2005, 20). Die DVD schafft also mit der Fülle an Bonusmaterialien nicht nur neue Orte filmischen Wissens, sondern subsidiert mittelbar auch die alten. Die dritte und letzte Anleihe beim philologischen Paradigma betrifft weniger einzelne Techniken oder Konzepte als deren Gegenstand, das Buch und seine Zirkulationsformen. Mehr noch als das Vorgängermedium VHS brachte die DVD eine Umstellung von dem in der Filmindustrie üblichen Leih- zu einem Kaufmodell, das sich stark am Buchmarkt und der von ihm beförderten Privatisierung kulturellen Besitztums orientiert: «Rather than film or broadcasting, it may be more appropriate to think of video as a business which is closer [...] to book publishing» (McDonald 2007, 4).17 Der private Besitz in Form von DVDs sichert dem Film gegenüber dem zeitlich begrenzten Kinobesuch nicht nur eine längere kulturelle Verweildauer, er verankert ihn auch fester im täglichen Leben des Zielpublikums. Als mobiles Medium ist die DVD räumlich längst nicht mehr auf die heimischen vier Wände begrenzt, sondern fast überall anzutreffen, wohin Kabel und Batterielaufzeit beweglicher Abspielstationen reichen. Diese topografische Erweiterung des Filmkonsums begleitet die DVD mit einer eigenen, medial integrierten Wissenskultur. Als bewegliche und dezentrale Archive filmischen Wissens untermauern sie im Rückgriff auf bewährte Techniken der Wert- und Traditionssicherung die Durchdringung des Alltags mit dem Anspruch kultureller Respektabilität. Sie arbeiten vor dem Hintergrund einer zunehmend unkontrollierten Vervielfältigung der Orte filmischer Erfahrung in letzter Konsequenz an einer Legitimierung des Films als ein dem Buch vergleichbares, traditionsfestes Leitmedium. Darin liegt, über den ökonomischen Mehrwert hinaus, das symbolische Surplus, das DVDs als Träger filmischen Wissens erbringen.
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Wirtschaftsgeschichtlich liegen die Ursachen für die Umstellung auf das sell throughModell darin, dass es Hollywood auf Grund der bestehenden gesetzlichen Regelungen zunächst nicht gelang, das in den 70er und 80er Jahren aufkommende Videoverleihgeschäft unter Kontrolle zu bringen und von den Mieteinnahmen der unabhängig operierenden Videotheken zu profitieren; vgl. McDonald (2007, 107ff).
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Benoît Turquety
Der Künstler, die Anthologie, die Pädagogik Peter Kubelka und der Kanon des «Essential Cinema»
Es gehört normalerweise nicht zum Aufgabenbereich von Künstlern, selbst den Kanon ihrer Kunst festzulegen. Ob aus Gründen der Arbeits- oder der Gewaltenteilung, diese Aufgabe kommt jedenfalls anderen, «objektiveren» Instanzen zu: der Kritik, der Wissenschaft. Der Künstler selbst hingegen steht immer unter Verdacht, ein wenig zu vorschnell seine eigenen Arbeiten in den Kanon aufzunehmen oder sogar von seinem Werk auszugehen und den Rest darum herum zu konstruieren. Das Anliegen der Anthologie ist für ihn naturgemäß strategisch. Es kann jedoch auch auf ein Verständnis seiner Position als Künstler verweisen. In einem klassischen Verständnis setzt die Ausübung einer künstlerischen Praxis ein theoretisches und historisches Studium voraus, in einem modernen ist die Zugänglichkeit des Werks notwendigerweise problematisch, es gilt sie folglich zu konstruieren. Zu beidem kann die Eingliederung des eigenen Werks in einen Kanon einen Beitrag leisten. Als Theoretiker und Praktiker des «nicht industriellen» Kinos, der Musik und der Küche würde Peter Kubelka den Titel «Hersteller von Kanons» verdienen, allein schon für seine Filme, die ebenso dicht wie radikal explosiv sind und ihre einschneidenden visuellen und klanglichen Projektile weit zwischen die tanzenden/stillen/tanzenden Körper von Adebar und bis in Licht und Dunkel des Sternenhimmels in Arnulf Rainer projizieren. Aber Kubelka ist nicht nur Filmemacher – und nicht nur Flötist, und nicht nur Koch. Er hat außerdem 1964 gemeinsam mit Peter Konlechner das Österreichische Filmmuseum in Wien begründet, und seine institutionelle Tätigkeit hat sich parallel zu seinen künstlerischen Aktivitäten weiterentwickelt. Als er 1966 zum ersten Mal in die USA reist, wird er dort von der New Yorker «community» des unabhängigen Films um P. Adams Sitney und Jonas Mekas als einer der Ihren begrüßt und ab 1967 direkt in die Gründung einer neuen Institution einbezogen, die in den folgenden Jahren eine zentrale Rolle spielen wird: die Anthology Film Archives. Das Manifest der Anthology Film Archives, das anlässlich der Eröffnung am 1. Dezember 1970 veröffentlicht wird, beginnt folgendermaßen:
110 Archiv, Programmierung, Kanon
The cinematheques of the world generally collect and show the multiple manifestations of film: as document, history, industry, mass communication. Anthology Film Archives is the first film museum exclusively devoted to the film as an art. (Sitney 1975, vi; Herv. i. O.)1
Gleich mit diesen ersten Sätzen und bereits mit dem Namen des Unternehmens werden zwei Modelle eingeführt, die sich teilweise widersprechen: das des Filmarchivs und das des Museums. Die Institution versteht sich zunächst als «Archiv» in dem Sinn, den der Begriff im Bereich des Films haben kann: Es ist ihre Aufgabe, Kopien zu konservieren, sie gegebenenfalls zu restaurieren und sie sichtbar zu machen. Sie organisiert sich also als physischer Bewahrungs- und Projektionsort. Eine wesentliche Sache jedoch unterscheidet sie von einer klassischen Cinémathèque: Wo diese sich zum Prinzip macht, alles aufzunehmen – auch wenn es spezifischere Sammlungspolitiken geben kann –, fordern die Anthology Film Archives ein Prinzip der radikalen Selektion ein. Ihre Sammlung ist nicht für alles offen, was man finden, bekommen oder sich schenken lassen kann; sie ist geschlossen: eine «Anthologie». Aber gehen wir ein Stück zurück. Jonas Mekas und Jerome Hill gründeten 1967 dank der von Hill 1964 geschaffenen Avon Foundation das Projekt, zwei Kinosäle in SoHo zu eröffnen: Cinematheque I sollte sich der Vorführung von neuen unabhängigen Filmen widmen und Cinematheque II dem Aufbau eines ständigen Fundus und der Präsentation dieses «höchst selektiven Repertoires». Es ist allerdings Kubelka, dem man den Aufbau dieses Repertoires aufzutragen gedenkt, Kubelka, der erst wenige Filme gemacht, nichts geschrieben hat (aber bereits mit Vorträgen aufgetreten ist, darauf komme ich zurück) und gerade erst in den Vereinigten Staaten eingetroffen ist. Im Spiel der institutionellen Legitimierungstaktiken wären andere Entscheidungen naheliegender gewesen. Zweifellos haben seine Vergangenheit und sein Status als Ko-Direktor des Österreichischen Filmmuseums zu dieser Wahl beigetragen… Aber auch die Tatsache, dass Kubelka Filmemacher war; und dies war bereits eine starke politische Entscheidung der Gründer. Das Werk des ‹Auswählers› musste selbst den Kriterien entsprechen, welche die Konstitution des Repertoires begründen sollten, und zwar auf ausreichend evidente Weise, um im Gegenzug den Kanon aufzuwerten. Die Filme von Kubelka erschienen Mekas und Hill wie kanonische Manifeste – sie sollten dem Anspruch nicht nur in den Augen der beiden Organisatoren 1
«Manifesto», wiederabgedruckt in der Einleitung von Sitney 1975. Das Buch wird als «Volume One» einer Serie von Essaysammlungen über die Filme der Sammlung präsentiert, die jedoch keine weiteren Bände umfassen wird…
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gerecht werden, sondern ebenso in den Augen der gesamten Gemeinschaft, die sich versammeln würde, um die Legitimität dieses Repertoires zu würdigen oder zu diskutieren. Dies war sicherlich in intellektueller Hinsicht für die Kohärenz des Gesamtprojekts wichtig; aber es war vor allem ausschlaggebend für die symbolische Festigung der zukünftigen Institution (mit allen finanziellen Konsequenzen, die man sich vorstellen kann). Das Vorhaben dieser Kinemathek entwickelte sich jedenfalls und wurde zu den Anthology Film Archives. Kubelka war indes nicht ganz allein für den Aufbau des Repertoires verantwortlich. Ein «film selection committee» wurde einberufen, dem er, Mekas, Stan Brakhage sowie die Kritiker Ken Kelman und P. Adams Sitney angehörten. Dieses Komitee erfuhr noch einige Änderungen, insbesondere, als das Prinzip der Einstimmigkeit für die Auswahl der Filme in ein Mehrheitsprinzip umgewandelt wurde, eine Transformation, die den Rücktritt von Brakhage mit sich brachte. Ein anderer Filmemacher, James Broughton, trat der Gruppe bei. Dieses Komitee übernahm nun die Aufgabe, ein Repertoire zusammenzustellen. Im Manifest von 1970 erklärt es die grundlegenden Prinzipien seiner «method of film selection»: die Ablehnung von «ausgewählten Stücken» (wie sie im Zentrum der Programmierungspraxis einer früheren Legitimationsinstanz der Avantgarden stand, der Ciné-Clubs der 1920er Jahre); außerdem die nicht zuletzt von der auteuristischen Sammlungspolitik von Henri Langlois und der Cinémathèque française abweichende Weigerung, die Werke eines Autors in seinem Ensemble zu betrachten; stattdessen die Bewertung jedes einzelnen Films für sich, mit Ausnahme der frühen und burlesken Filmemacher. Aber das Komitee bestand auch auf einem anderen Aspekt: That a film had an influence or that it was the first of its kind, have not been considerations of the film selection committee. In every case they have made their decisions on the aesthetic value of the individual work. (ibid., xi-xii)
Auf diese Weise positioniert sich das Komitee auf einer radikal ästhetischen Ebene und distanziert sich explizit von jeder Berücksichtigung «historischer Bedeutsamkeit» – oder sagen wir: Bedeutsamkeit für eine historische Epoche, die nicht die eigene ist. Auf die gleiche Weise schrieb der deutsche «experimentelle Prosaist» Arno Schmidt: «Nicht die Wirkung Lessings auf seine Zeit ist uns hier entscheidend: sondern die auf unsere!» (1998, 12). Das Manifest befasst sich auch mit den Details der materiellen Präsentationsbedingungen von Werken. Die Filme werden natürlich in den bestmöglichen Kopien gezeigt, aber, gemäß dem, was als «essentielles Prinzip» verkündet wird, in «absolut originalen Versionen, ohne Synchronisation und ohne Untertitel». Ergänzend fügt das Manifest hinzu, dass
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man die möglicherweise entstehenden Verständnisschwierigkeiten durch Verteilen von Zusammenfassungen verringern könne… Ein weiterer grundlegender Aspekt, an dem Kubelka abermals zentral beteiligt ist: Die Filme werden in einem neuartigen Saal vorgeführt, den sich der Österreicher um 1958 als «Maschine für das Ansehen von Filmen» ausgedacht hatte, das Invisible Cinema – mit vollständig schwarzen Wänden und Sitzmöbeln, deren Höhe so berechnet ist, dass jede Beeinträchtigung des Blickfeldes vermieden wird, und mit Schirmen auf jeder Seite des Sitzes, die visuelle und akustische Störungen abmildern. Die Frage der Rezeption ist für Kubelka übrigens wichtig: Sie findet ein Echo etwa in der Weigerung der Direktoren des Österreichischen Filmmuseums, die «stummen» Filme mit Ton zu begleiten, eine Position, deren ikonoklastischen Charakter in einer Welt der Archive, in der die historische Aufführungspraxis mit Musikbegleitung Standard ist, Paolo Cherchi Usai (2000, 131) hervorhob. Kubelkas Weigerung gründet auf dem Prinzip, dass eine kulturelle Praxis, die historisch dominant war, nicht allein deshalb als ästhetisch einschlägig gesehen werden muss – ein zentrales Prinzip für jede minoritäre Kunst sowie ein Prinzip der Befreiung der Kunst von der Geschichte. Der vom «film selection committee» definierte Kanon wird 1975 in einem Buch präsentiert, das von P. Adams Sitney unter dem Titel The Essential Cinema: Essays on the Films in the Collection of Anthology Film Archives herausgegeben und gemeinsam von den Anthology Film Archives und der New York University Press veröffentlicht wird, was den pädagogischen Anspruch unterstreicht. Dieser Status wird durch ein für universitäre Veröffentlichungen charakteristisches Element am Ende des Buches weiter befestigt: eine mit einhundertzwanzig Seiten äußerst ausführliche Bibliographie von Texten über die Filme, die sich im Besitz der Anthology Film Archives befinden. Die Wahl der Essays, die das Herz des Werks ausmachen und in denen ein auf die filmische Form fokussierter Ansatz dominiert, ist auch in der Hinsicht bemerkenswert, dass sie sich mehrheitlich auf das narrative Kino beschränkt, das an den Rändern der Industrie entstand. Das weniger zugängliche Kino der zeitgenössischen Avantgarde ist nur Gegenstand der letzten vier von vierzehn Essays, das heißt von 25 der insgesamt 245 Seiten. Man wird sich leicht vorstellen, dass didaktische Überlegungen diese Gewichtung beeinflusst haben. Natürlich präsentiert das Buch auch die vollständige Liste der Filme, die das Komitee ausgewählt hat. Sie ist nach der alphabetischen Reihenfolge der Filmemacher geordnet, und dies, obwohl doch eigentlich im ganzen Band die Einheit ‹Film› im Vordergrund steht, nicht der Regisseur. Die Liste als solche zu beschreiben impliziert, die Namen und Titel nach typolo-
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gischen Gesichtspunkten zu ordnen, was nicht wirklich zufriedenstellend ist, besteht doch eines der Anliegen dieses Pantheons genau darin, nicht nach Genre oder Produktionsweise zu unterscheiden; nichtsdestotrotz kann man versuchen, einige Gruppierungen auszumachen. Einige der auf der Liste versammelten Namen geben wenig Anlass zu Diskussionen. Sie bilden die Basis aller Unternehmungen dieser Art. D.W. Griffith ist mit zwei Filmen vertreten, The Birth of a Nation und Intolerance, wobei letzterer Gegenstand eines langen Essays im Sammelband ist; ferner Stroheim, Renoir, Murnau, Welles, jeder mit einem einzigen Film (Greed, La Règle du jeu, Sunrise und Citizen Kane); Flaherty mit Nanook und Man of Aran und Rossellini ebenfalls mit zwei Filmen, interessanterweise nicht den beiden naheliegendsten, sondern: Francesco, Giullare di Dio und La Prise du pouvoir par Louis XIV. Dreyer ist mit nicht weniger als sieben Filmen vertreten; insbesondere Kubelka hat im Lauf der Jahre immer wieder seine Bewunderung für ihn zum Ausdruck gebracht. Vigo bildet eine andere Ausnahme, da sein ‹Gesamtwerk› aufgenommen ist und Ken Kelman ihm einen langen analytischen Essay widmet. Außerdem sind Charlie Chaplin und einige burleske Filmemacher einbezogen (Buster Keaton, Laurel und Hardy) sowie drei sogenannte «Pioniere» des Kinos: Lumière, Méliès und Feuillade. Wie wenig diese Auswahl von klassischen auteuristischen Erwägungen geleitet ist, zeigt sich in der Art und Weise, wie Kelman die Entscheidung für Stroheims Greed rechtfertigt. Die spezifische Modernität, die den Film aus dem Werk seines Autors heraushebe, stellt Kelman weitgehend als Resultat der Verstümmelungen dar, die er durchlief: «[t]he film exists as a definitely elliptical work, which was never Stroheim’s way before or after, and not in this case either, as we know from the extant original script. But Greed is what we see […]» (Kelmann 1975, 56). Aufnahme in den Kanon findet der Film mithin obgleich, und vielleicht gerade weil, er in der gewürdigten Form nicht einer ursprünglichen Intention seines Autors entspricht. Eine andere Gruppe innerhalb des Pantheons bilden die Filme der ‹historischen› Avantgarden. Werke von Marcel Duchamp, Man Ray, Fernand Léger, Alberto Cavalcanti, Luis Buñuel, Hans Richter, Viking Eggeling, Walter Ruttmann und Jean Epstein sind vorhanden – aber nichts von Gance, von L’Herbier oder Dulac; die ‹narrative› Avantgarde findet in den Augen des Komitees kaum Gnade. Cocteau wiederum ist durchaus präsent. Gleichfalls gibt es eine Auswahl an sowjetischen Filmen, ein Korpus, das auch zu den herausragenden Beständen des Österreichischen Filmmuseums zählt: Eisenstein, Wertow, Dowschenko, Pudowkin. Einige Werke passen in keine dieser Kategorien, es sei denn aus historischen Gründen. Sitney spricht von «non avant-garde modernists»
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(1975,192): Un chant d’amour von Jean Genet, Listen to Britain von Humphrey Jennings, Le Sang des bêtes von Georges Franju, ein paar Filme von Len Lye, zwei von Ozu und beinahe das gesamte Werk von Bresson (es fehlen die frühen Filme sowie seltsamerweise Le Procès de Jeanne d’Arc, den Sitney dennoch als «his most elaborate experiment» auszeichnet; ibid., 198). Und dann gibt es da noch, so sehr es einem missfallen mag, Leni Riefenstahl mit Triumph des Willens und Olympia. Die große Mehrheit des ‹Repertoires› macht aber natürlich das amerikanische Avantgardekino aus, das «unabhängige» im Sinne von Mekas oder «nicht industrielle» im Sinne von Kubelka: von Maya Deren, den Brüdern Whitney oder Joseph Cornell bis zum «strukturalen» Kino über Brakhage, der mit der größten Anzahl von Filmen vertreten ist (38), und Mekas, Kubelka oder Hill selbst. Wie immer angesichts solcher Listen erweist sich das Abwesende als ebenso interessant wie das Aufgenommene: Ozu ist dabei, aber nicht Mizoguchi; weder Hitchcock noch Ford, Hawks, Lubitsch oder Lang – dafür aber Murnau. Auch ist das frühe Kino nur minimal repräsentiert. Und nichts – man ist versucht zu sagen: natürlich nichts – ist dabei von der französischen nouvelle vague oder dem neuen Kino der 1960er Jahre, ob nun vom brasilianischen cinema novo oder dem neuen Kino Zentraleuropas, aber auch beinahe nichts von den zeitgenössischen Avantgarden außerhalb der USA, ungeachtet ihrer Vitalität – bis auf eine Ausnahme: drei Filme von Marcel Hanoun. Es gibt einige Namen, deren Fehlen nicht einleuchtet, wenn man die Ausrichtung des Ganzen in Betracht zieht: Joris Ivens zum Beispiel, aber auch Norman McLaren. Es ist sicherlich schwierig, über die Gründe dieser Auslassungen zu spekulieren: Wurden die Filme nicht gesehen oder wurden sie abgelehnt? Sitney macht in seinem Essay über Bresson gewisse Andeutungen, wenn er zwei unvereinbare kritische Positionen einander gegenüber stellt: eine, die das Kino als Erbe des populären Romans des 19. Jahrhunderts sieht, ein Verständnis, mit dem sich die Namen der großen Filmemacher wie Hitchcock, Ford, Renoir und Sternberg verbinden; und eine, die das Kino als «moderne Kunst» bestimmt, die sich von diesen traditionellen fiktionalen Formen befreit und mit Intensitäten arbeitet. Sitney selbst ordnet sich diesem zweiten Ansatz zu, räumt aber ein: «The pantheon of this approach is more contestable, because the critics who share it are less willing to accept an orthodoxy» (ibid., 182). Die Präsenz von «narrativen industriellen» Filmen ist weitgehend randständig; sie hat dennoch ihre strategische Bedeutung für die Positionierung des Kanons in Bezug auf die dominanten kritischen Institutionen. Man muss daran erinnern, dass dieser Kanon nicht nur einen intellektu-
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ellen oder polemischen Wert besitzt: Seine Nützlichkeit ist für die Anthology Film Archives viel pragmatischer und fundamentaler. Er bildet die Sammlung der Institution; er begründet sie und rechtfertigt ihre Existenz. Er ist das, was die Zuschauer sehen können, wenn sie kommen – dies und nur dies (bevor sich später die Sammlung erweitert): Filme von Mizoguchi werden in den Anthology Film Archives nicht gezeigt.2 Das «erste Filmmuseum, das ausschließlich dem Kino als Kunst gewidmet ist», hat seine Sammlung ausgehend von einem Kanon aufgebaut, der darauf abzielt, anhand von Beispielen genau zu definieren, was das «Kino als Kunst» ist: Er definiert die Essenz des Kinos durch die Liste der essenziellen Filme. Kanon und Sammlung fallen hier, als Kernstück eines Netzes von ästhetischen, polemischen und institutionellen Implikationen, zusammen. Diese konkrete Übereinstimmung von Kanon und Sammlung ist im Übrigen nur durch die Reproduzierbarkeit des Mediums Film möglich: Es ist einer sich gründenden kinematografischen Institution tatsächlich möglich, ‹Kopien› aller Meisterwerke des 20. Jahrhunderts zu erwerben. Dies ist im Feld der bildenden Künste undenkbar und verändert den Status dieses «Filmmuseums»: Wenn sich der Wert eines traditionellen Museums an seiner Sammlung bemisst, an der Zahl der «authentischen» kanonischen Werke, die es in seinem Besitz hat und die es allein besitzt, dann bemisst sich der Wert der Anthology Film Archives an der Perfektion des Kanons, auf dem sie begründet sind. Die Besonderheit dieser Sammlung besteht darin, dass sie nicht zuerst als Ansammlung von Werken gedacht wird, die nur episodisch gezeigt werden sollten. Vielmehr wird sie als Programmgestaltung, als Ensemble von Werken gedacht, die zur Sichtung bestimmt sind, und zwar zur Sichtung auf bestimmte Weise: im Invisible Cinema und gemäß einer bestimmten Abfolge. Das Ziel der Auswahl ist es, die Essenz des Kinos verständlich zu machen, sie durch das Beispiel zu erfassen. Dies lässt sich aber nur machen, wenn man sich bemüht, die Filme in ihrer Gesamtheit sichtbar werden zu lassen. Andererseits zieht diese Form der Präsentation von Filmen als Meisterwerke die Konsequenz nach sich, dass man sie regelmäßig aufführen muss, auch und gerade damit sie mehrfach gesehen werden können: «One of the guiding principles of this new film museum is that a great film must be seen many times» (Sitney 1975, vi). So ist es eine pädagogische Absicht, der die gewählte Form der Programmgestaltung entspricht: Gemäß dem Manifest wird die Sammlung als ganze in schnell wiederholten Zyklen gezeigt, mit drei Vorführungen täglich. Es handelt 2
Christa Blümlinger hat daran erinnert, dass kein einziger Film von Jean-Luc Godard im Österreichischen Filmmuseum gezeigt wurde, solange Kubelka Ko-Direktor war, das heißt bis 2001 (in einem Gespräch mit dem Autor, März 2010).
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sich um etwas durchaus Ungewöhnliches: ein Filmarchiv, das systematisch die Gesamtheit seiner Bestände zeigt.... Da der ganze Kanon etwa hundert Programme mit ungefähr dreihundert Filmen umfasst, kann ein treuer New Yorker Besucher, wenn er alle drei Vorstellungen pro Tag besucht, alle Filme, die in der Geschichte der Filmkunst etwas zählen, im Zeitraum von ungefähr einem Monat sehen, und dies jeden Monat erneut... Im Manifest wird der treue Zuschauer explizit und mehrmals als ‹Lehrling› vorgestellt: als ein Student oder vor allem ein junger Filmemacher, der begierig ist, mehr über seinen Beruf zu erfahren: «The cycle will also provide a unique opportunity for students of the medium to see a concentrated history of the art of film within a period of four or five weeks» (ibid.), oder weiter: «The curriculum it [the Anthology Film Archives] proposes constitutes a film history for a student and aspiring film-maker who wants to know the medium as an aesthetic endeavor» (ibid., xi). So wird der didaktische Anspruch des Unternehmens betont, der auf eine einzigartige Form von Pädagogik abzielt: Es geht darum, einzig durch den fleißigen Besuch von Vorführungen der «Klassiker» eine ästhetische Bildung zu erwerben. Zusätze zu den Filmen sind nicht vorgesehen: weder Kurse noch Vorträge noch so etwas wie eine «master class»... Dahingegen ein Handbuch: The Essential Cinema. Diese Bemühungen erinnern namentlich an die Arbeit des modernistischen amerikanischen Dichters Ezra Pound, der parallel zur Produktion seines Werks einer der eifrigsten Anthologisten der modernen Dichtkunst war, ebenso wie Übersetzer ‹seiner› Klassiker (die Minnesänger, die Dichter des Dolce stil novo etc.), aber auch der Anthologie des Konfuzius (vgl. Pound 1974), eines Projekts, das in seinem Ansatz pädagogischer nicht sein könnte. Pound schrieb außerdem zahlreiche «Handbücher», unter anderem 1934 ein wichtiges ABC of Reading, und die Frage der Suche nach formalen Kriterien blieb für ihn untrennbar mit dem Programm einer Bildung verbunden, die zu dieser Suche befähigt, einer Bildung, die auf der Lektüre großer Texte fußte, die er mit so wenig Kommentaren wie möglich versah, um es dem Leser zu überlassen, sich durch sich selbst zu bilden (wenn er dazu fähig war: dies war Teil des «Tests») (vgl. Carillo 2009). Peter Kubelka sollte 1976 nochmals, und zum letzten Mal, damit beauftragt werden, die Filmsammlung einer sich formierenden Institution zusammenzustellen, nämlich des Musée national d’art moderne français, Centre Georges Pompidou, parallel zur Realisierung eines Programms/ einer Ausstellung, die in Frankreich als die größte dem experimentellen Kino gewidmete mit dem Titel Une histoire du cinéma Epoche machte. Auch hier ist die Sammlung ein Kanon und deckt die ganze Geschichte des Mediums ab; aber ihre Ansprüche sind weniger radikal oder deplatziert: «eine
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Geschichte» meint nicht «das Essentielle» des Kinos. Die Überschneidungen mit der Liste des Essential Cinema sind groß, aber es bleiben Unterschiede bestehen. Insbesondere die «industriellen» Filmemacher verlieren ihren Platz, und die Sammlung ist auf das unabhängige europäische Kino zentriert, was angesichts der auftraggebenden Institution folgerichtig erscheint: Man findet dort Malcolm LeGrice, Philippe Garrel, Chantal Ackerman, Giovanni Martedi, Werner Nekes etc. Aber dieser Hang zum Schaffen von Kanons ist nicht nur ein institutioneller. Kubelka, wie Pound, stellt den eingangs skizzierten Fall eines Künstlers dar, der den Kanon seiner Kunst in eigener Regie bestimmt. Man kann sich fragen, ob es zwischen seinem Werk und der Praxis der Kanon-Erstellung eine Verbindung gibt. Ich habe bereits den explosiven Charakter von Kubelkas Filmen erwähnt; die Provokation ist sicherlich ein verbindendes Element aller Aspekte seines Schaffens. Die von Kubelka – und seinen Kollegen des «film selection committee» – produzierten Kanons geben sich objektiv: Sie sind das «essentielle» Kino. Die Möglichkeit, einen Kanon zusammenzustellen, ist demnach an die Idee geknüpft, dass es möglich ist, ein objektives ästhetisches Urteil über ein Werk zu fällen. Diese Möglichkeit liegt nicht auf der Hand, und sie zu behaupten hat sogar etwas leicht Skandalöses. Louis Zukofsky, ein anderer amerikanischer Dichter und ein Freund Pounds, publizierte ein Buch mit dem Titel A Test of Poetry (1948), das selbst einige seiner Bewunderer schockierte: Er behauptete darin, dass es einen Poesie-Test gebe, um objektiv den Wert eines Gedichts zu messen und Gedichte zu vergleichen. Er wies dies anhand von Beispielen und auf der Grundlage eines breit angelegten Vergleichs-Dispositivs nach. Von den drei Teilen seines Buches bestehen der erste und der letzte ausschließlich aus Gedichten aller Stile und Epochen, die zu dritt gruppiert und von keinem Kommentar begleitet sind – was Pounds Ansatz radikalisierte. Der Name des Autors oder der Titel des Werks sind ebenfalls nicht angegeben; dagegen ist über jedem Gedicht ein gerahmtes weißes Feld platziert, das dem Leser dazu dient, seine Bewertung des Werks zu notieren: «great, good, fair, poor» (ibid., 3). Nur der mittlere Teil, der dasselbe Basis-Dispositiv wieder aufnimmt, begleitet die Texte mit ihren Referenzen sowie ein paar Kommentarzeilen, die das Vergleichskriterium erläutern. Dieses Buch, das mit einem früheren, unvollendeten Projekt Zukofskys namens A Workers‘ Anthology zusammenhängt, verbindet ein anthologisches Prinzip mit der Suche nach Konstruktionsprinzipien, die auf eine Erneuerung der pädagogischen Vermittlung von Poesie abzielt und ganz auf der Annahme einer Objektivität des ästhetischen Urteils aufbaut. Allerdings eignet dieser Objektivitätsbehauptung eine gewisse Gewaltsamkeit, wie man sie eher von den domi-
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nanten akademischen Instanzen und Institutionen erwartet und weniger von Avantgardekünstlern wie Louis Zukofsky oder Peter Kubelka. Andererseits konstruiert ein Künstler, der an dieses objektive Urteil glaubt, sein Werk auf eine bestimmte Weise, nach bestimmten Kriterien und Begründungen, die auch selbst objektiv sind, oder doch so objektiv wie möglich: Strenge der Konstruktion, Präzision der Strukturen, Einbezug von unterschiedlichen Verfahren der Kalkulation etc. Kubelkas Ruhm gründete sich zunächst auf seine drei «metrischen» Filme, die am Ende der 1950er Jahre entstanden sind: Adebar (1956-57), Schwechater (1957-58) und Arnulf Rainer (1958-60). Sie basieren alle auf komplexen rhythmischen Berechnungen, die Zählungen und kombinatorische Anordnungen mit verschiedenen festen Gruppen von Fotogrammen und eine zunehmend radikale Annäherung an den essentiellen Kern des Mediums Film implizieren: Licht/kein Licht, Ton/Schweigen. Diese Verfahren de-subjektivieren das Werk und verleihen ihm, auch in den Augen seines Autors, die Garantie der möglichen Kanonisierung – dies war bereits das Projekt der flaubertschen objectivité. Dies geht einher mit einer Betonung des Wertes der Arbeit und einer Inanspruchnahme des Modells des Handwerkers, Ansprüche, die Kubelka, Zukofsky und Flaubert teilen. Über Arnulf Rainer, einen Film, der aus der Zusammenstellung von schwarzen und von transparenten Elementen und einer bis in jedes einzelne Fotogramm präzisen Aufteilung von Stille und weißem Rauschen besteht, sagte Kubelka, er wolle «das Medium Film so weit bringen, daß es gleichzeitig neben der Musik und der Malerei stehen würde», und sprach auch von Ekstase, «die aus sich herausgehen» heißt. Er sagte auch: «Mein Film Arnulf Rainer ist eine Dokumentation; er ist ein objektiver Film; er ist eine Welt, könnte man sagen, in der es vierundzwanzigmal in der Sekunde blitzt und donnert» (Kubelka 1995, 46-48, 62, 66f). Er fügte hinzu: Dieser Film wird die ganze Filmgeschichte überleben, weil er von jedem wiederholt werden kann. Er ist in einer Partitur niedergeschrieben, er kann einfach nicht verschwinden. Er kann nach meiner Partitur exakt und fehlerlos hergestellt werden. Irgendwann möchte ich die Partitur in Stein meißeln, in Granit, dann wird sie 200 000 Jahre halten, wenn sie nicht zerstört wird. (ibid.)
Trotz ihrer teilweise überbetonten Objektivität – und sie gehört zu dieser Form dazu – kann die Rezeption dieser Künstlerkanons nicht von ihrem Ursprungsort getrennt werden – ihrem historischen Moment und dem Werk ihres/ihrer Erzeuger. Sie sind die Spur, die zeigt, dass es für einen Künstler nicht möglich ist, in eine Beziehung zur Geschichte seiner Kunst zu treten, die nicht genealogisch ist – und damit auch nicht unmittelbar
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für die Produktion oder für die Verteidigung seines eigenen Werkes instrumentalisiert wird.3 Es ist aber zweifellos aus genau diesem Grund, dass die Kanons absolut instrumentalisiert werden (hier im doppelten Sinn: für die Institution und für den Künstler) und dass sie einen realen ästhetischen und theoretischen Wert erhalten. Dieser Kanon präsentiert sich als «Essential Cinema»; er könnte, um den schönen Titel des Buches von Benedetto Croce über Hegels Philosophie zu paraphrasieren, den Untertitel tragen: «Lebendiges und Totes in der Geschichte des Kinos». Sobald aber die Objektivität des Urteils postuliert wird, stellt sich die Frage der Pädagogik und der Bildung des Geschmacks. Diese Pädagogik nimmt in Kubelkas Arbeit verschiedene Formen an, insbesondere in Verbindung mit der Vortragsform. Kubelka hat keine im strengen Sinne theoretischen Texte geschrieben. Seine Beiträge waren immer nur mündlich, in Form von Interviews (vor allem mit Jonas Mekas oder Christian Lebrat) oder auch, durchaus regelmäßig, in Vorträgen zur Vorstellung seiner eigenen Arbeit, deren Anliegen den Ausgangsrahmen stets übersteigt und sich als pädagogisch in einem absoluten Sinne erweist. Einer dieser Vorträge, den er 2002 im Rahmen der Konferenz «Film/Denken» am Österreichischen Filmmuseum hielt, wurde als DVD veröffentlicht; er trägt den Titel «Film als Ereignis, Film als Sprache, Denken als Film».4 Der Vortragende, der sein Werk vorstellt, und der Künstler, der am Beispiel seines Werks die allgemeine Natur des Mediums erläutert, bedienen sich einer auktorialen Expertise, die auf eine vom Modernismus ererbte Figur des Künstlers zurückverweist. Ezra Pound oder Louis Zukofsky wurden bereits erwähnt. Arnold Schönberg, der lange in der Lehre tätig war, schrieb ebenfalls mehrere Handbücher, insbesondere Fundamentals of Musical Composition, das 1967 publiziert wurde, an dem er aber seit 1938 gearbeitet hatte:
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Dieser Problematik, die sich auch auf die Position des Kunst- und Filmhistorikers erstreckt, war sich auf Seiten der Kunstgeschichte unter anderem George Kubler bewusst. Aus Anlass der Debatten um den abstrakten Expressionismus schrieb er zu Beginn der 1960er Jahre von einem «reciprocal misunderstanding between historians and artists: the unprepared historian regards progressive contemporary paintings as a terrifying and senseless adventure; and the painter regards most art scholarship as a vacant ritual exercise». Kubler fährt fort: «This type of divergence is as old as art and history. It recurs in every generation, with the artist demanding from the scholar the approval of history for his work before the pattern is complete, and the scholar mistaking his position as an observer and historian for that of a critic, by pronouncing upon matters of contemporary significance when his perceptive skill and his equipment are less suited to that task than to the study of whole past configurations which are no longer in the condition of active change» (Kubler 1962, 23). DVD-Edition, Wien: Zone 2003.
120 Archiv, Programmierung, Kanon
The principle of this textbook is: in first order, to provide for the average student of the universities, who has no special talent for composing or for music at all; to widen the horizon of the teachers, of this and other continents; to offer, at the same time, everything to the talented musician, and even to him who might later become a composer. (1967, 214)5
Man sieht, dass das Format des Handbuchs nicht den – hier sehr deutlichen – Ehrgeiz ausschließt, universell zu sein. Schönberg fügt dem hinzu: «This will be made possible by the circumstance that every technical matter is discussed in a very fundamental way, so that, at the same time, it is both simple and thorough» (ibid.). Dieser very fundamental way nimmt die Methode Kubelkas voll und ganz vorweg, sei es in seiner Rolle als Pädagoge, als Hersteller von Kanons oder als Künstler. In einem Gespräch von 1989 lässt sich eine leichte Verschiebung der Perspektive bemerken. Kubelka kommt darin auf seine Äußerungen beim 40. Kongress der FIAF in Wien 1984 zurück, wo er sich dafür einsetzte, dass die Archive, statt sich auf «künstlerische», «professionelle» und also «industrielle» Filme zu beschränken, auch das Unfertige, das Fragmentarische sammeln sollten, «all diese kleinen Dinge, Sportfilme, Amateurfilme, und auch alles, was weggeworfen wird». Bezüglich des Kunstfilms sagt Kubelka: «Ich bin nicht dagegen, aber die Frage ist noch, wer darüber entscheidet, welches in künstlerischer Hinsicht der wichtigste Film ist. Das ist eine andere Frage.»6
Literatur Carillo, Ellen C. (2009): «Popularization through Pedagogy: Ezra Pound’s Pedagogy of Networks». Modern Language Association, 2009 Convention, Philadelphia. Cherchi Usai, Paolo (2000) Silent Cinema: an Introduction. London: BFI. Kelman, Ken (1975) «Naturalism Transcended: Von Stroheim’s Greed». In: Sitney 1975. Kubelka, Peter (1995) «Die Theorie des metrischen Films» [1974–75]. In: Peter Kubelka. Hg. v. Gabriele Jutz & Peter Tscherkassky. Wien: PVS; S. 46–67. Kubler, George (1962) The Shape of Time. Remarks on the History of Things. New Haven: Yale University Press. Lebrat, Christian (Hg.) (1990) Peter Kubelka. Paris: Paris Experimental. Pound, Ezra (1974) The Classic Anthology Defined by Confucius. London: Faber. – (1960) The ABC of Reading [1934]. New York: New Directions. 5 6
Beigefügte Beschreibung in einem Brief vom 16. April 1938 an Prof. Douglas Moore von der Columbia University. Christian Lebrat: Gespräch mit Peter Kubelka, Prinzendorf, 22.01.1989; vgl. Lebrat 1990, 56. Auszüge aus dem Gespräch in deutscher Übersetzung sind wiedergegeben in Kubelka 1995, 162–167.
Turquety: Der Künstler, die Anthologie, die Pädagogik 121
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Vinzenz Hediger / Alexander Horwath
«Ich bin zutiefst davon überzeugt: Der Film ist ein Akt, der sich in einem bestimmten Zeitraum abspielt, und damit ein performativer Akt.» Gespräch mit Alexander Horwath
Alexander Horwath, seit 2002 Direktor des Österreichischen Filmmuseums, zählt zu den wichtigsten Akteuren der europäischen Filmkultur. Nach seinen Anfängen als Filmkritiker leitete er von 1992 bis 1997 die Viennale in Wien und war danach fünf Jahre als freier Konsulent, Kurator und Autor tätig, bevor er als Nachfolger von Peter Kubelka und Peter Konlechner die Leitung des Österreichischen Filmmuseums übernahm. Für die Documenta 12 kuratierte Horwath 2007 eine Reihe von Filmprogrammen, mit denen er im Feld zwischen bildender Kunst und Film eine dezidierte Position markierte, indem er auf der Aufführung im Kino beharrte. Schließlich hat sich Horwath in den letzten Jahren weithin als Autor und Vordenker der Zukunft des Filmarchivs profiliert und dabei insbesondere Beiträge zu einer Neukonzeption der Rolle des Kurators geleistet. Die Frage nach dessen Rolle in der gegenwärtigen Filmkultur bildet auch den Ansatzpunkt dieses Gesprächs, das im Rahmen der Ringvorlesung «Orte filmischen Wissens» am 23. Juni 2010 in Bochum stattfand.
Hediger: Filmarchive – und das Österreichische Filmmuseum ist unter anderem das – haben eine mittlerweile mehr als 80-jährige Geschichte. Sie entstehen grosso modo Ende der 20er Jahre, als die Produzenten bei der Einführung des Tonfilms ihre vermeintlich wertlos gewordenen Lagerbestände zu vernichten beginnen und Filmliebhaber die Filme retten und in Archive überführen. Zwischen den frühen 1930er und den 1950er Jahren entstehen schließlich überall auf der Welt die nationalen Filmarchive und akademische und museale Sammlungen wie die des Museum of Modern Art, die entweder die nationale Produktion archivieren oder die Filmkunst als ganze dokumentieren. An welchem Punkt in der Geschichte der Filmarchive befinden wir uns heute? Was ist die Aufgabe des Archivs und des Archivdirektors? Horwath: Zunächst einmal gab es auch vor der Phase, die du angesprochen hast, Filmarchivgründungen, nur haben wir sie meist unterschlagen,
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weil sie keinen ästhetischen oder filmkunstgeschichtlichen Rahmen hatten, sondern firmengeschichtlich waren. Sie waren Dokumente von industriegeschichtlichen Zusammenhängen. Der Industrielle Albert Kahn in Paris zum Beispiel hat eine ganz andere Form von Archiv fabriziert, indem er Kameraleute um die Welt geschickt hat, um Filmbilder mitzubringen, die er in einer Art «Filmarchiv der Welt» sammelte, ohne damit Präsentationsabsichten zu verbinden. Dieses Archiv gibt es immer noch, eine faszinierende Institution. Der Moment, den du angesprochen hast, der Moment der Cinémathèque française oder des Department of Film 1935 im Museum of Modern Art, sind Momente, die sehr stark zusammenhängen mit einem allgemeinen Diskurs über die Kunstwürdigkeit des Films. Bis heute bauen viele Häuser – und viele derer, die sich dezidiert «Filmmuseum» nennen – auf dieser Genealogie auf. Ich glaube allerdings nicht, dass man Institutionen wie das Bundesarchiv Filmarchiv, die die Archivierungsarbeit ins Zentrum stellen, mit Institutionen vergleichen kann, die sich aus einer Museumstradition heraus gebildet haben und zeitgleich Archivaufgaben nachgehen. Kunstmuseen sammeln auch, und doch nennt niemand sie Archive. Vielmehr sind das eben Museen mit Sammlungen, die zugänglich gemacht werden. Aus der Sicht meines Hauses steht dieser Aspekt im Vordergrund. Ich denke, dass ein Haus, das filmarchivarische Arbeit macht, aber ein Museum ist, automatisch einen bestimmten Blick auf sein Archiv hat. Zurückgreifend auf etwas, was Peter Kubelka, der Mitbegründer des Österreichischen Filmmuseums, einmal gesagt hat, halte ich es für wahrscheinlicher, dass in dieser Konstellation ein poetisches und polemisches Archiv oder Museum entsteht, als bei einer Institution, die das Zeigen und Sichtbarmachen ihrer Bestände nicht zu ihren Prioritäten zählt. Dies ist ein wichtiger Unterschied. Du hast ja gefragt, wofür Filmarchive heutzutage überhaupt gut sind. Ich gehe damit noch einen Schritt zurück. Ich glaube heute mehr denn je, dass Filmmuseen/Filmarchive nicht nur in der Lage sind, sondern auch die Pflicht haben, eine zeitliche Perspektive zu entwerfen, die weit über jene gegenwärtigen Rhetoriken und Ideologien zum Thema «Weiterexistieren des Films» hinausgehen. Du hattest den Moment angesprochen – und jetzt mache ich eine große Klammer auf –, als die Mehrheit der Filmemachenden und auch die Mehrheit der Filmeschauenden der Meinung war, dass der Tonfilm als das neue weltumspannende Ding den stummen Film obsolet machen würde. In so einem Moment ginge ohne ein archivarisches oder Museums-Denken vieles verloren. Damals gab es jedoch die allgemein verbreitete Vorstellung: Etwas Altes hört auf, etwas Neues beginnt. Ich denke, dass wir uns heute in einer ähnlichen diskursiven Situation befinden.
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Man kann sehr leicht einen Test machen, bei Menschen, die über das Kino und das Digitale Zeitalter sprechen und zugleich die digitale Verfügbarkeit für alle Zeit propagieren. Erstens glauben diese Menschen, dass die Digitalisierung eine riesige Ausbreitung der vorhandenen und verfügbaren Bewegtbilder bedeutet, und zweitens glauben sie, dass mit der Digitalisierung die mühselige Arbeit im Archiv Gott sei Dank erledigt sei. Unter diesen Umständen hat ein Archiv mehr denn je die Aufgabe, für das ihm anvertraute Kulturgut und die ihm anvertrauten Objekte eine zeitliche Perspektive zu entwerfen, die diese Rhetoriken durchstößt. Vom Archiv aus gesehen müssen wir weiterhin in Jahrhunderten denken und uns schlichtweg der Haltung verweigern, dass bereits alles über das Filmmaterial ausgesagt sei. Ich finde es auch in öffentlichen und natürlich in kulturpolitischen Zusammenhängen wichtig, dass man die neuen dominanten Begriffe und Diskurse sehr hart befragt und sich nicht ins scheinbar Selbstverständliche fügt. In jedem Feld stellen sich schnell CommonSense-Situationen ein, unhinterfragte Übereinkünfte, und ich denke, ein Archiv hat die Aufgabe, diese Übereinkünfte zu attackieren und zu konfrontieren. Tatsächlich ist die Digitalisierung keine Lösung für die Probleme der Filmarchive. Film ist ein Medium, das eine sehr kurze Halbwertzeit hat. Verglichen mit Ölgemälden oder Büchern sind Ausfallraten, rein materialbedingt, sehr hoch. Dass Digitalisierung dieses Problem lösen könnte, ist illusionär, unter anderem deswegen, weil eine digitale Archivierung bedeutet, dass entweder die Datenmenge reduziert werden muss – eine DVD enthält weniger Information als ein Filmstreifen –, oder dass man Speicherkapazitäten braucht, die sich niemand leisten kann, um dieselbe Datendichte zu erhalten. Ich würde hinzufügen, dass, selbst wenn man es sich leisten kann – und es gibt Entwürfe für stark automatisierte Archivsysteme, die eine regelmäßige Migration der Daten bewerkstelligen sollen –, selbst dann halte ich den zentralen Punkt des Medienwechsels kulturhistorisch und sogar menschheitsgeschichtlich für nicht ausreichend, um die Substitution des Films durch digitale Datenträger zu rechtfertigen. Hinzu kommt noch, da du den Begriff der Halbwertzeit verwendest, dass die Halbwertzeit der Medien immer kürzer wird; die Halbwertzeit jedes Mediums nach dem Film schrumpft radikal. Richtet man den Blick nach vorn in die Zukunft statt in die medienhistorische Vergangenheit, dann gewinnt der Film hinsichtlich seiner Dauerhaftigkeit geradezu den Status von Marmor. Umso radikaler stellt sich jetzt, mit allen Hervorbringungen, die digital geboren sind, die Frage nach dem Bewahrenkönnen, dem Bewahren-
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müssen und dem Wie des Bewahrens. Mein Kollege Paolo Cherchi Usai hat unlängst einen schönen Text mit dem Titel «The Demise of Digital» veröffentlicht. Ein provokanter, polemischer Titel, weil man ja immer über «The Death of Cinema» liest. «The Demise of Digital», so Cherchi Usai, steht uns deshalb bevor, weil noch jedes bisher dominante Medium von einem neueren dominanten Medium abgelöst wurde. Und dieser ‹Niedergang› verschärft sich noch, wenn die mit der Archivierung digitaler Werke beauftragten Institutionen nichts aus der Geschichte lernen und zu viel Zeit verstreichen lassen, bevor sie an die Arbeit der Sicherung gehen. Wir wissen, dass in den großen Bibliotheken über die Erhaltung und Bewahrung des Internets Diskussionen stattfinden. Aber die Herausforderungen, die sich da stellen, sind weitaus gewaltiger als die einer Digitalisierung von Filmarchiven. Von daher kommt es mir ironisch vor, wie intensiv man sich mit der Digitalisierung von Film beschäftigt, wo doch das viel drängendere Problem das der «preservation of the digital» darstellt. Das eigentliche Problem wäre also die Digitalisierung des Digitalen. Der Film als Filmrolle – als objekthafte Form des Filmischen – ist immer noch ein passiv archivierbares Medium. Das kann man von der Digitalität nicht mehr sagen: Man kann Daten nicht einfach so aufs Regal legen. Wir haben es mit einer völlig anderen Konstellation zu tun. Insofern ist damit eine Verschärfung eingetreten, die eine unendlich größere Herausforderung für Archivwissenschaft und Archivarbeit darstellt als die langfristige Konservierung von Filmrollen. Es gibt ja so etwas wie ein Ethos der Filmarchivare und Filmrestauratoren, und die FIAF (Fédération Internationale des Archives du Film) hat einen Code of Ethics aufgestellt, Regeln, die selbstverpflichtenden Charakter für Filmarchivare und -restauratoren haben. Zu diesen zählt die Reversibilitätsregel: Man soll nicht mit dem filmischen Material Sachen anstellen, die nicht rückgängig zu machen sind. Das impliziert, dass die vorfindliche Materialbasis das eigentliche Objekt der Archivierung ist. Digitalisierung kann in diesem Fall eigentlich nur heißen: Umschreibung für die Verbreitung. Im Falle des Films kann der digitale Datenträger nicht das primäre Medium der Archivierung sein. Der andere Punkt ist der, dass gemäß aktuellem Kenntnisstand das dauerhafteste Konservierungsmedium der Polyesterfilm wäre, von dem man schätzt, dass er ungefähr tausend Jahre Bestand hat. Solche Prognosen lassen sich für digitale Speichermedien nicht aufstellen. Nur haben wir mit Polyesterfilm noch zu wenig Erfahrung, es gibt ihn erst seit ungefähr 10 Jahren. Daher sind solche Voraussagen mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Man hat auch von Acetatfilm, der sich in den
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50er Jahren statt Nitratfilm durchgesetzt hat, als «safety film», als Sicherheitsfilm gesprochen, weil er nicht mehr so brennbar sei wie Nitratfilm. Ein paar Jahrzehnte später ist man auf das sogenannte Essigsyndrom gestoßen, also eine andere chemische Selbstzersetzungslogik, welche dem sogenannten Sicherheitsfilm innewohnt, und hat ein fast ebenso großes Problem wie mit der Entzündlichkeit des Nitratfilms bekommen. Wir werden also sehen, wie es mit Polyester ausschaut. Du hast von der Position gesprochen, die ein Filmmuseum gegen diesen automatischen und uninformierten Konsens der Digitalisierung beziehen müsse. Die Archivierung und die Sammlungspflege sind aber nur einige Aufgaben eines Filmmuseums. Deine Arbeit betrifft in erster Linie einen anderen Bereich: die Programmierung, die Erforschung und die Darstellung des Materials in der Öffentlichkeit. Was sind hier deine leitenden Prinzipien? Zunächst ist es mir wichtig, die zeigende Instanz, die verfügbar machende Seite eines Museums in einem bestimmten Bezug zur jeweiligen Sammlung zu sehen. Die Arbeit des Archivs ist nicht isoliert von der Arbeit des Ausstellens und des Publizierens zu betrachten. Ausstellungen und Publikationen sind von den Erfahrungen im Archiv mitgeformt worden, insofern hängen diese Dinge zusammen. Man sagt gerne, dass ein Film das sei, was in fünf oder sechs Rollen in so und so vielen Dosen im Archiv liegt, und wenn diese Rollen bewahrt sind, dann haben wir den Film bewahrt. Auch wenn es etwas seltsam klingen mag, bin ich nicht dieser Meinung. Ich denke nicht, dass der Inhalt dieser Dosen wirklich der Film ist. Wir brauchen allerdings das, was in diesen Dosen ist, um Film herbeizuführen. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Der Film ist ein Akt, der sich in einem bestimmten Zeitraum abspielt, und damit ein performativer Akt. Film ist also das, was entsteht, wenn das, was in den Dosen ist, in einer bestimmten maschinellen und räumlichen Konstellation zur Aufführung gebracht wird. Der Zeitraum, in dem dieses Objekt als Film zur Aufführung gebracht wird – das ist es, wovon wir sprechen, wenn wir «Film» sagen. Es gibt also diese Aspekte des Zeitlichen und Räumlichen, die den Film seltsamerweise wieder in die Nähe des Theaters oder einer musikalischen Aufführung bringen. Ein Filmarchiv und ein Filmmuseum können sich nicht damit zufrieden geben, die Dosen und Rollen aufzuheben. Man kann den Inhalt zwar gegen das Licht halten, man kann die Rollen auf einen Schneidetisch legen und von einer Lichtquelle beleuchtet ablaufen lassen. Aber ohne die Konstellation der Gerätschaften des Kinos, die in Betrieb gehalten werden müssen, ist Film nicht mehr herbeiführbar. Wir können uns eine Situation vorstellen, in der Filmarchive überlebt ha-
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ben, aber die Bedingungen der Vorführung nicht mehr gewährleistet sind – dann wäre meines Erachtens Film gestorben, selbst wenn abertausende Filme in den Dosen liegen. Für mich gehört das System der Aufführung also ganz klar zum Archiv dazu. Diese Haltung kann man bis zu einem extremen Ideal – nicht einer falschen, aber doch einer extremen Vorstellung – ausweiten. Wenn ein Land oder eine Stadt sagt, dass es ein Filmmuseum braucht, dann ist daran die Forderung zu knüpfen, dass eine Vielzahl von Aufführungssituationen geschaffen und die technischen Geräte bereitgestellt, ja im Bedarfsfall sogar nachgebaut werden, um die unterschiedlichen Formate aufzuführen und damit die unterschiedlichen Epochen der Existenz des Films verständlich zu machen. Formate wie 8mm oder andere Schmalfilmformate, die weltweit fast nicht mehr aufgeführt werden können, aber vor wenigen Jahrzehnten noch populär waren, kann man heute im Grunde nicht mehr richtig verstehen. Auch wenn man einen 16mm-Film von Kenneth Anger oder einen Gangsterfilm der 30er Jahre in einem auf dem neusten Stand der Technik ausgestatteten Kino oder Filmmuseum mittels Dolby Stereo, Digital-Projektion und auf riesiger Leinwand vorführt, werden Menschen diese Filme zwar sehen, aber nicht wirklich in ihrer historischen Bedeutung verstehen können: Sie sind einfach nicht für ein solches Setting produziert, und sie werden erst verständlich in dem Setting, für das sie produziert wurden. Ich bin mir natürlich bewusst, dass die Forderung, jeden Film in seinem Setting aufzuführen, sehr weit geht. Ich kenne keine Institution, die über eine so breite Palette von Settings verfügt. Ich möchte aber trotzdem das Hauptaugenmerk auf diese Settings und diese räumlichen Konstellationen legen und festhalten, dass nur dann, wenn alles zusammenkommt, eigentlich Film passiert. In diesem Sinne meinte ich, dass die Archivierung, also das Lagern, Befunden und Katalogisieren, nur einen Teil der Arbeit des Filmarchivs/Filmmuseums ausmacht. Das klingt jetzt vielleicht so, als sei ich ein kinohistorischer TechnikAficionado. Das bin ich nicht. Ich kenne mich in der Technikgeschichte der Projektoren und Kameras nicht unbedingt im Detail aus. Aber es erscheint mir aus der Perspektive des Mediums unverzichtbar, so zu denken. Die parafilmischen technischen Objekte, die Kameras, Projektoren, Schneidetische etc., sollten bewahrt und gepflegt werden. Aber es genügt nicht, sie – wie dies in manchen Filmmuseen geschieht – einfach in eine Vitrine zu stellen. Mit stillstehenden Projektoren kann der Opa dem Enkel nicht erklären, wie es einmal war mit dem Film. Man soll sie als lebendige, in Betrieb befindliche Geräte bewahren und Filme damit zur Aufführung bringen, egal, wie komplex und herausfordernd diese Aufgabe auch sein mag. Ein solches auf die Aufführung, auf den Film als Akt gerichtetes Verständnis ist mir näher
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als das fetischisierende Ausstellen technischer Para-Objekte des Films in herkömmlichen Museumsräumen. Es herrscht in diesem Feld denn auch Begriffsverwirrung. Denkt man beim Begriff des Filmmuseums zum einen an das Filmmuseum in Berlin und zum anderen an die Wiener Institution, dann hat man es doch mit zwei ganz unterschiedlichen Konzepten zu tun. In Berlin gibt es den Schminkkoffer von Marlene Dietrich, und bei euch gibt es Marlene Dietrich in einem Film von Josef von Sternberg. Deine Position ist natürlich eine sehr dezidierte. Sie erinnert an einen Satz, den Raymond Bellour vor kurzem geschrieben hat. Die Frage, ob das, was außerhalb des Kinoraums an Filmen zirkuliert – im Fernsehen, auf Bildschirmen, auf Mobiltelefonen –, überhaupt noch Kino sei, beantwortet er unmissverständlich mit «nein». Kino ist Film nur im Kino. Es gibt, so Bellour, ein «privilège absolu du dispositif», ein absolutes Privileg des (Kino-)Dispositivs.1 Deine Position ist insofern etwas weicher als die von Bellour, weil Film in deinem Verständnis eine Vielzahl möglicher Dispositive mitmeint, solange eben nur das dem jeweiligen Film adäquate Setting den Rahmen der Aufführung bildet (doch eine Aufführung muss es sein). Damit konturiert sich aber auch das Verhältnis von Archiv und Veröffentlichung noch einmal stärker. Es kann nicht nur darum gehen, die Bestände des Archivs auf irgendeine Weise zugänglich zu machen, und sei es als Videoclips auf YouTube. Vielmehr geht es darum, den Film in seinem Setting zur Aufführung zu bringen. Dies steht im schroffen Gegensatz zu einem weiteren, derzeit sehr beliebten – um nicht zu sagen: politisch dominanten – Konzept, das in der Begriffstriade ‹access, content› und ‹user› zum Ausdruck kommt. ‹Access/content/user› meint das Ideal einer freien Zugänglichkeit von Archivmaterialien, vorzugsweise auf Online-Plattformen. Darüber hast du vor einiger Zeit eine Polemik mit deinem Archivkollegen Nicola Mazzanti ausgetragen. Mazzanti hielt auf dem Jahreskongress der FIAF in Ljubljana einen Vortrag, in dem er eine Utopie des Onlinearchivs entwarf, die um den freien, demokratischen Zugang zum content Film kreiste. Du hast diese Utopie als «neoliberale Markt-Ideologie» kritisiert (vgl. Horwath 2005; Mazzanti 2005).2 Dabei hast du nicht nur das Dispositiv gegen sein Aufgehen und Verschwinden in einer Welt digitaler Plattformen verteidigt, sondern auch, und darum geht es mir, eine Rolle für den Filmkurator reklamiert, die durch keinen Algorithmus substituierbar ist. Zu deiner Definition von Film gehört mithin nicht nur die Verknüpfung des Ortes Kino mit dem Ereignis der Aufführung, sondern eine spezifische Instanz der Vermittlung. Vielleicht kannst du diese in ihrer Funktion noch genauer umreißen. 1 2
Vgl. den Beitrag von Raymond Bellour in diesem Band. Beide publizierten Beiträge können heruntergeladen werden unter [http://www.fiafnet.org/pdf/uk/fiaf70.pdf].
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Eigentlich ging es bei unserem ‹Streit› nicht unbedingt um den Kurator, sondern direkt um das Museum. Mein Text war ursprünglich eine kleine Rede im Rahmen des FIAF-Kongresses und hieß «The Market vs. The Museum». In meinem Verständnis ist das Museum ein kritisches Werkzeug, das Aufgaben hat, die der Markt nicht erledigen kann. Der Genauigkeit halber muss man in Erinnerung rufen, dass Mazzanti in seiner Replik durchaus keine unsympathische Meinung vertreten hat. Ihm ging es ganz zentral um die künftige Verfügbarkeit von Positionen, die heute marginal sind. Er hat das Beispiel von Chantal Akerman angeführt und gesagt, dass wir (und damit meinte er eine bestimmte Generation von Filmkennern) mit einer Filmclubszene aufgewachsen sind, welche etwa Jeanne Dielman, ein Schlüsselwerk Akermans, an vielen Orten verfügbar machen konnte. Es gab viele Institutionen und Orte und Verleiher, zum Beispiel auch studentische Filminitiativen, und Wechselwirkungen zwischen ihnen, die dafür sorgten, dass Akermans Film intensiv zirkulierte und ein größeres Publikum fand. Diese Netzwerke, meinte Mazzanti, seien nun weggebrochen, und es wäre fatal, wenn wir die Möglichkeiten, die uns digitale Plattformen bieten, nicht nutzen würden, um solche Filme wieder sichtbar zu machen. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Ich finde es ja auch wichtig zu verhindern, dass Akermans Werk verschwindet, nur weil es ein bestimmtes Netzwerk an Institutionen nicht mehr gibt. Ich glaube allerdings, dass ein Teil ihres Werks verschwände, wenn es nur auf diese Art und Weise existierte. Ich habe überhaupt nichts dagegen, Filme in andere Dispositive zu verlagern – solange man die Möglichkeit erhält, sie in ihrem ursprünglichen Setting aufzuführen. Ich vertrete also eine weniger harte Position als Bellour, wenn man so will. Man muss sich als Filmarchivar mit den Logiken der Märkte auseinandersetzen und verstehen, auf welche Weisen Film mutiert und in welche Richtung Film vorangeht. Das ist sehr spannend, und es bringt neue Wissensformen mit sich. Aber mein Plädoyer lautet, dass Akermans Werk – um bei dem Beispiel zu bleiben – in der Form, in der es gedacht ist, erhalten bleibt. Man könnte das kulturwissenschaftlich erweitern und sagen, dass jene technisch-räumliche-gesellschaftliche Situation, in der Jeanne Dielman entstand, für das Verständnis des Films unabdingbar sei. Eine Gesellschaft hat die Pflicht, Museen zu erschaffen, in denen diese Wirkungen nachvollziehbar bleiben. Der Kern davon ist das ursprüngliche mediale Dispositiv. Ich habe Mazzanti primär deshalb kritisiert, weil er mir im Zuge diverser FIAF-Panels und Archivdiskussionen als Musterbeispiel für einen Sprachgebrauch auffiel, der sich schnell verbreitet hat, ein Sprachgebrauch, wie mir heute bewusst ist, der eigentlich aus dem Bibliothekswe-
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sen kommt. Ich habe damals die Begriffe content, user und access herausgegriffen und befragt und dabei festgestellt, dass alle drei ‹neoliberale› Umschreibungen älterer Begriffe sind, welche eher aus der Museumswelt stammen, so zum Beispiel «Artefakt» und «Besucher». Meine Kritik zielte also auf die eingangs schon skizzierte und kritisierte Rhetorik der Digitalisierungseuphorie. Wie dominant diese Rhetorik mittlerweile ist, sieht man an der Kulturpolitik vieler europäischer Regierungen und der Europäischen Union, bei der Viviane Reding als EU-Kommissarin federführend für Kommunikations- und Medienfragen zuständig ist. Frau Reding teilt mit vielen europäischen Regierungen einen geradezu unglaublichen Glauben an content. Hollywood benutzt für seine Filme seit vielen Jahren den Begriff product. Das ist nachvollziehbar. Es sind Geschäftsmenschen, warum sollten sie nicht product sagen? Filmkenner und Filmliebhaber haben früher allerdings Hollywood dafür beschimpft. Doch das Wort content ist noch um vieles fieser, wie sich etwa an der Entwicklung der Nationalbibliotheken und Filmarchive in Skandinavien zeigt. Dort werden die beiden Bereiche sukzessive zusammengeführt und Buch und Film dabei auf gleicher Ebene behandelt – oder vielmehr werden Buch und Film gleichermaßen reduziert auf ihren Informationsgehalt. Es ist mit content demnach fast wie mit Wasser: Content kommt raus, wenn man den Hahn aufdreht. Wie ich schon skizziert habe, verstehe ich Film nie losgelöst von dem Dispositiv seiner Aufführung. Daher gibt es für mich content nicht, oder vielmehr kann Film niemals nur content sein. Die content-Ideologie findet ihren deutlichsten Ausdruck in kulturpolitischer Hinsicht in dem Projekt «Europeana» der Europäischen Union, in dem der ganze kulturelle Output Europas, angefangen mit der Antike, in digitaler Form zugänglich gemacht werden soll – ist ja schließlich alles content. Das ist der Hintergrund, vor dem unsere Debatte damals stattfand. Es gibt aber durchaus auseinanderstrebende Entwicklungen. Ausgerechnet in Hollywood stößt die content-Ideologie nämlich an ihre Grenzen. Man könnte ja denken, dass dort nur der kommerzielle Aspekt zählt. Nun hat aber die Academy of Motion Picture Arts and Sciences auf Betreiben ihres Filmarchivs eine Befragung unter wichtigen Entscheidungsträgern der Filmindustrie durchgeführt. Das Ergebnis lautete, dass es kein Vertrauen in die Digitalisierung gibt. Vielmehr existierte ein Konsens, dass es selbst bei Filmen, die mit Digitalkameras gedreht wurden, ratsam sei, sie auf 35mm auszuspielen, um ihre Aufbewahrung auf möglichst lange Sicht zu sichern. Natürlich spielen dabei ökonomische Überlegungen eine Rolle. Die Hollywood-Industrie ist eine Copyright-Industrie; sie will ihre Rechtsbestände auch noch in fünfzig Jahren verwerten können. Dennoch ist bemerkenswert, dass die progressistische Haltung zum content sich ge-
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nau in Hollywood nicht durchsetzt, sondern vielmehr eine – im positiven Sinne – durchaus konservative Sichtweise auf Film. In den ‹fortschrittlichen› Ländern Nordeuropas findet diese Nivellierung jedoch statt. Als der Film plötzlich auf Videokassette und auf DVD auftauchte, wurde er in der Form des Buches vorstellbar: als materialer Datenträger mit einem bestimmten Informationsgehalt, der beliebig vervielfältigt werden kann. Entsprechend hat in den letzten dreißig Jahren der Ereignischarakter des Films an Evidenz verloren. Man hat Film früher nur unter der Form des Ereignisses wahrgenommen. Heute haben Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation Film nur mit dem Aufdrehen des Wasserhahns ‹Fernsehgerät› oder ‹Internet› verbinden oder durch Abspielen der buchförmigen DVD kennen, einen anderen Bezug dazu. Es wundert mich daher nicht, dass es den skandinavischen Nationalbibliotheken gelungen ist, ihre Kultusminister davon zu überzeugen, dass man Film und Buch auf derselben Ebene betrachten sollte, derjenigen des content. Wie unterscheidet sich der am Film und seiner Aufführung orientierte Kurator vom content-fixierten Bibliothekar? Es gibt auch hier eine Begriffsunklarheit. Der Begriff des Kurators ist in Mode, und der Kurator selbst ist gerade in den letzten vierzig Jahren eine dominante Figur im Kunstbetrieb geworden. Studierende – dort wo ich Einblick habe, in Wien – verstehen darunter mehrheitlich die Person, die nach eigenem Geschmack, Gutdünken, Wissen und Kenntnissen Ausstellungen und Programme zusammenstellt. In der zeitgenössischen Kultur ist das ja schon fast eine existenzielle Bedingung: In jeden Einzelnen von uns ist das Kuratorendasein eingedrungen. Ich spitze jetzt etwas zu: Jedes Individuum ist Kurator seines eigenen Daseins. Die Art und Weise, wie man mittels Musik- oder Filmauswahl sein Selbst inszeniert, hat für viele etwas Kuratorisches. Und genau dieses Verständnis des Berufs ist dominant geworden. Man stellt sich vielleicht auch jemanden vor, der um die Welt reist und hier und dort etwas sieht, die ganzen Dinge dann zusammenpackt und in einer Ausstellung herzeigt. Aus dem englischen Sprachgebrauch allerdings kommt ein anderes Verständnis des curator, das ganz eng mit einer konkreten Sammlung an einer konkreten Institution verwoben ist. Curatorship meint Tätigkeiten, die jemandem in einem Museum übertragen werden und die einen Bezug zu dem Korpus der Dinge haben, welche das Museum über einen bestimmten Zeitraum akquiriert hat. Die Tätigkeit des curator in diesem Sinn wird als eine interpretatorische verstanden, in Bezug auf eine bereits existente Sammlung, und die jeweilige Lesart und Interpretation finden ihren
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Ausdruck in einer Ausstellung oder einer Filmreihe. Das ist ein Verständnis der Rolle des Kurators, das wir im deutschsprachigen Raum weniger haben – wir sagen etwa «Kustode» dazu. Aber der Kustode wird meistens nicht als jener identifiziert, der all die tollen Ausstellungen macht, sondern als der, der im staubigen Keller aufpasst, dass der Statue nichts passiert. Ich fände es interessant und wertvoll, diesen aus dem anglophonen Bereich kommenden Begriffshof hierzulande zu stärken, auch wenn mir durchaus bewusst ist, dass nicht jeder, der kuratorisch tätig ist, die Möglichkeit haben kann, eine Sammlung zu betreuen. Der Begriff des Kurators, der als Interpret einer Sammlung agiert, hat, so meine ich, einen wichtigen Vorteil: Die Werke werden nicht so schnell zum content, wenn man von diesem Verständnis ausgeht. Die Problematik des Begriffs tritt dann zutage, wenn es um freie kuratorische Arbeit geht und um das konkrete Problem, für eine Ausstellung die Filme im Original zu beschaffen, nachdem man sie zuerst auf DVD oder, wie heute nicht selten der Fall, auf YouTube gesichtet hat. Ein Kurator in dieser Situation hat vielleicht keine Ahnung davon, wo man den Film herbekommt, oder schlimmer noch: Er geht ganz selbstverständlich davon aus, dass man sich einen Film, den man auf DVD oder YouTube gesehen hat, irgendwo in einer 35mm-Kopie ausleihen kann. Doch das ist oft nicht der Fall. Ich bin nun seit acht Jahren in einem Museum und war vorher schon kuratorisch tätig. Ich fand es immer interessant zu wissen, woher der Film nun kommt und wie er danach auf die DVD gelangt. Wenn auf einer DVD digitally remastered oder digitally restored steht und daneben sogar noch der Name eines Archivs, heißt das dann auch, dass dieses Archiv die Filmrollen hat und ausleiht? Das heißt es nicht immer. Dieser ganze Bereich, der auch das Wissen um die Quellen, die Orte und die institutionellen Konstellationen einschließt, in denen Filme existieren, ist wichtig, wenn man über Kuratorenschaft redet. Peter Kubelka hat diese beiden Bereiche in exemplarischer Weise zusammengeführt. Ich fand es großartig, dass er vom Filmmuseum, einer von der Republik Österreich und der Stadt Wien subventionierten Institution, gefordert hat, es müsse einerseits das Äquivalent zum Kunsthistorischen Museum sein, ein kunsthistorisches Museum für Film eben und nicht für die Kunst bis 1800, und gleichzeitig müsse es ein poetisches und polemisches Haus sein. Das konnte er sagen, weil er zugleich avantgardistischer Filmemacher und Museumsgründer war. Er hat Archäologie und Avantgarde in einem Feld zusammen gebracht, und diese Verbindung hat unglaublich explosiv gewirkt.
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Das heutige Verständnis des Kurators geht wesentlich zurück auf Harald Szeemann, den die einflussreiche Zeitschrift Art Forum in einem Nachruf aus dem Jahr 2005 als «arguably the most influential curator of all time» bezeichnete. Szeemann hat in den 1960er Jahren in der Kunsthalle Bern Ausstellungen eingerichtet, die aufgrund ihrer Konzeption berühmt wurden und ihn damit ebenso berühmt gemacht haben wie die Künstler, die er ausstellte – so die Ausstellung «art brut – insania pingens» von 1963, die Bilder von Geisteskranken zeigte, und vor allem «When Attitudes Become Form» von 1969, die Mutter aller zeitgenössischen Konzeptausstellungen. Diese Entwicklung läuft im Übrigen parallel mit der Geschichte des Regietheaters, das in gewisser Weise mit Max Reinhardt einsetzt und in den 1970er Jahren dominant wird, eine Theaterkultur, bei der die Inszenierung und der Regisseur plötzlich wichtiger erscheinen als Stück und Autor. «Kurator» in diesem Sinne meint also die Rolle dessen, der Werke in Ereignisse einbettet, die er schafft und die ihm zugerechnet werden. Ein Filmkurator wäre entsprechend jemand, der Programme schafft, die über und neben den Werken stehen und nicht einfach den Kanon abspielen. Der Begriff von ‹curatorship›, den du zusammen mit Paolo Cherchi Usai, David Francis und Michael Loebenstein auch unlängst (2008) in einem gemeinsamen Buch entwickelt hast, ist damit verglichen ein gewissermaßen konservativer. Vielleicht liegt aber genau darin seine Sprengkraft. Weil dieser Begriff etwas beinhaltet, das als Kraft in jedem Archiv wohnt und nicht zu unterschätzen ist. Ein Archiv ist immer eine unbekannte Welt. Ein Kurator macht dort Entdeckungen und bringt dadurch Bewegung ins eigene Denken und in das allgemeine Denken von Filmgeschichte in der Öffentlichkeit. Das ist etwas, was der andere Typus von Kurator nicht so leicht machen kann. Das Archiv wirft dir massenhaft Dinge zu, die in keinem Kanon und in keinem etablierten filmkunstgeschichtlichen Rahmen existieren. Das ist das Polemische: dass man vom Archiv immer aufs Neue mit fragmentarischem und nicht einschätzbarem Material konfrontiert wird. Material, welches nicht mit einer Bildunterschrift – und damit einer Diskursunterschrift – daherkommt. Wenn der Kurator nun eine Freiheit im Denken hat und diese Konfrontation annimmt, können die avanciertesten Programme entstehen. Aber auch für Künstler ist in den letzten zwanzig Jahren die Arbeit mit nicht-kanonischen Werken im Archiv ein wichtiges Feld geworden. Viele großartige Filmkünstler arbeiten heute so – man denke an Peter Delpeuts Lyrisch Nitraat von 1991 oder an die Film-Ist-Reihe von Gustav Deutsch, die 1995 begonnen wurde und Material aus unterschiedlichen Archiven verarbeitet, von denen Deutsch mitunter auch als artist in residence eingeladen wurde, um mit ihren Beständen zu arbeiten. Die Kraft des Archivs wirkt in viele Richtungen.
Vinzenz Hediger im Gespräch mit Alexander Horwath 135
Exemplarisch für die Freisetzung dieser Kraft des Archivs ist sicherlich auch das Nederlands Filmmuseum (jüngst umbenannt in «Eye Film Institute Netherlands»), wo in den frühen 90er Jahren Eric de Kuyper, Peter Delpeut, Nico de Klerk und eine Reihe weiterer Leute systematisch das Ausschussmaterial, die sogenannten ‹bits and pieces›, gesichtet und zu Programmen zusammengestellt haben. Was bekanntlich auch Auswirkungen auf die Filmwissenschaft hatte. Nicht zuletzt der Arbeit an den bits and pieces und den bis dahin unbeachteten Amsterdamer Sammlungen zum frühen Kino ist geschuldet, dass das Kino vor 1914, das in der kanonischen Geschichtsschreibung bestenfalls als primitive Vorform des Spielfilms vorkam, überhaupt wissenschaftlich beleuchtet wurde. So etwas passiert erst in einer bestimmten Konstellation von Archiven und Menschen, wie etwa Peter Delpeut und Eric de Kuyper, die ja auch als Filmemacher in Erscheinung getreten sind. Das sind Personen, die auf das vormals unbekannte Material mit einem poetischen Blick schauen können. Mich interessiert, welche Rolle im poetisch-polemischen Filmmuseum, wie du es vertrittst, der Kanon spielt. Kubelka und Jonas Mekas haben ja zusammen mit einigen Kollegen in den Jahren 1970–1975 mit dem «Essential Cinema»-Programm für die Anthology Film Archives eine Art Standardprogramm für ein Filmmuseum zusammengestellt: 110 Programme mit 330 Titeln, ein Kanon von Filmen, die man gesehen haben muss, ein «ambitious attempt to define the art of cinema»; ein Kanon aber auch, der etwas quer liegt zu den Kanons der großen Kinematheken.3 Henri Langlois, der Gründer der Cinémathèque française, sammelte die großen Regisseure der großen Kino-Nationen, und von diesen alles, auch die missratenen Filme. Langlois’ Kanon war auch derjenige der Cahiers du cinéma, der ohne Zweifel zum folgenreichsten der Filmgeschichte geworden ist. Dieser Kanon bestimmt heutzutage auch die Wahrnehmung des Kinos im Kunstbetrieb und die Debatte in der Filmphilosophie. Installationskünstler arbeiten vorzugweise mit Filmausschnitten von John Ford, Alfred Hitchcock und Roberto Rossellini, und die Liste der Beispiele in Gilles Deleuzes einflussreichen Kinobüchern ist deckungsgleich mit dem Cahiers-Kanon. Die Programmpolitik der Filmmuseen ist mithin ein zentraler Faktor der Filmkultur, bis in die Filmwissenschaft hinein. Das gilt so, wie eben skizziert, auch noch für Archive wie das Nederlands Filmmuseum, die auf das anti-kanonische Potenzial setzen. Wo stehen wir jetzt? Wie programmierst du? Welche Rolle spielt der Kanon für dich bei der Gestaltung von Programmen? Ich glaube, dass unsere Sicht auf die 50er und 60er Jahre ein bisschen verkürzt ist. Schon damals gab es nicht nur einen Kanon. Es kommt außerdem 3
Vgl. den Beitrag von Benoît Turquety in diesem Band.
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sehr darauf an, wie man diesen Begriff verstehen möchte. Es gab parallel immer differenzierte Fügungen, welche man auch Kanons nennen könnte, und genau deshalb gibt es auch den einen nicht. Was mich eher interessiert, ist das prozessuale Äquivalent dahinter: die Kanonisierung. Man kann Aktivitätsfelder benennen, in denen dauernd kanonisiert wird. Als ich gerade Chantal Akerman erwähnte, habe ich eine Entscheidung getroffen: nämlich von ihr zu sprechen und nicht von Philippe Garrel. Das war in mikroskopisch kleiner Form ein Beitrag zur Kanonisierung. Heutzutage wird Film auf viel mehr Ebenen, Plattformen und Formaten diskursfähig, und so etwas wie Kanonisierung und «Festigung einer Auswahl» passiert ständig. Wenn man sich zum Beispiel Sight & Sound anschaut – eine der renommiertesten Filmzeitschriften überhaupt – sieht man, dass sie 1952 zum ersten Mal von ihren Kritikern die besten Filme hat wählen lassen. 1954 kam dann Truffauts Artikel «Une certaine tendance dans le cinéma français» heraus, in dem er «Papas Kino» attackierte und damit einen der Anstöße für die Nouvelle vague lieferte. Die beiden Vorstellungen von Film, die der Bestenliste von Sight & Sound und dem Ansatz von Truffaut jeweils zugrundeliegen, ergeben durchaus verschiedene Kanons. Als das Fernsehen in den 50er Jahren angefangen hat, alte Filme auszustrahlen, hat das die Wahrnehmung von Filmgeschichte erst recht verändert: Man hat plötzlich ganz andere Filmklassiker gesehen. Wir haben es ständig mit dem Willen und den Interessen verschiedener Gruppierungen zu tun, die diskursprägend sein wollen – meist explizit und ausdrücklich. Egal, ob es sich um TV-Sender, Filmmuseen, Zeitschriften und einzelne Kritiker, Filmbuchverlage oder, wie heutzutage, den Kunstbetrieb handelt. Die Criterion Collection zum Beispiel, eines der bekanntesten DVD-Labels, wird fast nie unter dem Gesichtspunkt des Kanons diskutiert. Aber viele Leute fassen alles, was dort erscheint, als ‹kanonisch› auf. Diese Prozesse möchte ich nicht wegschieben – ganz im Gegenteil, ich finde sie hoch spannend. Man sollte sie nur einer genauen Lektüre unterziehen und danach befragen, was die historische Konstellation ist, die diese Kanons hervorbringt; welche Machtfragen, Motivlagen, Diskurse rund um sie existieren. Für jemanden, der in einem Filmmuseum arbeitet, geht es in der Auseinandersetzung mit diesem Problemfeld darum, einerseits darüber Bescheid zu wissen und andererseits diese Prozesse nicht zu marginalisieren. Was die Holländer mit dem frühen Kino oder Mekas und Kubelka in den Anthology Film Archives mit dem Avantgardefilm gemacht haben, also einen Gegen-Kanon aufzustellen, kann schnell, zumindest in einem bestimmten Bereich, selbst kanonisch werden – man entkommt dem Problem also nicht. Es gibt viele Filme, die meinem Verständnis nach viel zu
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unbekannt sind. Diese versuche ich in unterschiedlichsten Konstellationen zu zeigen und damit – in meinem kleinen Einflussbereich – ‹kanonisch› zu machen. Man ist zwangsläufig Teil dieses Prozesses. Peter Kubelka hat mit der Arbeit am «Essential Cinema» in New York, dann mit seiner ähnlich gelagerten, auf Frankreich adaptierten Gründungssammlung für das Centre Pompidou und zuletzt mit dem 1996 realisierten Zyklischen Programm Was ist Film im Österreichischen Filmmuseum dreimal – in Form einer kuratorischen Arbeit – seine Sicht auf die Geschichte und die Essenz des Films artikuliert. Was den zuletzt genannten Zyklus betrifft, stellte er mich, als mein Vorgänger, beim Amtsantritt also implizit vor eine Wahl: Entweder konnte ich sagen: «Ja, das ist alte Schule und in Ordnung so, das führe ich einfach so weiter», oder «Nein, diese Meinung von ‹Essential Cinema› teile ich überhaupt nicht, das zeige ich nicht mehr», oder «Ja, ich mache damit weiter, versuche aber, es so zu kontextualisieren, dass dieses ‹Essential Cinema› als Statement einer bestimmten Person und Ära deutlich wird.» Ich habe die letzte Option gewählt; wir führen den Zyklus Was ist Film weiter, haben Texte und zuletzt auch ein Buch dazu publiziert. Zugleich haben wir eine anders gelagerte Reihe namens Die Utopie Film daneben gestellt, eine Art Gegenstück. Nichtsdestrotz übernehme ich mit Was ist Film auch eine polemische Sicht auf das Medium. In Kubelkas «Essential Cinema» ist der Avantgardefilm dominant; der narrativ-abendfüllende Film oder der Dokumentarfilm sind weniger stark vertreten. Das ist für sich genommen absolut in Ordnung, aber ich möchte mich nicht darauf beschränken. Zugleich möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass jeder Archiv- und Museumsleiter seinen eigenen Kanon bildet, der dann, wenn er in Rente geht, durch einen anderen Kanon abgelöst wird. Meiner Vorstellung nach sollte man in einer historischen Perspektive immer reflektieren, wo und wie solche Verdichtungen stattfinden. Dies ist ein sehr reiches Feld für das Studium von Filmgeschichte. In einem Filmmuseum kann man sich bemühen, damit praktisch umzugehen. Ich finde es geradezu kindisch, wenn man mit antikanonischer Emphase fordert, es solle keine Hitchcock- oder Antonioni-Retrospektiven mehr geben, weil wir davon schon genug hatten, und man solle doch lieber die «Wasweißich»-Retrospektive machen. Die Werke von Hitchcock und Antonioni haben sich zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Konstellationen bewährt. Es lohnt sich daher, alle zehn Jahre eine Retrospektive dieser Art zu veranstalten. Die rezenteren und weniger kanonischen Diskurse – in unserem Falle etwa die Untersuchungen zum Amateurfilm, die uns Kubelka in die Wiege gelegt hat –, können zeitgleich ebenso bearbeitet werden. Man sollte natürlich nicht-kanonische Ideen
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und Perspektiven ins Programm einführen. Das Ziel ist immer, ein möglichst breites und möglichst reiches Angebot an Filmen und Ausstellungen mit vielen Reibungsflächen zusammenzustellen, welches zukünftigen Generationen möglichst viele Türen zum Eintritt in die Materie bietet. Bei allem Bemühen um die Aufführung von Filmen in ihrem ursprünglichen Setting gehört zu euren Aktivitäten auch die Edition auf DVD. Ein Beispiel dafür ist die Herausgabe von Dziga Vertovs ENTUZIAZM in zwei Fassungen auf DVD sowie das «Digital Formalism»-Projekt, ebenfalls zu Vertov. Wie geht das zusammen mit deiner Emphase der Aufführungspraktiken? Der Akt der Aufführung sollte tatsächlich immer etwas über das Dispositiv erzählen, in dem und für das der Film entstanden ist. Das Filmmuseum hat aber trotzdem vor fünf Jahren angefangen, DVDs zu publizieren. Es gehört zur Pflicht eines jeden Kurators, sich mit Vermittlungssituationen wie der DVD oder dem bewegten Bild auf einer Webseite zu beschäftigen. Die Frage ist natürlich, wie weit man geht: Wenn ich mir Filme auf dem Handy vorstelle, kann ich wenig Bezug dazu entwickeln… Wir betreiben das ganze Jahr über Filmvermittlung mit Schulklassen und zeigen die Filme natürlich in einer Kinosituation. Ein Begriff, der mir dort sehr wichtig ist, heißt «Unterscheidungsvermögen». Es geht mir dabei nicht darum, diese ‹Neodispositive› zu verdammen oder für unnütz zu halten, sondern wir wollen das Unterscheidungsvermögen schärfen; im Endeffekt läuft das mediale nämlich auch auf ein gesellschaftliches Unterscheidungsvermögen hinaus. Das Wissen um Unterschiede ist Basis einer jeden Vermittlungspraxis. Wir versuchen immer, wenn wir Programme machen und Gäste empfangen, den Blick der Besucher auf den Akt der Vorführung zu lenken. Es gibt von Roland Barthes diesen schönen Text «Beim Verlassen des Kinos», in dem jene Aspekte dieses performativen Ereignisses wichtig werden, die über die filmische Illusion hinausgehen. Man sollte daher alle Medien und Formen nutzen, um das Unterscheidungsvermögen zu schärfen, und festhalten, dass nicht überall derselbe content fließt. Es klingt paradox, aber je ubiquitärer die filmischen Bilder in unserem Leben werden, desto leichter wird es das Filmmuseum haben, sich zu profilieren. Viele Leute glauben, dass der Film stirbt. Ich fürchte mich überhaupt nicht davor. Wenn es geschieht, geschieht es. Die Laterna magica ist auch ‹gestorben›, was mich nicht davon abhält, sie für ein großartiges kulturelles Artefakt zu halten und mich dafür einzusetzen, dass sie – auch als Praxis, nicht nur als Objekt – bewahrt wird. Aber es ist so: Niemand will hören, dass der Film vielleicht einmal eine abgeschlossene kulturelle Praxis sein wird. Umso
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weiter wir voranschreiten, umso klarer tritt er in meinem Verständnis wieder als etwas Spezifisches hervor – als historische Praxis. Je mehr das Bild vom Digitalen heimgesucht wird, desto deutlicher wird der Film als etwas Anderes profiliert und erkennbar. Wieso konnte man sich so lange nicht vorstellen, dass man Filmmuseen braucht? Weil man sowieso überall Kinos hatte. Das Konzept des Österreichischen Filmmuseums – dass ein Museum ein Kino und ein Kino ein Museum sein kann – war kulturpolitisch für lange Zeit viel schwerer durchsetzbar als die Berliner oder Frankfurter Variante mit Vitrinen und parafilmischen Artefakten, gerade weil die Kinokultur florierte und nicht einsichtig war, wozu man ein Museum als Kino und ein Kino als Museum braucht. Wenn aber Filmmuseen – und ich bin davon überzeugt, dass es irgendwann so weit ist – die einzigen Orte sind, wo man Film und Kino als Einheit erleben kann, das heißt so erleben kann, wie es hundert Jahre lang von den Filmmachern gemeint war, werden sich viele Probleme der politischen Rechtfertigung von Filmmuseen nicht mehr stellen.
Literatur Cherchi Usai, Paolo (2006) «The Demise of Digital (Print #1)». In: Film Quarterly 59,3; S. 3. – /Francis, David/Horwath, Alexander/Loebenstein, Michael (2008) Film Curatorship. Archives, Museums, and the Digital Marketplace. Wien: Synema. Grissemann, Stefan/Horwath, Alexander/Schlagnitweit, Regina (2010) Was ist Film. Peter Kubelkas Zyklisches Programm im Österreichischen Filmmuseum. Wien: Synema. Horwath, Alexander (2005) «The Market vs. The Museum». In: Journal of Film Preservation 70,1; S. 5–9 [http://www.fiafnet.org/pdf/uk/fiaf70.pdf]. Mazzanti, Nicola (2005) «Response to Alexander Horwath». In: Journal of Film Preservation 70,1; S. 10–16 [http://www.fiafnet.org/pdf/uk/fiaf70.pdf]. Truffaut, François (1954) «Une certaine tendance du cinéma français». In: Cahiers du cinéma 31.
Alexandra Schneider / Vinzenz Hediger
Vom Kanon zum Netzwerk Hindi-Filme und Gebrauchsfilme als Gegenstände des Wissens einer post-kinematografischen Filmkultur
C’est une destinée merveilleuse, et presque effrayante, que tant de grands œuvres, tant d’œuvres de grands hommes et de si grand hommes puissent recevoir encore un accomplissement, un achèvement, un couronnement de nous, mon pauvre ami, de notre lecture.1 Charles Péguy, Clio.
Die Geisteswissenschaften führen ein spannungsvolles Leben zwischen der noblen Aufgabe, Traditionen zu pflegen, und der Erwartung, dass auch sie, wie alle Wissenschaften, Neues produzieren. Geisteswissenschaftler beschreiben, analysieren, übersetzen und bewahren kulturelle Objekte, in der Regel Texte, Bilder und andere mediale Artefakte. Sie blicken in die Vergangenheit, übertragen deren Spuren in die Gegenwart und zeichnen sie auf für eine offene Zukunft. Ihre Methoden haben Wurzeln, die Jahrhunderte zurückreichen, so sehr die gerade gängigen akademischen Moden auch etwas anderes zu suggerieren scheinen: Auch anti-hermeneutische Ansätze produzieren Lesarten und bewegen sich damit noch im Horziont eines Vorhabens, Texten Sinn abzugewinnen oder ihrem wahren Sinn (oder Un-Sinn) auf die Spur zu kommen. Zugleich sind die Geisteswissenschaften, gerade als historische Disziplinen, eine genuin moderne Erscheinung. Ihren Auftrag der Traditionspflege können sie überhapt erst erhalten und wahrnehmen, wenn es so etwas wie ‹Geschichte› und Geschichtsbewusstsein gibt. Die Etablierung 1
(Es ist ein wunderbares und fast furchteinflössendes Schicksal, dass so vielen großen Werken großer Männer, und von so großen Männern, eine weitere Errungenschaft, eine Vervollkommnung, ja Krönung durch uns zuteil werden kann, mein Freund, durch unsere Lektüre; Übers. V.H.).
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des Kollektivsingulars ‹Geschichte› geht zugleich, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, mit der Entfaltung der modernen industriellen Dynamik von Innovation und Obsoleszenz einher, der Dynamik der «kreativen Zerstörung», wie es Werner Sombart mit einer Fomulierung gesagt hat, die Joseph Schumpeter in seinem Buch Capitalism, Socialism and Democracy 1943 wieder aufgreift und weiter ausarbeitet. Unter den Bedingungen der kreativen Zerstörung werden Traditionen in einem emphatischen Sinne historisch: Sie sind nicht mehr vital und schreiben sich nicht mehr von Generation zu Generation wie von selbst fort; vielmehr existieren sie nurmehr im Modus der Konservierung. Daher rührt der Auftrag der Geisteswissenschaften, zumindest wenn man ihn so versteht, wie er etwa vom Philosophen Joachim Ritter zu Beginn der 1960er Jahre mit seiner Kompensationsthese bestimmt wurde: Während die Naturwissenschaften vor allem dazu beitragen, die Dynamik von Innovation und Obsoleszenz zu unterstützen, fällt den Geisteswissenschaften die Funktion zu, die lebensweltlichen Verluste moderner Gesellschaften zu kompensieren, also ihre modernisierungsbedingten Traditionseinbußen durch – primär akademisch fabriziertes – historisches Wissen auszugleichen (Ritter 1974, 93ff). Zugleich aber stehen die Geisteswissenschaften als genuin moderne Erscheinungen genauso am Horizont einer Logik des Neuen wie die Naturwissenschaften (vgl. Foucault 1966). Geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse gewinnen ihre Relevanz ebenso wie naturwissenschaftliche dadurch, dass sie etwas zur Gesamtheit des Wissens beitragen, das vorher nicht bekannt war. Publikationswürdig ist hier im Prinzip genauso wie in den Naturwissenschaften das, was von der community als neu anerkannt wird, und es gibt kaum eine ernüchterndere Reaktion auf einen Vortrag als die Aussage, seine Erkenntnisse seien «weder neu noch falsch». Was aber bedeutet ‹Innovation› in den Geisteswissenschaften? Die Produktion von Neuheit basiert hier auf der Zeitlichkeit der Tradition. Traditionen, auch und gerade solche, die ihre Eigenmacht verloren haben und nurmehr im Medium akademischer Kultivierung fortdauern, sind nie stabil. Was wir ‹Tradition› nennen, ist tatsächlich ein Prozess der Reiteration. Nicht nur stellt jedes Schreiben von Geschichte ein Umschreiben dar, wie Reinhart Koselleck festhält: Geschichte muss beständig neu geschrieben werden, um ihre Relevanz für diejenigen zu behalten, deren Geschichte sie sein soll. Es ist demnach gerade der Prozess des Bewahrens tradierter Bestände, der den Raum für die Produktion von Neuheit schafft. Der zeitliche Charakter der Analyse, der Transkription, der Übersetzung und der Interpretation kultureller Objekte bringt es mit sich, dass jeder der genannten Akte das Potenzial für Neuheit birgt. Jede Lesart ist neu, ob sie von den Peers als solche anerkannt wird oder nicht: Sie hat immerhin das
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Zeug dazu. Jede Lesart, jede Transkription fügt, wie Charles Péguy es formuliert, der Errungenschaft eines großen philosophischen, literarischen oder künsterlischen Werks potenziell etwas Neues hinzu. In dem Maße aber, wie jede Reiteration und Übertragung eines Wissensgegenstands das Potenzial hat, ihn zu erweitern und zu ergänzen und damit neues Wissen zu schaffen, stellt sich die Frage, welchen Gegenständen die Forscherin oder der Forscher ihre Aufmerksamkeit widmen. Zum Prozess der Traditionspflege beizutragen bedeutet nicht nur, dass man Objekte bewahrt und überträgt, sondern auch, dass man sich für bestimmte Objekte entscheidet, andere außer Acht lässt. Wir erben Traditionen, aber wir stiften sie auch. So sehr wir mit heiligem Schauer vor einem Werk stehen mögen, so gilt doch, um noch einmal Charles Péguy zu zitieren, dass Gemälde, literarische Texte oder Werke der Geschichtsschreibung uns nicht nur überliefert werden, sondern uns auch ausgeliefert sind, da ihr Fortdauern von unserer Gnade abhängt: Il est effrayant, mon ami, de penser que nous avons toute licence, que nous avons ce droit exorbitant, que nous avons le droit de faire une mauvaise lecture de Homère, de découronner une œuvre de génie, que la plus grande œuvre du plus grand génie est livrée en nos mains, non pas inerte mais vivante comme un petit lapin de garenne. Et surtout que la laissant tomber de nos mains … nous pouvons par l’oubli lui administrer la mort. (Péguy 1932, 29)2
Auch das beeindruckendste Werk ist uns so hilflos ausgeliefert wie ein kleines Kaninchen. Wir haben die Macht, es mit einer «mauvaise lecture», einer schlechten Lektüre, zu beschädigen oder sogar dem Vergessen anheim zu geben. Die Gelegenheit, im Prozess der Überlieferung Neues zu schaffen, verbindet sich zugleich damit, Altes zu beschädigen, ja zu vernichten. Die Macht der bonne oder mauvaise lecture hat aber bestimmte medientechnische und institutionelle Voraussetzungen, die sich bei unterschiedlichen kulturellen Objekten in unterschiedlicher Weise ausprägen. Der Film wurde zum Objekt der Traditionspflege in dem Moment, als die Kinematheken und Filmmuseen entstanden, also Ende der 1920er Jahre, lange bevor sich die Universitäten dieser Aufgabe annahmen (allerdings wurde die erste Filmschule an einer Universität auch schon 1928 einge2
(Es ist furchtbar, mein Freund, daran zu denken, dass wir alle Freiheiten haben, dass wir dieses exorbitante Recht haben, dieses Recht darauf, Homer schlecht zu lesen und damit das Werk eines Genies zu entthronen, und dass das größte Werk des größten Genies uns in die Hand gelegt wird, nicht als etwas Starres, sondern als etwas Lebendiges, wie ein kleines Kaninchen. Und vor allem ist es furchtbar, dass wir es, wenn wir es aus den Händen fallen lassen, durch Vergessen zu Tode bringen können; Übers. V.H.).
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richtet, an der University of Southern California in Los Angeles). Ist es bei kanonischen Texten der Akt des Lesens und Wiederlesens, die «lecture», ob nun bonne oder mauvaise, die am Anfang der Überlieferung steht, so etablierte sich beim Film die Wiederaufführung als primärer Akt der Pflege einer künstlerischen und intellektuellen Tradition. Was es wert war, wieder aufgeführt zu werden, war es wert, erinnert, transkribiert und an kommende Generationen weitergereicht zu werden. Dabei ging die Praxis der Wiederaufführung einher mit einer Kanonisierung der gezeigten Filme. Was einmal als wiederaufführenswert galt, blieb es in der Regel auch. Der Film war als tradierbares Objekt noch mindestens zwei Jahrzehnte weitgehend an das technische Dispositiv des Kinos und den institutionellen Rahmen des Filmmuseums gebunden: Sichtbarkeit gewannen alte Filme, die in den Händen der Kinematheken-Direktoren plötzlich nicht mehr Abfall waren, sondern sich in Péguys schutzlose Kaninchen verwandelten, einzig durch die Macht der Programmgestaltung. Mit dem Fernsehen, vollends aber mit dem Heimvideo und digitalen mobilen Medien haben sich die technischen wie institutionellen Bedingungen der Produktion von Wissen über den Gegenstand Film grundlegend verändert. Wie es einer technisch reproduzierbaren Kunstform im Grunde entspricht, zirkulieren Filme mittlerweile auch außerhalb des Kinos, und die Aufgabe, die kleinen Kaninchen aus dem Filmarchiv zu hüten, bleibt längst nicht mehr den Kinematheken vorbehalten. Die Macht der Traditionspflege – und damit auch die Produktion von Neuheit im Wissen über Film – hat sich verteilt auf das gesamte Feld der Zirkulation, und der Kanon ist zumindest in dieser Hinsicht in eine Krise geraten. Tatsächlich könnte man davon sprechen, dass die Proliferation digitaler Archive und neuer Zugangsweisen zum Film sich auf die Filmkultur ähnlich auswirkt wie die Erfindung des Buchdrucks auf die christliche Religion. Wir sind in eine protestantische Phase der Filmkultur eingetreten, eine Phase, in der der Katholizisimus der Kinematheken und des AutorenKanons keinen Alleinvertretungsanspruch mehr für das Reich des Kinos geltend machen kann, sondern sich die Autorität mit einer potenziell unbeschränkten Anzahl von Apostaten teilen muss. Über die Macht der Aufführung verfügt mittlerweile fast jeder, womit sich die Frage des Kanons, der Traditionspflege und der Produktion von Neuheit filmischen Wissens neu stellt. Der Kanon, jedenfalls der klassische Kanon, steckt in der Krise, denn es versteht sich keineswegs mehr von selbst, dass die Einheit des Wissensobjekts ‹Film›, des Gegenstands der Filmwissenschaft, durch eine Liste großer Autoren aus wichtigen Nationen gewährleistet wird. In diesem Beitrag wollen wir entsprechend die Frage «Was ist überhaupt (noch) ein Kanon?» aufteilen in die drei Teilfragen «Welche Krise?»,
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«Wozu diente und dient der Kanon?» und «Was passiert, wenn der Kanon ersetzt wird?» Die Antwort auf die erste Frage werden wir im Zuge einer genaueren Erläuterung dessen zu geben versuchen, was unter der ‹protestantischen Phase› der Filmkultur zu verstehen ist. Die Antwort auf die zweite Frage besteht in der Feststellung, dass der Kanon und der Akt des Kanonisierens unabdingbar war für die Konstitution des Wissensgegenstandes ‹Film› und weiterhin, selbst dort, wo dies ex negativo geschieht, der Verständigung darüber dient, worüber zu sprechen, zu forschen und zu diskutieren sich lohnt. Die Antwort auf die dritte Frage nimmt den Hauptteil dieses Beitrags in Anspruch. Wenn es zutrifft, dass der klassische Filmkanon der großen Autoren und Filmnationen nicht mehr die Einheit und Kohärenz des Wissensgebiets garantierten kann, welche Alternativen gibt es dann? Wir werden uns zwei marginalen Objekten, nämlich populären indischen Filmen und Gebrauchsfilmen zuwenden, um mögliche Antworten zu umreißen. Welche Krise? Es war einmal eine Zeit, in der man alte Filme nur in der Kinemathek sehen konnte. Was es zu sehen gab, entschied der Direktor, und wer die Filme, die gerade nicht im Programm liefen, im Archiv anschauen durfte, entschied er auch. Der Direktor, man denke an Henri Langlois, war von einer fast päpstlichen Aura umgeben. Wo der Papst das Dogma der katholischen Kirche hütete, bestimmte der Direktor das Programm. Was Aufnahme ins Archiv fand, hing von unterschiedlichen Kriterien ab. Das Museum of Modern Art, das eines der ersten künstlerischen Filmarchive unterhielt, sammelte Filme zunächst als Muster für Volkskunst und Industriedesign. Die Library of Congress sammelte Filme, weil das Copyright nur auf der Grundlage einer Referenzkopie geschützt werden konnte. Als das Nitratmaterial Lagerprobleme bereitete, rückte man von der Kopienarchivierung wieder ab und bewahrte stattdessen paper prints auf, auf deren Grundlage wichtige Bestände des frühen Kinos rekonstruiert werden konnten. Später, in den 1940er Jahren, sammelte die Library of Congress Filme unter dem Vorwand, dass es sich um kriegswichtiges Material handle. Die Archivpolitik, die weltweit prägend werden sollte und auch erheblichen Einfluss auf die Konstitution des filmhistorischen Wissens hatte, war jedoch die Politik von Henri Langlois an der Cinémathèque française. Langlois konzentrierte sich auf Regisseure, die über eine eigene ‹Handschrift› verfügten, also als Autoren gelten konnten. Von den auteurs sammelte er alles, auch weniger Gelungenes, während durchaus geglückte Filme anderer Regisseure keine Gnade fanden. Der Kanon der Autoren
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und der Nationalkinematografien etablierte sich spätestens in den 1950er Jahren als primäres Organisationsprinzip des Wissens über Film und leistete auch zur Etablierung der Filmwissenschaft einen unverzichtbaren Beitrag: Indem sie ihr Objekt nach dem Vorbild der Nationalphilologien definierte, gelang es, sich unter dem Dach der Universität einen Platz neben der Literaturwissenschaft zu sichern. Die quasi-päpstliche Statur des Kinematheken-Direktors verdankte sich der Schwierigkeit des Zugangs zum Objekt Film. Wie die katholische Kirche, solange es keine gedruckten Übersetzungen gab, den Zugang der Gläubigen zur heiligen Schrift regelte, lebte die Aura des Direktors davon, dass er alleine über den Schlüssel zum Archiv verfügte. Seine Autorität beruhte aber auch darauf, dass es Leute gab, die das, was er aufbewahrte, für wertvoll hielten. Dieser Glaube an den Wert der alten Filme war das Band, das eine Gruppe von Leuten zusammenschloss, die gemeinhin als ‹Cinephile› bekannt sind, Menschen, die das Kino liebten und in der Hoffnung lebten, mit der Wiederkehr des archivierten Films auf die Leinwand gesegnet zu werden. Außerhalb dieser Gemeinschaft war der Glaube, dass die Bestände eines Filmarchivs einen Wert besassen, kaum verbreitet. Im Gegenteil. Wie auch immer aber die jeweilige Archivpolitik konturiert war, in den ersten Jahren der Institutionalisierung von Filmarchiven zeigten zumindest die Hollywood-Studios wenig Interesse an einer Kooperation. Wie schon die Werbung der klassischen Ära mit ihren unvermeidlichen Superlativen verdeutlicht, verstand sich jeder neue Film als der bislang beste überhaupt. Alte Filme aus anderen denn aus rechtlichen oder ökonomischen Gründen aufzubewahren, ja sie in ihrer Qualität höher rangieren zu lassen als die allerneusten, widersprach der Logik, der die Filmindustrie durch und durch verpflichtet war. Als die Studios schließlich, nach langem Zögern, in den 1950er Jahren anfingen, ihre Bestände ans Fernsehen zu verkaufen, waren sie sich über deren effektiven Wert gänzlich im Unklaren. Die Verkaufspreise waren anfänglich so tief, dass die frühen Filmrechtehändler, zu denen in Europa auch ein junger Leo Kirch zählte, ihre Investition innerhalb weniger Wochen rekuperieren konnten. Der Grund aber, weshalb diese Händler so schnell so viel Geld verdienten, lag darin, dass die Zahl der an alten Filmen Interessierten sehr viel größer war als der relativ beschränkte Kreis der Cinephilen. Das Fernsehen entwickelte sich rasch zur ersten großen Maschine für die Zirkulation von Filmen jenseits des Kinos, und erst durch die wiederholte Ausstrahlung erlangten viele Filme, die heutzutage als ikonische Werke des klassischen Hollywood-Kinos gelten, ihren Status. Casablanca war ein Hit, als er 1942 im Kino gezeigt wurde, aber in den amerikanischen Zitatewortschatz gingen seine Dialoge erst ein, als er sich zum Dauerbrenner
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im Fernsehprogramm entwickelt hatte. Der Videorecorder war die zweite große Maschine für die Zirkulation von Filmen außerhalb des Kinos. Ursprünglich konzipiert als time shifting device für die zeitversetzte Rezeption, etablierte sich der Videorecorder als Wiedergabegerät für Spiefilme. VHS setzte sich im Kampf um die Vorherrschaft des technischen Standards vor allem deshalb gegen Sonys Beta-System durch, weil VHS-Kassetten über zwei Stunden Speicherkapazität und damit über Spielfilmlänge verfügten, derweil die kostspieligeren Sony-Beta-Tapes auf die Programmfenster des US-Fernsehens abgestimmt waren und nur sechzig Minuten Aufzeichnungszeit boten. Mit dem Fernsehen, vor allem aber mit dem Videorecorder enstanden neue Zugangsweisen zum Archiv. Noch 1975 konnte ein amerikanischer grad student und aspirierender Filmemacher, Jim Jarmusch, einen Sommer in Paris damit zubringen, in der Cinémathèque française Filme anzuschauen, die sonst nirgendwo zu sehen waren oder von denen er manche zwar im Fernsehen gesehen hatte, aber ohne den Zusammenhang des ganzen Œuvres zu kennen. Wie Jarmusch später festhielt: That’s where I saw things that I had only read about and heard about – films by many of the good Japanese directors, like Imamura, Ozu, Mizoguchi. Also, films by European directors like Bresson and Dreyer, and even American films, like the retrospective of Samuel Fuller’s films, which I only knew from seeing a few of them on television late at night.3
Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis die Studios und andere Copyright-Eigner das Potenzial der Zweitauswertung auf VHS und später DVD erkannten. Schon in den ausgehenden 1970er Jahren, als Disney im Auftrag der übrigen Hollywood-Studios eine Art Schauprozess gegen Sony führte, um den Beta-Recorder verbieten zu lassen (ein Prozess, den man erwartbar verlor), begannen Studios wie 20th Century Fox ihre Filme für VHS-Ausgaben zu lizenzieren. Es zeigte sich schnell, dass es einen Markt für Sammlereditionen gab, mit dem die Studios nicht gerechnet hatten. Mit der DVD setzten sich ferner die philologischen Standards für Liebhabereditionen durch, die zunächst nur für das kostspielige Bildplattenformat Laserdisc etabliert worden waren. Mit VHS und DVD, spätestens aber mit den kritischen Sammlereditionen verwandelten sich vormals schwer zugängliche Filme in zeitgenössische Objekte. Der basale Akt der Kanonisierung, die Wiederaufführung, war zum demokratischen Ritual geworden. Durchaus analog zur Wirkung der Druckerpresse auf die Autorität der Kirche unterminierte die technologische Assemblage von Fernsehen, 3
Lawrence Gelder, «Interview with Jim Jarmusch». In: New York Times, 1. Oktober 1984.
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Videorecorder und DVD-Player, zu dem sich noch das online streaming gesellt, die Autorität des Filmarchivars. Durch die Verbindung von Luthers Bibelübersetzung mit der Druckerpresse wurde die heilige Schrift jedem zugänglich gemacht, der lesen konnte. Luthers Abfall von der katholischen Kirche blieb allerdings nicht der einzige. Ein Schlüsselmerkmal des Protestantismus besteht bekanntlich darin, dass es nicht eine protestantische Kirche gibt, sondern viele – man denke an die verschiedenen Formen des lutherischen und calvinistischen Protestantismus. Ohne die Analogie zu weit zu treiben, könnte man sagen, dass das Fernsehen, der Videorecorder und nun die digitalen Onlinearchive eine Situation haben entstehen lassen, in der die kanonischen Heiligen des auteur/nation-Kanons zwar immer noch ihre Anhänger haben, aber nicht mehr die Kraft, alle Filmgläubigen auf sich zu verpflichten. Jeder, der über die geeignete Lektüre-Maschine verfügt (der französische Ausdruck für DVD-Spieler lautet lecteur DVD), kann sich seinen eigenen Kanon schaffen. Um die konfessionelle Analogie mit einer weiteren, vielleicht naheliegenderen zu verbinden (die allerdings ein konfessionelles Element mit einschließt): Mit dem Videorecorder bekommt der Film nicht nur eine Maschine für die Ausbreitung jenes demokratisierten Expertentums, auf das Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz schon hingewiesen hatte; der Film wird auch auf eine ähnliche Weise zur populären Kunst und zum Anlass und Gegenstand der Ausdifferenzierung kleiner Fangemeinden wie zuvor die Popmusik (vgl. Frith 1998). Zwei Figuren, die in den letzten zwanzig Jahren die Bühne der Filmkultur betreten haben, verkörpern ihre protestantische Phase in besonders augenfälliger Weise: Der Filmkurator und der Filmregisseur, der sich in einer Videothek ausgebildet hat. In den 1960er Jahren und vor allem mit der Arbeit von Harald Szeemann etablierte sich der Kurator als Protagonist der Kunstwelt neben – und oft auf der gleichen Stufe mit – dem Künstler (vgl. Obrist 2008). Mehr als nur der Hüter einer Sammlung oder ein Galerist ist der Kurator eine hybride Figur, teils Kunsthistoriker, teils Künstler, teils öffentlicher Intellektueller, der die Ausstellung als künstlerische Leistung eigenen Rechts versteht. Es ist nicht auszuschließen, dass Szeemann in der Figur des Kinemathek-Direktors ein Vorbild erblickte. Sicher aber ist, dass der Kurator seines Typs mittlerweile zum Vorbild für eine neue Kuratorenfigur an der Schnittstelle von bildender Kunst und Film geworden ist. Der Filmkurator schafft Programme unabhängig von bestimmten Archiven und bedient sich oft einer Vielzahl von Ressourcen, und er programmiert Filme für Kinos, Museen, Festivals und Konferenzen. Den protestantischen Theologien wiederum nicht unverwandt und wie Kuratoren aus der bildenden Kunst entwickeln Filmkuratoren ihre eigenen Prinzipien der Interpretation des Archivs, die sich von denen ihrer Kollegen und
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Konkurrenten unterscheiden. Sie vertreten ihre eigene Fassung der Kinogeschichte, und sie schaffen ihre eigenen, wohl durchdachten und in der Regel gründlich ausargumentierten Kanons. Die andere symptomatische Figur der protestantischen Phase ist ein neuer Typus des charismatischen Archivars, dem die VHS-Revolution der 1980er Jahre den Weg bereitete: Der Videotheksbenutzer oder sogar -angestellte und Kinokenner, der schließlich als Regisseur reüssiert. Es handelt sich hierbei um eine im emphatischen Sinne historische Figur, denn die Distribution von Filmen über das Internet hat das Ende der Videothek eingeläutet, die demnächst ganz verschwunden sein und in den Annalen nur mehr als Kuriosität erscheinen wird. Als Quentin Tarantino, der ‹Über-auteur› des Weltkinos der letzten fünfzehn Jahre, einer der wenigen Regisseure, zu dem jeder Kritiker, wie Tarantino selbst einmal in einem Interview formulierte, eine Meinung haben muss, Mitte der 1990er Jahre auf Festivals und mit Kinofilmen von sich reden machte, etablierte sich rasch die Legende, dass Tarantino seine Filmbildung nicht – wie selbst noch Jarmusch – in der Kinemathek, sondern in der Videothek erworben hatte. Dort schaute er sich alle Arten von Filmen an: Die Werke der Nouvelle Vague ebenso wie asiatische Martial-Arts-Filme, die zu dieser Zeit noch auf keiner kanonischen Weltkarte vorkamen. In der Nachfolge von Godard und Truffaut, aber durchaus in Abgrenzung von diesen beiden Jüngern von Henri Langlois, positionierte sich Tarantino als eine ökumenische Figur: zugleich charismatischer Verwalter von Kanons und Träger nicht-kanonischen Filmwissens. Aber wenn Kanons heute in einer Vielzahl existieren, die so schwindelerregend ist, dass sie den Sinn des Begriffs «Kanon» in Frage stellt, was können Kanons überhaupt noch leisten? Wozu dienten und wozu dienen sie? Wozu Kanons? Charles Darwin ist allgemein bekannt als der Mann, der herausfand, dass der Mensch vom Affen abstammt. Darwin selbst sammelte eifrig Karikaturen, die sich über diese Idee lustig machten, und er schien eine besondere Vorliebe für jene zu haben, die einen Affenkörper mit seinem Antlitz zeigten (Voss 2007). Allerdings hat er nie behauptet, dass der Mensch vom Affen abstamme: Die Pointe seiner Lehre besteht vielmehr in der Annahme, dass alle Lebensformen miteinander verwandt sind und einer gemeinsamen Herkunft entspringen. Diese Einsicht macht Darwin zur Gründerfigur der modernen Biologie. Die Evolutionstheorie stiftet die Einheit des Gegenstandes ‹Leben›, ohne den es eine Wissenschaft vom Leben nicht
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geben kann. So wie es ohne eine Einheit des Gegenstandes eine Disziplin mit dem Namen «Filmwissenschaft» nicht geben kann. Der erste Versuch, eine solche Wissenschaft zu begründen, die französische Filmologie-Bewegung, verlief sich nach etwas mehr als zehn Jahren und geriet durch den Erfolg der Semiotik in Vergessenheit. Psychologen, Philosophen und Soziologen trugen alle zu dem Projekt bei, blieben aber ihrem disziplinären Bezugsrahmen treu. Der zweite Versuch zur Etablierung der Filmwissenschaft griff auf die Epistemologie der Kinemathek zurück und zielte eine Disziplin an, die sich mit dem Kanon der Filmkunst auseinandersetzen und ihren Platz zwischen Literatur- und Kunstwissenschaft finden sollte. Dieser zweite Versuch gelang, und quer durch alle sich ablösenden Leitparadigmen hindurch, von der psychoanalytischen Filmtheorie und der Filmsemiotik bis hin zur deleuzianischen Filmphilosophie, blieb der Gegenstand des Wissens konstant: der Film im Kino, und die großen Werke großer Autoren auf der Leinwand. Innerhalb der Disziplin erlaubte diese Definition den beteiligten Wissenschaftlern die Verständigung darüber, welches die relevanten Gegenstände sind, und zugleich bildete das so bestimmte Wissensobjekt den Ansatzpunkt für die fachlichen Kontroversen, die zwischen unterschiedlichen Forschungsansätzen entstehen müssen, damit eine Disziplin als produktiv und vital gelten darf. Die harten Auseinandersetzungen zwischen psychoanalytischer und kognitivistischer Filmtheorie mögen hier als Beispiel dienen: Am Ende drehte sich alles um den (Kino)-Film. Die kanonbetriebene Maschine der akademischen Produktion von Wissen über den Film läuft nach wie vor gut und ohne größere Irritationen, und sie verfügt überdies über die Fähigkeit, Bereiche der Filmwissenschaft zu absorbieren, die zuvor noch anti- oder nicht-kanonisch konstituiert waren. Die Star-Forschung etwa, eine Unterdisziplin der Filmwissenschaft, die von Richard Dyer mit seinem Buch Stars im Jahr 1979 geradezu eigenhändig erschaffen wurde und lange Jahre vom Kanondenken weitgehend unberührt blieb, hat sich zu einem durch und durch im Zeichen von Kanons stehenden Feld entwickelt. So konnte man bei einer Tagung über populäre Kinostars vor einigen Jahren eine ganze Reihe von Vorträgen jüngerer Forscher über die verschiedenen Facetten der Star-Persona von Catherine Deneuve hören – alle mit jenem Ernst, den man von Literaturwissenschaftlern erwartet, die sich Neues über Honoré de Balzac berichten. Doch wenn die anhaltende Relevanz des klassischen Auteur-Kanons die Filmwissenschaft vor sich hin schnurren lässt wie eine glückliche Katze auf dem Sofa, warum dann die Behauptung aufstellen, dass die Zeit des Kanons abläuft oder sogar abgelaufen ist und das kanonische Filmwissen sich an einem Punkt der Krise befindet?
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Zunächst einmal deshalb, weil es den Unterschied zwischen der akademischen Untersuchung des Films einerseits und der Filmkultur anderrerseits in Rechnung zu stellen gilt. Eine akademische Disziplin braucht, wie gezeigt, ein klar umrissenes Objekt der Untersuchung sowie etablierte Methoden. Die Filmkultur lieferte diesen Gegenstand, präformiert durch die Praxis der Wiederaufführung, zu deren Konsequenzen gehörte, dass der Film ein unversitätsfähiges Objekt wurde. Die Filmkultur aber hat, wie andere Teile der historischen Realität, die Eigenheit, sich nicht nach den Protokollen der Wissenschaft zu richten. Vielleicht lohnt es sich, noch einmal zu Darwin zurückzukehren und sich daran zu erinnern, dass The Origin of Species ein höchst irreführender Buchtitel war. Tatsächlich geht es darin nicht um den Ursprung der Arten, verstanden als außerhistorische Entitäten, sondern um das Leben als Prozess; und darum, dass es in diesem Prozess nur eine Abfolge von Exemplaren gibt, nicht aber feststehende ontologische Entitäten, von denen die einzelnen Exemplare so etwas wie eine Realisierung darstellen. Wie wir im ersten Abschnitt dieses Beitrags zu zeigen versuchen, entwickelt sich die Filmkultur (um die schöne Metapher noch einmal aufzurufen, die sich dem Entrollen von Manuskripten verdankt und im 19. Jahrhundert zur Leitidee des wissenschaftlichen Denkens wurde): Wir befinden uns gerade in ihrer protestantischen Phase. Diese Entwicklung, dieses Sich-Entrollen des historischen Manuskripts der Disziplin verlangt nach ihrer eigenen Lektüre und Interpretation und danach, dass man die Konsequenzen aus der Lektüre zieht. Die Filmwissenschaft sollte der Entwicklung der Filmkultur Rechnung tragen, denn eine Diszplin, die sich ganz auf die rekursive Anwendung ihrer etablierten Protokolle verlässt, läuft Gefahr, irrelevant zu werden oder, was noch schlimmer wäre, langweilig. Was aber liegt jenseits des Kanons von Autorenfilmen bestimmter nationaler Herkunft, die im Kino gezeigt werden? Und wie können wir, wenn wir auf jene Gegenstandsdefinition verzichten, die der Filmwissenschaft so lange ihre Kohärenz als Disziplin verliehen hat, weiterhin behaupten, ein Feld zu vertreten, das den Titel ‹Filmwissenschaft› verdient? Oder anders gefragt: Kann die Filmwissenschaft eine Apostase überleben, die nicht nur den Kanon variiert, sondern ihn durch ein anderes Prinzip der Kohärenz ersetzt? Was passiert, wenn der Kanon ersetzt wird? Seit einigen Jahren beschäftigen wir uns beide mit Gegenständen, die am besten mit dem Präfix ‹nicht› charakterisiert werden: nicht-kanonische populäre Filme aus Indien, und nicht-künstlerische Gebrauchsfilme, also Wissenschafts-, Industrie- und Schulungsfilme, aus allen Weltgegenden.
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Das Hindi-Kino interessierte lange Zeit vor allem Soziologen, Ethnologen und Vertreter der cultural studies, die sich an der emergenten globalen Fankultur der Bollywood-Filme abarbeiteten. Vertiefende Studien zu den ästhetischen Aspekten des Hindi-Kinos findet man hingegen selten. Selbst in internationaler Perspektive liegt die Anzahl der Doktorarbeiten, die sich mit der Ästhetik dieses Kinos auseinandersetzen, immer noch bei weniger als zwanzig. Hergestellt in einem Modulverfahren, bei dem unterschiedliche Teams für verschiedene Teile der Produktion zuständig sind – wobei besonders zwischen den narrativen Elementen und den Song-and-DanceNummern unterschieden wird, entsprechen die meisten Hindi-Filme dem Konzept des Autorenfilms noch weniger als die meisten Hollywood-Filme. Überdies ist das Hindi-Kino, obwohl es sich um die meistgesehenen Filme in Indien handelt, nicht wirklich ein nationales Kino. Wie Chris Berry festhält, nimmt es zwar vielerorts in aggressiver Weise für sich in Anspruch, das nationale Kino Indiens zu sein; es koexistiert aber selbst auf dem Heimmarkt mit einer ganzen Reihe weiterer Industrien, die in den Regionalsprachen des Ostens und Südens des Landes produzieren, von der Bengali-Industrie über die tamilische Action-Film-Produktion bis hin zur Malayalam-Industrie in Kerala, die immerhin einen Heimmarkt von 35 Millionen bedient. Überdies sind Hindi-Filme auch in Pakistan sehr populär (obwohl sie dort offiziell lange nicht gezeigt werden durften), und sie finden Zuspruch auch in Afrika und im mittleren Osten, und zwar weit über den Kreis der Exilanten, der sogennanten Non-Resident-Indians (NRI) hinaus. Man könnte bei einem Blick auf die Weltkarte der Hindi-FilmDistribution so weit gehen, dass man das Hindi-Kino als die heimliche muslimische Weltkunst bezeichnet: Nicht nur deshalb, weil viele seiner großen Stars Muslime sind (von Sharukh Khan über Amir Khan bis zu Salman Khan), artikulieren die Filme offenbar auf privilegierte Weise die Erfahrungen und Wertkonflikte eines Publikums weit über Nordindien, das Stammland der in den Filmen gesprochenen Sprache, hinaus. Angesichts der Indifferenz westlicher Filmwissenschaftler gegenüber diesen Filmen erstaunt es nicht, dass ihnen nicht nur deren ästhetische Spezifik, sondern auch ihre Auswirkung auf die Filmkultur entgeht. Wie Brian Larkin, ein Ethnologe, der die afrikanische Filmkultur erforscht, festhält: The popularity of Indian films in Africa has fallen into the interstices of academic analysis, as the Indian texts do not fit with studies of African cinema: the African audience is ignored in the growing work on Indian film: the films are too non-Western for Euro-American-dominated media studies, and anthropologists are only beginning to theorise the social importance of media. (Larkin 1997)
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Was den Gebrauchsfilm betrifft, so liegt die Zahl der Dissertationen, die sich spezifisch mit Wissenschafts-, Industrie- und Schulungsfilmen befassen, ebenfalls bei unter zwanzig. Zudem stammt der Großteil der einschlägigen Arbeiten aus dem Bereich der Wissenschaftsforschung, der Erziehungsforschung und der Sozialgeschichte. Soweit solche Filme überhaupt die Aufmerksamkeit von Filmwissenschaftlern auf sich gezogen haben, wurden sie unter dem Label non-theatrical behandelt. Es handelt sich um eine bedeutsame Kategorie: die kanonische Bestimmung nicht-kanonischen Materials. Kunsthistoriker benutzen den Begriff «nicht-künstlerische Fotografie», um etwa die Industriefotografie zu beschreiben. Wir müssen uns darum kümmern, besagt diese Kategorie, weil wir die Fotografie zu den von uns zu behandelnden Kunstformen zählen, aber zugleich geht es eben doch nicht um Kunst. Non-theatrical ist der analoge Begriff dazu aus der Filmwissenschaft: Es handelt sich zwar um Filme, aber nicht um solche, die im Kino gezeigt werden, was bedeutet, dass sie nicht zum Objekt ‹Kino› gehören und damit nicht zu den regulären Gegenständen des Forschungsinteresses. Eine ‹kanonische› Bestimmung ist der Begriff nontheatrical, insofern er exemplifiziert, wie ein Kanon in der Wissenschaft funktioniert: zum Ein- und Ausschluss, als Maschine für die Wahl und die Nicht-Wahl – oder Vernichtung – von untersuchungswürdigen Objekten. Non-theatrical meint, dass wir es mit einem marginalen Phänomen zu tun haben, jedenfalls im impliziten Bezug auf die gängige Objektbestimmung nach dem Kanon auteur/nation/cinéma. Nun ist eine marginale Position nichts, worüber man sich beklagen muss, jedenfalls nicht als Wissenschaftler/in. Epistemologisch gesprochen sind die Margen, die Randbezirke, ein potenziell höchst produktiver Ort, wie nicht zuletzt Derrida gezeigt hat. Unter anderem sieht man von den Rändern her besser, wie die diversen Maschinen des Wissenschaftsbetriebs arbeiten, als wenn man direkt an deren Steuerhebeln sitzt. Zugleich aber herrscht an den Rändern beständige Unruhe, ausgelöst durch die Operationen der Inklusion und Exklusion von Objekten und Konzepten oder auch dadurch, dass man als Randständiger seine Randobjekte immer wieder aufs Neue und ohne je zur Ruhe zu kommen in die verschiedenen Schablonen einzupassen versucht und, weil sie unpassend bleiben, neue Friktionen verursacht. Das ‹non› in non-theatrical gilt es denn auch ernst zu nehmen und stark zu machen: Es bezeichnet den unpassenden Rest, den rest, der den unrest at the margins, die Unruhe an den Rändern verursacht. Wie bekommen wir diesen Rest zu fassen, und wie lässt sich die Unruhe, die er verursacht, produktiv machen? Viele Jahre lang bildeten Hindi-Filme, soweit sie im Westen überhaupt wahrgenommen wurden, bestenfalls den Hintergrund, vor dem sich die großen indischen Autoren-
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filmer wie Satyajit Ray deutlich sichtbar abhoben. Das Hindi-Kino galt als krudes, volkstümliches Kino, das rückständige Ideologien propagierte, schlecht gemacht war und keine weitere Aufmerksamkeit verdiente. Im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre hat sich die Aufmerksamkeit der Filmwissenschaft sukzessive vom Vordergrund auf diesen Hintergrund verlagert. Im Zuge dieser Wandlung traten drei große Strategien zutage, sich dem Hindi-Kino anzunähern. Die erste dieser Strategien kann man als «Strategie der Äquivalenz» bezeichnen. Filmwissenschaftler, die diese Strategie wählen, suchen aus der Fülle des Korpus die zehn besten Werke aus und schlagen ihren Kollegen vor, diese – nun doch noch, nachdem man sich der anfänglichen Vernachlässigung gewahr wurde – in den Weltkanon der filmischen Meisterwerke aufzunehmen. Bisweilen wird Hindi-Regisseuren zumindest ein Kandidatenstatus für die Aufnahme in den Weltkanon der Autoren zugebiligt, so etwa Guru Dutt oder Mani Ratnam, der allerdings auch für die Tamilen an den Start geht: Seine Hindi-Filme sind in der Regel Remakes erfolgreicher tamilischer Produktionen. Die zweite Strategie könnte man als die des othering, der Zuschreibung von Andersheit bezeichnen. Aus einer Weigerung heraus, sich der Kriteriologie des Autoren-Kanons zu unterwerfen, heben Filmwissenschaftler, die diese Strategie verfolgen, die radikale kulturelle Differenz des Hindi-Kinos hervor und suggerieren, dass wir als Westler die künstlerische Logik dieser Filme nicht wirklich erfassen können. Das Beste, wozu wir in der Lage sind, ist eine Haltung der mehr oder weniger wortlosen Bewunderung für ihre exotische Schönheit. Die dritte Strategie ist die Inklusion von Derivaten. Filmwissenschaftler, die diese Strategie verfolgen, konzentrieren sich auf mehr oder weniger offenkundige Remakes westlicher Filme und benutzen den Abgleich mit den Vorbildern, um ein besseres Verständnis der Spezifik des Hindi-Kinos zu gewinnen. Alle drei Strategien münden in lesenswerte Prosa, und alle drei scheitern, wenn auch in der Regel auf interessante Weise, beim Versuch, eine kohärente Konzeption des populären indischen Kinos zu gewinnen. Ein weiterer möglicher Zugang verbindet eine theoretische Einsicht des Historikers und Filmwissenschaftlers Pierre Sorlin mit einem methodologischen Ansatz, der Ideen aus Arbeiten des Literaturwissenschaftlers Franco Moretti zu literarischen Genres und Literaturgeografien aufgreift. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1997 hält Sorlin fest, dass die eigentliche Geschichte des Kinos, ungeachtet aller Fortschritte und Durchbrüche der «New Film History», noch zu schreiben bleibe: die Geschichte der Zirkulation. Im Akt der Aufführung, so Sorlin, liegt das Ereignis des Films, und auch wenn es in einem strengen Sinn keine Spuren hinterlässt, die
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der Historiker als Quelle benutzen kann, so sei die wahre Geschichte des Films jene, die dem Ereignis der Aufführung auf die Spur kommt. Moretti wiederum schlägt vor, nicht nur die kanonischen Werke einer bestimmten Epoche zu studieren, sondern einfach alles, was publiziert wurde (vgl. etwa Bordwell/Staiger/Thompson 1986). Nicht nur das Werk der Genies, jeder einzelne Text habe Anrecht darauf, wie Péguys schutzloses kleines Kaninchen behandelt zu werden – allerdings im Rahmen eines weiterführenden Plans. Morettis Ansatz zielt darauf ab, durch ein distant reading großer Textmengen bestimmte thematische und stylistische Muster herauszuarbeiten, um sie mit Mustern in anderen geografischen und kulturellen Räumen zu vergleichen. Führt man Sorlins Idee einer Geschichte der Zirkulation von Filmen und Morettis Ansatz des distant reading zusammen, dann wird es möglich, Hindi-Filme unter dem Gesichtspunkt stilistischer Muster und ihrer Verbreitung entlang der Distributionswege zu befragen. Was manchen kritischen Augen auf Anhieb als unbeholfenes und schlechtes Filmhandwerk erscheinen mag, kann sich dabei als eine kulturelle Sequenz im Sinne von George Kubler herausstellen, eine Folge von ästhetischen Problemlösungen, die rekursiv über größere Zeiträume und größere geografische Räume hinweg verwendet werden und sich im Lauf der Zeit wandeln, unter anderem durch die Absorption von Techniken und Problemlösungen, die unterwegs aufgegriffen werden (Kubler 1962). Mehr noch: Die Auseinandersetzung mit dem Hindi-Film kann unser Verständnis der Filmkultur vertiefen. Damit ist weniger gemeint, dass man nach der Sichtung von hunderten solcher Filme mit neuen Augen auf die Meistwerke der westlichen Tradition blickt; vielmehr geht es, durchaus im Sinn von Kubler, darum, jenseits biografischer und tiefenexegetischer Ansätze den am Hindi-Film exemplarisch zu gewinnenden Gedanken auszuloten, dass Filme nicht in Kanons zirkulieren (denn diese entstehen ja erst im Moment der selektiven Wiederaufführung), sondern in Netzwerken: Netzwerken von Filmen, von stilistischen Verfahren, von Themen, Orten und Ereignissen. Aber während der Hindi-Film – mit den skizzierten Einschränkungen und Vorbehalten – als nationales Kino gelten kann (als Kino, das im Kino läuft und in engem Zusammenhang mit einer nationalen Kultur steht; allerdings hat er kaum auteurs aufzuweisen), verfügen Gebrauchsfilme über keines der notwendigen Merkmale, um in den Kanon zu kommen. Realisiert zumeist von weitgehend unbekannten Filmemachern für ein eingeschränktes Publikum und mehr Ausdruck der ‹Unternehmenskultur› einer Firma oder Indikator der Wissenskultur eines Labors oder einer Disziplin (vgl. Knorr-Cetina 2002) als einer nationalen Kultur oder überhaupt Teil von ‹Kultur›, fallen Gebrauchsfilme genauso durch den Raster der kanonbasierten Filmwissenschaft wie Hindi-Filme und ihre Zirkulation in
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Afrika. Und in der Tat: Warum sollten wir uns solche Filme anschauen? Die wenigen Beispiele aus den umfangreichen Beständen des Gebrauchsfilms, die es zu Wiederaufführungen und damit zur Wahrnehmung durch ein Publikum mit Interesse an der Geschichte des Mediums gebracht haben, sind Frühwerke bedeutender Autorenfilmer: Jean-Luc Godards Opération Beton etwa, der allerdings kaum gezeigt wird und auch nicht sehr gelungen ist, aber doch zum Œeuvre zählt; oder Alain Resnais’ Le Chant du Styrène, eine im Auftrag realisierte Hymne auf Polystyren, die den kanonisierungsförderlichen Vorzug hat, auf einem Text von Raymond Queneau zu basieren (vgl. Dimendberg 2007). Aber was die übrigen Filme angeht, deren Zahl in die Tausende, wenn nicht Hunderttausende geht: Warum sollte man sich dafür interessieren? Eine mögliche Antwort lautet: Gebrauchsfilme haben die Kultur des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise, wenn auch latent geprägt, ohne das dies besonders wahrgenommen worden wäre, und sie verrichten ihr Werk weiterhin, und zwar primär kraft ihrer ästhetischen Eigenheiten. Wenn wir nicht nur die Filmkultur in ihrer Breite und Tiefe verstehen wollen, sondern auch der Tatsache Rechnung tragen, dass wir in einer Filmkultur leben, einer Kultur, zu deren Seins- und Möglichkeitsbedingungen das Bewegtbild zählt, dann gehören Gebrauchsfilme zu jenen Materialien, die es ernst zu nehmen gilt – besonders eingedenk ihres marginalen, nichtkanonischen Status, ihres ‹Nicht›-Seins. Ein abschließendes Beispiel mag dies illustrieren. Frank Gilbreth (1868–1924) war ein Pionier der Ergonomik und der Unternehmensberatung im frühen 20. Jahrhundert. In der Nachfolge von Taylor, aber auch in dezidierter Absetzung von diesem, gelangte der faillierte Bauunternehmer zu Ruhm mit seinen Versuchen, die Produktivität von Industriearbeitern durch Optimierung ihrer Bewegungsabläufe zu steigern. Gilbreth setzte Filmkameras ein, um diese Abläufe zu analysieren, und baute optimierte Modelle auf der Grundlage seiner Filmstudien. Seine Filme und Fotografien sind längst zu Emblemen einer industriellen Kultur und einer Kultur industrieller Gesellschaften geworden, die von der Technik des Kinos durchdrungen ist. Gilbreths eigenes Leben wurde zum Gegenstand eines Hollywood-Films, Cheaper by the Dozen (Shawn Levy, USA 1950), der auf den Erinnerungen zweier seiner Kinder basiert und davon handelt, wie Gilbreth und seine Frau Lilian, eine promovierte Arbeitspsychologin, ihre Rationalisierungstechniken in einem Haushalt mit zwölf Kindern einsetzten. Zahlreiche Aufsätze und Bücher über Gilbreth wurden bislang geschrieben, viele davon aus einer deleuzianischen oder foucaultianischen Perspektive, die seine Filmarbeiten unter den Aspekten von Kontrolle und Disziplin analysieren.
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Gilbreths Biografie ist aber auch die eines frühen Cinephilen. Wie Florian Hoof zeigt, entwickelte Gilbreth die Idee für die Bewegungsstudienfilme und die dazugehörigen Managementskonzepte, auf denen sein Ruhm gründen sollte, auf einer Reise nach Berlin 1912–13 (Hoof 2011). Dort begannen Langspielfilme die Kinoprogramme zu dominieren, eine Entwicklung, die in den USA erst mit zwei Jahren Verzögerung eintreten sollte. Gilbreth wurde zum eifrigen Kinogänger, führte Buch über die Filme, die er sah, und schrieb seiner Frau Briefe, in denen er alles rapportierte. Zugleich entwickelte er ein starkes, nachgerade obsessives Interesse an Kinotechnologie. Hoof zeigt auf, dass die Erfahrung eines konzentrierten, homogen auf das filmische Geschehen reagierenden Publikums Gilbreth das Modell für seine analytischen und pädagogischen Verfahren lieferte. Bevor noch die Observierung und Analyse der Bewegung zum Thema wurden, war es zudem die Faszinationskraft des projizierten Körperbildes, die ihn den Film als Medium der Rationalisierung par excellence erkennen ließen. Gilbreths Gedanke einer Rationalisierung mithilfe des Films erwies sich als verführerisch und fand besonders bei Managern Anklang; bei jenen, die sich von der Faszinationskraft der gefilmten Körper zu rationelleren Bewegungsabläufen verführen lassen sollten, stieß das Verfahren indes auf Widerstand. Die eigentliche Hinterlassenschaft von Gilbreth liegt jenseits seiner Filme und jenseits des sichtbaren Körpers, auf den er so sehr fokussiert war. Sein Bestreben bestand, verknappt gesagt, darin, implizites Körperwissen explizit und übertragbar zu machen. Dazu entwarf er ein Basisvokabular der Abläufe, eine Art Periodensystem der Komponenten, aus denen körperliche Bewegung sich zusammensetzt. Während die Arbeiter mit diesem Vokabular wenig anfangen konnten oder wollten, bildet es bis heute eine Grundlage der Robotik, jener Technik, die den Fabrikarbeiter an Effizienz so weit übertrifft, dass er obsolet geworden ist. Der Moment einer intensiven, analytisch durchdrungenen filmischen Sichtbarkeit des Körpers markiert zugleich den Punkt, an dem der Körper sich als zu formendes und disziplierendes Element der Produktion im Grunde schon erübrigt. Ohne die Gilbreth’sche Assemblage von Film und industrieller Organisation in ihrer Komplexität reduzieren zu wollen, lässt sich sagen, dass sich Robotik zu einem guten Teil der Fantasie eines filmischen Faszinationsregimes eines Proto-Cinephilen verdankt. In diesem Sinne schärfen Gilbreths Filme in exemplarischer Weise den Blick dafür, dass Gebrauchsfilme nicht nur Teil der Filmkultur sind, sondern auf den größeren Zusammenhang einer Kultur verweisen, zu deren Bedingungen das Bewegtbild zählt. Was also verlieren wir, wenn wir uns vom Kanon verabschieden? Und was gewinnen wir? Wir scheinen auf Anhieb die grundlegende Einheit unseres Untersuchungsgegenstandes zu verlieren, was sicherlich ein gewis-
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ses Schwindelgefühl zur Folge hat. Zugleich tritt aus diesem Schwindelzustand mitunter ein neuer Untersuchungsgegenstand hervor, ein Netzwerk von Bewegtbildern, Bildern von Körpern in Bewegung und von Bildern in Zirkulation. Und so viel sei zur Beruhigung gesagt: Auch das Aufspüren solcher Netzwerke bleibt noch ein Akt der Lektüre, der tradierbaren und tradierten Objekten eine Krone der Neuheit aufsetzt.
Literatur Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin (1986) The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960. New York: Columbia University Press. Dimendberg, Edward (2007) «‹Das sind keine Stilübungen!› Zu Alain Resnais’ Industriefilm Le Chant du Styrène». In: Filmische Mittel, Industrielle Zwecke. Das Werk des Industriefilms. Hg.v. Vinzenz Hediger & Patrick Vonderau. Berlin: Vorwerk 8; S. 101–131. Larkin, Brian (1997) «Indian Films and Nigerian Lovers: Media and the Creation of Parallel Modernities». In: Africa: Journal of the International African Institute 67,3; S. 406–440. Foucault, Michel (1966) Les mots et les choses. Paris: Gallimard. Frith, Simon (1998) Performing Rites: On the Value of Popular Music. Cambridge, MA: Havard University Press. Hoof, Florian (2011) Beratung und Resistenz. Managementwissen und Medien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Phil. Diss. Ruhr-Universität Bochum. Knorr-Cetina, Karin (2002) Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kubler, George (1962) The Shape of Time. Remarks on the History of Things. New Haven: Yale University Press. Obrist, Hans-Ulrich (2008) A Brief History of Curating. Zürich: JRP/Ringier/Dijon: Les presses du réel. Péguy, Charles (1932) Clio. Paris: Gallimard. Ritter, Joachim (1974) «Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft» [1963]. In: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Voss, Julia (2007) Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie, 1837–1874. Frankfurt a.M.: Fischer.
Kapitel 3
Cinéphilie und pädagogischer Eros
Bettina Henzler / Alain Bergala
«Il les conduit ailleurs»1 Gespräch mit Alain Bergala zu Cinéphilie, Wissenschaft und Pädagogik
Paris, 10.10.2010 Henzler: Mit Ihrem über 35-jährigen Engagement für die Filmpädagogik haben Sie die Filmvermittlung in Frankreich nachhaltig geprägt, insbesondere die Vermittlung des Kinos als Kunstform. Als Beispiele seien nur der auch in Deutschland erschienene Essay «Kino als Kunst» (Bergala 2006) und die DVD-Reihe L’EDEN CINÉMA genannt, die Sie für das französische Bildungsministerium herausgeben. Die einmalige Vielfalt und Qualität der ästhetischen Filmvermittlung in Frankreich lässt sich auf die Tradition der französischen Cinéphilie zurückführen. Worin besteht Ihrer Ansicht nach deren Einfluss auf die Filmvermittlung und insbesondere auf Ihre eigene Arbeit? Bergala: Dass die Filmpädagogik in Frankreich heute so weit entwickelt und so fortgeschritten ist, lässt sich geschichtlich vor allem mit den großen Volksbildungsbewegungen nach dem Krieg, etwa Travail et Culture und Peuple et Culture, erklären. Es gab damals diese sehr optimistische Bewegung, die auf der Vorstellung beruhte, dass die Menschen sich bilden, dass sie denken müssen, damit die Geschichte sich nicht wiederholt. Man sah darin einen Weg, den Krieg in Zukunft zu vermeiden. In dieser Bewegung gab es nun einige, die eng mit dem Kino verbunden waren. So setzte sich vor allem André Bazin als einer der wichtigsten Protagonisten für die Volksbildungsbewegung ein, die damals nicht nur eine schulische Bewegung war. Bazin organisierte Filmclubs in Fabriken und Betrieben, er leitete Filmclubs in Gymnasien, aber auch für Erwachsene. All das hat natürlich viele Spuren hinterlassen. Vor allem die Filmclubbewegung, die in Frankreich sehr mächtig war, hat entscheidend davon profitiert. Es gab mehrere Verbände, einer von ihnen hing mit der 1
«Er führt sie woanders hin». Es handelt sich dabei um ein Zitat von Alain Bergala mit Bezug auf die Rolle des Pädagogen in Michel Serres Text Le Tiers-instruit (1991), vgl. dieses Interview S. 169.
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Ligue de l’enseignement zusammen, einem sehr großen Netzwerk, das mit dem Bildungsministerium verbunden war.2 Die Filmclubbewegung erlosch dann in den 1970er und 1980er Jahren, doch ihr Elan wirkte weiter fort. Und die ersten Professoren oder Lehrer, die den Film zunächst ohne jegliche institutionelle Basis in den Unterricht einführten, die ihre Filmbegeisterung mit ihren Schülern teilen wollten, kamen oft aus diesem Kontext. Sie waren entweder durch die Filmclubkultur geprägt oder hatten selbst solche Clubs ins Leben gerufen. So war das auch bei mir: Als ich in Aix-en-Provence studierte, habe ich den dortigen Filmclub mitgeführt. Man kann also sagen, dass Sie Ihr Filmwissen in den Filmclubs, im Rahmen der Filmclubbewegung erworben haben? Ja. Als ich an die Universität kam, gab es noch kein Filmstudium. Meine filmische Bildung verlief also vor allem über die Volksbildungsbewegung. Als ich die pädagogische Hochschule besuchte, stand ich in direkter Verbindung mit der Ligue de l’enseignement, mit dieser ganzen Bewegung, die aus der Volksbildungsbewegung entstanden war und von ihr übrig blieb. Und da ich ein großer Filmliebhaber war, habe ich mich in dieser Bewegung engagiert und dort auch weitestgehend meine Filmkultur und -bildung erworben. Ich besuchte Wochenendseminare, Praktika, Kurse, sobald nur irgendeine Fortbildung angeboten wurde, ging ich hin. Dennoch haben Sie für Ihr erstes pädagogisches Projekt, das mir bekannt ist – ein medienpädagogisches Pilotprojekt am Collège von Yerres, das Sie in Ihrer ersten pädagogischen Publikation «Pour une pédagogie de l’audiovisuel»3 vorstellen und bilanzieren –, einen Vermittlungsansatz gewählt, der gewissermaßen im Gegensatz zu dem cinéphilen Ansatz der Filmclubbewegung stand: Es handelte sich um eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit den Massenmedien anhand der Methodik der Semiologie. Ja, das stimmt. Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass meine Generation ihr Studium in den 1960er Jahren absolvierte, also in der Zeit, da der Strukturalismus, die Linguistik und die Semiologie zu den wichtigsten und dominierenden Wissenschaften an der Universität und im französischen Denken avancierten. Die Linguistik wurde dabei zur Leitdisziplin. Das prägte die Studenten dieser Jahre. Sie hatten das strukturalistische 2
3
Die Ligue de l’enseignement stand dem Bildungsministerium insofern nahe, als ihre Mitarbeiter oft vom Ministerium abgestellt worden waren. Dem Netzwerk gehörte eine Vielzahl von Filmclubs in Frankreich und eine beträchtliche Sammlung von 16mmFilmkopien. Als ich Student war, verfügte allein der Verband der Ligue de l’enseignement in Marseille über ca. 2000 Filme (Anm. A.B.). Alain Bergala: Pour une pédagogie de l‘audio-visuel. Marseille 1975.
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oder linguistische Werkzeug kennengelernt, und da man letztlich mit den Mitteln unterrichtet, die einem selbst vertraut sind, erwuchs daraus eine Generation, für die die linguistische oder semiologische Entschlüsselung maßgeblicher war als die Lust am Film, die Liebe zum Kino. Diese Generation hat aber sehr viel in Frankreich bewirkt: Ihr verdankt sich die Einführung der visuellen Erziehung an den Schulen, sie besetzte die ersten Lehrerposten für das französische bac cinéma, also das Abiturfach Film. Sie haben sich jedoch in den 1980er Jahren, als Sie als Filmkritiker und Regisseur arbeiteten, von der Semiologie entfernt – geschah dies auch im Rahmen einer allgemeinen Bewegung, eines grundsätzlichen Perspektivwechsels, wie ihn beispielsweise Roland Barthes mit seinen späten Schriften eingeleitet hat und den auch die ‹Cahiers du cinéma›, für die Sie schrieben, vollzogen haben? Ja. Nur das Problem ist immer das gleiche: Lehrern, die nur ihren Beruf ausüben, fällt es viel schwerer, sich von ihrer Ausbildung, von ihrer Prägung durch die Studienzeit zu lösen und sich zu verändern, als jenen, die noch etwas anderes tun. Was die Cahiers du cinéma anbetrifft, so ging es dort eher um den Marxismus, den Leninismus, um eine politische Theorie, nicht um die Linguistik. Aber das war nur ein Jugendfieber und hielt nicht lange an. Wir haben schnell begriffen, dass das nicht die richtige Art war, um über Film zu sprechen, und kehrten wieder zur Kultur, zum Geschmack zurück. Der Geschmack ist eine Kategorie der Filmkritik, der Cinéphilie, die auch für Ihren pädagogischen Ansatz eine wichtige Rolle spielt. Es ist eine ästhetische und eine subjektive Kategorie, mit der sich die Cinéphilen und Kritiker in Frankreich häufig gegenüber der objektiven universitären Filmwissenschaft abgrenzen. Wie wichtig ist die Subjektivität für Sie als Pädagoge und als Wissenschaftler? Sie ist sehr wichtig, auch an der Universität. Ich weiß, dass es möglich ist, sechs Jahre an einer Dissertation über einen schlechten Film zu arbeiten, da es dabei nur darum geht, die Konventionen des wissenschaftlichen Schreibens zu erfüllen. Die Frage des Geschmacks ist dabei nicht von Belang, sie hat keine Berechtigung. Nur habe ich an diese Vorgehensweise nie geglaubt, denn es gibt keine exakte Wissenschaft von kulturellen Gegenständen. Es mag Analysewerkzeuge und -methoden geben, aber ein genaues Kriterium, mit dem sich beurteilen ließe, was gut und was nicht gut ist, das wird es zum Glück niemals geben, hoffe ich jedenfalls. Ihr pädagogisches Konzept des ‹passeur›, des Vermittlers, der seinen persönlichen Geschmack in den Unterricht einbringt, stammt ebenfalls aus der Filmkritik. Sie
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zitieren in diesem Zusammenhang den Kritiker Serge Daney. Mit welchen Mitteln und Methoden versuchen Sie, als Lehrender an der Universität oder an der Schule, diese subjektive Perspektive, Ihren persönlichen Geschmack einzubringen?
terhaltsamer und effizienter. Und die Schüler spüren das. Sie spüren genau, wenn der Lehrer etwas bespricht, was ihn berührt, und das ist ansteckend.
Man darf das Wort ‹subjektiv› nicht so verstehen, dass jeder nach Belieben sagen kann, was ihm gefällt und was nicht. Darum geht es nicht. Wenn ich sage, dass wir in den Cahiers du cinéma nach subjektiven Kriterien verfuhren, dann meine ich, dass diese Kriterien zwar nicht wissenschaftlich waren, es sie aber sehr wohl gab. Wir konnten begründen, warum ein Film schauderhaft oder einfach schlecht ist. Und ich kann es natürlich immer noch. Im Unterricht sage ich oft zu meinen Studenten, «hört zu, der Film ist miserabel», und sie fragen warum. Also erkläre ich, warum der Film miserabel ist. Da geht es nicht nur um persönliche Befindlichkeiten.
Das kann ansteckend sein, aber auch Ablehnung hervorrufen.
In «Kino als Kunst» zitieren Sie Daneys Konzept des ‹passeur› auch im Sinne eines Vermittlers, der seinen persönlichen Geschmack im Unterricht einsetzt. Natürlich. Anstatt von ‹Geschmack› müsste man in diesem Fall eigentlich von ‹Werten› sprechen, der richtige Ausdruck dafür ist ‹Werte›. Weil Werte reflektiert werden? Ist das der wesentliche Unterschied? Es handelt sich nicht einfach um die Affirmation einer persönlichen Meinung, sondern dahinter verbirgt sich eine Reflexion, eine mögliche Begründung des eigenen Urteils? Genau so ist es. Man kann einen Film vor dem Hintergrund bestimmter Werte sehen, die als ästhetische Urteilskriterien funktionieren und mit denen man diesen Film konfrontiert. Das ist das Gegenteil einer Kritik nach Lust und Laune, wie man sie in Frankreich in gewissen Zeitschriften zu lesen bekommt, wo man lediglich erfährt, dass ein Film gefällt und ein anderer nicht. Man erfährt nie, warum das so ist. Da gibt es kein System, keine Methode. Geht es nicht auch darum, dass man im Unterricht etwas einbringen sollte, was einem selbst nahe ist, wofür man sich begeistert, weil man nur so seine Begeisterung weitergeben kann? Doch, genau darum geht es. Wir haben gerade schon darüber gesprochen, inwiefern die pseudowissenschaftliche Perspektive kein wirkliches Auswahlkriterium abgeben kann. Ich habe jedenfalls irgendwann verstanden, dass das, was zuallererst vermittelt werden muss, die Liebe zum Film, die Liebe zum Kino ist – um wie Jean Douchet zu sprechen. Und man kann diese Liebe nicht vermitteln, wenn man nicht von der eigenen spricht. Gleichzeitig analysiert man Filme, die man wirklich mag, sehr viel genauer, un-
Ja, aber Ablehnung ist nicht schlecht. Ich erlebe das alle Tage. Selbst an der Fémis, wenn ich meinen Studenten einen Film zeige und offensichtlich davon begeistert bin, dann gibt es oft welche, die sich dagegen sträuben, die den Film ablehnen. Aber in diesem Fall können wir darüber diskutieren, und es zeigt sich, dass man darüber diskutieren kann, dass ein Film eben nicht nur «ich mag/ich mag nicht» ist. Die Studierenden erleben, dass man darüber sogar sehr grundlegende und eingehende Diskussionen führen kann, und nur so entwickeln sie sich weiter, machen Fortschritte. Wenn Ihnen jemand sagt, der Film, den Sie gut finden, sei schlecht, und Sie argumentieren dagegen und können ihm schließlich vermitteln, warum Sie den Film gut finden, dann haben Sie gute Arbeit geleistet. Sie haben ein Vermittlungsmedium entwickelt, das diese Form des gegenseitigen Austauschs meines Erachtens sehr gut ermöglicht, und zwar die DVD als Sammlung von Filmausschnitten. Sie basiert einerseits auf einer persönlichen Auswahl und von Verknüpfungen, die auf der DVD vorgeschlagen sind und zugleich – wie Sie es beschrieben haben – jedem einzelnen Nutzer erlauben, seinen eigenen Weg zu finden, seine eigenen Verbindungen zwischen den Filmausschnitten und Bildern herzustellen. Die Idee dieser DVD ist die eines kulturellen Kapitals, einer Bildungsressource, die auf einer bewussten Wahl beruht. Die in L‘Eden Cinéma versammelten Filme haben alle eine künstlerische Würde, die außer Frage steht. Das ist sehr wichtig. In der Schule bleibt nicht viel Zeit für Filmvorführungen, deshalb sollten die Filme unter künstlerischem Gesichtspunkt auf sehr hohem Niveau liegen. Die Auswahl, die ich nicht ganz alleine getroffen, aber von Anfang an mitbestimmt habe, ist die Wahl eines Filmliebhabers, der auf eine reiche Filmerfahrung zurückblickt, der einen Geschmack, ein ästhetisches Wertempfinden entwickeln konnte. Eine solche Sammlung hat normalerweise einen Herausgeber. Anders ist es im Fall des in Frankreich gerade initiierten CinéLycée, denn für dieses Projekt wurden die Filme durch einen Fernsehsender ausgesucht. Es gibt mit anderen Worten niemanden, der hinter dieser Auswahl steht.4 Die 4
CinéLycée ist ein Kooperationsprojekt des französischen Bildungsministeriums und der Fernsehgruppe France Televisions, das 2010 lanciert wurde. In diesem Rahmen werden monatlich über das Internet Klassiker bereitgestellt, die in schulischen Film-
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Gründe sind ökonomischer Natur und bleiben ansonsten im Dunkeln, da man nie erfahren wird, warum nun ausgerechnet diese und nicht andere Filme ausgewählt wurden. Die Auswahl von L‘Eden Cinéma kann ich jeweils begründen, jede DVD ist auf bestimmte Weise motiviert, und ich glaube, dass diese Motivation sehr wichtig ist. Ich glaube nicht, dass die Pädagogik wie eine frei verfügbare Werkzeugkiste funktionieren kann, sondern dass es da einer Benennung, einer Kennzeichnung, einiger Hinweise bedarf. Sie nennen als Beispiel eine Institution, das Fernsehen. Die Auswahl der Filme für das Projekt CinéLycée erfolgt nach der impliziten Logik einer Institution. Ähnliches gilt aber auch für einen etablierten filmhistorischen Kanon: Eine scheinbar objektive Sammlung historisch bedeutsamer Werke, zu der ein persönlicher Zugang fehlt, kann ebenfalls ‹erdrückend› sein. In L’EDEN CINÉMA gibt es dagegen mindestens einen Film, der der Filmgeschichte entgangen ist, nämlich LITTLE FUGITIVE (Ray Ashley, Morris Engel, Ruth Orkin, USA 1953). So ist es. Die Gefahr bei historischen Kunstwerken liegt übrigens darin, dass es eben auch Monumente, Denkmäler sind. Und Denkmäler können ein bisschen Angst machen, wenn man sie nicht durch einen bestimmten Zugang wieder zum Leben erweckt. Wenn das Bildungsministerium eine Liste mit Meisterwerken des Kinos, die man unbedingt sehen muss, durch dreißig Personen erstellen lässt, dann wird daraus natürlich kein L‘Eden Cinéma. Das Ganze bekommt etwas Schwerverdauliches, es wird zur Pflichtübung. Ich habe immer darauf geachtet, dass in L‘Eden Cinéma auch sehr ungewöhnliche und eigenartige Filme vertreten sind. In Petit à petit, le cinéma haben wir zum Beispiel Jonas Mekas aufgenommen. Er wurde nie zuvor Kindern gezeigt. L‘Eden Cinéma verfolgt nicht die Idee eines Pantheons. Gleichzeitig muss darin auch ein Film wie Sunrise (USA 1927) von F.W. Murnau vorkommen, natürlich, denn sonst wäre das keine gute Zusammenstellung. Es braucht eben beides. Es müssen darin Vorlieben erkennbar sein, man muss spüren, dass die Filme mit Leidenschaft ausgesucht worden sind, dass jemand Lust auf sie hatte, und dieser jemand bin in diesem Fall ich. Kommen wir noch einmal auf die DVD als Sammlung von Filmausschnitten zurück. Sie haben in «Kino als Kunst» geäußert, dass diese DVD in gewisser Weise ein «filmisches Denken» hervorbringt, indem sie Filmausschnitte zueinander in Verbindung setzt – ein Denken, das aus der Montage entsteht. In Deutschland clubs gesehen werden können. Vgl. www.cinelycee.fr. Datum des letzten Abrufs 17.08.2010. (Anm. B.H.).
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spricht man derzeit auch vom «filmischen Wissen». Glauben Sie, dass ein spezifisch filmisches Wissen existiert? Ich glaube nicht, dass es ein massives Wissen gibt, das man in einem Buch festhalten könnte. Aber ich bin überzeugt, dass es ein filmisches Denken gibt. Ein Denken ist kein fester Bestand, sondern etwas Dynamisches, das es ermöglicht, Filme in und als Bewegung zu erfassen. Ein Wissen wäre ein angehaltenes, erstarrtes Denken. Wenn es hingegen kein filmisches Denken gibt, dann gibt es nicht sehr viel. Was macht dieses filmische Denken aus? Das ist eine sehr gute Frage. Filmisches Denken kann sich nur im Laufe der Zeit herausbilden, niemand hat es schon mit achtzehn. Um filmisch zu denken, muss man Filme sehen, und man muss Verbindungen zwischen ihnen knüpfen, sie zueinander in Beziehung setzen, miteinander vergleichen. Deshalb gibt es auf einigen DVDs in L‘Eden Cinéma Verknüpfungen zwischen einer Vielzahl von Filmen. Denn man wird kein filmisches Denken entwikkeln, wenn man die Filme nur je für sich genommen betrachtet. Filmisches Denken setzt voraus, dass jemand Bezüge herstellt – entweder derjenige, der wie im Falle der DVD das Instrument dazu bereitstellt, oder der Lehrer. Denken heißt, die Dinge in Zusammenhang bringen. Aber das ist kein Wissen. Das Wissen brächte uns wieder zurück auf die Seite einer Wissenschaft, die nicht existiert, auf die Ebene von etwas Starrem, Unbeweglichem. Heute beschäftigen sich viele mit dieser Frage. Die Idee von Deleuze, dass der Film und das Denken etwas miteinander zu tun haben, ist allgemein akzeptiert. Das Problem stellt sich auf der pädagogischen Ebene, in der Frage der Vermittlung. Denn die Intellektuellen haben mittlerweile verstanden, dass das Kino denkt, dass es ein filmisches Denken gibt. Aber wie kann man es weitergeben, wie lässt es sich am besten vermitteln? Ich glaube auch heute noch, dass es das In-Beziehung-Setzen, der Vergleich ist. Das bringt mich zur Problematik von YouTube. Die Sache an sich ist absolut genial. Ich greife jeden Tag darauf zurück, wenn ich einen Filmausschnitt brauche. Ich gehe hin und finde ihn. Die Sache ist nur die: Ich weiß vorher genau, wonach ich suche. Anders formuliert, der gesuchte Filmausschnitt macht für mich insofern Sinn, als ich etwas Bestimmtes suche, um es mit etwas anderem in Beziehung zu setzen. Das ist bei Schülern anders. Sie gehen auf YouTube und finden alles. Aber wozu ist das gut? Was können sie damit anfangen? Sie werden sich von einem Filmausschnitt zum nächsten klicken, aber das führt am Ende zu nichts, es bleibt nur ein Gefühl der Verwirrung, der Benommenheit. Denn es gibt niemanden, der ihnen hilft, Verbindungen zu knüpfen, und
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nur wenige sind in der Lage, das alleine zu schaffen. Das Internet spornt auch nicht dazu an, Verbindungen zu knüpfen, ganz im Gegenteil. Deshalb glaube ich nicht an eine Pädagogik, die sich darauf reduziert. Das Internet ist ein geniales Hilfsmittel, das ja, aber es wird niemals einen Pädagogen ersetzen können. Die DVD erlaubt es auch, Filmausschnitte immer wieder anzusehen, immer wieder auf bestimmte Details zurückzukommen – was früher bei der Projektion im Kinosaal nicht möglich war, der Film entglitt immer dem Zugriff. Die DVD ermöglicht eine direkte Arbeit mit dem Material, eine Art kontemplative Anschauung, wie sie bisher vor allem in der Kunstbetrachtung üblich war. Natürlich. Die DVD hat für den Film möglich gemacht, was zum Beispiel die großen Kunsthistoriker wie Roberto Longhi in Italien mit Kunstwerken begonnen haben. Longhi griff ein bestimmtes Motiv heraus, etwa das Gewand der Jungfrau Maria, und sagte zu seinen Studenten, wir schauen uns das Gewand auf zehn Gemälden an, wir vergleichen dieses Motiv der Jungfrau, und wir werden die Dinge besser verstehen: Das Blau zum Beispiel, was ist das und wie wird es dargestellt? Im Kino war so etwas früher nicht möglich. Man sah die Filme einmal und sie verschwanden, man musste dann zwei Jahre warten. Mit der VHS hat sich die Situation verbessert, aber nur bedingt. Die Suche nach einem Ausschnitt, den man gerade brauchte, war letztlich viel zu zeitaufwendig, zu kompliziert, zu mechanisch. Mit der DVD ist das überhaupt kein Problem mehr. In einem Ihrer Texte «Éloge de la liste» (Bergala 2002) verwenden Sie ein Bild für Godards Filmgeschichte HISTOIRE(S) DU CINÉMA (F 1997–1998), das sich meiner Ansicht nach auch auf Ihre DVDs übertragen lässt. Sie sprechen dort von einer Karte, die ein Terrain absteckt und die Wege verzeichnet, die bereits jemand – der ‹passeur› – gegangen ist und die nachkommende Generationen nutzen können, um ihre eigenen Wege zu finden. In diesem Bild steckt die Idee des virtuellen Parcours entlang von Filmausschnitten. Auch in Hinblick auf den eben diskutierten kunsthistorischen Ansatz stellt sich für mich die Frage: Begreifen Sie die DVD als eine Art virtuelles Museum? Ja, im Sinne von Malraux. Die DVD ist kein gewöhnliches Museum, wo man ein Meisterwerk neben dem anderen findet. Denn das imaginäre Museum, sagt Malraux, ist ein Museum und mein Museum. Das Konzept des imaginären Museums ist großartig. Malraux sagte: Wir können uns jetzt Werke aussuchen und selbst zusammenstellen, und zwar nicht unbedingt so, wie es die Kunsthistoriker tun. Denn die Kunstgeschichte baut auf Einflussbeziehungen auf. Malraux zerstört aber genau das. Er sagt: Nein, ich
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werde jetzt dieses Flachrelief neben jene Skulptur von Picasso stellen. Es ist also ein Museum, aber es ist flexibel. Jeder findet darin seinen eigenen Weg. Ich halte natürlich sehr viel davon. Ich glaube nicht an eine unveränderliche Kunst- oder Filmgeschichte, sie wäre schwerfällig und langweilig. Man braucht Wegmarkierungen, Orientierungspunkte, sonst versteht man nichts. Aber sobald man sie hat, wird jeder die eigenen Wege gehen, und das ist das Schöne daran. Es gibt dazu einen wunderbaren Text von Michel Serres, Le Tiers-Instruit (1991), in dem er sagt, dass initiieren, also einweihen und einführen, in der Pädagogik «woandershin führen» (frz. conduire ailleurs) bedeutet. Der Pädagoge, sagt Serres, bricht mit den Kindern auf, verlässt das durch die Familie und die Schule markierte Terrain und begibt sich mit ihnen anderswohin. Er hat einen Vorsprung, aber irgendwann gelangen sie an einen Fluss und alle schwimmen, und in diesem Moment schwimmt der Pädagoge nicht besser als die Schüler. Er sieht das Ufer auf der anderen Seite, aber er leidet genauso, erleidet denselben Verlust wie sie. Er ist nicht der wissende Lehrmeister, sondern einer, der auf dem Weg, den er mit seinen Schülern noch vor sich hat, zu ihrem Gefährten wird. Er bleibt nicht in der Rolle des Aufklärers. Seine Aufgabe ist es, mit ihnen gemeinsam ausgetretene Pfade zu verlassen. Es gibt keine pädagogische Arbeit ohne Seitenpfade, ohne Wege, die querfeldein führen, sagt Serres. Geht man einen Weg von Anfang bis Ende und der Lehrer kannte diesen Weg vorher, dann ereignet sich nichts. Es gilt zu fragen: Welchen Vorsprung habe ich, wie gehe ich mit diesem Vorsprung um, bis wohin führe ich meine Schüler, und ab wann sind wir alle gleich und gehen den Weg gemeinsam? Da wären wir also wieder beim ‹passeur› angelangt. So ist es. Um noch einmal auf das Museum zurückzukommen: Sie haben gerade eine Ausstellung für die Cinémathèque française konzipiert: «Brune/Blonde» zum Motiv der Haare und der Frisur in der Film- und Kunstgeschichte. Diese Ausstellung ist eine Form der Filmvermittlung. Sie ist konzipiert nach einer Methodik, die für Ihre Vermittlungsarbeit charakteristisch ist. Sie wählen häufig einfache Motive, die einen Bezug zur Alltagsrealität haben, und treiben sie dann sehr weit: An ihnen entlang entfächern Sie komplexe Fragen der Filmästhetik und Zusammenhänge der Filmgeschichte. Können Sie etwas genauer auf die Pädagogik Ihrer Ausstellung eingehen? Ich bin froh, dass Sie das ansprechen, denn diese Ausstellung steht für mich in der Kontinuität meiner gesamten bisherigen Arbeit. Zunächst einmal ist
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sie sehr pädagogisch, denn ich nehme den Betrachter bei der Hand. Er muss die Ausstellung linear durchlaufen, er muss nacheinander die Geschichte, die Geografie, die Gesten usw. passieren,5 in dieser Hinsicht wird er also geleitet. Und ich habe die Beziehung zwischen den Ausschnitten und/oder den Kunstwerken wirklich ernst genommen, das heißt, ich habe bei der Auswahl immer an sehr präzise Bezüge gedacht. Ich kann die Ausstellung entlang spazieren und jeweils erklären, warum ein Bild ausgewählt wurde oder inwiefern mehrere Bilder von derselben Sache sprechen. Es gibt zum Beispiel drei Bilder, die das Zur-Pflanze-Werden der Haare thematisieren, wenn die Haare zu Blättern, zu Bäumen werden. Auf diesen Bildern haben sie einen direkten Bezug zum Pflanzlichen, wie im Ophelia-Mythos. Bei den zahlreichen Filmausschnitten war es ebenfalls wichtig, Bezüge herauszuarbeiten. Ich durchquere mit ihnen die Filmgeschichte, aber ich habe sie in gewisser Weise wirklich montiert, sie mit anderen Worten so zusammengestellt, dass sich ohne einen begleitenden Diskurs so etwas wie ein verbindender Pfad ergibt. Das war eine sehr aufwendige Arbeit. Wer sich Zeit nimmt, wird verstehen, warum ich von einem Stummfilm zu einem aktuellen Film und wieder zurück zu Buñuel springe. Was durch die Ausschnitte geleitet, sind bestimmte Ideen, nicht die Chronologie. Können Sie noch ein wenig ausführlicher auf das grundlegende Konzept der Ausstellung eingehen? Das Haar ist seit jeher ein wichtiges Motiv in der Malerei. Man braucht nur antike Stätten zu besuchen, um festzustellen, dass es bereits auf den Fresken ein wesentliches Motiv darstellt. Das gilt umso mehr für den Film. Die Haare waren und sind das Material, das sich am leichtesten modellieren, verändern, bearbeiten, in Bewegung versetzen, zum Leuchten bringen lässt. Es gibt nichts am menschlichen Körper, das sich dafür so gut eignet wie die Haare. Meine Idee war, dieses Motiv der weiblichen Frisur jeweils aufzugreifen und Zusammenhänge herzustellen. Ich wollte die wichtige Rolle der Haare in der Kunst- und der Filmgeschichte aufzeigen und beide anhand des Haarmotivs in Verbindung bringen, und dies vor dem Hintergrund der Weltgeschichte. Das war sehr wichtig für mich. Denn die Art und Weise, wie man Frauenhaar im 20. Jahrhundert darstellte, ist eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist kein beliebiges Motiv, ist weder belanglos noch oberflächlich. 5
Zur Ausstellung «Brune/Blonde» (Cinémathèque française 2010/11) siehe www.cinematheque.fr (17.08.2010) (Anm. B.H.).
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Ich stelle mir vor, dass der Besucher am Anfang die beiden Stereotypen ‹brünett› und ‹blond› vorfindet und dann entdeckt, dass die Ausstellung diese Stereotypen nach und nach untergräbt. Am Ende wird er nicht mehr so einfach darüber denken wie zuvor. Auch das ist pädagogisch. In der Ausstellung werden politische Fragen behandelt, es findet eine Reflexion zu stereotypen Frauenbildern statt. Es geht um die ‹Politik› der Haare und Frisuren, von den nationalsozialistischen und stalinistischen Ideologien über das Hollywoodsystem bis hin zu den Frauen- und anderen Befreiungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem spielt – wie ganz grundsätzlich in Ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Filmen – auch der künstlerische Schaffensprozess eine wichtige Rolle: Einerseits als Thema von Filmen und Motiven – insofern gerade das Frauenporträt oft als Reflexionsfläche der Beziehung zwischen Künstler und Modell dient –, andererseits aber auch dadurch, dass Sie Regisseure gebeten haben, für die Ausstellung Kurzfilme zum Thema ‹weibliche Frisur› zu drehen und so ihre eigene Reflexion beizusteuern. Ihre Auseinandersetzung mit dem filmischen Schaffensprozess steht – um noch einmal auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen – in der Tradition der Autorenpolitik, der international einflussreichsten Strategie der französischen Cinéphilie. Zugleich versuchen Sie diese Autorenpolitik aber auch zu erneuern oder zu überwinden. Als die politique des auteurs damals in Erscheinung trat, war sie für den Film wesentlich und unentbehrlich, und sie hatte enormen Erfolg. Aber wie so oft wurde dieser Erfolg pervertiert. Heute ist die Autorenpolitik zu etwas geworden, das sich nur noch schwer nachvollziehen lässt. Sie hat sich mit solchem Triumph durchgesetzt, dass sie sinnlos wurde. In Frankreich begreift sich heute jeder als Autor; es gibt praktisch niemanden mehr, der einen Film macht, ohne dabei als Autor aufzutreten. Selbst der Nachwuchsregisseur, der seinen ersten Film dreht, hält sich für einen. Auf dieser Ebene ist alles ein bisschen undurchsichtig geworden. Was mich stattdessen interessiert, ist der Schaffensakt, die Frage, ob und wann man tatsächlich von einem Schaffensakt sprechen kann, denn nur das hat Bedeutung. Welche Rolle spielt der Filmemacher in diesem Schaffensakt, wie nimmt er ihn in Angriff, wie zieht er ihn auf, wie geht er vor? Ich denke, dass es nicht ausreicht, die Filme lediglich von außen zu sehen. Man muss sie von innen her verstehen, muss tendenziell nachvollziehen, was da für den Schaffenden passiert ist. Für mich ist das die höchste Form des Kunstverstehens, sich nicht auf die Rolle des Zuschauers des Filmprodukts zu beschränken, sondern sich die Mühe zu machen, die Entstehungsprozesse zumindest im Ansatz nachzuvollziehen. Das ist
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nicht so schwer, wie es scheint; man kann es schaffen, wenn man will. Es erfordert lediglich Intuition, gutes Zuhören, einen guten Blick. Schwerer ist es dagegen, den Lehrenden diese Notwendigkeit zu vermitteln.
gezeigt. Aber Gray wählt diesen sehr eigenartigen Ausschnitt. Sein ChefKameramann hat sicher gesagt: Du bist verrückt, du machst Haare ohne Kopf. Gray aber wollte genau das.
Es scheint mir da verschiedene Haken zu geben. Zum einen könnte man in die veraltete Frage zurückfallen: Was war die Intention des Autors?
Das führt zu den anderen beiden Polen Ihrer Pädagogik. Zum einen zu der bereits diskutierten Verknüpfung von Filmausschnitten: Man kann sich die verschiedenen Möglichkeiten des filmischen Schaffens bewusst machen, indem man Ausschnitte miteinander vergleicht, die sich einem ähnlichen Sujet, Motiv, einer ähnlichen Geste, Handlung etc. widmen – beispielsweise dem Motiv der Haare, wie Sie es in Ihrer Ausstellung machen. Zum anderen führt es auch zur filmischen Praxis. Sie haben in den 1980er Jahren selbst vier Spielfilme gedreht,6 was Ihre wissenschaftliche und analytische Auseinandersetzung mit dem Film sicherlich bereichert hat. Ist es notwendig, selbst Filme zu drehen, um den Schaffensprozess analysieren zu können?
Mich interessiert nicht, was er wollte. Ich will verstehen, wie er vorgegangen ist, vor welchen Entscheidungen er gestanden und wie er sie gelöst hat. Da wären noch andere Fallstricke. So gibt es einige filmgeschichtliche Publikationen, die den Produktionsprozess vor allem über Anekdoten, insbesondere zu den Stars, erzählen. Das ist sicherlich nicht Ihr Ansatz. Aber wie kann man vermeiden, zum Anekdotensammler zu werden, da man oftmals gar nicht weiß, was sich am Set abgespielt hat, sodass man darüber nur spekulieren kann? Was Sie sagen, trifft auf filmisches Bonusmaterial offensichtlich zu. Es gibt viele Filmboni, die belanglos sind, da man darin absolut nichts über den eigentlichen Produktionsprozess und noch weniger über das Wesen des filmischen Schaffens erfährt. Will man sich dem Schaffensakt wirklich nähern, so muss man sich sehr viel ernsthafter und reflektierter damit befassen, muss ihn sich erarbeiten. Informationen über die Dreharbeiten zusammenzutragen reicht da nicht. Man kann sehr viel wissen, ohne das Geringste vom künstlerischen Schaffen zu verstehen, und man kann nichts über die Dreharbeiten wissen und sehr viel davon verstehen. Die Reflexion beginnt genau genommen dort, wo man sich bewusst macht, dass das, was man im Film gerade sieht, auch anders hätte gestaltet sein können: Wenn man sich bei einer beliebigen Szene vorzustellen versucht, welche Alternativen es gegeben haben mochte, die dem Filmemacher sicherlich auch durch den Kopf gegangen sind. Die Frage ist: Warum entschied er sich so und nicht anders? Im Film, und darin liegt die Schwierigkeit, ist alles so präsent und augenscheinlich, dass man es als gegeben annimmt. Man denkt, es muss exakt so sein. Nur ist dies niemals der Fall. Ich arbeite gerade an einer Sequenz aus Two Lovers (James Gray, USA 2008). Ein Mann und eine Frau sind auf einem Dach, es handelt sich um eine Trennungsszene. Die Entscheidungen, die Gray hier getroffen hat, hätte niemand anderes in dieser Form getroffen. Im Gegenschuss sieht man zum Beispiel anstatt des Nackens der Frau nur die fliegenden Haare, auch der Kopf ist nicht sichtbar. Das ist eine echte künstlerische Entscheidung. Jemand anderes hätte in einem normalen Gegenschuss die Haare und den dazugehörigen Kopf
Ich denke, bereits die kleinste filmische Übung tut einem sehr gut. Als ich für das Bildungsministerium arbeitete, habe ich Fortbildungen für Lehrer und Hochschullehrer geleitet. Wenn sie kamen – in La Ciotat waren es einmal an die hundert –, erwarteten sie, dass ich ihnen eine Vorlesung halte. Doch ich hatte etwas anderes vor, ich sagte ihnen gleich am ersten Tag Folgendes: Sie werden sich auf den Weg machen, man wird Ihnen vorher ein paar Dinge erklären, man wird Ihnen zeigen, was ein Tourné-monté ist (ein direkt in der Kamera geschnittener Film), und dann haben Sie zwei Stunden Zeit, um La Ciotat zu entdecken, und in zwei Stunden kommen Sie wieder mit einem Film über diese Stadt. Die Teilnehmer waren natürlich wie gelähmt. Manche von ihnen unterrichteten Film seit zwanzig Jahren, ohne je eine einzige Einstellung gedreht zu haben. Und jetzt sollten sie in zwei Stunden einen Film über La Ciotat drehen. Es war wunderbar. Es war, als hätte man ihnen plötzlich erklärt: Sie stehen jetzt seit zwanzig Jahren am Wasser, ich werfe Sie kurz hinein und Sie werden sehen, wie das ist. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Filme nach dem Vorbild der Brüder Lumière zu drehen, das sind etwa einminütige Einstellungen mit fixer Kamera. Wenn man das, und sei es nur ein einziges Mal im Leben, gemacht hat, ist das sehr nützlich. Man wird so manches verstehen. Denn wenn man einen Film analysiert, muss man ja keine kreativen Entscheidungen treffen. Doch es reicht schon eine einzige Lumière-Einstellung, um zu begreifen, was es heißt, sich zu entscheiden: für einen bestimmten Ort, 6
[Anm.d.Hg.:] Die Filmografie Bergalas umfasst folgende Filme: Faux fuyants (zusammen mit Jean-Pierre Limosin 1983), Où que tu sois (1987), Cesare Pavese (1995, als Teil der Reihe Un siècle d‘écrivains), Fernand Léger, les motifs d‘une vie (1997), D‘Angèle à Toni (1998).
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an dem ich drehen will; für den Standort der Kamera, je nachdem, wo etwas passiert; für ein bestimmtes Licht, denn davon hängt ab, ob ich um vier oder um acht Uhr drehe. Hat man eine Einstellung zustande gebracht, so hat man zumindest einmal alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Um diese Erfahrung zu machen, muss man keinen langen Spielfilm drehen, es geht sehr viel schneller und einfacher. Das ist auch ein Beispiel für sinnvolle pädagogische Beschränkungen oder ‹Spielregeln›. Eine Einstellung zu drehen, das ist eine klar begrenzte, überschaubare Aufgabe, die dennoch einen Einblick gibt in die Komplexität und die Subtilität des bewegten Bildes. Denn wenn man sofort montiert, denkt man eher daran, wie man montieren möchte, und nicht an die Konzeption der Einstellung selbst. Natürlich, das ist das Wesentliche am Film, man muss Entscheidungen treffen, und man trifft sie alle gleichzeitig: Ort, Uhrzeit, Licht, Bewegung – die wesentlichen Entscheidungen stecken schon in den Lumière-Einstellungen. Was die Tournés-montés anbetrifft, die ich drehen lasse, so gibt es da noch einen anderen interessanten und sehr wichtigen Aspekt, nämlich die Zeitbeschränkung. Zwei Stunden reichen nicht zum Überlegen, ob man nun über Farben oder über Rhythmen arbeiten will. Und am Ergebnis sieht man plötzlich, was man ist und wer man ist: Die Tourné-montés ähneln immer denjenigen, die sie gemacht haben. Wir schauen uns die Arbeiten am Ende alle gemeinsam an, das ist sehr wichtig. Denn an dieser einen Übung, ausgehend von ein und derselben Regel, zeigt sich, wie jeder existiert. Es ist eine Möglichkeit, sich selbst zu entdecken. Heute ist es übrigens kein Problem mehr, ein Tourné-Monté mit dem Fotoapparat oder dem Handy in zwei Stunden zu drehen. Die Ausrede, dass man dazu eine Kamera benötigt, gilt nicht mehr. Zum Abschluss noch eine allgemeine Frage: Planen Sie in Zukunft ein neues pädagogisches Projekt? Es gibt zwei Themenbereiche, an denen ich arbeite und auch in Zukunft arbeiten werde. Das ist zum einen die Frage des Schauspielers, und besonders der Kinderschauspieler in Kinderfilmen. Warum spielen Kinder immer so schlecht in den Filmen, die von Kindern gemacht wurden? Weil sich niemand darum kümmert, weil die Betreuer und die Lehrer es nicht für so wesentlich halten. Darüber hinaus habe ich mich vertraglich verpflichtet, ein Buch über Filmschauspieler zu schreiben. Zum anderen arbeite ich seit einiger Zeit über das Spiel. Was ist ein Spiel? Ich spreche vom Spiel im Sinne von Spielen, wie bei Kindern, die spielen. Inwiefern ähnelt das filmische Schaffen einem Spiel und mobili-
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siert Mechanismen des Spielens? Ich suche nach Filmen zu diesem Thema. Sofern es L‘Eden Cinéma noch geben wird, werde ich eine DVD über das Spiel zusammenstellen. Das ist ein sehr schönes Thema: Welchen Anteil hat das Spiel am Schaffensakt? Worin liegt der spielerische Aspekt? Aus dem Französischen von Ksymena Wojtyczka.
Literatur Bergala, Alain (2006) Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Marburg: Schüren. – (2002) «Éloge de la liste. In: Allons z’enfants au cinéma: Une petite anthologie de films pour un jeune public. Hg. v. Catherine Schapira. Paris: Les enfants de cinéma; S. 8–21. – (1975) Pour une pédagogie de l‘audio-visuel. Marseille. Serres, Michel (1991) Le Tiers-Instruit. Paris: Gallimard.
Cary Bazalgette
Filmerziehung und Medienkompetenz Eine englische Perspektive
Der vorliegende Text besteht aus drei Teilen. Zunächst analysiert er den Begriff ‹Medienkompetenz› und seine Verwendungsweisen in der anglophonen Kultur; zweitens präsentiert er ein Argument für den Ort der Filmerziehung innerhalb einer weiter gefassten pädagogischen Agenda; und drittens beschreibt er einen englischen Ansatz der Filmerziehung, an dem ich selbst beteiligt bin. Dieser dritte Teil soll die ersten beiden illustrieren und unterstreichen. Medienkompetenz (Media Literacy) Die meisten von uns neigen zu Höflichkeit und Bescheidenheit im Umgang mit anderen Sprachen. Dazu haben wir allen Grund. Wir gehen in der Regel davon aus, dass die Fremden wissen, wovon sie sprechen, und die Bedeutung dessen, was sie sagen, objektiv und rational erläutern können. Wenn man mich also fragt, warum der Begriff ‹Medienkompetenz› in Mode gekommen ist, geht man wohl davon aus, dass ich erklären kann, wie er das Feld zu erhellen und unser Denken voranzubringen vermag. Es sollte also gute Gründe dafür geben, den Begriff zu verwenden, und wir sollten wissen, was wir damit meinen. Unglücklicherweise aber ist ‹Medienkompetenz› ein insgesamt wenig hilfreicher Begriff: Er stiftet Verwirrung, er verdunkelt eher, als dass er erhellt, und er marginalisiert im Endeffekt. Bevor ich mich nun der Frage widme, wie es dazu kommen konnte, muss ich einen gewissen linguistischen Hintergrund liefern. Das Wort literacy lässt sich nicht leicht in andere Sprachen übersetzen. Das liegt daran, dass das Substantiv literacy und das Adjektiv literate im Englischen auf zwei Weisen verwendet werden: Einerseits bezeichnen sie eine grundlegende funktionale Kompetenz in Lesen und Schreiben, andererseits ein hohes Maß an generellem kulturellen Verständnis und kommunikativen Fähigkeiten. Im Deutschen würde man für die erste Bedeutung den Begriff ‹Kompetenz› verwenden, für die zweite ‹Bildung›. Im Französischen verwendet man alphabétisation für die erste Bedeutung, aber interessanter-
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weise gibt es noch keinen Konsens darüber, wie die zweite Bedeutung zu übersetzen ist. Es ist klar, dass die beiden Bedeutungen nicht neutral sind. Jede ist auf ihre Weise ideologisch belastet und bezieht sich auf Annahmen darüber, warum Medienkompetenz wichtig und wofür sie gut ist. Sprechen wir von der grundlegenden Kompetenz, einfache Anweisungen lesen und ein, zwei einfache Sätze schreiben zu können? Konservative mögen das als ausreichend für die arbeitende Bevölkerung betrachten, denn sie wollen diesen Menschen keinen Zugang zu Texten ermöglichen, die ihnen ein unerwünschtes Verständnis ihres eigenen Stellenwerts vermitteln könnten – radikale Zeitungen zum Beispiel, möglicherweise auch die Bibel. Oder sprechen wir von Schriftkompetenz als Schlüsselelement jeder Emanzipation: ein Mittel, um sich aus Fron und Unterdrückung zu befreien und vollen Zugang zum sozialen, kulturellen und politischen Leben zu erlangen? Historisch war die Idee einer so verstandenen ‹Bildung für alle› immer ein zentrales Thema radikaler Politik, und entsprechend waren Konservative einer allgemeinen Bildung gegenüber immer feindselig eingestellt. Sie hielten sie für gefährlich und destabilisierend. In jüngerer Zeit hat der Begriff ‹Bildung› allerdings einen traurigen Bedeutungsverlust erlitten und vermag keine so mächtigen Diskussionen mehr auszulösen wie früher. In den USA gibt es eine altehrwürdige Tradition, den Begriff ‹Kompetenz› als eine Art Wahlkampfschlagwort zu verwenden. Indem man ihn allen möglichen Gegenstandsbereichen hinzufügt, entsteht daraus wie von selbst ein Anspruch: Wenn es sich um eine Kompetenz handelt, so ist das etwas Wichtiges, das alle haben sollten. So hatten wir zum Beispiel schon wissenschaftliche Kompetenz, Gesundheitskompetenz, visuelle Kompetenz, digitale Kompetenz, emotionale Kompetenz, Informationskompetenz, Spielekompetenz und Medienkompetenz, um nur einige zu nennen. Was aber waren die Auswirkungen, seit man begann, den Begriff ‹Medienkompetenz› als politisches Schlagwort zu verwenden? Ich werde das aus der britischen Perspektive beschreiben. Wir haben eine ansehnliche Tradition der Medienpädagogik, die sich zumindest bis in die 1930er Jahre zurückführen lässt.1 Seit den 1970er Jahren ist vor allem der Umstand geläufig, dass wir eine Anzahl von spezialisierten Media Studies- und Film Studies-Kursen für 14- bis 18-Jährige entwickelt haben, die Schülern dazu verhelfen können, sich für die Universität zu qualifizieren. Diese Kurse sind allerdings freiwillig, und obwohl sie jährlich von über 10.000 Teilnehmern besucht werden, macht dies nur rund sieben Pro1
Für eine Darstellung dieser älteren Geschichte vgl. Bolas 2009.
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zent der Altersgruppe aus. In jüngerer Zeit wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass dies nicht ausreicht: Medienerziehung sollte für alle zur Verfügung stehen, und sie sollte schon bei jüngeren Kindern beginnen. Bei der Durchsetzung dieses Anspruchs ist einiges erreicht worden: So enthalten die allgemeinen Lehrpläne aller vier Nationen des Vereinigten Königreichs kleinere Unterrichtseinheiten, die allerdings nicht durch die Lehrerausbildung und -bewertung unterstützt werden; auch gibt es in der Praxis große qualitative Unterschiede. Unabhängig davon, auf welcher Stufe Medienerziehung stattfindet, ist man sich generell einig, dass sie sich auf alle Medienformen beziehen sollte. Film, Fernsehen, Radio, Zeitungen, Magazine und populäre Musik wurden allesamt im Zusammenhang damit thematisiert, und die traditionellen Gegenstände wurden inzwischen um Computerspiele, Websites und soziale Netzwerke erweitert. Es gab eine ältere Tradition der Filmerziehung in Großbritannien, die bis in die 1970er Jahre wirksam war. Danach entwickelte sich eine stärker theoretisierte Version des Medienunterrichts, wobei Film als Teil der populären Kultur betrachtet wurde. Doch als die neue Labour-Regierung unter Tony Blair 1997 ins Amt kam, wurden Film und andere Medien in der politischen Arena ganz anders behandelt, und dies hat sich auf den Medienunterricht ausgewirkt. Eine der ersten Entscheidungen der neuen Regierung war, großzügig in Film zu investieren. Sie richtete das UK Film Council ein, das britische Filme finanziell unterstützte und auch vermarktete. Diese neue Bürokratie brachte das mit sich, wozu Bürokratien im Allgemeinen neigen: Es entstand eine Reihe neuer Filmorganisationen im ganzen Land. Das Council übernahm auch die Finanzierung des British Film Institute. Später stellte Gordon Brown noch einmal elf Millionen Pfund für die Einrichtung einer eigenständigen Organisation zur Verfügung, die nachmittägliche Filmclubs an Schulen betrieb. Die Absicht hinter all dem – der Versuch, den kulturellen Status des Films im Vereinigten Königreich zu verbessern – ist löblich, aber bei der Umsetzung des Plans lief vieles durcheinander, und bedauerlich war vor allem das Versäumnis, sich auf intelligente Weise mit jenen ins Einvernehmen zu setzen, die bereits Film und andere Medien unterrichteten. Bei anderen Medien wählte die Regierung einen anderen Weg. 2003 wurde eine neue Behörde für Fernsehen, Telefonie und Internet eingesetzt. Sie bekam den Namen Ofcom. Neben weiteren Verantwortlichkeiten wurde Ofcom dazu verpflichtet, «mit anderen (Stellen) zusammenzuarbeiten, um Medienkompetenz zu fördern». Die Idee, die Verantwortlichkeit dafür gesetzlich festzulegen und eine Behörde damit zu betrauen, entsprang einer jener regelmäßig wiederkehrenden und wohl typisch angelsächsischen, moralisch motivierten Panikattacken über den Einfluss der Medien auf jun-
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ge Menschen, und dies vor allem in Hinblick auf Sex und Gewalt. Politiker sahen in der Förderung von Medienkompetenz primär ein probates Mittel, die Lobby der Jugendschützer ruhigzustellen. Die Argumentationslinie war: «Es ist sehr schwierig, Kinder von diesem Zeug gänzlich fernzuhalten, aber wir können ihnen immerhin die kritischen Fähigkeiten vermitteln, dem etwas entgegenzusetzen». Von Anfang an stand Medienkompetenz im Vereinigten Königreich in einer verzerrten Perspektive: Erstens wurde sie vor allem als Aspekt des Jugendschutzes betrachtet; zweitens schien es keinen Zusammenhang mit der Analyse von Filmen oder der Presse zu geben, denn dafür war Ofcom nicht zuständig; und drittens schien sie wenig mit den in Großbritannien seit langem bestehenden Traditionen zu tun zu haben, die sich als ‹Medienerziehung› mit allen Medien beschäftigen. Es gab keine Gelegenheit zur offenen Diskussion darüber, was ‹Medienkompetenz› bedeuten könnte. Branchen, die durch Ofcom reguliert wurden, mussten den Eindruck haben, dass es sich um etwas Neues handelte und etwas, wozu sie etwas anzubieten hatten. Sie sahen eine Gelegenheit, ihre eigenen Produkte und Dienstleistungen unter dem Deckmantel des Medialen neu aussehen zu lassen. So konnte ein aufregender Blick hinter die Kulissen einer Fernsehproduktion als Medienkompetenz verkauft werden und ebenso die Erweiterung der digitalen Fähigkeiten, derer es für den Erwerb eines Mobiltelefons der nächsten Generation bedarf oder für einen Vertragsabschluss zur Einrichtung einer schnelleren Breitbandverbindung. Ich muss hier betonen, dass all dies nicht die Schuld von Ofcom war: Ofcom hat sein Möglichstes getan, um in dieser schwierigen Situation allen Anforderungen gerecht zu werden, und hat einige wichtige medienpädagogische Initiativen unterstützt. Das Problem resultiert aus der Entscheidung der Regierung, die Verantwortlichkeit für Medienkompetenz einer Regulierungsbehörde zu übertragen – sowie von vornherein aus der Wahl des Begriffs ‹Medienkompetenz›. Diese Erläuterung hat wahrscheinlich nicht zur Klärung von ‹Medienkompetenz› beigetragen oder die Stellung der Filmerziehung darin präzisiert. Medienkompetenz ist – bisher – ein Durcheinander, schlecht durchdacht, schwer übersetzbar, zwiespältig und vage. Aber in gewisser Weise war das beabsichtigt. Ein großer, so vieles umfassender Begriff dient dazu, den Streit zu übertönen, der zwischen den verschiedenen Bereichen der Medienerziehung schon lange schwelt. Es ist eine verständliche politische Reaktion auf einen Kontext, der durch viele Rivalitäten, einander widersprechende Dogmen und divergente Praktiken geprägt ist, die sich über die Jahre entwickelt haben. Sicherlich dienen die meisten Stellungnahmen zur Medienkompetenz heute dazu, einen Konsens zu stiften. Sie sind so vage und allgemein, weil man niemanden vor den Kopf stoßen
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will, und können daher in der Praxis auf jede erdenkliche Weise ausgelegt werden. Mir geht es nun nicht darum, dass Filmpädagogik Medienkompetenz einfach ignorieren und ihre eigene Agenda vorantreiben sollte. Dies aus zwei Gründen: Erstens wird das Konzept ‹Medienkompetenz› nicht verschwinden, denn es hat sich in der europäischen Politik etabliert und gewinnt in den einzelnen Staaten zunehmend an Gewicht. Es ist schwierig einzuschätzen, wie sich die Sache entwickeln wird, denn sie ist noch relativ jung: Es gab politische Statements und Ausschreibungen,2 und aus klugen Forschungsprogrammen und entsprechenden Finanzierungen könnten sich kohärentere und zweckgerichtetere Programme ergeben. Filmerziehung und Medienkompetenz Der zweite Grund, der dafür spricht, dass Filmpädagogen das Fach Medienkompetenz nicht ignorieren sollten, ist noch viel wichtiger. Er liegt darin, dass aus der Perspektive des Lernens Medienkompetenz ohne Filmpädagogik nichtig ist. Schließlich sind es die Bedürfnisse der Lernenden, die wirklich zählen, und wenn ich hier für Filmerziehung als Teil der Medienkompetenz plädiere, dann nicht, weil es den Politikern, den Bildungsbehörden oder den Konzernen ins Konzept passt, sondern weil es dem Kind dient. Und ich möchte mich auf sehr junge Kinder konzentrieren, denn das Lernen beginnt sehr früh, und bei allen pädagogischen Unternehmungen müssen wir immer bedenken, was die Kinder bereits vor der Schule gelernt haben mögen: 59 Prozent haben im Alter von sechs Monaten schon ferngesehen; über 70 Prozent können mit zwei Jahren den Fernseher einschalten, und mit fünf haben die meisten Kinder ihre eigenen DVD-Sammlungen und spielen immer wieder ihre Lieblingsstellen ab (vgl. Marsh/Brooks/ Hughes/Ritchie/Roberts/Wright 2005). Wir wissen zwar nicht genau, was das bedeutet, aber wir können davon ausgehen, dass sie etwas dabei lernen, denn kleine Kinder lernen nun einmal aus Neugierde. Es hat also wenig Sinn, eine puristische Auffassung von ‹Film› anzusetzen, wenn wir über das Vorschulalter sprechen. In diesem Alter bekommen die Kinder es daheim mit einer Vielfalt von bewegtem Bildmaterial zu tun, entweder im Fernsehen oder auf Computern oder in beiden Formaten. Manches davon wird Film sein, anderes nicht. Deswegen werde ich von hier an den Begriff ‹Bewegtbildmedien› genauso häufig oder so-
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Siehe zum Beispiel die Seiten der Europäischen Kommission zu Medienkompetenz auf http://ec.europa.eu/avpolicy/media_literacy/index (Zugriff am 07.05.2010).
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Marsh/Brooks/Hughes/Ritchie/Roberts/Wright 2005, 25
gar häufiger als ‹Film› verwenden, denn ich möchte in Erinnerung halten, dass Film nur ein Teil der gesamten Bewegtbilderfahrung ist. Die Diskussion darüber, was Kinder aus dem Fernsehen und anderen Bewegtbildmedien lernen, beschränkt sich üblicherweise auf den Inhalt: auf die Information und die Geschichten, die sie mitbekommen. Das ist selbstverständlich wichtig. Aber dieses Lernen muss noch eine weitere Dimension bekommen, damit sie in der Lage sind, diese Medien wirklich zu verstehen. Kinder müssen die Rhetorik von Bewegtbildern lernen und internalisieren: Mittel wie Bildgestaltung, Schuss/Gegenschuss-Einstellungen, Schnitte, Übergänge und nicht-diegetischer Ton. Dass sie diese Sachverhalte noch nicht artikulieren können, heißt allerdings nicht, dass sie die Konventionen gar nicht verstehen – sie sind schließlich nicht so schwer zu erfassen. Wir betrachten sie gewöhnlich nicht als erlernte Konventionen, weil sie uns so selbstverständlich erscheinen. Doch es handelt sich durchweg um Strategien, die Filmemacher im Lauf der Jahre erfunden haben, weil sie sinnvoll sind. In allen Bewegtbildmedien dienen sie spezifischen Zwecken, und diese Zwecke lassen sich analysieren. Das Medienlernen von Vorschulkindern hat aber noch eine weitere Dimension. Sie eignen sich unbewusst einige der Schlüsselkonzepte an, die wir alle einsetzen, wenn wir gedruckte oder bewegte Bilder interpretieren: Dinge wie Erzählung, Genre und Figuren-Ikonografie. Die Fähigkeit, die damit verbundenen Strategien zu erkennen und zu deuten, macht es erst möglich, ein Buch zu genießen. Wir müssen wissen, wie man aus einem Text Folgerungen und Vorausdeutungen ableitet, um daraus die Befriedigung zu gewinnen, die in deren Bestätigung (oder Widerlegung) liegt. Das ist eines der Vergnügen bei der Begegnung mit Texten. Wie wichtig ist es also, dass Kinder diese Fähigkeiten – nunmehr in Beziehung auf Film und Fernsehen – von klein auf erwerben? Die populäre Ansicht ist, dass dies
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sehr wichtig ist – und problematisch. Nach weit verbreiteter Ansicht hält das Fernsehen, vor dem die Kinder viel Zeit verbringen, sie davon ab, Bücher zu lesen. Sie gewöhnen sich dabei an bestimmte Formen des Erzählens (die häufig als ‹leicht› und ‹evident› charakterisiert werden), was mit sich bringt, dass sie mit der anspruchsvolleren Lektüre gedruckter Texte nicht zurechtkommen. Der Effekt dieser ‹Volksweisheit› ist, dass Lehrkräfte, die im muttersprachlichen Unterricht junger Kinder tätig sind, große Vorbehalte gegen TV und Film hegen. Selbst wenn man sie davon überzeugen kann, dass diese Medien eine gewisse Bedeutung im Leben der Kinder haben, akzeptieren sie diese häufig nur als Mittel zur Unterstützung der ‹richtigen› Befähigung zum Lesen und Schreiben. In dieser Sichtweise haben die Medien kein Eigengewicht: Ihre Spezifika sind ohne Belang. Es ist auf diese Annahmen zurückzuführen, dass die Filmerziehung in vielen Ländern dem muttersprachlichen Unterricht zugeordnet wurde, und viele Leute werden dies gerechtfertigt finden, denn Filmerziehung behält dadurch ‹einen Fuß in der Tür› der allgemeinen Lehrpläne. Ich halte das jedoch für gefährlich und falsch. Wie all die anderen Versuche, die Nützlichkeit verschiedener Kunstformen für den Lehrplan zu erproben und zu erweisen, nötigt uns auch dieser zu einem fatalen Kompromiss. Wenn wir behaupten, dass Kinder durch Theater besseres Verhalten lernen oder mit Musik besser in Mathematik werden, dann vergessen wir über dieser Funktionalisierung, warum wir diese Künste ursprünglich für wesentlich gehalten haben. Wir lassen es zu, dass die Filmerziehung auf fatale Weise marginalisiert wird. Ich plädiere allerdings nicht dafür, Filmerziehung unbedingt als eigenes Fach zu etablieren. Ständig neue Fächer in den Lehrplan aufzunehmen ist ein hoffnungslos veralteter Ansatz, der im pädagogischen Modell des 19. Jahrhunderts wurzelt. In der ganzen Welt geht die progressive Schulpolitik dazu über, die Idee des altmodischen Einzelfach-Lehrplans zumindest für die Grundschulen aufzugeben. Sogar in England steht das zur Diskussion! Bei öffentlichen Konsultationen über den neuen Grundschullehrplan haben Medienerzieher dafür plädiert, dass Filmerziehung Teil eines Bereichs «Englisch, Kommunikation und Sprachen verstehen» sein sollte – und es gibt tatsächlich eine Akzeptanz dieses Konzepts bei der für Lehrpläne zuständigen Stelle, der Qualifications and Curriculum Development Agency. Ich habe aber noch einen zweiten Grund, Filmerziehung als eigenes Fach abzulehnen. Er hat mit meinen Bedenken gegenüber dem Begriff ‹Medienkompetenz› zu tun. Wie schon erörtert, führt der Gebrauch dieses Begriffs garantiert zur Marginalisierung. Medienkompetenz wird dadurch zu einem weiteren kleinen Erfordernis, das irgendwie in den Lehrplan
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passen muss. Dasselbe Problem entsteht, wenn wir uns dafür einsetzen, Filmerziehung in den Lehrplan aufzunehmen: Sie wird dann hineingezwängt, und die Lehrer, die sich dafür interessieren und dazu bereit sind, werden sie in den Unterricht einbeziehen, während der Rest sie ignorieren oder nur unzureichend behandeln wird. Wir müssen unser Plädoyer für Filmpädagogik ein wenig mutiger und ambitionierter zum Ausdruck bringen. Vor allem sollten wir nicht versuchen, die Filmpädagogik vor der vermeintlichen Bedrohung durch das Fach Medienkompetenz zu beschützen. Vielmehr gilt es der Lobby der Medienkompetenzler gegenüber zu demonstrieren, dass Filmpädagogik ein wesentlicher und zentraler Teil des Faches ist, sodass es ohne sie sinnlos wäre. Gleichzeitig gilt es zu erkennen, dass der Begriff ‹Medienkompetenz› selbst ein Problem darstellt. Er ist gerade deswegen so attraktiv für Politiker, weil sie damit der großen Herausforderung ausweichen können, die im Zentrum der Pädagogik des 21. Jahrhunderts steht: Was heißt es heute eigentlich, literat zu sein? Wir stecken diesbezüglich immer noch in einem Modell aus dem 19. Jahrhundert fest. Untersuchungen über die Bildungserfolge in unterschiedlichen Ländern umfassen grundlegende funktionale Kenntnisse in Lesen und Schreiben als Schlüsselelemente für internationale Vergleiche. Wenn die Vereinten Nationen oder die CIA das Entwicklungsniveau in verschiedenen Ländern einschätzen, dann verwenden sie die funktionale Alphabetisierung als Standardmessgröße neben der Lebenserwartung, dem Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung usw. Dementsprechend groß ist die Herausforderung, unser Verständnis dessen, was zur ‹Alphabetisierung› gehört, zu hinterfragen und zu verändern. Das wird so schnell nicht passieren, und natürlich wird niemand bestreiten, dass Lesen und Schreiben von immenser Bedeutung sind und deshalb auch ein brauchbares Kriterium für die Bemessung und den Vergleich von Bildungserfolgen darstellen. Aber das kann nicht das einzige Kriterium sein, nach dem wir entscheiden, was Kinder in der Schule lernen sollen. Wir müssen auch in Betracht ziehen, in welche Welt sie hineinwachsen und wie wir sie am besten darauf vorbereiten. Langfristig muss das Repertoire an Fähigkeiten, das ein Individuum als gebildet ausweist, sodass es kompetent in seiner Gesellschaft und Kultur funktioniert, auch die Fähigkeit umfassen, mit anderen als den gedruckten Medien umzugehen. Und darunter sind die Bewegtbildmedien Film, Fernsehen und zunehmend auch Computerspiele die vorrangigen. Heute wird viel über digitale Medien und Innovationen wie soziale Netzwerke und die Verwendung mobiler Endgeräte geredet. Doch es zeigt sich, dass diese neuen Medien keineswegs radikal neu sind, sobald man die Formen der Kommunikation betrachtet, die in diesen Technologien zur An-
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wendung kommen. Das ganze Material, das online oder durch Sendemedien verbreitet wird, erscheint in einer Form, mit der wir seit langem vertraut sind: Schrift, Stand- und Bewegtbild, visuelle Symbole, Stimme, Musik und Toneffekte. Diese werden vielleicht häufig auf neue Weise kombiniert und organisiert, man verwendet sie vielleicht anders, doch neu sind sie strenggenommen nicht. Ein großer Teil der Hysterie und Aufregung um die Medienkompetenz beruht also auf einer Übertreibung der Innovativität. Gegenüber Lehrenden, die wegen der Neuheit der neuen Medien ein wenig aus dem Häuschen sind, präsentiere ich diese Idee manchmal in vereinfachter Form. Ich behaupte, dass wir es eigentlich nur mit zwei Sorten von Text zu tun haben: solchen, die auf Seiten beruhen, und solchen, die auf Zeit beruhen. Seitenbasierte Texte s Bücher s Zeitungen s Werbedrucksachen und Plakate s Webseiten s Graffiti s SMS-Nachrichten s DVD- und Spielemenüs
Zeitbasierte Texte s s s s s s s
Filme Fernsehprogramme Radioprogramme Podcasts Spiele Tonträger Besuche in virtuellen Welten
Unser Erziehungssystem ist eng mit seitenbasierten Texten verbunden. Das Wort ‹Seite› bezieht sich dabei nicht notwendig auf Papier: Webseiten haben auch Seiten, die man bei Bedarf ausdrucken kann. Seiten kann man leicht kopieren und verteilen – zumindest in den Systemen, die wir gegenwärtig eingerichtet haben. Die wesentliche Eigenschaft eines seitenbasierten Texts ist nicht die Technologie, die ihn enthält, sondern der Umstand, dass er statisch ist: Wir können so lange darauf schauen, wie wir wollen. Einen zeitbasierten Text können wir dagegen immer nur so lange anschauen, wie er es zulässt. Filme oder Fernsehprogramme haben eine bestimmte Länge, wie ein Musikstück – und, was noch wichtiger ist, die Dauer noch ihrer kleinsten Einheit ist entscheidend für ihre Bedeutung. Die wesentliche kreative Handlungsinstanz hinter einem zeitbasierten Text ist nicht die Person, die den Ton aufzeichnet oder das Bild aufnimmt, sondern die Person, die den Schnitt macht. Cutter arbeiten im Medium der Zeit: Sie bringen Ton, visuelle Elemente, Stimmen, Musik und Stille in eine Reihenfolge und legen sie übereinander, sodass komplexe, höchst multimodale Texte entstehen, bei denen sich eine detaillierte Analyse lohnt. Lehrkräfte
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sind damit nicht vertraut, und wenn Schüler ihre Aufgaben in Form zeitbasierter Texte abgeben müssten, würde es den meisten Lehrern schwer fallen, sie zu bewerten. Argumente im Bereich der Medienkompetenz beruhen zu häufig auf naiven und pauschalen Auffassungen über Technologien und insbesondere deren mutmaßliche Risiken. Aber Technologien machen bloß die Texte und textuellen Praktiken möglich, mit denen wir unsere Ideen, Meinungen und Geschichten austauschen. Texte sind viel wichtiger als Technologien. Wenn wir über Medien in Hinsicht auf die Texte nachdenken, mit denen wir es tagtäglich zu tun haben, können wir zu einer kohärenteren und realistischeren Sichtweise davon kommen, was es heißt, medienkompetent zu sein. Wir erkennen dann, dass Medienkompetenz schlichtweg Teil der allgemeinen Textkompetenz ist. Wenn es also darum geht, Film im Zusammenhang des muttersprachlichen Unterrichts zu positionieren, und zwar nicht als ergänzendes, motivierendes Lehrmittel, sondern als gleichwertige Form des Ausdrucks und der Kommunikation, würden wir ihn zumindest an den richtigen Ort bringen. Von hier aus könnten wir uns der Herausforderung zu stellen beginnen, die Kinder für die Welt vorzubereiten, in der wir heute leben. Dabei ist die langfristige Perspektive enorm und einschüchternd. Hier sind zum Beispiel drei Herausforderungen, über die wir nachdenken müssen, sobald wir das Fach Filmerziehung ernsthaft in den muttersprachlichen Lehrplan aufnehmen wollen. 1. Bewertung auf Grundlage schriftlicher Arbeit tut womöglich vielen Kindern Unrecht Lehrkräfte sind immer wieder erstaunt darüber, was Kinder alles zuwege bringen, wenn sie mit Film arbeiten; ihre Annahmen über die Fähigkeiten bestimmter Schüler werden fast durchweg revidiert. Kinder, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, sind manchmal gut bei der Interpretation, Analyse und Herstellung von Bewegtbildtexten. Kinder, die «nie schreiben», haben neues Zutrauen zu sich gewonnen und ganze ‹Romane› verfasst, sobald sie es mit einem Medium zu tun hatten, das ihnen lag. Kinder, die sich bei Diskussionen selten melden, artikulieren sich auf einmal, sobald es um einen Film geht. Kinder mit geringer Konzentrationsfähigkeit sind plötzlich stundenlang mit größter Aufmerksamkeit dabei, eine Sequenz von bewegten Bildern zu montieren. Film in den Unterricht einzubeziehen hat nichts mit herablassendem Entgegenkommen zu tun, es geht nicht darum, weniger begabten Kindern die Schule zu erleichtern, weil sie mit höher eingeschätzten Formen der Kommunikation nicht zu-
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rechtkommen. Vielmehr zeigt sich am Verhalten der Kinder, dass hier unbeachtete Talente schlummern, die bisher in der Notengebung keine Rolle spielten – eine echte Offenbarung für Lehrkräfte, die plötzlich sehen, dass einige ihrer Schüler viel fähiger sind, als sie dachten. Für manche Lehrkräfte ist das aufregend und stellt eine genuine Herausforderung dar: Sie wollen tiefer in die Materie eindringen und mehr darüber herausfinden; für andere liegt in der Erfahrung eher ein Ärgernis und ein Warnsignal. 2. Das ‹Filmlernen› und das ‹Buchlernen› kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden Kinder sehen in ihren ersten Schuljahren schon Filme, die viel komplexer und raffinierter sind als die Bücher, die man ihnen als Leseanfängern anbietet. Dieser Umstand ist für Lehrkräfte – und selbst für Filmpädagogen – nicht immer leicht zu akzeptieren. Wir geben nicht gern zu, dass Mainstream-Hollywoodfilme wie Toy Story (John Lasseter, USA 1995) oder Shrek (Andrew Adamson, Vicky Jenson, USA 2001) oder Monsters Inc. (Pete Docter, David Silverman, USA 2001) komplex und geistreich sein können. Es gibt dort zwar eine Menge verbaler Gags und kultureller Anspielungen, die Kindern zu hoch sind, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie diese Filme meist gemeinsam mit Erwachsenen sehen. Wenn die kleinen Zuschauer merken, dass auch die ‹langweiligen› oder ‹schwierigen› Passagen für ältere Kinder oder Erwachsene vergnüglich sind, wird das Sehen der Filme zu einem Ansporn: Sie werden dazu ermutigt, sie später noch einmal zu sehen, um dann mehr zu verstehen. Natürlich ist das auch nützlich für das Marketing, aber aus der Perspektive von Lehrkräften ist von Interesse, in welchem Ausmaß kulturelle Praktiken in Familien dafür sorgen, dass kleine Kinder viel Zeit mit medialen Texten verbringen, die sie nur zum Teil begreifen. Ihre Fähigkeit, eine Geschichte zu verstehen, Hinweise zu erkennen und Vorhersagen zu treffen, ist schon stimuliert, bevor sie beginnen, sich mit gedruckten Texten zu beschäftigen. 3. Kinder verdienen es, dass man ihr Filmwissen anregt und erweitert Der kommerzielle Erfolg der Familienfilme bringt es mit sich, dass Kinder im Wesentlichen einen bestimmten Typus von Mainstream-Unterhaltung zu sehen bekommen. Sie kriegen davon mit zunehmendem Alter vielleicht mehr mit, lernen es, auch geschliffene Dialoge und Ironie zu genießen. Doch sie sehen vorwiegend Filme, die einander formal sehr ähneln und im Grunde aus ein und derselben kulturellen Quelle stammen. Wenn es um Gedichte, Geschichten, Musik oder Kunst geht, würden (oder sollten) wir eine derartige Situation nicht akzeptieren. Bei einem Medium, das die Kin-
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der bereits kennen und mögen, sollte man es daher auch nicht hinnehmen. Wenn man sie befähigen kann, vielfältigere, komplexere und thematisch schwierigere Filme zu verstehen als diejenigen, mit denen sie es gewöhnlich zu tun haben, sollte das dann nicht in der Verantwortung der Schule liegen? Ich glaube, es ist effektiver, das Argument aus den Bedürfnissen der Kinder zu begründen, als von einer Filmkultur und deren Bedürfnissen her zu denken. Natürlich ist es auch wichtig, dass Kinder lernen, unsere Filmkultur zu schätzen, aber wir sollten vor allem darauf beharren, dass sie ein Recht darauf haben, den Umfang und die Qualität ihrer Filmerfahrung zu erweitern. Dieses Argument lässt sich auch den Bildungsministerien vermitteln: Funktionieren Schulen nicht an den Kindern vorbei, wenn sie diese kulturellen Bedürfnisse nicht in Betracht ziehen? Diese Perspektive weckt sofort das Interesse von Politikern. Sie hören ungern von aufwändigen Investitionen in die Schulbildung, wenn sie befürchten müssen, dass dies bei den Wählern unpopulär ist. Schriftkompetenz neu fassen Schon seit einiger Zeit werden die Erfolge beim Lesen- und Schreibenlernen im Vereinigten Königreich als unakzeptabel gering eingeschätzt, und dieses Versagen gilt als Hauptgrund für die umfangreichen Bildungsprobleme im Teenageralter. Von Seiten der Regierung wurde eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um den Lernerfolg zu steigern. Die wichtigste Initiative war die Literacy Strategy (Alphabetisierungsstrategie), die bald nach der Machtübernahme der Labour-Regierung 1997 beschlossen wurde. Die Initiative verfuhr anfänglich sehr bevormundend. Man veröffentlichte Rahmenbedingungen, in denen genau ausgeführt wurde, was Kinder in jedem Jahr in der Grundschule zu lernen hatten. Es gab sogar eine Alphabetisierungsstunde, die jedem Kind täglich angeboten werden musste und die bis auf die Minute detailliert vorgestaltet war. Das mag sehr autoritär und reaktionär klingen, man muss aber zugeben, dass es durchaus positive Folgen hatte. Die Maßnahmen halfen den Lehrkräften, die Probleme der Schriftkompetenz besser zu verstehen und sich klarer darauf zu konzentrieren. In den Anfängen der Strategie im Jahr 1999 baten die Organisatoren uns am British Film Institute, ein Seminar anzubieten, das sich mit der Beziehung zwischen gedruckten und Bewegtbildtexten beschäftigen sollte. Auch ihnen war nicht entgangen, dass das für Lernende ein potenziell wichtiges Thema darstellt. Bei diesem Seminar wurden zwei wesentliche Einsichten gewonnen. Erstens, dass Lehrkräfte besonders viel Hilfe bei den höherstufigen Aspekten der Literarizität brauchten: Konzepte wie Er-
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zählung, Figuren, Genre, Setting und Zeit. Und zweitens, dass man für das Verständnis dieser Konzepte (und darüber bestand im Großen und Ganzen Einigkeit) nicht mit Ausschnitten arbeiten sollte, sondern mit vollständigen Filmen – mit Kurzfilmen von höchstens fünf Minuten Dauer. Wir begannen also Kompilationen von Kurzfilmen herzustellen, die nicht aus dem Mainstream-Bereich stammten. Dazu erstellten wir Material, das den Lehrkräften helfen sollte, mit diesen Filmen als Texte eigenen Rechts zu arbeiten. Wir verwendeten viel Zeit auf die Auswahl der kurzen Filme, wir erprobten sie mit Lehrkräften und Kindern und erwarben die Rechte, sie auf DVD zu veröffentlichen. Diese DVDs wurden an die Schulen verkauft – nicht gratis abgegeben! Das Problem bestand darin, Filme zu finden, die weder Gewaltdarstellungen, sexuelle Handlungen noch unangemessene Sprache enthielten, dabei aber reichhaltig und komplex genug für eine pädagogische Beschäftigung waren. Wir entschieden uns schließlich für relativ wenige Filme, die ausdrücklich für Kinder gedreht waren. Es war wichtig, dass sie stilistische Unterschiede zu dem aufwiesen, was die Kinder normalerweise sehen, und komplexere und vielfältigere Lesarten möglich machten. Zugleich durften sie aber nicht so kunstverliebt und seltsam sein, dass sie nicht schon beim ersten Sehen eine unmittelbare Wirkung entfalteten. Das Begleitmaterial für die Lehrkräfte offerierte keine formelhaften Anweisungen, wie mit Film zu arbeiten wäre. Wir boten eine Reihe von Techniken für die Analyse an, die in der Hand von selbstbewussten Lehrkräften einen Ausgangspunkt für ihre eigene Planung bieten konnten. Bei weniger selbstbewussten Lehrkräften zeigten sich allerdings Probleme. Eine der Auswirkungen des autoritären Zentralismus, mit dem die Alphabetisierungsstrategie antrat, war, dass viele Lehrer extrem passiv und fügsam wurden: Sie erwarten, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen, und dass die Lernziele einfach und messbar sind. Das ist natürlich besonders bei der Beschäftigung mit Film unangemessen, schließlich haben die Kinder mit diesem Medium schon eine Menge Erfahrung. Wir mussten die Lehrer also zunächst dazu bringen, sich auf ihrem eigenen Niveau auf die Filme einzulassen und sie vollständig zu verstehen – sie sollten ihre eigenen Reaktionen zum Ausdruck bringen und dieselbe Form der Analyse vollziehen wie später im Unterricht. Daran waren viele nicht gewöhnt – ironischerweise hat die Literacy Strategy oft den Respekt der Lehrkräfte für Texte zerstört. Wir mussten sie von dem Versuch abhalten, ‹Filmvokabular› so zu vermitteln, als handle es sich um ein unabhängiges System nützlichen Wissens. Dann mussten wir sie dazu bringen, ihre Pädagogik zu ändern – sie sollten den Kindern zuhören und nicht den Eindruck erwecken, es gebe ‹richtige› Antworten. Sie sollten offene Fragen von etwa folgender Art stellen:
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Gab es etwas, das euch gefallen hat? Was hat eure Aufmerksamkeit geweckt? Was hat euch nicht gefallen? Ist euch etwas rätselhaft geblieben? Habt ihr irgendwelche Muster gesehen? Und sie sollten ergänzende Fragen stellen wie «Was hat euch dazu gebracht, das zu denken?», oder «Kannst du mir mehr dazu sagen?». Danach haben wir einige Techniken für die Beschäftigung mit den Filmen angeboten. In manchen Fällen schlugen wir vor, zuerst nur eine Minute vom Soundtrack zu spielen, danach sollten ihn sich die Kinder erneut anhören, nun aber mit bestimmten Fragen im Kopf, die jeweils einer Gruppe in der Klasse zugeordnet wurden. So konnten sie nach Hinweisen auf die folgenden Faktoren suchen: ORT – Ist irgendetwas zu hören, das auf den Ort schließen lässt, an dem das Geschehen im Film stattfindet? ZEIT – Findet das Geschehen dem Soundtrack nach eher in ‹Echtzeit› oder in ‹erzählter Zeit› statt (sind Zeitsprünge feststellbar)? FIGUREN – Gibt es Figuren (dabei ist zu beachten, dass ‹Figuren› nicht notwendig ‹Personen› sind)? STORY – Gibt es Vermutungen darüber, was geschieht, oder Voraussagen darüber, was passieren könnte? Die Diskussion dieser Fragen konnte eine Weile andauern und sollte die Kinder zum Soundtrack zurückführen, um zu überprüfen, was genau sie gehört hatten. Danach sollten sie den Film mit geschärftem Sinn für seine Konstruiertheit als Text zu sehen in der Lage sein und mit erhöhter Aufmerksamkeit für Details. Aus vielen winzigen Hinweisen, die leicht unbemerkt bleiben, die Eindrücke von einem Handlungsträger zusammenzustellen, war immer ein faszinierender und längerer Prozess. In vielen Schulen hat diese Form der Analyse zu einer längeren Beschäftigung mit einem Film geführt, vor allem mit jüngeren Kindern in Form von Vorstellungsspielen, und für ältere hat es den Sinn für Text, Autorschaft und Intentionalität in Film- wie Printtexten geschärft. Lehrkräfte sind daran gewöhnt, Filme als Anreiz oder zur Illustration bestimmter Aspekte des Lernens zu verwenden; weniger plausibel ist ihnen die Idee, Filme als zentralen Inhalt einer Stunde zu nehmen. Von 2004 an entwickelten wir deswegen eine Strategie, um eine größere Zahl von Lehrern und Schulen zu erreichen. Es ging darum, kleine Gruppen von Lehrern zu unterweisen und ebenso Berater, die von den lokalen Bildungs-
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behörden nominiert wurden, um die Entwicklung der Medienkompetenz für Bewegtbilder in den Schulen zu fördern. Jede lokale Behörde musste sich auf einen zwei- oder dreijährig budgetierten Plan verpflichten, die Bewegtbildpädagogik zu entwickeln und die nominierten ‹Leitpraktiker› zu bezahlen, die eine intensive, dreitägige Ausbildung vor Ort bekamen, um effektiv mit Film als Teil des Lesen- und Schreibenlernens zu arbeiten. Wir waren mit diesem Projekt sehr zufrieden. Wir hatten keine Kosten außer unseren eigenen Gehältern, aber wir arbeiteten mit 61 lokalen Behörden (42 Prozent von allen), die Aktionspläne erstellten, an Trainingskursen teilnahmen und insgesamt rund 800.000 Pfund in diese Arbeit investierten; wir unterwiesen 150 lokale Leitpraktiker, verkauften Material im Wert von über 500.000 Pfund an Schulen und haben schätzungsweise schon über eine Million Kinder erreicht. Das Projekt hat dazu geführt, dass in Lehrplänen öfter auf Film und Medien verwiesen wird, und es hat das Interesse an Filmen aus dem Nicht-Mainstream-Bereich verstärkt, die sich für den Unterricht eignen. Noch wichtiger ist vielleicht, dass im Grundschulbereich vermehrt in diese Richtung geforscht und nachgedacht wird, denn dies verspricht nachhaltige Veränderungen. Kreative Aspekte der Filmbildung Sobald Lehrkräfte ein gewisses Selbstvertrauen mit der kritischen Arbeit am Film gewonnen haben, wollen sie häufig dazu übergehen, kreativ zu arbeiten. Das Problem dabei ist, dass sie darunter vorschnell verstehen ‹einen Film zu machen›, was in etwa so ist, als würde man ein Kind nach dem Schreibenlernen sofort mit der Herstellung eines Romans befassen. Kinder wissen viel über Film, aber ihr Wissen beschränkt sich, wie gesagt, meist auf einen schmalen Bereich der Mainstream-Produktion, und sie sind es nicht gewöhnt, dieses Wissen zu artikulieren und zu reflektieren. Wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, eine größere Vielfalt an Filmstilen und -typen zu analysieren und zu diskutieren, dann machen sie üblicherweise selbst bessere Filme. Dabei ist es gar nicht nötig, das Filmemachen als glamouröse und aufregende Tätigkeit darzustellen. Kinder finden es aufregend genug, selbst einen ersten Versuch zu machen, und sie müssen auch nicht so tun, als seien sie Steven Spielberg. Auch ist das industrielle Modell, das mit der Entwicklung eines Drehbuchs beginnt und darauf die Dreharbeiten und den Schnitt folgen lässt, für Lernzwecke das verkehrte. Dennoch wird dies häufig versucht, denn Initiativen zum Filmemachen mit Kindern sind selten und üblicherweise zeitlich beschränkt. Sie finden in der Regel im Rahmen spezieller Projekte statt, die mit der Präsentation und einer großen Feier enden. Danach fehlt den Kindern die Ge-
192 Cinéphilie und pädagogischer Eros
legenheit, weiterzuentwickeln und zu verbessern, was sie gelernt haben: Als würde man einem Kind das Schreiben beibringen, um ihm dann Papier und Bleistift wegzunehmen. Wir versuchen die Lehrkräfte dazu zu bringen, die Analogie zwischen Schreiben und Filmemachen gründlicher zu durchdenken. Wenn Kinder schreiben lernen, dann bewältigen sie einige sehr einfache Aufgaben: Sie lernen Wörter zu buchstabieren, einfache Sätze zu schreiben, Titel für Zeichnungen zu finden. Inzwischen machen digitale Technologien es möglich, ähnliche Einstiegsaufgaben auch anhand von Bewegtbildmedien in Angriff zu nehmen. Kinder können versuchen, zwei oder drei Einstellungen in unterschiedliche Reihenfolgen zu bringen oder verschiedene musikalische oder gesprochene Soundtracks derselben Sequenz zu unterlegen, um zu sehen, welchen Bedeutungsunterschied das ergibt. Sie können versuchen, eine Auswahl an Clips zu gestalten und zu kürzen, und finden so heraus, wie man ein Statement einfacher und wirksamer gestaltet. Allen diesen Aufgaben ist gemeinsam, dass es dabei nicht um das Filmen selbst geht. Sie beruhen auf Computerarbeit, sie können zu zweit ausgeführt werden, sie machen Spaß und sind faszinierend. Kinder zunächst mit gefilmtem Material auf Computern zu versorgen, mit dem sie spielen und das sie verändern können, kann der beste Weg sein, sie zu kreativer Arbeit zu veranlassen, denn das Wesentliche beim Filmemachen ist nicht das Drehen, sondern die Montage. Das bedeutet auch, dass die ganze Klasse dabei zum Zug kommt, nicht nur ein oder zwei Kinder. Sobald sie zu begreifen beginnen, wie man mit Bildern und Tönen umgeht, können sie gegebenenfalls auch zielgerichteter mit ihren Kameras – und ihren Audiorecordern – nach draußen gehen. Die Verwendung einfacher Open-Source-Software wie Photo Story 3 ermöglicht es, einige ‹filmische› Entscheidungen beim Gebrauch der Rostrum-KameraFunktionen zu treffen. Auf diese Weise lassen sich alle grundlegenden Montage-Entscheidungen nachvollziehen (Sequenz, Dauer, Übergänge und Soundtrack), ohne dass man selbst Zeit für die Herstellung und Katalogisierung der Aufnahmen aufwenden müsste. Kinder können so zweite und dritte Versuche mit kreativer, computerbasierter Arbeit machen, wodurch sie die bedeutungsproduzierenden Möglichkeiten des Films gründlicher kennenlernen als bei einem Projekt mit der ganzen Klasse, bei dem ihr Einblick in kreative Entscheidungen oft gegen Null tendiert.
Bazalgette: Filmerziehung und Medienkompetenz 193
Entwicklung kreativer Aktivität s s s s
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PROBLEME Filmemachen als Projekt einer ganzen Klasse Prägung durch industrielle Modelle des Filmemachens Fehlende Verbindung zu Filmsichtung und -analyse Wenige Kinder haben die Gelegenheit, eigentliche kreative Entscheidungen zu treffen Wenige Gelegenheiten zum Experimentieren Wenig Gelegenheit, Fähigkeiten über einen längeren Zeitraum zu entwickeln
s s s s s s
LÖSUNGEN Individuelle oder Kleingruppen-Aktivitäten am Computer Wechselbeziehung zwischen kritischer und kreativer Arbeit Experimentieren mit vorab ausgewählten Bildern und Tönen Konzentration auf Schnitt, nicht auf Kameraarbeit Verwendung von Open-SourceSoftware Wiederkehrende Gelegenheiten schaffen, über die eigene Arbeit nachzudenken; die Kinder dürfen Fehler machen und lernen daraus.
Die nächste und vielleicht wichtigste Frage, die es anzusprechen gilt, ist die nach dem Lernfortschritt. Wenn Kinder in der Vorschule mit der Filmerziehung beginnen, auf welchem Niveau können sie dann absehbarerweise mit 14 Jahren sein? Welche Erwartungen sollten wir an die Fähigkeiten älterer Schüler haben? Bisher haben wir wenig Erfahrungswerte mit systematischer, längerfristiger Filmerziehung, geschweige denn damit, wie sie in das Alphabetisierungslernen im konventionellen Lehrplan passt. Einige Forschungsprojekte finden derzeit statt,3 aber es braucht mehr. Solange es uns nicht gelingt, die Lernerfolge der Filmerziehung im Besonderen und der Medienerziehung im Allgemeinen besser einzuschätzen, können wir der Politik keine Argumente liefern, wo, wie und warum sie Einzug in die Schulen nehmen sollten. Aus dem Englischen von Bert Rebhandl
3
Siehe zum Beispiel ein Projekt unter der Leitung von David Buckingham auf www. cscym.zerolab.info/research/67-research-projects-current/121-developing-medialiteracy-towards-a-model-of-learning-progression (Zugriff am 07.05.2010).
194 Cinéphilie und pädagogischer Eros
Literatur Bolas, Terry (2009) Screen Education: From Film Appreciation to Media Studies. Bristol: Intellect Books. Marsh, Jackie/Brooks, Greg/Hughes, Jane/Ritchie, Louise/Roberts, Samuel/ Wright, Katy (2005) Digital beginnings: Young children’s use of popular culture, media and new technologies. Report of the ‹Young Children’s Use of Popular Culture, Media and New Technologies› Study, funded by BBC Worldwide and the Esmée Fairbairn Foundation Literacy Research Centre, University of Sheffield [http://www.digitalbeginnings.shef.ac.uk/DigitalBeginningsReport.pdf (Zugriff am 07.05.2010)].
Joachim Pfeiffer
Integrative Filmdidaktik Fächerverbindender Filmunterricht in Deutsch, Kunst und Musik am Beispiel des «Freiburger Filmcurriculums»
1. Verachtetes Kino: zur Frühgeschichte des Films Für lange Zeit war das Wort – das gesprochene und geschriebene Wort – die wichtigste Grundlage der Bildung. Seit dem Bilderverbot der Reformation, das vor allem in der Theologie Calvins und Zwinglis zum Ausdruck kam, und seit der Erfindung des Buchdrucks ist die Buchlektüre das bevorzugte Medium der Bildung geworden, verbunden mit einer Abwertung der bildlichen Darstellung. Die Reformation erklärte die Heilige Schrift zur einzigen Richtschnur des Glaubens: sola scriptura. Der Ungebildete benötigt Bilder zur Veranschaulichung, der Gebildete zieht sich zurück in die Welt der Bücher, in die Bibliothek des universellen Wissens. In Lessings berühmtem LaokoonAufsatz wird die Macht der bildlichen Darstellung von der Wirkung der Schrift unterschieden, die schon wegen ihrer sukzessiven Erstreckung die überwältigende Wirkung des Bildes abmildere. Lessing bezieht sich in seiner Argumentation auf schreckenerregende oder hässliche Darstellungen: «In der Poesie […] verliert die Häßlichkeit der Form, durch die Veränderung ihrer koexistierenden Teile in sukzessive, ihre widrige Wirkung fast gänzlich; sie höret von dieser Seite gleichsam auf, Häßlichkeit zu sein […]» (Lessing 1974, 155). Lessing favorisiert hier also implizit – in einem wirkungsästhetischen Argumentationsgang – die Schrift gegenüber dem Bild. Wenn wir heute von film- und computersozialisierten Generationen sprechen, dann ermessen wir, wie grundlegend die Wandlung ist, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts vollzogen hat. Deswegen lohnt es sich, zu jenem historischen Augenblick zurückzukehren, wo der Kampf zwischen Wort und Bild, zwischen altem und neuem Textbegriff, zwischen Buch und Film als regelrechter Kulturkampf ausgetragen wurde. Dies hilft uns, die ‹Bilderverbote› heutiger Bildungsinstitutionen besser zu verstehen. Die seit Jahrhunderten andauernde Epoche der Buchsozialisation hat sich mit dem Zeitalter des Films und der neuen Medien auf erstaunliche
196 Cinéphilie und pädagogischer Eros
Weise gewandelt oder ist – nach Vilém Flusser (1989) – an ihr Ende gekommen. Flusser verdanken wir eine der wenigen Medientheorien, in denen das Medienzeitalter überwiegend positiv gewertet wird; nach ihm stehen wir am Beginn einer «telematischen Weltgesellschaft» und am Ende jener Epoche, die vor Jahrtausenden mit der linearen Schrift, dem abstrahierenden Begriff, dem alphanumerischen Code begann. Der Weg aus der Magie der Bilder in die Logik der Texte scheint sich heute umzukehren. Eine tiefgreifende Veränderung vollzieht sich in dem Paradigmenwechsel vom Begrifflichen zum Bildlichen, den Flusser als die eigentliche «telematische Revolution» bezeichnet. Die Aufwertung der «technischen Bilder» (Fotos, Filme, Videos, Fernsehen, Computerterminals) ist für ihn kein Verlust, sondern ein Gewinn: Mit ihr gehe die Entstehung einer neuen, demokratischeren Gesellschaft einher, die sich von der Macht der (herrschaftlichen) Diskurse endlich befreien könne. Unsere Lesegewohnheiten haben sich in der Tat verändert: An die Stelle von buchsozialisierten Generationen sind film- und mediensozialisierte getreten. Im Internet gesellt sich zum Wort das Bild: Eine Webseite mit reinem Text empfinden wir als wenig ansprechend. Vorträge werden mit PowerPoint unterstützt, womit besonders auch die Möglichkeit der Bebilderung gegeben ist. Es ist keine Frage, dass sich dies langfristig auf die Buchlektüre auswirken wird. Im Kontext semiotischer Theorien erfuhr der Textbegriff denn auch eine grundlegende Ausweitung. Unter ‹Text› verstehen wir heute die Gesamtheit aller Zeichensysteme: Auch ein Film im Kino oder ein Hypertext im Internet ist in diesem Sinne ein ‹Text›, so wie die ‹Sprache› des Films keineswegs auf seine gesprochene oder geschriebene Sprache beschränkt ist: Unter ‹Filmsprache› versteht man das Ensemble seiner bedeutungstragenden Elemente: die bewegten Bilder, das gesprochene und geschriebene Wort, die Farbgestaltung, die Einstellungsgrößen, die Kameraperspektive, die Montage. In der Frühzeit des Kinos wurde das Kulturbürgertum nicht nur durch anrüchige Aufführungsorte des Schaustellergewerbes, sondern auch durch die Inhalte abgeschreckt: durch die Stimulation der Sinne, die Aufreizung der Nerven und die freizügigen sexuellen Darstellungen (es gab damals noch keine Zensur). Man nennt dieses Kino in Abgrenzung vom späteren Erzählkino auch «Kino der Attraktionen».1 Da es besonders von proletarischen Frauen besucht wurde – so die These Schlüpmanns (1990) –, entwickelte es einen weiblichen Blick, der sich von dem männlichen voyeuristischen Blick des späteren Erzählkinos unterschied. Das
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 197
nicht-narrative «Kino der Attraktionen» nahm relativ wenig Rücksicht auf bürgerliche Wertvorstellungen, es wurde besucht von kleinen Leuten und war deshalb den Zwängen der Hochkultur nicht verpflichtet. Hierin liegt eine gewisse Parallele zu Kafkas «kleiner Literatur», die ja auch von den Zwängen der «großen» Literatur befreit ist. Kafka prägte diesen Begriff am 25.12.1911 in seinem Tagebuch, zu einer Zeit, als er mit Begeisterung die Aufführungen einer jiddischen Theatertruppe in Prag besuchte (vgl. Kafka 1983, 154).2 Das frühe Kino geriet nicht nur in thematischer Hinsicht in Konflikt mit dem Bildungsbürgertum und den staatstragenden restaurativen Kräften des Wilhelminismus. Ein anderes Konfliktpotenzial bestand darin, dass es mit technischen Mitteln hergestellt wurde und «reproduzierbar» war.3 Hier gab es nicht das große Autor-Individuum, das ein auratisches Kunstwerk hervorbrachte, sondern eine Gruppe von Autoren und Filmemachern, die gemeinsam den Film produzierten; dies stand im Gegensatz zum Kulturverständnis des Bürgertums, das in der Tradition des «Geniekults» dem künstlerischen Individuum Verehrung zollte. Als das Kino jedoch wirtschaftlich immer erfolgreicher wurde und eigene Vorführstätten errichtete, kam es zu einer Art Kulturkampf: Seit 1907 vermehrten sich Initiativen, die ihm den Kampf ansagten. Noch vor 1914 hatte dieser Kampf nicht nur die Lehrer und Pastoren, sondern eine breite bürgerliche Öffentlichkeit erfasst. Theater, Ärzteschaft und Juristen sahen im Kino eine Anstalt, die Gesundheit und Moral gefährdete. Das «Kino der Attraktionen» und der Schaustellung hatte lose Szenenfolgen favorisiert; das Kino der Weimarer Zeit entwickelte sich zum Erzählkino. In frühen Filmen der Wilhelminischen Zeit vergnügen sich die Frauen wie die Männer in Kneipen und Cafés; jetzt wird die Frau in der Familie gezeigt, sie wird zur Verlobten oder zur treuen Ehefrau. Die feministische Filmtheorie spricht deshalb auch vom «patriarchal überwucherten, ödipal verklemmten Kino» des Expressionismus, das im Dienst narrativer Integration und bürgerlicher Normen stehe. Diese These vertritt Heide Schlüpmann im oben zitierten Buch; doch so anregend und provozierend diese Behauptung auch sein mag, so vereinfachend ist sie. Schlüpmann vernachlässigt das künstlerische Innovationspotenzial des expressionistischen Films, aber auch den anti-bürgerlichen Affekt der expressionistischen Kunst überhaupt. Die Integrationsbemühung des expressionistischen Films bestand vor allem darin, dem Film in der Medienkonkurrenz 2
1
Eisenstein prägt den Begriff der Attraktion für seine innovative Form der Montage: «Attraktionsmontage».
3
Kafka selbst war leidenschaftlicher Kinogänger. Es würde sich lohnen, sein Werk noch mehr unter der Perspektive des frühen Films zu untersuchen; vgl. Zischler 1996. Vgl. hierzu die Studie von Walter Benjamin über das Kunstwerk «im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» (2007).
198 Cinéphilie und pädagogischer Eros
gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen und seine Bedeutung als Kunstwerk zu beglaubigen. Dass dies in unseren Bildungsinstitutionen bis heute nicht gelungen ist, gehört zu den problematischen Beständen der deutschen Kulturgeschichte. Außer Frage steht, dass die Schule endlich der Tatsache Rechnung tragen sollte, dass sich die Schriftkultur längst in eine «visuelle Kultur» verwandelt hat, in der Wort und Bild neue Verbindungen eingehen. Facebook, Twitter oder Blogs sind neue Kommunikationsmedien, in denen Fotos, Bilder, Filme, Sprache und Musik multimedial kombiniert werden. Die Forderung nach einer festen Verankerung des Filmunterrichts in der Schule führte unsere Freiburger Projektgruppe zur Konzeption einer «Integrativen Filmdidaktik», die zugleich der Tatsache Rechnung trägt, dass es in absehbarer Zeit das Fach ‹Filmkunde› an den Schulen nicht geben wird. Solch ein Fach wäre wünschenswert; es ist aber von den zuständigen Ministerien schon deswegen nicht zu erwarten, weil es dem Film eine vorrangige kulturelle Bedeutung zusprechen würde, die ihm bisher auch nicht annäherungsweise eingeräumt wurde. Ein neues Fach würde im Übrigen auch eine grundlegende Neuorientierung der LehrerInnenausbildung voraussetzen: Filmbildung ist in den Ausbildungscurricula bisher nicht oder nur sehr unzureichend verankert. Wegen der Komplexität des Mediums ‹Film› wäre eine sehr vielschichtige und differenzierte Kompetenzbildung nötig, die enge Fachgrenzen überschreitet. Eine «integrative Filmdidaktik», die fächerübergreifend ausgerichtet ist und die Kompetenzen unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenführt (zumindest die Fächer Deutsch, Musik und Kunst), scheint uns in der nächsten Zeit eine bessere Chance zu bieten, den Filmunterricht fest an Schulen zu etablieren. 2. Die Idee einer «integrativen Filmdidaktik» Im Jahr 1798, wenige Jahre nach der Französischen Revolution, erscheint in Deutschland ein Text mit dem Titel Progressive Universalpoesie, der eine Revolution in der Dichtungskonzeption einleitet. Die Frühromantiker (u.a. Novalis, Schleiermacher, die Brüder Schlegel) formulieren darin die Grundlagen einer romantischen Poetik, deren Hauptmerkmal die Vereinigung aller Gattungen, Stile und Künste sein soll. Das 116. AthenäumsFragment umreißt diese Programmatik folgendermaßen: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen.
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 199
Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen. […] Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang. (Schlegel 1967, 114)
Nach dieser neuen Dichtungskonzeption sollen nicht nur alle Gattungen vereint, sondern auch alle Kunstbereiche und alle Bereiche des Lebens in einem Kunstwerk von hoher semiotischer Verdichtung zusammengeführt werden. Lieder, Märchen, Novellen, Briefe, autobiografische Fragmente, philosophische Reflexionen und bildliche Darstellungen vereinigen sich zu einer hybriden Form von Kunst, in der eine Vorstellung von Gesamtkunstwerk mitschwingt. Diese Wortprägung taucht zwar erst bei Richard Wagner auf, ist aber der Sache nach schon in der Konzeption der Frühromantiker enthalten. ‹Progressiv› ist dieses Kunstwerk insofern, als es in der Integration heterogener Formen prinzipiell unabschließbar ist. Alle Zeichen stehen darin in einem Verhältnis der Verwandlung und Verschiebung zueinander, was nicht nur seine prinzipielle Offenheit und Veränderbarkeit, sondern auch seine hohe Komplexität ausmacht. Das Musikdrama und der Roman stellen im 19. Jahrhundert Annäherungsformen an diese Kunstkonzeption dar. Kaum eine andere Kunstgattung jedoch wird der «progressiven Universalpoesie» so sehr gerecht wie der Film.4 Viel radikaler als etwa Wagners Musikdrama und seine Idee einer Ebenbürtigkeit aller Künste realisiert er die Vorstellung einer «totalen» Kunst: Er führt die poetischen Großgattungen Dramatik, Epik und Lyrik zusammen, indem er zum Beispiel auf Dramentechniken der Figurencharakterisierung zurückgreift, Erzählstrukturen des Romans verwendet, modifiziert und transzendiert und eine lyrische Bildsprache entwickelt. Er schafft seine eigene visuelle Kunst, indem er aus Formen der bewegten Bilder, des Lichts, der Kameraperspektiven, der Montage etwas Neues entstehen lässt. Er kombiniert die mündliche und schriftliche Sprache mit akustischen Systemen. Und er fügt die Musik als eigenes Zeichensystem hinzu, das die Bedeutung der Bilder und gesprochenen Texte maßgeblich verändert. Seine Offenheit für philosophische Reflexionen, Diskurse des Wissens, gesellschaftliche Veränderungen, avantgardistische Strömungen 4
Interessanterweise verweist auch Jean-Luc Godard auf den konzeptuellen Zusammenhang zwischen «progressiver Universalpoesie» und Film, worauf Vinzenz Hediger (2004, 155) aufmerksam gemacht hat.
200 Cinéphilie und pädagogischer Eros
macht ihn zu einer «progressiven Universalpoesie» par excellence, unendlich in seiner Integrationsfähigkeit, offen für alle Systeme der Kunst und alle Bereiche der Gesellschaft. Diese semiotische Komplexität, die den Film vor allen anderen Künsten auszeichnet und zugleich seine kategoriale Einordnung erschwert, ist möglicherweise ein weiterer Grund für seine langdauernde gesellschaftliche Ablehnung in Bildungssystemen und seinen Ausschluss aus dem bürgerlichen Bildungskanon. In didaktischer Hinsicht stellt sich die Frage, in welchen Disziplinen er verortet werden kann, da doch kein Unterrichtsfach für sich seiner komplexen Anlage gerecht wird. Die Integration in ein bestehendes Fach würde den Film auf Teilaspekte seines künstlerischen Systems reduzieren. Deshalb fordern wir eine «Integrative Filmdidaktik», deren Ziel es ist, enge Fachgrenzen zu überschreiten und filmdidaktische Erkenntnisse unterschiedlicher Fächer miteinander zu vernetzen (siehe Tabelle). Kern unseres Projekts ist die Entwicklung und Erprobung eines Gesamtcurriculums, das – zumindest ideell – einen kontinuierlichen Filmunterricht von der Grundschule bis zum Abitur vorsieht und in dem Theorie und Praxis, Kognition und Handlungsorientierung, rezeptions- und produktionsorientierte Kompetenzen aufeinander abgestimmt sind und einander ergänzen sollen. Wir haben einen Vorschlag für ein solches Curriculum für die Kernfächer Deutsch, Kunst und Musik entwickelt, aber selbstverständlich ist auch die Integration anderer Fächer (wie Geschichte und Fremdsprachen) denkbar und sinnvoll. 3. Das Freiburger Filmcurriculum5 Eine Analyse der Bildungspläne in Bezug auf die curriculare Verankerung von Filmbildung6 lässt erkennen, dass es zwischen den Bundesländern große Unterschiede gibt. Während in Bremen mittlerweile ein «Wahlbereich Film» für die Abiturprüfungen eingeführt wurde (mit den entsprechenden vorausgehenden Unterrichtsinhalten) und in Berlin und Brandenburg filmanalytisches Wissen in den gymnasialen Lehrplan integriert wurde, kommt der Film im Saarland oder in Baden-Württemberg nur sporadisch in der Schule vor. Generell ist festzustellen, dass ein kontinuierliches und 5
6
Das Projekt «Integrative Filmdidaktik» wurde von einer Freiburger Projektgruppe initiiert, bestehend aus Mechtild Fuchs, Michael Klant, Joachim Pfeiffer, Michael Staiger und Raphael Spielmann. Den Kolleginnen und Kollegen danke ich für Anregungen und schriftliche Vorgaben für die anschließenden Überlegungen. Vgl. hierzu die Untersuchung «Film in Rahmen-/Lehrplänen einzelner Bundesländer» von Reinhard Middel, die er für VISION KINO durchgeführt hat. Sie ist abrufbar auf der Website: www.visionkino.de.
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 201
progressives curriculares Konzept bisher in keinem der Bundesländer existiert. In den Bildungsplänen der Primarstufe finden sich ausgesprochene Leerstellen. Weshalb sollten sich Kinder nicht schon in der Grundschule mit der Ästhetik audiovisueller Medien auseinandersetzen? Außerhalb der Schule sehen sie im Durchschnitt täglich knapp 90 Minuten fern. In den Bildungsstandards wird jedoch in bewahrpädagogischer Tradition teilweise versucht, die ersten Schuljahre als «Schonraum» zu erhalten, in dem die Kinder vor den «schädlichen» Einflüssen der Medien beschützt werden. Aus filmdidaktischer und medienpädagogischer Sicht wird so die Chance vergeben, wichtige Grundsteine der Filmkompetenz zu legen. Medienbildung darf nicht für die Sekundarstufe aufgespart werden, sie muss in der Primarstufe einen festen Platz einnehmen und sollte bereits im Kindergarten beginnen. Das Freiburger Filmcurriculum enthält Kompetenzen, Inhalte und Verfahren für den Filmunterricht in den Fächern Deutsch, Musik und Kunst von der Primarstufe über die Sekundarstufe I bis zur Sekundarstufe II. Es wurde in der Ausgabe 3/2008 der Zeitschrift Der Deutschunterricht publiziert und damit in der Fachöffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Auf den folgenden Seiten wird das Freiburger Curriculum in Auszügen abgedruckt:
202 Cinéphilie und pädagogischer Eros
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 203
Mechtild Fuchs, Michael Klant, Joachim Pfeiffer, Michael Staiger, Raphael Spielmann
s Erstellen eines tras Filmsequenzen mit ditionellen (zeichund ohne Ton ansehen nerischen) oder und über Wirkungen fotografischen (mit von Musik sprechen Digitalkamera) Daus Daumenkino mit menkinoportraits passenden Klängen s Einsatz einer digitalen begleiten Fotokamera unter Vers Klänge und Geräusche wendung eines Stativs auf Instrumenten und (fotogr. Daumenkino) anderen Klangerzeugern erproben und zu s Montieren der Einzelbilder mit einem einfaBildsequenzen koordichen Schnittprogramm niert spielen (fotogr. Daumenkino)
Freiburger Filmcurriculum Ein Modell des Forschungsprojekts «Integrative Filmdidaktik» (Pädagogische Hochschule Freiburg) Klasse 2
Primarstufe Deutsch
Musik
Kunst
Kompetenzen
Kompetenzen
Kompetenzen
Die Schülerinnen und Schüler können s von einem Filmerlebnis erzählen. s einfache Fragen zur Handlung und zu den Figuren eines Films beantworten. s sich gezielt einen Film aus einem Angebot mehrerer Filme auswählen. s einzelne Standbilder aus einem Film zu Texten zuordnen.
Die Schülerinnen und Schüler können s Zusammenhänge von Filmbildern und musikalischen Ereignissen erkennen und beschreiben. s Bildergeschichten verklanglichen. s zu kurzen Filmsequenzen Geräusche und Klänge erfinden.
Die Schülerinnen und Schüler können s das Prinzip optischer Spielzeuge erkennen und beschreiben. s Zusammenhänge zwischen optischen Spielzeugen und Animationsfilmen erkennen und beschreiben. s eine Bewegungsabfolge für ein optisches Spielzeug gestalten.
Inhalte
Inhalte
s Optische Spielzeuge (z.B. Daumenkino) s Bildergeschichten s Animations- und Trickfilme s Kurzspielfilme, Kinderspielfilme
s Animations- und s Animations- und Trickfilme Trickfilme s Kurzfilme (Spiel- und s Optische Spielzeuge: Daumenkino, WunDokumentarfilme) derscheibe s Spielfilme für Kinder s Klangexperimente mit s Bildergeschichten Alltagsgegenständen und Instrumenten zu Daumenkino, Bildergeschichten und Filmszenen
Verfahren
Verfahren
Verfahren
s Bilder zu einem Erzähltext auswählen und zuordnen s kurze Texte zu einem Film verfassen s Filmgespräch
s Eine Filmsequenz bewusst hören, O-Ton und Filmmusik unterscheiden
s Gespräch zu optischen Spielzeugen und Animationsfilmen
Integrative Aspekte (Deutsch, Kunst, Musik) s Die Schüler/innen können unterscheiden, welche Informationen auf der Bildebene und auf der Tonebene eines Films vermittelt werden. s Ein Daumenkino entwerfen und realisieren, mit passenden Tönen und Geräuschen begleiten. s Bilder zu einem kurzen Text (z.B. Gedicht) malen und vertonen, Bild- und Klanggeschichte präsentieren. Fachbegriffe s Filmtitel, Schauspieler, Figur, Kamera, Zeichentrick, Filmmusik, O-Ton
Klasse 6 Inhalte
Sekundarstufe I Deutsch
Musik
Kunst
Kompetenzen
Kompetenzen
Kompetenzen
Die Schülerinnen und Schüler können s die Handlung eines Films strukturiert nacherzählen und schriftlich wiedergeben. s sich mit Hilfe von Fachbegriffen über die Machart eines Films austauschen. s Perspektiven von Figuren im Film nachvollziehen. s On- und Off-Ton unterscheiden und über die unterschiedliche Funktion reflektieren.
Die Schülerinnen und Schüler können s die Rolle der Musik in Standardsituationen erkennen und benennen (Bewegungsuntermalung, Darstellung von Geräuschen, Ausdruck von Gefühlen, Charakterisierung von Personen, Ausdruck historischer und geografischer Situationen) s mit Hilfe grafischer Zeichen musikalische Verläufe zu Filmsequenzen protokollieren.
Die Schülerinnen und Schüler können s die Wirkung einfacher Einstellungsgrößen erkennen und beschreiben. s Szenen einer Geschichte als gezeichnete Animation umsetzen und dabei verschiedene Einstellungsgrößen berücksichtigen. s eine zusammenhängende Szene mit unterschiedlichen Einstellungsgrößen aus dem Bereich Sport
204 Cinéphilie und pädagogischer Eros
s die Sprache-Bild-Rela- s die Rolle der Musik bei der Unterscheition reflektieren. dung beliebter Jus eine Filmhandlung gendserien erkennen erfinden. und benennen. s Geräusche und Musik zur akustischen Gestaltung einer Filmszene erfinden und digital umsetzen. s über die Beziehungen zwischen Musik und Bild in Musikvideos und Werbespots sprechen.
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 205
analysieren; eine eigene filmen und diese montieren / editieren.
Inhalte
Inhalte
Inhalte
s Kurzspielfilme s Spielfilme für Kinder (z.B. aus dem Kinderfilmkanon) s Fernsehserien für Kinder s Musikvideos, Werbespots
s Ausschnitte aus s Animationsfilme, (Kurz-)Spielfilmen Stummfilme, Jugend(Kinderfilmkanon) filme, Videoclips, s Einstellungsgrößen Werbespots s Bildsprache von s Vertonung einer Musikvideos und Filmszene mit eigeWerbespots ner und kompilierter Musik s Geräusch- und Klangexperimente s digitale Aufnahmegeräten und einfache Sequenzerprogramme s Musikvideos
Verfahren
Verfahren
Verfahren
s ein einfaches Filmprotokoll (Nr./Zeit/ Handlung/Bild/Ton) einer kurzen Sequenz erstellen s einzelne Szenen aus einem Film szenisch nachgestalten s einen Film mittels Voice- over kommentieren s Ideen für Filmhandlungen entwickeln
s Begriffe zur Kategorisierung der Funktionen von Filmmusik vereinbaren und anwenden s Die Musik zu ausgewählten Filmszenen grafisch protokollieren s Musik zu Filmszenen kompilieren und selbst erfinden s Klänge und Geräusche in der Umgebung mit digitalen Geräten (MD-Recorder, iPod etc.) aufnehmen
s Einstellungsgrößen (mithilfe von Motion stills) zuordnen können und diese in eine begründete Reihenfolge bringen s Einzelbildanimation mit einem einfachen Schnittprogramm s Einsatz einer digitalen Fotokamera s Stop-Motion-Animation mit einer digitalen Fotokamera unter Verwendung eines Stativs
s Klänge am Computer s Aneinanderfügen der s einen Song oder ein Einzelbilder in einem bearbeiten Gedicht als multimeeinfachen Schnittprodiale Präsentation (z.B. s Filmsequenzen mit gramm digitalen Klängen mit PowerPoint) oder s Bedienung einer Viunterlegen Kurzfilm umsetzen deokamera (mit Storyboard usw.) s Musikvideos und Wers Montieren/Editieren bespots auswählen in einem einfachen und besprechen Schnittprogramm Integrative Aspekte (Deutsch, Kunst, Musik) s Die Beziehungen zwischen Bild- und Tonebene erkennen und verbalisieren s Kreative Umsetzungsmöglichkeiten von filmischen Ideen diskutieren und entscheiden s Einen Trickfilm (z. B. als Knetanimation oder als animierte Zeichnung) herstellen und vertonen s Ein Gedicht als multimediale Präsentation oder Kurzfilm umsetzen Fachbegriffe s Kulisse, Requisiten, Einstellungsgrößen (Totale, Halbnah, Groß), Montage, Hauptfigur, Nebenfigur, Beleuchtung, Zoom, Storyboard, Musik im On/im Off, Voice-over, Kompilation
Kursstufe Deutsch
Sekundarstufe II Musik
Kunst
Kompetenzen
Kompetenzen
Kompetenzen
Die Schülerinnen und Schüler können s verschiedene Montagetheorien erklären. s die Zeitstruktur filmischer Erzählungen analysieren. s wichtige filmhistorische Entwicklungen nachvollziehen. s Parallelen und Unterschiede filmischen und literarischen Erzählens erkennen. s wichtige filmdramaturgische Muster (z.B. Dreiakt-Schema, Reise des Helden) erkennen s eine Kurzgeschichte filmisch adaptieren (mit Exposé, Drehbuch, Storyboard usw.)..
Die Schülerinnen und Schüler können s Filmmusik und Videoclips unter zeichentheoretischen Aspekten analysieren. s die wichtigsten Kompositionstechniken, Stile und Funktionen der Filmmusik unterscheiden und filmgeschichtlich einordnen. s einige bedeutende Filmkomponisten anhand einschlägiger Filmmusik charakterisieren. s Schriften zur Ästhetik der Filmmusik untersuchen und auswerten.
Die Schülerinnen und Schüler können s eine Geschichte als Zeichentrickfilm animieren. s experimentelle Formen der Videokunst wie Expanded Video und Videoperformance beschreiben und für eigene Arbeiten Gestaltungsanregungen daraus finden. s Filmplakate verschiedener Stilrichtungen analysieren und gestalten. s einen Erzählfilm / Kurzfilm mit bewusst gestalteter Bildkomposition und Lichtregie planen und drehen.
206 Cinéphilie und pädagogischer Eros
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 207
s mit entsprechender s Techniken der FilmPostproduktion monmusik und des Soundtieren / editieren. designs praktisch s wichtige filmhistorianwenden. sche Entwicklungen s Musik zu Filmsequennachvollziehen. zen mit analogen und digitalen Mitteln herstellen und am Computer bearbeiten. Inhalt (Gegenstände)
Inhalte
s ausgewählte Filmklas- s Figuren- und Affektenlehre, musikalische siker (z.B. aus dem Semiotik Filmkanon) und aktus Musik von Spielfilmen elle Spielfilme aus dem Filmkanon s Texte zur Filmgeschichte und Filmtheo- s Schriften zur Ästhetik der Filmmusik (z. B. rie (z.B. Eisensteins Adorno/Eisler, N. J. Montagetheorie) Schneider) s Filmvertonung s Umgang mit Software zur Bearbeitung von Film und Filmmusik
Inhalte s Spielfilme aus dem Filmkanon und aktuelle Spielfilme s Texte zur Filmmontage s Animationsfilme (z. B. Filme von Walt Disney, Osvaldo Cavandoli, Heinz Edelmann) s Videokunst (z. B. Pipilotti Rist, Mathew Barney)
Verfahren
Verfahren
Verfahren
s computerbasierte Medien zur Filmanalyse einsetzen (z.B. Standbilder digitalisieren, Sequenzen aus einem Film herausschneiden, Präsentationen mit PowerPoint oder Mediator) s computerbasierte Medien zur Filmproduktion einsetzen (z.B. Video- und Audioschnitt)
s Übertragung der Figuren- und Affektenlehre auf Filmmusik, Diskussion der musikalischen Semiotik s Analyse von Filmmusik s Referate zu ausgewählten Filmen und ihrer Musik s Lektüre von Schriften zur Filmmusikgeschichte und zur Ästhetik der Filmmusik s Filmvertonung mit Stimme, Instrumenten, digitalen Klängen und Bearbeitung am Computer
s Experimentieren mit Closed circuit-Verfahren und Videoprojektionen s Strukturskizzen zum Bildaufbau von Motion stills s Montieren / Editieren von Videos mit einem Schnittprogramm s selbständiger Filmdreh mit Drehbuch, Storyboard, Regie, Kamera, Tonangel
Integrative Aspekte (Deutsch, Kunst, Musik) s Filmtheoretische und -ästhetische Aspekte s Filmanalytische Termini und Analyseansätze (semiotisch, neo-formalistisch,
soziologisch, Gender-orientiert, psychologisch, intertextuell, biografisch) anwenden Fachbegriffe s Jump cut, Match cut, Expanded Video, Videoperformance, Closed circuit, Icon – Index – Symbol
Dem Freiburger Curriculum liegt die Idee eines Spiralcurriculums zugrunde: Die einzelnen Themen und Aspekte sind nicht linear nacheinander angeordnet, sondern kehren auf verschiedenen Niveaustufen im Laufe der Schulzeit immer wieder. Am Beispiel der Filmmontage soll dies veranschaulicht werden. Das Kompetenzwissen zur Montage besteht auf Klassenstufe 8 darin, «das Prinzip der Montage auf der Bild- und Tonebene als zentrales filmisches Gestaltungsmittel» zu erkennen. Die zu erwerbenden Kompetenzen fächern sich in den drei Fachbereichen folgendermaßen auf: Deutsch: Musik: Kunst:
«einfache Formen der Filmmontage (z.B. Parallelmontage) erklären und an Filmbeispielen erläutern» «Arten und Verfahren des Sounddesigns (Atmo, Foley, Special Effects) unterscheiden» «einfache Schnittprogramme für das Montieren/Editieren in der Postproduktion einsetzen»
Wichtig ist, dass hier auch der Montageaspekt des Sounddesigns einbezogen wird. Auf Klassenstufe 10 geht es darum, «komplexere Montageformen (Kontrastmontage, Assoziationsmontage)» zu erkennen (Deutsch) und «Zusammenhänge zwischen Songtext, Musik und Bild anhand ausgewählter Videoclips» herzustellen (Musik). Im Fach Kunst sollen «Spielfilme auf ihre Montageprinzipien und ihre Gestaltung hin» analysiert und experimentell umgestaltet werden. In der Oberstufe/Kursstufe geht es um anspruchsvollere filmtheoretische und -ästhetische Kompetenzen: «verschiedene Montagetheorien erklären» (Deutsch), «Techniken der Filmmusik und des Sounddesigns» erkennen und anwenden (Musik), «mit entsprechender Postproduktion montieren/editieren» (Kunst). Diese Beispiele aus dem Curriculum zeigen, dass es nicht nur um die Zusammenarbeit der Fächer Deutsch, Kunst und Musik geht, sondern auch um die Integration von rezeptionsorientierten und produktionsorientierten Zugängen zum Film, also von Filmanalyse und Filmproduktion.
208 Cinéphilie und pädagogischer Eros
Ein Problem für den zukünftigen Filmunterricht ist der Mangel an geeigneten Unterrichtsmaterialien. Hierauf reagiert der von Mitgliedern der Projektgruppe herausgegebene Grundkurs Film, der in insgesamt drei Bänden technische Begriffe, Einzelanalysen und für den Unterricht geeignete Kurzfilme vorstellt (vgl. Klant/Spielmann 2009; Pfeiffer/Staiger 2010). Das Freiburger Filmcurriculum versteht sich nicht als ‹Zugabe› zu den bestehenden Lehrplänen. Es will vielmehr aufzeigen, dass viele der Kompetenzen, die in den Bildungsstandards festgelegt sind, auch mit dem Film als Unterrichtsgegenstand erworben und gefördert werden können. Insofern lässt sich der Paradigmenwechsel hin zur Kompetenzorientierung als Chance für die Filmbildung begreifen: Die größere Freiheit der Lehrkräfte in der Auswahl der Unterrichtsgegenstände kann dem Film eine Hintertür in die Schule öffnen, solange er sich in den Bildungsstandards noch nicht den Platz erobert hat, der ihm von seiner gesellschaftlichen, pädagogischen und didaktischen Bedeutung her zusteht. 4. Praxisbericht aus Schule und Hochschule Wie sieht es nun mit der Praxistauglichkeit des Freiburger Filmcurriculums aus? Mit dieser Frage beschäftigten sich drei parallele Lehrveranstaltungen aus Deutsch, Musik und Kunst im Sommersemester 2009. Nach einer Einführungsphase, in der sich die Seminare jeweils aus Sicht einer Fachdidaktik an die Grundfragen und Probleme von Filmunterricht angenähert hatten, wurden interdisziplinäre Arbeitsgruppen gebildet. Die Gruppen hatten die Aufgabe, sich einen oder mehrere Aspekte aus dem Curriculum auszuwählen, hierzu ein fächerverbindendes Unterrichtsprojekt zu konzipieren und an einer Schule umzusetzen. Eines dieser Projekte, initiiert von einer Kollegin des Faches Musik,7 soll hier kurz vorgestellt werden. 4.1
Spannung durch Musik: «The Next», ein Projekt zu «Thrill und Suspense» in Jahrgangsstufe 11
Das Projekt «The Next» ging von Studierenden der Fächer Musik und Deutsch aus, schloss jedoch – als filmisches Projekt – Aspekte der visuellen Gestaltung mit ein. Es stellt den faszinierenden Aspekt der Spannung in den Vordergrund. Die Gruppe bearbeitete diese Thematik an einer Freiburger Gesamtschule in einem Deutsch- und Musikkurs des Jahrgangs 11. Dabei sollte ein wichtiger Akzent auf der Filmmusik liegen: In Thrillern oder in Horrorfilmen geht die Spannung oft wesentlich von der Musik 7
Prof. Dr. Mechtild Fuchs, der ich für die Projektbeschreibung dankbar bin.
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 209
aus. Lässt man die Musik – z.B. in Kubricks The Shining – weg, reduziert sich in der Regel auch das Spannungspotenzial. Aus dem Curriculum für die Klasse 10 und die Kursstufe wurden folgende Kompetenzen angestrebt: s
s s
Deutsch: Schlüsselszenen eines Films (z.B. Plot Points) erkennen und ihre Funktion erklären; Drehbuch und Storyboard für einen Kurzfilm verfassen. Musik: Musik zu Filmsequenzen mit analogen und digitalen Mitteln herstellen und am Computer bearbeiten. Kunst: einen Kurzfilm mit bewusst gestalteter Bildkomposition und Lichtregie planen und drehen; mit entsprechender Postproduktion montieren/editieren.
Ausgehend von der Analyse einiger klassischer Suspense-Szenen aus Hitchcocks Psycho, Vertigo und Fenster zum Hof wurden mit den Schülerinnen und Schülern allgemeine Gestaltungsmittel des Kriminalfilms – Dramaturgie, Montage, Plotpoints etc. – erarbeitet. Dabei wurde – in Anlehnung an ein Interview mit Alfred Hitchcock – unterschieden zwischen dem momentanen Thrill, der durch plötzliches Eintreten eines schrecklichen Ereignisses entsteht, und dem Suspense, der über einen längeren Zeitraum andauernden Spannung. Besonders die Rolle der Musik wurde genauer herausgearbeitet und nach den Wirkungszusammenhängen gefragt. Warum kann allein durch Änderung des musikalischen Hintergrunds einer nächtlichen Szene plötzlich eine Atmosphäre von Bedrohlichkeit und Angst entstehen? Die musikalischen Gestaltungsmittel solcher Szenen entstammen ursprünglich der Oper und wirken bis heute: Tremoli der Streicher oder Pauken (als Ausdruck des angstvollen Bebens), pochende Motive (als Stilisierung des Herzklopfens), Liegetöne (als Zeichen gespannter Nerven), plötzlich einsetzende Dissonanzen (als Ausdruck des Erschreckens). In zwei Arbeitsgruppen entwickelten die Schülerinnen und Schüler Ideen zu kurzen Spannungsszenen. Sie skizzierten ihre Ideen in einem Storyboard, legten Schauspieler, Maske, Kamera und Sound fest. In der Postproduktion wurden selbst entworfene und auf den vorhandenen Instrumenten realisierte Musik und Soundeffekte hinzugesetzt, denen die Beschäftigung mit filmmusikalischen Vorbildern bei genauem Hinhören durchaus anzumerken ist. Der Schluss des Films zitiert ein wenig selbstironisch eine berühmte Sequenz aus Hitchcocks Psycho. Auch die Fächer Deutsch und Musik initiierten Unterrichtsversuche, in denen unterschiedliche Aspekte der Filmästhetik berücksichtigt wur-
210 Cinéphilie und pädagogischer Eros
den. Diese Versuche erwiesen sich zwar als aufwändig, stießen jedoch auf ein überraschend positives Echo der Schülerinnen und Schüler, die der Komplexität der gestellten Aufgabe durchaus gerecht wurden. 5. Reaktionen anderer Fachdidaktiken Unser Filmcurriculum wurde zu unserer Überraschung nicht nur in der Deutsch-, Musik- und Kunstdidaktik rezipiert, sondern auch in zahlreichen anderen Fachdidaktiken. So meldeten uns zum Beispiel Fremdsprachendidaktikerinnen und Politikdidaktiker zurück, dass sie unseren Vorstoß sehr begrüßen, die Beschränkung auf die drei Schulfächer Deutsch, Kunst und Musik jedoch als Ausgrenzung ihrer eigenen Fächer begreifen. Ausgangspunkt für unsere «Integrative Filmdidaktik» war die Überlegung, welche Disziplinen für die Analyse und das Verstehen des Films konstitutiv sind. Ein Blick auf die gängigen Modelle der Filmanalyse zeigt, dass eine Annäherung über die visuelle, die auditive und die narrative Ebene besonders fruchtbar erscheint. Damit wollen wir in erster Linie darauf hinweisen, dass ein komplexer Gegenstand wie der Film besser mehrperspektivisch zu erfassen ist als aus der eingeschränkten Sicht eines einzelnen Schulfachs. Eine Integration von Filmbildung in möglichst viele Einzelfächer erscheint uns prinzipiell wünschenswert und thematisch wie methodisch angebracht. Wir sind uns bewusst, dass es sich bei unserem Projekt erst um einen Anfang handelt, der durch weitere Bausteine ergänzt und vor allem durch Erprobung in der Praxis modifiziert und verbessert werden muss. Wir hoffen jedoch, dass diese und andere Entwürfe dazu beitragen, den Film zunehmend im Unterricht zu verankern.
Literatur Benjamin, Walter (2007 [1935]) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Flusser, Vilém (1989) Ins Universum der technischen Bilder (2. Aufl.). Göttingen: European Photography. Hediger, Vinzenz (2004) «A Cinema of Memory in the Future Tense: Godard, Trailers, and Godard Trailers». In: For Ever Godard. Hg.v. James Williams, Michael Temple & Michael Witt. London: Black Dog Publishing; S. 141–159. Holighaus, Alfred (Hg.) (2005) Der Filmkanon. 35 Filme, die Sie kennen müssen. Bonn/ Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung. Kafka, Franz (1983) Tagebücher 1910–1923. Gesammelte Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Frankfurt a.M.: Fischer. Klant, Michael/Spielmann, Raphael (2009) Grundkurs Film 1. Kino, Fernsehen, Videokunst (Materialien für den Sekundarbereich I und II). Braunschweig: Schroedel.
Pfeiffer: Integrative Filmdidaktik 211
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Volker Pantenburg / Stefanie Schlüter
Experimentalfilme vermitteln* Zum praktischen und analytischen Umgang mit dem Kino der Avantgarde I. Zum praktischen Umgang mit dem Kino der Avantgarde Experimentelle Filme spielen in der Filmvermittlung für Kinder und Jugendliche, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Das mag am marginalen Stellenwert von Avantgarde- und Experimentalfilm liegen, der sich schon daran zeigt, dass diese Filme fast ausschließlich von nicht-kommerziellen Verleihern vertrieben werden. Denn ob und in welchem Maße Filme in die Vermittlung eingebracht werden, hängt zu einem erheblichen Teil von den Ressourcen des Verleihs ab.1 Initiativen der Vermittlung von Avantgarde- und Experimentalfilm oder auch von Videokunst haben ihren ausgewiesenen Ort auf Filmfestivals, in Galerien und Museen. Sie existieren unabhängig von den dominanten Modi der Filmvermittlung, die sich auf zeitgenössische narrative oder dokumentarische Filmproduktionen konzentrieren und dazu tendieren, den ethischen Zugang zum Film vor dem ästhetischen zu privilegieren.2 Verschiebt man den Fokus von den ökonomischen Rahmenbedingungen auf die Agenten einer ästhetisch ausgerichteten Filmvermittlung, überrascht es allerdings, dass der Avantgarde- und Experimentalfilm auch hier kaum in die an Kinder und Jugendliche gerichtete Vermittlung *
1
2
[Anm.d.A.] Der Titel «Experimentalfilme vermitteln» erlaubt zwei Lektüren: Er verweist sowohl auf die Arbeit mit Experimentalfilmen in der Kinder- und Jugendarbeit als auch auf den vermittelnden Charakter der Filme selbst. Von den komplementären Erfahrungen mit dem Kino der Avantgarde und den Übergängen zwischen praktischer und analytischer Arbeit handelt der folgende Text. Der erste Teil wurde von Stefanie Schlüter geschrieben, der zweite von Volker Pantenburg. Am ‹Filmvermittlungsboom› der letzten Jahre lässt sich deutlich nachvollziehen, wie Filme kommerzieller Verleiher weitgehend ungefiltert in Bildungskanäle eingespeist werden: ‹Filmbildung› war und ist immer schon eng verbunden mit der Vermarktung und kommerziellen Auswertung. So bildet sich die Existenz von Avantgarde- und Experimentalfilm weder in Schulbüchern noch in anderen Bildungsmedien ab, etwa den in den letzten Jahren inflationär publizierten Filmheften für den Unterricht, die das Onlineportal Kinofenster in einer Datenbank versammelt. Eine Ausnahme bildet hier das durch eine DVD begleitete Schulbuch: Grundkurs Film; vgl. Klant/Spielmann 2008.
214 Cinéphilie und pädagogischer Eros
einbezogen wird,3 ist doch der filmvermittelnde Impuls innerhalb dieser Tradition besonders augenfällig. Denn Avantgardefilmerinnen und -filmer agierten immer schon auf den verschiedensten Ebenen als Vermittler dieses «neuen Sehens», für das das Kino der Avantgarde seinen Zuschauer/ innen von Beginn an die Augen öffnen wollte. Man denke etwa an Hans Richter, Jonas Mekas, Maya Deren, Stan Brakhage, Hollis Frampton oder Peter Kubelka, um nur einige zu nennen, die nicht nur mit ihren Filmen, sondern auch mit Texten und Vorträgen oder als Gründungsmitglieder von Verleih-Kooperativen, Archiven und Kinematheken die Produktion filmischen Wissens theorie-praktisch vorangetrieben haben. Diese parallelen Vermittlungsaktivitäten gehen Hand in Hand mit den Vermittlungsimpulsen der Filme, die – mit anderen ästhetischen Strategien als das narrative Kino – auf ihre filmischen Grundlagen, ihr Material und nicht zuletzt auf die Filmwahrnehmung Bezug nehmen. Für die Vermittlung bleibt dies nicht folgenlos, denn wo das Filmische des Films zum ausgewiesenen Sujet wird, wo der Film als sein eigener Vermittler agiert, muss nicht erst über Umwege, vom narrativen Gehalt eines Films ausgehend, ein Weg zurück zum Film gefunden werden.4 Mit Avantgarde- und Experimentalfilmen lässt sich die Gefahr der pädagogischen Trennung von Inhalt, Form und Medium umgehen, weil die Filme immer schon bei dem ansetzen, was vermittelt werden soll: beim Filmischen des Films. Den Kindern hat’s immer gefallen
Pantenburg / Schlüter: Experimentalfilme vermitteln 215
lers Wilhelm Genazino, dessen textuelle Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Fotografie in eine wahrnehmungstheoretische und -ästhetische Reflexion mündet. Genazinos Position soll, ergänzt durch Zitate der Filmemacher Peter Kubelka und Stan Brakhage, als Blaupause für die Rezeptionsmodi von Avantgarde- und Experimentalfilm dienen, denn alle drei Positionen verbinden mit der Kindheit einen genuinen Wahrnehmungsmodus. In seinem Essay «Der gedehnte Blick» entwickelt Wilhelm Genazino (2005) eine ästhetische Position, die von der Beziehung des Auges zur Welt handelt. So fragt er einerseits nach den Blicken, die wir von frühester Kindheit an in die Welt senden, und andererseits nach der erkenntnisproduzierenden Rolle der Bilder, die sich – infolge unseres umtriebigen Indie-Welt-Schauens – in uns ablagern. Unsere Blick-Biografie funktioniere, so Genazino, wie «eine Art Mini-Seher» (ibid., 45), der unser weiteres Schauen begleitet und darüber mitbestimmt, was wir im Laufe unseres Lebens wie sehen und verstehen.5 Genazinos Essay betont den besonderen Stellenwert der «kindlichen Wahrnehmung» und geht dabei insbesondere auf die vorsprachliche Phase ein, in der das visuelle Verhältnis des Kindes zur Welt besonders stark ausgeprägt ist. Mit seiner Fokussierung auf die frühe Kindheit formuliert Genazino eine grundlegende Skepsis gegenüber hermeneutisch und sprachphilosophisch fundierten Erkenntnismodellen, die von einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Verknüpfungsleistung durch das Wahrnehmungssubjekt ausgehen und so auf die Möglichkeit eines fortschreitenden Weltverständnisses schließen:
Wie kommt es, dass Kinder für abstrakte Filme – Filme ohne Narration, die kein eindeutiges Referenzverhältnis zur Wirklichkeit unterhalten – offener sind als viele Erwachsene? Selbst wenn sich diese Frage weder allgemeingültig stellen noch beantworten lässt, möchte ich ihr nachgehen, indem ich meinen Fokus auf die offensichtlich unterschiedlichen Wahrnehmungsdispositionen von Kindern und Erwachsenen richte. Eine Annäherung an diese Fragestellung werde ich aus künstlerischen Positionen heraus entwickeln und nicht, wie es vielleicht nahe läge, aus entwicklungspsychologischen Ansätzen. Dazu beziehe ich mich zunächst auf einen Essay des Schriftstel3 4
In den gegenwärtig einflussreichsten ästhetischen Vermittlungsansätzen – zu nennen wären hier die französischen Modelle, insbesondere der von Alain Bergala – spielen Experimentalfilme keine Rolle. Im unabhängigen Forschungsprojekt «Kunst der Vermittlung – Aus den Archiven des filmvermittelnden Films» sind wir – gemeinsam mit Michael Baute, Stefan Pethke und Erik Stein – dem filmvermittelnden Potenzial von Avantgarde- und Experimentalfilmen in zahlreichen Interviews mit Filmemachern und Texten zu diesen Filmen nachgegangen: www.kunst-der-vermittlung.de. Christine Rüffert greift den Begriff des «filmvermittelnden Films» in einem der wenigen bisher erschienenen Texte zur Vermittlung von Avantgarde- und Experimentalfilm auf; vgl. Rüffert 2009.
Jedes Kind hat eine individuelle Geschichte des Sehens schon hinter sich, ehe es damit beginnt, oft gesehene Bilder mit gedachten Inhalten zu verknüpfen. [...] In der Verschmelzung von Schauen, Denken und Sprechen schreitet unser Weltverstehen immer perfekter voran. Ich halte diese weithin akzeptierte Anthropologie für nicht hinreichend; salopp gesagt: Ich glaube, sie ist an einer entscheidenden Stelle nicht authentisch genug, weil ihr Endergebnis, die im Schauen und Denken hingenommene, weil verstandene Welt, mir zu optimistisch vorkommt. Meine Spekulation ist, daß Kinder von Anfang an ein Gefühl dafür zurückbehalten, daß sie nicht recht verstehen, was sie sehen, weil das Gesehene in der Vielfalt von Bedeutungen nicht richtig, nicht adäquat oder nicht vollständig verstanden werden kann. [...] Wir erinnern uns der eigenen Kinderblicke, und wenn wir uns möglichst genau erinnern, dann muß uns auch einfallen, daß wir in der Regel nur den Anfang von etwas verstanden haben. (ibid., 49f.) 5
Ein schönes Beispiel für die Prägung eines Künstlers durch seine Wahrnehmungsumgebung ist von Len Lye überliefert: Als Kind habe er einige Jahre auf einem Leuchtturm gelebt, daher seine lebenslange Liebe zum bewegten Licht; vgl. Kothenschulte 2009.
216 Cinéphilie und pädagogischer Eros
Genazino zufolge ist von dem, was wir sehen, immer nur ein Fragmentwissen zu haben, das sich gerade nicht wie ein Puzzle von aufeinander abgestimmten Teilen zu einem Ganzen zusammenfügen lässt. Es entstehe, so Genazino weiter, «über die Seh-Jahre der Kindheit hinweg eine seltsame Koexistenz zahlreicher Sinneseindrücke», die wir nach und nach zu Sinneinheiten zusammenfügen und «irgendwann, wenn wir erwachsen und des ewigen Fragmentwissens überdrüssig sind, für mehr oder weniger vollständige Bilder von Bildern halten, von denen wir doch nur Abschattungen kennen gelernt haben» (ibid.). Während das Kind das «Nicht-recht-Verstandene als Nicht-recht-Verstandenes» im Kopf behalte und man sich seine Wahrnehmung als ein «endloses Sammelsurium von Anfängen», «eine Anhäufung verdutzter Bilderrätsel» (ibid., 50) vorstellen müsse, aus der sich der «Affekt einer verrätselten Wahrnehmung» (ibid., 57) ableite, seien Erwachsene beim Schauen stets darum bemüht, die Bilderrätsel synthetisierend aufzulösen. Der Erwachsene schaue die Dinge mit Bedeutungen an, «an denen die Dinge [gemeint sind Kunstobjekte; Anm. St.S.] schuldlos sind» (ibid., 54). Er bringe es sogar fertig, «riskante Bildbedeutungen frei zu konstruieren, ohne je etwas von den hermeneutischen Problemen erfahren zu haben, die ein derartig freies Umherspringen mit sich bringt» (ibid., 56). Genazino gibt kein eindeutiges Votum für die eine oder die andere Seite ab, wenngleich der Tonfall des Essays von einer Grundsympathie für den kindlichen Wahrnehmungsmodus zeugt. So bewertet er die sinnlichen Kapazitäten des Kindes auch nicht als ‹Mangelerscheinungen›, etwa an Aufmerksamkeit oder sprachlich-intellektuellem Vermögen. Statt dessen, so ließe sich weiterdenken, macht gerade das Nicht-verstehen-Müssen der geschauten Bilder den entscheidenden Wahrnehmungsvorsprung des Kindes aus. Kindern fällt, so möchte ich argumentieren, der Zugang zu Avantgarde- und Experimentalfilm leichter als vielen Erwachsenen, weil sich ihre Wahrnehmungsdisposition mit den ästhetischen Konzepten dieser Filme trifft. Das gilt in besonderem Maße für Filme, die von den Bildern der Welt abstrahieren oder mit fragmentierten, non-linearen Bildanordnungen arbeiten und daher einen hermeneutischen Erkenntnisprozess von vornherein stören. Wie die Zitate von Peter Kubelka und Stan Brakhage erkennbar werden lassen, arbeiten Avantgarde- und Experimentalfilmer den auch von Genazino kritisierten geläufigen Erkenntnismodellen entgegen – etwa dem hermeneutischen Vor- oder Zugriff auf ein Wissen oder auf kulturell erlernte, eingeschliffene Wahrnehmungsmuster: Das ist überhaupt eine Lüge mit dem Nicht-Verstehen. Das ist nur, weil die Leute halt festgefahrene Vorstellungen haben. Bei allen meinen Filmen war’s
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so, wenn die Premiere war, dass die Kinder, die irgendwer mitgehabt hat, denen hat’s sofort immer gefallen. Den Kindern hat’s immer, immer gefallen. [...] Damals, wie der Schwechater-Film aufgeführt wurde, das war ’58, da hat’s geheißen [...], es gibt kein Einzelbild, das sieht man nicht! Einzelbild, das sieht man nicht, weil das ist zu schnell! Und dann war der Film, der besteht aus lauter Einzelbildern [...], und da haben wirklich Leute dagesessen, die ernsthaft behauptet haben, sie haben nichts gesehen, weil sie haben gewusst, das Einzelbild sieht man nicht.6 Imagine an eye unruled by man-made laws of perspective, an eye unprejudiced by compositional logic, an eye which does not respond to the name of everything but which must know each object encountered in life through an adventure of perception. How many colors are there in a field of grass to the crawling baby unaware of ‹Green›? How many rainbows can light create for the untutored eye? How aware of variations in heat waves can that eye be? Imagine a world alive with incomprehensible objects and shimmering with an endless variety of movement and innumerable gradations of color. Imagine a world before the ‹beginning was the word›. [...] Once vision may have been given – that which seems inherent in the infant’s eye, an eye which reflects the loss of innocence more eloquently than any other human feature, an eye which soon learns to classify sights, an eye which mirrors the movement of the individual toward death by its increasing inability to see. (Brakhage 2001, 12)7
Ähnlich wie in Genazinos Ausführungen stehen sich in den Zitaten der Avantgardefilmer jeweils zwei verschiedene Wahrnehmungsmodi gegenüber. Bringt man die drei Positionen zusammen, lässt sich der kindliche Wahrnehmungsmodus durch seine prinzipielle Offenheit und Flexibilität charakterisieren, denn das Kind empfängt seine Eindrücke weder durch den Filter normierter Wahrnehmungscodes noch übersetzt es sie in sprachlich codierte Sinneinheiten. Vielmehr hat es noch eine Ahnung davon, dass sich die Bilder der Welt und der Filme nicht restlos rational aneignen lassen, und so wird der Körper zum sinnlichen Resonanzraum für die ästhetische Erfahrung. Im Kino lässt sich dies beispielsweise beobachten, wenn Kinder bei einem Film von Len Lye plötzlich in ihren Sitzen zu tanzen beginnen. 6
7
Peter Kubelka zitiert nach einem Fernsehbeitrag der Sendereihe Apropos Film des ORF (Ausstrahlung: 13.10.1970). Kubelka präsentiert in diesem Beitrag gemeinsam mit Jonas Mekas das neu eröffnete «Unsichtbare Kino» in New York; er bezeichnet dies als Verwirklichung eines «Kindertraums». Stan Brakhage hat sich intensiv mit Themen wie «childhood, primal sight, the beginning of consciousness, and the phenomenological discovery of the world» auseinandergesetzt; vgl. dazu Ganguly 1994, 18.
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Der andere, der Welt des Erwachsenen zugeordnete Modus ist immer schon darauf aus, die Wahrnehmungseindrücke sprachlich zu systematisieren, Fragmente zu (festen) Sinneinheiten zusammenzufügen und den wahrgenommenen Phänomenen eine Absicht zu unterstellen, die es nur noch zu entschlüsseln gilt. Dieser Erfahrungsmodus drängt auf stabile Erkenntnis, und er tut dies auf Kosten seiner Sinnlichkeit. So kann, wie Kubelka dies auf den Punkt bringt, eine ästhetische Erfahrung ins Leere laufen, wenn das «erlernte Wissen» von den Bildern nicht bestätigt wird. Es geht mir hier nicht darum, die beiden Wahrnehmungsmodi gegeneinander auszuspielen. Die vorgestellten Positionen liefern vielmehr Anhaltspunkte zu verstehen, warum Avantgarde- und Experimentalfilm in der schulischen Filmvermittlung keinen Platz hat. Darüber hinaus scheinen mir diese Positionen interessant, weil sich mit ihnen die formulierten Wahrnehmungsdispositionen direkt auf die Ästhetik der Filme beziehen lassen. Wenn sich die ästhetischen Konzepte einiger Avantgarde- und Experimentalfilmer am Ideal der «kindlichen Wahrnehmung» orientieren, wie es etwa das Brakhage-Zitat nahe legt, geschieht dies nicht in der naiven Vorstellung, man könne regressiv einen Schritt zurückgehen in ein früheres Erkenntnisstadium. Der Rekurs auf den kindlichen Wahrnehmungsmodus dient dem Filmemacher eher als eine Folie zur Entwicklung ästhetischer Strategien, die wiederum dem Zuschauer einen Zugang zu anderen Wahrnehmungsmodi eröffnen sollen. Und in der Tat befreien viele Filme innerhalb der Tradition von Avantgarde- und Experimentalfilm ihre Zuschauer/ innen von der Nötigung zur Interpretation, indem sie auf das Filmische des Films ebenso abzielen wie auf die Sinne. Zu denken wäre etwa an die animierten Filme von Hans Richter, Marie Menken oder Ute Aurand, die handgemalten oder -gekratzen Filme von Len Lye und Stan Brakhage, mit denen Kindern der Umgang ein Leichtes ist, wohingegen ihren Lehrer/ innen ein Zugang erst eröffnet werden muss.8 Die Schule als Ort der überwiegend sprachgesteuerten Vermittlung, als Ort der sinnhaften Produktion und Weitergabe von Wissen tut sich schwer damit, sich auf ästhetische Prozesse mit offenem Ausgang einzulassen, gerade auch deshalb, weil sie den Kindern und Jugendlichen eine stabile Weltsicht vermitteln soll. Da die Schule aus sich heraus kaum auf Erfahrungen mit diesen filmischen Formen zurückgreifen kann, bietet es sich an, Vermittler/innen von außen ins Boot zu holen. Und weil die rein sprachliche Vermittlung im Umgang mit Bildern nahezu immer an ihre Grenzen stößt, sollten Fil8
In zahlreichen Kinoveranstaltungen mit Kindern konnte ich beobachten, wie schnell sie einen Draht zu abstrakten, experimentellen Filmen herstellen und wie sie nahezu unmittelbar auf diese Filme reagieren. Mit den gleichen Filmen erzielte ich bei Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer/innen eher zurückhaltende, zögerliche Reaktionen.
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memacher/innen einbezogen werden, damit sich die Kinder ästhetische Erfahrung auch praktisch aneignen können. Im Folgenden werde ich ein Praxisbeispiel vorstellen, das einen haptischen Zugang zum Kino der Avantgarde vorschlägt. Hand anlegen: Von der Hand zum Hirn und zurück Kino basiert auf der Materialität der Filme, aber als Zuschauer/innen kommen wir so gut wie nie mit dem Material in Berührung. In mehreren filmpraktischen Workshops zum Avantgarde- und Experimentalfilm setzte ich gemeinsam mit den Filmemacher/innen Ute Aurand und Robert Beavers sowie dem Tonkünstler Dirk Schaefer bei diesem Mangel an, indem wir einen großen Teil der Arbeit einer filmischen Praxis gewidmet haben, bei der das ‹Begreifen› des Materials im Vordergrund steht: Die Kinder haben Filme ohne Kamera hergestellt, und so ging es buchstäblich um einen sinnlichen Erkenntnisprozess, der durch das In-die-Hände-Nehmen, das Anfassen und ‹Angreifen› des Zelluloids in Gang gesetzt wurde.9
1–3 Fotos aus den Filmworkshops (Fotos von Stefanie Schlüter)
Die Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten, die sich den Kindern durch die haptische Bearbeitung von 35mm-Filmmaterial bieten, scheinen mir wesentlich für den Filmvermittlungsprozess. Denn Kinder, die überwiegend mit digitalen Medien aufwachsen, können kaum eine konkrete Vorstellung davon entwickeln, was ein bewegtes Bild ist. Auf die Frage beispielsweise, was sie sich unter einem «Animationsfilm» vorstellen, ant9
Es handelte sich um eine Reihe von drei jeweils fünftägigen Workshops, denen das Arsenal – Institut für Film und Videokunst (Berlin) als institutioneller Partner zur Seite stand. In den ersten beiden Workshops widmeten sich zwei fünfte Klassen der Hunsrück-Grundschule in Berlin-Kreuzberg – unter der künstlerischen Leitung von Ute Aurand und Robert Beavers – der Arbeit am Bild: Sie erstellten handgemalte und -gekratze 35mm-Filme und fotografierten abstrakte Animationen mit einer 16mm-Bolex-Kamera. Im dritten Workshop hat eine Gruppe von Oberschülern der Evangelischen Schule in Berlin-Mitte unter der Anleitung von Dirk Schaefer einige Segmente der Kinderfilme digital vertont. Jeder Workshop begann mit einer Vorführung im Kino, bei der Experimentalfilme von 1905 bis in die Gegenwart gezeigt werden. Durchgeführt wurden die vom Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung geförderten Projekte zwischen Januar und März 2010.
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worten Kinder, es handele sich um Filme, die am oder vom Computer gemacht werden. Aber was und wo ist dieses vermeintlich vom Computer erzeugte Bild, und wie setzt es sich in Bewegung? Die Antwort der Kinder generiert zwar Anschlussfragen, doch diese Fragen zielen nicht mehr auf Konkretes und Sichtbares ab, sondern auf unsichtbare Rechenoperationen. Durch die zunehmende Digitalisierung ist der Einbezug des analogen Filmmaterials in die Vermittlung also nicht obsolet geworden. Ganz im Gegenteil verlangt die gegenwärtige Situation nach konkreten Anschauungsobjekten, weshalb ich Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene so oft wie möglich mit dem Filmmaterial in Kontakt bringe. Regelmäßig rolle ich ausgemusterte Filmkopien im Kino aus, und wir spannen den Filmstreifen so im Raum auf, dass jeder Anwesende das Material in die Hände nehmen, die Bildkader auf dem Streifen studieren und sich eine Vorstellung vom sukzessiven Ablauf der Einzelbilder machen kann.
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einem ständigen Feedback zwischen dem kontrollierenden Sehsystem, dem sensomotorischen Gehirn und der agierenden Hand in einer Umwelt stattfindet» (ibid., 12). Da die Kinder in unseren Workshops keine thematischen Vorgaben bekamen, näherten sie sich dem Material auf ganz unterschiedliche Weise. Viele wählten einen Einstieg durch spontane, impulsive oder auch lustvoll-destruktive Materialbearbeitungen. Schließlich muss zunächst einmal ein Gefühl für das neue Material und die eigene Motorik im Austausch mit diesem Material entwickelt werden. Einige der Zufallsprodukte, die aus den Spontanaktionen der Kinder hervorgegangen sind, zählen zu den schönsten Workshop-Ergebnissen.
6–8 Stills aus dem Kinder-Film Kratzig I (D 2010)
4–5 Stills aus dem Film Film als Ereignis, Film als Sprache, Denken als Film, eine auf DVD veröffentlichte Lecture-Performance von Peter Kubelka, die am 10.11.2002 im Österreichischen Filmmuseum (Wien) stattgefunden hat
Künstlerische Praktiken, wie hier in einer Art Expanded-Cinema-Aktion gezeigt, können anschauliche Modelle für die Vermittlung liefern, denn es liegt ihnen mitunter ein vermittlerischer Impuls zugrunde: Im angeführten Beispiel besteht dieser Impuls in den deiktischen Strategien, die der Erweiterung der filmischen Erfahrungsmöglichkeiten dienen sollen. Im Prozess der haptischen Bearbeitung des Zelluloids kommt den Händen die vermittelnde Rolle zu, bilden sie doch die somatische Schnittstelle zwischen den Objekten in der Welt und dem Erkenntnisapparat. Sie sind also keine rein ausführenden Werkzeuge eines überlegenen Hirns, sondern lassen sich als «intelligente Erkenntnisinstrumente» verstehen, «die den Sinnesorganen und dem Gehirn zuarbeiten, damit diese sich selbst und die Welt begreifen können» (vgl. Huber 2007, 11). So ist beispielsweise das Zeichnen eine komplexe Übersetzungsleistung, «die in
Es ließ sich jedoch beobachten, wie bei vielen Kindern nach und nach eine stärkere Planungsarbeit einsetzte: So entwickelten sie teilweise abstrakte, teilweise konkrete Bildideen für Animationen. An ihren Arbeitsweisen ließ sich nachvollziehen, wie ausgehend von der Hand ein geistiger Prozess angestoßen wird. Bei der Bearbeitung eines Filmstreifens handelt es sich, anders als beim Zeichnen eines Bildes, um die tätige Überlegung, wie unbewegliche Formen auf dem Filmstreifen zu strukturieren sind, die durch den Projektor in Bewegung versetzt werden sollen.10 Das Malen oder Kratzen eines sukzessiven Bewegungsablaufs, die Umrechnung von Einzelbildern in zeitliche Einheiten von Sekunden und Minuten, all das sind Abstraktionsschritte, die Kinder nicht von vornherein durchschauen, sondern die sich beim Machen erst nach und nach erschließen. So ließ etwa ein Mädchen, offensichtlich inspiriert durch Hans Richters Film Rhythmus 21 (D 1921), weiße Rechtecke auf schwarzem Grund in verschiedene Richtungen durch das Bild wandern, wobei die Rechtecke gleichzeitig sukzessive 10
Allein die Winzigkeit eines Filmkaders im Vergleich zu einem Blatt Papier, auf dem man frei zeichnen und malen kann, macht einen großen Unterschied zum herkömmlichen Zeichenprozess aus. Das Arbeiten auf dem Filmstreifen zwingt zur Reduktion und infolgedessen zur Abstraktion. Und auch der Umgang mit Kratzwerkzeugen erfordert viel Geduld und Kraft; ein Schraubenzieher lässt sich auf Zelluloid nicht so leicht führen wie Stift oder Pinsel auf Papier.
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größer und wieder kleiner wurden. Wie sich auch im Workshopbericht einer Schülerin niederschlägt, verschränken sich in der Filmpraxis sinnlich-ästhetische Erfahrungen mit erworbenen Kenntnissen, etwa über die Zeitlichkeit des Films: Beim Anmalen des Filmstreifens leuchten die Farben schön und auf dem Bildschirm [am Schneidetisch] sieht es so aus, als ob es ein buntes Feuer ist. Mit dem Kratzwerkzeugen haben wir auf dem Filmstreifen rumgekratzt. Wir konnten Gesichter und Männchen und Muster kratzen. Wenn man nur 1 sekunde kratzen oder malen wollte musste man 24 Bilder bemalen (bekratzen). Man konnte den Film [am Schneidetisch] auch im Zeitraffa oder in Zeitlupe machen. Wenn man kratzt oder malt brauch man keine Kamera aber wenn man später seine bekratzten und bemalten Filme [...] auf der großen Leinwand sieht glaubt man gar nicht, dass man diesen Film nur mit Alltagsgeräten (Stifte, Nadeln) gemacht hat. Auf der Leinwand sprüht dann alles und die Muster zischen [...] vorbei.11
Was uns in allen Workshops verblüfft hat, war die starke affektive Beziehung aller Beteiligten zum Filmmaterial. Dabei ließ sich die Ausdauer einiger Kinder bei der Materialbearbeitung durchaus mit der von Marathonläufern messen. Ein Junge brachte es beim Bemalen eines Filmstreifens folgendermaßen auf den Punkt: «Das könnte ich 24 Stunden am Tag machen!» II. Zum analytischen Umgang mit dem Kino der Avantgarde Zwei Formen der Vermittlung Wenn ich an die Schule und die Studienzeit zurückdenke – im Prinzip an alle Situationen des Lehrens und Lernens –, dann erinnere ich mich an zwei Arten von Lehrern. Es gab solche, an denen die Klarheit erstaunte, mit der sie einen schwierigen Zusammenhang auf den Punkt bringen konnten. Sie hatten ein Talent dafür, zum vermittelten Gegenstand (einem Gedicht, einem Gemälde, einer historischen Quelle oder einem mathematischen Problem) sprachliche Brücken zu bauen. Man folgte dem, was sie sagten, und war beeindruckt von der Transparenz. Und es gab andere, an denen gerade das Opake und Erratische faszinierte. In dieser Art der Didaktik – wenn es denn eine ist – übertrug sich nicht unmittelbar ein Wissen über einen Stoff. Es übertrug sich vielmehr, dass der Gegenstand interessant war. Dabei blieb mitunter unklar, 11
Zitiert aus einem Workshopbericht von Anais (11 Jahre), Ergänzungen St.S.; Orthografie wie im Original.
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worin das Interessante bestand oder wie der Gegenstand funktionierte, aber genau diese Unklarheit war Anreiz, mehr über die Sache herauszufinden. Zwischen dem Lehrer (oder der Lehrerin) und dem Schüler (oder der Schülerin) ergab sich keine Brücke, sondern eine Lücke. Jenseits dieser Lücke aber stand jemand vor der Klasse, dessen Begeisterung aus einer mittleren Distanz beobachtet werden konnte.12 Das erste und sicherlich lehrbuchgemäße Modell kann man als direkten, expliziten, diskursiven und nach außen gerichteten Vermittlungsmodus charakterisieren. Der zweite funktioniert demgegenüber indirekt, implizit, beinahe hermetisch, weil sich das Entscheidende zwischen Lehrer und Gegenstand abspielt und nicht ausdrücklich an die Schüler gerichtet ist. Es ist also eher jemand beim Forschen als beim Lehren zu beobachten. Meine Kenntnisse der Didaktik reichen nicht besonders weit, und daher kann ich nicht einschätzen, ob der zweite Typus in einem Handbuch der Vermittlungsformen vorkommen würde – und wenn ja, ob er als Vorbild oder als abschreckendes Beispiel dienen müsste. Aber ich würde behaupten, dass die Experimentalfilme, die ich hier als ‹filmvermittelnde› Filme vorstellen möchte, nach diesem Typus modelliert sind. Man sieht in ihnen eine forschende, intensive Auseinandersetzung mit den Prinzipien, Materialien und Besonderheiten des Mediums Film. Diese Auseinandersetzung zwischen Filmemacher und Material wird dabei nicht ausdrücklich erläutert, sondern vorgeführt. Oder, um es auf eine andere Formel zu bringen: Es wird etwas gezeigt, nicht erklärt. Aber was zeigen diese Filme? Sie zeigen zuallererst etwas, das die Grundschüler im oben beschriebenen Experimentalfilm-Workshop am ersten Tag beim Ansehen von historischen Trick- und Animationsfilmen erfahren haben: ‹Kino› und ‹Film› umfassen viel mehr als Geschichten, die auf der Leinwand ablaufen. Ein erheblicher Anteil dessen, was wir ‹Experimentalfilm› und die Österreicher ‹Avantgardefilm› nennen, hat keine Schauspieler, erzählt keine Geschichten, bewegt sich weit entfernt von Mise-en-Scène und Happy End. Ja, in vielen Fällen – auch das zeigen die Workshops mit den Kindern und Jugendlichen – kommen diese Filme ohne Kamera aus, weil das Material ganz unmittelbar mit den Händen, mit Stiften oder anderen Werkzeugen bearbeitet wird. Die Ausweitung des Spektrums, was Film und Kino sein können, ist deshalb die erste und vielleicht 12
Beide Typen von Lehrern korrespondieren ungefähr den beiden Lehrformen, die Roland Barthes in einem lesenswerten Text über (seinen Schüler) Christian Metz unterschieden hat: «Es gibt vielleicht zwei Mittel, das Beherrschen zu vermeiden (geht es heute im Unterrichtswesen und in jeder intellektuellen ‹Rolle› nicht gerade darum?): entweder einen löchrigen, elliptischen, driftenden und abgleitenden Diskurs hervorzubringen; oder, umgekehrt, das Wissen mit einem Übermaß an Klarheit zu befrachten»; vgl. Barthes 2006, 203.
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wichtigste Lektion, und sie kann heute zugleich als eine historische Lektion gelten, weil zurzeit bestimmte Arten der Spezies Film – 8mm, 16mm – im Aussterben begriffen sind und zu geschichtlichen Größen werden.13 Entscheidend an dieser Art der Vermittlung ist, dass sie auf die Kraft der Bilder und nicht auf die der Worte setzt: Das Werkzeug der Vermittlung ist – ebenso wie ihr Gegenstand – Film, und diese simple Feststellung schließt eine ganze Reihe von komplizierten Fragen ein: Wie sieht eine Vermittlung aus, die nicht auf Worten, sondern auf Bildern basiert? Was heißt es, dass die Experimentalfilme in der Überschrift unseres Texts nicht (oder nicht nur) Objekt, sondern vor allem selbst Subjekt und Agent der Vermittlung sind? Um mit einer ganz einfachen Beobachtung zu beginnen: Es gibt in den allermeisten dieser Filme keinen kommentierenden Text; die vermittelnden Techniken, die zur Anwendung kommen, sind Operationen wie Montage, Neuvertonung, Umarbeitung von Material. Kurz: Es sind die Mittel des Films selbst. Das ist vor allem deshalb zu betonen, weil wir es gewohnt sind, dass jede Form der Vermittlung über das Medium Sprache läuft. Mathematische Gleichungen, ästhetische Formen, grammatikalische Strukturen, scheinbar alles kann in Worte ‹umgerechnet› werden, sodass die Sprache so etwas wie das Vermittlungsmedium schlechthin ist. Aber es gibt starke Argumente dafür, an dieser Auffassung zu zweifeln und ihr die Überzeugung entgegenzustellen, dass das Wissen der Bilder eine eigene und irreduzible Qualität haben muss. Wenn man das, was in den Bildern passiert, rückstandslos und ohne jeden Verlust in Sprache konvertieren könnte, wofür braucht man die Bilder dann überhaupt? Mit den Schlagworten pictorial turn und iconic turn hat man diesem Gedanken einer Eigengesetzlichkeit der Bilder seit den 1990er Jahren akademische Schubkraft verliehen und eine genuine Bildwissenschaft gefordert (vgl. Mitchell 1994; bereits resümierend Maar/Burda 2004). Der Gedanke der Eigengesetzlichkeit der Bilder berührt zahlreiche Fragen, die insbesondere die modernistische Auffassung von Kunst geradezu obsessiv beschäftigt haben. Malerei handelt nicht von religiösen Motiven, Landschaften, porträtierten Herrschern oder Stillleben, könnte man die Überzeugung formulieren, die vom amerikanischen Kunstkritiker Clement Greenberg am vehementesten vertreten wurde. Malerei handelt von Fläche (während Skulptur von Raum handelt). Sie handelt von Farbe, Leinwand und Pinsel: Ihr Material ist zugleich ihr Gegenstand. «Es wurde deutlich», schreibt Greenberg 1960, «daß der eigene und eigentliche Ge13
An der Schallplatte hat man studieren können, dass eine Kulturtechnik wie das DJing ausreicht, um dem Verschwinden eines Mediums Einhalt zu gebieten.
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genstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist» (1960, 267) – eine Einschätzung, die sich bei ihm mit einer problematischen Idee von medialer Reinheit verbindet.14 Zwischen den Impressionisten, Malevitsch und Yves Klein ist diese Intuition seit dem späten 19. Jahrhundert in immer wieder neuen praktischen Anläufen erforscht, untersucht und malerisch bearbeitet worden. In der Filmgeschichte hat sie sich vor allem in verschiedenen Anläufen und Konjunkturen im Experimentalfilm Bahn gebrochen. Die Rede vom «absoluten Film», die in den 20er Jahren zur Charakterisierung einer ganzen Strömung geprägt wurde, will auf genau dies hinaus. Nimmt man den Begriff wörtlich, so bedeutet er, dass das Medium Film für sich eingesetzt werden sollte, abgelöst von den anderen Referenzpunkten, an denen der Film sich orientierte, nicht als Umsetzung des Romans mit anderen Mitteln, nicht als Malerei in Bewegung. Birgit Hein und Wulf Herzogenrath haben diesen Gedanken zugespitzt, als sie 1977 eine einflussreiche Ausstellung mit dem Titel «Film als Film» kuratierten: Eben nicht «Film als Kunst», wie Rudolf Arnheim sein Buch 1932 programmatisch betitelte (und was die deutsche Übersetzung von Alain Bergalas Buch L’hypothèse cinéma mit dem Titel «Kino als Kunst» aufgreift), sondern als Film, zu seinen eigenen Bedingungen, mit seinen eigenen Mitteln und, so könnte man hinzufügen, mit seinen eigenen, filmischen Vermittlungsformen (vgl. Hein/Herzogenrath 1978). Ich will im Folgenden drei Filme vorstellen, die in unterschiedlicher Weise in dieser Tradition stehen und Fragen der Vermittlung ganz unterschiedlich stellen und bearbeiten. Bewegung und Stillstand (PASADENA FREEWAY STILLS) Pasadena Freeway Stills wurde 1974 von Gary Beydler gedreht. Der Titel beschreibt bereits sehr genau, was in den insgesamt sechs Minuten des Films zu sehen ist. Beydler zeigt eine Vielzahl von Stills, oder genauer: von Kadervergrößerungen aus einer Filmkopie, die er nacheinander an eine Glasscheibe hält. Die Fotos sind der Filmkamera zugewandt und werden so in einen abgegrenzten Rahmen eingepasst, dass sie immer an der gleichen Stelle erscheinen. Sie zeigen Phasen eines alltäglichen Bewegungsablaufs, einer Autofahrt auf dem Freeway zwischen Los Angeles und Pasadena. Zunächst werden die Aufnahmen in einem deutlich unterschiedenen Takt nacheinander gezeigt und sind daher diskret voneinander abgegrenzt. Im Bildhintergrund sind das T-Shirt und die Hände Beydlers in Jump14
Zu einer anderen Historisierung des Avantgardefilms, die auf die Unreinheit statt der Reinheit setzt, vgl. Jutz 2010. Für eine kurze Relektüre Greenbergs aus filmtheoretischer Perspektive vgl. Doane 2010.
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9–11 Stills aus Pasadena Freeway Stills (USA 1974, Regie: Gary Beydler)
Cuts zu sehen, in den Fotografien ruckeln die Autos auf der Schnellstraße sprunghaft vorwärts. Dann nimmt die Frequenz zu. Die Bildsprünge im Hintergrund beschleunigen sich, und zugleich gewinnt die Bildbewegung innerhalb der Fotografien an Fluidität. Ungefähr zur Mitte des Films hin ist ein kontinuierlicher Fluss entstanden. Zu diesem Zeitpunkt müssen also etwa 24 Fotos pro Sekunde zu sehen sein: Die filmische Bewegung des Ausgangsmaterials, des 16mm-Films, aus dem die Stills stammen, ist als Abfolge von 24 Standbildern pro Sekunde wieder rekonstruiert. Nach diesem Kulminationspunkt, an dem sich die Fotografien in Film verwandelt haben, während der gefilmte Hintergrund deutlich als Ergebnis von Einzelbildern zu erkennen ist, kehrt sich der Vorgang um. Der Prozess verlangsamt sich, der ‹Film› wird wieder zur Abfolge von Einzelbildern.15 Was passiert in diesem kurzen Lehrstück und inwiefern ist es ‹filmvermittelnd›? Man könnte sagen, dass Beydlers Film ein Kernelement analytisch isoliert, das den ‹Film als Film› charakterisiert: das Prinzip der Bewegung. Die Fotografien, Grundbausteine eines Films, setzen sich zu ‹Film› zusammen, bevor sie erneut in Einzelbilder zerfallen. In dieser überraschenden und eleganten Geste ist eine der vielen Herkünfte des Kinos – und viele würden sagen: die zentrale – nicht nur angesprochen, sondern vorgeführt. Pasadena Freeway Stills stülpt etwas, das jeden Film im Kern charakterisiert, nach außen, so wie man ein Kleidungsstück auf links drehen würde, um seine Nähte und das zugrundeliegende Schnitt15
Auf den Seiten von Light Cone, die den Film verleihen, ist eine Beschreibung Beydlers zu lesen, wie er den Film gemacht hat: «I had one of my graduate students drive the car, and I filmed 16mm black and white negative driving through these four consecutive tunnels on the Pasadena freeway. I wound up doing about 1400 paper prints from the individual frames in the negative. I mounted a piece of glass in my garage, with a square of tape marked out on it. I sat down behind the glass with a white T-shirt on and started shooting the stills. My wife Sarah shot the first part, and as the shots got shorter and shorter, I shot it myself using a bulb hooked up to the camera that I operated with my foot. I originally meant to shut it off and fade it out to end it, but while I was shooting, I decided instead to reverse the procedure, slowing the shots back down. I called Sarah back to shoot the last part. I always had the idea of sound, but I could never figure out what the heck kind of sound to have in this film» [http://www.lightcone. org/en/film-135-pasadena-freeway-stills.html (Zugriff am 3.10.2010)].
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muster besser erkennen zu können. Ich bin mir sicher, dass man diesen Film gewinnbringend mit Kindern schauen kann und ihnen fast automatisch verwandte Phänomene und Bildmedien wie das Daumenkino einfallen würden. Es wäre auch ein Leichtes, von hier aus auf die verschiedenen Formen der seriellen Fotografie zu sprechen zu kommen, wie Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey sie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts im Rahmen ihrer Bewegungsstudien erfanden. Ohne dass in Beydlers Film der Filmstreifen materialiter zu sehen wäre, wird sein inhärentes Prinzip – Serialität, Reihenschaltung von Einzelbildern – zum konzeptuellen Dreh- und Angelpunkt. Der Film ist wie eine Blaupause der Kinematografie; in rein deiktischer Form stellt er die überaus komplizierte Bewegungsfrage, die von Zenon von Elea via Henri Bergson hin zu Gilles Deleuze und Tom Gunning Zeit- und damit Filmtheorien immer wieder beschäftigt hat.16 In den 60er und 70er Jahren sind zahlreiche Filmemacher dem Impuls gefolgt, einzelne Bauformen und Kernelemente des Mediums Film und des Kinos als Ort zu erforschen. Beydlers Film steht daher für eine Vielzahl von Arbeiten. Es geht um die Frage der ‹Medienspezifik›, anders gesagt: um die Frage, was dem filmischen Medium eigentümlich ist und es gegen andere Medien abhebt. Man könnte diverse Filme aufzählen, die – wie in einem Labor – analytisch einzelne Prinzipien von Film und Kino isolieren, so wie Beydler es für das konstitutive Verhältnis von Stillstand und Bewegung tut. Einige Filme von Morgan Fisher, auf den ich später zurückkommen werde, sind darin besonders paradigmatisch: Production Stills (USA 1970) zeigt in der Laufzeit einer Rolle 16mm-Material, wie eine Reihe von Polaroids gemacht und gezeigt werden, auf denen ausschnitthaft und zunächst enigmatisch der Produktionsprozess des Films abgebildet ist, dem wir gerade beiwohnen. Und in Projection Instructions (USA 1976), ebenfalls von Morgan Fisher, wird der gemeinhin unsichtbare Filmvorführer zum Hauptdarsteller, wenn er vor unseren Augen allen denkbaren Anweisungen Folge leisten muss, das Bild scharf oder unscharf zu stellen, nach oben, unten, rechts oder links zu verschieben, den Ton laut oder leiser zu machen. Projection Instructions ist dabei weniger filmals kinovermittelnd, er verliert außerhalb der Kinopraxis jeden Sinn.17 Aber zum Kino gehören nicht nur einzelne Bilder, die Bewegung und Projektion, sondern auch das Filmmaterial, so wie die Kinder im Workshop es als Blankfilm oder gefundenes Material kennengelernt haben, 16 17
Vgl. Henri Bergsons Text «L’Evolution créatrice» von 1907, die Bergson-Kommentare Deleuzes in den beiden Kino-Büchern sowie Gunning 2007. Production Stills: Morgan Fisher, USA 1970, 16 mm, s/w, Ton, 11 min; Projection Instructions: Morgan Fisher, USA 1976, 16mm, s/w, LT, 4 min.
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das sie bekratzen, bemalen, lochen oder durch die Nähmaschine ziehen konnten. Ein anderer wichtiger Zweig der Experimentalfilmgeschichte hat sich genau diesem Aspekt gewidmet. Er ist unter dem Titel Found Footage bekannt geworden, auch wenn einige der Filmemacher das Material, mit dem sie arbeiten, nicht bloß finden, sondern auch systematisch suchen und in Archiven erschließen.18 Die Frage der Geschichtlichkeit der Bilder wird hier ganz ausdrücklich zum Thema, während Beydlers Film vor allem auf die Geschichtlichkeit des Prinzips ‹Bewegung› aufmerksam machte.
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seinen Film kompiliert hat, aus der entgegengesetzten Richtung in den Wiener Bahnhof ein. Tscherkassky hat betont, dass die ganz buchstäbliche Handhabung des Materials, das Begreifen, essentiell für die Entstehung des Films war: Das Ausgangsmaterial war ein uralter Trailer, ich habe nicht den kompletten Film gehabt, sondern nur diesen dreiminütigen Zusammenschnitt. Dass diese Einstellung wie der einfahrende Zug bei den Lumières wirkt, wurde erst sichtbar, als ich den Filmstreifen in der Hand hatte und umgedreht und verkehrt angeschaut habe. Da kommt dann der Zug von rechts nach links ins Bild und nicht mehr von links nach rechts. Aber das liegt halt in der Sache, dass man das tun kann mit dem Filmstreifen.19
Material und Erzählung (L’ARRIVÉE) Auf den Gleisen zwischen dem Frühen Kino und der Avantgarde herrscht spätestens seit den 60er Jahren reger Pendelverkehr (vgl. Blümlinger 2004). Schon in einem der ersten Filme der Filmgeschichte kommt ein Zug ins Bild gefahren, und auf diese elementare Bewegungssensation sind in der Folge unzählige Filmemacher und Theoretiker wie auf eine traumatische Urszene zurückgekommen (vgl. Kirby 1997). Der Zug, den Peter Tscherkassky in L’Arrivée (AT 1997/98) ins Bild fahren lässt, stammt zwar aus einem Film von 1969, aber er bezieht sich ganz ausdrücklich auf diesen ersten Zug der Lumières. Dabei erinnerte die Einstellung, die der Wiener Filmemacher hier vielfach bearbeitet, attackiert, umkopiert, spiegelt und bis an die Grenze der Unkenntlichkeit verfremdet, im Ausgangsmaterial zunächst nicht unbedingt an die Einfahrt in den Bahnhof von La Ciotat. Kommt der Lumièresche Zug in einer kunstvoll kadrierten Diagonale von rechts hinten nach vorne links auf den Betrachter zu, so fährt er in Mayerling, aus dessen Trailer Tscherkassky
12–14 Stills aus L’Arrivée (Peter Tscherkassky, AT 1997/98) 18
Zum Found-Footage-Film vgl. Blümlinger 2009.
Anders als in Beydlers nüchtern und regelmäßig konstruiertem Film sind im Laufe der komprimierten und verdichteten zwei Minuten von L’Arrivée deutlich drei Phasen zu unterscheiden, denen drei verschiedene Ankünfte entsprechen: Wir sehen zunächst die Ankunft des Zuges, anschließend die Ankunft (oder eher: den Einbruch) des Materials und drittens die Ankunft der Frau – Catherine Deneuve –, die aus dem Zug steigt und mit einem Kuss am Bahnsteig empfangen wird. Versteht man den Film als eine Lektion in Filmgeschichte, so folgen Anfang und Ende zwei deutlich unterschiedlichen Erzählweisen. Der gewaltsame Mittelteil, in dem Tonspur und Perforation – kurz: die Paratexte des Filmmaterials – ins Innere drängen, orchestriert den Umschlagspunkt zwischen beiden. Die erste Einstellung, in der sich der Zug ebenso wie das Filmbild langsam ins Zentrum der Leinwand bewegen, ist eine Art Remake des Lumière-Films. Mit dem einflussreichen Begriff Tom Gunnings kann man sagen, dass hier das «Kino der Attraktionen» am Werk ist. In dieser frühen Zeit des Kinos bis etwa 1907, die Gunning im Auge hat, bedurfte es noch keines montierenden oder erzählerischen Aufwands, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu bannen. Es bedurfte auch keiner Hauptfiguren und keiner Schauspieler: Die Bewegung des Zugs allein war Attraktion genug, und solche und ähnliche Bewegungen erzeugten am Anfang der Filmgeschichte im Zuschauer ein lustvolles Erstaunen, das – entgegen dem Mythos vom verschreckten Publikum – keineswegs naiv oder unwissend war. Anders aber als bei den Lumières oder zahllosen anderen Zügen des frühen Kinos rollt der Zug in L’Arrivée nicht ungehindert in den Bahnhof ein. Das Filmmaterial lässt ihn förmlich aus dem Gleis springen. Genauer müsste man vielleicht sagen, dass die Gleise – sprich: Perforationsbahnen 19
Ein physisches Kino. Gespräch mit Peter Tscherkassky, auf den Internetseiten des Projekts «Kunst der Vermittlung» [http://www.kunst-der-vermittlung.de/dossiers/filmvermittelnde-experimentalfilme/gespraech-tscherkassky/ (Zugriff am 3.10.2010)].
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– sich verselbständigen und in das Bildfeld und damit in das Feld der Erzählung hineintreten. Der Rahmen wird zum Bild, während das Bild aus dem Rahmen geschoben wird. Darin liegt nicht nur eine Ermächtigung des Materials gegenüber dem ‹Inhalt›. Es findet, auf engstem Raum, auch eine Bewegung vom «Kino der Attraktionen» zum Erzählkino statt, wie sie ab 1908 von Regisseuren wie D.W. Griffith initiiert wurde. Tscherkassky selbst bringt den allegorischen Charakter seines Films auf den Punkt, wenn er schreibt: «Reduziert auf wenige Minuten bietet L‘Arrivée eine kurze, präzise Zusammenfassung dessen, was die Kinematographie (nach ihrer Ankunft mit Lumières Zug) zu einer Großmacht werden ließ: Action, Emotions.»20 Der Blick, den Tscherkassky in L’Arrivée auf die Großmacht des emotionalen Erzählkinos wirft, ist dabei ambivalent. Zwar kann man den Film ohne große Anstrengung als Kritik des Hollywood-Kinos verstehen, die immer wieder einen zentralen Antrieb der Avantgarde dargestellt hat. Zugleich aber partizipiert L’Arrivée am Kuss und dem emotionalen Ende, an Catherine Deneuves Auftritt und der Pointe, die der Film dadurch erhält. Ob Ablehnung oder faszinierte Appropriation – in der obsessiven Bearbeitung der Bild- und Tonspur sind Affekte am Werk, die in der einfachen Eleganz von Gary Beydlers Film und insgesamt in der modernistischen Tradition weniger offen nach außen getragen werden. Dies macht auf einen Unterschied aufmerksam, der die Prominenz von Found-Footage-Arbeiten insbesondere seit den 80er Jahren zumindest teilweise erklärt. Besonders gegen die Greenbergsche Deutung des Modernismus wurde zu Recht der Vorwurf erhoben, dass die Frage der Medien- und Kunstspezifik unzulässig verabsolutiert und das Kunstwerk unter dem Stichwort der «Autonomie» von seinen historischen und gesellschaftlichen Kontexten abgetrennt werde. Greenbergs puristisch und elitär gedachte Frage «reiner Medialität» neigte zudem dazu, den Blick auf hochkulturelle Phänomene zu beschränken. Im Lichte dieser Problematik bekommt der Found-Footage-Film eine besondere Bedeutung, weil er die Frage der Medienspezifik zwar nicht ad acta legt, aber sie in der Arbeit mit existierendem und oft scheinbar ganz unbedeutendem Material vollständig neu stellt. In Hollis Framptons einflussreichem und konzentriertem Text «For a Metahistory of Cinema. Commonplace Notes and Hypotheses» heißt es: «There is no evidence in the structural logic of the filmstrip that distinguishes ‹footage› from a ‹finished› work. Thus, any piece of film may be regarded as ‹footage›, for use in any imaginable way to construct or reconstruct a new work» (2009, 136). 20
Zu finden auf Tscherkasskys umfangreicher Website [www.tscherkassky.at (Zugriff am 3.10.2010)].
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Jedes Filmstück, belichtet oder unbelichtet, ist potenzielles Ausgangsmaterial für die eigene Filmarbeit: In dieser Prämisse haben der Found-Footage-Film und zunächst seine Vertreter in der US-Avantgarde einen verspäteten Gründungsparagrafen gefunden. Filmemacher wie Ken Jacobs oder Ernie Gehr, später dann – sicher vermittelt durch die Initiativen Peter Kubelkas, der als Direktor des Österreichischen Filmmuseums zahlreiche Avantgarde-Filmer aus New York nach Wien holte – haben sich österreichische Filmemacher der Neubearbeitung und Appropriation des Kinos angenommen. Bei Peter Tscherkassky, Martin Arnold und Gustav Deutsch hat die Arbeit mit existierendem Material allerdings je eigene, ganz unterschiedliche Implikationen für Fragen der Vermittlung. Während sich Martin Arnold in seiner Cineseizure-Trilogie auf Erzählmechanismen des Hollywoodkinos bezieht, deren latente Strukturen er aufdeckt, indem er kurze Segmente in ein zwanghaftes Stottern der Bilder und Töne versetzt, bis sie quasi gegen sich selbst aussagen, arbeitet Gustav Deutsch in den inzwischen drei Kompilationen seiner Film ist.-Reihe eher phänomenologisch mit den Beständen spezifischer Archive. Bei ihm sind es oft Gebrauchsfilme oder wissenschaftliche Filme und damit ein nochmals anderer, als «ephemer» bezeichneter Zweig des Kinos.21 Gegenüber den modernistischen Zuspitzungen und Reduktionen im Kontext des sogenannten «struktuellen Films» bot die Arbeit mit Found Footage einen Ausweg. Malewitschs Schwarzes Quadrat hat die Malerei an einen End- oder Nullpunkt geführt, aber auch nach Malewitsch wurde noch gemalt. Peter Kubelka oder Tony Conrad haben die Kinematografie in ähnlicher Weise auf weiße und schwarze Bildkader zurückgeführt, aber man wollte auch nach ihnen noch Filme machen können. Die Auf- und Umarbeitung, die An- und Enteignung existierenden Materials ermöglichte genau dies: Man konnte im kritischen und zitierenden Zugriff auf die Gegenstände und Erzählungen zurückkommen. Man konnte sie im Modus der Analyse, oft auch im ikonoklastischen Geiste der Zerstörung noch einmal erzählen. Von Helmut Färber stammt die Überlegung, es gebe zwei Motive, einen Vogel zu zerlegen: entweder, weil man ihn essen wolle, oder, weil man herausfinden möchte, wie man fliegt. Im Avantgardefilm sind, glaube ich, beide Impulse zu finden, der forschende, sezierende und der aggressive und kannibalistische. Ein Film wie L’Arrivée kann dabei auch zeigen, dass in der Materialbearbeitung der Affekt und die Temperatur 21
Im Rahmen des Projekts «Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermittelnden Films» haben wir ausführlich mit allen drei Filmemachern über ihre Arbeiten als ‹filmvermittelnde› gesprochen. Diese Gespräche und viele andere (etwa mit Alain Bergala, Jean Douchet, Alexander Horwath) sind auf der Website www.kunst-der-vermittlung.de dokumentiert.
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auf eine neue Weise in die vergleichsweise kühl sezierenden Praktiken des Modernismus hineinströmen.
im Hinblick auf einen Zweck inszeniert wird. Wie Standard Gauge die beiden großen Konventionen der Filmkomposition vermischt, führt er auch narratives und nicht narratives Filmemachen zusammen. Indem er die Scherben der Industrie Bild für Bild untersucht, entdeckt er einige der Methoden und Themen des Experimentalfilms wieder, die in Hollywood sozusagen Einzug gehalten haben. Zugleich verschlingt und usurpiert der Film das Material der kommerziellen Filmindustrie, indem er sie zu seinem Thema macht. Standard Gauge impliziert also eine Art Wechselbeziehung oder Abhängigkeit zwischen zwei Filmmethoden, die nach konventioneller Meinung durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sein sollen. Durch die wechselseitige Befragung zwischen dem Industrieformat 35mm und dem 16-mm-Format des unabhängigen oder Amateurfilmemachers legt Standard Gauge nahe, Film jeglicher Art zu vereinen.22
Format und Affekt (STANDARD GAUGE) Der dritte und letzte Film, den ich als ‹filmvermittelnden› vorstellen möchte, ist von Morgan Fisher. Ich kann mich dabei kurz fassen, denn Fisher selbst hat so erhellend über seinen Film geschrieben, dass mir nicht viel zu sagen bleibt. Der Film heißt Standard Gauge (USA 1984) und bringt uns von den komplexen Verdichtungen und Schichtungen Tscherkasskys wieder zurück zu einer ganz einfachen Anordnung.
Standard Gauge ist also beides: Erzähl- und Experimentalfilm, 35mmund 16mm-Film, Montage und Plansequenz. 15–17 Stills aus Standard Gauge (Morgan Fisher, USA 1984)
Ein Leuchttisch, insgesamt ungefähr 30 verschieden lange Filmstreifen und die kommentierende Stimme Morgan Fishers: aus diesen drei Komponenten ist Standard Gauge zusammengesetzt. Der Titel weist zu Beginn auf die entscheidende filmgeschichtliche Formatfestlegung hin, die in einem langen Rolltext geschildert wird. Schon 1894 hatten sich Edison und sein Erfinder William K. Dickson auf das Format von 35mm für das Kinetoscope festgelegt, ein Sichtgerät für Rollfilme, das nur von Einzelpersonen genutzt werden konnte, weil die Bilder nicht projiziert wurden. Die Lumières übernahmen das Format, als sie Dicksons Erfindung kennenlernten, für ihren Kinematografen. Von da aus setzte der Siegeszug des 35mm-Materials ein, das unter dem Namen Standard Gauge bekannt wurde. Die konzeptuelle Pointe von Fishers Film liegt nun darin, dass er zwar ausschließlich 35mm-Filmstreifen zeigt, seinen Film selbst aber auf 16mm dreht, dessen maximale Rollenlänge zugleich die Länge des Films vorgibt. Fisher hat die Struktur und das Konzept seines Films so beschrieben: Obwohl der Film aus einer einzigen durchgehenden Aufnahme besteht, passt jedes Einzelteil in den Rahmen und moduliert so das Ganze, was eine Abfolge von Aufnahmen innerhalb eines Gesamtfilms bewirkt. Der Film kombiniert also zwei Konventionen, die sonst für inkompatibel oder gar antagonistisch gehalten werden: Schnitt – die Konstruktion eines Films durch Montage – und Plansequenz, das leidenschaftslose Drehen einer Szene, die
18–20 Stills aus Standard Gauge (Morgan Fisher, USA 1984)
Der Ausschnitt über das «China-Girl» rückt auf andere Weise als Tscherkassky ebenfalls das Verdrängte und Unterdrückte des Films ins Zentrum der Aufmerksamkeit.23 Er zeigt uns eine Reihe von Testaufnahmen, in denen Frauen mit bunten Kleidern für die Kamera posieren, damit im Kopierwerk die Farbbestimmung des Materials und insbesondere der schwierigen Hauttöne vorgenommen werden kann. Die Frauen dienen lediglich der Kalibrierung der Maschine und bleiben, so wie Beleuchter, Kabelträger oder Produktionsfahrer, unsichtbar – allerdings mit dem kategorialen Unterschied, dass sie als «any piece of footage» in Framptons Sinne – tatsächlich auf Filmmaterial vorliegen wie die Schauspieler innerhalb des Films auch. Fisher leitet aus dieser Beobachtung eine Parteinahme für die verborgenen Arbeiterinnen und Arbeiter des Films ab, die deshalb un22 23
Morgan Fisher über Standard Gauge. Zu finden auf der Netzseite von Constanze Ruhm: Fate of Alien Modes, Ausstellung in der Wiener Secession 2003 [http://constanzeruhm.net/portfolio/morgan-fisher.phtml (Zugriff am 3.10.2010)]. Der Voice-over-Text ist abgedruckt in MacDonald 1995, 178–189. Zum China-Girl vgl. Hüser 2002.
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sichtbar bleiben, weil das industrielle Kino seine Grundlagen tendenziell verschweigt oder ins Off des Paratexts verbannt. Aber er würdigt die Bilder – wie alle anderen Filmschnipsel auch – nicht zuletzt in ihrer ästhetischen Qualität, die an Gemälde Mondrians denken lässt.24 Im Kontext von Vermittlungsfragen will ich noch auf den stark subjektiven Tonfall hinweisen, in dem Fisher von seiner Begegnung mit den Filmstücken erzählt. Die Struktur orientiert sich an autobiografischen Momenten, es handelt sich um Material, mit dem er als Cutter oder in anderen Funktionen in der Filmindustrie konfrontiert wurde; um Filmrollen, die er aus Mülleimern der Studios rettete; um enigmatische Bilder aus namenlosen Filmen und, immer wieder, um Teile von Vorlaufband oder anderen Paratexten des Films, die für das Avantgardekino immer von Interesse gewesen sind, weil in ihnen das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ausgehandelt wird. Auf eher beiläufige Weise entsteht so eine Art Geschichtsstunde, in der Fragen der Filmproduktion und des Materials ebenso berührt werden wie solche von Farb- oder Tonfilmprozessen, die am Material ablesbar sind. Der affektive Bezug zu diesen Stücken ist dabei zentral. In der Gegenüberstellung von Vermittlungsmodellen, mit der ich begonnen habe, partizipiert Fisher deshalb an beiden Formen: Anders als im Fall von Beydler und Tscherkassky gibt es hier einen kommentierenden Text, der sich auf diskursive und erläuternde Weise an den Zuschauer richtet. Aber dennoch spielt sich auch hier das Interessante zwischen Fisher und dem Material ab, und der Zuschauer ist Zeuge dieser Auseinandersetzung. Konsequenterweise endet der Film mit den lakonischen Worten: «Here are some pieces of film that I think are interesting to look at», die den deiktischen Impuls auf den Punkt bringen, um in den letzten fünf Minuten unkommentiert weitere Stücke Film folgen zu lassen. Schluss Zum Schluss ein paar Gedanken zu den drei Fluchtlinien meiner Filmlektüren: In der Diskussion von Gary Beydlers Pasadena Freeway Stills ging es zunächst um das Verhältnis von Stillstand und Bewegung als einer der Kernfragen des filmischen Prozesses. «The relationship between cinema and still photography», hat Hollis Frampton geschrieben, «is supposed to present a vexed question. Received wisdom on the subject is of the chicken/egg-variety: cinema somehow ‹accelerates› still photographs into motion» (2009, 134). Beydlers Film war aber darüber hinaus der Hinweis auf ein zentrales Anliegen modernistischer Projekte zu entnehmen. 24
Vgl. zu Standard Gauge auch Blümlinger 2009, 181–187.
Pantenburg / Schlüter: Experimentalfilme vermitteln 235
Mit vielen anderen – zum Beispiel mit Film- und Medienwissenschaftlern – teilt Beydler das Interesse daran, das Medium ‹Film› zu erforschen. In dem Moment, wo diese Forschung selbst zum Film gerinnt, entsteht ein ‹filmvermittelnder› Film. Im Found-Footage-Film wird die Frage der Medienspezifik dann zugleich suspendiert und weitergeführt. Suspendiert wird der puristische Impuls, in der Konzentration auf das Medium seine Inhalte so weit wie möglich zu reduzieren. Stattdessen wird die Geschichtlichkeit nicht nur des Mediums, sondern vor allem seiner Erzählungen in die Auseinandersetzung mit konkretem Material nach vorne gerückt; der technischen Frage wird die geschichtliche zur Seite gestellt. Auch Morgan Fishers Film ist als Geschichtsunterricht zu verstehen, aber er bringt die autobiografische Erfahrung des Vermittlers ganz ausdrücklich mit ins Spiel. Vermittlungspraxis ist, so verstehe ich Standard Gauge, immer auch eine Frage der Affekte und der Faszination, die vom Material ausgeht. Die Hände, die bei den Workshops der Kinder und Jugendlichen auf das Zelluloid kratzen und malen, sind in allen drei Fällen prominent am Werk. Vor der Ankunft der Computer und der Dominanz digitaler Bildbearbeitung ist das ‹Handgemachte› eine Kategorie, die im Experimentalfilm sehr viel zentraler ist als im industriellen Kino, in dem sich der einzelne Handgriff in einer Kette von Operationen verliert und nur noch schwer beobachtbar ist. Wir sehen Gary Beydlers Hände, wir fragen uns, welchen Prozeduren Peter Tscherkassky das Material mit seinen Händen unterzogen hat, um ein Licht- und Klanggewitter wie das von L’Arrivée herzustellen. Und wir merken, dass die ganz buchstäbliche Handhabung von Filmstreifen einer der Ausgangspunkte für Standard Gauge war. Neulich begegnete mir die Hypothese, dass alle Kinder Formalisten seien: Sie interessieren sich für Bewegung, Farbe, Formen und Strukturen. Die Fixierung auf die Inhalte, auf den weite Teile der Filmvermittlung bauen, setzt vielleicht erst mit der Pubertät ein. Bevor sie auf Semantik und Bedeutung zurechtgestutzt werden, sind Kinder Medienwissenschaftler.
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236 Cinéphilie und pädagogischer Eros
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Kapitel 4
Der Film vermittelt sich selbst
Thomas Elsaesser
Filmvermittlung zwischen Rückbezüglichkeit, Reflexivität und Remediation: ‹D3D› und AVATAR
«Filmvermittlung» Mein Beitrag widmet sich dem Thema ‹Filmvermittlung› aus einer auf den ersten Blick vielleicht unerwarteten Perspektive, nämlich der in einem Film selbst angelegten Rückbezüglichkeit. Der Begriff der Filmvermittlung umfasst heutzutage Vorträge zum Kino in seiner aktuellen (oder immer wieder aktuellen) Krise ebenso wie das Bemühen, Schulkindern visual literacy zu vermitteln, d.h. am Rande des Curriculums eine Reflexion zum filmischen Sehen und Filmkonsum anzuregen.1 Filmvermittlung betreiben renommierte Filmemacher, die ‹Masterclasses› über ihre Lieblingsfilme halten (wie in Michael Althens und Hans Helmut Prinzlers Film Auge in Auge), oder DVDs, die mit Boni und Kommentaren den Zuschauer zum mehrmaligen oder parallelen Sehvergnügen einladen.2 Sie umfasst schließlich auch die historische Aufarbeitung von Meta-Diskursen, deren Gegenstand Filme im Lauf der Zeit geworden sind, insbesondere solche, in denen Bilder sich selbst kommentieren – man denke an Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma oder Harun Farockis Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Solchen Filmen gilt das Augenmerk der von den Berliner Filmwissenschaftlern und Kuratoren Stefan Pethke, Michael Baute und Volker Pantenburg ins Leben gerufenen Initiative «Kunst der Vermittlung». Ein Auszug aus deren Selbstdarstellung: Für Filme, die das Kino selbst thematisieren, seine Geschichte und seine Ästhetik, könnte man das Genre «filmvermittelnder Film» erfinden: Das kann eine künstlerische Videoarbeit sein, die in einer Montage typische Einstellungen aus Hitchcockfilmen versammelt; das kann aber auch ein Dokumentarfilm über Bild-Motive des Regisseurs John Ford sein. Das Genre ‹filmvermittelnder Film› würde ganz unterschiedliche Formate, etwa experimentelle und essayistische Formen für Kino oder Fernsehen und im Bonusmaterial von DVDs versteckte analytische Beiträge umfassen. In Deutschland boten in 1 2
Für eine Kritik am Begriff der media literacy vgl. auch den Beitrag von Cary Bazalgette in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Christen in diesem Band.
240 Der Film vermittelt sich selbst
der Vergangenheit vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender Regisseuren die Möglichkeit, in Filmen über Film nachzudenken. Das Projekt «Kunst der Vermittlung» will nun die mindestens 50jährige Geschichte solcher ‹Filme über Film› dokumentieren. Sie sollen recherchiert, erfasst, bekannt und verfügbar gemacht werden. Eine kommentierte Auswahlfilmographie mit Klassikern des filmvermittelnden Films wird erstellt, und es soll regelmäßige Veranstaltungen mit Produzenten, Autoren und Theoretikern zum Thema geben.
Im Zentrum der ‹Kunst der Vermittlung› stehen mithin der Autorenfilm, cinephile Klassiker oder Werke der Avantgarde. Mein Beitrag hingegen richtet sein Augenmerk auf die Formen und Möglichkeiten der Filmvermittlung, die das Mainstreamkino – in diesem Falle der Hollywoodfilm der Gegenwart – praktiziert. Entwickeln möchte ich meine These, dass das Hollywood-Kino sich selbst vermittelt, anhand des 3D-Kinos und James Camerons Avatar (USA 2009). Die Filmvermittlung der Filmindustrie siedle ich, wie der Titel des Beitrags sagt, zwischen Rückbezüglichkeit, Reflexivität und Remediation an. Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass wir wahrscheinlich für die Hollywoodsche Art der Filmvermittlung noch nicht das richtige Vokabular und damit weder den Diskurs noch die Bezugsebene gefunden haben. Dennoch soll hier ein erster Vorstoß zur Klärung unternommen werden – im Hinblick auch auf die Frage, wie Filme heute mit ihrem Publikum in Dialog treten und wie und weshalb der Begriff der ‹Rezeption› für die gegenwärtige Medienkultur neu gefasst werden muss. Der Vorspann als Filmvermittlung In meinem Buch Hollywood Heute habe ich am Beispiel von Die Hard (John McTiernan, USA 1988) zu zeigen versucht, dass im ‹klassischen› Hollywoodkino die ersten Szenen eines Films oder die Pre-Credit-Sequenz eine Art ‹Gebrauchsanleitung› dafür bilden, wie der Film gelesen werden will; und zugleich, wie auch ein klassischer Hollywoodfilm große Redundanz und Wiederholungen aufweist, die – Claude Lévi-Strauss hat es bei Mythen und Vladimir Propp bei Märchen nachgewiesen – dazu dienen, der Interferenz, den Übertragungsfehlern oder der Ablenkung entgegenzuwirken. Informatiker würden von einer signal to noise ratio sprechen; Roman Jakobson sprach, im Anschluss an Malinowski, vom «phatischen» Aspekt der Kommunikation (Jakobson 1960). Die Einführung, die der Vorspann gibt – oft höchst komprimiert in Bildsprache und Handlung –, ist Teil des Films und gleichzeitig Kommentar zum Film und wäre damit die erste Art der Filmvermittlung als Rückbezüglichkeit.3 3
Zur textuellen und kommunikativen Logik des Filmvorspanns vgl. Böhnke/Hüser/
Elsaesser: Filmvermittlung als Rückbezüglichkeit 241
Filmvermittlung als Anzüglichkeit Im postklassischen Kino – so meine zweite These – ist eine weitere Dimension der Rückbezüglichkeit präsent, bei der sich die Handlung immer wieder des Zuschauers versichert, indem der Film zu erkennen gibt, dass er um seine genrebedingten Stereotypen und Handlungsmuster weiß; er legt eine bestimmte selbstironisch zu lesende Komplizenschaft (knowingness) an den Tag, nach dem (oft als ‹postmodern› bezeichneten) Prinzip: «Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß». Damit ergibt sich eine Art Endlosschleife der Bezüglichkeit oder der Anzüglichkeit, womit eine besonders auf Vorwissen beruhende Rückkoppelung, ein Feedback zwischen Film und Zuschauer aktiviert wird. Der ‹naive› Zuschauer sieht nur eine Dimension der Handlung und ihres Verlaufs, während der gewitzte Zuschauer oder Fan alle möglichen Verweise mitgeliefert bekommt, dank derer er mit dem Film in Dialog treten kann. Die Internet-Foren oder die YouTube-Clips, die sich mit den schier endlosen Interpretationsmöglichkeiten zum Beispiel der Filme Tarantinos befassen, sind ein beredtes Zeugnis für die Dialogfähigkeit eines Kultfilms, eine Einladung zur Nachahmung und hermeneutischen ‹Arbeit›, die er entfesselt. Der «Mindgame-Film» als Filmvermittlung Als extremes Beispiel einer solchen Reflexivität, die nicht nur stilles Einvernehmen, sondern allgemeine Verunsicherung hervorbringt, habe ich das Genre oder die Tendenz des «Mindgame-Films» bezeichnet. Es handelt sich um Filme, die den Zuschauer in die Grundprinzipien ihrer Konstruktion mit einbeziehen und gleichzeitig die üblichen Grenzen zwischen subjektiver Einbildung und objektiver Wirklichkeit verwischen. Dabei werden die Kategorien Mainstream und Independent ebenso überschritten wie die zwischen asiatischem und europäischem Autorenkino. Solche Filme sprechen im Grunde epistemologische Probleme an, die sich vom Protagonisten auf den Zuschauer übertragen: Wie verhält sich Sehen zu Wissen? Wie wissen wir, was wir wissen? Und: Was genau wissen wir von dem, was im Gehirn des Anderen vorgeht? Protagonisten und Zuschauer von Mindgame-Filmen müssen sich gleichermaßen immer wieder fragen: Was oder wer bin ich, und was ist meine Realität? – bis hin zur Frage: In welcher Seins- oder Lebensform befinde ich mich? Im Idealfall können wir den Protagonisten solcher Filme dabei zusehen, wie sie nach und nach herausfinden, dass alles ganz anders ist, als sie bisher gedacht haben. Was Stanitzek 2006; ferner zu den phatischen und rückbezüglichen Aspekten des Filmanfangs vgl. Hartmann 2009, insbesondere 276ff.
242 Der Film vermittelt sich selbst
wir gemeinsam mit Filmen wie Fight Club (David Fincher, USA 1999), Memento (Christopher Nolan, USA 2000), Donny Darko (Richard Kelly, USA 2001), The Sixth Sense (M. Night Shyamalan, USA 1999) oder The Others (Alejandro Amenábar, F, I, SP, USA 2001) erfahren, ist das Gefühl, dass Realität auch all das sein könnte, was wir bisher nicht wahrgenommen haben, dass also Aktuelles und Virtuelles einander begleiten, nicht ausschließen. Dies wäre nach der klassischen und postklassischen eine dritte Ebene der Rückbezüglichkeit. In diesem Sinne ist Avatar schon von Anfang an als Mindgame-Film konzipiert, denn der Protagonist ist ja in einer komplexen Rückbezüglichkeit mit sich selbst im Dialog – er existiert in mehreren Daseinsformen und Lebenswelten zugleich, die sich aber nicht einfach spiegeln oder verdoppeln, sondern in einer gegenläufigen Rückkoppelungsschleife einander bedingen, wobei bewusst und unbewusst, lebendig oder tot, beweglich oder gelähmt als Zustände des Körpers und des Geistes dauernd gegeneinander ausgespielt werden. Allegorie als Rückbezüglichkeit Ich will mich noch kurz bei einer vierten Form der Rückbezüglichkeit des Hollywood-Studio-Kinos aufhalten. Seit einiger Zeit ist die Tendenz zu verzeichnen, in den Filmen selbst so etwas wie eine Allegorie ihres Entstehens mit zu transportieren, sodass manche Kommentatoren sie ‹kritisch› als politische Allegorien ihrer Zeit zu lesen versuchen. Ein Meister dieser Lesart ist Jim Hoberman von der New Yorker Village Voice, der besonders die Filme der 70er und 80er Jahre mit dem Tagesgeschehen in Verbindung bringt – so wie man früher von «demokratischen» und «republikanischen» Western gesprochen hat (High Noon gegen Rio Bravo). Hoberman hat sich Filme wie Jaws (Steven Spielberg, USA 1975) vorgenommen und nicht etwa – wie Stephen Heath oder Slavoj Žižek – den amerikanischen Imperialismus oder die Frauenfeindlichkeit als latente Botschaft diagnostiziert, sondern gezeigt, wie stark sich der Film als eine Allegorie auf «Watergate» einerseits und «Chappaquiddick» andererseits lesen lässt – die großen politischen Skandale der 70er Jahre. Für das Gegenwartskino hat nun der an der Yale University lehrende J.D. Connor eine neue Art der Selbstreferenz der Studio-Filme ausgemacht, die nicht mehr allegorisch auf das Zeitgeschehen eingehen, sondern ganz konkret die Situation der HollywoodStudios in ihrer Phase der Globalisierung allegorisch aufarbeiten. So liest er den Mel-Gibson-Film Braveheart (USA 1995) nicht nur als eine Allegorie des Mergers zwischen Universal Studios und Vivendi, sondern als eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Hollywood immer stärker von
Elsaesser: Filmvermittlung als Rückbezüglichkeit 243
seinen ausländischen Zuschauern abhängig ist und dafür auch ausländische Regisseure als Söldner in Dienst nimmt (vgl. Connor 2000). In Bezug auf Oliver Stones Alexander (USA 2004), der die Geschichte von Alexanders Feldzug in einer Rahmenhandlung erzählt, bemerkt Connor: These days any commercial filmmaker (and particularly one with a fondness for casts of thousands and lavish period detail) needs a certain amount of imperial hubris: that is, he needs to believe that audiences will flock to his films around the globe. Call it cultural imperialism or a superior distribution network, filmmakers with $200 million budgets need Hollywood‘s power, and it is not hard to convince them to pay obeisance to it. When Alexander yells about «everlasting glory», the hearts of studio marketing executives beat a little faster: everlasting glory equals more downstream revenue. No wonder Anthony Hopkins, as the old general Ptolemy, narrates «Alexander» from the great library at Alexandria: Library rights are where it‘s at, and they‘re certainly why Sony bought MGM this fall. (2004)
Damit spricht Connor einen Aspekt der neueren Filmvermittlung Hollywoods an, die auch bei Avatar zum Tragen kommt: Wie Alexander ein Kriegsfilm ist, der bewusst und direkt die imperialen Ambitionen der NeoCons um George W. Bush ironisiert und kritisiert, aber dafür auf die imperiale Infrastruktur des Hollywoodschen Vertriebssystems angewiesen ist, so trägt auch Camerons Avatar – auf recht vielschichtige Weise, wie noch zu zeigen ist – erkennbar Amerika-kritische Züge, verkörpert und praktiziert implizit aber gleichzeitig – ebenfalls auf vielschichtige Weise – genau das, was er in der Handlung explizit anprangert. Ich werde dies unter dem Begriff des ‹performativen Selbstwiderspruchs› im Folgenden noch genauer untersuchen. Vermittlung durch Platzhalter-Funktion des Protagonisten Schließlich ist eine weitere Art der Filmvermittlung oftmals konstitutiv für das Hollywoodkino – an die Avatar anknüpft und der er noch einen zusätzlichen Dreh gibt. Der männliche Held eines Hollywoodfilms ist oft ein Außenseiter oder jemand, der erst allmählich in die Handlungswelt mit einbezogen wird, der ihr zudem oft skeptisch gegenübersteht, nur zufällig Zeuge eines fatalen Vorfalls ist oder nur nach einigem Zögern und sogar wider Willen in die Machenschaften der anderen involviert wird. Dass es sich dabei meist um einen Stellvertreter des Zuschauers handelt, ist offensichtlich – selbst in einer Person wie Schindler in Schindler’s List (Steven Spielberg, USA 1993) kommt diese Strategie zur Anwendung. Der Dreh, den Avatar nun diesem – strukturell wie auch ideologisch – notwendi-
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gen Klischee gibt, ist, dass es sich um einen an den Rollstuhl gefesselten Protagonisten handelt, der wortwörtlich in eine andere Welt transportiert wird und dessen Telekinesis mit seiner Teleaction zusammenfällt: Er ist also nicht nur Zeuge, sondern vermittelt auch, fungiert im Plot sogar als Stellvertreter seines Bruders und handelt gleichzeitig im Auftrag, ist also passiv und aktiv, ja kann erst durch seine Passivität aktiv werden. Es ist nicht schwer, in diesem Protagonisten nicht nur den üblichen Avatar des Zuschauers zu erkennen, sondern gleichzeitig auch den sich selbst an den Sessel, die Couch oder vor den Monitor fesselnden Gamer. Die Allegorie ist die der 3D-Erfahrung an sich: Durch die Plastizität der Bilder ins Reich einer Als-ob-Realität transportiert, kann der Zuschauer/Teilnehmer/Mitspieler sich als Action-Held und Retter aufführen und über die Schönheit von Pandora seine eigene Entfremdung durch Machtlosigkeit kompensatorisch genießen: eine narzisstische Figur par excellence. Der Titel «Avatar» hat somit an sich schon eine mehrfach rückbezügliche und vermittelnde Funktion, die noch dadurch unterstrichen wird, dass die Na’vis – also die Navigators – auf ihrem Planeten ebenso über das Avatar-Prinzip der Übertragung, der Vermittlung und des Delegierens mit ihren Transportmitteln und Flugtieren kommunizieren und interagieren. Somit ist die Rückbezüglichkeit auch als mise-en-abyme zu verstehen, und zum Feedback-Loop kommt doch wieder eine Spiegelfunktion hinzu – allerdings eine, die sich von der allgemein als modernistisch bezeichneten und in der Hochkultur angesiedelten (Auto-)Reflexivität oder Selbstreferenz unterscheidet. Diese bezieht sich meist auf das Kurzschließen der Transparenz eines Werkes hin auf die Wirklichkeit, die es abzubilden vorgibt, indem immer wieder auf das Gemachte oder Mediumspezifische des Werks verwiesen wird: Ein Gemälde ist zunächst einmal eine besondere Anordnung von Leinwand, Farbe und Pinselstrich, und ein Nouveau Roman handelt meist von der Unmöglichkeit, Geschichten zu erzählen. Die Dreidimensionalität der Illusion wird zurückgeführt in den Selbstbezug des eingesetzten Materials, das den Zuschauer oder Leser auf Distanz hält. Von der Filmvermittlung zum «Zugang für Alle» Die Spiegelfunktion oder mise-en-abyme eines Hollywoodfilms zielt im Gegenzug darauf, möglichst vielen Zuschauern, die sich in Nationalität, Sprache, Beruf, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Religionszugehörigkeit, Kultur und politischer Überzeugung unterscheiden, einen Zugang zum Film zu eröffnen, eine Möglichkeit, sich und ihre Belange wiederzuerkennen. Ich nenne das access for all (Zugang für alle) und zeige, wie auch Blockbuster ihre Bilder, Stoffe, Texte und Töne in einer Weise ‹komponieren›, die
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offen ist, in die man also jederzeit einsteigen kann, ohne den Zusammenhang zu verlieren. Während aber das klassische Hollywoodkino ‹exzessiv offensichtlich› war, muss es nun ‹exzessiv mysteriös oder vieldeutig› sein, und dies auf eine Art, die den Zuschauern die Spielregeln beibringt, wie ein Hollywoodfilm verstanden werden will (vgl. dazu Elsaesser 2009, 6777). Diesen ‹Einstieg für alle› hat Avatar auf erstaunliche Weise geschafft. Ich will nur einige Beispiele der Rezeption herausgreifen, um deren Unberechenbarkeit und Vielseitigkeit anzudeuten, ehe ich mich mit den Modalitäten, der Logik und etwaigen philosophischen Hintergründen dieser Strategie der Vermittlung beschäftige, insbesondere im Hinblick auf die Technik des digitalen 3D-Bildes. Eine der für mich überraschendsten Einstiegsmöglichkeiten, die der Film eröffnete, war der Zugang, den Biologen fanden. So schrieb die Naturwissenschaftlerin Carol Yoon in der New York Times vom 18. Januar 2010: When watching a Hollywood movie that has robed itself in the themes and paraphernalia of science, a scientist expects to feel anything from annoyance to infuriation at facts misconstrued or processes misrepresented. What a scientist does not expect is to enter into a state of ecstatic wonderment, to have the urge to leap up and shout: ‹Yes! That’s exactly what it’s like!› So it is time for all the biologists who have not yet done so to shut their laptops and run from their laboratories directly to the movie theaters, put on 3-D glasses and watch the film Avatar. In fact, anyone who loves biology, or better yet, anyone who hates biology – and certainly everyone who has ever sneered at a tree-hugger – should do the same. Because the director James Cameron’s otherworldly tale of romance and battle, aliens and armadas, has somehow managed to do what no other film has done. It has recreated what is the heart of biology: the naked, heart-stopping wonder of really seeing the living world.
Dem zur Seite (und doch wieder auf einer ganz anderen Bezugsebene) stehen die zahllosen YouTube-Clips, in denen Mädchen – und auch Jungen – sich als Na’vi verkleiden und Tipps geben, wie man sich schnell (und preisgünstig) in einen Na’vi – nun mehr ‹Native› als Navigator – verwandeln kann. Ferner ging durch alle Zeitungen, wie Avatar in China aufgenommen, umfunktioniert und schließlich fast verboten wurde, weil er mancherorts als Protest gegen die Zwangsumsiedlung der Landbevölkerung interpretiert wurde, während die Palästinenser ebenfalls politische Parallelen sahen und sich mit den blauen Wesen identifizierten, um im Grenzdorf Bilin bei Ramallah gegen die von der israelischen Armee errichteten Sicherheitsbarrieren zu protestieren. Die Farbe Blau ist so zum neuen
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‹Grün› (der Umweltschützer) und gleichzeitig zum neuen ‹Rot› (des politischen Protests) geworden. Damit ist noch nichts gesagt über die zahlreichen Deutungen von Kulturtheoretikern und politischen Kommentatoren, die den Film bald aus links-radikaler (Slavoj Žižek), bald aus konservativer Perspektive (David Brooks) interpretieren und dabei zu ähnlichen Schlüssen kommen (unter dem Deckmantel des Anti-Kapitalismus sei der Film rassistisch), während filmdeutende Anhänger von Deleuze in fast ebenso verzückte Lobeshymnen einstimmen wie die Biologin in der New York Times, weil sie in Avatar alle die von Deleuze und Guattari in Mille Plateaux verzeichneten Formen des becoming wiederfinden: becoming-woman, becoming-animal, das Spinozistische Weltbild einer multiplen Gegenseitigkeit. Derweil einige Deleuzianer «himmelhoch jauchzend» beim Anblick des Films und seiner entgrenzenden, deterritorialisierenden Sinnesfülle sind, gibt es wiederum andere, die nach dem Film «zu Tode betrübt» nach Hause schleichen, denn das Leben ist ihnen öde und schal geworden: Der sogenannte Avatar Blues hat sie aller Lebenslust im Diesseits beraubt: Ever since I went to see Avatar I have been depressed. Watching the wonderful world of Pandora and all the Na’vi made me want to be one of them. I can’t stop thinking about all the things that happened in the film and all of the tears and shivers I got from it. I even contemplate suicide thinking that if I do it I will be rebirthed in a world similar to Pandora and the everything is the same as in Avatar. – Mike.4
Ohne Frage: Access for all ist ein vielschichtiger Prozess der Vermittlung und Aneignung, die im Film selbst eine genau geplante Ambivalenz und Mehrdeutigkeit voraussetzt und einen Regisseur wie Cameron dazu zwingt, seine Story aus bekannten Märchen- und Mythen-Elementen zusammenzusetzen, die dann durchaus synthetisch oder synkretisch miteinander verbunden werden. Zugleich aber muss diese Story in ihrer ideologischen Ausrichtung genau kalibriert sein, was zum Beispiel den Grad des Anti-Amerikanismus angeht, den er sich erlaubt, die Art wie ökologische Motive eingeflochten sind und wie – innerhalb der von Brooks als «politically offensive» und von Žižek als «brutally racist» bezeichneten Matrix des ‹weißen Messias› – eben auch die auf ihre Rechte pochenden Kämpfe der indigenous peoples zu Wort kommen: ob nun in China oder Australien, im Mittleren Osten oder in Südamerika.5 4 5
CNN Online, 11. Januar 2010 [http://articles.cnn.com/2010-01-11/entertainment/ avatar.movie.blues_1_pandora-depressed-posts?_s=PM:SHOWBIZ]. Evo Morales, der politisch links stehende Präsident Boliviens, hat Avatar als «profound show of resistance to capitalism and the struggle for the defense of nature» bezeichnet
Elsaesser: Filmvermittlung als Rückbezüglichkeit 247
Damit ist ein weites Feld umrissen, nicht nur was die diversen filmischen Quellen und Versatzstücke angeht, die in Avatar eine neue Synthese erfahren, sondern auch das Prinzip der Hybridisierung an sich, als ein für unser 21. Jahrhundert auf so vielen Gebieten typisches Amalgam von Mensch und Maschine, Mensch und Tier, Mann und Frau, Natur und Technologie, Gift und Gegengift, Religion und Zynismus, Eros und Thymos, Opferstatus und Heldentum. AVATAR und D3D: Revolution oder Reaktion Was nun macht den Film Avatar – über diese Symptomatologie seiner hybriden Formen und multiplen Einstiegsmöglichkeiten hinaus – so bemerkenswert? Es sind vor allem zwei auf den ersten Blick ‹technische› Aspekte, die aber, wie zu zeigen ist, weitreichende Konsequenzen haben. Erstens die neue Technik der Animation und zweitens natürlich das dreidimensionale bewegte Bild. Was die Animation angeht, so sind es nicht nur die Menschen, Tiere, Vögel, Urtiere und die Menschtier-ähnlichen Na’vi, denen der technische Sprung von motion capture zu performance capture neues Leben und affektiven Ausdruck gibt, sondern vor allem auch die Flora: die Pflanzen, Bäume, Sträucher, Gräser, kurz die Makro- und Mikro-Organismen, die eine ganz neuartige Belebung und Visualisierung erfahren, weshalb wohl auch die Biologin in solche Aufregung geriet. Der Begriff ‹Animation› gewinnt wieder seinen ursprünglichen Sinn der verlebendigten Materie, ein Lebensatem wird ihr eingehaucht, der an die ersten Tage der Schöpfung denken lässt. Neben dieser neuen Dimension des Ausdrucks, des Lebendigen und der Bewegung durch motion capture und performance capture überrascht und überzeugt Avatar auch wegen eines subtilen, aber wichtigen Registerwechsels in der den Bildern zugrunde liegenden Erfahrung, nämlich die metaphorische und auch kinetische Verschiebung von Meer und Tiefsee, Körper- und Bewegungserfahrung hin zu Regenwald und Weltall. Das von Schwerkraft befreite All, in dem natürlich die Sprünge, Schwünge und Flüge nicht möglich wären (ebenso wenig wie im Dickicht des tropischen Regenwalds), verbindet sich mit dem Schwebezustand der Meerestiefe, in dem Schwerkraft eher suspendiert als aufgehoben ist und deshalb den dort behausten Kreaturen die Freiheit der Bewegung in alle Richtungen und die Dynamik und Geschwindigkeit der Fortbewegung gibt, die Avatar so gut zu nutzen weiß. [http://www.huffingtonpost.com/2010/01/12/evo-morales-praises-avata_n_420663. html (Zugriff am 25.10.2010)].
248 Der Film vermittelt sich selbst
Cameron und Cousteau James Cameron hat sich in einem Vortrag der TED 2010 zu seinem jugendlichen «Doodling» bekannt und gleichzeitig bestätigt, dass ihn die Tiefsee-Forschung eines Jacques Cousteau letztlich mehr angeregt hat als die Mondlandung und andere Weltraum-Phantasien. Cameron behauptet sogar, er habe Titanic nur deshalb gemacht, weil er damit ein Budget zur Verfügung hatte, das es ihm erlaubte, sich einen sehnlichen Knabenwunsch zu erfüllen, nämlich das echte Wrack der Titanic auf dem Boden des Atlantischen Ozeans zu inspizieren. Diese Logik der Asymmetrie, bei der Zweck und Mittel, Ursache und Ziel vertauscht zu sein scheinen und der zufolge der bis dahin größte KinoHit eigentlich nur der Vorwand und Umweg zu einem Fernseh-Feature für National Geographic war, hört sich an wie ein Gag oder ein schlechter Witz, ist aber typischer für das heutige Filmgeschäft, als man annehmen sollte. Ehe darauf näher einzugehen ist, will ich erst den zweiten technischen Aspekt umreißen, der Avatar zu einem besonderen Ereignis macht. Das dreidimensionale Sehen hat, wie ich an anderer Stelle schon zu zeigen versuchte (vgl. Elsaesser 2010), eine lange und im 19. Jahrhundert besonders wichtige Geschichte, aus der sich mehrere Genealogien des Kinos ableiten lassen, insbesondere auch solche, die sich nicht ausschließlich an der Zentralperspektive des Tafelbilds ausrichten, sich also nicht an das feste Rechteck als Rahmen und die zweidimensionale Oberfläche als Projektion eines dreidimensionalen Illusions-Fensters auf die Wirklichkeit halten. Was derzeit als große technische Neuerung angepriesen wird, hat sich indes schon vor mehr als einem halben Jahrhundert und dann wieder bei einem zweiten Versuch in den 1970er Jahren als Fehlschlag und Fehlinvestition erwiesen. Allerdings werden die 3D-Effekte im gegenwärtigen Kino so stark in die Narration integriert, dass sie als solche kaum noch auffallen und zur eigentlichen default value, zur stillschweigenden Norm des Sehens werden. Wenn also Jeffrey Katzenberg, einer der drei Apostel der 3D-Renaissance (neben Spielberg und Cameron) von der «dritten Revolution» (nach Ton und Farbe) des Kinos spricht und wenn es sich dabei nach Meinung vieler Kommentatoren eher um eine panikartige Reaktion der Filmindustrie auf die Konkurrenz des Internets und das Problem der Piraterie handelt, dann wäre es, der Logik Katzenbergs folgend, besser, wenn man von einer zweiten Revolution des Bildes nach dem Vorbild des Tons sprechen würde. Denn nun wird das Bild endlich dahin gebracht wird, wo der Kino-Ton mit Dolby und Mehrkanal-Stereo schon vor einem Vierteljahrhundert angekommen war. Die (Wieder)Einführung von 3D wäre demnach der Akt des «taking the visuals out of their vinyl phase» (Katzenberg).
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In einem entscheidenden Punkt aber schließen die zeitgenössischen 3D-Verfahren an eine wichtige Komponente der Früh- und Vorgeschichten des 3D-Bildes und der damit verbundenen, mit mechanischen Mitteln generierten Raumerfahrung an, die bis in die frühe Neuzeit (bis ins 16. und 17. Jahrhundert) zurückgehen, sich aber vielleicht erst im äußerst populären stereoskopischen Sehen ab Mitte des 19. Jahrhunderts treffen, nämlich in der Verschränkung von Wissenschaft und Unterhaltung – ob nun in der Form des edutainment oder in der militärischen, medizinischen und überwachungstechnischen Nutzung von 3D-Bildern. Es darf aus historischer Sicht nicht vergessen werden, dass sich im 19. Jahrhundert technische Errungenschaften (und deren praktische Nutzung), Unterhaltung (als Spielzeug) und Bildung (das Erbauliche) nicht als getrennte Lebensbereiche entwickelten, sondern im Selbstverständnis des aufsteigenden Bürgertums eine erstrebenswerte Einheit bildeten. Eine meiner Hauptthesen in Bezug auf die Veränderung dessen, was man bislang als ‹Rezeption› bezeichnet hat, ist denn auch, dass sich, nun im Medium des digitalen Bildes, über die (Wieder-)Einführung der dreidimensionalen Seh- und Darstellungsformen eine neue Konvergenz zwischen Technologie, Unterhaltung und Bildung anbahnt. Es ist daher mehr als ein Zufall, wenn James Cameron vor der TED-Gemeinde spricht, da TED ja für Technology, Entertainment and Design steht. Ich würde allerdings diese tendenzielle Konvergenz gleichzeitig mit den Begriffen der Theorie, der Industrie und der Avantgarde verbinden und sie nicht als harmonische Konvergenz, sondern als ein Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit oder, stärker noch: der antagonistischen Gegenseitigkeit oder Heteronomie verstehen. Einerseits ergibt sich daraus die immer wieder zu beobachtende Asymmetrie des Kräfteverhältnisses der verschiedenen Bereiche zueinander (die im Begriff der Konvergenz verloren geht); andererseits trägt antagonistic mutuality dem Grad der Widersprüchlichkeit Rechnung, die dem gesamten Konzept von Avatar zugrunde liegt – sowohl als Blockbuster und Medienereignis als auch in seiner textuell-ideologischen Form – und die ich oben mit dem Begriff des ‹performativen Selbstwiderspruchs› zu umreißen versucht habe. In diesem komplexen Spannungsfeld von Spitzentechnologie, Vergnügungsindustrie und neuen künstlerischen Möglichkeiten der Seh- und Welterfahrung, wie es bei Cameron ausformuliert wird, läge die Aufgabe einer Filmvermittlung also auch in der Herausforderung, die Theorie – oder vielleicht besser: die Philosophie – einer solchen Praxis vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Medienwandels zu beschreiben, um damit nicht nur die vermeintliche Kluft zwischen Kunst und Kommerz, fotografischem Film und digitalem Kino neu zu deuten, sondern auch eine Art
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Logik oder Regelhaftigkeit der inneren Dynamik dieser Veränderungen, Verwerfungen und Verschiebungen herauszukristallisieren. Ich will dies anhand folgender Hypothesen kurz versuchen: Die Asymmetrie des Kräfteverhältnisses scheint mir am ehesten mithilfe der von Jacques Derrida über Platon eingeführten Logik des Supplements beschreibbar zu sein. So folgt meiner Meinung nach die gelungene Einführung einer Innovation für den Massenkonsum fast immer dieser Logik des Supplements, wobei zum Beispiel ein singuläres Ereignis – sei es Königshochzeit oder Fußballweltmeisterschaft – eine unverhältnismäßig große (d.h. asymmetrische) Rolle als tipping point spielt, das Supplement also dem Ganzen nicht nur etwas hinzufügt, sondern es insgesamt neu gestaltet. In diesem Sinn waren das Jahr 2009 und alle anderen 3D-Filme nur eine Art Generalprobe für das Großereignis Avatar, dessen Aufgabe es war, in diesem System (oder Feld der Interessenskonflikte) der diversen Akteure in Film-, Fernseh- und Medienindustrie die Rolle des Supplements oder tipping point zu spielen, wie denn auch die große Leinwand kommerziell gesehen das Supplement der anderen Verwertungsformen der Ware ‹Kinofilm› geworden ist, allerdings ein unabdingbares. Der Widerspruch Kino/Internet oder der Widerspruch 3D fürs Kino/3D für den Laptop ist also ein Scheinwiderspruch, weil sich dahinter die kooperativ-dynamische, wenn auch asymmetrisch-antagonistische Logik des Supplements verbirgt. Gemäß dieser Logik ist es die Beigabe, das Anhängsel, das dem, dem es angehängt ist, eine neue Definition aufprägt, weil es den gesamten Bezugsrahmen verändert. 3D im Kino ist so gesehen mehr als Kino, genau deshalb, weil es heute der Signifikant schlechthin für ‹Kino› ist. Eine andere Möglichkeit wäre, dieses Verhältnis des Supplements in den Begriffen der evolutionären Biologie auszudrücken und vom wechselseitigen, aber prekären Abhängigkeitsverhältnis zwischen Parasit und Wirt zu sprechen. Angewandt auf die Filmindustrie und ihr Verhältnis zu Fernsehen und Internet würde sich herausstellen, dass die in den Erklärungen immer wieder angenommene Konkurrenzsituation (aus der heraus ja die Filmindustrie den 3D-Werbefeldzug angeblich unternommen hat) in Wahrheit eher dem Parasit/Wirt-Verhältnis entspricht, wobei es – je nach Gelegenheit und Umständen – sehr wohl zu einem Rollentausch kommen kann. Um dies aus den verschiedenen Konfliktsituationen von Avatar zu illustrieren: Stets handelt es sich dabei um Parasit/Wirt-Beziehungen, nicht nur zwischen der Erde und Pandora, sondern auch zwischen dem bösen Großkonzern und den guten Wissenschaftlern. Sie stehen einerseits in einer Beziehung antagonistischer Gegenseitigkeit, weil sie in dieser Mission zusammenarbeiten sollen; andererseits ist der sich entwickelnde Antagonismus zwischen der Biologin Grace Augustine (Sigourney Weaver) und
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dem RDA-Beauftragten Selfridge (Giovanni Ribisi) ein Pseudo-Konflikt, denn beide Parteien sind, wie noch zu zeigen ist, gleichermaßen der Logik der Ausbeutung (von fremdem Land) und der Aneignung (von fremdem Wissen) verpflichtet. Schließlich wäre das hier angedeutete Verhältnis auch einer systemtheoretischen Analyse zugänglich, vor allem über das Prinzip des bootstrapping als weit verbreiteter Metapher für Vorgänge, die sich ohne externe Einwirkung und Hilfe selbst generieren. Die Metapher entstammt der Geschichte des Baron von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat; im Englischen spricht man jedoch von den Stiefellaschen als Instrument der Rettung. Im Zusammenhang mit Feedback und Autopoiesis kommt bootstrapping auch im Computerjargon vor, wenn es sich darum handelt, sich von einem einfachen System auf ein komplexeres hoch zu «booten» («the technique of starting with existing resources to create something more complex and effective» – Wikipedia). Allgemeiner könnte man sagen, dass bootstrapping auch eine rückgekoppelte Form der Reflexivität ist. Auf Avatar bezogen heißt das, dass mithilfe der Simulationstechnologie eine virtuelle Welt geschaffen wird, die einerseits alle Eigenschaften der realen Welt hat, die aber so konstruiert ist, dass sie die Mängel der realen Welt sowohl kompensiert wie komplementiert. Dabei wird die virtuelle Welt (d.h. der Avatar) so real und konsistent gezeigt, dass sie ein Element der realen Welt, nämlich den kriegsgeschädigten Ex-Marine Sully, transportieren, übersetzen und in der virtuellen Welt aufgehen lassen kann. Ein komplexes System generiert ein noch komplexeres System, das einen Teil des komplexen Systems in sich aufnimmt und damit den Handlungsvektor und das Kräfteverhältnis umkehrt, wobei die Kreatur quasi ihren Schöpfer rettet (im Gegensatz zum Zauberlehrling oder Frankenstein, der sich an seinem Schöpfer rächt). Dieses bootstrapping-Prinzip ist umgekehrt verwandt mit den von Daniel Dennett angeprangerten skyhooks, den Haken am Himmel, wobei ein komplexer biologischer Vorgang oder ein Lebewesen sich nicht notwendigerweise aus einer einfacheren Lebensform entwickelt (wie Stephen Jay Gould argumentiert, wenn er von «heavenly spandrels» spricht), sondern sich mithilfe eines am Himmel befestigten Hakens hochgezogen hat. Die hängenden Felsen von Pandora wären ein starkes Bild solcher skyhooks, und ebenso die flexiblen Verlängerungen, mit denen sich die Na’vi dank ihrer Nervenstränge verbinden, um per Gedankenübertragung ihre Drachentiere zu steuern, so etwas wie poetische Bilder über das Zustandekommen einer On-line-Community sind (oder auch nur eine Metapher für ‹Stromkabel›). Diese Stränge sind auch eine weitere mise-en-abyme des Avatar-Prinzips der Remote Control, wobei das Virtuelle dieser Kontrolle wieder in physischen Kontakt rückübersetzt und damit
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erotisch aufgeladen wird: ein klares Zeichen dafür, inwieweit die Gesetze des unverdorben natürlichen Lebens auf Pandora die idealisierte Logik des Computerspiels verkörpern und dem Selbstbild des Gamers entsprechen, wenn er sich bei einem Social Network wie Facebook oder bei Second Life dazuschaltet. Es ist also nicht schwer, Avatar des falschen Bewusstseins oder der ideologischen Mystifikation zu bezichtigen. Man übersieht dabei aber allzu leicht, dass der Film und Camerons Projekt auf fast allen Ebenen dieses falsche Bewusstsein oder den ideologischen Widerspruch geradezu systematisiert und durchdekliniert. Um dieser Logik der negativen Rückbezüglichkeit etwas näher zu kommen, scheint mir sowohl ein Rückgriff auf Derridas Begriff des «Pharmakon» wie auf Karl Otto Apels Begriff des «performativen Selbstwiderspruchs» sinnvoll.6 Die Technologie ist in Avatar das Pharmakon schlechthin: Die Natur kann nur durch die Technologie gerettet werden, die sie bedroht. Die ‹schlechte› Technologie wird zur ‹guten› durch richtige Dosierung und den richtigen Einsatz. Sully – und mit ihm alle Wissenschaftler auf Pandora –, der die ‹schlechte› Technologie zur ‹guten› werden lässt, ist also das Supplement, das weniger Pandora als vielmehr das schlechte System durch seine guten Intentionen retten soll. Gleichzeitig ähnelt der Film selbst dabei dem Kreter, der behauptet, dass alle Kreter lügen, und somit zwar die Wahrheit sagt, sich selbst aber widerspricht – weshalb seine Glaubwürdigkeit auf einem performativen Selbstwiderspruch beruht. Dass die Technologie umschlägt in etwas anderes, in ihr Anderes, ist schon angelegt in der Bezeichnung des Objekts aller gemeinsamen Anstrengungen von Wissenschaftlern, Konzernvertretern und Militärs auf Pandora: Sie suchen alle das «Unobtainium», das, was sich per definitionem nicht als solches finden lässt. Die Militärs suchen ein Metall dieses Namens, die Wissenschaftler sind auf der Suche nach Wissen, nach besserem Essen, besserer Medizin, besserer Spiritualität, aber beide sind, wie gesagt, gänzlich einer Logik der Ausbeutung und der Aneignung verpflichtet. Sie betreiben Bergbau im buchstäblichen und im übertragenen Sinn: Ob sie nun Rohstoffe abbauen oder sich durch «Datamining» von Flora, Fauna, Kultur, Religion und Bewusstsein der Na’vi bereichern. Diese gemeinsame Logik von Militär, Wissenschaft und Unterhaltung trifft den Kern mehr als die Klage, dass der Film sich einer Videogame-Ästhetik verpflichte oder dass er zutiefst «rassistisch» sei. 6
«Die enge Definition wäre die, dass ich mich in einem performativen Selbstwiderspruch genau dann befinde, wenn ich etwas zu tun behaupte (bzw. nicht zu tun behaupte), was ich mit der Behauptung gerade nicht tue (bzw. tue)» (Steinhoff 1993, 293).
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Die Suche nach dem Unobtainium, die Erforschung natürlicher Ressourcen, ist aufs Intimste verbunden mit der 3D-Technologie in ihren Verwendungen außerhalb der Unterhaltungsindustrie. Die schwerfälligen Waffen, mit denen das Militär die Na’vi zu bezwingen sucht, verdecken die Tatsache, dass es ein viel erfolgversprechenderer Ansatz gewesen wäre, mit diesen schönen Bildern und guten Gefühlen die Bewohner von Pandora dazu zu bewegen, ihre geheimen Schätze und ihren Lebensbaum preiszugeben – wie es ja der Film schafft, bei Evo Morales, bei den chinesischen Bauern und bei den Palästinensern als «anti-imperialistisch» und «umweltfreundlich» zu gelten, dank einer Technologie des 3D-Bildes, die heute vor allem für topografische Vermessungen von Bodenschätzen und für ferngesteuerte Waffen ökonomische Dringlichkeit und strategische Bedeutung hat. Eine meiner weiterführenden Hypothesen wäre somit, dass das Problem des ‹Zugangs für alle› und die Bedingungen der ‹Filmvermittlung durch Rückkoppelung und Rückbezüglichkeit› (d.h. die im Film selbst mitgelieferte Gebrauchsanleitung) sich für Hollywood verschärft haben, und zwar dahingehend, dass eines der effektivsten skyhooks des modernen Hollywoodfilms nicht die ideologisch ausgewogene Botschaft ist, irgend ein middle-of-the-road-Liberalismus, sondern der performative Selbstwiderspruch. Dieser wiederum mag erklären, warum so intelligente Menschen wie Jeffrey Katzenberg manchmal auf den ersten Blick widersprüchliche Äußerungen wie vom 3D als der dritten Revolution des Kinos (nach Ton und nach Farbe) von sich geben können oder warum große Teile der Debatte über die Einführung von 3D und über andere Aspekte des Filmgeschäfts so oft an der Sache vorbeizugehen scheinen. Denn das 3D-Bild setzt die Logik des Selbstwiderspruchs auf der Ebene von Bildästhetik und Wahrnehmung ins Werk: Wenn 3D zu einem Industriestandard wird, der vor allem bei Ingenieuren, Architekten, Ärzten und Militärstrategen zur Anwendung kommt, sollten wir nicht länger von einem Special Effect sprechen, sondern von einer neuen Norm des technischen Sehens und der Wahrnehmung, also von einem Prozess der Normierung und Naturalisierung, der weit über die Ästhetik des Kinos hinausgeht und doch mit der ‹Filmvermittlung› in ihrer Reflexivität und Re-Medialität zu tun hat, allerdings in Form einer Rückbezüglichkeit, deren Performanz in ihrem Selbstwiderspruch liegt. Das Kino wäre somit der Ort, an dem ästhetische Special Effects zur gesellschaftlich notwendigen Norm werden, wobei unser Sehvergnügen und unsere Schaulust der Akzeptanz solcher Normen vorarbeiten. Mein letzter Punkt betrifft also das Verhältnis zwischen Film- und Medienindustrie, Zivilgesellschaft und Militär. Sie sind heute so sehr miteinander vernetzt, dass man auch hier von einer neuen Norm sprechen kann,
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nämlich der des Überwachungsparadigmas. Es ist in historisch weitverzweigten, in sich widersprüchlichen Prozessen damit befasst, das «einäugige, auf ein punktuelles Ziel gerichtete Sehen» abzulösen, welches das westliches Denken und Handeln in den letzten 500 Jahren bestimmt und zu so unterschiedlichen Neuerungen geführt hat wie Tafelmalerei, kolonisierender Seefahrt und Cartesianischer Philosophie. Ebenso ist die Idee, dass Risiken, Chancen und Handlungsoptionen immer in die Zukunft zu projizieren sind der visuellen Raumperspektive geschuldet. Simulatoren, Test-Praktiken, zivile Einsätze, humanitäre Aktionen und andere paramilitärische Techniken sind Teil der neuen Anstrengung, 3D als Standardwahrnehmung einzuführen. Überwachung – das umfasst einen Katalog von Bewegungen und Verhaltensweisen, die allesamt etwas mit der Steuerung und Beobachtung laufender Prozesse zu tun haben und schließlich auch das delegieren oder outsourcen, was wir einmal Glaube, Innerlichkeit, individuelles Bewusstsein und persönliche Verantwortlichkeit genannt haben – so etwas wie die Ethik der Na’vi in uns. Unter diesen Vorzeichen erscheint der performative Selbstwiderspruch nicht nur als der zynisch-kygnische Beweis, dass «alle Kreter lügen», sondern eben auch als ein letztes Flackern menschlicher Fehlbarkeit und ‹Freiheit› und somit eher ein Hoffnungszeichen am Himmel der hängenden Felsen.
Literatur: Böhnke, Alexander/Hüser, Rembert/Stanitzek, Georg (Hg.) (2006) Das Buch zum Vorspann. The Title is a Shot. Berlin: Vorwerk 8. Connor, J.D. (2004) «The Anxious Epic». In: The Boston Globe v. 28. November [http://www.boston.com/news/globe/ideas/articles/2004/11/28/the_anxious_epic?pg=full (Zugriff am 25.Oktober 2010)]. – (2000) «The Projections: Allegories of Industrial Crisis in Neoclassical Hollywood: Anti-Imperialism and Anti-Oxidants – Braveheart’s Body Politics». In: Representations 71; S. 48–76. Elsaesser, Thomas (2009) Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino. Berlin: Bertz + Fischer. – (2001) «Tiefe des Raums, Angriff der Dinge». In: EPD Film 1,2010; S. 22–27. Hartmann, Britta (2009) Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren. Jakobson, Roman (1960) Style in Language. New York: Wiley. Steinhoff, Uwe (1993) «Wahre performative Selbstwidersprüche». In: Zeitschrift für philosophische Forschung 47,2.
Winfried Pauleit
Medienwissenschaft und Bildung Film als Schauplatz der Vermittlung am Beispiel von THE CONVERSATION (Francis Ford Coppola, USA 1974)
Medienwissenschaft wird geschrieben und gelehrt – heute meist computerbasiert. Die Vielzahl der aktuellen Publikationen zur Medienwissenschaft und ihren Teilgebieten, also Mediengeschichte, Medientheorie und Medienanalyse, zeugt von einem prosperierenden Wissenschaftszweig, der seit einigen Jahren mit wachsendem Erfolg die Medienkultur als Gegenstandsfeld absteckt.1 Eine der zentralen Stoßrichtungen dieses Wissenschaftsfeldes ist die Fokussierung auf die grundlegende mediale – was heute in der Regel heißt: technisch-mediale – Verfasstheit von (kulturellen) Phänomenen. Leitend ist dabei die Erkenntnis, dass diese Bereiche nicht allein mit den Methoden der Philologie bearbeitet werden können, aus denen sich die Medienwissenschaft an vielen Standorten entwickelt hat. Mit einem elaborierten wissenschaftlichen Begriffsapparat, einer breiten Palette von Methoden und ihrer Organisation als wissenschaftliche Disziplin hat es die Medienwissenschaft bereits zu einiger Akzeptanz gebracht. Ungeachtet ihrer Neuheit und des oft nach fakultätsübergreifenden Ansätzen verlangenden Zuschnitts ihrer Gegenstände generieren und vermitteln sich ihre Erkenntnisse gleichwohl vor allem in der klassischen Form nicht nur des wissenschaftlichen Textes, sondern insbesondere des Buches. Teils ist dies Ausdruck einer letztlich konservativen Strategie, um als gleichrangige Disziplin gegenüber den etablierten anerkannt zu werden. Er ist aber auch ein Symptom für den Ausschluss oder die Nichtbeachtung der Bereiche Bildung und Vermittlung. Denn der Zusammenhang von Medienkultur und Bildung wurde in der Regel nicht der Medienwissenschaft, sondern der Medienpädagogik als Spezialdisziplin der Allgemeinen Pädagogik zugeschlagen.2 Dass sich die Medienwissenschaft inzwischen 1 2
Beispielhaft seien genannt: Hickethier 2003; Faulstich 2002. Eine systematische Gliederung des wissenschaftlichen Feldes unter Ausschluss der Bildung findet sich in Hickethier 2003; Faulstich 2002. Für eine Zuordnung der Medienpädagogik zur Allgemeinen Pädagogik vgl. z.B. Schanze 2002. Im Kursbuch Medienkultur (Pias/Vogl/Engell/Fahle/Neitzel 1999) findet sich zwar ein Kapitel «Formationen
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für den Brückenschlag zur Bildung zu interessieren beginnt, ist also ein aktuelles Phänomen und hat vielschichtige Gründe.3 Es beruht nicht zuletzt auf der Einsicht, dass die Bereiche ‹Bildung› und ‹Vermittlung› elementarer Bestandteil jedes Wissenschaftsfeldes sind. Und dass die Veröffentlichung als Text nur eine mögliche Form darstellt, dieses Anliegen zu artikulieren. So haben sich – zunächst ausgehend von Einzelinitiativen – in den letzten Jahren erste Konferenzen und Publikationen mit Fragen der Bildung und Vermittlung im Rahmen der Medienwissenschaft auseinandergesetzt.4 Aber auch diese Initiativen widmen sich nur selten den Potenzialen eines medialen Denkens der Medienwissenschaft, das aus einer anderen Verfasstheit der wissenschaftlichen Form hervorgehen könnte. Darin, diese Potenziale zu aktivieren, liegt, wie ich im Folgenden zeigen möchte, der Auftrag einer ‹Medienbildung›, die sich selbst als mediales Geschehen begreift. Zugespitzt könnte man sagen, dass die Medienwissenschaft derzeit vor der Entscheidung steht, ob sie sich – wie andere Wissenschaften – einen gesonderten Bereich der Didaktik zuordnen will, um das von ihr gewonnene Wissen nach den üblichen Verfahren der Vermittlung von Schulwissen operationalisierbar zu machen, oder aber ob sie die eigenen, disziplinspezifischen Erkenntnismodi als Herausforderung begreifen und als Frage der Bildung – und als Frage, welche Bildung auf dem Hintergrund einer Medienkultur denkbar ist, – ernst nehmen will. Nun bildet der vorliegende Aufsatz insofern keine Ausnahme von der Textbasiertheit der Medienwissenschaft, als er ein geschriebener Text bleibt. Allerdings unternimmt er zumindest den Versuch, diesen Umstand zu thematisieren und eine andere mediale Form in Anschlag zu bringen, die medienwissenschaftliche Erkenntnisse freilegt und kommuniziert, auch wenn sie sich dabei nicht an die akademischen Gepflogenheiten hält: nämlich den Film selbst.5
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des Wissens», allerdings ohne explizite Referenz auf Bildung. Dies liegt vor allem an der komplexen historischen Entwicklung der Medienwissenschaft und der langjährigen Abgrenzung von der Pädagogik, die auf ähnliche Weise den Anspruch einer fakultätsübergreifenden Wissenschaft beansprucht (vgl. Hickethier 2001), aber auch an der langjährigen Ausgrenzung aus dem schulischen Fächerkanon sowie den unterschiedlichen Dynamiken in den kulturellen Feldern. Hierzu zählen nicht zuletzt die aktuell verstärkten Anstrengungen der Bildungsarbeit im Bereich von Kino und Filmkultur. Als zentrales Beispiel sei die Konferenz in Bremen «Vom Kino lernen» (2009) genannt; hierzu zählt aber auch die zunehmende Anzahl von Panels zur Filmbildung im Rahmen der NECS-Konferenz Istanbul (2010). Einschlägige Publikationen sind Bergala 2006; Klant/Spielmann 2008; Henzler/Pauleit 2009; Henzler/Pauleit/Rüffert/ Schmid/Tews 2010. Hinzu kommen strukturelle Neuausrichtungen an Universitäten, so die Einrichtung einer Professur für die übergreifenden Arbeitsgebiete Filmwissenschaft, Medienästhetik und Vermittlung an der Universität Bremen. Gleichwohl habe ich zusammen mit Kollegen in den letzten Jahren versucht, mit den
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Denn während des gesamten 20. Jahrhunderts (und lange vor Etablierung einer Disziplin, die sich seiner Untersuchung widmet) hat der Film Medien-Wissen in unterschiedlicher Weise generiert und vermittelt. Und zwar nicht nur in dokumentarischen Formaten wie im wissenschaftlichen Film und im Kultur- oder Lehrfilm, sondern insbesondere auch massenwirksam in seinen populären Erzählformen sowie im Autorenfilm und in dem, was man heute ‹Weltkino› nennt. Dieses Medien-Wissen hat seine Basis in der Ästhetik und Diskursivität des Films und in den Erfahrungen, die daraus hervorgehen. Wie sich ein solches Wissen gestaltet und entfaltet, habe ich am Beispiel des mobilen Telefonierens und seiner Geschichte an anderer Stelle dargestellt (Pauleit 2006). Im Folgenden werde ich zunächst eine grundsätzliche Problematik der Vermittlung von Film skizzieren, die sich im Wesentlichen aus einem spezifischen Gegenstandsverständnis ergibt. Danach werde ich einige Aspekte der komplexen Geschichte der Beziehung des Films zu Machttechniken und Formen der Wissensproduktion herausstellen. Schließlich will ich am Beispiel von The Conversation das konkrete Medien-Wissen eines Films und seine Vermittlung durch den Film nachzeichnen. Im Zentrum steht dabei ein Werk des New Hollywood, das Technologien zur Überwachung von Personen darstellt, reflektiert und dabei ein Diskursfeld generiert. Ein wesentliches Merkmal der Ästhetik dieses Films liegt in seiner Selbst- und Medienreflexivität, die gleichzeitig darauf angelegt ist, Medien-Wissen zu vermitteln. 1. Film als Gegenstand der Vermittlung Die meisten Formen der Film- und Medienbildung beziehen sich auf eine bestimmte Vorstellung von ihrem Gegenstand. Dieser wird als teilbar und operationalisierbar vorausgesetzt, um ihn dann mithilfe bestimmter Methoden zu vermitteln. Eine klassische Variante besteht darin, von einer ‹Sprache des Films› auszugehen, die man erlernen kann, wie dies unter anderem in der frühen Filmpublizistik getan wurde. Der sprachähnliche Charakter des Films wird bis heute in zahlreichen Lehrbüchern fortgeschrieben und beispielsweise an den Einstellungsgrößen festgemacht: Totale, Halbnahe und Großaufnahme – oder auch an Wirkungsweisen wie Spannung, Dynamik, Suspense. Die Rede von einer ‹Sprache des Films› erscheint jedoch aus wissenschaftlicher Perspektive verkürzt und problemaFormaten eines E-books bei Bertz + Fischer u.a. Learning from the Cinema. International Perspectives on Film Education (Henzler/Pauleit/Rüffert/Schmid/Tews 2010) und des Internetmagazins Nach dem Film (www.nachdemfilm.de, seit 1999) Vorschläge für erweiterte mediale Formen von Wissenschaft zu machen.
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tisch. So hat etwa die einzelne Einstellung, die basale Einheit des Films, im Unterschied zu den Lexemen der Sprache keine feststehende Bedeutung. Die Sprachanalogie kann nur als didaktischer Behelf verstanden werden, als Verständnishilfe, die so etwas wie eine Vermittelbarkeit des Films überhaupt erst vorstellbar macht. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Bestimmung des Films im Laufe seiner Geschichte immer wieder in Frage gestellt wurde.6 Heute, im Angesicht der Allgegenwart bewegter Bilder, im Zuge von Digitalisierung und Diversifizierung, stellt sich diese Frage erneut. Anders formuliert: Die Vorstellung von Film und seinen Konfigurationen ist selbst historisch geprägt und unterliegt einer ständigen Veränderung und Befragung, die selbst Teil der Konstitution des Gegenstands ist. Unter dieser Voraussetzung kann ‹Film› nur bedingt als gegebene Größe vorausgesetzt werden, dessen Vermittlung sich einfach umsetzen ließe.7 Dieser Erkenntnis begegnen viele Versuche mit einer Filmliste von Experten. Hierzu zählen beispielsweise Der Filmkanon. 35 Filme, die Sie kennen müssen (Holighaus 2005), aber auch historische Filmlisten wie die des Historikers Georges Sadoul (vgl. Henzler 2010).8 Solche Listen umgehen die Gegenstandsbestimmung mit einer Empfehlung bestimmter Filmtitel und Regisseursnamen. Sie versprechen die Übertragung eines Bildungsschatzes. Die Filmliste ist traditionell eingebettet in einen Diskurs um Meisterwerke und die Liebe zum Kino (Cinephilie). Gleichwohl hat diese spezifische Form der Ansprache in ihrer historischen Ausformung von Filmclubs, -zeitschriften und -geschichtsschreibungen wesentlich zur Begründung einer 6
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Neben ontologischen Ansätzen, die sich in der grundlegenden Frage André Bazins (2004) «Was ist Film?» oder «Was ist Kino?» verdichten, wurde der Film in den 1970er Jahren im Kontext semiologischer und poststrukturalistischer Überlegungen als Text gefasst, zum Beispiel von Christian Metz (2000). Die textuellen Ansätze wurden in den 1990er Jahren wiederum durch neuere Ansätze ersetzt oder ergänzt, die wie Rick Altman (1992) den Film als Ereignis konzipieren oder wie Vivian Sobchack (1992) eine phänomenologische Perspektive einnehmen, die den Körper ins Zentrum stellt; vgl. auch Nessel/Pauleit/Rüffert/Schmid/Tews 2008. Die Problematik der Gegenstandsbestimmung betrifft aber nicht nur die Vermittlung, sie zeigt sich auch in anderen Teilgebieten der Film- und Medienwissenschaft. So erscheinen zahlreiche Methoden der Filmanalyse angesichts der Diversifizierung des Films und eines sich wandelnden Gegenstandsverständnisses als problematisch, insbesondere insofern die Analysemethoden ihren Gegenstand erst konstruieren und hervorbringen. Bereits in den 1970er Jahren hatte sich gezeigt, dass eine konsistente Bestimmung des filmischen Artefakts und seine Abgrenzung von umgebenden Kontexten nicht so einfach zu haben sind und dass diese Operationalisierung selbst den Gegenstand verändert, ohne ihn eindeutig von den ihn umgebenden Diskursfeldern unterscheiden zu können (vgl. Bellour 1999, aber auch Pauleit 2009a). Deshalb stellen sich Filmanalysen häufig als merkwürdige Zirkelschlüsse dar, sofern sie dieser Problematik nicht in irgendeiner Form reflexiv begegnen. Es ist bemerkenswert, dass der sogenannte Filmkanon ebenfalls als Buch aufgelegt wurde und nicht als DVD-Reihe oder Internet-Website.
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wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Film beigetragen. Greift man allerdings heute unkommentiert und allein auf ein Listenprinzip für die Filmvermittlung zurück, so verlässt man sich nicht nur auf den Geschmack von Autoritäten, sondern ignoriert auch die Anstrengungen filmwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion. Vor allem aber liegt die Problematik dieses Ansatzes darin, dass das Prinzip der Liste selbst nicht weiß, was es eigentlich vermittelt (außer, dass sie auf dem Geschmack desjenigen beruht, der sie erstellt hat). Für eine zeitgemäße Vermittlung von Film benötigt man folglich eine Konzeption, die sowohl über ein begrenztes Gegenstandsverständnis als auch über das einfache Listenprinzip hinausgeht. Eine solche Konzeption muss keineswegs neu erfunden werden; sie ist vielmehr in unterschiedlichen Theorieansätzen der Film- und Medienwissenschaft bereits vorgedacht und skizziert worden, so beispielsweise von Peter Wollen (1975; vgl. auch Pauleit 2001a). Wollen versteht Film als ein intertextuelles und intermediales Feld, in dem eine Begegnung und gegenseitige Befruchtung der unterschiedlichen Künste, Medien und Diskurse stattfinden kann. Was er damit in den 1970er Jahren vorausdenkt, ist eine Erweiterung des modernen Kinos.9 Dieses erweiterte Verständnis umfasst unterschiedliche Auffassungen von Film wie Hollywood, Autorenfilm oder Filmavantgarde und ist prinzipiell erweiterbar. Es reflektiert neben den Werken auch die Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption, das Verhältnis von Werk und Kontexten sowie die unterschiedlichen Dynamiken, die zwischen diesen Bereichen stattfinden. Ein solches Verständnis begreift Film nicht als Artefakt, sondern als Schauplatz, auf dem unterschiedliche Diskurse ‹auftreten› können, zu denen auch die Kritik und die Wissenschaft gehören. Auf dieser Basis lassen sich schließlich auch Vermittlung und Bildung als weitere Diskurse begreifen, die im intertextuellen und intermedialen Feld stattfinden. Vermittlung und Bildung wären hier kein Anhängsel einer Medienwissenschaft, das sich als ein ‹Herunterbrechen› des Wissens versteht, sondern elementarer Teil eines erweiterten Gegenstandsverständnisses. Filmvermittlung und ‹Medienbildung› erhalten in einer solchen Konzeption zudem einen reflexiven (und modernen) Zug, weil sie nicht getrennt von ihrem Gegenstand agieren, sondern sich als dessen Teil begreifen und sich in ihm spiegeln können.
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Mit dem Verweis auf Peter Wollen geht es mir um eine historische Öffnung des Filmverständnisses, die nicht allein eine Konsequenz der Digitalisierung ist, sondern in der Filmtheorie selbst vorbereitet wurde; die sich aber auch in der Geschichte der Filmpraxis zeigt, in der Filmavantgarde ebenso wie im New Hollywood.
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2. Bildung und Kontrolle als filmische Diskurse Das Medium Film hat von Anbeginn eine besondere Affinität sowohl zur Bildung als auch zur Kontrolle. Gemeint ist die komplexe Geschichte seiner Beziehung zu Wissensproduktion und Machttechniken. Zunächst soll im Folgenden herausgestellt werden, dass die Verschränkung von Bildung und Kontrolle nicht nur Merkmal einzelner Filme ist, die entsprechende Szenarien realisieren. The Conversation in einer Aufsatzsammlung «Filmisches Wissen» aufzugreifen bedeutet also nicht allein, die populärkulturelle Form der Vermittlung eines gesellschaftlich signifikanten Themas durch einen außergewöhnlichen Film anzusteuern; oder, zugespitzt formuliert, es geht nicht um die These: The Conversation ist ein Lehrstück, das uns die zentralen Aspekte der Kontrolle und Überwachungstechnologien im Kontext der 1970er Jahre erklärt oder ‹nahebringt›. Sondern vielmehr darum, wie der Film ein Diskursfeld aufspannt, in welchem Bildung und Kontrolle aufeinander bezogen sind – und zwar anders, als in dem üblicherweise unterstellten Verhältnis, dass Bildung darin per se ein gutes Objekt der Selbstbestimmung sei, dem die Kontrolle als per se böses der polizeilichen oder geheimdienstlichen Fremdsteuerung gegenübersteht. Die Komplexität des Diskursfeldes lässt sich mit einer ersten Kontextualisierung von Coppolas Film skizzieren. Bereits am registrierenden Blick der Kamera der ersten Lumière-Filme zeigt sich die Verschränkung von Bildung und Kontrolle. Der Blick auf die Arbeiter am Fabriktor in La Sortie des usines Lumière (F 1895) wurde als Kontrollblick gedeutet (Kammerer 2008). Er enthält aber auch ein identitätsbildendes Moment, zumindest für die Firma der Brüder Lumière. Deren Blick auf die eigene Familie in Repas de Bébé (F 1895) wurde demgegenüber als frühe Geste des autobiografischen Films beschrieben (Curtis 2006). In dieser autobiografischen Einstellung zeigt sich aber auch das überwachende Auge des Kamerablicks als technische Erweiterung der elterlichen ‹Aufsicht› (Pauleit 2001b). So scheinen Bildung und Kontrolle seit Anfang der Filmgeschichte eng miteinander verwoben. Der frühe Film greift damit Diskurse auf, die bereits aus der Geschichte der Fotografie bekannt sind: einerseits die Geschichte der bürgerlichen Selbstrepräsentation als Form einer ästhetischen Bildung im fotografischen Porträt und andererseits die Geschichte der staatlichen fotografischen Erfassung zunächst von Kriminellen und dann aller Bürger (Regener 1999; Schicke 2000). Im Übergang von der Fotografie zur filmischen Einstellung verändern sich allerdings die Kräfteverhältnisse in diesem Diskursfeld. Das Bild wird der Verfügbarkeit und der kontrollierenden Beobachtung entzogen und gerät in den Strudel von Bewegungen unterschiedlicher Art. Das be-
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wegte Bild dient nicht mehr allein einer bürgerlichen Selbstversicherung oder der staatlichen Kontrolle. Im Übergang zum Bewegungsbild wird das Bild (auf der Ebene der Repräsentation) zum Leben erweckt, wird scheinbar eigenmächtig und handlungsfähig. Es transformiert beide Momente (das der Identitätsbildung und das der Kontrolle) in ein ästhetisches Spiel (mit Diskursen). Ein frühes Beispiel für diese Transformation stellt eine Einstellung aus Edwin S. Porters The Great Train Robbery (USA 1903) dar, in der ein Bandit mit einer Pistole auf die Kamera/das Publikum zielt, abdrückt, blinzelt und im Rauch der Mündung verschwindet. Diese Einstellung erscheint zunächst wie ein Foto, wie ein Steckbrief des Banditen. Das ästhetische Spiel besteht im Wesentlichen in einer Neu-Codierung der fotografischen Tradition. Dem Porträt des Bürgers wird der Outlaw mit Pistole gegenübergestellt, und aus dem Fahndungsfoto der Polizei wird im Übergang zur Bewegung ein ‹kriminelles› Bild. Aus dieser Neu-Codierung im ästhetischen Spiel entwickelt sich eine bis heute andauernde Auseinandersetzung des Films mit der Fotografie, die nicht nur die bekannten Höhepunkte kennzeichnet wie Chris Markers La Jetée (F 1962), Michelangelo Antonionis Blow Up (GB 1966) oder Christopher Nolans Memento (USA 2000), sondern die Filmgeschichte wie ein roter Faden durchzieht. Außerfilmisch, auf der juridischen Ebene, entfachen die ‹kriminellen› Bilder komplexe Aushandlungsprozesse zwischen den Instanzen des staatlichen Rechtsmonopols einerseits und den Institutionen der Filmproduktion andererseits, die zu einem eigenen System der Bewertung und Kontrolle des Films, z.B. der freiwilligen Selbstkontrolle, führen.10 Auch The Conversation setzt diese Inszenierung von Diskursen im ästhetischen Spiel fort, erweitert sie aber in den Bereich der Tonbandaufzeichnung – und der Videoüberwachung. Mit diesem Film beginnt nicht nur die Repräsentation der Videoüberwachung im Kino, wie sie uns heute vertraut ist.11 Gleichzeitig entwickelt sich aus ihr ein eigener Bildtyp, dessen Kennzeichen Grobkörnigkeit und eine spezifische Perspektive sind. Den Bildern der Videoüberwachung wird neben ihrem Kontrollprinzip ähnlich wie der Fotografie ein Index der Realität zugeschrieben (Levin 10
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Zur Geschichte des Production Code in Hollywood als Reaktion auf den Gangsterfilm der 1930er Jahre vgl. Munby 1999. Einen zeitgenössischen Film über die US-amerikanische Bewertungsstelle, das MPAA-Komitee, hat der Filmemacher Kirby Dick vorgelegt: This Film is not yet rated (USA 2006). The Conversation präsentiert Videoüberwachungstechnologie als ein sich entwikkelndes Marktsegment der 1970er Jahre, das nicht staatlichen Institutionen und Geheimdiensten vorbehalten, sondern im Grunde jedermann auf dem freien Markt zugänglich ist. Die Darstellung von Film-, Fernseh- und Videoüberwachungsszenarien hat markante Vorläufer, so Fritz Langs Liliom (F 1934) und Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (BRD, I, F 1960).
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2002). Dieser neue Bildtyp gehört spätestens seit den 1990er Jahren zum Gemeingut der Filmästhetik, mit dem inzwischen – häufig ganz banal – die Authentizität des Dargestellten verbürgt werden soll. Er kann aber auch zu einem trade mark shot des Films werden wie bei Christian Petzold, der Phantombilder inszeniert, die eine existenzielle Verunsicherung erfahrbar machen. Diese Verunsicherung auf Seiten des Zuschauers ist in den Filmen Petzolds deshalb so tiefgründig, weil es ihnen gerade nicht um eine einfache Strategie der Authentifizierung geht. Der Status der Überwachungsbilder wird vielmehr in den Erzählungen weder schlüssig erklärt noch durch Gegenschüsse oder Einstellungsfolgen formal eingebettet. Gerade dadurch werfen sie fundamentale Fragen nach dem unsichtbaren Anderen auf (Eschkötter 2011). Der ästhetische Gebrauch von Videoüberwachungsbildern muss sich aber nicht auf bestimmte Einstellungen beschränken, sondern kann auch einen gesamten Film strukturieren, so etwa Michael Hanekes Caché (F 2005). Hier werden Filmeinstellungen und die Einstellungen von Überwachungskameras formal ununterscheidbar. Die Überwachungsbilder sind nicht mehr durch ein grobkörniges Bild von den übrigen Einstellungen abgehoben. Auf diese Weise wird die Erzählung des Films selbst Teil der Überwachung. Sie wird zu einer überwachenden Erzählform (Levin 2008). Zeitgenössische Überwachung steht zwar in der Tradition des fotografischen Erfassens von Kriminellen des 19. Jahrhunderts, das wiederum an das fotografisch-bürgerliche Porträt anknüpft (Schicke 2000). Ihr neues Kennzeichen ist allerdings das systematische Erstellen von Archiven auf der Basis von Videoüberwachung, Netzhaut-Scans und komplexen Datenprofilen. Der individuelle Kriminelle mit seinem Register an Straftaten wird dabei überlagert von Phantombildern, die sich aus Rastermerkmalen und Verdachtsmomenten zusammensetzen. Dass das Abgebildet-Werden die Person nicht nur mit den Würden der Repräsentation ausstattet, sondern ebenso einer kontrollierenden Erfassung unterwirft, ist für das bürgerliche Selbst allerdings von Anfang an eine schockhafte Erkenntnis (Kammerer 2011). Darin wird deutlich, dass das Abbilden des Kriminellen eben nicht nur ein Porträt des Anderen hervorbringt, sondern Teil einer Kontrollstrategie ist, die immer auch die Grundfiguren der eigenen Ideologie mitinszeniert. Auf diesem Hintergrund ist beispielsweise auch die Produktion der amerikanischen B-Movies zu verstehen, die die Invasionen von Außerirdischen durch eine einfache Verdoppelung der Menschen in Szene setzt, so in Invasion of the Body Snatchers oder in It Came From Outer Space. In dieser Verdoppelung sind die guten Bürger von den bösen Eindringlingen auf der visuellen Ebene nicht mehr zu unterscheiden (Tesson 1997).
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3. THE CONVERSATION und die Vermittlung von Medien-Wissen Der Film erzählt die Geschichte des privaten Überwachungsspezialisten Harry Caul (Gene Hackman), der in die Fallstricke seines Metiers und seiner eigenen Perfektion gerät. So weit folgt der Film einem klassischen Erzählmuster. Aber er ist auch ein moderner Film, mit einer elliptischen Erzählweise und offenen Form, mit einer (partiellen) Unabhängigkeit von Ton und Bild und einer medialen Selbstreflexivität. Der Film denkt sichtbar und hörbar über sich selbst und seine Form nach, er zeigt sich als ästhetische Filmform und stellt sein Filmsein aus. Darin liegt auch ein politisches Moment: Der Darstellungszusammenhang wird nicht illusionistisch verschleiert, sondern als gestalteter offengelegt.12 In dieser Weise präsentiert und reflektiert The Conversation ein mediales Wissen, berichtet von den Produktionsformen des New Hollywood, zum Beispiel der beginnenden Arbeit mit dem Sound Design. Coppola hat in den 1970er Jahren zusammen mit dem Sound Designer Walter Murch die Grundlagen für die Entwicklungen des Sound Designs in Hollywood gelegt (Flückiger 2001). In The Conversation wird dies zum Thema gemacht, wird geradezu ausgestellt. Dabei bleibt die Darstellung der Arbeit mit und am Ton aber immer auch Teil der Überwachungsstory und ihrer ästhetischen Inszenierung. Gleich in der ersten Szene werden Toneffekte präsentiert. Die Töne klingen synthetisch und bleiben zunächst unverbunden mit dem Bild, reine Klangkunst. Dadurch sind sie als eigenständiges Element wahrnehmbar; erst später werden sie mit den akustischen Erfahrungen der Überwachungsspezialisten verknüpft und in die Filmhandlung rückgebunden. Auf der Handlungsebene kommen drei Abhöreinheiten zum Einsatz, die wie ein Netzwerk funktionieren: Alle Einheiten übertragen immer nur Teile des Gesprächs, und ihre Leistungsfähigkeit wird in Prozentpunkten ausgedrückt. Fällt eine Einheit aus, übernehmen die anderen deren Aufgabe. Ziel dieses Netzwerks ist eine hochwertige Tonübertragung und Aufzeichnung. Bereits 1974 wird hier das Prinzip der Netzwerkkommunikation in den Blick genommen – und zwar ganz ohne Computereinsatz.13 12
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Der moderne Film gibt sich nicht als Naturgewalt aus, sondern öffnet einen ästhetischen Erfahrungsraum und stellt sich als kulturelle Produktion zur Diskussion. Das ist, wenn man so will, eine Arbeit an den kulturellen Grundbedingungen, die dabei helfen, Öffentlichkeit zu konstituieren. Das Gegenstück dazu ist die Geschlossenheit der Form. Fritz Göttler kommentiert die deutsche Nachkriegsproduktion: «Bloß keine Spuren hinterlassen, das ist das Trauma dieser Gesellschaft, nichts verraten davon, wie etwas geworden ist, die neue Gesellschaft und die neuen Filme. Die Arbeit soll nicht sichtbar werden, die ihr Entstehungsprozess verlangt, sie soll erscheinen, als wäre sie ohne Vergangenheit» (1993,175). Dass das Prinzip der Netzwerkkommunikation auch ohne Computer denkbar und bereits in der Telegrafie angelegt ist, darauf hat Hartmut Winkler (2004) hingewiesen,
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In einer späteren Szene sieht man, wie die Tonaufzeichnungen bearbeitet und zu einer Mehrspuraufnahme orchestriert werden. Dann erfolgt eine weitere Nachbearbeitung des Tons. Auch wenn es auf der narrativen Ebene um die detaillierte Re-Konstruktion eines Gesprächs zu gehen scheint, werden in der Inszenierung die Schritte der filmischen Produktion und Post-Produktion nachgezeichnet. Der Ton des Films ist zudem mit einem ähnlichen Mehrspurgerät produziert – für die Filmfassung werden zwar weniger die unterschiedlichen Quellen einer einzelnen Probe zusammengefügt (oder rekonstruiert), sondern vielmehr unterschiedliche Aufnahmen zu einem Dialog oder Score zusammengesetzt. In der Wiederholung des Dialogs kommen dabei unterschiedlich klingende Fetzen aus unterschiedlichen Mustern (der Aufnahme) zum Einsatz, um hörbare Differenzen für die Rezipienten herauszustellen. Und schließlich wird die Bearbeitung des Tons auf der Ebene der Dialoge von den Protagonisten kommentiert. Harrys Mitarbeiter Stan bezeichnet dessen Bearbeitungen ausdrücklich als «a piece of art».14 Diese Darstellung des Tons und seiner Bearbeitung changiert folglich zwischen Filmhandlung, Selbstreflexivität des Films und Anschauungsunterricht für die Zuschauer. Bereits dieser Wechsel der Ebenen macht The Conversation zu einem Schauplatz unterschiedlicher Diskurse. Der Film verbindet seine Selbst- und Medienreflexion mit einem Nachdenken über Kontrolle und Überwachung. Er inszeniert und transportiert sein filmisches Wissen zu einem Zeitpunkt, zu dem weder Michel Foucaults Überwachen und Strafen publiziert noch die Prägung des Begriffs «Kontrollgesellschaft» durch Gilles Deleuze bekannt war.15 Was hieran bedeutungsvoll erscheint, ist weniger, dass Coppola mit künstlerischer Intuition zur selben Analyse wie Foucault oder Deleuze gelangt, sondern dass er Diskurse zur Überwachung mit genuin filmischen Mitteln inszeniert, sie sozusagen ‹auftreten› lässt und dabei sichtbar, hörbar und erfahrbar macht. The Conversation generiert und präsentiert sein Wissen mit den Mitteln des Films. Diese sind zunächst ganz banal das Drehbuch und die Story von einem professionellen Abhörspezialisten. Zu den filmischen Mitteln gehören auch Regieeinfälle wie jener, dass sich Harry Caul, in seiner Wohnung angekommen, zunächst die Hose auszieht, womit seine Privatsphäre herausgekehrt wird und die Kamera respektive der Zuschauer
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allerdings ohne den Begriff der Netzwerkkommunikation zu verwenden. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als der Bereich ‹Tonbearbeitung› bis zu diesem Zeitpunkt im Rahmen von Hollywood-Produktionen noch nicht als kreative oder künstlerische Tätigkeit galt; vgl. Flückiger 2001. Michel Foucaults Überwachen und Strafen erscheint 1975, also ein Jahr nach The Conversation. Gilles Deleuzes «Postskriptum über die Kontrollgesellschaften» erscheint erst 1990. Gleichwohl greift der Film zeithistorische Kontexte auf, die Enthüllungen der Watergate-Affäre finden während der Dreharbeiten statt.
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sofort in die Position eines belauschenden Voyeurs gerät. Weiter zählen dazu die Wahl der Locations – eine Szene wird auf einer Messe für Überwachungstechnologie gedreht – und der erwähnte Einsatz von synthetisch klingenden Geräuschen und eigenständigen Klangobjekten.16 Eines der zentralen filmischen Mittel zur Inszenierung des Überwachungsdiskurses ist die Kameraarbeit, zum Beispiel wenn ein automatisch betriebener Zoom-in gleich in der ersten Einstellung die Kameraführung von der Hand des Kameramanns entkoppelt. Gerade die erste Einstellung mit ihrer langsamen, maschinellen Zoom-Bewegung nähert die ästhetische Erfahrung dieses Establishing Shots der technischen Funktion der Videoüberwachung an. Und nicht nur das. Sie setzt im Grunde das Prinzip des Panoptikums, wie es später von Foucault beschrieben wird, als filmästhetisches Bewegungsbild in Szene. Denn das Prinzip des Panoptikums beruht gerade darauf, dass man nicht mehr unterscheiden kann, ob sich im Kontrollturm ein Wächter befindet oder nicht. Ein solcher automatisierter Zoom vermittelt folglich nicht nur eine Analogie zur Überwachungskamera; er ist die Verkörperung des panoptischen Blicks als Kamerabewegung. Er erzeugt ein Bewegungsbild und mithin die ästhetische Figuration eines Diskurses.17 Zur Selbstreflexion des modernen Films gehört schließlich auch das Aufgreifen der Rezeptionsseite. Klassische Beispiele dafür wären die Darstellung des Ins-Kino-Gehens und Situationen im Kino oder vor dem Bildschirm. Auch The Conversation beschäftigt sich mit der Rezeption. Das Gespräch wird von Harry Caul immer wieder abgehört, analysiert, interpretiert und mit dem Ziel eines besseren Verständnisses schließlich auch manipuliert und verändert. Die Analogie besteht in diesem Falle darin, dass er in seinem Metier als beobachtender Zuschauer und lauschender Zuhörer gezeigt wird und die Kinozuschauer ebenfalls als Zuschauende und Zuhörende adressiert werden. Der Film verknüpft die Auswertung der Tonaufnahme durch den Überwacher mit der ästhetischen Wahrnehmung des Zuschauers. Beide befinden sich im Modus der Deutung. Harry Caul versucht die Aufnahme zu entziffern; die Zuschauer versuchen den 16 17
Hierzu gehört schließlich auch der Einsatz von Musik und vieles mehr. Diese Verkörperung ist keine Illustration einer Theorie; sie ist im Grunde Anschauungsunterricht in dem Sinne, dass sich ein Wissen durch die Gegenstände selbst (und ihre sinnliche Wahrnehmung) vermittelt. In diesem Fall ist sie allerdings mehr als das: eine genuin filmische Figuration, die das Kamerageschehen selbstreflexiv in Szene setzt. Konkret geht es um die erhöhte Anordnung einer Kamera mit Blick auf einen Platz und ihre technische Steuerung als Zoom, die das spezifische Bewegungsbild generiert. Dabei handelt es sich um eine rein filmische Kompetenz, woraus der Film als Medium eine diskursive Qualität gewinnt. Zur Diskursfähigkeit von Bildern, die hierfür unterstellt wird, vgl. Mitchell 1994.
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Film zu verstehen. Ästhetische Wahrnehmung und detektivische Detailarbeit werden miteinander verschränkt. Diese ästhetische Konstruktion reicht über eine einfache Reflexion der Rezeptionsseite hinaus. Denn die Sätze werden immer wieder abgehört und stellen einen Modus der Wiederholung heraus. Auf der Plotebene ist dies darin motiviert, dass der Abhörspezialist der Bedeutung des Gesprächs habhaft werden will. Dabei wird dessen Sinn allerdings nicht klarer. Im Gegenteil entsteht durch die Wiederholung ein Möglichkeitsraum von Bedeutungen, der sich nicht allein auf die gesagten Sätze, sondern auch auf ihre klangliche Formation ausweitet. Der Film beginnt schließlich mit diesen Klangbildern zu spielen, sie zu manipulieren, um ihre Bedeutung immer weiter zu verändern und zu verschieben. Und es ist nicht nur der Klang der Sätze, der wiederholt wird; auch die dazugehörigen Bilder werden immer wieder eingeschnitten. Durch das wiederholte Abhören des Gesprächs überträgt der Film die Sätze zudem in immer andere Räume (reale und imaginäre), und diese anderen Räume produzieren jeweils andere Varianten des Klangs und der möglichen Bedeutung. Das Ausgangsmaterial wird nicht nur durch die Differenz der Varianten, sondern auch durch die Wiederholung selbst verändert; aus ihr ergibt sich eine andere Anordnung des Materials (Ton und Bild), die schließlich den Film selbst infiziert. Anders formuliert: Durch die Wiederholung der immer gleichen Aufnahmeschnipsel entsteht ein de-linearisierter, strukturaler Film – ein Film, der sich als Sammlung von Bild- und Tonaufnahmen präsentiert und diese Sammlung als Sammlung wahrnehmbar macht. Weiter gedacht wird in diesem Modell der Zuschauer an ein Modell von Film angeschlossen, das sich einerseits noch als abgeschlossenes Werk präsentiert (Autorenkino), aber andererseits die Vorstellung von Film ästhetisch weiter entwickelt und als offene Sammlung von bits and pieces (von Ton und Bild) denkt. In der Wiederholung von fragmentierten Klang- und Bildobjekten findet ästhetische Bildung durch den Film einen ersten Höhepunkt.18 Erstens stellt The Conversation damit immer wieder sein eigenes Gemachtsein aus und beschreibt die Prozesse des Umgangs mit Ton- und Bildmustern in der Produktion (Anschauungsunterricht). Zweitens differenziert der Film seine eigene Bedeutungsproduktion und Zeichenfunktion von rein sprachlicher oder schriftlicher Äußerung, indem er immer wieder die Klang- und Bildobjekte als (ästhetische) Basis filmischer Bedeutungspro18
Während der oben beschriebene Establishing Shot des technischen Zooms noch als singuläre ästhetische Besonderheit aufgefasst werden kann, tritt die Wiederholung von Klang- und Bildfragmenten wie ein pädagogischer Fingerzeig aus der Filmnarration und -komposition heraus.
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duktion in den Vordergrund rückt (Unterricht in ästhetischer Wahrnehmung und Zeichentheorie). Drittens präsentiert der Film damit eine komplexe Konzeption von Film, die über ein einfaches Werkverständnis oder das oben beschriebene, begrenzte Gegenstandsverständnis hinausgeht: Film erscheint hier als Sammlung und offenes Feld von Diskursen (filmtheoretischer Unterricht). Viertens schreibt der Film Mediengeschichte,19 indem er zunächst das Tonband und die technischen und ästhetischen Dimensionen seiner Produktionsweise, das Mehrspuraufnahmeverfahren, darstellt (medienhistorischer Unterricht zu Einzelmedien). Das besondere Merkmal ist allerdings (fünftens), dass er diese Mediengeschichte mit einer Theoriekonzeption des Films verbindet. Hieraus entsteht zunächst ein Feld von intermedialen Beziehungen zwischen Magnettonaufzeichnung, fotografischer Bildaufzeichnung, Magnetbild- und Tonaufzeichnung (im Video), die alle als Diskurse auftreten. Dies führt aber weniger zu einem filmischen Beitrag zum Begriff der Intermedialität, als zu einer Mediengeschichte des Films – Film aber nicht mehr als Einzelmedium gedacht, sondern, ähnlich wie von Peter Wollen skizziert, als ein intertextuelles und intermediales Feld, in dem eine Begegnung und gegenseitige Befruchtung der unterschiedlichen Künste, Medien und Diskurse stattfinden kann (Unterricht in Film-Theorie-Geschichte).20 Aber The Conversation schreibt nicht nur Mediengeschichte und erteilt Lektionen in Filmpraxis, -theorie und -geschichte. Der Film kreuzt das moderne selbstreflexive Kino der 1970er Jahre mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen der Kontrolle und Überwachung und wird zum Schauplatz dieser Diskurse. Das Interessante an dieser speziellen Verbindung ist, dass Film und Videoüberwachung mit ähnlichen Techniken operieren (wie vormals Fotografie und Film), nämlich mit Bild- und Tonaufnahmen und ihrer Verwertung. Der zentrale Unterschied liegt in der Form der Verwertung und lässt sich holzschnittartig wie folgt beschreiben: Die Überwachung sammelt Wissen und verschafft sich einen Vorteil, indem sie es monopolisiert und verdeckt anwendet. Die Verwertung des Films liegt 19 20
In der Filmgeschichte gibt es in dieser Hinsicht zahlreiche Beispiele, auch für den Ton: angefangen bei Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse (D 1932) bis hin zu Romuald Karmakars Villalobos (D 2009). Der Unterschied zwischen der hier mit Peter Wollen skizzierten Auffassung eines intertextuellen und intermedialen Feldes, in dem sich Künste, Medien und Diskurse begegnen, zu einem Verständnis von Intermedialität, wie es beispielsweise von Rajewsky (2002) systematisiert wird, liegt darin, dass die gängige Auffassung von Intermedialität eine Beziehung von Einzelmedien zugrunde legt (und damit eine implizite Ontologie dieser Medien), während Wollen (1975) und auch Mitchell (1994) eine Medienauffassung vertreten, die nicht von Einzelmedien, sondern von Hybriden und Mischformen ausgeht. Insbesondere Mitchell skizziert auch die politischen Konsequenzen, die sich aus dieser Unterscheidung ergeben.
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darin, das gesammelte Wissen zu transponieren, ästhetisch zu bearbeiten und letztlich öffentlich zu verteilen. In dieser Geste der Verteilung verbindet sich die Ästhetik des Films mit einem sozialpolitischen und einem bildenden Moment. In The Conversation trägt diese Geste schließlich die Züge einer Ermächtigung der Zuschauer, wenn der Film als Sammlung aus Fragmenten von Ton und Bild wahrnehmbar wird und ihnen dabei die Position eines Produzenten und Co-Autors zufällt, dessen Aufgabe es ist, einen Weg durch diese Sammlung zu finden oder sogar ihre Gestaltung zu übernehmen. Gerade aus der Form des Films entsteht damit der Impuls für politische und ästhetische Bildung. 4. Medienwissenschaft und Film als Schauplatz von Bildung und Vermittlung Welche Form der Vermittlung brauchen wir angesichts moderner selbstreflexiver Filme wie The Conversation? Wozu brauchen wir überhaupt Filmvermittlung, wenn ein solcher Film seine eigene Vermittlung in die Hand nimmt? Sofern man davon ausgeht, dass er selbst Akteur sein kann, als Vermittler auftritt und unterschiedliche Aspekte eines Unterrichts übernimmt, gerät jede Pädagogik, die auf einem einfachen (naiven) Gegenstandsverständnis basiert, nicht nur in Konkurrenz zu ihrem Gegenstand, sondern zur Farce. Viele Filme, die Lehrer zeigen oder von ihnen erzählen, haben sowohl die Konkurrenz als auch die Farce zur Anschauung gebracht.21 Man kann dies in zahlreichen Filmbildungsworkshops beobachten und natürlich auch an Schulen und Universitäten, wo Film unterrichtet wird. Doch man kann den modernen Film nicht vermitteln wie eine Dampfmaschine – und fast jeder Film hat heute mehr oder weniger moderne Qualitäten. Voraussetzung für die Filmvermittlung ist zunächst ein erweitertes Verständnis von Film, wie ich es oben skizziert habe und eine Medienwissenschaft, die sich als Schauplatz der Bildung begreift und erforscht, welche Bildung auf dem Hintergrund einer Medienkultur denkbar ist. Eine weitere Bedingung ist, dass sich Filmvermittlung auf eine Situation der ‹Mehrstimmigkeit› einlässt: Denn wenn der Film selbst als Vermittler agieren kann, dann bedeutet Filmvermittlung potenziell immer, dass sozusagen zwei Lehrer gleichzeitig in der Klasse stehen. Stellt man sich aber den Film selbst als Schauplatz vor, an dem Vermittlung stattfindet, dann kann man ihn betreten und sich einmischen, mit ihm ins Gespräch kom-
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men, in eine conversation einsteigen. Alain Bergala (2006) hat dies in seinem Buch genauer skizziert, und ich habe dies später kritisch kommentiert und ergänzt (Pauleit 2009b).22 Filmvermittlung hat in dieser Perspektive eher Ähnlichkeit mit dem Bild einer musikalischen Improvisation. Gemeint ist ein Einstimmen in den Film, ein Mitspielen oder ein Kontrapunkt-Setzen, bei dem man ihm etwas hinzufügt und ihn dabei verändert.23 Was man dafür benötigt? Ideal ist der Zugang zu einem umfassenden Filmarchiv und Personen, die sich darin auskennen; dann eine reale Analogie zu einem Schauplatz, auf dem der Film und seine Diskurse, aber auch die Vermittlung selbst auftreten können. Hierzu eignet sich beispielsweise ein Schneidetisch – der englische Begriff editing table ist als Arbeitstisch noch etwas offener. Dieser Schauplatz dient dazu, dass sich Film, Medienwissenschaft und Vermittlung begegnen und miteinander interagieren. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, eigene Filme zu schneiden oder das Montieren von Filmstreifen zu erlernen. Aber auch nicht allein darum, wie der Film gestaltet wurde (wofür ein einfacher Monitor ausreicht). Wichtiger ist es, die Zusammenhänge von filmischer und medienwissenschaftlicher Wissensproduktion und -vermittlung zu erkennen, zu erforschen und als Feld zu begreifen, in dem wissenschaftliche Textproduktion sich mit dem ästhetischen Spiel des Films (und der Medien) verbinden kann, so wie es Peter Wollen in den 1970er Jahren vorausgedacht hat. Ein digitaler editing table könnte das Leitbild sein, um die unterschiedlichen Ebenen von Film, Medienwissenschaft und Vermittlung konkret zusammenzuführen: ein Arbeitstisch, an dem man sowohl in das Material des Films wie in die wissenschaftliche Textproduktion und die Vermittlung eingreifen, hineinzeichnen, hineinschreiben, hineinmontieren kann. Auch ein Kino ist als Schauplatz gut geeignet, sofern man es zu einem digitalen Arbeitstisch aufrüstet.24 In größter Not tut’s auch eine Schultafel. Neben einem erweiterten Verständnis von Film, einem Zugang zu Filmen und einem Schauplatz braucht es also eigentlich nicht viel. In eben diesem «eigentlich nicht viel» liegt das Va-banque-Spiel von Medienwissenschaft und Bildung.
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Die Problematik einer Konkurrenz zwischen Vermittler und Film als lehrende Instanzen habe ich an anderer Stelle dargelegt (Pauleit 2004).
Auch wenn Bergala als ein Anhänger der Filmliste gelten kann, so hat er doch in seinem Buch eine komplexe Auffassung von Film und seiner Vermittlung skizziert. Eine Szene in The Conversation zeigt eine vergleichbare musikalische Improvisation: Gene Hackman spielt auf dem Saxophon zu einer Schallplatte. So wie er die Schallplatte begleitet, so kann man sich die Anordnung von Film und Filmvermittler vorstellen. Sebastian Schädler hat im Rahmen der Bremer Schul-Kino-Wochen 2004 versuchsweise das Kino 46/Kommunalkino Bremen als digitalen Arbeitstisch nachgerüstet, mit Funkkameras die Vermittlungssituation des Schülergesprächs experimentell auf die Leinwand gebracht und an den Film angeschlossen.
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Andrea B. Braidt
Filmisches Wissen im Spiegel des cinematic television
Cinematic television, ein zuletzt viel diskutierter Nebenschauplatz des sogenannten «Quality TV», ist ein Ort, an dem filmisches Wissen vermittelt wird (vgl. Jancovich/Lyons 2003, xi, 204f; McCabe/Akass 2007; Meteling 2010, 285). An diesem Ort – und es wird noch zu bestimmen sein, um welche Art ‹Ort› es sich handelt – findet, wie ich zeigen möchte, eine spezifische Art von Filmvermittlung statt: eine Aufführung von filmischem Denken, also von der Art und Weise, wie im Film Bedeutung konstruiert wird. Mehr noch: Das Fernsehen bemächtigt sich mit dem cinematic television innerhalb seiner besonderen medialen Rahmungen filmischen Wissens und vermittelt es. Im Folgenden möchte ich diesen Gedanken ausführen, indem ich zunächst eine Begriffsbestimmung leiste und danach ein theoretisches Modell für die Analyse von filmischem Wissen im cinematic television vorschlage. Dieses Modell erprobe ich an der US-amerikanischen TV-Serie Mad Men (Matthew Weiner, American Movie Channel, USA 2007–), einer Serie über das Personal einer Werbeagentur an der New Yorker Madison Avenue Anfang der 1960er, wobei ich für die Zwecke der Analyse drei Schichten des filmischen Wissens unterscheiden werde: Referenzialität, visual style und Figurenentwicklung. Cinematic television: Eine Begriffsbestimmung Der Begriff cinematic television wird landläufig in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Zum einen meint er die Vorführung von Fernsehsendungen im Kino, insbesondere die Vorführung von einzelnen oder mehreren Episoden von ‹Quality TV›-Serien auf Filmfestivals. Solche Festivalvorführungen bereiten oft die Ausstrahlung einer Serie in einem bestimmten nationalen TV-Markt vor. So diente das Edinburgh International Film Festival als Plattform für die Premiere von In Treatment (HBO, USA 2008–) und True Blood (Alan Ball, HBO, USA 2008–), wobei dieser Event mit dem Label «Cinematic Television» beworben wurde. Festivalvorführungen von TV-Serien dienen aber auch dazu, nicht ausgestrahlte
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Programme einem spezifischen Zielgruppenpublikum zugänglich zu machen – so etwa die Aufführungen von The L-Word (Ilene Chaiken, Showtime, USA 2004–2009) oder Queer as Folk (Doug Guinan, Showtime, USA 2000–2005) auf Queer Film Festivals. Cinematic bezeichnet in dieser Verwendung in erster Linie das Kino als Ort, an dem Fernsehen aufgeführt wird. Cinematic television beschränkt sich dabei auf gestaltete, narrative Programme. Übertragungen von Fußballspielen ins Kino etwa werden, zumindest in Europa, unter dem Titel «Public Viewing» vermarktet, was anzeigt, dass nicht allein der Ort darüber entscheidet, ob das Televisive den Anstrich des Cinematischen erhält. Die Verknüpfung von television mit cinematic scheint überdies eine Qualitätshierarchie ins Spiel zu bringen: Das Fernsehen erfährt durch seinen Eintritt ins Kino und seine Kennzeichnung als cinematic eine Nobilitierung. Dass der Rahmen ‹Kino› das Fernsehen adelt, lässt sich umgekehrt auch an der Fernsehausstrahlung von Kinofilmen erkennen. Zwar wird ihre Aufführung im Fernsehen nicht als ‹televisuelles Kino› markiert, doch bewerben Fernsehsender wie Sat1 Filmausstrahlungen mit Slogans wie «FilmFilm», in Absetzung von der Kategorie «Fernsehfilm». Ein «FilmFilm» ist einer, bei dem das Fernsehen als Rahmen zurücktritt und das Wohnzimmer zum Kino wird: Ein Film, bei dem man vergessen kann, dass man fernsieht. Wenn aber der übergeordnete Rahmen ‹Kino› selbst bei Fernsehausstrahlungen von Kinofilmen stärker bleibt als der Rahmen ‹Fernsehen›, leuchtet auch ein, wie und inwiefern cinematic television als örtliche und diskursive Nobilitierung des Fernsehens durch das Kino verstanden werden kann. Der Begriff bezeichnet aber neben der medialen Örtlichkeit der Aufführung auch eine textuelle Praxis. Simon Rothöhler weist darauf hin, dass «Cinematic Television» eine Formel ist, «die der Sender AMC von Beginn an offensiv im Marketing der Serie Mad Men eingesetzt hat, um eine ästhetische Differenz zu markieren» (2009, 65). Für bestimmte Fernsehpraxen dient der Bezug zum Kino – zumindest auf den ersten Blick – als Qualitätsreferenz, als Kürzel für hohen production value, für aufwendige Inszenierung und eine Liebe zum Detail, die man sonst vom Fernsehen nicht gewohnt ist. Die bis dato in vier Staffeln vorliegende Serie Mad Men – erdacht, geschrieben und für AMC produziert von Matthew Weiner, einem der Drehbuchautoren der bahnbrechenden Mafia-Serie The Sopranos (HBO, USA 1999–2007) –, ist ein Kostümdrama über eine New Yorker Werbeagentur an der Schwelle zu den «Sixties». Der Titel, so informiert uns ein Textinsert am Beginn der ersten Folge, greift die Selbstkennzeichnung der Protagonisten der Werbeindustrie auf, die ihre Büros an der MADison Avenue hatten und auch als ein wenig suspekt galten,
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als durchtriebene Manipulatoren und Strippenzieher der sich entfaltenden Konsumgesellschaft. Cinematic ist an der Serie auf den ersten Blick ihre Ästhetik, ihr Look, die Art und Weise, wie Figuren im Raum stehen, wie Blickachsen inszeniert sind, der gesamte visual style – doch dazu später mehr. Als Vertriebslabel schließt cinematic television an einen bekannten Slogan aus der Vermarktung des Quality TV an, der vom Kabelkanal Home Box Office (HBO), einer Tochterfirma von Time Warner, in den 1980er Jahren eingesetzt wurde: «It’s not TV, it’s HBO».1 Quality TV wurde als Kategorie der Fernsehästhetik von der amerikanischen Fernsehwissenschaftlerin Jane Feuer in die Diskussion eingeführt und diente zunächst als Begriff für Serien der Produktionsfirma MTM, die zum Zweck der Bindung eines ‹Qualitätspublikums› bewusste Anleihen bei hegemonialen Kunstformen machten. Insbesondere die Fernsehserien (TV Dramas) Lou Grant und Hill Street Blues dienten Feuer et al. als Anschauungsmaterial, doch der quality style von MTM ist herausragendes Merkmal aller Produkte der Firma, also auch der Fernsehfilme und anderer Programmtypen wie der Variety Specials. Quality TV weist zudem eine doppelbödige politisch-demografische Adressierung auf: Es richtet sich an ein linksliberales Publikum, dem es durch den Einbau reflexiver Momente das Angebot eines distinktionsträchtigen Fernseherlebnisses ohne schlechtes Gewissen macht: Quality TV is liberal TV. Given its institutional constraints and its entertainment function, one cannot expect American television to take self-criticism to the level of a Godard film. Yet both MTM and Godard gear their discourse to an assumed audience. [...] In interpreting an MTM programme as a quality programme, the quality audience is permitted to enjoy a form of television which is seen as more literate, more stylistically complex , and more psychologically ‹deep› than ordinary TV fare. The quality audience gets to separate itself from the mass audience and can watch TV without guilt, and without realising that the double-edged discourse they are getting is also ordinary TV. (Feuer 1984, 56)
Der Stil bringt ein Publikum hervor, das sich über eine auf diesen Stil gerichtete Rezeptionsweise distinguiert: Wenn man den Begriff Quality TV so liest wie Feuer, erübrigt sich eine weitere Kritik an der ästhetischen Wertung, die er impliziert. Durchgesetzt hat sich aber – ungeachtet der Diffe1
Mit diesem, in der Fernsehforschung oft zitierten Slogan versuchte der amerikanische Sender seine Produkte vom übrigen Fernsehen abzuheben, und zwar schlicht und einfach über eine Differenzbehauptung. Diese Rhetorik könnte HBO von Robert Thompson entliehen haben, der – siehe das Zitat weiter unten – Quality TV als «nicht normales» Fernsehen ‹definierte›.
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renzierungsarbeit, die Feuer geleistet hat – gerade das affirmative Verständnis des Begriffs. Dies verdankt sich vor allem Richard Thompsons Beitrag zum Thema. In Television’s Second Golden Age (1996) benutzt er Quality TV als Beschreibungsmerkmal für eine neue Fernsehästhetik, die sich in den 1980er Jahren durchsetzt und die für ihn in Abgrenzung zum ‹normalen› Fernsehen Profil gewinnt: «Quality TV is best defined by what it is not. It is not ‹regular› TV» (Thompson 1996, 13). Hill Street Blues, St. Elsewhere und thirtysomething, später The West Wing, Friends, The Simpsons oder Six Feet Under, The Sopranos, In Treatment und The Wire, True Blood, Breaking Bad, Big Love, Mad Men sind im Sinne Thompsons ‹besonderes› Fernsehen, womit er – durchaus in dem von Feuer kritisierten Sinne – auch eine Klassendistinktion ins Spiel bringt. Während Reality-TVProgramme als ‹Normalfernsehen› für die Unterschicht gelten, ermöglicht Quality TV überhaupt erst die quality audience, eine fernsehende gebildete Mittel- und Oberschicht. Dieser Klassenaspekt wird noch zu thematisieren sein. Festzuhalten ist, dass die kritischen Lesarten der ursprünglich als neutral intendierten Formel Quality TV in den letzten Jahren zahlreicher geworden sind, sodass die problematischen Implikationen des Begriffs in der kritischen Diskussion nicht mehr ausgeblendet werden.2 Die Versuchung liegt nun nahe, cinematic television als eine unproblematischere, weil vermeintlich weniger stark wertende Fortsetzung des Quality-TV-Begriffs zu denken, oder aber als Steigerung und Überhöhung, als ‹Quality-Variante des Quality TV›, als Fernsehen, das nicht nur Normalfernsehen, sondern auch das Quality TV transzendiert. Die eigene extraordinariness des cinematic television könnte man selbstverständlich auch über die Rezeptionspraktiken bestimmen, die sich insbesondere außerhalb der USA entwickelt haben, das heißt außerhalb des Sendegebiets der produzierenden Sender. Tatsächlich hat sich die Rezeption von cinematic television von der Konsumation des Fernsehens im Alltagszusammenhang weit entfernt, und damit auch von seiner oft proklamierten und ob ihres Verschwindens mittlerweile auch kritisch betrauerten everyday-ness (vgl. Schwaab 2010). In Europa schaut man sich cinematic television nicht im Fernsehen an, sondern als (illegaler) Download oder (aus zumeist dubiosen Quellen akquirierter) Computerstream. Ferner wird es gekauft, getauscht, verschenkt, verliehen, als DVD-Box aus dem regulären Handel oder als Raubkopie und von eingeschworenen Fangruppen gemeinsam geschaut – zumindest in manchen mir bekannten Kreisen.3 Klassische 2 3
Einschlägig ist hier insbesondere die Tagungspublikation der Dubliner 2003-Konferenz Quality TV. Contemporary American Television and Beyond; vgl. McCabe/Akass. Die von Jackie Stacey für weibliche Kinofans beschriebenen Aneignungsstrategien können bei diesen Screenings zum Einsatz kommen: Kostümierung, Styling, das
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Elemente des Fernsehkonsums wie dessen Strukturierung durch feststehende Programmschienen, Senderkontexte oder die Beiläufigkeit, mit der Fernsehen schließlich wahrgenommen wird, fallen hier weg. Weder beim Zappen noch durch das Studium der Programmzeitschrift stößt man außerhalb der USA auf Mad Men. Doch wie bestimmt sich die cinematicity des cinematic television jenseits solcher Rezeptionsweisen? Für Simon Rothöhler ist cinematic television kinohaft, insofern darin das Kino als medialer Resonanzraum auftritt. So funktioniere in Mad Men das Kino als «Durchlauferhitzer» (Rothöhler 2009, 65) für die visuelle Rekonstruktion einer Epoche – der 60er Jahre. Was wir von dieser Epoche wissen, wissen wir in erster Linie aus dem Kino, und auf dessen emblematische Bilder greift Mad Men zurück, um als period picture bestehen zu können. Cinematic television wäre demnach die Remediatisierungspraxis, mit der das Fernsehen die Bilder, die uns das Kino von einer bestimmten Zeit an die Hand/an das Auge gegeben hat, ‹nachstellt›, sie von einem Medium in ein anderes überführt (ibid.). Wir hätten es demnach einfach mit einem Sonderfall des allgemeinen Prozesses der Remediatisierung im Sinne von Bolter und Grusin zu tun, dem zufolge jedes Medium immer die Fassung eines anderen ist (Bolter/Grusin 2004, 15). Ich möchte hier jedoch einen anderen Ansatz verfolgen. Mein Vorschlag lautet, cinematic television als Denkmodell zu behandeln, um die Vermittlung filmischen Wissens im Fernsehen zu verorten. In einem solchen Modell ist das Verhältnis von Kino(haftigkeit) und Televisivität4 nicht als ein hierarchisches zu denken. Vielmehr benennt es eine epistemologische Funktion. Cinematic television ist demnach als Ort einer Art Mittelerfahrung zwischen Film und Fernsehen zu modellieren, eine Mittelerfahrung, die sich mit Foucault als Spiegel denken lässt. In seinem kurzen Text «Andere Räume» (1990) entwickelt Foucault die Idee der «heterotopen Räume», die im Gegensatz zum nicht-gegenständlichen Raum der Utopie, des Nicht-Orts, konkretisierbar sind, Form annehmen als gewissermaßen realisierte Utopien:
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Nachkochen von serientypischen Rezepten, das Mixen der Lieblingscocktails der Protagonisten. In diesem Zusammenhang möchte ich ‹meiner› Mad-Men-Gemeinschaft Franz Ellinger, Christiane Erharter, Michaela Moser und Isabella Reicher diesen Text widmen; vgl. Stacey 1994. Im Unterschied zu Televisualität (nach Caldwell, siehe weiter unten) bezeichnet Televisivität in Analogie zum «Kinohaften» das «Fernsehhafte», also mediale Konzepte, die dem Fernsehen zugeschrieben werden. Engell und Fahle nennen etwa Bild, Ereignis und Serie als die drei Leitkonzepte des fernsehspezifischen «Denkens» (im Sinne eines Sinnmachens); vgl. Fahle 2006, 203.
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Die Utopien sind die Platzierungen ohne wirklichen Ort: die Platzierungen, die mit dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten. Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume. Es gibt gleichfalls [...] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien. (ibid., 39)
Heterotopien funktionieren als Hybridräume, als Übergänge, als Reiniger und Überführer, als Anders-Orte der Gesellschaft eben: Gefängnisse, psychiatrische Kliniken, Friedhöfe, Schiffe, Bibliotheken, Gärten, Festwiesen, Ferienanlagen und Bordelle. Heterotopien sind aber nicht nur reale geografische Orte, sie sind durchaus auch als «Fixpunkte des sozial Imaginären» (Warning 2004, 89) zu verstehen. So hat Rainer Warning neben der Literatur auch das Spiel im Theater als heterotopen Wahrnehmungsraum gefasst, und es scheint naheliegend, den Film und das Fernsehen in diese Erweiterung einzubeziehen. Ohne eine Ontologisierung betreiben zu wollen, könnte man das Verhältnis zwischen Utopie und Heterotopie als Heuristik für eine Diskussion des Verhältnisses von Film und Fernsehen verwenden, insbesondere wenn es um cinematic television geht, das als ‹Mittelerfahrung› besprochen werden könnte. Denn auch zwischen Utopien und Heterotopien gibt es, so Foucault, einen Mischort, eine Art der Mittelerfahrung: Der Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken lässt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. (Foucault 1990, 39)
Analog dazu zeigt cinematic television das Kino an einem Ort, an dem es nicht ist. Das Fernsehen gibt dem Kino in diesem Sinne den Status einer Utopie, es lässt den Film mit den eigenen Mitteln auf sich selbst blicken. Foucault weiter: Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin,
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da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. (ibid.)
In der Analogie heißt das: cinematic television ist auch Heterotopie, es lässt Film an einem Ort stattfinden, der gewissermaßen wirklich existiert. Denn im Gegensatz zum Kino, das seine Apparatur unsichtbar macht und sich nur über die ephemere Projektion materialisiert, findet cinematic television im Fernsehgerät eine Konkretisierung. Auch könnte man sagen, dass in der televisiven Erinnerung des Kinos letzteres eine Art Konkretisierung erfährt. Der Medienwechsel gibt dem Kino den Status des ‹StattgefundenHabens› und bescheinigt ihm somit eine übermediale Existenzweise. Ein letztes Mal Foucault: Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, dass er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und dass er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist. (ibid.)
Cinematic television soll im Folgenden in diesem Sinne als Spiegel gedacht werden, in dem sich das Utopische, Nicht-Materielle und Un-Verortbare des Kinos mit dem wirklichen, wirksamen Ort des Fernsehens vermischt; ein Spiegel, in dem das eine in seiner Kinohaftigkeit zutage tritt, um gleichzeitig in der Televisualität des anderen zu verschwinden. Cinematic television ermöglicht es in dieser Analogie, das Fernsehen mit seinem potenziellen Gegenwarts- und Realitätsbezug (live! reality!) als Widerlager, als tatsächlich realisierte Utopie zu denken. Es ist, so meine ich, eine Funktion des Fernsehens und des Kinos zugleich, eine Funktion, die die spezifische Wissensformationen des Films zutage fördert und dabei den Ort des Fernsehens als Raum eröffnet. Im Spiegelstadium des cinematic television lässt sich, mit Lacan gedacht, jener Moment der Subjektkonstitution (von Film und Fernsehen) beobachten, der von einer Erkenntnis geprägt ist, die eigentlich, wir wissen es, eine folgenschwere Verkennung darstellt: Das Selbst erscheint in seiner zweidimensionalen Spiegelung vollkommener als das Ich, die eigene, noch von Koordinationsschwierigkeiten und Unvollständigkeiten geprägte Körperwahrnehmung. Die visuelle Erkenntnis im Spiegel produziert ein Begehren nach dem Ideal, eine Bewegung, die fortan unsere Beziehungsgefüge prägen wird (vgl. Lacan 1991). In diesem Moment des Spiegelstadiums wird jedoch auch klar, dass das Subjekt immer geprägt sein wird von Fragmentierung, bedroht von Desintegration.
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Wollen wir die Analogie weiterführen, dann soll hier durchaus nicht behauptet werden, dass Film und Fernsehen im Spiegel des cinematic television eine Subjekthaftigkeit erlangen, die prä-postmoderne Züge trägt. Vielmehr möchte ich argumentieren, dass im spiegelnden cinematic television die Medialität des Kinohaften studiert werden kann. Im Spiegel des cinematic television tritt der Film auf; ein Auftreten, das jedoch als idealhafte Täuschung gelesen werden muss. In dieser Denkfigur erlangt weder der Film noch das Fernsehen Subjektstatus (Medium-Sein). Vielmehr durchläuft sowohl das Kino als auch das Fernsehen einen Prozess der Überführung (des jeweils einen ins jeweils andere) an diesem heterotopen Ort des cinematic television (Medium-Werden).
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Typologie der Wissensformationen zu tun noch um eine Kriteriologie ihrer Definition. Was mich interessiert, ist die Frage, wie diese Formationen filmisches Wissen am Ort des cinematic television konstituieren und wie sie dieses als Ort filmischen Wissens konstituieren. Drei Wissensformationen von cinematic television Referenzialität
Was ist filmisches Wissen? Es sollte damit auch klar geworden sein, dass es mir weder um filmisches Wissen im Sinne von Wissen über Film (sei es enzyklopädisch, historisch oder phänomenologisch) noch um Wissen im Sinne eines vom Film vermittelten Faktenwissens geht, zumindest nicht in der Hauptsache. Mir geht es vielmehr darum, filmisches Wissen als Denkweise zu fassen und ausgewählte Konventionen des Films in Wissensformationen zusammenzufassen. ‹Filmisches Wissen› bezeichnet hier die Art und Weise, wie im Rahmen des Mediums gedacht werden kann, wobei ‹denken› mehr meint als ‹zeigen›: zur Gestaltetheit dessen, was im Film vermittelt wird (das Semiotische), kommt in der Analyse des Films als ‹Wissen› eine Reflexion des Medialen hinzu. Eine Filmanalyse wird erweitert mit einer Explikation der Verfasstheit des filmischen Denkens. Anhand meines Beispiels des cinematic television verpflichtet sich die Filmanalyse als Werkzeug der Wissensproduktion dazu, das Changieren der Wissensformationen, der Denkmodelle (zum Beispiel jenem der Geschlechterdifferenz) zwischen Televisivität und Kinematizität in der Serie Mad Men herauszupräparieren. Cinematic television präsentiert als Mittler zwischen Fernsehen und Film einen Analysefall, der es ermöglicht, das filmische Wissen vor dem Hintergrund des televisiven Denkens erfahrbar zu machen. Im Folgenden möchte ich mich auf drei Formationen des filmischen Wissens in Mad Men konzentrieren. Diese Formationen sind zugegebenermaßen heterogen. Sie haben unterschiedlichen Generalisierungsanspruch, das heißt sie finden sich in unterschiedlichen Graden im cinematic television außerhalb meines konkreten Beispiels wieder, und sie haben unterschiedlichen Theoriestatus, das heißt die Begriffe, mit denen sie sich fassen lassen, sind unterschiedlich etabliert: Teils handelt es sich um nachgerade kanonische Konzepte, teils nicht. Es ist mir überdies weder um eine
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Referenzialität gewinnt in Mad Men auf vielfältige Weise Gestalt, beispielsweise als klassische ‹Intertextualität› respektive ‹Intermedialität›. Schon der Titelvorspann enthält eine Vielzahl von Bezugnahmen auf Film, Musik und Grafikdesign der 1960er Jahre, die in der Analyse erst noch abgearbeitet werden müssen; von besonderer Raffinesse ist dabei die Anverwandlung von Saul Bass’ berühmter Titelsequenz für Hitchcocks Spionage-ThrillerGroteske North by Northwest (Der unsichtbare Dritte; USA 1959) Allerdings geht Referenzialität in Mad Men über jene Zurschaustellung kanonischen Kunst-Wissens weit hinaus, die Jane Feuer schon als eine der zentralen Strategien von Quality TV benannt hatte. Mad Men markiert, wie Bert Rebhandl (2009) schreibt, die Stunde Null unserer Zeitrechnung. An der Schwelle zu den 1960er Jahren setzen die Problematisierung von Kapitalismus und Konsumerismus und die damit verbundenen Nachhaltigkeits- und Umweltdebatten ein, während Rassismus, Sexismus, Antisemitismus ebenfalls schrittweise zum Anlass öffentlicher Diskussionen werden. Wie verschiedentlich schon angemerkt wurde, besteht die Strategie der Produzenten nun nicht darin, die Serie historisch zu verorten,
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indem alle diese Dinge offen und direkt thematisiert werden. Im Gegenteil: Im Grunde ist erstaunlich, wie peripher ein Phänomen wie die Bürgerrechtsbewegung im amerikanischen Süden, die heute zu den zentralen Ereignissen und Entwicklungen der 1950er Jahre gezählt wird, in der Serie vorkommt. Um den historischen Ort der Erzählung möglichst genau zu bestimmen, wählt Mad Men also nicht das Register der zeithistorischen Chronik, sondern zwei andere Strategien: Erstens das, was seit der Arbeit des Designers und Bildgestalters William Cameron Menzies für Gone with the Wind in der Hollywood-Fachsprache production design heißt (vgl. Vertrees 1997), also die Kontrolle des Ensembles von Ausstattung, Bildgestaltung und grafischen Elementen eines Films oder einer Serie, und zweitens ein historisches product placement, also die Integration historischer Produkte und ihrer epochenadäquaten Designformen ins Design, wie sie Jan Teurlings für Mad Men bereits analysiert hat (zit. in Jahn-Sudmann/Stauff 2010). Beide Strategien – ein stilsicheres production design und ein historisches product placement – werden im Titelvorspann gleich einer Grammatik ausgelegt. Die Linienführung der Grafik, ferner Farbgestaltung, Typografie, das stilisierte Dekor und die signethafte, entlang einer Hochkratzerfassade in die Tiefe fallende Silhouettenfigur spielen auf eine grafische Mode der 1950er und 1960er Jahr an, während die geigenlastige Instrumentierung des musical score, die an Bernard Herrmann erinnert, unseren Fundus an Filmwissen der 1960er Jahre aufruft. Darüber hinaus führt die Präsentation der Werbeposter im Vorspann ein Verfahren ein, welches für die Serie wesentlich werden wird. Sie schlüsselt das Leben ihrer Figuren über gut recherchierte Geschichten von tatsächlichen und fingierten Werbekampagnen auf und rekonstruiert die Markteinführung einer Reihe von Produkten, die sich nicht zuletzt über ikonische Werbekampagnen in die US-amerikanische Konsumkultur und schließlich darüber hinaus auch ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben. Die Pilotfolge der Serie entfaltet diese narrative Strategie in paradigmatischer Weise. Erzählt wird die Geschichte eines ikonischen Produkts, der Zigarettenmarke Lucky Strike, die für die Agentur in Mad Men, die zu den mittelgroßen Playern der Werbeindustrie zählt, ein äußerst wichtiger Kunde ist. Thema ist die zu Beginn der 1960er neu entdeckte Gesundheitsschädlichkeit von Nikotin, die durch Publikationen in Reader’s Digest und anderen Medien allgemein bekannt geworden ist. Wie verkauft man unter diesen Umständen Zigaretten? In einer glücklichen Eingebung, einem lucky strike, wie er in den folgenden Episoden der Serie immer wieder vorkommt, eröffnet die Hauptfigur Don Draper, der creative director von Sterling Cooper Associates, einen vollkommen neuen Weg der Tabakwerbung: «It’s toasted» – das heißt, der Tabak ist geröstet und damit geschmacksintensiv
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gemacht –, so lautet der neue Slogan für Lucky Strike. Es ist ein Slogan, der damit rechnet, dass Raucher nicht auf die Schädlichkeit ihres Vergnügens angesprochen werden wollen, sondern auf seine Genussmomente, und der sich auf diese Weise klug um verlogene Gesundheitsclaims herummogelt. Die Entfaltung dieser Episoden-Story entwickelt eine Art Diskursanalyse des Zigarettenrauchens. In einem Planting5, das auf Wiederaufnahme und Verwendung des Motivs in kommenden Folgen angelegt ist, werden diverse Elemente des Diskurses zum Rauchen zusammengetragen; ein Verfahren, das eine Vielzahl von Kleinst-Handlungsbögen für die bislang vorgelegten Serien liefert. Das aus heutiger Perspektive lebensverachtende Kettenrauchen, das in Mad Men Executives und Kellner, moderne CarreerGirls und von Kindern umringte Mütter, Lehrerinnen und Schwangere ebenso wie Gynäkologen während der Untersuchung pflegen und das sich in einer Vielzahl an ausdifferenzierten Gesten des Zigarettenanzündens, Abäscherns, Raucheinsaugens und -ausblasens etc. zeigt, schließt als alles durchdringende Kulturtechnik den historischen Moment auf, den Mad Men umkreist. «Wahrhafte Erinnerungen», so Walter Benjamin im Denkbild «Ausgraben und Erinnern», «müssen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde» (Benjamin 1994). Mad Men bezeichnet diesen Ort der Erinnerung über ikonische Produkte und die aufs Präziseste, auf einer Ebene des alltäglichen Details durchgestaltete Rekonstruktion der Lebenszusammenhänge, in denen sie zirkulieren. Das Rauchen, im Titelvorspann exponiert und im Pilot der Serie anhand der Marke Lucky Strike zur Produktgeschichte entwickelt, wird so zu einer Art historischem Fetisch: Einem Statthalter für den Ort der Erinnerung, an dem wir als Zuschauer einer historischen Erfahrung habhaft werden, als wäre sie unsere eigene Erinnerung. Visual style David Bordwells Modell von visual style ermöglicht eine medienspezifische Verortung von ‹Stil› im System der filmischen Narration. Während unter Syuzhet der abstrakte, medienunabhängige Bauplan verstanden wird, nach dem die Elemente der Fabel arrangiert sind, bezeichnet «Style» jenes System, das die filmischen Mittel mobilisiert, um die Fabel nach dem Syuzhet umzusetzen. Das Syuzhet steht für den Film als «dramaturgischer» Prozess, der Stil für den Film als «technischer» Prozess. Anhand bestimmter Verfahrensweisen, die sich in Kameraarbeit, Montage, Ton und Mise-en-Scène bündeln, differenziert der Film über seine Geschichte 5
Zum ‹Planting› im Film (aber nicht im TV-Serien-Anfang) vgl. etwa Britta Hartmann 2009.
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hinweg und zu bestimmten historischen Zeitpunkten spezifische Stilmittel aus, die ihn als Film erkennbar machen (vgl. Bordwell/Staiger/Thompson 1985). Das und wie dieser Film-Stil auch im Fernsehen zum Einsatz kommt, wissen wir seit John Caldwell. «Performance of style» nennt der Fernsehtheoretiker 1995 das Nachahmen medialer Stile des Fernsehens ab den 1980er Jahren, wobei die «Ausübung von Stilen» neben dem filmischen auch den videografischen und digitalen Stil der Darstellung umfasst (Caldwell 2002). Das Fernsehen betreibt diese performance anverwandelter Stile in solchem Ausmaß, dass man von einer fürs Fernsehen bestimmten und dieses kennzeichnenden Visualität im Grunde gar nicht sprechen kann. Entsprechend halten Ralf Adelmann und Markus Stauff fest, dass «das, was im Fernsehen sichtbar wird, immer in Kopplung an andere Medien und an den von diesen typisierten Visualisierungen sichtbar wird» (Adelmann/ Stauff 2006, 69). Auf der Ebene des visuellen Stils macht Mad Men also nichts, was Fernsehen nicht schon immer betrieben hätte: Lange Kamerafahrten, filmtypische Kadrierung, explizite Kamerabewegungen; Ästhetik des verzögerten Schnitts, Einsatz von Mastershots, etwa am Episodenende, sind alles gängige Verfahren des etablierten Filmstils des MainstreamErzählkinos, ebenso wie das bereits erwähnte production design, das neben hohen production values und einer sorgfältigen Ausstattung ein ausgeklügeltes, vor allem Alltagslichtquellen verwendendes Beleuchtungssystem umfasst.6 Ebenfalls dem Repertoire einer anspruchsvollen Filmstilistik entsprechen Schauspiel und Schauspielerführung: zurückgenommene, elaborierte Diktion, Aufmerksamkeit gegenüber Subtext, Details, Pausen, Gestik, Mimik, Hand- und Körperbewegungen. Cinematic television wäre demnach einfach gehobener filmischer Stil im Fernsehen. Meine These lautet indes, dass die Performanz des filmischen visual style in Mad Men eine Funktionalität des Stils hervorhebt, die im Kino so nicht sichtbar wird. Denn Stil ist hier nicht einfach das technische System, das das Suyzhet umsetzt. Der filmische visual style in Mad Men verweist zum einen auf sich selbst, und im Modus dieser Selbstreferenz markiert er die Serie eben als cinematic television und somit als gattungsspezifisch vermarktbares Produkt. Zugleich aber bildet der visual style in Mad Men die Grundlage für einen Aspekt des Fernsehens, der ihm ganz grundlegend zukommt: seine Serialität, die ja nicht nur eine Form der rekursiven Fortsetzung narrativer Verlaufsmuster ist, sondern Rekursionen auf mehreren Ebenen, namentlich eben auch auf der Ebene des Stils voraussetzt. Wenn 6
Vgl. die Beschreibung des Lichteinsatzes am Set von Mad Men durch den DOP Phil Abraham in: Feld/Oppenheimer/Statsukevich 2008.
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sich aber cinematic television von herkömmlichem Fernsehen durch die hohe Komplexität der Handlungs- und Figurenbögen unterscheidet, die über viele Folgen und teilweise über mehrere Staffeln hinweg systematisch entwickelt werden, dann bildet ein visual style, der einen unifokalen, aufmerksamen Blick erfordert, wie er sonst im Kino vorausgesetzt werden kann, mit eine Voraussetzung für das Zustandekommen und das Gelingen dieser komplexen Erzähleinsätze. Das Zusammenfallen eines kinospezifischen visual style mit der für das Fernsehen so typischen, weil in dessen spezifischer Zeitlichkeit verankerten seriellen Erzählstruktur lässt im cinematic television zugespitzt von einem kinohaften Fernsehspezifischen sprechen. Die Pilotfolge von Mad Men endet mit einer Überraschung. Nachdem wir den Protagonisten, Don Draper, in den vorhergehenden Szenen einen ganz gewöhnlichen Arbeitstag haben absolvieren sehen – mit Meetings, einem kurzen Ausflug zu seiner Geliebten, einer Bohémienne im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village, einem Treffen mit einer neuen Kundin, der jüdischen Kaufhauserbin Rachel Menken, die auch sein erotisches Interesse weckt, einem three martini lunch – sehen wir unversehens, wie der weltläufige creative director am Abend in ein Haus zurückkehrt, in dem eine klassische Kleinfamilie auf ihn wartet: Eine attraktive blonde Frau, zwei kleine Kinder, ein Hund, und das Ganze in einem schönen Vorstadtgarten. Gerade das Aufeinandertreffen mit der neuen Kundin Rachel Menken erweist sich retrospektiv als falsche Fährte oder zumindest als dramaturgisch höchst eindrucksvoll inszenierte Vorbereitung auf die Entfaltung einer anderen Dimension der Figur. Zu den zahlreichen Ambivalenzen, die in Don Draper während der ersten 43 Minuten des Pilots angelegt wurden, kommt damit eine weitere hinzu:
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Im Zentrum dieser Einstellungsfolge steht ein two-shot von Betty, Dons Frau, und Don, der bei den schlafenden Kindern kniet. Während Betty gerührt auf einen Ehemann blickt, der nach harter Arbeit vor dem Schlafengehen Ruhe und Einkehr bei seinen Kindern sucht, gibt uns Dons Blick in die Ferne Rätsel auf. Will er, angesichts des Friedens, den ihm diese häusliche
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Anordnung zu geben scheint, sein kompliziertes Doppelleben in der Stadt aufgeben? Drückt dieser Blick sein schlechtes Gewissen aus? Will er Betty verlassen, und erhaschen wir noch einen letzten Blick auf diese Familie, bevor sie zerfällt? Betty steht im Türrahmen, sie ist – um mit Tania Modleskis Hinweis auf die Doppeldeutigkeit des Wortes im Amerikanischen zu sprechen7 – framed, sie ist die ‹Reingelegte›, die Betrogene. Ihr Blick auf Dons Hinterkopf ist eine Resonanz der allerersten Einstellung der Pilotfolge: Diese Heranfahrt der Kamera an Dons Hinterkopf versetzte die Zuschauer proleptisch und auf der Bildebene in die Position, in der Betty in den nächsten Folgen der Serie immer wieder sein wird: Wer kann schon wissen, was in diesem Mann vorgeht, wer dieser Mann 7–9 ist? Der nachfolgende two-shot von Betty und Don, die zweitletzte Einstellung der Folge, ist Teil einer Kamerabewegung, die in eine Totale des Hauses überblendet wird. Untersicht ist auch hier – wie übrigens an vielen anderen Stellen der Serie – der Kamerawinkel der Wahl. Das Haus erscheint unheimlich, die Musiknummer aus My Fair Lady, in der vom absoluten Liebesglück beim bloßen Anblick der Straße, in der die Angebetete wohnt, die Rede ist, wird durch die Einstellung in ihrer eigentlichen Bedeutung unterlaufen. Die eingesetzten Mittel sind dem visuellen und auditiven Stil des Kinos entlehnt: elaborierte Kamerabewegung, Re-Kadrierung, symbolistische Bildgestaltung. Zugleich handelt es sich bei diesem Ende um einen Cliffhanger, einem vor allem für die Fernsehserie charakteristischen narrativen Element. Cinematic television meint hier: ein Stück Fernsehen, das als Fernsehen nur funktioniert, weil es mit den stilistischen Mitteln des Kinos realisiert ist. 7
Modleski (1988) entwickelt dieses Wortspiel in ihrer Re-Vision von Laura Mulveys Analyse von Vertigo. Die Rahmung des männlichen Protagonisten inszeniere diesen bereits im ersten Teil des Films als Opfer; die Frau komme damit aus der Opferrolle in die Rolle einer Täterin.
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Figuren im Raum Die vielschichtigen, sich überlappenden Erzählstränge des cinematic television sind das Produkt der spezifischen Zeitlichkeit des seriellen Erzählens und des Einsatzes in seinem Zusammenspiel mit – oder in der Spiegelung von – einem visual style, der dem Kino entlehnt ist. Eine zentrale Rolle kommt hierbei der Gestaltung der Figuren zu, die im Falle von Mad Men in der erzählten biografischen Zeit, die etwa den dreizehn Wochen entspricht, die eine Staffel mit dreizehn Folgen jeweils dauert, fast ausnahmslos große Entwicklungen durchlaufen. Dieses Potenzial, Figuren über lange diegetische, erzählzeitliche Strecken große Entwicklungen durchlaufen zu lassen, wird von Serien sehr unterschiedlich genützt. So sind die Figuren der HBO-Serie True Blood (Alan Ball, 3 Staffeln, USA 2008–) psychologisch wenig wandlungsfähig, und das Drama entwickelt sich daraus, dass diese affektive und intellektuelle Stasis wechselnden Umständen ausgesetzt wird (die naiv wirkende Integrität und vorurteilsfreie Liebesfähigkeit der Barfrau Sookie Stackhouse ist immer größeren Prüfungen durch Vampire, Shape-Shifters, Menarden etc. ausgesetzt), während AMCs Erfolgsserie Breaking Bad (Vince Gilligan, 2 Staffeln, USA 2008–) mit dem spießigen Chemielehrer-turned-Drogenproduzenten Walt White eine Figur ins Zentrum stellt, deren Wandlung kaum größer sein könnte. Die Figuren von Mad Men wiederum sind Agenten soziokultureller und politischer Entwicklungen, und zugleich stehen sie unablässig vor der Herausforderung, ihre Vorstellungen und Werte den Umständen angleichen zu müssen. Politischer Kontext und individuelle Schicksale werden verknüpft, die Auswirkungen des um sich greifenden Materialismus der Konsumkultur auf tradierte Wertvorstellungen sowie Familien- und Gesellschaftsstrukturen werden an den Figuren durchgespielt, wobei dem Wandel der Geschlechterkonstruktionen in Mad Men besondere Bedeutung zukommt (vgl. Trbic 10–12
288 Der Film vermittelt sich selbst
2009, 79). Anhand des Dialogs, der zwei zentrale weibliche Figuren einführt – Büroleiterin Joan Holloway und die neu angestellte Schreibkraft Peggy Olson – lässt sich zeigen, aus wie vielen verschiedenen Perspektiven die Performativität von Weiblichkeit am historisch-geografischen Nexus von Mad Men angelegt wird. Now this is the executive floor. It should be organised, but it’s not, so you’ll find account executives and creative executives all mixed together. Don’t ask me the difference. Peggy: Great. Joan: Hopefully, if you follow my lead, you can avoid some of the mistakes I’ve made here. (Man greets Joan and looks at her longingly) Joan (to Peggy): Like that one. So how many trains did it take you? Peggy: Only one, but I got up very early. Joan: In a couple of years, with the right moves, you’ll be in the city with the rest of us. Of course, if you really make the right moves, you’ll be out in the country, and you won’t be going to work at all. [...] I don’t know what your goals are, but don’t overdo it with the perfume. Keep a fifth of something in your desk. Mr. Draper drinks rye. Also, invest in some Aspirin, Band-aids, and a needle and a thread. Peggy: Rye is Canadian, right? Joan: You better find out! He may act like he wants a secretary, but most of the time they are looking for something between a mother and a waitress. And the rest of the time... Well... Go home, take a paper bag, and cut some eyeholes out of it. Put it over your head, get undressed, and look yourself in the mirror. Really evaluate where your strengths and weaknesses are, and be honest. Peggy: I’m always honest.8 Joan:
Der Auftritt der beiden Frauen – Peggy Olsen und Joan Holloway – ist, narratologisch gesprochen, Teil der Exposition. Er betreibt Plantings («wenn du dich richtig verhältst, kannst du es weit bringen») und charakterisiert in höchst effizienter Weise zwei der ProtagonistInnen durch Kostüm, Gestik, Sprechweise, Mimik und differenzierende Gender-Performances. Die Figuren werden jedoch gleichzeitig in einem großen Erzähluniversum situiert. In weniger als zwei Minuten skizziert die Szene die kapitalistische Männerherrschaft mit all ihren fatalen Widersprüchen, Ambivalenzen und möglichen Fallstricken aus weiblicher Perspektive. Am Ende des Dialogs stehen die patriarchalen Eckpfeiler der erzählten Welt. 8
Dialog nach den Untertiteln für Gehörgeschädigte. Smoke gets in your Eyes (Alan Taylor, AMC, USA 2007), Min. 07:00–09:25.
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Diese Setzung eines weiblichen Blicks auf den Ort der Handlung gleich zu Beginn etabliert das Büro der Werbeagentur als heterotopen Doppelort: Aus der Perspektive der männlichen Figuren erscheint die Werbeagentur als konkretisierte Utopie des sozialen Aufstiegs, an dem Konsumrausch, kreativer Höhenflug und ökonomische Belohnung aufs Vielversprechendste ineinander greifen. Zudem ist die Agentur ein Widerlager zu Haus und Herd, ein Ort der (sexuellen) Transgression und der Exzentrik, wie sie etwa in der Figur des Firmeneigentümers, der im Büro einen Zen-Garten unterhält und dessen Besucher ihre Schuhe ausziehen müssen, deutlich wird. Für das männliche Personal hat dieser Ort subversives Potenzial. Selbst der homosexuelle Salvatore kann im Rahmen der Werbeagentur das streng gehütete Geheimnis seiner sexuellen Orientierung bewahren und seine Sexualität teilweise ausleben, wenngleich er in Staffel drei schließlich aus dem heterotopen Garten Eden verbannt wird, nachdem er sich einem Annäherungsversuch des Firmenerbes des LuckyStrike-Imperiums widersetzt hatte. Für die weiblichen Figuren gewinnt der Ort eine gänzlich andere Struktur. Während sich aus Joans Sicht in der Agentur einfach die patriarchalen Mechanismen der Gesellschaft perpetuieren, wird sie für Peggy bald zu dem, was sie auch in den Augen ihrer männlichen Vorgesetzten ist. Sie wird sich mit der Hilfe ihres Mentors Don Draper zur Kreativtexterin hinaufarbeiten und selbst erfahren, was für die Männer der 1960er Jahre selbstverständlich ist: Respekt für berufliche Erfolge, ökonomische Belohnung, Kameraderie mit Kollegen, sexuelle Befreiung. Am Ende der dritten Staffel hat Peggy diesen Status vermeintlich erreicht; sie ist Partnerin einer neu gegründeten Agentur, die Draper zusammen mit Sterling und Cooper gründet. Gleichwohl bleibt sie am Doppelort der Agentur eine Zwischenfigur. Denn für sie wird die Werbeagentur nicht zur Heterotopie werden, vielmehr ermöglicht ihr Blick und ihre Handlungsweise den Blick der Zuschauer auf die Agentur als Widerlager. Der Blick in den Spiegel, den Joan ihrer neuen Mitarbeiterin im ersten Dialog anempfiehlt, könnte metaphorisch auch ein Blick auf den Spiegel sein, in dem die Utopie als Heterotopie manifest wird. Als Mittler zwischen Film und Fernsehen reflektiert cinematic television im Rahmen des Fernsehens den Film – und umgekehrt. Der Film spiegelt sich in Referenzialität, Visualität und Figurengestaltung der cinematic television, und das Kino kann sich in seiner eigenen Abwesenheit im Umfeld des Fernsehens sichtbar machen, ebenso wie das Fernsehen in diesem Spiegelbild in seiner Spezifik erscheint, die zugleich nicht ganz seine Spezifik ist. Filmisches Wissen findet im cinematic television einen Ort der Vermittlung – eine Vermittlung zwischen den Medien, aber auch eine Vermittlung des Medialen und seiner spezifischen Bedeutungskonstitution.
290 Der Film vermittelt sich selbst
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Oliver Fahle
Das Material des Films
1. Wo ist der Film? Die Frage, der zunächst in der Vortragsreihe an der Ruhr-Universität Bochum und schließlich in diesem Band nachgegangen wird, ist die, ob und inwiefern sich der Film verändert, wenn er nicht mehr vorwiegend für das Kino hergestellt wird, wenn er nicht mehr vor allem dort gesehen wird, wenn er vielleicht gar nicht mehr als Film begriffen werden kann, wenn er seiner ursprünglichen Behausung beraubt, also heimatlos und durch verschiedene Anwendungen und Dispositive, durch verschiedene Räume und Hände wandelnd zum identitätslosen Nomaden wird. Bereits die Auseinandersetzungen mit dieser Frage, besonders in den in diesem Band versammelten Beiträgen, fallen unterschiedlich aus. Es zeichnet sich ab, dass mit der aktuellen Problematik eine Diskussion des Films und des Kinos als historische und analytische Gegenstände aufkommt, die wissenschaftlich sichergestellte Tatsachen in Frage stellt. So etwa in der historischen Behauptung, dass der Film gar nicht als Kinophänomen begonnen hat, sondern als mobiles Medium, und gegenwärtig nur eine abgeschnittene Tradition wieder aufnimmt. Oder in der systematischen These, die den Film nicht in die analytische Tradition der analogen technischen Bilder, etwa der Fotografie, einordnet, sondern die time-based media von den pagebased media abgrenzt (wie es Cary Bazalgette vornimmt). Auch wenn weitgehend Einigkeit besteht, dass sich der Film in einem Wandlungsprozess befindet, so sind doch die Dimensionen des Wandels eher unklar. Der Begriff des Ortes bezieht sich auf die Veränderung der Aufführungsorte (DVD, Handy und andere Displays statt Kino und Fernseher) und auf die technischen Dimensionen (digitales und mobiles Herunterladen statt werkhafte Rezeption). Aber inwiefern ändert sich mit diesen neuen Orten auch das filmische Wissen? Sicher scheint zunächst, dass es nicht mehr vorrangig in den Filmen und ihren möglichen Autor-, Werk- oder Genre-Intentionen zu suchen ist, sondern in den Diskursen, die den Film erst konstituieren. Nicht mehr der filmische Text gerät als Ort der Wissensproduktion in den Blick, sondern es sind Diskurse, die uns von so etwas wie Film überhaupt sprechen lassen. In der Filmwissenschaft war
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etwa die New Film History der Auslöser dafür, Filme als Ort der Wechselwirkung verschiedener Diskurse zu begreifen. Auch wenn dies nicht der einzige Ansatz ist, so kann die New Film History doch als stellvertretend für einen Paradigmenwechsel in der Auffassung von filmischem Wissen angesehen werden, da sie die Filmgeschichte an die kritischen und reflexiven Methoden der gegenwärtigen Mediengeschichtsschreibung heranführt. Diese, von Robert C. Allen und Douglas Gomery (1985) aufgebrachte und in ihren Grundzügen inzwischen weitgehend akzeptierte Methode kritisiert die klassische Filmgeschichtsschreibung, indem sie ihr Unwissenschaftlichkeit vorwirft. Die Konzentration auf große Regisseure, der makrohistorische Zugriff, die lineare Konzeption des Geschichtsverlaufs sowie die zweifelhafte Quellenlage, die sich meistens nur aus dem Gedächtnis der Filmhistoriker speist, sind die wesentlichen Punkte der Kritik, die sich an die frühen großen Entwürfe von Geschichtsschreibung richtet, wie sie etwa von Jean Sadoul (1975) bis Jean Mitry (1973) vorgelegt wurden. Dagegen stützt sich die New Film History auf historiografische Methoden, setzt also auf eine verstärkte Archiv- und Quellenarbeit, sieht nicht mehr nur den Regisseur als leitende Figur im Zentrum, verweist auf widersprüchliche und nicht linearisierbare Prozesse des Geschichtsverlaufs, konzentriert sich eher auf Mikrogeschichten, anstatt das große Ganze in den Blick zu nehmen: Kurz: Filmgeschichte verliert den epischen Gestus, wird aber dafür wissenschaftlich korrekt. Zwar handelt es sich hier zunächst nur um eine historiografische Methode, doch strahlt diese Position entscheidend in die Frage hinein, wie filmisches Wissen aufgefasst werden soll. Sie ist also nicht nur von historiografischem Interesse, sondern konfrontiert auch mit theoretischer Positionierung: Unter welchen Gesichtspunkten lässt sich Film analysieren, was bestimmt seine Form, mit welchen anderen Wissensfeldern als nur dem filmischen interferiert er. So kommt Paul Kusters in seinem lesenswerten Aufsatz zur New Film History zu folgender Einschätzung: Film und Kinematographie werden [in der New Film History O.F.] nicht mehr als Filmkunst, sondern als ein offenes System verstanden, das von verschiedenen Faktoren abhängig ist (vgl. Allen/Gomery 1985, 37). Die Ästhetik ist dabei nicht mehr dominierend, geht doch die Erforschung «des» Kinos davon aus, daß soziale, ökonomische, ästhetische und kulturelle Faktoren wirksam sind und sich wechselseitig beeinflussen. Das Kino wird in einen größeren Kontext gestellt. Strukturen und (generative) Mechanismen werden untersucht. Nicht der einzelne Film, Filmemacher oder die einzigartige Erfindung sind von Bedeutung. Die Aufmerksamkeit gilt den Entwicklungslinien und Folgeerscheinungen. Dieser Blickwechsel und das Ziel, die klassischen
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Filmgeschichten neu zu schreiben und ihre Fehler und Mythen zu revidieren (ohne die Bedeutung der klassischen Filmgeschichten dabei in Frage zu stellen): Diese beiden Aspekte sind von nun an kennzeichnend für die Filmgeschichtsschreibung. (Kusters 1996, 49)
Das Anliegen ist klar und verständlich: Die Ästhetik, die durch die Orientierung der klassischen Filmgeschichtsschreibung an Autoren und Werken im Zentrum gestanden hat, wird nun eine Perspektive unter anderen. Wenn Kusters allerdings schreibt, «Ästhetik ist dabei nicht mehr dominierend», will er eigentlich sagen, sie ist den anderen Wissensformen untergeordnet. So wenigstens stellen sich die meisten Arbeiten der New Film History dar. Während die klassischen Filmgeschichten eher die Stile und Ästhetiken im Blick hatten und die ökonomischen, technischen und gesellschaftlichen Aspekte als zwar wichtige, aber für eine Filmgeschichte eben nur randständige Erscheinungen begriffen haben, sucht die New Film History ein Bedingungsverhältnis verschiedener Einflüsse zu beschreiben, in dem die Ästhetik eher eine Folge sich verändernder Kontexte ist (zuletzt etwa Ringler 2009). Damit wird mehr oder weniger deutlich eine Verabschiedung der Ästhetik als filmwissenschaftliche, also als Wissen vom Film generierende, Denkweise eingeleitet. Aber warum sollte man die Ästhetik verabschieden, weil die klassischen Filmgeschichten werk- und autororientierte Makrogeschichte betrieben haben? Müsste es nicht gerade deshalb um eine Neubestimmung der Ästhetik gehen, anstatt sie in den Hintergrund zu drängen? Es geht dabei nicht darum, die Bereicherung der Geschichte des Films und des Kinos durch die neu hinzugekommenen Geschichten der Aufführungspraxen (etwa Schneider 2004), Geschichten der Wahrnehmungsweisen (etwa Crary 1996; Hick 1999) oder Geschichten der audiovisuellen Kommunikationen (etwa Rusch et al. 2007) in Frage zu stellen, sondern eher die Konsequenzen dieser Erkenntnisse für die von der New Film History und ihrer Nachfolger aus dem Zentrum gedrängte Ästhetik hinsichtlich des Ortes filmischen Wissens neu zu befragen. Bei aller wissenschaftlichen Strenge entgeht auch gerade sie nicht einer gewissen methodischen Beliebigkeit, indem soziale, ökonomische, kulturelle und ästhetische Faktoren sich irgendwie wechselseitig beeinflussen sollen, ohne dass ein Bereich als ursächlich angesehen würde, wie etwa bei Thomas Schatzs Arbeit zu New Hollywood (1993) oder auch in der hervorragenden Fernsehgeschichte von James Thornton Caldwell (1985). Dies ist zwar durchaus folgerichtig, geht es doch bei der Wechselseitigkeit genau darum, keinen Aspekt als alleinige Ursache für Veränderung und Wandel zu installieren, führt aber auch dazu, dass plötzlich Neigungen und zufällige Quellenlagen des Forschers
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zu entscheidenden Kriterien der Geschichtsschreibung werden. Wichtiger jedoch ist die Gefahr, dass die New Film History in gewisser Weise an der Austreibung des Films aus der Filmwissenschaft arbeitet, mindestens aber eine Leerstelle hinterlässt, indem sie seine ästhetische Beschaffenheit als beigeordnetes Element, als Diskurs behandelt. Die ästhetische Praxis von Filmen ist jedoch (anders vielleicht als ästhetische Theorie) kein Diskurs und dennoch eine Erzeugung von Wissen. Es ist also zu fragen, wie man das spezifisch ästhetische Wissen fruchtbar macht, ohne in die alten Kategorien von Autor und Werk zurückzufallen und ohne das Ästhetische nur noch als Diskursereignis zu begreifen. Wo aber liegt der Ort des filmischen Wissens, wenn man kühn behauptet, er liege nicht zuvorderst in den Rezeptionsbedingungen, in den Aufführungsorten und der vermeintlichen Wechselwirkung der Disziplinen? Meine These ist, dass der Wandel der Filme an nichts anderem als an ihnen selbst wahrgenommen werden kann, dass also nur die Filme Aufschluss über den Wandel des Films geben. Das heißt, auch wenn sich die Aufführungsorte verändern, die Orte des filmischen Wissens produziert der Film selbst. Im Umkehrschluss bedeutet das, keine Analyse ökonomischer, politischer, sozialer, technischer und apparativer Bedingungen kann wirklich Aufschluss über den Wandel des Wissens des Films geben, ohne ihn als ästhetische Konfiguration zentral zu beachten. Anders als die gegenwärtig dominierenden Positionen sehe ich den Film und damit die ästhetische Dimension im Zentrum der Produktion filmischen Wissens. In der Film-, aber auch in der Medienwissenschaft, ist die Ästhetik zuletzt eher als nachrangige Größe behandelt worden, und zwar zu Recht, wenn es sich um die klassischen werk- und autororientierten Ansätze handelte. Es ist jedoch eine Diskussion wert, inwiefern die Ästhetik weiterentwickelt werden kann, um in ihr eine entscheidende Ebene filmischen Wissens zu sehen. 2. Nur der Film weiß, wo der Film ist Ästhetik ist die Theorie der Organisationsform sinnlichen Materials. So könnte eine basale Definition lauten. Sie untersucht also hinsichtlich des Films vorwiegend die Organisationen von Bildern und Tönen. Und natürlich all das, was wiederum Bilder und Töne organisiert: also Licht und Belichtung, Visualität und Bild, Geräusch und Dialog, Perspektive, Einstellung und Montage. Das mag im ersten Augenblick wenig originell scheinen, ist jedoch seit Kant eine Basisdefinition ästhetischer Wahrnehmung. Martin Seel etwa behauptet, dass
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alles und jedes, das überhaupt wahrnehmbar ist, in seinem Erscheinen wahrgenommen werden (kann). Wir müssen nur auf sein je gegenwärtiges, jeweils hier und jeweils jetzt erfahrbares sinnliches Gegebensein achten. Dann tritt es uns in einer phänomenalen Fülle – und damit in einer ansonsten missachteten Dimension seiner Wirklichkeit – entgegen, mit deren Wahrnehmung wir uns Zeit für den Augenblick nehmen. (Seel 2007, 17)
Die Betonung des Wahrnehmungsvollzugs ist zwar für die philosophische Ästhetik entscheidend, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser nur an den Objekten selbst beschrieben werden kann. Die fliegende Plastiktüte aus American Beauty (Sam Mendes, USA 1999), die Seel anschließend beschreibt (ibid., 15–21), macht dies deutlich. Ästhetik stellt ein Wissen bereit, das von keiner anderen Zugangsform eingeholt werden kann. Sie kann auf nichts anderes reduziert werden. Jede Rückführung der filmischen Bilder und Töne auf andere Disziplinen bringt eine konstitutive Leerstelle hervor, und zwar deshalb, weil der Film, weil Bilder dem ökonomischen, technischen und sozialen Wissen immer äußerlich sein müssen. Bilder können ökonomische Vorgänge, soziale Tatsachen und technische Prozesse natürlich zum Thema haben; Filme können und werden durch ökonomische Vorgänge, soziale Tatsachen und technische Prozesse bewirkt, bestärkt oder verursacht, aber sie sind diese Vorgänge nicht selbst. Filme lassen sich nicht unter Rückführung auf andere Praktiken (gesellschaftliche, ökonomische, soziale) vollständig erklären, sodass der Ort des filmischen Wissens sich genau dort bildet, wo andere Diskurse nicht weiterkommen. Gibt es im Film etwas Ähnliches wie das, was in der gegenwärtigen Bildtheorie als ‹Eigensinn der Bilder› bezeichnet wird, also etwas, das ein Wissen hervorbringt, das eben nicht außerhalb der Bilder anzutreffen ist und nur vom Bildmedium produziert werden kann? Während dies interessanterweise in der Bildtheorie und philosophischen Ästhetik eine der wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre darstellt, nimmt man etwa die Positionen von William Mitchell (2005), Gottfried Böhm (2008), Lambert Wiesing (2005), Jean-Luc Nancy (2006) für die Bildtheorie und die Entwürfe Gernot Böhmes (1995), Martin Seels (2003) oder Dieter Merschs (2006, 219–228) für die (medien)philosophische Ästhetik, so ist es erstaunlich, dass sich gerade die filmwissenschaftliche Ästhetik aus ihrer Eigenständigkeit zurückzieht und den spezifisch ästhetischen Ort filmischen Wissens preisgibt. Exemplarisch kann auf einen Ahnen der gegenwärtigen Bildtheorie hingewiesen werden, der schon früh beschrieben hat, wie ein Wissen, das nur vom Bild hergestellt werden kann, aussehen könnte. Der Bochumer Kunstwissenschaftler Max Imdahl fragte sich, wie ein Wissen aussieht,
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das nur vom Bild vermittelt werden kann (Imdahl 1994, 200-324). Dabei entdeckt er im Anschluss an die Analyseweisen eines Bildes, die einst Erwin Panofsky vorgegeben hatte – also die vor-ikonografischen, ikonografischen und ikonologischen Ebenen eines Bildes (Panofsky 2006) – eine vierte Ebene, nämlich die der Ikonik (Ikonik zu eikon wie Logik zu Logos). Ikonik vermittelt einen Bildsinn, der nur im Bild aufgefunden werden kann. Berühmt ist etwa das von Imdahl analysierte Beispiel der «Angles droits convergents» von Francois Morellet (1956). Hier sehen wir vier verschiedene Winkelsysteme, die jeweils von den Seiten des Quadrats in die Mitte streben (Imdahl 1994, 317). Wenn wir die Winkelsysteme verfolgen, steht in der Mitte ein diagonal gestelltes Kreuz, dessen Arme allerdings nicht breiter und schmaler sind als die sämtlichen Abstände aller Linien voneinander. Ist das diagonale Kreuz einmal erblickt, stellen sich verschiedene Fragen. Zum Beispiel: Lassen die vier Winkelsysteme das diagonale Kreuz nur übrig wie einen leeren Rest, oder sind sie, umgekehrt, auf das Kreuz bezogen, als wären sie nichts anderes als dessen vielfach echohafte Abstrahlung? Anders gesagt: Bestimmt das Kreuz die Winkel oder bestimmen die Winkel das Kreuz? Genau das ist nicht zu entscheiden, die beiden Lesarten konkurrieren, so Imdahl, mit absoluter Chancengleichheit. Man könnte auch fragen, ob die vier Winkelsysteme bildeinwärts oder bildauswärts orientiert sind. Streben sie ins Bildinnere hinein, oder streben sie aus dem Bildinneren heraus? Die Ununterscheidbarkeit dieser Fragen oder die Alternativlosigkeit der Alternative sind speziell dem Bild eigen. Imdahl schreibt: Die ikonische Anschauung ist ein kreatives und selbst unabschließbares Durchspielen des im Bilde gegebenen Strukturierungspotenzials. Gerade im Durchspielen jener im Bilde enthaltenen Kontravalenzen wird sich der Beschauer seiner eigenen Strukturierungsaktivität, aber auch seiner Verfügungsohnmacht bewußt, und zwar in der sehr besonderen Erfahrung, daß jede Strukturierung, die er vollzieht, in ein und demselben Phänomen fundiert, daß aber auch keiner der möglichen Strukturierungsakte dazu führt, dieses Identische endgültig zu vereinnahmen und zu beherrschen. (Imdahl, 318)
Es ist der Begriff der «Verfügungsohnmacht», der meines Erachtens das unausgeschöpfte Potenzial der Bildtheorie auf den Punkt bringt. Jede Art der Verfügung, Interpretation, Diskursanalyse, Einordnung, Beherrschung und Besetzung stößt auf eine Grenze, die im Bild selbst angelegt ist. Das könnte zunächst an klassisch werkimmanente oder hermeneutische Auslegungen erinnern, die davon ausgehen, dass ein Kunstwerk eine geschlossene, eigenständige Äußerung darstellt, der ein fester Sinn zugeschrieben
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werden kann, der im Werk selbst liegt. Während sich die werkimmanente Interpretation nur auf die jeweiligen Äußerungselemente des bestimmten Kunstwerks konzentriert, etabliert die Hermeneutik eine Wissensspirale, die aber am Ende zu einer dem Werk gemäßen Schließung der Lücken zwischen Text und Interpret führen soll. Anders als dieser Zugang, weist Imdahl jedoch auf die medialen und materialen Konstruktionsprozesse hin, die den Sinn oder besser: das Sinnpotenzial, das nicht einfach durch den Kontext rekonstruiert werden kann, erst herstellen. Verfügungsohnmacht ist also das, was das Bild als Bild hervorbringt und eine erste Bestimmung des Ortes bildlichen, und damit wenigstens teilweise filmischen Wissens. Imdahl ist die Vorhut gegenwärtiger Bildtheorie, die etwa bei Gottfried Böhm zur Behauptung gelangt, dass der Ort des visuellen Wissens im Bild zunächst einmal auf die Relationen, die es selbst eröffnet, zurückführt. Man denke nur an den Begriff der «ikonischen Differenz», der auf die gleiche konstitutive Unverfügbarkeit visuellen Wissens verweist (Böhm 2008, 208-212). Dennoch reichen diese Bestimmungen nicht aus, um den Ort des filmischen Wissens zu erkennen, schon allein deshalb, weil der Film mehr ist als ein Bild und natürlich mehr als ein statisches Bild. Wenn Imdahl und andere also aufzeigen können, dass nur das Bild weiß, wo das Bild ist, so ist damit noch nicht gesagt, dass nur der Film weiß, wo der Film ist. Für den Film hat sich in der französischen Filmwissenschaft in den 1970er Jahren im Anschluss an die Semiotik die Methode der Textanalyse entwickelt, die mit gewisser Ähnlichkeit zur gegenwärtigen Bildtheorie die Eigenarbeit des Films beschreibungsfähig gemacht hat, ohne ihn in vorgängige Muster und Begriffe einzuordnen, aber auch ohne Rückwendung auf den Autoren- und Werkbegriff. Der Begriff der Verfügungsohnmacht hätte hier durchaus seinen Platz. Die Textanalyse geht in der Nachfolge Roland Barthes’ davon aus, dass der Film eine Verwebung verschiedener Äußerungen darstellt, an der Bilder, Töne, Einstellungen und Montage beteiligt sind (Barthes 1981). Sie beruht darauf, dass der filmische Text aus nahezu unendlich vielen Signifikationsmerkmalen zusammengesetzt und daher grundlegend polysemisch ist. Daher konzentriert sie sich oft auf die Analyse von Details, also einzelner Einstellungen oder Fotogramme, um Bedeutungsstrukturen eines Textes herauszuarbeiten. Julia Kristeva etwa, eine der Protagonistinnen der Textanalyse, betrachtet den Text «als einen unendlichen Sinnprozess – und als einen ebenfalls unendlichen Lektüreprozess, der wiederum an der besonderen Produktivität des modernen Textes teilhat» (zit. nach Aumont/Marie 1988, 70). Mit anderen Worten: Der filmische Text produziert potenziell unendlich viele Bedeutungsebenen, die von der Textanalyse potenziell eingeholt werden sollen, aber niemals eingeholt werden können.
300 Der Film vermittelt sich selbst
Dabei bewegt sich die filmische Textanalyse zwischen der strukturalen Analyse, wie sie vom frühen Barthes (1987) einst vorgegeben wurde, also dem Versuch, alle Codes und Subcodes des Textes in Hinblick auf eine strukturale Analyse zu ordnen; und der potenziellen Offenheit und Unabgeschlossenheit des Textes, die sich durch die Analyse der verschiedenen Codierungen ergibt: also hinsichtlich des Films etwa die narrativen, semantischen, kompositorischen Codes, aber auch die Codes der Bewegung der Kamera, der Blicke, des Dekors, der Einstellungen etc. Die Textanalyse, die heute gemeinsam mit dem semiotischen Vokabular zum Allgemeingut der Filmanalyse gehört, hat also gegenüber dem werkimmanenten und hermeneutischen Zugriff den Vorteil, dass sie von der Offenheit und sogar Widersprüchlichkeit der Bedeutungselemente ausgeht. Zudem legt sie großen Wert auf die Frage, inwiefern die Äußerungsweisen (énonciation) eines Textes bestimmte Äußerungen (énoncés) erst hervorbringen. Ein Film bleibt also immer auf seine Äußerungsmöglichkeiten und -bedingungen verwiesen und bestimmt sich daher in jeder Äußerungsphase immer selbst mit. Der Ort des Films oder genauer, der Ort des filmischen Wissens, wird hier also nicht mehr in einer am Ende dem Film äußerlichen Sinnzuschreibung gewonnen, sondern die Aufmerksamkeit wird auf die ständigen Sinnbildungsprozesse gelenkt, die er selbst produziert und relativiert. 3. Material und Medium Bildtheorie und Textanalyse suchen beide nach den bildlichen respektive filmischen Ereignissen, die aus den Bildern und Texten Wissen hervorbringen. Sie gehen davon aus, dass Unverfügbarkeit, teilweise auch Unsichtbarkeit oder das Außen fester Bestandteil dieser Wissensproduktion darstellt (Fahle 2009). Oft gewinnen sie ihre Analysen durch die Betrachtung moderner Bilder und Filme ab etwa den 1960er Jahren. Darauf aufbauend möchte ich zwei Begriffe mit diesen Ansätzen verbinden, die mir notwendig erscheinen, um den Film als Ort medienwissenschaftlichen Wissens zu begreifen. Diese Begriffe sind ‹Material› und ‹Medium›. Die Textanalyse spricht vom Text, weil sie erstens in der Linguistik ihre Wurzeln hat und zweitens noch kein medientheoretisches Bewusstsein aufweist. Entsprechend richten sich ihre Analysen immer noch auf einen textuellen Sinn, auf Codes und auf Bedeutungen, also auf mentale Relationen, die der Film hervorbringt. Die Textanalyse, so meine ich, zielt zwar nicht mehr auf die Idealität des Sinns, aber auf die Idealität der Bedeutung, also auf eine aus den textuellen Gegebenheiten des Films extrahierbare Dimension des Sinns.
Fahle: Das Material des Films 301
Eine medienwissenschaftliche Perspektive des Films denkt anders. Sie geht nicht mehr davon aus, dass der Film ein Text, sondern dass er Material ist. Ein Schnitt, ein Schatten, der ins Bild reicht, eine Explosion aus dem Off sind materiale Vorgänge, da sie in die Materie des Films eingreifen und diese verändern. Sie sind, anders gesagt, dem Sinn des Films nicht äußerlich. Dass dies keine einfache Umetikettierung ist, zeigt die Verbindung zum zweiten Begriff, dem des Mediums, der der Textanalyse noch fremd war. Wenn wir davon ausgehen, dass «Medien Denkvermögen produzieren und es unter Bedingungen setzen» (Engell 2003, 52), dann sind damit vor allem materiale Bedingungen gemeint. Eine Äußerung kann nicht angemessen verstanden werden, wenn sie sich nicht auf ihre materialen Bedingungen zurückführen lässt. Medien sind eben nicht mehr nur Texte, die mental aufgeschlüsselt werden, sondern Schnitte in den Körper der Welt. In Bezug auf den Film sind diese materialen Bedingungen zum Beispiel das Licht oder die Aufzeichnungsbedingungen oder die Geschwindigkeit des Bilddurchlaufs oder die Körper der Schauspieler oder der Dinge. Die Perspektive kehrt sich um: Nicht mehr der Sinn ist das Vorgängige und wird gleichsam von Kunstwerken abgerufen, sodass sie immer dem Sinn nachrangig sind, sondern die Kunstwerke, die wir jetzt Medien nennen, sind dem Sinn vorgängig und damit ihre materiale Dimension, die nicht einfach in Bedeutungsprozesse aufgelöst werden kann, sondern mit diesen interagiert. Deshalb kann man von Material statt Text sprechen, denn es handelt sich in einer filmischen Äußerung immer um einen materialen, das heißt medialen, das heißt überhaupt erst Sinn generierenden Schnitt (wobei ‹Schnitt› nicht umsonst eine körperliche Dimension aufweist). Filme schließen damit an den von Dieter Mersch vorgeschlagenen komplexen Medienbegriff an: Entstammte einst der Medienbegriff der Aisthesis-Lehre in dem Sinne, dass unter ‹Medium› jene Materialität verstanden wurde, die, der Wahrnehmung entzogen, Wahrnehmung allererst ermöglicht, haben wir es von Anfang an mit einem Hybridbegriff zu tun, der sich einer zureichenden Definition entzieht und zwischen Konstituens, Dispositiv und Unbestimmtheit oszilliert. Medien ‹vermitteln›, ohne selbst ‹unmittelbar› zu sein. Als Figuren der Mitte belegen sie zudem einen ‹Zwischenraum›, durch den etwas zur Erscheinung gelangt, Darstellungen gegeben, Bezüge hergestellt und Bedeutungen hervorgebracht werden. (Mersch 2006, 219)
Anstatt filmisches Wissen auf Orte zu verlagern, die ihm äußerlich sind, muss es also direkt in den medial-ästhetischen Prozessen gesucht werden, die von den Materialitäten der medialen Äußerung bedingt sind. Diese sind – wie die gegenwärtige Bildtheorie und Ästhetik sowie die Medientheorie
302 Der Film vermittelt sich selbst
bei Mersch ausführt – nur in prekären Räumen zu finden, für die das Außen, das Unsichtbare oder gar eine negative Theorie (ibid.), die das Wissen erst ermöglicht und sich ihm zugleich entzieht, ausschlaggebend sind. Die Orte des filmischen Wissens liegen nicht in der DVD oder in YouTube, auch wenn sie dort neue Plätze eingenommen haben, sondern in Äußerungsgeflechten des filmischen Materials. Im gegenwärtigen und modernen Film ist eine dieser Dimensionen, in denen sich mediales Wissen und ihr Entzug äußert, zweifellos der Bereich des Intermedialen, der nun durch ein Beispiel als Ort filmischen Wissens kurz dargelegt werden soll. 4. Das Wissen des Films vom Verschwinden Die Textanalyse ging immer davon aus, dass literarische oder filmische Texte eine Zusammensetzung verschiedener Texte darstellen. In Analogie dazu können wir davon ausgehen, dass eine medienwissenschaftliche Perspektive nun von einer grundlegenden Intermedialität ausgehen muss. Intermedialität ist eine Grundbedingung von Medialität, doch erst ab den 1960er Jahren gewinnt der Film einen Begriff von der Bedeutung des Intermedialen für seine Ästhetik. Anstatt hier alle bestehenden Definitionen des Intermedialen anzuführen (etwa Paech 2002; Rajewski 2002; Grusin 1999; Schröter 2011), möchte ich direkt in die Geschichte des Films gehen, um den Begriff zu verdeutlichen. Wie viele medientheoretische Begriffe läuft auch der des Intermedialen durch enge Definitionen und ohne Rückbezug auf mediale Praxis Gefahr, auszutrocknen und fruchtlos zu werden. Es ist der Film selbst, der, so möchte ich behaupten, das Wissen von Intermedialität herstellt. In den 1960er Jahren, so meine These, entwickelt er erstmals ausdrücklich ein Medienbewusstsein. Das heißt, ab den 1960er Jahren begreift der Film, dass er seine Ästhetik nicht mehr weiterentwikkeln kann, ohne Kontakte und Divergenzen zu anderen Medien ins Zentrum seiner ästhetischen Praxis zu stellen (Fahle 2011). Erst in den Filmen von Godard, Kluge, Antonioni, Fellini, Wenders, Glauber Rocha, Chris Marker etc. begreift sich der Film als explizit intermediale Konstellation. Meines Erachtens ist das sogar einer der zentralen Aspekte des modernen Films, ohne die seine Modernität nicht zu verstehen ist. Der Film wird damit zum Feld medientheoretischer Auseinandersetzung. Damit beginnt aber auch eine tiefe epistemologische Krise, denn er hat nicht nur seine mediale Vorrangstellung verloren – er muss zugleich den Zugang zum Wissen der Bilder und Töne mit anderen Medien teilen. Der moderne Film der 1960er Jahre wird sich daher nicht nur seiner Medialität bewusst, sondern zugleich seines Intermedialen sowie der Tatsache, dass Zugang zum filmischen Wissen nur in der Auseinandersetzung mit der Verfasst-
Fahle: Das Material des Films 303
heit anderer Medien liegt. Diese basale Intermedialität, die mit dem modernen Film einsetzt, ist bis in den aktuellen Film hinein verfolgbar und bestimmt daher den Ort des filmischen Wissens bis in die Gegenwart. Das heißt im Übrigen nicht, dass der Film erst seit etwa 1960 intermedial ist, sondern nur, dass er ab diesem Moment Intermedialität als wesentlichen Bestandteil seiner Ästhetik begreift. Der ästhetisch relevante Ort des filmischen Wissens findet sich hier, gemeinsam mit der filmischen Erkenntnis, dass Unverfügbarkeit, Unsichtbarkeit, gleichsam die Konstruktion des Hors-champ und Hors-cadre spätestens seit der Etablierung des modernen Films eine entscheidende Rolle bei der Konstitution dieses Wissens spielen (Adachi-Rabe 2005; Ishaghpour 1988). An diesen Markierungen könnte man etwa ansetzen, um Orte des filmischen Wissens als ästhetische, besonders auch in der Gegenwart, zu begreifen. Dabei wäre etwa an die von Thomas Elsaesser (2009) so genannten Mind Game Movies zu denken oder an Filme, die eine Zweite Moderne konstituieren, indem sie ein offenes Zusammenspiel der Medien als Orte gegenwärtiger Wissenskonstitution proklamieren, so etwa Caché (2005) von Michael Haneke (Fahle 2011). Was damit gemeint sein kann, soll abschließend an Vanishing Point von Richard C. Sarafian (USA 1971), der als einer der Marksteine des frühen Road Movie zugleich den Ort des Films selbst problematisiert, veranschaulicht werden. Vanishing Point handelt von Kowalski, der einen Dodge Challenger innerhalb von 24 Stunden von Denver nach Los Angelos überführen soll. Durch seine rasante Fahrt gerät er in Konflikte mit der Polizei, die ihn schließlich durch zwei zusammengestellte Bulldozer aufzuhalten versucht. Da Kowalski nicht anhalten kann oder will, prallt er schließlich mit dem Hindernis zusammen. Der Film hat außerordentlich viele mediale Facetten. Es geht ganz vorwiegend um das Verhältnis von Bild und Ton, da der einzige Verbündete von Kowalski der blinde Radiomoderator Super Soul ist, dessen Stimme ihn in die fast leere Wüste Nevadas begleitet. Dennoch ist auch das Medium Fernsehen präsent, obwohl kaum sichtbar. Am Ort, an dem die Bulldozer aufgestellt sind, versammelt sich eine Zuschauermenge, die jedoch diegetisch nur schwach verortet ist. Sie wird – wenn man das so ausdrücken kann – nur im Passiv gezeigt, als Zuschauermenge, doch ohne sichtbaren Bezug zum Ereignis, dem sie eigentlich zusieht. Durch Parallelmontage wird nahegelegt, dass es sich um die Erwartung von Kowalskis Eintreffen handeln könnte, doch nichts an der Menge weist konkret auf dieses Ereignis hin. Nicht zuletzt dadurch, dass diese Parallelmontage mit Musik unterlegt ist, entsteht ein Effekt der Distanzierung. Wer sind diese Leute, was wollen sie, was sehen sie? Das Verhalten der Zuschauer passt
304 Der Film vermittelt sich selbst
nicht zum Ereignis, das sie vermeintlich miterleben. Ich möchte behaupten, dass Kowalski, dessen Glorifizierung Super Soul im Radio betrieben hatte, für sie keine reale Figur ist, sondern ein Medieneffekt. Nach dem Zusammenprall mit den Bulldozern verschwindet daher nicht nur Kowalskis Körper, sondern auch die Menge. Keine Reaktion, kein Aufschrei, nichts. Die Inszenierung der Zuschauer bleibt dem Ereignis gegenüber interesselos und passiv, so als handele es sich um Fernsehzuschauer, die keinen körpernahen Kontakt zum Ereignis haben. Fernsehzuschauer am falschen Ort, Filmbilder mit Fernseheffekten. Dieses Einwirken des Fernsehens auf den Film möchte ich ‹affektive Intermedialität› nennen, eine Interaktion von Medien, die der Film nicht autoreferenziell, also mit Bezug auf die eigenen Mittel auflöst, sondern heteroreferenziell, in Abhängigkeit von strukturell in den Film eindringenden anderen Medien. Vielleicht sollte man daher gar nicht mehr von Medien sprechen, sondern in Anlehnung an Bruno Latour (1988) von «Quasi-Medien», also Medien, die nicht vom Ort ihrer Vermittlung absehen können, die nur als Kollektive der Wissensproduktion vorkommen. In Vanishing Point geht es vielleicht gar nicht mehr um Film und Fernsehen, sondern um Quasi-Film und Quasi-Fernsehen, da beide als untrennbare Faktoren ihrer filmischen Vermittlung vorkommen. Wenn die Medien keine stabile Form mehr besitzen, so sind sie noch lange nicht formlos. Der Ort des filmischen Wissens wird also vom Film selbst produziert, aber im modernen Film nur unter der Maßgabe, dass er sich selbst fremd wird, seine Bilder heteroreferenziell werden. Filmisches Wissen ist daher nicht ohne die von ihnen selbst verantwortete mediale Verfügungsohnmacht zu haben. Es ist immer schon über seinen eigenen Horizont hinaus, auch wenn es nirgendwo anders ist als in ihm. Insofern kann man festhalten: Nur der Film weiß, wo der Film ist, aber unter der Maßgabe, dass er sich selbst aus dem Auge verliert.
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Kapitel 5
Orte des Films und Schichten des Wissens
Dorit Müller
Zwischen Forschung, Unterricht und Populärkultur Filmisches Wissen und Orte früher Filmkultur
Eine Filmforschung, die nach Veränderungen filmischer Konstitution und Vermittlung von Wissen unter den Bedingungen digitaler Netzkultur fragt, wie dieser Band es tut, hat sich auch mit den Formen filmischer Wissensgenese im vordigitalen Zeitalter zu beschäftigen. Denn ohne Kenntnis der epistemischen Ausprägungen vorangegangener Medienkulturen lassen sich kaum Aussagen über die Kontinuitäten, Brüche oder Transformationen treffen, die durch medientechnische Veränderungen in den letzten Jahren stattfanden und immer noch stattfinden. Mein Beitrag nimmt sich deshalb vor, die Diskurse, Institutionen, Kulturen und Techniken der filmischen Wissensproduktion und -verbreitung seit der Etablierung des Films, insbesondere aber der Zwischenkriegszeit zu skizzieren. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass die heute vielfach konstatierte ‹Ortlosigkeit› des Films bereits in der frühen Filmkultur angelegt war.1 Zwar waren Bewegungsbilder nicht wie heute überall und jederzeit verfügbar, sondern besaßen als Aufführungsorte eine begrenzte Anzahl von Einrichtungen wie Varietés, Kinos, Schulräume oder Hörsäle. Geht man allerdings von einem Konzept ‹filmischer Orte› aus, das sich nicht auf die Stätten der Aufführung begrenzt, und bezieht als ‹Orte› auch die Institutionen der Filmherstellung, die unterschiedlichen Wissensbereiche, die der Film adressiert, oder die diskursiven Formationen und ästhetischen Räume ein, durch die Wissensprozesse konditioniert werden, so lässt sich mit Blick auf die Heterogenität der Felder und die Interferenzen zwischen diesen ‹Orten› eine erstaunliche Durchlässigkeit nicht nur lokaler, sondern auch kultureller und ästhetischer Grenzen konstatieren. So werden wissenschaftliche und populärkulturelle Stätten der Produktion und Aufführung verknüpft, etwa wenn Laborfilme in Kinofilme integriert oder Spielfilme als Bildungsfilme deklariert und zur Unterrichtsgestaltung an Schulen verwendet werden. Aufklärende, überredende und unterhalten1
Für eine Kritik an der Fixierung der Filmgeschichte auf den Spielort des Kinos und dessen Genealogie vgl. Schneider 2010.
310 Orte des Films und Schichten des Wissens
de Intentionen wiederum können gleichermaßen in ‹wissenschaftlichen› Lehrfilmen wie ‹unterhaltenden› Spielfilmen eine Rolle spielen. Und selbst die Unterscheidung von Spielfilm und nichtfiktionalem Film wird problematisch, denn aufgrund der Hybridität des Mediums (der Verknüpfung von Standbild, Trickgraphik, sprachlichem Kommentar, Realfilm- und Schauspieleinlagen) lassen sich in den meisten Fällen Anteile des Fiktionalen wie des Faktualen finden. Anhand einiger Beispiele sogenannter geografischer Filme der Weimarer Republik, die im akademischen und schulischen Umfeld, im Kontext der sogenannten Volksbildung sowie der Werbung und im populärkulturellen Bereich produziert und aufgeführt wurden, werde ich im Folgenden die facettenreichen Beziehungen zwischen Filmorten und Filmwissen untersuchen. Unter ‹filmischem Wissen› verstehe ich dabei in Anlehnung an die Überlegungen aus der Einleitung zu diesem Band (1) Wissen, das über den Film produziert wird; (2) Wissen, welches durch den Film zur Anschauung gebracht wird, und (3) Wissen, das durch die spezifischen technischen Bedingungen des Mediums überhaupt erst erfahrbar wird. Fragen, die sich an diese Dreiteilung anschließen, sind: Auf welche Weise schreiben sich Filmdiskurse in geografische Produktionen ein? Welches Wissen wird durch die frühen Filme zur Anschauung gebracht? Inwieweit bringen filmische Techniken neue Wissensformen und Wissensordnungen hervor? Wie funktioniert die Zirkulation von Wissensdiskursen zwischen Stätten und Institutionen der Filmbranche sowie der kulturellen Öffentlichkeit? 1. Orte und Wissensformen früher geografischer Filme Die filmische Präsentation geografischer Wissensbestände begann bereits mit den ersten Aufnahmen Ende des 19. Jahrhunderts; denn zu den bevorzugten Objekten der frühen Kinematografie gehörten Landschaften und Städte, Naturerscheinungen und das Leben fremder Völker. Inhalte dieser Art bestimmten erstens die Aktualitäten und Attraktionsfilme der Jahrhundertwende, die auf Jahrmärkten und in Varietés gezeigt wurden und ungewöhnliche Ansichten oder sensationelle Neuheiten vorführten.2 Sie waren zweitens Gegenstand der ersten Lehrfilme, die für Schulen und Volksbildungseinrichtungen produziert wurden.3 Ende der 1910er 2
3
Die ersten Filmaufnahmen der französischer Brüder Lumière und der deutschen Brüder Skladanowsky aus den 1890er Jahren zeigten vornehmlich Stadtansichten und Reisebilder aus aller Welt. Über die Entwicklung und Bedeutung der ersten Filme geografischer Prägung vgl. Jung 2005; Deeken 2005. 1907 erschien die erste Lehrfilmfachzeitschrift und es entstanden Initiativen zur Gründung von Wanderkinos, um Öffentlichkeit und Schulen mit einer Vielzahl von Lehrfilmen zu versorgen. Die sogenannte «Filmunterrichts-Organisation der Ufa» führte
Müller: Filmisches Wissen und Orte früher Filmkultur 311
Jahre wurde daher bereits von einer «Hochflut» geographischer Filme gesprochen und deren Bildungswert auch erstmals in Frage gestellt (Zürn 1919, 25). Kritikpunkte waren: das bestenfalls «touristische Interesse» vieler Filmoperateure, ihre «mangelnde Vorbildung» und das Fehlen eines «wissenschaftlich geschärften Blick[s]» (Kalbus 1922, 130). Um die Lehrfilme stärker an die Anforderungen der geografischen Schulausbildung anzupassen, sollte es ihre Aufgabe sein, Raumanschauungen zu vertiefen, Größenverhältnisse und Bewegungen in der Landschaft mit «unverfälschter Genauigkeit» wiederzugeben, eine Verknüpfung synthetischen und analytischen Sehens herbeizuführen und die tricktechnische Darstellung «wissenschaftlicher Gesetze, Theorien und Hilfshypothesen» zu ermöglichen (ibid., 137-143). Mit dem Übergang von der ‹Attraktion› zur ‹Bildung› und damit auch vom Jahrmarkt in den Kinosaal vollzog sich eine erste Neuakzentuierung geografischen Wissens. Während die Attraktionsfilme versuchten, die Besucher mit magischen Tricks, Kuriositäten, Illusionen und spektakulären Ansichten zu faszinieren, und die Filminhalte vor allem dazu nutzten, die neuesten filmtechnischen Effekte selbst als Attraktion zu präsentieren (vgl. Gunning 1986), verfolgten die Lehrfilme eine Bildungsabsicht. Das Spektrum ihrer geografischen Themen reichte von Länder- und Völkerkunde über Geologie bis zur Meteorologie (Kalbus 1922; Lampe 1924). Der Status des Wissens verschob sich demnach von einer dem Attraktionskino eigenen Wissenspräsentation über die Techniken des Films auf Wissensdarbietung durch den Film. Eine dritte Variante filmischer Verortung geografischen Wissens trat mit der Entstehung der Werbefilmbranche auf. Werbefilme konzentrierten sich auf die Darbietung bestimmter Inhalte, die dem Alltagswissen zugeordnet wurden. Neben einem eher impliziten Bildungsanspruch zielten sie darauf, Einstellungen zu verändern, Kaufverhalten zu steuern oder bestimmte weltanschauliche Missionen zu erfüllen. Gerade Werbefilme nutzten die innovativsten Filmtechniken und verbreiteten so nicht nur Wissen durch Film, sondern informierten immer auch über die neuesten Möglichkeiten des Films selbst. Eine weitere Ausdifferenzierung geografischer Wissensvermittlung vollzog sich viertens durch den wissenschaftlich ambitionierten Einsatz der Kinematografie im geografischen Bereich. Zu nennen sind hier an erster Stelle die seit der Jahrhundertwende durchgeführten Expeditionen in abgelegene Erdteile, welche die Filmkamera sowohl als Beobachtungs-, diese Unternehmungen nach 1922 fort und nutzte dafür eigene und fremde Lehrfilmproduktionen, die über Verleihinstitutionen bereitgestellt wurden.
312 Orte des Films und Schichten des Wissens
Kartierungs- und Auswertungsinstrument als auch für die Archivierung, Dokumentation und Vermittlung geografischen Wissens nutzten. Filmaufnahmen wurden auch verwendet, um vergängliche Erscheinungen (etwa Vulkanausbrüche) zu fixieren, menschliche Eingriffe in die Natur (wie Kanal- und Tunnelbauten) zu dokumentieren, für Naturschutz zu werben oder ethnografische Erkundungen zu begleiten. Das Filmmaterial diente zwar auch der wissenschaftlichen Ausbildung (stellte also Wissen durch den Film bereit), hatte darüber hinaus aber vor allem die Aufgabe, Erscheinungen und Prozesse in der Natur überhaupt erst sichtbar zu machen (z.B. die Prozesse, die bei der Kalbung riesiger Gletscher in den Polargebieten ablaufen und die erst in der Zeitlupen- oder Zeitrafferaufnahme und aus der Entfernung ausgewertet werden konnten). Hier lag der Akzent auf einer Darbietung filmförmigen Wissens, da Film bestimmte Abläufe aufgrund seiner apparativen und strukturellen Beschaffenheit verdeutlichen kann. Es ist kein Zufall, dass diese Fähigkeit immer dann ausgenutzt wurde, wenn es um die filmische Aufzeichnung von Prozessen, Verläufen und Entwicklungen ging. So sind gerade auch Bereiche der Geografie, welche die Entstehung geologischer Formationen und Transformationen landschaftlicher Räume mit der Filmkamera untersuchen, prädestiniert dafür, neue Einsichten in Wissensprozesse hervorzubringen. Als eine fünfte Form der filmischen Verortung geografischer Wissenspräsentation kann der frühe Spielfilm angesehen werden. Auch hier konnte filmförmiges Wissen entstehen (wenn etwa Filmtechniken zum Einsatz kamen, die den Veränderungen des geografischen Raumes korrespondierten). Im Zentrum stand aber die Konstitution von Wissen durch den Film und über den Film. Als Beispiele sind Filme zu nennen, in denen das Reisen durch fremde oder unerschlossene Länder oder die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen die Handlung bestimmten. Solche Filme verbreiteten mittels Figurenkonstellation, Perspektivierung und Handlungsaufbau immer auch Wissen über andere Kulturen, über Landschaftswahrnehmung und zivilisatorische Gestaltungen des Raumes. Andererseits konnten sie Wissen über den Film generieren, etwa wenn Bezüge zu Thematisierungsund Gestaltungsformen in anderen Filmen hergestellt wurden. So war es nicht ungewöhnlich, dass Spielfilme zum Beispiel kartografische Darstellungen und Zeitrafferaufnahmen landschaftlicher Veränderungen integrierten, die auch in geografische Kulturfilme der Zeit Eingang fanden. Obwohl die genannten Beispiele das Spektrum des geografischen Films nur umreißen, zeigt sich, dass es bei der Zuordnung von filmischen ‹Orten› und Wissensformen nur um Unterscheidungen gehen kann, die nicht ontologisch stabil sind, sondern sich in Bewegung befinden. Im Folgenden untersuche ich deshalb Veränderungen filmischer Wissenskon-
Müller: Filmisches Wissen und Orte früher Filmkultur 313
stitution anhand geografischer Filme, die zwischen Schule und Volksbildung, Kulturfilm- und Werbebranche, Wissenschaft und Populärkultur zirkulierten. II. Filmisches Wissen für den Unterricht Beim ersten Filmbeispiel handelt es sich um den 1922 produzierten Schulfilm Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart.4 Er dokumentiert eine der frühesten Umsetzungen des von Filmreformern ausgearbeiteten Lehrfilmkonzepts. Die Vertreter der Lehrfilmbewegung, meist promovierte Schulpädagogen, arbeiteten in der 1918 gegründeten Kulturabteilung der Ufa, welche die Lehrfilmbestände der Vorkriegszeit übernommen hatte und diese nach pädagogischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten neu zusammenstellte, um sie Schulen und Volksbildungseinrichtungen anzubieten.5 Leiter der Abteilung für den geografischen Film war Felix Lampe. Als ehemaliger Gymnasiallehrer für Geschichte und Geografie war Lampe 1916 an das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht im Preußischen Kultusministerium berufen worden und zum Direktor der Beratungs- und Prüfungsstelle für Lehrfilme aufgestiegen. Neben einer umfangreichen Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit vor allem zur Didaktik des Geografieunterrichts war er nach 1918 maßgeblich an der Produktion von Kulturfilmen mit geografischem Schwerpunkt beteiligt.6 Lampe fungierte auch als Aufnahmeleiter des Films Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart, in dem vorhandenes und neues Material gezielt didaktisch aufbereitet wurde. Die Gestaltung orientierte sich an Vorgaben, die Lampe in seiner 1920 verfassten Schrift Zur Theorie des geographischen Lehrfilms formuliert hatte. Sie betrafen vier wesentliche Aspekte: Erstens sollten die Filme auf eine «wirkliche Bereicherung» des beim Schüler vorhandenen «Anschauungsschatzes» zielen. Zweitens hatten sie nicht «willkürliche» und «verstreute», sondern nach bestimmten «Gesichtspunkten geordnete Anschauungsmengen» zu übermitteln. Drit4
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Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart (Produktion: Universum Film AG, Kulturabteilung, Berlin, 1922, wissenschaftlich bearbeitet und aufgenommen von Felix Lampe und Walter Zürn, Kamera: Curt Helling. Uraufführung: 29.11.1922, Berlin). Zugrunde liegt eine 35mm-Fassung des Films von 2088 m Länge, die im BA-FA gesichtet wurde. Leiter der Kulturabteilung wurde Major Ernst Krieger, ein Regimentskamerad des UfaDirektors Alexander Grau. Er stand, so Klaus Kreimeier, «für die Kontinuität eines politisch nur scheinbar ‹wertfreien›, den Wissenschaften und dem technischen Fortschritt gegenüber aufgeschlossenen Konservatismus» (Kreimeier 1992, 318). Zur Etablierung der Beratungs- und Prüfstelle für Lehrfilme am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht des Preußischen Kulturministeriums vgl. von Keitz 2005, 126. Zu Lampes Werdegang vgl. Thom 1928.
314 Orte des Films und Schichten des Wissens
tens sollten die «Bildmengen» kraft ihrer Anordnungen «eine gewisse Gedankenfolge» auslösen und dabei «Vergleiche, Typenbildung, Urteile» ermöglichen. Viertens sei das Verhältnis von Bild und Zwischentitel so zu gestalten, dass ein informativer Mehrwert entstehe (zit. n. Kalbus 1922, 147f). Darüber hinaus wurde das Verhältnis des Films zu performativen, akustischen und visuellen Medien diskutiert: die Ergänzung durch den begleitenden Vortrag (Lampe 1920; Kalbus 1922), die Vereinigung der Kinematografie mit der «Grammophonie» zu «Tonfilmbildern» (Häfker 1914; Kalbus 1922, 144) und der Einsatz des «stehenden Lichtbilds» (Lampe 1920; Kalbus 1922). Bereits in den 1920er Jahren reflektierten Pädagogen demnach filmische Darstellungsstrategien und versuchten, durch Festlegung didaktischer Standards und Ausnutzen der filmischen Möglichkeiten die Wissensvermittlung zu regulieren. Für den Schulfilm hieß dies konkret, dass eine systematische Aufbereitung des geografischen Materials neue Einsichten eröffnen und das Urteilsvermögen schulen sollte, während die filmische Suggestivkraft bestimmte Zusammenhänge herstellen und vermitteln konnte. Die spezifische Gestaltung der intermedialen Möglichkeiten (bewegtes und statisches Bild, Ton, gesprochene und Schriftsprache) diente der Ergänzung unterschiedlicher Ansichten und Darstellungsweisen von Wissen. Diesen Einschätzungen des Lehrfilms und seiner Möglichkeiten stehen die (inhärente) intermediale Verfasstheit der Filme sowie ihre ästhetische und gesellschaftliche Kontextgebundenheit entgegen, die einen weit größeren Spielraum im Hervorbringen und Gestalten von epistemischen Zusammenhängen eröffnen. Bereits die Eingangssequenzen von Der Rhein in 1 Vergangenheit und Gegenwart demonstrieren die Spannbreite filmischer Darstellungsstrategien – trotz didaktischer Vorgaben – und daraus sich ergebender Formen der Wissenspräsentation: Der Vorspann macht zunächst klar, dass bei der Produktion ein wissenschaftliches Expertenteam zum Zuge kam (Abb. 1): Verweise auf akademische Titel sind typische Autorisierungsstrategien in Lehrfilmen der Zeit. Eine weitere Beglaubigungspraxis stellt die Zitation literarischer Größen dar: Goethe als Kanonfigur der deutschen Literatur soll die kulturelle Relevanz des Films hervorheben und an die deutsche Tradition binden. In den nächsten zwei Minuten des Films werden unterschiedli-
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2–5
che Medien wirkungsvoll verknüpft: Der Wechsel von Schriftsprache, Dokumentaraufnahme, Karte und Trickzeichnung ermöglicht die Ergänzung und Wechselwirkung unterschiedlicher Wissensaneignungsprozesse (Abb. 2-4). Unterstreichen die Realfilmaufnahmen des Rheins den Tatsachencharakter des Vermittelten, so binden die Zwischentitel das Wissen in einen kulturellen und ästhetischen Kontext ein. Die Karte wiederum präsentiert ein Wissen über den territorialen Raum und die Orientierung in ihm und verortet den Untersuchungsgegenstand innerhalb eines größeren topologischen Rahmens. Die Trickzeichnung schließlich entfaltet sukzessive die Wissensbestände und ermöglicht dem Zuschauer, sich einzelne geografische Fakten einzuprägen (Abb.5). Alle diese Elemente sind Bestandteil einer Exposition, deren Aufgabe es ist, einen spezifischen Einblick in die umfassende Wissensgeschichte des Rheins zu bieten. Die einzelnen Gestaltungsebenen sind allusiv miteinander verknüpft. Es geht jeweils um die Beglaubigung von Wissensansprüchen, sei es Wissen geografisch-beschreibender Art (die Verortung des Rheins in der Landschaft), historischer Art (der Rhein als Bestandteil deutscher Tradition), kultureller Art (der Rhein als Repräsentant deutscher Kultur) oder ästhetischer Art (die Lyrik Goethes als ästhetisches Paradigma).
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6–7
Wissen durch Film wird so immer mit Bezug auf jeweils zirkulierende kulturelle Codes und Konventionen vermittelt. Kern der filmischen Narrativierung ist die Konstruktion und Präsentation von vermeintlich ‹unverfälschten› Ereignisverläufen: die historische Entstehung von Landschaften und kulturellen Formen, von Ländergrenzen und politischer Konfliktsituationen im Umkreis des Rheins. Durch fortlaufende Kommentierung des parallel laufenden soziokulturellen Geschehens werden grundlegende Mythen der Gesellschaft aufgenommen, transformiert und weiterverbreitet. Das geschieht vor allem auch durch Verwendung unterschiedlicher Filmgenres. So integriert Lampe (und zwar als einer der ersten LehrfilmProduzenten) die Spielhandlung zur illustrativen Vergegenwärtigung historischer Episoden. Der Film zeigt unter anderem die Besiedlung des Rheins durch Germanen, Barbarossas Hoffest, Goethe im Gespräch mit Herder im Elsass und im Liebesgeplänkel mit Friederike Brion oder Blücher bei der Überquerung des Rheins (Abb. 6-7). Die nachgestellten Szenen wurden von Zeitgenossen teils als «Konzession an das Publikum» kritisch wahrgenommen (Hi 1922, 20), teils als «zugkräftige» Elemente gewürdigt (Mendel 1924, 325). Ihre Wirksamkeit gewannen die Spielszenen, weil sie das historische Wissen an alltagsweltliche Erfahrungen koppelten, sprich an vertraute Verhaltensmuster des Publikums (etwa in der Kuss-Szene zwischen Goethe und Friederike). Vor allem aber vermittelten sie komplexe Wissensinhalte (etwa die Problematik der deutsch-französischen Beziehungen) auf eine sehr vereinfachende Weise. Entscheidend war die Auswahl der nachgestellten Szenen, ihre Kommentierung sowie Verstärkung durch Realfilmaufnahmen, Schriftsprache, Karten und Schemata. Dabei führt der Film immer auch seine neuesten technischen Entwicklungen vor und rekurriert in den Spielszenen auf eine Ästhetik, die seit den 1920er Jahren das populäre fiktionale Filmgenre, insbesondere das Kinodrama, dominierte (wodurch wiederum
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bestimmte Rezeptionsmuster des Kinogängers aufgerufen wurden, die den Prozess der Wissensvermittlung beeinflussten). Neben einer indirekten Ausstellung des Wissens über den Film, im Rekurs auf seine Geschichte, wird ebenso indirekt der aktuell-politische Kontext von 1922 aufgegriffen. Gemeint sind die Kontroversen um den Versailler Vertrag von 1919, nachdem Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy den Siegermächten des Ersten Weltkriegs zugesprochen und die Entmilitarisierung der Rheinufer verfügt worden war. Vor allem in den letzten Teilen bezieht der Film politisch Stellung: Kommentare und Zitate gemahnen an «altdeutsches Volkstum» rechts und links des Rheins, verherrlichen das «Burschenleben» und beschwören die «gewaltige Symphonie der Arbeit, deutschen Geistes und deutscher Schaffenskraft».7 Angesichts der ökonomischen Krisensituation nach der Kriegsniederlage sowie Erfahrungen von Instabilität und Werteverlusten schuf der Rheinfilm einen Traditionsbezug, der den Mythos von deutscher Stärke und Kulturmacht wiederbeleben sollte und somit den Rhein neu verortet. Der Film soll «von 90% aller Schulkinder gesehen worden sein» und in Berlin «Hunderte von Aufführungen bei vollen Häusern erlebt» haben (Richter 1924, 37f). Er wurde sowohl für die Schule als auch für das abendfüllende Kinoprogramm produziert und markiert damit einen Übergang zwischen Schul- und Kulturfilm. III. Wissenskonstitution in Kultur- und Werbefilmen Mitte der 1920er Jahre kommt es zu einer Standortbestimmung des NichtSpielfilms in Deutschland. Der Begriff «Kulturfilm» beginnt sich durchzusetzen. Er wird in Abgrenzung zu den ‹reinen› Lehrfilmen gebraucht, die in Wissenschaft und Schule Einsatz finden und auf sachliche, dabei oft ermüdend trockene Art Wissensvermittlung betreiben. Kulturfilme sollen nun Belehrung und Unterhaltung verbinden und vor allem «volksveredelnd» sein (Beyfuss/Kossowsky 1924, VIII). Sie werden als Beiprogramm und als abendfüllende Filme für das Kino konzipiert – sollen also im Gegensatz zum ‹reinen› Lehrfilm auch ohne begleitenden Vortrag rezipiert werden. Diese Ausrichtung wirkt sich auf die Darbietung des Wissens aus. Die geografischen Kulturfilme arbeiten strategisch mit wechselnden Medien, verwenden innovative Darstellungstechniken, amalgamieren geografische, wirtschaftliche, kulturelle und politische Wissensbestände, 7
Klaus Kreimer spricht in diesem Zusammenhang von einem «raunenden Imperfekt» des Films, durch den ein «ideologischer Text» konstruiert werde, der auf die aktuelle Lage ziele (2002, 51f).
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flechten Wertungen ein, um den Wahrheitsanspruch des Gezeigten und seiner Kommentierungen evident zu machen. Lampes Schulfilm Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart gibt somit ein Muster vor, das wenig später entstehende «Kulturfilme» mit geografischem Schwerpunkt aufgreifen und modifizieren. Beispielhaft geschieht dies an dem 1919 von dem Kunsthistoriker Hans Cürlis gegründeten Berliner Institut für Kulturforschung. Es verstand sich als «die erste deutsche wissenschaftliche Institution», die «bewusst den Film als Ausdrucksform für die Ergebnisse ihrer Arbeit gewählt hatte» (Cürlis 1929, 1). In schneller Folge brachte sie geografische und kulturpolitische Filme heraus, die sich auch im Ausland absetzen ließen. Das Spektrum umfasste die Thematisierung künstlerischer Prozesse, moderner Unterrichtsmethoden und kulturgeografischer Phänomene; letztere fanden unter Titeln wie Der Mensch im Gebirge (1919), Die deutsche Nordsee (1925) oder Die Weltgeschichte als Kolonialgeschichte (1926) den Weg zum Publikum (vgl. Döge 2005). Der Kolonialfilm8 zeigt, dass eine Verortung der Filme nach unterschiedlichen Aufführungsstätten problematisch ist; obwohl als abendfüllender Kulturfilm für das breite Publikum konzipiert, empfahl man ihn ausdrücklich auch für Schulen. Glaubt man der Einschätzung Cürlis’, dass innerhalb eines Jahres rund zwei Millionen Kinobesucher und Schüler seinen Film sahen (vgl. Waz 2005, 191), so kann Die Weltgeschichte als Kolonialgeschichte wohl als der populärste Kolonialfilm der Weimarer Republik gelten. Obwohl er auf Nachinszenierungen und eine durchgängige Spielhandlung verzichtet, spielt die narrative Komponente eine dem Spielfilm vergleichbar wichtige Rolle. Schon die Ankündigung einer «Geschichte» der Welt im Titel deutet darauf hin. Seine Gliederung in fünf Akte folgt den herkömmlichen Mustern des Dramas und rekurriert damit implizit auf einen literarischen Wissenskontext: Der Exposition folgt die steigende Handlung, die zum Wendepunkt führt und schließlich in den Schluss mündet. Eingeleitet wird der Film durch eine knappe Gegenüberstellung europäischer und tropischer Klima- und Arbeitsverhältnisse. Der erste Akt entfaltet die Beziehung Europas zu den Tropen, allerdings unter dem eingeschränkten Gesichtspunkt, wie jeweils tropische Produkte in Haushalt, Medizin und Industrie Anwendung finden. Kleine realfilmbildlich umgesetzte Erzählungen und Zwischentitel demonstrieren, wie lebensnotwendig Kakaobohnen, Palmöl oder Kautschuk insbesondere für die deutsche Bevölkerung seien. Der zweite Akt erzählt anhand animierter 8
Die Weltgeschichte als Kolonialgeschichte (Produktion: Institut für Kulturforschung, 1926, Regie und Drehbuch: Hans Cürlis, Wissenschaftliche Bearbeitung: E. Krafft,Trickausführung: Walter Türck, Uraufführung: 24.01.1927, Berliner Urania).
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kartografischer Abbildungen die «Geschichte» der Eroberung tropischer Gebiete seit der Antike. Im dritten Akt geht es um die Aufteilung Afrikas seit 1800; hervorgehoben werden Deutschlands Bemühungen, Kolonialbesitz zu erlangen und zu bewirtschaften, nicht ohne Verweis auf die Verluste durch das «Versailler Diktat». Der vierte und fünfte Teil verweist noch einmal auf die Abhängigkeit des Landes von tropischen Rohstoffen und Absatzmöglichkeiten sowie auf eine durch Kolonialbesitz erhoffte Verbesserung der Arbeitsmarktlage. Er mündet in die Feststellung, dass Kolonialbesitz ein unhinterfragbares Gesetz der Weltentwicklung sei. Zur Beglaubigung der vorgebrachten These über die Gesetzmäßigkeit kolonialer Eroberungen werden Bezüge zur historischen Entwicklung und zur Alltagspraxis geschaffen. Neben dem Rekurs auf narratologische Verfahren bedient sich der Film jener Gestaltungselemente, die sowohl in den Lehrfilm-Debatten als auch in der Diskussion über den unterhaltenden Aspekt von Wissenspräsentationen in Kulturfilmen eingefordert wurden. Die Ergänzung von Realfilmaufnahmen durch Zwischentitel und Trickzeichnungen erzeugen eine 8 narrative Grundstruktur, die den Rezeptionsprozess lenkt. Arbeitet die Kommentarebene mit rhetorischen Fragen und Aussagen, so enthalten die Bilder kleine Erzählungen, die den Aussagegehalt durch anschauliche Beispiele evident machen sollen. Dies geschieht erstens durch die Auswahl der gezeigten Objekte, die an die Alltagspraxis (Familie, Kinder, Haushalt) angebunden sind und deshalb ein starkes Identifikationspotenzial beinhalten oder die auf gesellschaftlich anerkannte Bereiche wie die Medizin rekurrieren. Zweitens werden Objekte auf spezifisch filmische Weise perspektiviert – etwa durch Nah- und Detailaufnahmen, die den Blick lenken und unterhaltende wie emotionale Wirkung hervorrufen sollen (das besorgte Gesicht einer Krankenschwester, ein Liebespaar mit Pralinen, Kinder beim Essen und Spielen) (Abb. 8). Drittens wird Evidenz durch Verknüpfung der einzelnen Aufnahmen erzeugt, die eine lückenlose Beweisführung der vorgebrachten Thesen suggerieren soll. Animierte Trickzeichnungen verstärken diese Tendenz, indem hier mittels aneinandergereihter schematischer Abbildungen ein notwendiger Zusammenhang zwischen Kolonialisierung und Verbesserung der deutschen Absatz- und Arbeitsmarktlage entsteht.
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In gleichem Maße, wie die Übergänge zwischen Narration und Deskription, didaktischer Belehrung und Unterhaltung fließend sind, ist der Status des vermittelten Wissens durch Film prekär. Geografische Wissensbestände (Lage der Tropen, klimatische Daten, landschaftliche Nutzung) vermischen sich mit Alltagswissen (‹richtiges› Haushalten, Kinderpflege). Wirtschaftliche Zusammenhänge (Angebot und Nachfrage) werden mit vermeintlichen historischen und politischen Entwicklungen (Kriegsgeschehen seit der Antike, Versailler Verdikt) kurzgeschlossen. Wissensansprüche werden an Autoritäten gebunden, Feindbilder aufgebaut, historische Ereignisse in vereinfachte Schemata gepresst, Evidenz durch Wiederholung einer Botschaft in verschiedenartigen, sich ergänzenden Medien geschaffen. Seiner Intention folgend changiert der Film zwischen Bildung und Propaganda. Insbesondere die institutionellen Verflechtungen, die den Produktionsprozess steuerten, belegen eine propagandistische Stoßrichtung. Auftraggeber und Finanzier war die Deutsche Kolonialgesellschaft, nach deren Anweisung Cürlis das Drehbuch schrieb (Waz 2005, 191). Für die Verbreitung des Films setzten sich das Auswärtige Amt, das Preußische Kultusministerium sowie der Reichsverband der Deutschen Industrie ein. Als Auftragsarbeit hatte der Film ideologische Vorgaben zu erfüllen: Die Art der Präsentation seiner Wissensansprüche sollte die Rezipienten von einer vermeintlich gesetzmäßigen Entwicklung kolonialer Vereinnahmungen überzeugen. Diese Form der moralischen oder politischen Überzeugungsarbeit zeichnet viele Kulturfilme der 1920er Jahre aus. Unterschiede lagen jedoch in der jeweiligen Explizitheit, mit der die Absichten formuliert wurden. Darüber hinaus wiesen auch Werbefilme Darstellungsmuster der Kulturund Propagandafilme auf, denn sie nutzten gezielt deren Verfahren, um Einstellungen zu steuern. Beispielhaft dokumentiert das der 1928 von der Wirtschafts-Film GmbH Berlin produzierte Fahrt nach Westerland.9 Obwohl hier im Unterschied zu vielen anderen Werbefilmen (deren Produzenten aus der Spiel- und Kulturfilmbranche kamen) ein Ingenieur Regie führte, orientiert sich der Film an dramaturgischen Mustern des Kulturfilms. Zwar trägt er im Vergleich zu Lampes und Cürlis’ Filmen seinen Bildungsanspruch eher implizit zur Schau und vernachlässigt die deskriptive Komponente, doch setzt auch er erläuternde Trickzeichnungen und Zwischentitel ein. Fahrt nach Westerland wirbt für den Hindenburgdamm, der 1927 als Verkehrsweg über das Wattenmeer gebaut wurde. Seine Botschaft lässt sich knapp formulieren: «Nutzen Sie die Vorteile der 9
Fahrt nach Westerland (Entstehungsjahr: 1928, Produktion: Wirtschafts-Film GmbH Berlin, Regie: Ingenieur Friedrich Stier).
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Fahrt über den Hindenburgdamm. Sie sparen eine Menge Zeit und haben es bequemer als mit der Fähre von Hamburg aus.» Diese Botschaft wird in eine fast durchgängige, nur stellenweise durch erläuternde Trickzeichnungen unterbrochene Spielhandlung eingeflochten (Abb. 9-10). Im Zentrum der Handlung steht eine sich anbahnende Liebesbeziehung, die durch eine Fahrt nach Westerland unterbunden werden soll. Onkel und Nichte begeben sich auf eine umständliche Bahnund Dampferreise von Berlin über Hamburg und durch das Wattenmeer nach Sylt, wo die Nichte ihren Freund vergessen soll. Der winkt ihr noch zum Abschied am Bahnhof zu, ist dann jedoch schon auf Sylt, als Nichte und Onkel am nächsten Tag in ihrer Ferienwohnung ankommen. Der Freund erzählt dem verdutzten Onkel, dass er in Hamburg den Zug über den Hindenburgdamm durch das Wattenmeer genommen hat. Der Onkel ist von dessen verkehrstechnischen Ausführungen begeistert und hat gegen die Beziehung der beiden nichts mehr einzuwenden. Die Narration führt verschiedenartige Themen und Wissensformen zusammen: Neben der Aufklärung über topografische Zusammenhänge und eine effektive Nutzung technischer Infrastrukturen werden zeitgenössische Geschlechterverhältnisse und Generationenkonflikte analysiert und umgedeutet. Der Film wirbt vornehmlich für die Anerkennung technischer Hochleistungen und zielt auf den Erwerb von Technikkompetenzen, die eine Organisation des Alltagslebens optimieren. Darüber hinaus gewichtet er das Verhältnis von Tradition und Innovation auf zweifache Weise neu: Indem er die Aufgeschlossenheit gegenüber technischen Neuerungen der Jugend zuschreibt, erhält diese Distinktionsgewinne gegenüber dem Alter und erwirbt zugleich Freiraum für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Die durch den Film verhandelten geografischen, technischen und sozialen Wissenskomponenten werden zudem durch Wissensdiskurse über den Film ergänzt. Denn er bedient sich einer paradoxen Mischung
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aus konventioneller, an den Kinodramen der 1910er Jahre geschulten Spielfilmästhetik und typischer Gestaltungsweisen des semifiktionalen Kulturfilms, in dem Spielhandlungen, sprachliche Kommentare und Trickgrafiken eine produktive Allianz eingingen. So popularisiert er nicht nur neueste technische und kulturelle Veränderungen, sondern reflektiert auch die filmischen Möglichkeiten der Zeit. Auch wenn der didaktische Gestus im Film implizit bleibt, politische Aussagen in den Hintergrund treten und dramaturgische Elemente eine größere Rolle spielen, so knüpft er doch an typische Verfahren früher Kulturfilme an: Kultur- und Werbefilm zeichnete ein semidokumentarischer Status aus, in beiden Gattungen wurden unterschiedliche Wissensansprüche behauptet und mittels Ausnutzung ästhetischer Konventionen und innovativer Filmtechniken beglaubigt. Aufführungsziel war das Beiprogramm im Kino. Die Filme wendeten sich gleichermaßen an ein breites Publikum, versuchten Information und Belehrung mit Unterhaltung zu verknüpfen. Auch auf institutioneller Ebene lassen sich zahlreiche Überschneidungen zwischen Werbe- und Kulturfilmbranche ausmachen: Wie viele Werbefilmfirmen gehörte die Produktionsfirma von Fahrt nach Westerland zu den Mitgliedern des Bundes Deutscher Lehr- und Kulturfilmhersteller. Umgekehrt unternahmen Institutionen wie das Institut für Kulturforschung «gelegentliche Ausflüge in den Werbefilm» (Agde 1998, 49), arbeiteten Trickzeichner sowohl für Kultur- als auch für Werbefilmer, brachten Kameraleute ihre Erfahrungen aus dem Kultur- und Spielfilmbereich ein. Eine Verortung filmischen Wissens durch klare Abgrenzung einzelner Genres, Wissensformen, Vermittlungsstrategien und -ziele ist in dieser frühen Phase kaum möglich. Die Grenzen zwischen Belehrung und Unterhaltung, spielerischer Inszenierung und didaktischer Aufklärung, Wissenspräsentation und Wissensmanipulation sind in allen vorgestellten nichtfiktionalen Filmformen (Schul-, Kultur- und Werbefilm) fließend. Avancierte filmische Techniken, fiktionale und dokumentarische Darstellungsformen sowie narrative Strategien kommen in allen Formen zur Anwendung. Neue Techniken zirkulieren innerhalb der Filmbranche, werden ausgetauscht und weiterentwickelt. Heterogene Wissensbestände aus institutionalisierter Wissenschaft, Alltagskultur, Geschichte und Politik wie auch Wissen über das Medium werden beständig vermischt, neu angeordnet, in Kontexte gebunden und so aktualisiert. Solche Übergänge lassen sich auch zwischen Forschungsfilmen und Spielfilmen ausmachen.
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IV. Filmisches Wissen zwischen Wissenschaft und Populärkultur Am Beispiel von Grönland-Expeditionsfilmen möchte ich die Konstitutionsweisen filmischen Wissens an den Übergängen zwischen Wissenschaft und Populärkultur in den Blick nehmen. Seit Mitte der 1920er Jahre wurden in der Weimarer Republik zahlreiche Filme über Expeditionen in entfernte Regionen der Welt produziert, die sich unterschiedlichen Genres zuordnen lassen: Erstens wurde auf Forschungsexpeditionen gedreht, um Zeugnis von den wissenschaftlichen Entdeckungen abzulegen und für die Nachwelt zu konservieren. Die Aufzeichnungen konzentrierten sich dabei sowohl auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Forscher als auch auf geografische und ethnologische Beobachtungen und Zusammenhänge, die bildlich fixiert und so der wissenschaftlichen Auswertung zugänglich gemacht wurden. Dabei ermöglicht die Dokumentation einer Forschungsreise hier nicht nur Wissen durch Film, sondern auch filmförmiges Wissen, indem die Aufnahmen erst das Sichtbarmachen räumlich-zeitlicher Abläufe und geografischer Prozesse (beispielsweise des ‹lebenden› Eises) gestatten. Trotz ihres dokumentarischen Anspruchs rekurrierten diese Aufnahmen immer auch unterschwellig auf populäre Topoi und tradierten bestimmte Muster polarer Vorstellungswelten. Zweitens kamen Kulturfilme auf den Markt, die ein größeres Publikum vornehmlich mit Lebensbedingungen und Naturerscheinungen in den erschlossenen Gebieten bekannt machen wollten. Sie verknüpften meist reale Vor-Ort-Naturaufnahmen mit Atelieraufnahmen, speisten Spielszenen in die Darstellung ein, integrierten aber auch didaktische Elemente und Vorüberlegungen und versuchten somit letztlich, Belehrung und Unterhaltung miteinander zu koppeln.10 Drittens entstanden Spielfilmproduktionen, bei denen Wissenschaftsdiskurse in Spielhandlungen eingebunden und auf spezifisch ästhetische Weise gestaltet und popularisiert wurden. Als expliziter «Forschungsfilm» verstand sich der 1930 von der FilmPrüfstelle Berlin zugelassene Stummfilm Die deutsche Expedition vom Jahre 1929 auf dem grönländischen Inlandeis.11 Er war auf ein fachspezifisches Publikum zugeschnitten und sollte vor allem der Dokumentation und didaktischen Aufbereitung von Wissen über die arktische Region dienen. Leiter der Expedition war der Klimaforscher und Paläontologe Alfred Wegener, der ein Jahr später in Grönland umkommen sollte. 10 11
Dass diese Versuche ambivalent aufgenommen wurden, belegt die Besprechung des Kulturfilms Milak, der Grönlandjäger von Robert Ewaleit (1928). Die deutsche Expedition vom Jahre 1929 auf dem grönländischen Inlandeis (1929, Leitung: Prof. Dr. A. Wegener, Fotografie und Bearbeitung: Dr. J. Georgi, 1990 m), Bundesarchiv-Filmarchiv.
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Er war durch seine Schrift Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1915) bekannt geworden, in der er nachzuweisen suchte, dass die Kontinente ursprünglich zusammengehört hatten. Um Belege für seine KontinentaldriftTheorie zu sammeln, unternahm er mehrere Forschungsreisen ins Innere Grönlands. Wegener nutzte als begeisterter Fotograf nicht nur modernste Kameratechniken,12 er war auch der meines Wissens erste deutsche Polarforscher, der eine Filmkamera für wissenschaftliche Zwecke in die Arktis mitführte. Die Aufnahmearbeiten übertrug er seinem Mitarbeiter Johannes Georgi, der den Film im Nachhinein zusammenschnitt und zur Vorführung brachte. Nach Aussagen Georgis «war überhaupt keine kommerzielle Verwertung, sondern eine ausschließlich wissenschaftliche Verwendung des Expeditionsfilms vorgesehen» (Georgi 1960, 98). Von Georgi erfahren wir auch, dass der Film «seine nahezu einzige Vorführung in Kopenhagen» erlebte, und zwar vor «dortigen Grönlandkenner[n]» (ibid.), die ihm Beifall zollten. Die Aufnahmen erzählen die Geschichte einer Forschungsreise, mit Anfangs- und Endpunkt am Hafen von Kopenhagen. Die einzelnen Teile des Films sind chronologisch geordnet. Sie betreffen den «Anmarsch» nach Grönland, einzelne «Erkundungsfahrten» mit dem Handschlitten zum Inlandeis, eine Wanderung über den Kamarujuk-Gletscher und schließlich die Heimreise. Die dezidiert innerfachliche Ausrichtung und das vornehmlich ‹dokumentarische› Interesse lassen den Einsatz vielfältiger ästhetischer Mittel zunächst nicht erwarten, sodass eine publikumswirksame Ausnutzung filmischer Gestaltungsmöglichkeiten gezielt in den Hintergrund tritt. Eine für Kulturfilme typische Verwendung wechselnder Einstellungsgrößen, spektakulärer Panoramaaufnahmen, eine abwechslungsreiche und Aufmerksamkeit steuernde Schnittgestaltung mittels Überblendungen und Masken, eingestreute Spielhandlungen und der dramaturgische Aufbau von Spannungsmomenten fehlen. Wichtig scheinen das bloße Aufzählen von Objekten und ihre präzise Verortung zu sein. Anders als die abendfüllenden Kulturfilme, die ein Kinopublikum oder eine Schulklasse belehren und gleichermaßen fesseln wollten, war dieser Film als Illustration eines wissenschaftlichen Vortrages gedacht, um den vor Experten vorgetragenen Expeditionsbericht zu veranschaulichen. Die kartografische Darstellung ermöglichte dabei den schrittweisen Nachvollzug der Reiseroute, die hier nicht tricktechnisch, sondern durch eine 12
Nach eigener Aussage hatte Wegener auf der Grönlandexpedition von 1912/13 «fast nichts anderes getan als fotografiert: Wolken, Eis, Mikro-Aufnahmen, Nordlicht, Luftspiegelungen, Lumière-Farben, Neutrale Punkte, immer mit anderen Apparaten und Platten». Bereits auf der «Danmark»-Expedition von 1906-08 verwendete er «neben der gewöhnlichen Fotografie die Mietheschen Dreifarbenaufnahmen» (Georgi 1960).
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11–12
Person aufgezeigt wird, ohne dass Orte und Namen zur Gedächtnisstütze eingeblendet werden (Abb. 11). Schematische Darstellungen zur Eisdickenmessung knüpften an Präsentationsformen der Lehrbuchdidaktik an und zielten auf die Systematisierung und Abstraktion relevanter Wissensbestände (Abb. 12). Trotz dieser genuin wissenschaftlichen Ausrichtung, so meine These, überlagern sich hier wissenschaftliche und populäre Tendenzen. Auf spezifisch filmische Weise wird Wissen vielfältig gestaltet und an Diskurse und Ästhetiken des Populären gebunden. Wenn beispielsweise die Forscher selbst ins Bild geraten, lassen sich Formen der Inszenierung ausmachen. Die Realfilmaufnahmen charakterisieren und typisieren durch Kameraeinstellungen und Bildkomposition Wissenschaftlerfiguren, die qua Mimik und Gestik, Kleidung und Ausstattung mehr von der Expedition erzählen, als der ‹rein wissenschaftliche› Anspruch intendiert. Sie zeigen Abenteurer, die im Rahmen einer klassischen Heldenreise ausziehen und auf der Suche nach sich selbst dem Fremden begegnen. In der Eroberung des Unbekannten haben sie sich zu bewähren, Proben zu bestehen und Gefahren zu überleben. Sie lösen schwierige Aufgaben, die nicht nur ihre eigene Reifung vorantreiben, sondern auch allgemeinmenschliche Bedeutung haben. Forschung und Inszenierung des Abenteuers bilden so zwei untrennbare Aspekte des Films. Er präsentiert sowohl gesichertes Wissen über die Antarktis (geologische, klimatologische und topografische Daten und Ereignisverläufe) als auch Wissen über menschliche Verhaltensweisen in Extremsituationen und über die kulturellen Muster, in denen das Unbekannte erfahren wird. Zwischen diesem Forschungsfilm und seiner zwei Jahre später produzierten Spielfilmadaption SOS Eisberg (Arnold Fanck, D 1932) könnte filmästhetisch und filmtechnisch kein größerer Abgrund liegen. Der Spielfilm erlangte nicht nur wesentlich mehr Publikumswirkung, sondern ver-
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wendete auch avantgardistische Filmtechniken und zeichnet sich durch ästhetisierende Praktiken aus, die zwischen pathetisch aufgeladener «Naturmagie» und «Technik-Faszination» changieren.13 Doch Fancks Version markierte auch eindeutig Schnittstellen zwischen Wissenschaftsdiskurs und Populärkultur, indem er explizit auf die Expedition Wegeners Bezug nahm. Fanck ließ sich sogar umfassend durch Mitreisende Wegeners beraten und vor Ort unterstützen. Als promovierter Geologe war der Filmregisseur durchaus naturwissenschaftlich ambitioniert und interessierte sich vor allem für die neuesten Erkenntnisse der Polarforschung (Fanck 1973, 54). Er stand in engem Austausch mit berühmten Forscherpersönlichkeiten wie etwa dem Dänen Knud Rasmussen und mit Teilnehmern der Wegener-Expedition. Da Fanck vor Ort drehte, weil er seinen Stoff so authentisch wie möglich gestalten wollte, erlangten die Dreharbeiten selbst zeitweilig den Status einer wissenschaftlichen Expedition – zumindest aus Sicht der Beteiligten. So schrieb beispielsweise Ernst Sorge, einer der Kollegen Wegeners und wissenschaftlicher Berater Fancks, im Vorwort seines populären Berichts Mit Flugzeug, Faltboot und Filmkamera in den Eisfjorden Grönlands (1933) über wissenschaftliche Untersuchungen während der Dreharbeiten, welche das Filmteam später für besonders spektakuläre Aufnahmen von Naturereignissen nutzte, die in die Handlung integriert wurden. Als Sorge selbst in eine missliche Situation geriet, konnte er von Ernst Udet (der im Film als Pilot agiert) im Flugzeug gesucht und gerettet werden. So entstand eine reale Situation im wissenschaftlichen Kontext, die vorwegnahm, was der Film fiktional verhandelt. Dieser beschreibt die abenteuerliche Suche und Rettung eines verschollenen Polarforschers. Prof. Lorenz war am nördlichsten Punkt Grönlands, am Karajak-Gletscher, auf einem Eisberg gestrandet, wird schließlich von seiner Mannschaft gefunden, doch diese gerät nun selbst in Gefahr und sendet ein SOS aus. Es beginnt eine weltweite Suche nach den Verschollenen per Funk. Ein Amateurfunker kann die Forscher schließlich aufspüren. Eine langwierige Rettungsaktion per Flugzeug setzt ein. Schließlich findet Prof. Lorenz’ Frau (gespielt von Leni Riefenstahl) per Flugzeug die Verschollenen, doch da auch sie auf dem Eisberg strandet, bleibt die Rettung Fliegerheld Udet (als er selbst) vorbehalten – dank moderner Technik (Funk und Flugzeug) sowie der solidarischen Unterstützung durch herbeigerufene Inuit. Obgleich Fancks Szenario nichts mit den Ambitionen des Forscherteams um Wegener gemein hat, orientiert es sich doch erkennbar an der 13
So der Titel eines Beitrags von Klaus Kreimeier Naturmagie und Technik-Faszination. Arnold Fancks Berg- und Sportfilmwerkstatt (2005).
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Expeditionsgeschichte, greift auf kartografische Darstellungen zur geografischen Verortung zurück (Abb. 13) und lässt Wissenschaftlerfiguren in Grönland agieren. Insofern handelt es sich auch hier um Wissensvermittlung, die als Popularisierung der Polarforschung und als Beitrag zur allgemeinen Arktikbegeisterung gelten kann. Fancks Film verknüpft Wissen über die polare Region und ihre Erschließung mit zeitgenössischen Fortschritts-Diskursen: Technikfaszination und Wissenschaftseuphorie (verkörpert durch die Protagonisten), Internationalisierungsideen (symbolisiert durch die weltweit vernetzten Funkstationen) und nationale Gemeinschaftsmythen (der kultivierte ‹Weiße› versus der 13–14 primitive Eskimo) werden in Beziehung gesetzt. Die technisch-ambitionierte und emanzipierte Frau (in Gestalt Leni Riefenstahls) trifft als Retterin auf eine ohnmächtige, im Eis gefangene Männerwelt, muss sich dann allerdings wieder in die tradierte Rolle der liebenden und schwachen Frau einfügen. Im Finale werden diese Widersprüche noch einmal ins Bild gebracht, nun jedoch harmonisiert und das Großnarrativ einer heilen und vereinten Welt inmitten befriedeter polarer Landschaft aufgebaut. Der Erlöser und das den Film überstrahlende Idol ist letztlich Ernst Udet. Als Luftkriegsheld des Ersten Weltkriegs genoss er hohe gesellschaftliche Reputation, als Pilot verkörperte er den modernen Helden. Tradition und Moderne, Vertrautes und Fremdes, Technik und Natur scheinen hier eine symbiotische Verbindung einzugehen. In den letzten Sequenzen wird jedoch als krönender Abschluss die visualisierende Macht der Kinematografie selbst gefeiert. Sie zeigen einen kalbenden Eisberg, dessen ungeheure Ausmaße und gewaltige zerstörerische Kräfte erst durch den Film zur Sichtbarkeit gelangen konnten. Mit dieser Episode wird nicht nur ein symbolischer Akt in Szene gesetzt (die Zähmung natürlicher Gewalten durch die Aufzeichnung), sondern auch das filmische Verfahren genutzt, um ein aus wissenschaftlicher Perspektive brisantes Ereignis mit bisher unbekannter Präzision zu fixieren (Abb. 14).
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Wie kaum ein anderer vermochte Fanck die Widersprüche der Epoche mittels spezifischer Gestaltungsformen sichtbar zu machen. Seine Filmästhetik verknüpft konservative Naturlyrik und avantgardistische Filmtechnik, bewahrt ein klassisch bildungsbürgerliches Kunstverständnis und orientiert sich gleichzeitig an den Gesetzen des modernen Medienmarkts. Doch vermochte Fanck, wie sich zeigt, nicht nur zwischen einer traditionalistisch-romantischen Kunstauffassung und einer sachlichtechnikorientierten Ästhetik der Moderne zu vermitteln, sondern auch zwischen Wissenschaft und Populärkultur. Und damit zurück zu meiner Ausgangsfrage: Die Übergänge zwischen den Wissenskulturen im Medium des Films bleiben auch mit Blick auf so gegensätzliche ‹filmische Orte› wie Forschung, Bildung und Massenunterhaltung erkennbar. Denn obwohl Wissenschaftsfilme zunächst einmal einem genuin erkenntnisbezogenen, sachlich-dokumentarischen Anspruch und entsprechend ‹nüchternen› Darstellungsmodi folgen, rekurrierten sie doch immer auch unterschwellig auf ‹populäre› Rezipientenerwartungen sowie auf narrative Praktiken und tradierte Topoi des Spielfilms. Und die eigentlich fiktionale Gattung, der Spielfilm, erhebt einerseits qua Autorisierung durch Experten einen durchaus wissenschaftlichen Anspruch und inkorporiert andererseits ein faktisch basiertes Wissen über den polaren Raum. Was die Vermittlungs- und Darstellungsformen des Forschungs- und Kinofilms betrifft, so können die Unterschiede nicht größer sein. Puristischer Einsatz von Gestaltungsmitteln, sachlicher Gestus, illustratives, deskriptives Vorgehen mit deutlich didaktischem Anspruch im Forschungsfilm stehen einer ausgeklügelten filmästhetischen Konzeption und einer an den Marktgesetzen orientierten Ausrichtung auf Massenunterhaltung gegenüber. Beide Gattungen jedoch zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre intermediale und darstellungstechnische Verfasstheit ausstellen und den Prozess der Wissenspräsentation und -vermittlung immer auch durch Wissen über sich selbst bereichern. Mit anderen Worten: Wissensvermittlung im Film geschieht unabhängig von den institutionellen und kulturellen Verortungen jeweils auf mehreren Ebenen: Was durch Film an Wissen hervorgebracht wird, erzählt durch sein Wie immer auch etwas über die apparativen und diskursiven Bedingungen kinematografischer Wissenskonstitution und damit auch über ein Wissen des Films von sich selbst.
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Erkki Huhtamo
Botschaften an der Wand Eine Archäologie von Mediendisplays im öffentlichen Raum
Zur Kultur der visuellen Medien gehört mehr als nur das, was sich in Innenräumen abspielt. Offenkundig wird dies, wenn man über urban screens nachdenkt, jene Großbildschirme im öffentlichen Raum, deren weltweit höchste Konzentration möglicherweise der Platz vor dem Shibuya-Bahnhof in Tokyo aufweist. Die Wände der Gebäude um den Platz sind mit Bildschirmen unterschiedlicher Größe und Form bedeckt, die Räume dazwischen mit Neon-Leuchtzeichen ausgefüllt. Dadurch entsteht eine Art künstlicher Horizont (vgl. Callas 1990). Abgesehen davon, dass sie alle die Werte von Kommerz und Kapitalismus zelebrieren, besteht zwischen den Bildern, die auf diesen Schirmen aufleuchten und sich bewegen, keinerlei thematische oder formale Beziehung.1 Vielmehr stellen sie ein Mosaik dar, das ständig mutiert; es ist Teil der Stadtlandschaft und wird zugleich selbst zu dieser. Passanten schauen auf die Bildschirme, lassen sich davon aber nicht absorbieren. Die Bildschirme an den Hauswänden schaffen eher ein Ambiente, als dass sie Gegenstände vertiefter Aufmerksamkeit würden. Ungeachtet seiner wachsenden Bedeutung hat sich die Medienwissenschaft dem Thema ‹Bildschirme in öffentlichen Räumen› bislang nur am Rande gewidmet; sowohl die Film- und Fernsehwissenschaft wie auch die Forschung zu den ‹neuen Medien› ignorieren sie weitgehend. Die meisten Wissenschaftler, die sich mit Audiovisualität auseinandersetzen, ziehen es offenbar vor, deutlich umrissene und in psychischer wie physischer Hinsicht verinnerlichte Erfahrungen in den Blick zu nehmen. Dass Bildschirme in öffentlichen Räumen so wenig Aufmerksamkeit finden, ist umso erstaunlicher, wenn man die gewaltige Wirkung von Guy Debords Buch Gesellschaft des Spektakels und die Neubeurteilung kommerziell genutzter öffentlicher Umgebungen durch die postmoderne Architekturtheorie und Urbanistik bedenkt, wie sie vor allem ausgehend von dem inzwischen 1
In einigen wenigen Fällen wurden in Shibuya bestimmte Sujets simultan auf zwei Bildschirmen vorgeführt. Ferner gab es Experimente, bei denen Mobiltelefon-Nachrichten von Passanten gezeigt wurden.
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klassischem Buch der Architekten Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour Learning from Las Vegas (1972) entwickelt wurde. Der vorliegende Beitrag entwirft den Umriss einer Archäologie der Mediendisplays in öffentlichen Räumen, der von einer Diskussion ihrer verschiedenen Entwicklungsstufen, von Firmenzeichen über Werbefahnen, Großplakate und Billboards bis hin zu den ersten dynamischen Displays ausgeht.2 Er zeigt, dass diese Entwicklung ständig von Diskursen begleitet war, welche die öffentlichen Displays kommentierten und auf ihre Formen zurückwirkten. Mein Hauptaugenmerk wird dabei auf der Monumentalisierung der Displays liegen; zugleich werde ich darlegen, dass diese nicht unabhängig von der zeitgleich fortschreitenden Miniaturisierung und Vervielfältigung technisch reproduzierter Bilder und anderer Mediengadgets zu betrachten ist. Vom Schild zum Aushang und zur Plakatwand Gemalte oder geritzte Wandinschriften, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollten, waren schon im antiken Rom bekannt. Zudem benutzten die Römer Schilder, um Werkstätten und andere Betriebe kenntlich zu machen. Ähnliche Praktiken waren im Europa des Mittelalters üblich, auch wenn durchgängige Belege dafür erst für den Zeitraum seit dem 16. Jahrhundert vorliegen. Metall-Embleme mit symbolischen Objekten oder Wappenzeichen, die an Stangen vor den Hausfassaden hingen, dienten zur Kennzeichnung von Geschäften und Lokalen; vor der Einführung von Hausnummern wurden solche Embleme überdies als Adressmarkierungen verwendet. Ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert, im Zuge der Guttenberg’schen Revolution, erlaubte dann das Aushängen gedruckter Mitteilungen an Türen und Wänden eine größere Bandbreite sprachlicher Mitteilungen. Mit dem Wachstum der Städte und der Entfaltung des Kapitalismus gewann die Rolle der Werbung in der Öffentlichkeit an Bedeutung. Schilder erleichterten nun auch den Vergleich konkurrierender Produkte und Dienstleistungen. Dies stand im Zusammenhang mit der Einführung anderer Formen der Reklame, so etwa von gedruckten Handzetteln und Zeitungsinseraten. Mit der Zeit setzten sich persuasive Strategien gegenüber diesen mehr oder weniger neutralen Mitteilungen durch, die Dienstleistungen einfach nur ankündigten. Wie bereits erwähnt, spielten Messen, Karnevalsfeste und andere öffentliche Versammlungen eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung. Marktstände für reisende Theatertruppen, Zirkusse und andere 2
Er versteht sich auch als Beitrag zu einer Wissenschaft von den Bildschirmen; vgl. Huhtamo 2004.
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Unterhaltungsangebote verwendeten große bemalte Plakate, um ihr Publikum anzuziehen und eine Vorstellung von ihrem Programm zu geben. Der Wandertheater-Unternehmer John Richardson (1766–1836), der seine erfolgreiche Karriere als bescheidener penny showman begonnen hatte, sicherte sich die Dienste der berühmtesten Bühnenbildmaler der Royal patent theatres in London, der beiden vom König lizenzierten wichtigsten Sprechbühnen des 17. bis 19. Jahrhunderts.3 Zusammen mit den Ausrufern wurden die Plakate zu Waffen auf einem diskursiven Schlachtfeld, womit sie die Rolle späterer Filmplakate vorwegnahmen. Der berüchtigte Vater des humbug, P.T. Barnum, übernahm diese Praxis und behängte die Fassade seines American Museum am New Yorker Broadway, der betriebsamsten Straße der Stadt, mit riesigen Bannern, um die Attraktionen anzukündigen, die dort zu sehen waren.4 Gedruckte Attraktionen in öffentlichen Räumen kamen im frühen 19. Jahrhundert in Mode. In London begannen Drucker und Buchhändler, satirische politische Kupferstiche und Drucke in ihren Schaufenstern auszustellen, und verwandelten diese so in eine Art Gratis-Galerie für media imagery (Donald 1996).5 Reklame für Konsumprodukte und populäre Unterhaltungsangebote wurde auf allen verfügbaren Oberflächen angebracht, von Zäunen über Mauern bis hin zu Türen. Dies hing nicht nur mit dem raschen Wachstum der großen Städte wie London und Paris oder mit dem sich verschärfenden Wettbewerb der kapitalistischen Wirtschaft zusammen, sondern auch mit anderen Entwicklungen, so etwa der hohen Besteuerung bezahlter Zeitungswerbung. Werbung in öffentlichen Räumen war billiger und erreichte ein größeres Publikum. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs diese Form der Reklame noch unreguliert, wie kulturgeschichtliche Untersuchungen zeigen (vgl. Elliott 1962, 164–167; Schuwer 1966, 62f; Sampson 1875). Plakatkleber kannten weder Regeln noch Einschränkungen und nutzten alle verfügbaren Flächen; Schicht um Schicht klebten sie ihre großen Plakate auf Wände, die oft schon mit Reklame überzogen waren. Sie konkurrierten miteinander und bekämpften sich bis zur körperlichen Auseinandersetzung, ohne den offiziellen Erlassen große Beachtung zu schenken, die eine bessere Kontrolle der Situation herbeiführen sollten. Die Stadtlandschaft verwandelte sich in einen in ständiger Metamorphose begriffenen, spannungsgeladenen Flickenteppich von sich überla3 4 5
Vgl. den Nachruf auf Richardson in The Gentleman’s Magazine 7 (Jan.–Juni 1837, 326f). Verschiedene zeitgenössische Illustrationen belegen dies; vgl. Foster 1990. W. Weir trug dem auch Rechnung, als er 1851 schrieb, dass die «Schaufenster der Druckgeschäfte – besonders jene, in denen Karikaturen ausgestellt werden – über großartige Attraktionen verfügen» (33), auch wenn sie es nicht lange mit den Plakatwänden in Bahnhöfen aufnehmen konnten.
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gernden Text- und Bildbotschaften. In dem Palimpsest, zu dem sich die Plakate auf der Wand des Park Theatre in New York verbanden, glaubte der Journalist George Foster einmal die folgende Botschaft erkennen zu können, die bei den Surrealisten und Situationisten ohne Zweifel Gefallen gefunden hätte: «Steamer Ali – Sugar Coat – and Pantaloons for – the Great Anaconda – Whig Nominations – Panorama of Principles – Democrats rally to the – American Museum» – und so weiter (Foster 1990, 152).6 Es gab Innovationen, wie etwa die Botschaften, die mit Farben auf den Boden gemalt und erst sichtbar wurden, wenn es regnete, ebenso wie «peripatetische» und «vehikuläre» Werbeschilder (Weir 1851, 37). Mit Ersteren waren Menschen gemeint, die auf der Straße Werbeschilder entweder hochhielten oder vor Bauch und Rücken trugen (Charles Dickens prägte dafür den Ausdruck animated sandwich, der sich als «Sandwichmann» im Deutschen einbürgerte).7 «Vehikulär» waren Omnibusse und Gespanne, die man mit Werbeflächen bedeckt hatte. Im Extremfall waren diese Gefährte selbst als dreidimensionale Objekte getarnt (Henderson/Landau 1980, 11). Dies alles trug zu dem bei, was Jean-Louis Comolli «the frenzy of the visible», die Raserei des Sichtbaren, genannt hat.8 Öffentliche Bilder, sowohl statische wie dynamische, begegneten den Stadtbewohnern bald auf Schritt und Tritt. 6 7 8
Für Foster bestand die eigentliche Botschaft der sich überlagernden Handzettel in ihrer Wandelbarkeit. Dies findet Erwähnung bei Weir und in anderen zeitgenössischen Quellen, zu denen auch der Brief einer «amerikanischen Dame» aus der Zeit gehört; vgl. Weir 1851, 37; Wood 1843, letter XVIII, 39. Dieses Phänomen war der Effekt einer «sozialen Multiplikation der Bilder» und «einer geographischen Ausdehnung des Feldes des Sichtbaren und Darstellbaren». Comolli wies auch darauf hin, dass es «eine Sichtbarkeit der Ausbreitung der Industrialisierung gibt, der Transformation der Landschaft, der Produktion von Städten und Metropolen»
Es ist verführerisch, die Aushangplakate als eine Vorform des Bildschirms zu bezeichnen, doch das ginge zu weit: Die Definition des Bildschirms als Interface der Information sollte die Trennung zwischen Hardware und Software beinhalten; der Bildschirm sollte sowohl als Rahmen wie auch als Portal verstanden werden, durch das Botschaften übertragen und aus dem sie bezogen werden können. In einem begrenzten Sinn bildeten sich solche Bedingungen allerdings heraus, als Werbefirmen nach Jahren der plakatkleberischen Anarchie anfingen, Rechte an der Nutzung bestimmter Oberflächen zu erwerben und sie an ihre Kunden zu vermieten. In England wurde diese Praxis als placard advertising, als Aushangwerbung bekannt. Eine Werbefläche wurde, ganz im Geiste der Rationalisierung, in gerahmte lots, in Felder, aufgeteilt, die von Unternehmen, die sich die Nutzungsrechte gesichert hatten, ‹kultiviert› oder bewirtschaftet wurden.9 Der ständige Strom von Passanten machte sie attraktiv, und auch von der Bahn aus kam man nicht umhin, die Werbeflächen anzuschauen. In den USA etablierte sich der Begriff billboard, der für eine vergleichbare institutionelle und kommerzielle Entwicklung steht.10 Catherine Gudis hat die Bedeutung dieser Entwicklung treffend zusammengefasst: «Wie die Gebäude, die in den rasch wachsenden Metropolen emporschossen, trugen die Billboards zur Herausbildung kommerzieller Zentren bei und formalisierten das Vordringen von Bildern und Texten in den öffentlichen Raum» (Gudis 2004, 19). Obwohl Billboards einen Versuch darstellten, ‹wilde› Werbung zu domestizieren, vermochten sie die Kritik an der vermeintlich schädlichen Wirkung von Reklame in der Öffentlichkeit nicht einzudämmen. Im Gegenteil: An ihr Auftreten knüpfte sich eine erhitzte und lang andauernde öffentliche Debatte. Sie führte zur Gründung von Branchen-Verbänden, die es sich zur Aufgabe machten, die Geschäftsinteressen der Werbeunternehmen zu vertreten. Dazu zählen die International Bill Posters’ Association of North America (1872) und die Associated Bill Posters’ Association of the US and Canada (1891), aus denen sich schließlich die heutige Outdoor Advertising Association of America (OAAA) entwickelte. Bürgerverbände zur Überwachung der Werbung formierten sich ebenfalls, so etwa die Britische SCAPA (Society of the Checking of Abuses in Public Advertising, 1893). Ähnlich wie vergleichbare Organisationen andernorts ermunterte die SCAPA ihre Mitglieder, Missbräuche und Exzesse der öffentlichen Werbung zu 9 10
(Comolli 1980, 122f). Von Interesse ist hier die sprachliche Analogie zur Landwirtschaft: lot bedeutet «Feld» und to cultivate meint die Bewirtschaftung durch den Bauern. Dies geschah wahrscheinlich in den 1870er Jahren, obwohl das Oxford English Dictionary ein britisches Beispiel von 1851 erwähnt: «The bill-boards of the Park [...] still continued to style the Park ‹The Theatre›». Es scheint kein Zusammenhang zu späteren amerikanischen Verwendungen zu bestehen; vgl. Henderson/Landau 1980, 11.
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dokumentieren, und kämpfte für die Entfernung falsch platzierter und ungehöriger Aushänge. Die Spannung verschärfte sich zusätzlich, als die Einführung des Automobils Werbefirmen dazu brachte, Billboards nicht nur in Städten, sondern auch am Straßenrand zu errichten. Oft wurde ihnen vorgeworfen, den Blick auf die Landschaft zu verstellen. Dieser Konflikt erregte auch die Aufmerksamkeit der Karikaturisten. Eine Karikatur mit dem Titel Go Prepared if you Wish to Enjoy American Scenery (1925) zeigt ein Auto, das an einer Straße voller Billboards parkt (abgedruckt in Gudis 2004, 186). Die Autofahrer haben Leitern an die Tafeln gelehnt, um einen Blick auf die Landschaft dahinter zu erhaschen. Der Kampf gegen «Müll, Unkraut und Billboards» wurde zum «Kreuzzug» ausgerufen (Woodruff 1907).11 Das nahm die feministische Vorkämpferin Frances Power Cobbe wörtlich und attackierte auf ihren Überlandfahrten die Billboards mit einem «Kübel Farbe und einem langstieligen Pinsel, um die Entstellungen zu entstellen». Sie lieferte damit ein Vorbild für die adbusters und kritischen Straßenkünstler späterer Jahrzehnte (Turner 1953, 124).12 Vergrößern und Schrumpfen: Die Gulliverisierung der Medien Werbung in den öffentlichen Räumen des 19. Jahrhunderts ist nicht nur durch die Modalitäten ihrer Verbreitung und Institutionalisierung interessant, sondern auch aufgrund der enormen Vergrößerung der Botschaften selbst. Frühe Werbeschilder und gedruckte Plakate waren relativ klein. Ihre Größe lässt sich als anthropomorph charakterisieren: Sie entsprach mehr oder weniger den Dimensionen der Umgebung, in der die meisten Leute lebten. Ausnahmen, die diesem Prinzip nicht entsprachen, hatten in der Regel etwas mit Macht zu tun: Kathedralen, Stadtmauern, Schlösser und Stadthäuser waren dazu gedacht, die ‹gewöhnlichen Leute› allein schon kraft ihrer Ausmaße zu beeindrucken. Gotische Kathedralen verfügten über enorme Rosettenfenster aus Tausenden von farbigen Glasscheiben. Unter Berninis immenser Kuppel über dem neuen Petersdom in Rom zu stehen sollte den Betrachter von der Macht der katholischen Kirche überzeugen. Trotzdem bestanden selbst außergewöhnliche Attraktionen im öffentlichen Raum, wie etwa astronomische Uhren, die in Kirchen- oder Stadthausmauern eingebaut waren (manchmal an den Außenwänden), oft aus relativ kleinen Elementen. Ihre von Uhrwerken betriebenen Glocken schlugen in regelmäßigen Abständen und die mechanisch betriebenen, be11 12
Woodruff war der erste Präsident der American Civic Association. Cobbe (1904) erwähnt diesen Vorfall jedoch nicht in ihrer Autobiografie.
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weglichen Figuren waren nicht unbedingt größer als die Automaten, die reisende Schausteller ihrem Publikum zeigten. Eine französische Karikatur aus dem frühen 19. Jahrhundert kündigt den Wechsel an. Sie zeigt zwei Männer, die sich bemühen, Ankündigungen auf einer Wand zu lesen (abgedruckt in Bernstein 2007, 12). Der eine studiert die dicht mit Informationen gefüllten Papiere von einer Leiter aus, der andere benutzt ein Teleskop. Die Pointe der Karikatur zielt auf die Absurdität langer offizieller Mitteilungen an Außenwänden, trifft aber die damalige Praxis insgesamt. Plakate schichteten sich nicht nur in Lagen übereinander, sie kletterten auch die Wände hoch, was das Lesen erschwerte.13 Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Situation auf dramatische Weise, teils dank wirtschaftlicher Entwicklungen in den Städten, teils dank Verbesserungen der Drucktechnik. Am Ende des Jahrhunderts wurde es möglich, chromolithografische Poster in verschiedenen Farben zu produzieren. Graphiker lernten mit großen Formaten umzugehen und konzentrierten sich vermehrt auf Darstellungen, die schon von weitem erkennbar waren. Sie reduzierten die Textanteile der Botschaft und stellten stattdessen Markenzeichen und branding in den Vordergrund. Werbeunternehmen begannen, sich Gedanken über die Platzierung der Reklameflächen in der adscape, der Werbelandschaft, zu machen, und nutzten Größe und Perspektive, um die Wirkung ihrer Botschaft im Verhältnis zur Umgebung zu verstärken. Zugleich führte die Entwicklung auch in die entgegengesetzte Richtung: Die Lithografie und ihre Verbesserung, die Chromolithografie, sowie die fotografische Reproduktion schufen neue Möglichkeiten für die Produktion von Bildern, die kleiner waren als üblich. Kleine massenfabrizierte Bilder breiteten sich nun an jedem erdenklichen Ort aus. Fotos und Druckbildchen füllten Alben und Einklebebücher und dienten als vorgefertigtes Rohmaterial für Freizeitvergnügungen wie das Herstellen farbenfroher Leporello-Collagen. Illustrierte Magazine gehörten ebenfalls zu diesem Trend. Das Größerwerden öffentlicher Aushänge und Plakate ging also mit seinem Gegenteil einher: der Miniaturisierung und Privatisierung technisch produzierter Bilder. Wie ich an anderer Stelle vorgeschlagen habe, könnte man dieses Phänomen als die «Gulliverisierung» des Visuellen bezeichnen (Huhtamo 1990). Dieser Begriff benennt einen polarisierten optisch-kulturellen ‹Mechanismus›, der gegen das Konzept eines allgemeingültigen Menschenmaßes anarbeitete. Die Größe des menschlichen Beobachters erschien abwech13
Flugblätter wurden mitunter auch als handbills, «Handzettel» bezeichnet, was sich auf die Praxis des Verteilens von Hand zu Hand bezog.
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selnd gigantisch (im Verhältnis zu Fotopostkarten und anderen kleinen Bildern) und liliputanisch (wenn der Betrachter vor einer großen Plakatwand oder unter Werbespektakeln am Himmel stand). Etwas Vergleichbares trug sich im Feld der Medien zu: Die ‹Immersion›, die Versenkung in ein enormes kreisrundes Panorama oder ein Diorama-Gemälde (und später in die Kinoleinwand) fand ihr Gegenstück im Anschauen kleiner drei-dimensionaler Fotografien mit dem verbreiteten tragbaren Stereoskop. Die Gulliverisierung vollzieht sich an der Schnittstelle zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Die städtische Umgebung mit dem Wolkenkratzer als quintessenzieller Manifestation wurde immer ‹unmenschlicher›, während das private Heim eine Rückkehr zum anthropomorphen Maßstab bot. Die zahllosen kleinen Objekte und Bilder, die das viktorianische Wohnzimmer schmückten (inklusive Miniatur-Reproduktionen öffentlicher Monumente), vermittelten den Bewohnern die Illusion einer Kontrolle, über die man in den Außenräumen der Stadt nicht mehr verfügte. Die Gulliverisierung warf auch die Frage nach der Beziehung zwischen Dingen auf, die sich in greifbarer Nähe befinden, und solchen in größerer Entfernung. Die Vermittlung zwischen diesen Gegensätzen wurde zu einem wichtigen Teil der Werbestrategien, auch wenn es nicht immer ausdrücklich so formuliert wurde. Plakatwände verliehen Produkten eine monumentale, ‹universelle› Qualität; Handzettel, Zeitungsinserate und andere Formen der Werbung brachten sie dagegen zum Käufer und machten sie ‹persönlich›. In bequemer Reichweite dienten diese Paraphernalien als Placebos für Produkte, die die angesprochenen potenziellen Kunden (noch) nicht besaßen. Alles wurde über ‹magische› Transformationen vermittelt – namentlich durch Veränderungen des Maßstabs, die sich von den Wahrnehmungen und Bewegungen der Beobachter und potenziellen Käufer nicht trennen ließen. Eine ähnlich ‹bipolare Optik› manifestierte sich später im Starkult und in den ideologischen Manipulationen der Masse in totalitären Gesellschaften wie Nazi-Deutschland. Bilder von Filmstars wurden zur populären Vorlage für Plastikfigürchen und Sammelbildchen. Die riesigen Gesichter, die auf Plakatwänden erschienen, wurden auf eine Größe reduziert, die sich den Fingerspitzen anpasste: Der Gegenstand distanzierter Anbetung kehrte in Reichweite der Tastorgane wieder. Diese Miniaturobjekte bildeten einen wesentlichen Teil des Spiels mit Erwartungen, Versprechungen und Gratifikationen des Starkultes. Wie Familienfotos, die man in der Brieftasche aufbewahrt, konnten sie zu mehr werden als nur einem Bild, zu Darstellungen des Abwesenden, ja fast zum ‹Ding an sich›. Die religiösen Implikationen des Starkults treten hier deutlich zutage.14 Werbung, 14
Solche Figuren gleichen massenproduzierten religiösen Karten, deren Ikonografie sich von Altargemälden und anderen großformatigen religiösen Darstellungen ableitet.
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Starsystem und Religiosität haben das Zusammenspiel des Monumentalen mit dem Intimen gemeinsam. In diesem Sinne können Plakatwände vielleicht als die Altarbilder im Kult des Kapitalismus bezeichnet werden. Die Nationalsozialisten verstanden, dass ideologische Indoktrination nicht nur von offenkundiger Propaganda und Massenritualen abhing, sondern auch über vermeintlich weniger bedeutungsvolle Kanäle lief. Sie ‹orchestrierten› Massenanlässe und symbolische Handlungen. Riesenhafte plakatwand-ähnliche Bilder von Hitlers Gesicht wurden aufgestellt. Leni Riefenstahls staatsfinanzierte ‹Dokumentarfilme› Triumph des Willens (1934) und Olympia I–II (1938) waren Teil einer medialen Fassade, die darauf abzielte, Deutsche und Ausländer zu beeindrucken. Die Nazis operierten aber auch am anderen Ende der Größenskala. Joseph Goebbels’ Propaganda-Ministerium gründete eine Firma mit dem Namen «Cigaretten-Bilderdienst», die Kärtchen zum Sammeln herstellte, die in Zigarettenpäckchen steckten (Faeti 1989). Zu den dargestellten Themen zählten das Leben Hitlers, Nazi-Uniformen, der Anschluss Österreichs und die Wehrmacht. Erwartungsgemäß gab es auch eine Bilderserie über die Olympischen Spiele in Berlin 1936, die so etwas wie den liliputanischen Kontrapunkt zu Riefenstahls kolossalem Filmprojekt darstellte. Für diese Kärtchen hatte man hübsche Sammelalben mit vorgedruckten, sorgfältig formulierten Bildunterschriften; die Nazi-Ideologie wurde so als ‹Nebenprodukt› eines ‹unschuldigen› Hobbys internalisiert.15 Der Auftritt der dynamischen Displays Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Plakatwand zu einem wichtigen Teil der städtischen Umwelt geworden. Karikaturisten zeigten Menschen, die durch irrgartenähnliche Landschaften wandern, aus denen Plakatwände alles andere verdrängt hatten, sodass sie zu einer geteilten «virtuellen Realität» wurden (vgl. Henderson/Landau 1980, 16).16 Es kann deshalb nicht erstaunen, dass diese Wände ständig von Kulturreformern kritisiert wurden und ins Visier modernistischer Architekturkritiker gerieten, die dazu aufriefen, die Stadt ebenso von jeglichem Ornament zu säubern wie von historistischen Anspielungen und nicht-funktionalen und -funktiona15
16
Der Münchner Raumbild-Verlag veröffentliche Sätze aus 3D-Bildkarten-Paaren von deutschen Kriegsanstrengungen; vgl. Die Soldaten des Führers im Felde, München: Raumbild-Verlag 1940. Die Alben enthielten je 100 fotografische Stereoansichten und ein faltbares Stereoskop. Eine andere Karikatur, die eine vergleichbare Idee zur Darstellung bringt (von einem Mr. Donnell, für den Globe-Democrat) wurde veröffentlicht in: The Civic League of St. Louis, Billboard Advertising in St. Louis: Report of the Signs and Billboards Committee of the Civic League of St. Louis. St. Louis: The Civil League of St. Louis 1910, 6.
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listischen Elementen. Oscar Wilde brachte in für ihn typischer Weise einen Standpunkt zum Ausdruck, der nur von wenigen seiner Kollegen in den kulturellen Eliten geteilt wurde: Er lobte die Straßenwerbung dafür, dass sie «Farbe in die graue Monotonie der englischen Straßen» bringe (Elliott 1962, 165). Welche Haltung man auch dazu hatte, es war unmöglich, die Straßenplakate zu ignorieren. Trotzdem wäre es nicht gerechtfertigt, sie als ‹Bildschirm› in einem medienkulturellen Sinne zu verstehen. Ein Straßenplakat konnte eine Erzählung suggerieren, war aber kein Medium für eine sequenzielle Präsentation, sondern blieb, ungeachtet seiner Größe, ein starres gedrucktes Bild. Bewegen konnte es sich nur in Träumen oder Fantasien, wie dies etwa Busby Berkeleys extravagante optical-illusion-Sequenz in Dames (Ray Enright, USA 1934) nahelegt.17 Das Straßenplakat blieb ein gigantisches Emblem, das darauf abzielte, den Passanten eine bestimmte Idee – nämlich das Markenzeichen – einzuprägen. Gleichwohl wurden neue, dynamische Elemente sukzessive in die städtische Werbelandschaft eingeführt. Technisch gesehen ging der primäre Anstoß dazu von der Elektrizität aus. Die neue Rolle des elektrischen Lichts in den Straßen und bei Massenanlässen, so etwa den Weltausstellungen, führte zu einer «elektrischen Landschaft», die sich «stückweise» ausbreitete (Nye 1990, 32). Vor allem in den USA wurde die Elektrizität mit symbolischen Werten assoziiert – mit Fortschritt und things American. Schon bald nach dem Siegeszug der Glühbirne in den späten 1870ern wurde sie in der Werbung eingesetzt. Der New Yorker Broadway hieß bald The Great White Way, was sich auf die elektrischen Werbeschilder und die beleuchteten Schaufenster bezog, die die Straße nach Einbruch der Dunkelheit in eine lichtvolle Attraktion verwandelten. «Die durchsichtigen Poster, auf welche die Elektrizität Werbetexte mit einer Schrift aus Feuer schrieb» (Jules Verne 1863, 197), verfügten über Qualitäten, die herkömmlichen Plakatwänden fehlten. Nicht nur verlängerten sie die Zeitspanne, während der Passanten bereit waren, sich ihren Botschaften auszusetzen: Indem man die erleuchteten Teile rhythmisch ein und ausschaltete, konnte man Animationen hervorbringen. Ein besonders komplexes Gebilde wurde auf dem Dach des Hotel Normandie in New York errichtet. Es war sieben Stockwerke hoch und bestand aus zwanzigtausend Glühbirnen, die ein römisches Wagenrennen aus Licht darstellten. Ein Reporter empfand es als «perfekter und natürlicher in seiner Bewegung als das beste kolorierte Filmbild».18 17
18
Ein junges Liebespaar, gespielt von Ruby Keeler und Dick Powell, fährt in einer Straßenbahn. Er schläft ein und träumt von seiner Freundin und anderen Frauen in einem fantastischen, stilisierten Tanz-Spektakel in einer Werbelandschaft, die sich als Traumlandschaft entpuppt. Francis Arthur Jones, «The Most Wonderful Electric Sign in the World». In: The Strand
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Obwohl erst die Elektrizität spektakuläre Lichteffekte zur Alltagserfahrung machte, waren sie nicht ohne Vorläufer. Jahrhundertelang wurde Feuerwerk dazu benutzt, architektonische Strukturen zu erleuchten, etwa zur Feier von königlichen Geburten und Hochzeiten oder von Kriegserfolgen.19 Wie George Plimpton (1984) erklärt, wurden im 17. Jahrhundert «Maschinen» (die man auch als «Tempel» bezeichnete) für diese Zwecke genutzt. Dabei handelte es sich um «elaborierte ornamentale Strukturen, üblicherweise in der Form von Gebäuden, die mit allegorischen Figuren und Blumen bemalt waren und Lampen enthielten, die in Silhouette so ausgeschnitten waren, dass sie durchleuchteten» (ibid., 34f). Diese ‹Maschinen› glichen oft Brunnen, Palästen oder Booten, und sie wurden aus naheliegenden Gründen auf Schiffen und Flößen errichtet oder auf Brükken und offenen Plätzen. War das Feuerwerk entzündet, so begann ein ‹Multimedia›-Spektakel avant la lettre. Während herkömmliches Feuerwerk bestenfalls einfache ikonische Elemente wie Blumen hervorbringt, fügten die Repräsentationselemente der ‹Maschine› der Show allegorische und politische Bedeutungen hinzu.20 Für die Betrachter produzierten die ‹Maschinen› eine Art Bild, das von den Explosivstoffen animiert und schließlich vom Feuer aufgezehrt wurde. Zwischen solchen Extravaganzen und der elektrischen Beleuchtung von Brücken, Bildern, Statuen und anderen Elementen der städtischen Umwelt bestand eine Beziehung: Laut Carolyn Marvin (1988, 153) verlief der Wandel der traditionellen Effekte vom Zeitalter des Feuers zu dem der Elektrizität in kontinuierlichen Schritten. Viele klassische Motive, so auch die Feuerbrunnen, wurden einfach ins Vokabular der «elektrischen Lichteffekte» übersetzt (ibid., 164, 167). Festzuhalten ist auch der Einfluss des Feuerwerks auf spektakuläre, aber ‹sichere› Medienformate, wie die feux pyriques (oder feux arabesques) und die sogenannten «Chromatropen», mechanisch zu projizierende Lichtbilder, die auch als «künstliche Feuerwerke» bekannt waren.21 Die feux pyriques kamen ohne Feuer oder Explo-
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Magazine, Zeitungsausschnitt ohne Datum, zit. in Nye 1990, 52. Wolfgang Schivelbusch sieht deren Ursprünge in mittelalterlichen Meldefeuern. Schon im 17. Jahrhundert entwickelten sie sich zu einer ‹Kunstform› mit strikten Regeln und einer eigenen Ästhetik, die Feurwerksmeistern oblag; vgl. Schivelbusch 1983, 137ff. Der chinesische Künstler Cai Guo-Qiang verwendet Feuerwerk in öffentlichen Räumen als Medium der bildenden Kunst. Seine Black Rainbow Series (2005) brachte eine nicht-feierliche Haltung zum Feuerwerk für das Zeitalter des globalen Terrorismus zum Ausdruck; vgl. Krens/Munroe 2008, 63ff, 180ff. Eine Vorrichtung für feux pyriques aus dem 18. Jahrhundert mit einem großen Satz software wird in der Jonathan and Jacqueline Gestetner Collection in London aufbewahrt, wo ich sie anschauen konnte. Die Bezeichnung «künstliches Feuerwerk» wurde für die Chromatropen des bekannten britischen Herstellers Carpenter & Westley verwendet. Einige Beispiele befinden sich in der Sammlung des Autors.
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sivstoffe aus. Die Effekte wurden durch kolorierte scherenschnittartige Bilder erzeugt, hinter denen Scheiben mit abstrakten Mustern rotierten (oft angetrieben von einem Uhrwerk). Sie wurden in Innenräumen gezeigt, üblicherweise in Verbindung mit anderen optischen ‹Wundern›, so etwa Projektionen von Zauberlaternen, die oft Chromatropen als visuell wirkungsvollen Höhepunkt einsetzten (und als Zeichen dafür, dass es nun Zeit war, nach Hause zu gehen). Projektionen von Zauberlaternen als Vorwegnahme des Bildschirms im öffentlichen Raum Eine andere Möglichkeit, bewegte Bilder in einer öffentlichen Umgebung zur Aufführung zu bringen, war die Zauberlaternen-Projektion. Seit ihrer Einführung Mitte des 17. Jahrhunderts galt die Zauberlaterne nur als geeignet für abgedunkelte Innenräume.22 Das ist verständlich, weil die verfügbaren Lichtquellen schwach waren und die projizierten Bilder flau. Was schließlich die Projektion in öffentlichen Räumen und unter freiem Himmel ermöglichte, waren dramatische Verbesserungen der Lichttechnik, insbesondere die Entwicklung des Oxy-Hydrogen-Rampenlichts («Kalzium-Licht») und des elektrischen Lichtbogens.23 Wolfgang Schivelbusch zufolge wurde mit lichtstarken Strahlern schon seit den 1840er Jahren experimentiert, um öffentliche Gebäude in Paris zu illuminieren.24 Die Idee, nicht nur einen Lichtstrahl zu projizieren, sondern auch Bilder und Texte, stellte einen folgerichtigen nächsten Schritt dar. Eine Zwischenform war der Einsatz von Suchscheinwerfern bei nächtlichen Bootsfahrten, um Landschaftsszenen an den Flussufern zur Geltung zu bringen. Laut einem besonders enthusiastischen Teilnehmer einer solchen Bootsfahrt «schwenkte der magische Schaft des Suchlichtes von einem Punkt zum nächsten und schuf so Bilder, deren Details viel deutlicher zutage traten, als dies bei Tageslicht hätte der Fall sein können» (R.A.S. 1897, 9; Herv. E.H.). Vor allem in den USA, wo die Zauberlaterne als «Stereopticon» bekannt war, wurden seit den 1960er Jahren Lichtbilder unter freiem Himmel auf Leinwände, Mauern und sogar öffentliche Denkmäler projiziert.25 In 22 23 24 25
Zur Frühgeschichte der Zauberlaterne vgl. Rossell 2008. Die Geschichte dieser Lichtquellen ist vielschichtig. Beide erreichten gegen Mitte des Jahrhunderts ein Niveau, auf dem sie für praktische Belange verwendet werden konnten; vgl. Guerin 1995; Rees 1978. Später benutzten die Franzosen solche Strahler während der Kolonialkriege in Afrika, um Feinde abzuhalten, womit sie die ideologischen und militärischen Vorzüge einer Technik des Blendens unter Beweis stellten; vgl. Schivelbusch 1983, 54ff. In The Shocking History of Advertising schildert Turner eine Zauberlaternen-Projektion auf dem Londoner Trafalgar Square im Jahr 1894. Werbung für «Pillen, Färbemittel und Uhren» wurde auf die Seitenfläche der Nelson-Säule und die Säulen der National Gal-
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Boston versprach ein Unternehmen mit dem Namen «The Automatic Stereopticon Advertising Company», dass «der automatische Stereopticon-Werber die ganze Nacht für Sie arbeitet», indem er «Ihre Werbung einer staunenden Menge» vorführt.26 Eine Illustration auf der 2 Visitenkarte der Firma zeigt eine große Zauberlaterne auf einem Gerüst, die den Namen und die Adresse auf eine Leinwand projiziert, die mittels eines Pferdewagens auf einem Platz in der Stadt aufgestellt ist. Obwohl es auf dem Bild Nacht ist, nimmt eine große Menschenmenge an der Projektion teil (so will es zumindest das Werbebild). Projektionen unter freiem Himmel zu Reklamezwecken wurden zu einer etablierten Tradition, auch wenn wir über das Ausmaß ihrer Verwendung noch keine genauen Daten haben. Später im 19. Jahrhundert warb der bekannte amerikanische Seifenfabrikant Benjamin T. Babbitt für eine Gratis-Wanderattraktion, die er als «Magnificent Stereopticon Exhibition and Musical Entertainment using the Oxyhydrogen or Calcium Light» ankündigte.27 Sie wurde nach Einbruch der Dunkelheit in verschiedenen Städten an zentralen Straßenkreuzungen gezeigt. Von den projizierten Ansichten hieß es, sie seien «größer als die größten Panorama-Gemälde», und die «prachtvollen Pferde und Wagen, die für ihren Transport eingesetzt wurden», bereiteten «Tausenden zusätzliches Vergnügen». Im Jahr 1904 unterschied der Zauberlaternen-Hersteller T.H. McAllister fünf verschiedene Modi 3
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lery projiziert. Ein Leserbriefschreiber der Times schlug vor, diese Werbung mit einem noch stärkeren Lichtstrahler zu überblenden; vgl. Turner 1952, 126f. Handzettel ohne Datum (ca. 1860), Sammlung des Autors. Flugblatt ohne Datum (ca. 1880), Sammlung des Autors. Die fragliche Ausstellung fand um acht Uhr abends an der Kreuzung Broad Street/Middle Street statt (Stadt unbekannt). Das Flugblatt bezieht sich auf frühere Präsentationen in Charleston (South Carolina), Augusta (Georgia) und Hinesville (Georgia). Babbitts Seifenfabrik befand sich in New York City.
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Obwohl sich eine gewisse Zeitverzögerung nicht vermeiden ließ, stellt der Einsatz visueller Medien für diesen Zweck eine Vorwegnahme heutiger Wahlsendungen im Fernsehen dar. 1896 veröffentlichte The Century Magazine einen lebhaften Bericht über dieses Spektakel: Die Menge […] versammelt sich früh am Abend im Park vor dem Stadthaus und an dem Platz, wo die Zeitungsredaktionen ihre Büros haben, um die Mitteilungen zu lesen, die auf Glas-Lichtbilder geschrieben und mit einer Zauberlaterne in starker Vergrößerung auf Leinwände an den Außenwänden der Gebäude projiziert werden. Zunächst sind diese Zwischenberichte ungenau und unvollständig, aber gegen Mitternacht wächst ihre Ausführlichkeit und Relevanz. In bestimmten Abständen präsentiert der Operateur Zusammenfassungen des folgenden Typs: «418 Wahlbezirke von 600 in Ohio geben John Smith, Demokratische Partei, 117 926 Stimmen und James Brown, Republikanische Partei, 180 460 Stimmen», oder «Georgia wählt die gesamte Liste der demokratischen Partei mit einer geschätzten Mehrheit von 20 000 Stimmen.» Wenn es nichts zu berichten gibt, zeigt der Operateur das Porträt eines Kandidaten oder eine improvisierte Karikatur, die im Stil einer komischen Allegorie den Erfolg des eigenen oder die Niederlage des anderen Kandidaten zeigt. In jüngster Zeit macht man sich einen Spaß daraus, Fragen wie die folgende auf die Leinwand zu projizieren: «Was ist los mit Cleveland?»32 Worauf die Menge aus zehntausend Kehlen antwortet «Der ist voll in Ordnung!» Darauf projiziert der Operateur die Frage «Wer ist voll in Ordnung?» Und die Fensterscheiben klirren unter der Akklamation «C-l-e-v-e-l-a-n-d!»33
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der Projektion von Lichtbildern unter freiem Himmel mithilfe von «Werbe-Stereopticons»: auf Mauern, in Schaufenstern, auf Leinwänden, die auf fahrende Pferdewagen montiert waren, und auf Leinwänden auf Hausdächern, die sich für Frontal- wie Rückprojektion eigneten (McAllister 1904, 35). Hausdächer als Projektionsort empfahl McAllister für die «neusten Nachrichten oder Wahlresultate». Tatsächlich wurde diese Technik schon seit Jahrzehnten eingesetzt. Ein typisches Beispiel ist das Cover von Harper’s Weekly, mit einer ganzseitigen Darstellung über die Präsentation von «Wahlergebnissen» mithilfe einer Zauberlaterne vor dem Bürogebäude der Tageszeitung The New York Tribune.28 Vergleichbare Berichte erschienen in den folgenden Jahren regelmäßig in der Presse.29 Bisweilen wurden mehr als eine Zauberlaterne und mehr als eine Leinwand eingesetzt. Die projizierten Lichtbilder zeigten handschriftliche Eintragungen von statistischen Daten über die Stimmenauszählung, die laufend auf Lichtbildrohlinge geschrieben wurden, die mit einer entsprechenden Emulsion beschichtet waren.30 Die Daten trafen per Telegraf (später per Telefon) ein.31 28 29
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Harper’s Weekly, Nov. 24, 1866, 744. Der Anlass fand um Mitternacht statt, Nov. 6–7, 1866. Vgl. z.B. Frank Leslie’s Illustrated Newspaper, Nov. 23, 1872 (Umschlag); Okt. 25, 1884 (Titelseite); Nov. 17, 1888, 223-224; Nov. 15, 1890, 262; Harper’s Weekly, Nov. 17, 1888, 877; Collier’s Magazine 34.4, Okt. 22, 1904, Titelseite. Ich habe sie im Magic Lantern Castle Museum, San Antonio, Texas gefunden (mit Dank an Jack Judson). Zwei Kisten mit solchen Lichtbildern, zusammen mit einem Nadelkopf-Schreibstift, finden sich in der Sammlung des Autors. Sie tragen den Titel «Primus Diagram Lantern Plates For Showing Diagrams, Drawings, Writings, etc. in the Lantern» und wurden von Butcher & Son, Ltd, London, hergestellt. Die Umschlagillustration zeigt ein Lichtbild mit Wahlresultaten. Dies wird auch belegt durch den bereits erwähnten Katalog von T.H. McAllister: «LANTERN ADVERTISEMENTS for temporary use – Election Returns, etc. – can be easily made by writing or painting them on glass, with India Ink, or with the ‹opaque› used by Photographers» (McAllister 1904, 35).
Interessant ist die Information über die Interaktion mit dem Publikum. Allerdings war eine Wahlnacht auch eine besondere, festliche Angelegenheit. Die meisten Berichte über öffentliche Projektionen betonen hingegen die relative Passivität der Zuschauer in ihrer Rezeptionshaltung. In diskursiver Form wird dies in den Karikaturen öffentlicher Personen reflektiert, die in Satiremagazinen wie Puck oder Judge als Zauberlaternen-Operateure zu sehen waren. So zeigt die Titelseite von Puck am 19. September 1888 ein Bild des damaligen Präsidenten Coolidge, der seine Idee zur Reform der Einkommensteuer auf die Kuppel des Kapitols in Washington projiziert. Jahre später zeigte Judge den mittlerweile legendären Pressemagnaten Joseph Pulitzer mit einer Zauberlaterne, wie er einer Menschenmenge vom
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[Gemeint ist der demokratische Präsident Grover Cleveland (1837–1908), der 22. und der 24. Präsident der USA, mit Amtszeiten von 1885 bis 1889 und 1893 bis 1897; Anm. d. Ü.]. «Election Day in New York». In: The Century Magazine 53.1 (Nov. 1896), 12.
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Balkon seines Zeitungsgebäudes aus einen wirtschaftspolitischen Kommentar vorführt.34 Postscript: Los Angeles 2009 In der kurzen Spanne weniger Monate hat sich die Medienlandschaft von L.A. grundlegend verändert. Mit atemberaubender Geschwindigkeit hat man die traditionellen Billboards durch dynamische, superhelle LED-Billboards ersetzt. Hunderte sind schon installiert worden, weitere werden folgen. LED-Billboards übertragen nicht nur das Werbeprinzip der heavy rotation, der ständigen Wiederholung derselben Mitteilung, das aus dem kommerziellen Radio und MTV bekannt ist, auf die öffentliche städtische Umgebung. Die Matrix von Tausenden von hintergrundbeleuchteten LEDs leuchten mit einer Strahlkraft, welche die Botschaften bei hellem Sonnenlicht genauso gut erkennbar hält wie in der Nacht. Sie ziehen den Blick nicht nur an, sie fangen ihn ein. Diejenigen, die in ihrem Leuchtbereich wohnen, leiden neuerdings unter dem Phänomen des «falschen Sonnenaufgangs» und fordern eine staatliche Regulierung der Billboards. Eine soziale Bewegung formiert sich gerade, aber ob sie in einer Umgebung, die von korrupter Politik und der generellen Kapitulation vor den Interessen der großen Medienunternehmen und dem Kumpanen-Kapitalismus geprägt ist, etwas bewirken kann, wird sich noch erweisen (Cathcart 2008, A19).
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«A Great Democratic Editor in the Greatest Democratic City Sheds Light on a Dark Subject». In: Judge, Sept. 25, 1909. Obwohl die Karikatur handgezeichnet ist, kann man in Pulitzers Zauberlaterne ein handelsübliches Billigmodell erkennen, das vom Warenhaus Sears-Roebuck vertrieben wurde. Der Karikaturist dürfte den Versandkatalog als Vorlage benutzt haben.
Ich wollte mit diesem Sprung in die Gegenwart enden, damit der Leser versteht, dass die Entwicklungen, um die es in diesem Beitrag geht, von mehr als nur historischem Interesse sind. Die Entstehung öffentlicher Medien-Displays vollzog sich nicht automatisch. Nichts ist selbstverständlich an der Rolle, die sie in städtischen Räumen und darüber hinaus spielen. Sie fiel ihnen zu als Konsequenz aus ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen, die von bestimmen Diskursen, kulturellen Debatten und sozialen Konflikten begleitet waren. Erst eine medienarchäologische Ausgrabung der Faktoren, Haltungen und Kräfte, die dazu führten, erlaubt es uns, kommerziellen Exzessen, wie wir sie gerade in Los Angeles beobachten können, wirkungsvoll entgegenzutreten. Aus dem Englischen von Vinzenz Hediger Literatur Bernstein, David (2007) Advertising Outdoors: Watch this Space! London: Phaidon. Callas, Peter (1990) «Some Liminal Aspects of the Technology Trade». In: Mediamatic 5,3 (Fall); S. 107–115. Cathcart, Rebecca (2008) «Billboards Brighten Los Angeles Night, to the Anger of Many». In: The New York Times, Nov. 6. Cobbe, Frances Power (1904) Life of Frances Power Cobbe as Told by Herself. London: Swan Sonnenschein & Co. Comolli, Jean-Louis (1980) «Machines of the Visible». In: The Cinematic Apparatus. Hg. v. Teresa de Lauretis & Stephen Heath. London/Basingstoke: Macmillan. Donald, Diana (1996) The Age of Caricature: Satirical Prints in the Reign of George III. New Haven: Yale. Elliott, Blanche B. (1962) A History of English Advertising. London: Batsford. Faeti, Antonio (1989) «Il tabacco di Goebbels». In: Figurine! Pubblicità, arte, collezionismo e industria 1867–1985. Hg. v. Rolando Bussi & Enrica Manenti. Modena: Edizione Panini; S. 76–89. Foster, George G. (1990) New York by Gas-Light and other Urban Sketches [1850]. Berkeley/Los Angeles: University of California Press. Gudis, Catherine (2004) Buyways: Billboards, Automobiles, and the American Landscape. New York/London: Routledge. Guerin, Patrice (1995) Du soleil au xenon. Les techniques d’eclairage à travers deux siècles de projection. Paris: Prodiex. Henderson, Sally/Landau, Robert (1980) Billboard Art. San Francisco: Chronicle Books. Huhtamo, Erkki (2004) «Elements of Screenology: Toward an Archaeology of the Screen». In: Iconics: International Studies of the Modern Image 7; S. 31–82. – (1990) «Gulliver in Figurine Land». In: Mediamatic 4.3; S. 101–105. Krens, Thomas/Munroe, Alexandra (2008) Cai Guo-Qiang: I Want to Believe. New York: Guggenheim Museum. Marvin, Carolyn (1988) When Old Technologies Were New: Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century. Oxford: Oxford University Press.
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Raymond Bellour
Der Filmzuschauer: eine einzigartige Erinnerung
Ich gehe von einer einfachen Hypothese aus, die zugleich über unendliche Umwege führt: Das Erlebnis einer Filmprojektion im Saal, im Dunkeln, die unveränderbar vorgegebene Zeitspanne einer mehr oder weniger kollektiven Vorführung, bleibt die Bedingung einer einzigartigen Erfahrung von Erinnerung, die durch jede andere Seh-Situation verfälscht wird. Dies setzt eine Glaubensregel voraus, die der Zuschauer im Ablauf einer Liturgie verkörpert, die an den Film, ans Kino, an den Film in der Kinosituation gebunden ist. Ich sage «bleibt die Bedingung», weil die dieser Erfahrung eigene Realität, die während der langen Vorgeschichte des Kinos, in seinen Anfängen, während der so genannten Stummfilmzeit und in den Anfängen des Tonfilms mehr oder weniger vorausgefühlt wurde, sich im Laufe der Nachkriegsjahre im Zuge dessen präzisiert hat, was man, zusammen mit dem kritischen und theoretischen Denken, das es begleitet, oft das ‹moderne Kino› genannt hat – und dies, bis zum heutigen Tag, im Bewusstsein eines Verlustes, das sich seit dem hundertjährigen Jubiläum des Kinos und dem Ende des 20. Jahrhunderts mehr und mehr verstärkt, in dem Maße, in dem die Überzeugung eines möglichen Todes des Kinos Form gewonnen hat und formuliert wurde, die Überzeugung eines unaufhaltsamen Abstiegs, seit sich weit über die langjährige Konkurrenz hinaus, die das Fernsehen offenkundig gewonnen hat, die fundamentale Entwicklung zum digitalen Bild verstärkt hat, mit allem, was diese an Veränderungen sowohl in der Natur der Bilder selbst als auch in ihrer wechselvollen Verbreitung und Rezeption bewirkt. Es gibt mindestens zwei Arten, eine solche Frage anzugehen. Die erste wäre historisch. Sie betrifft die besonderen Normen, die dem Zuschauer an bestimmten Zeitpunkten in der bereits langen Geschichte des Kinos aufgegeben wurden, wobei man nicht vergessen darf, dass diese Veränderungen im chronologischen Ablauf mit Veränderungen einher gehen, die für bestimmte Orte, Gesellschaften, Länder und Publika spezifisch sind. Ich bin kein Historiker, und es wäre in jedem Fall verrückt, so zu tun als ob, und sei es auch nur, um das Tableau einer solchen Gesamtsicht zu ent-
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werfen. Die zweite Art, die ich hier gewählt habe, besteht darin, die Vergangenheit daraufhin zu betrachten, was die Gegenwart erhellen kann. Um mir in einem Schnelldurchlauf das Wichtigste der Kinotheorie seit ihren Anfängen bis zur Mitte der 1950er Jahre in Erinnerung zu rufen, habe ich drei Anthologien wieder gelesen (französische, aus Bequemlichkeit): Anthologie du cinéma, von Marcel Lapierre, 1946; L’Art du cinéma, von Pierre Lherminier, 1960; Le Cinéma: naissance d’un art 1895–1920, von Daniel Banda und José Moure, 2008. In den Schriften über den Stummfilm fällt auf, wie wenig sie sich auf den Begriff der Einstellung beziehen und wie viel lieber sie von Bildern, Stücken, Teilen, Fragmenten, Ausschnitten sprechen. Mit einer Ausnahme: Carl Dreyer, der in einer sehr modernen Sprache die Beziehungen zwischen den Einstellungsgrößen thematisiert. Sonst ist es die Großaufnahme, der meist alle Aufmerksamkeit gilt, beispielsweise bei Béla Balázs, als existierten die anderen Einstellungen, aus denen diese hervorgeht, als solche nicht wirklich oder nur, um die Nahaufnahme aufzuwerten. Eine andere Ausnahme bilden natürlich die sowjetischen Regisseure, allen voran Eisenstein und Vertov mit ihren Konzepten von Fragment und Intervall, die eine intensive Vervielfältigung der minimalen Einheiten der Raumzeit voraussetzen und auf eine Beeinflussungswirkung abzielen. Parallel dazu fällt ein Begriff ins Auge, der etwa bei Eisenstein oder Abel Gance klar gefasst ist, bei anderen vage bleibt: der Begriff des Schocks. ‹Schock› zunächst allgemein angesichts des Projektionsdispositivs, dann vor allem in einem zweiten Schritt angesichts der Bilderketten und Einstellungen selbst, die diesen Schock auslösen und ihm eine bestimmte Richtung auf einen Glauben oder eine Ideologie hin geben. Der Ausdruck ‹Schock› kommt bekanntlich von Walter Benjamin und bezeichnet das Kino als Ort der Zerstörung der Aura, die so lange mit dem Kunstwerk verbunden war. Es ist aber auch ein Ausdruck, der von der Kunst handelt, die die Massen bewegt. Man muss die Texte dieser Zeit wieder lesen, um sich zu erinnern, in welchem Ausmaß damals das Kino als die Kunst der Menge und der Masse verstanden wurde, einer Zeit, in der ihre Wirklichkeit und ihre Obsession zerbricht. Man muss zum Beispiel Louis Delluc von 1920 lesen: «Das Kino ist das einzige Spektakel, in dem sich die Menschenmassen treffen und vereinigen. [...] Es ruft nicht das Volk, sondern die Menge zu sich» (2008, 507). Man kann auf Anhieb drei Phasen konstatieren, die zum unsicheren Zuschauer von heute hinführen. Zunächst ist der Zuschauer das Subjekt der Masse und gehört in die Zeit der Gründung der großen Studios, der revolutionären Propagandakunst und des aufkommenden Faschismus.
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Zweitens tritt mit Beginn der Nachkriegszeit und vorbereitet durch den Tonfilm der Vorkriegszeit das Subjekt des Volkes oder auch der Bürger in Erscheinung, mit dem sich der Zuschauer zumindest virtuell in ein offeneres, bewusst konstruiertes und kritischeres Verhältnis zum Kino setzt. In diese Phase fällt besonders die theoretische Ausweitung des Begriffs der Einstellung. Ihre Charta wäre André Malraux’ berühmter Text von 1939, Psychologie du cinéma, in dem dieser in der Aufteilung und Aufeinanderfolge von Einstellungen die Bedingung der Filmkunst erkennt. Das Interesse für die Einstellung teilen auch Roger Leenhardt und insbesondere André Bazin – in seinem Fall reicht es bis zu den Exzessen seiner Überlegungen zur langen Einstellung und zur Plansequenz; auch die sich herausbildende Filmkritik und die französische Cinéphilie haben sich mit der Einstellung beschäftigt, schon bevor sie zum Gegenstand der Theorie wurde (dies gilt genauso für Italien, wo das Kino sich damals mit dem Neorealismus neu erfindet, den Bazin so lebhaft begrüßt. Bezüglich der Entwicklung eines modernen Kinos und des damit verbundenen Denkens sind die beiden Länder parallele Wege gegangen). Der Zuschauer, so wie er damals aufgefasst und in den Blick genommen wurde, ist der, den Serge Daney 1989 retrospektiv einen «durchschnittlichen Kinozuschauer mit hohem Anspruch» [«un spectateur populaire de haut niveau»] (1993, 234) nennen wird. Dieser Zuschauer ist an die Existenz eines Kinos geknüpft, das sich als Kunstform und als Element des kulturellen Lebens versteht, ein Kino, das auf institutionelle Unterstützung angewiesen ist und jeweils unter den Bedingungen der spezifischen nationalen Situation existiert. Ein solcher Zuschauer konnte sich eine Zeitlang sogar vorstellen, dass das Fernsehen, dessen Verbreitung sich damals abzeichnete, die natürliche Erweiterung des Kinos und dessen Verbündeter sei und nicht der ambivalente Partner, der das Kino als gesellschaftliche Regulierungsform von Bildern – im Gegensatz zu ihrer Erfindung – in die zweite Reihe verweisen sollte, wenn es nicht sogar, wie in Italien, quasi zu seiner Auflösung führte. Drittens. Hier befinden wir uns derzeit: in einer exponentiellen Wirklichkeit, deren Entfaltung seit dem Ende des 20. Jahrhunderts durch die informationstechnologische Revolution und die Logiken des digitalen Bildes vorangetrieben wird. So kommt es, dass sich das Kino polarisiert, mehr als je zuvor, sodass es jetzt so etwas wie zwei Kinos gibt (und zwar nicht nur, wie immer schon, das beste, das weniger gute und das schlechte). Auf der einen Seite gibt es ein globales kommerzielles Kino, das zugleich dominant ist und durch seine Derivatprodukte dominiert wird, eine spektakuläre Pseudokunst, die aber nach wie vor ein großes Publikum in die Kinosäle zu locken vermag, allen voran die jungen Zuschauer, die sich durch den
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technologischen Wandel fesseln lassen (besonders durch Videospiele, einer Konkurrenz des Kinos): kurz, ein Kino, das auf einer heruntergekommenen Ästhetik des stereotypen Schocks und einer endlosen Gewalt der Bilder basiert. Auf der anderen Seite entwickelt sich immer noch ein Kino, das man als das der subtilen Schocks bezeichnen könnte: ein mehr und mehr lokales, vielseitiges und zugleich immer internationaleres Kino, das überall weiterhin die Aufmerksamkeit der Zuschauer sucht – eine Kunst, die sich, ob offen oder nicht, als Form des Widerstands versteht. Der Zuschauer dieses Kinos ist nicht mehr Subjekt der Masse oder eines Volks (es sei denn das «Volk, das fehlt», von dem Gilles Deleuze spricht). Er ist nur noch Mitglied einer kleinen, aber inzwischen über die ganze Welt verteilten Gemeinschaft (man denkt an die berühmte «action restreinte», die «eingeschränkte Handlung», an der Stéphane Mallarmé so gelegen war). Es war mit Blick darauf, diese Gemeinschaft in ihrer Überzeugung zu bestärken, dass Serge Daney eine Filmzeitschrift wie Trafic gegründet hat, die wir seit seinem Tod weiterführen. (Es zeigen sich natürlich auf der einen wie auf der anderen Seite dieser zwei Kinos wechselseitige und komplexe Übergänge. Als Beispiel sei hier nicht so sehr The Matrix genannt, der vor allem ein symptomatischer Film für gefräßige Theoretiker ist, als vielmehr Avatar, der Film von James Cameron, in dem es gerade der Exzess des Spektakulären ist, der einer neuen Sensibilität der Wahrnehmung den Weg bereitet.) Wer die hier skizzierte Genese des Filmzuschauers in ihrer Logik und ihrer Geschichte nachvollziehen will, muss den Begriffen des Schocks und der Aufmerksamkeit auf ihren Umwegen folgen. Der Schock ist das, was Aufmerksamkeit gleichermaßen erregen und zerstreuen kann. Aufmerksamkeit ist das, was aus dem Schock entsteht und sich zugleich unterhalb des Schocks und über diesem ansiedelt. ‹Aufmerksamkeit› ist das Wort, das Jonathan Crary in seinem letzten großen Buch, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur wählte, um die wachsende Konzentration auf das Bild im 19. Jahrhundert herauszuarbeiten, zu deren Ergebnissen die Erfindung des Kinos zählt (vgl. Crary 2002). ‹Aufmerksamkeit› wird auch zum Schlüsselwort des ersten richtigen Buches zur Theorie des Kinos, das lange Zeit eine Art Meteorit geblieben ist, Hugo Münsterbergs The Photoplay: A Psychological Study von 1916. Münsterberg führt im Innenleben des Zuschauers, der durch die Formen der äußeren Welt des Films erregt wird, «die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis, die Vorstellung und die Emotion» zusammen. Dies seien die vier Prozesse, die jeder tieferen Erfahrung des Films zugrundeliegen. ‹Aufmerksamkeit› ist auch der Begriff, den Walter Benjamin in seinem Essay über das Kunstwerk gebraucht. Es ist bekannt, wie gefährlich jeder Versuch ist, einen Begriff bei Benjamin auf
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eine eindeutige Bedeutung festzulegen, gerade beim Kunstwerkaufsatz und seinen vier Versionen mit ihren sich ändernden Tonlagen.1 Hält man sich an die letzte Fassung von 1939, so kann man festhalten, wie dort die Aufmerksamkeit gegen die Zerstreuung und den Schock abgegrenzt wird. Einerseits betrachtet Benjamin unter dem mehrdeutigen Gesichtspunkt einer politischen Erlösung der Aura das Kino als Kunst, die etwas mit den Massen zu tun hat, und er verknüpft Zerstreuung und Taktilität, die «auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Betrachter eindringen» (ibid., 38). Einige Zeilen weiter fügt er an, dass «die Chockwirkung des Films, […] wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will» (1963, 39). Aber dieser Effekt verunmöglicht dem Zuschauer, diesem Helden der «taktilen Rezeption», zugleich eine solche Modalität der Aufmerksamkeit. Indem er ihn durch das Band, das ihn mit der Technologie verknüpft, in einen «Experten» verwandelt (was am Ende des Textes vor dem Epilog geschieht), kann Benjamin zum Schluss kommen, dass die Haltung dieses «zerstreute[n] Examinators» im Kino «Aufmerksamkeit nicht einschließt» (ibid., 41). Später wird es im Kontext eines sich erneuernden Kinos in den Nachkriegsjahren jener neuartigen Reflexionsbereitschaft in vollem Umfang bedürfen, die ein Zuschauer und Kinoschriftsteller wie Bazin dem Film widmet, um aus der Aufmerksamkeit (ob Bazin das Wort nun gebraucht oder nicht) den Prozess zu machen, der alle Schocks zugleich umfasst, sie umkehrt und ihnen ihre Subtilität zurückgibt, indem er sie in eine Vielzahl von Mini-Schocks auffächert, die sich mit Bewusstseinseffekten mischen und mit dem einhergehen, was man seither als die Lektüre eines Films bezeichnet (bei Deleuze wird dies zum Konzept eines lesbar gewordenen Bildes). Es hat etwas Bewegendes, bei Bazin diese oft sehr präzise Lektürearbeit zu verfolgen, die er zu einer Zeit betrieb, in der es keine andere Möglichkeit des Studiums gab, als den Film wieder und wieder im Kino anzuschauen – sodass die häufigen und manchmal exzessiven faktischen Fehler, die seine Texte kennzeichnen, der Leidenschaft geschuldet sind, von der sein neuartiges Interesse getragen wird. Noch etwas später allerdings wird sich auch der erwachsene, kritische Zuschauer und Bürger neue Mittel aneignen müssen, auf die er seine Lektüre stützen kann, und sich zugleich der Bedrohung seiner historischen Wirklichkeit durch jene sozialen und technologischen Veränderungen gewahr werden müssen, die den möglichen Tod des Kinos als Kunst erahnen 1
Man kann den Leser, der die unendliche Flexibilität dieser Begriffe erfahren will, nur auf die zwei grundlegenden Aufsätze von Miriam Hansen (1987; 2004) verweisen (dieser Text bezieht sich vor allem auf die zweite Fassung auf Französisch, in der die Positionen weniger scharf umrissen sind). Zur Zerstreuung vgl. auch Benjamin 2010.
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lassen, damit er sich über die Situation, in der er sich befindet, vollständig klar wird, zugleich retrospektiv und prospektiv, mit Blick auf eine zu erringende und zu verteidigende Kunst wie auch im Sinne eines Denkens des Widerstandes (in der Bedeutung, die Deleuze diesen Worten gegeben hat, beispielsweise in seinem Vortrag «Qu’est-ce qu’est l’acte de création?» von 1987). Diese Selbstvergewisserungsarbeit wurde von Serge Daney in der Gesamtheit seiner kritischen Arbeiten auf einzigartige Weise geleistet, angefangen mit seinem Cinéjournal (mit einem Vorwort von Deleuze von 1986) bis zum Band Devant la recrudescence des vols de sacs à mains (1991), der den Konkurrenzbeziehungen zwischen dem Kino und dem Fernsehen gewidmet ist. Aber es ist vor allem in seinen posthum veröffentlichten Tagebuchschriften, L’Exercice a été profitable, Monsieur (1993), dass Daney den schmerzhaften Übergang vom zweiten zum dritten Zeitalter des Zuschauers und die Charakterisierung, die dies beinhaltet, besonders bestechend ausformuliert hat (in einer eloquenten Parallelisierung mit der Unternehmung der Histoire(s) du Cinéma von Jean-Luc Godard, der Daney den «Cinefils», den «Kinosohn» nannte). An dieser Stelle seien kurz einige Formulierungen genannt, mit denen sich diese auf eine neue Grundlage gestellte Konzeption des Zuschauers genauer fassen lässt. Sie finden sich auf den ersten Seiten von L’Exercice, die zu den wertvollsten Momenten des gesamten Denkens über das Kino gehören. Am Anfang der Unternehmung steht die Frage, «was im Kino in der Krise ist». Die Antwort fällt zweifach aus: einerseits der dunkle Saal, andererseits die Aufnahme. Beide haben «eine gewisse ‹Passivität› des Filmstreifens und/oder des Zuschauers gemeinsam. Die Dinge werden zweimal aufgenommen: einmal auf dem Film und einmal vom Zuschauer. [...] Dieses Dispositiv besteht aus einem einzigen Stück» (Daney 1993, 19).2 Daney präzisiert die so bestimmte Zeit als «Zeit der ‹Reife› eines Films im Körper und im Nervensystem eines Zuschauers im Dunkeln». Er fügt hinzu, dass diese Beziehung zur Zeit es erlauben kann von der Passivität desjenigen, der sieht, zur Aktivität desjenigen zu gelangen, der schreibt. [...] Schreiben heißt erkennen, was bereits geschrieben wurde. Im Film (Film als organisierter Speicher von Zeichen) und in mir (der ich wie ein Speicher mnemischer Spuren organisiert bin, die langfristig auch meine Geschichte konstituieren). (ibid., 19f)3 2 3
[ «une certaine ‹passivité› de la pellicule et/ou du spectateur. Les choses s‘impriment deux fois : une fois sur la pellicule, une fois dans le spectateur. (…) Ce dispositif est d‘une seule pièce.»] [«de passer de la passivité de celui qui voit à l‘activité de celui qui écrit. (…). Ecrire c‘est reconnaître ce qui s‘est déjà écrit. Dans le film (le film comme dépôt organisé de signes)
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Später führt er aus: Die Zeit zu füllen heißt, von einem Zuschauer auszugehen, der fähig ist, sich den Film wie eine Summe von Informationen zu merken, also von einem durchschnittlichen Kinozuschauer mit hohem Anspruch. Im Gegensatz zum heutigen Zuschauer, der nicht mehr erwartet, eine Erfahrung zu machen. (ibid., 235)4
Daher kommt schließlich Daneys optimistische Umkehrung des obligatorischen Pessimismus und das verführerische, aber nie verwirklichte Vorhaben einer Kolumne, die sich «Le cinéma, seul» nennen und dem gewidmet sein sollte, «dem nachzugehen einzig Aufgabe des Kinos ist» (ibid., 157). Diese Kolumne hätte sich natürlich in dem Maße, in dem der Film sich stets aufs Neue wieder erfindet, der psychischen ebenso wie ethischen und politischen Verantwortung gestellt, den einzelnen Einstellungen, ihrem Ablauf, ihrer Phrasierung und ihrem Rhythmus, jene Aufmerksamkeit und Erinnerung zu widmen, von der niemand so gut sprechen konnte wie Daney in seinen vielen Texten und besonders auf den Seiten seines Tagebuchs. «Die Einstellung ist der unteilbare Block von Bild und Zeit». «Die Einstellung ist musikalisch. [...] Atmung, Rhythmus. Das ‹Kino› ist unerklärlicherweise dort, wo etwas zwischen den Bildern atmet». «Nichts bedeutete mir im Kino etwas außer den Einstellungen» (ibid., 22).5 Es gilt also die Bedingungen zu benennen, welche diesen Zuschauer möglich machen, der heute – beinahe zwanzig Jahre sind seit diesen Zeilen vergangen – definitiv minoritär geworden ist, der aber nach wie vor im Kino eine Erfahrung erwartet, so sehr sie sich durch die Macht der Umstände auch verändert haben mag. Einzig das Dispositiv ist wirklich unveränderlich. Der Kinosaal. Das Schwarz. Die festgelegte Zeit der Vorführung, egal welcher Art (bis zu den privaten Vorführungen, bei denen sich Roland Barthes entsetzlich langweilte), vorausgesetzt, dass die Erfahrung einer Projektion in der Zeit und ihre Einschreibung ins Gedächtnis bewahrt wird, damit sich eine einzigartige Arbeit vollzieht. Dies hat ein unbekannt gebliebener Autor, der sich hinter dem Pseudonym Yhcam versteckt, schon 1912 sehr gut ausgedrückt:
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et dans moi (organisé comme un dépôt de traces mnésiques qui, à la longue constituent aussi mon histoire).»] [ «Remplir le temps, c‘est supposer un spectateur capable de mémoriser le film comme une somme d’informations, donc un spectateur populaire de haut niveau. A opposer au spectateur actuel qui n’attend plus l’expérience.»] [ «Le plan, c‘est ce bloc insécable d‘image et de temps.» «Le plan est muscial. […] Respiration, rythme. Il y a ‹cinéma› quand, inexplicablement, ça respire entre les images.». «Du cinéma, rien ne m‘a importé que les plans.»]
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Die Dunkelheit des Saales macht einen wesentlichen Faktor aus, der durch die Sammlung, die er bewirkt, mehr als man annehmen würde zum hervorgerufenen Eindruck beiträgt: die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird durch die leuchtende Projektion angezogen und konzentriert sich auf diese, ohne dass durch die Gegebenheiten des Saals irgendeine Ablenkung entstehen könnte. (2008, 238)
Bemerkenswerterweise ist «Sammlung» das Wort, mit dem Benjamin die Beziehung zum Kunstwerk beschreibt, die – im Guten wie im Schlechten – durch die «Zerstreuung» bedroht wird, die er mit dem Kino verbindet. Lassen wir auch Alfonso Reyes zu Wort kommen, drei Jahre nach Yhcam: «Der perfekte Kinozuschauer will Ruhe, Einsamkeit und Dunkelheit: er arbeitet, er nimmt am Schauspiel teil» (ibid., 342). Dem lassen sich, noch einmal vier Jahre später, die Worte des dänischen Filmemachers Urban Gad hinzufügen, der, um die Leinwand zu beschreiben, die gesteigerte Realität eines «Spiegels» heranzieht, «der oben aufgehängt ist und davon abhält, den Blick zu heben» (2008, 418). Das erinnert an Godards berühmte Worte, die Chris Marker zitiert und auf seiner CD-ROM Immemory weiter ausführt: «Das Kino ist das, was größer ist als wir, zu dem wir unseren Blick heben müssen. [...] man kann im Fernsehen den Schatten eines Films sehen, das Bedauern eines Films, die Nostalgie, das Echo eines Films, niemals den Film selbst».6 Was bedeutet, dass weder das Fernsehen noch der Computer, das Internet, das Handy oder der private Riesenbildschirm mit dem Kino mithalten können, ganz gleich, welche (manchmal immensen) Vorteile sie auch jeweils mit sich bringen. Denn es wird immer das Wichtigste fehlen, nämlich alles, was das Dispositiv zu «einem Stück» werden lässt: die Stille, die Dunkelheit, die kollektive Projektion in der vorgegebenen Zeit einer Vorführung, die durch nichts beendet oder unterbrochen werden kann. «Ein Film im Fernsehen», schrieb Daney, «ist weder Kino noch Fernsehen, 6
Ich glaube, niemand hat dieses Gefühl besser hervorgerufen als Fellini in seinen Gesprächen mit Giovanni Grazzini. Man müsste daraus zwei ganze Seiten zitieren, ich muss mich auf einige Zeilen beschränken: «[…] ich finde, daß das Kino an Autorität und Prestige, an Geheimnis und Magie verloren hat. Die gigantische Leinwand, die bedrohlich vor einem ergebenen Publikum aus winzigkleinen Menschen aufragt, die verzaubert zu den riesigen Gesichtern, Lippen und Augen aufschauen, die in einer anderen, unerreichbaren, phantastischen und doch realen Dimension – ähnlich der des Traums – leben und atmen, diese große, magische Leinwand kann uns nicht mehr faszinieren. Wir sind nämlich größer als sie – seht her, wie klein wir sie gemacht haben! Dort steht sie, handlich wie ein Kissen, zwischen Bücherschrank und Blumenständer. Manchmal steht sie sogar in der Küche, neben dem Kühlschrank. Sie ist ein Haushaltsgerät geworden, und wir – im Sessel sitzend, die Fernbedienung in der Hand – üben eine totale Macht über diese kleinen Bilder aus und machen nieder, was uns fremd oder langweilig erscheint» (Fellini 1984, 166f).
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sondern ‹eine Reproduktion› oder auch eine ‹Information› über einen früheren Zustand, in dem die Menschen und ihre Bilder, von denen sie sich ernähren und die sie leben lassen, koexistierten» (1991, 12).7 Mit einer faszinierenden Umkehrung lässt sich also der Kinoleinwand im Inneren des Dispositivs selbst die Qualität des «weit Entfernten» zuschreiben, das in Benjamins Augen für die Aura des Kunstwerks sorgt. In diesem paradoxen Sinn kann man seine Anmerkung noch einmal neu lesen, in der er das Verhältnis von Entferntem und Nahem beschreibt, und kann an den Effekt denken, der sich im Übergang vom einen zum anderen vollzieht, wenn man nicht mehr die Augen hebt, sondern nachgerade das Bild berühren kann. Die Definition der Aura als ‹einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag›, stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ‹Ferne, so nah es sein mag›. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne keinen Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt. (Benjamin 1963, 16)
Wobei «Ferne» hier gleichbedeutend ist mit: jener Ferne, die der Film dann bewahrt, wenn er bei seiner ersten Erscheinung mit der ihm eigenen Aura wahrgenommen wurde. Es bleibt aufzuzeigen, warum das Privileg des Dispositivs so absolut ist. Ich habe für diesen Beitrag auch fünf aktuelle Bücher gelesen oder wieder gelesen, die alle schön und wichtig und zumindest dem französischen Leser weitgehend unbekannt sind. Ihre Titel sprechen für sich: Paolo Cherchi Usai, The Death of Cinema. History, Cultural Memory and the Digital Dark Age, 2001; Victor Burgin, The Remembered Film, 2004; Francesco Casetti, L’occhio del novecento. Cinema, esperienza, modernità, 2005; Laura Mulvey, Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, 2006; David N. Rodowick, The Virtual Life of Film, 2007. Diese fünf Bücher, die sehr persönlich sind und damit so unterschiedlich wie ihre Autoren, haben dennoch gemeinsam, dass sie alle der digitalen Revolution Tribut zollen und der symbolischen Datierung, bei der das Ende des Jahrhunderts mit dem hundertjährigen Jubiläum des Kinos zusammenfällt, und alle prägt das Gefühl, dass dabei etwas zu Ende geht. Um das Kino tatsächlich als «Auge des 20. Jahrhunderts» darstellen zu 7
[ «Un film à la télé, ce n‘est ni du cinéma, ni de la télé, c‘est ‹une reproduction› ou encore une ‹information› sur un état antérieur de la coexistence entre les hommes et leurs images, celles dont ils se nourrissent et celles qui les font vivre.»]
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können, unterscheidet beispielsweise Casetti ein «Kino zwei», das auf das erste folgt und zumindest mit Blick auf das, was er «Kino eins» nennt, etwas ganz anderes darstellt. Laura Mulvey kommt ihrerseits auf den Ausdruck des «spectateur pensif», des «mitdenkenden Zuschauers» zurück, durch den ich an anderer Stelle die psychische Spannung bezeichnet habe, die im Laufe des Films durch die Bewegungslosigkeit der Fotografie eingeführt wird, und macht aus ihm den Helden dessen, was sie das «delayed cinema» nennt, in welchem die Erfahrung des Films durch all jene Operationen (des Anhaltens, der Spannung, der Metamorphose) transformiert wird, die das digitale Bild mehr noch als das elektronische Bild begünstigt. Obwohl ich mich den genannten Büchern sehr nahe fühle, scheinen sie mir dennoch zu verkennen, worin das «Kino zwei», um mit Casetti zu sprechen, im Grunde weiterhin mit dem «Kino eins» identisch bleibt: nämlich immer dann, wenn ein Zuschauer, und sei er noch so sehr durch die ‹Prothesen› verändert, die seinen Zugang zum Film bedingen, sich in der unveränderten Situation des Kino-Dispositivs und der Projektion befindet, wie sie seit 1916 beispielsweise von Münsterberg analysiert wurde. Denn diesseits wie jenseits der neuen Gedächtnisprothesen, und in diesem Sinne unabhängig von ihnen, macht der Film daraus selbst sein Thema (wie Level Five von Chris Marker), und etwas Einzigartiges zeigt sich im projizierten Film: nämlich die gelebte Erfahrung eines kumulativen Prozesses von Erinnern und Vergessen, die sich gegenseitig bedingen, eine Erfahrung, der zufolge eine mehr oder weniger gleichschwebende oder konzentrierte Aufmerksamkeit – die naturgemäß je nach Person oder Vorführung variiert – alle subtilen Schocks aufspürt, von denen jeder Film, der diese Bezeichnung verdient, eine je nach Stil unterschiedliche Vielfalt aufweist. Es scheint mir insbesondere, dass diese Beziehung zwischen gleichschwebender Aufmerksamkeit und konzentrierter oder geschärfter Aufmerksamkeit, oder auch zwischen Passivität und Aktivität, die für das reibungslose kumulative Funktionieren von Vergessen und Erinnern so essenziell ist, kein wirkliches Äquivalent in irgendeinem der konkurrierenden Dispositive finden kann, die abwechselnd und jedes gemäß seiner eigenen Form, immer zu sehr in die eine oder die andere Richtung tendieren. Diese Arbeit in vivo, im Lebendigen des aktiven Gedächtnisses, das sich seiner selbst durch die Art und Weise mehr oder weniger bewusst wird, in der der Einzelne sich zu ihm in Beziehung setzt und sich dafür entscheidet, seine Wirkungen wachzuhalten, in der Hoffnung, sie besser verstehen zu können, ist eine Eigenheit der Erfahrung der Projektion, und nur der Projektion. Es bedarf der Stille, der Dunkelheit, einer einheitlichen Zeitspanne, die es erlaubt zu spüren, wann und wie sich in ihrer Kontinuität eine Zeit darstellt, die zugleich durchzo-
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gen ist von Ereignissen, die sich zwischen den Einstellungen und in den einzelnen Einstellungen abspielen, aus denen jeder Film besteht. In The Remembered Film übernimmt Victor Burgin Foucaults Begriff der Heterotopie (das heißt die Realität von miteinander inkompatiblen Räumen), um daraus das Kino zu erklären. Er bezeichnet damit alle mehr oder weniger virtuellen Räume, in denen wir die Versatzstücke eines Films erkennen: das Internet, die Medien und so weiter, aber auch den psychischen Raum eines Betrachtersubjekts, das Baudelaire als erster als «ein mit Bewusstsein ausgestattetes Kaleidoskop» beschrieben hatte. (2004, 10)
Aber es scheint mir, als könne man – gleichzeitig und im Gegensatz dazu – ausgehend von der Heterotopie im Kopf, die jeden Zuschauer per definitionem kennzeichnet, und ausgehend von der Heterotopie des auf verschiedenen Stufen der technologischen und sozialen Realität aufgesplitterten Kinos die Erfahrung des Films selbst als Utopie im Sinne eines Gegengewichts bezeichnen, als reale und aktuelle Utopie, die sich in jener in der Schwebe gehaltenen Zeit seiner Projektion realisiert, während der sich die Erinnerung durch den Film an einem Ort sammelt, so sehr sie an sich auch auf Zerstreuung dringen mag und so unterschiedlich all die Orte sind, die der Film miteinander verbindet. Der «spectateur pensif», die Idee des mitdenkenden Zuschauers, die ich in meinem Buch Le Corps du Cinéma noch einmal neu formuliert habe (vgl. Bellour 2009), hat einen Sinn also nur, wenn man darunter den Zuschauer während der spezifischen Zeit der Projektion versteht, was auch immer seine Erwartungen vor dem Film sein mögen und was auch immer er nach dem Film daraus macht, mit anderen Mitteln und je nach dem, wohin ihn seine Neugier und das Anliegen seiner Arbeit trägt. Es ist im Rahmen dieses Textes nicht möglich, auch nur das kleinste Beispiel dafür zu geben, wie Filme zum Denken einladen, immer mehr oder weniger bewusst oder unbewusst, aber immer nach einem unantastbaren Prinzip: das, was nicht mehr oder weniger nicht vergessen worden sein kann, kann sich nicht nicht eingeschrieben haben, denn nur so kann es in Resonanz zu dem treten, was wieder erinnert worden ist, und nur so kann es wieder gefunden werden. Genau das nahm auch François Truffaut an, als er 1954 in Bezug auf Hitchcock schrieb, «Die ganz natürliche Hommage an […] einen Filmemacher ist, wenn man seinen Film ebenso gut kennt wie er selbst» (Truffaut 1939, 51),8 und als er beispielhaft, indem er die systematische Organisation 8
[«L’Hommage tout naturel que l’on puisse rendre à (...) un cinéaste c’est d’essayer de connaître (...) son film aussi bien que lui.»]
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der «Zahl zwei» und die Reim-Konstruktion der verschiedenen Figuren in Shadow of a Doubt aufdeckte, vielleicht die erste genuine Filmanalyse lieferte. Eine solche Sicht geht aus von einer Aufmerksamkeit, einer Ergriffenheit im Angesicht der Schocks und den mehr oder weniger ebenfalls erinnerten Mini-Schocks, die sich im Verlauf des Films verstärkt, bis sie einen verschwommenen Block der Erinnerung konstituiert, der Garant einer Erfahrung ist, von der man annehmen darf, dass sie vom ersten Sehen an so gewesen sein muss, damit man überhaupt das Verlangen haben konnte, sie zu vertiefen. Diese immer ein wenig halluzinierte Ergriffenheit der ersten Male scheint die Bedingung dessen zu sein, was ungeachtet aller anderen Zugangsweisen zum Bild, die sich allenthalben anbieten, das eigentliche Wesen des Filmzuschauers ausmacht, das sich verändert, das bedroht und von der Geschichte geprägt, aber in gewissem Sinne auch transhistorisch ist. Ich nehme also retrospektiv an, dass die höchst subtilen Schocks, die gleich in der zweiten Einstellung von Miss Oyu von Kenji Mizoguchi erfolgen, wenn sich der Held in die Tiefe des Bildes begibt, während ihm die Kamera folgt und dabei an die subtil ineinander übergehenden dunklen, knorrigen Baumstämme und hellen, hochaufgeschossenen Bambuszweige anstößt, zur Folge haben, dass man diesen Figuren von Bäumen und Stäben eine besondere Aufmerksamkeit und Erinnerung zuteil werden lässt, die sich durch den ganzen Film ausbreiten, indem sie in zahlreichen Einstellungen ihren Abdruck auf den Körpern der Personen hinterlassen. Ich weiß auch, dass es ein Fehler war, eines Abends Die Erzählung von den späten Chrysanthemen, einen älteren Film von Mizoguchi, auf einem schlechten Fernsehgerät wieder anschauen zu wollen und nach und nach die Erinnerung an die eigentliche Kraft der Bilder zu verlieren, bis zu dem Punkt, an dem es mir durch diesen sensoriellen Verlust schwer fiel, auch nur der Geschichte zu folgen, welche diese Bilder erzählen, oder die Figuren wirklich auseinanderzuhalten. Ich habe bisher mit Absicht ein Problem beiseite gelassen, für das es keine ersichtliche Lösung gibt, nämlich die Modifikation, die nicht durch den Umbruch des Dispositivs in seiner Gesamtheit, sondern durch die Veränderung eines seiner Bestandteile herbeigeführt wird: durch das Trägermaterial für die Aufnahme und/oder die Verbreitung des Films, das sich heute in einem unumkehrbaren Ausmaß vom Analogen zum Digitalen verschiebt. David Rodowicks Buch The Virtual Life of Film widmet sich im Wesentlichen der Analyse dieser Verschiebung. Es zeugt von einem beispielhaften Bemühen um schwierig zu erzielende Gleichgewichte und die dazugehörigen Unsicherheiten, auf eine Art, die im größten Gegen-
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satz zum theoretischen Monologismus von Lev Manovich in The Language of New Media steht, von dem sich Rodowick inspirieren lässt, um dessen Grenzen aufzuzeigen. Die größte Klarheit erzielt er dort, wo er von der Zeit handelt oder vielmehr von der Abwesenheit des Zeitgefühls beim digitalen Bild, wenn es die materielle Folge der vom Licht erzeugten Fotogramme durch eine von mathematischen Algorithmen geordnete Informationstafel ersetzt. Rodowick führt als Beispiel The Russian Ark von Alexander Sokurov an, der aus einer einzigen Einstellung von 90 Minuten Länge besteht, digital gedreht und zu großen Teilen in der Postproduktion rekomponiert wurde, ein Film, durch den er sich in keiner Weise in die Zeit eingebunden gefühlt hat (vgl. Rodowick 2007, 164ff). Man kann gegen einen bloßen Eindruck, der von Natur aus uneinholbar ist, nichts einwenden, es sei denn, dass es immer heikel ist, ihn theoretisch zu begründen. In dieser Hinsicht stünde hier genauso gut Eindruck gegen Eindruck, Gefühl gegen Gefühl, Erinnerung gegen Erinnerung, vielleicht – oder sogar vor allem – Werk gegen Werk sowie formale Gewichtungen. Für mich war es genug, vor einigen Jahren Ingmar Bergmans Saraband zu sehen, der digital gedreht und obendrein ausnahmsweise digital in einem Pariser Kino projiziert wurde, um anhand dieses vollendeten Beispiels eines «Festivals der Affekte» (Barthes 1975, 104), das sich auf die gegenseitige Betonung der Schichten und Rückwenden der Zeit und auf die intensiven Effekte des Schnitts gründet, zu verstehen, dass der mögliche Wahrnehmungsunterschied sich nicht vorrangig am materiellen Träger festmacht, sondern gleichsam für immer am Kinosaal und an der Vorführung. Aber wie kann man in wenigen Worten den Effekt beschreiben, der den Zuschauer im Moment singulärer Aufmerksamkeit ergreift, die ich vor allem für eine Besonderheit der Projektion im Kinosaal halte, angesichts eines Films, der eine solche Aufmerksamkeit erfordert? Er besteht auf der am wenigsten offensichtlichen, jedoch entscheidenden Ebene aus subtilen Erschütterungen, Spannungen, Unterbrechungen, Verbindungen, Wiederholungen und Kehrtwenden, die unendlich variable Umlaufbahnen durchlaufen, je nachdem, wie der Film fortschreitet und sich konstruiert und wie die Aufmerksamkeitsmodalitäten des Zuschauers sich in ihm entfalten. Es sind Virtualitäten, die nicht aufhören, sich hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft, eines Elements oder eines Ereignisses der Einstellung, zwischen den Einstellungen und in Richtung auf die Gesamtheit des Films in seiner unendlichen Offenheit in alle möglichen Richtungen zu vermehren. Daher rührt es, dass die mentale Virtualität nicht aufhört, den Film in Form von Rückblenden, Verknüpfungen oder auch Wiederholungen zu verdoppeln. Als würden Unterbrechungen des Unbewegli-
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chen nicht aufhören, sich auf diese Weise zwischen den Film und seinen Zuschauer zu projizieren und sich rückzuprojizieren. Dies war auch eine starke Intuition der Fotografin Gisèle Freund, wenn sie sagte, dass die deutlichste Erinnerung an die Dinge in Standbildern bewahrt wird. Daher kommt der besondere Reiz, den in so vielen modernen Filmen, in so vielen experimentellen Filmen und im Zuge der technologischen Veränderungen ohnehin immer mehr die Präsenz der Fotografie, das Anhalten des Bildes und alle anderen Arten der Unterbrechung ausüben. Als würde sich die Arbeit des Gedächtnisses auf diese Weise selbst nachahmen, im Ausbrechen aus dem Fluss der Bewegung und der Zeit, das ihr eigen ist. Aber es ist vielleicht zu einfach, diese Unterbrechungen, diese permanenten Wiederholungen des arbeitenden Gedächtnisses, die den Film auch auf das individuelle Leben eines jeden Zuschauers ausdehnt, als Momente realer Fixierung zu denken. Genau so wenig, wie sie es im Film selbst sind, der ungeachtet aller möglichen Bewegungslosigkeit in der Zeit voranschreitet. Es kann sein, dass es vielmehr aufeinanderfolgende Immobilitäten sind, die auf diese Weise zwischen sich etwas wie eine abweichende und besondere Bewegung hervorbringen und die besser zu jener psychischen Unterbrechung passen, durch die sich der Zuschauer immer noch einmal in die Bewegung einschreibt, die er wahrnimmt und verinnerlicht. Vielleicht ist es dies, etwas wie eine einzigartige Lebendigkeit, das Godard in den Dekompositionen zu fassen versuchte, die seine Filme seit France Tour Détour, Deux Enfants und Sauve qui peut (la vie) immer wieder durchdringen. Bewegung, die anhält und von ihrer Bewegung mitgerissen wird. Und die von dort aus ohne Unterlass die Zeit auf sich selbst zurückwendet. Das Stärkste daran ist natürlich, dass Godard sich schließlich selbst als einen Meta-Zuschauer imaginieren musste, der vor seiner Schreibmaschine sitzt und sich der Gesamtheit des Kinos gegenüber sieht, das fragmentiert, angehalten, fixiert, mitgerissen, in Bewegung versetzt, in einem mentalen Mix im Laufe seiner Histoire(s) du Cinéma vorbei defiliert. Seine Geschichte(n) sind auf Video gedreht und fürs Fernsehen produziert, aber sie erzielen, wie ich glaube, niemals eine stärkere Wirkung in Bezug auf das, was sie sich zu evozieren vornehmen – nämlich ein gigantisches Gedächtnis –, als in der Form einer Projektion, jener Projektion, an deren einzigartige und einmalige Kraft uns Godard während seines langen Monologs immer wieder erinnert. Um ein wenig genauer zu wissen, was diese Gedächtnisarbeit ist – und wie und vor allem in welchem Sinne und in welchem Ausmaß sie durch die Mutation des analogen ins digitale Bild affiziert werden kann oder nicht –, wird man, so glaube ich, die Neurobiologie darum bitten müssen, ihr Funktionieren auf der Ebene möglicher Variationen der Inten-
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sität neuronaler Verknüpfungen zu erklären, und sei es nur, um – nötigenfalls per Analogieschluss – die unzähligen und geheimnisvollen Prozesse benennen zu können, aus denen sie besteht. Es bleibt schließlich noch eine weitere Hypothese, oder vielmehr eine Phantomhypothese meiner Hypothese, auf die ich jedoch nur schlecht eingehen kann, weil es zu seltsam ist, tatsächlich aus sich herauszutreten, um sich selbst als historischen Gegenstand zu konstituieren. Es mag sein, dass die Sicht auf das Kino, die ich hier vertrete, diejenige einer Generation ist, für die es wirklich nur «das Kino, allein» geben konnte, und der es sich vielleicht für immer so eingeprägt hat. Jean Louis Schefer hat dies mit einem Ausdruck benannt, den Serge Daney übernommen hat: «die Filme, die unsere Kindheit angeschaut haben» [«Les films qui ont regardé notre enfance»] (vgl. Schefer 1980; Daney 1992, 7). Vielleicht verliert die Utopie des Films als einzigartiger Ort der Erinnerung mangels einer vergleichbaren Vorherbestimmung, für die es ohnehin bald keine Zeugen mehr gibt, demnächst jede Wirklichkeit. Aber das hieße, die Erinnerung der Erinnerung, aus der die Kunst und die Kultur gemacht sind, im gleichen Maße zu vergessen, wie diese sich neu erfinden. Denn ein solcher Verlust würde den wahrhaftigen Tod des Kinos bedeuten, der so lange unwahrscheinlich erscheint, wie man noch authentische Kinofilme produziert und die begrenzte und zugleich immense Gemeinschaft ihrer Zuschauer sich jedes Mal auf eine Weise reaktiviert, die zugleich real und virtuell ist, wenn ein Film in seiner eigenen Realität, in seinem unveränderten Dispositiv erlebt wird. Am Ende eines der schönsten Bücher, das jemals über die Wirklichkeit der Literatur geschrieben wurde, Der Gesang der Sirenen, formuliert Maurice Blanchot eine Hypothese über den «Tod des letzten Schriftstellers». Was würde geschehen, wenn plötzlich «ohne daß es jemand gewahr würde, das kleine Mysterium der geschriebenen Aussage» (Blanchot 1988, 295) verschwinden würde? Anders, als man erwarten könnte, würde keine große Stille eintreten, sondern eher ein Geschwätz, ein neuer Lärm: «Es spricht», schreibt Blanchot, das redet und redet ohne Unterlaß, es ist so, als redete die Leere mit einem leisen, eindringlichen, gleichgültigen Raunen, das sicher für alle genauso klingt, das Geheimnis ist und doch jeden in sich einschließt, ihn von den anderen, von der Welt und von sich selber abtrennt». (ibid., 296)
Blanchot schreibt weiter: Ein Schriftsteller ist der Mensch, der dieser Rede Schweigen gebietet, und ein literarisches Werk ist für jeden, der einzudringen versucht, ein ergiebiges
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Weilen in der Stille, eine feste Schutzwehr und eine hohe Mauer gegen diese redende Unermeßlichkeit, die auf uns einredet und uns dabei uns selber abwendig macht. Wenn in diesem imaginären Tibet, wo niemand mehr an den heiligen Zeichen zu erkennen wäre, alle Literatur aufhörte zu reden, so litten wir Mangel an Schweigen, und vielleicht wäre es dieser Mangel an Schweigen, der das Verschwinden der Literatur offenkundig werden ließe. (ibid., 297)
Blanchot fügt seiner Hypothese hinzu, dass am Tag, an dem sich das Geschwätz durchsetzen würde, der «Schatz der älteren Werke, das Asyl der Museen und der Bibliotheken» nur wenig Schutz böte, da «Grund zur Annahme [besteht], daß mit dem Tage, da sich die irrende Rede durchsetzen würde, eine ganz besondere Zerrüttung sämtlicher Bücher die unausbleibliche Folge sein müßte». Sie werden verstanden haben, nehme ich an, dass das Geschwätz, das das Verschwinden des letzten Films und der von ihm verkörperten Utopie begleitet, dasjenige der universellen Herrschaft der Medien wäre, deren Kino nichts als ein einfacher Bestandteil, ein Skelett von Bildern wäre, das zwischen allen anderen Bildern flottierte; und dass man sich an dem Tag, an dem kein Film mehr gemacht wird, um in einem Kino gesehen zu werden, auch vom Asyl der Museen und der Filmarchive wenig Hilfe versprechen sollte. Aus dem Französischen von Antonia von Schöningh
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Annette Kuhn
SNOW WHITE in Großbritannien (1938)*
Der Film Snow White and the Seven Dwarfs feierte am 21. Dezember 1937 im Carthay Circle Lichtspieltheater von Los Angeles seine Weltpremiere. Er basierte auf einem Märchen aus der Sammlung von Jakob und Wilhelm Grimm, das 1812 in ihren Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht worden war, und er war der absolut erste Animationsfilm von abendfüllender Länge. Seine etwa 84 Minuten Dauer waren die Frucht mehrerer Jahre kostspieliger Planung und Ausführung auf höchstem Niveau im Burbank Studio von Walt Disney.1 Die Produktion, die hunderte von Künstlern und anderen Mitarbeitern beschäftigte, sowie die innovativen Animationstechniken und die eigens entwickelten technischen Geräte sollen 1.5 Millionen Dollar verschlungen haben. Für die damalige Zeit ein enormes Budget, sodass man das Projekt als eine Art gewaltiges Glücksspiel ansah, auf das Disney sich eingelassen hatte. Aber Snow White and the Seven Dwarfs enttäuschte die Zweifler und erwies sich aus dem Stand als internationaler Hit: Laut Angabe der Branchenblätter entwickelte er sich zum weltweiten Bestseller des Jahres 1938 und hatte bis 1940 den einsamen Rekord von acht Millionen Dollar eingespielt. Schon 1938 gewann der Film den speziellen Biennale-Kunstpreis des Filmfestivals von Venedig; 1939 folgte der Spezialpreis der New Yorker Filmkritiker sowie der Ehrenpreis der Academy für Walt Disney. Im Lauf der nächsten fünf Jahrzehnte wurde Snow White in einer sorgfältig lancierten Kette von Neustarts (1943, 1952, 1958, 1967, 1975 und 1983) immer wieder weiteren Zuschauergenerationen nahegebracht. Eine «voll*
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[Anm. A.K.:] Der vorliegende Aufsatz geht auf eine «Raphael Samuel Memorial Lecture» zurück, die ich am Londoner Bishopsgate Institute im November 2007 gehalten habe (‹Snow White in 1930s Britain›. In: Journal of British Cinema and Television 7,2. 2010, S. 183–199) ). Die meisten der erwähnten Zeitzeugnisse aus dem Projekt Cinema Culture in 1930s Britain (CCINTB) können in den Special Collections der Lancaster University Library eingesehen werden. British Film Institute, Library and Information Service, Special Collections, «Extracts from story conference. Notes relating to Snow White and the Seven Dwarfs. 26 July 1934 to 8 June 1937». Aus den Disney Archives, Burbank, California, kopiert von David R. Williams.
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ständig restaurierte» Videoversion, die ein Making-of enthielt, erschien 1994, und zur Zeit ist der Film als digitalisierte DVD-Ausgabe erhältlich, der dreistündiges Bonusmaterial auf separater DVD beiliegt. Ich möchte im Folgenden untersuchen, unter welchen Umständen der Kinostart in Großbritannien 1938 vonstatten ging und wie die Besonderheiten des britischen Rezeptionskontexts mit einigen Eigenheiten des Films zusammenwirkten, um spezifische Formen der Intertextualität und der Erinnerung zu generieren. Meine Befunde bauen auf meinem Forschungsprojekt zur britischen Kinokultur in den 30er Jahren auf, das Mitte der 90er Jahre begann und noch nicht abgeschlossen ist. Im Verständnis des Projekts schließt ‹die britische Kinokultur› nicht nur einheimische Filme mit ein, sondern auch ausländische Produktionen. Dabei wird die Kinoerfahrung als Teil des Gesamtes an Aktivitäten und Praktiken des damaligen Alltags betrachtet, wobei die Kinokultur (oder die Kinokulturen) der 30er wiederum durch diese Alltagspraxis bestimmt war. Die Methode des Projekts bestand vor allem darin, zeitgenössisches Quellenmaterial der 30er Jahre zu sichten und mittels Interviews und Fragebögen Erinnerungen von Kinogängern der damaligen Zeit zu sammeln (vgl. Kuhn 2002). Der vorliegende Aufsatz kombiniert Daten und Befunde der früheren Projektphasen mit neuer Forschung, die sich spezifisch auf Snow White bezieht. Er untersucht den Film im Kontext der britischen Kinokultur der 30er und beruht wiederum auf einem Fragebogen, der anhand eines kleineren Samples von Männern und Frauen, die den Film seinerzeit sahen, Erinnerungen erhebt. Die britische Uraufführung von Snow White and the Seven Dwarfs fand am 24. Februar 1938 statt, als Auftakt einer vorab nicht begrenzten Laufzeit mit sechs täglichen Vorführungen im ultraschicken New Gallery Cinema des Londoner West End. Wie später im Presseheft berichtet, verzeichnete man schon nach drei Wochen 150.000 Besucher. Der landesweite Start erfolgte jedoch erst nach mehreren Monaten, und es dauerte bis September desselben Jahres, bis Snow White allerorten in den Kinos anlief. Inzwischen hatten unzählige Rezensenten über das ganze Spektrum der britischen Presse hinweg unisono das Lob des Films gesungen. Der Daily Mirror fand ihn «ein Wunder – er wird jedem, der ihn sieht, sogleich ans Herz wachsen» (25.II.1938), und der News Chronicle nannte ihn «die bislang brillanteste Leinwand-Innovation» (22.II.1938). Laut The Times waren seine «Homogenität, Leichtigkeit und emotionale Innigkeit» nachgerade «magisch» (22.II.38). Der New Statesman bezeichnete ihn als «allerliebste und einzigartige Unterhaltung» (26.II.38), während Basil Wright ihm im Spectator bescheinigte, dass «drei Jahre der Antizipation und geschickt geschürter Erregung» (4. III.38) durchaus gerechtfertigt waren. The Listener nannte den Film «bemerkenswert, nicht nur in seiner Ausführung, sondern auch, weil
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es ihm gelungen ist, den Zeichentrickfilm auf die Ebene des abendfüllenden Spielfilms zu heben» (9.III.38), und das Monthly Film Bulletin des British Filminstitute schrieb, «er gewährte uns einen Blick ins Märchenreich» (Februar 1938, 44). Die Branchenpresse stimmte bei: Für den Kritiker von Today’s Cinema entsprach Snow White and the Seven Dwarfs «der verzauberten Atmosphäre kindlicher Imagination in ihren frühen, prägsamen Phasen» (22.II.1938), während Kinematograph Weekly etwas pragmatischer von vorzüglicher Unterhaltung für alle Klassen, Generationen und Geschlechter sprach und von einer «einmaligen Chance für die Kinokassen» (24.II.1938). Auch in der Fanpresse wurde Snow White ausführlich behandelt und emphatisch gelobt; die Wochenblätter nannten ihn ohne Ausnahme «außergewöhnlich» und zählten ihn zu den besten Filmen des Jahres 1938.2 Das Publikum war augenscheinlich gleicher Meinung. Auch die Leser des Film Pictorial zählten Snow White zu den besten Filmen des Jahres, und für Kinematograph Weekly erwies er sich als der Kassenschlager von 1938. In einer Untersuchung der Freizeitaktivitäten von etwa 200 Schulkindern stand er an der Spitze der Lieblingsfilme (Film Pictorial vom 21.I.1939; Struthers 1939). Mit einem Wort, Snow White and the Seven Dwarfs war 1938 in jeder Hinsicht der populärste Film. Für ein britisches Lichtspieltheater – wie vermutlich für viele andere – erwies er sich als Überraschungserfolg, der nicht nur im Jahr seiner Erstaufführung an der Spitze rangierte, sondern in den 30er Jahren insgesamt (Kuhn 2002, 252). Bedenkt man, dass einer der signifikantesten Befunde der Erinnerungsforschung besagt, dass die Erinnerung an einzelne Filme eher selten ist, so haben sich sowohl der Kinobesuch als solcher wie Bilder oder Szenen aus Snow White einer erstaunlich großen Zahl von Zuschauern eingeprägt. Er steht auch in der vordersten Reihe der von den Befragten spontan ins Spiel gebrachten Titel – von Filmen, die man in den 30ern gesehen zu haben wusste und bei denen auch die Umstände des Kinobesuchs noch einigermaßen detailliert vor Augen standen. Auch in den Fragebögen wurde Snow White auf die Frage: «Erinnern Sie sich an Filme, die Sie besonders beeindruckt haben?» immer wieder genannt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass ihm im Unterschied zu den meisten Filmen, die vor der Zeit der Wiederaufführungen in Fernsehen, Video oder DVD herausgekommen waren, ein ausgedehntes Weiterleben im Kino beschieden war – und das könnte natürlich das Gedächtnis der Informanten aufgefrischt haben. Wie 2
John Milford zählt im Film Pictorial vom 24.XII.1938 Snow White zu den besten Filmen des Jahres; im Picturegoer vom 17.VII.1938 erhält er vier Sterne (für «vorzüglich») und wird unter den außergewöhnlichen Filmen des Jahres aufgeführt; das Jahrbuch Stars and Films of 1938 nennt ihn «einen der am sehnlichsten erwarteten Filme von 1938» (CCINTB 92-1-20c).
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dem auch sei, es gibt ungewöhnlich lebhafte und detaillierte Erinnerungen an Snow White and the Seven Dwarfs in den 1930er Jahren. Hier ein paar Beispiele: Ich sah [Snow White]. Ich fuhr 1938 mit Dennis Porter mit dem Fahrrad nach Blackpool, und wir sahen den Film im Tower Ballroom. Der Eintritt kostete, wie ich glaube, 20 Pence – eine ruinöse Summe und der teuerste Kinositz, den ich mir je geleistet hatte.3 Der Gemeindepfarrer, der gegen die Eröffnung des Ritz-Kinos protestiert hatte, erstaunte uns alle, als er die Kinder dazu einlud, Snow White auf seine Kosten am Sonntag Nachmittag anzuschauen [...]. Ich werde weder den Film noch die Großzügigkeit des Pfarrers je vergessen.4 Ich erinnere mich noch sehr gut an Snow White! Das war eine echte, eine größere Sache [...]. Ich glaube nicht, dass es bislang so etwas gegeben hatte. Und wo immer man ging und stand, da war auch Snow White, und alles war mit Bildern aus dem Film dekoriert. Und ich kann mich erinnern, dass ich auch Zeichnungen davon angefertigt habe, als Hausaufgabe für die Schule. Für eine ganze Weile war das eine ziemlich –, war das eine große Sache.5
Doch die britische Geschichte von Snow White and the Seven Dwarfs umfasst weit mehr als die Geschichte seiner flächendeckenden Vermarktung und allgemeinen Popularität. Die letzten Jahre der Dekade markieren eine Zeit des Übergangs in der Kinokultur des Landes, und es ist gut möglich, dass sich damals ein echter Umbruch in der generellen Haltung zum Kino und im Filmgeschmack vollzog (vgl. Kuhn 1996). Damals wandelte sich auch der offizielle und halboffizielle Diskurs über das Kino und seine Zuschauer – vor allem über das Kinderpublikum – in signifikanter Weise. Als Snow White and the Seven Dwarfs 1938 mit Fanfaren in Großbritannien empfangen wurde, klinkte er sich in eine Serie von Prozessen und Diskursen ein, die das Profil dieses frühen Blockbusters noch weiter steigerten und seine britische Rezeption zu einem besonderen Ereignis werden ließen. Die Karriere von Snow White in den 30er Jahren verknüpft verschiedene Plotlinien und involviert eine Anzahl von Diskursen, deren wichtigste ich hier untersuchen will: und zwar unter den Stichwörtern ‹Horror›, ‹Hype› und ‹Heim›.
3 4 5
CCINTB T94–9, Tom Walsh, Glasgow (damals 17 Jahre). CCINTB 07–004, Doris M. Daly, London (1931 geboren und als Kind wohnhaft in County Leitrim, Irland). CCINTB T95–94, Fred Curnick, Harrow.
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‹Horror› Zwei Wochen bevor Snow White and the Seven Dwarfs in die britischen Kinos kam, wurde bekannt gegeben, dass das British Board of Film Censors (BBFC) das Zertifikat ‹A› für den Film empfahl – was besagte, dass Kinder unter 16 Jahren nur in Begleitung Erwachsener eingelassen wurden. Dies deshalb, weil einige Passagen des Films als «alptraumhaft» und «für Kinder ungeeignet» betrachtet wurden (The Times, 7.II.1938). Diese Passagen betrafen Schneewittchens Flucht durch den Wald am Anfang, die Verwandlung der Königin in eine Hexe und den Tod der Hexe gegen Ende. Doch das Disney-Studio zeigte sich ungerührt von dieser Einschätzung und sah davon ab, den Film für den britischen Kinostart um die fraglichen Stellen zu kürzen (Daily Herald, 8.II.1938). Dennoch löste die Entscheidung der Zensur eine Diskussion in der hiesigen Presse aus. Ein paar Tage nach Bekanntgabe der BBFC-Entscheidung am 12.II.1938 brachte der News Chronicle einen Denkanstoß zur Frage, «inwieweit Kinder vor solchem Terror geschützt werden sollten»: Man wies darauf hin, dass Terror auch genüsslich sein könne, aber «um Angst lustvoll zu erleben, müssen wir wissen, dass wir uns vor etwas Irrealem fürchten». Einige Kinder «vergessen sehr schnell, was fiktional ist und was nicht», fuhr der Text fort, «und wahrscheinlich ist der neue Disney-Film um dieser überempfindlichen Minderheit willen mit dem Zertifikat ‹A› versehen worden». Doch in der folgenden Woche, am 19.II.1938, gab ein anderer Autor oder eine Autorin der Zensurbehörde generell Recht, denn die visuelle Darstellung besitze die eigentümliche Macht, «durch ihre Prägnanz und durch die Art, wie sie Dinge übertreibt, die das Märchen lediglich skizziert, Angst auszulösen». Inzwischen hatte The Times vom 9.II.38 einen Leitartikel gegen das ‹A›-Zertifikat publiziert – nicht etwa, weil der Autor oder die Autorin den Film nicht furchterregend fand, sondern weil man glaubte, Kinderpsychologen stünden hinter der Entscheidung der Zensoren – eine Gruppe, die gewohnheitsmäßig von der Presse attackiert wurde. In einem Leserbrief an The Times nach dem Kinostart (1. März 1938) betonte Susan Isaacs, eine Kleinianische Psychotherapeutin und Kinderpsychologin am Institut für Erziehungswissenschaft der Londoner Universität, dass man bei der Erwägung, welche Filme für Kinder geeignet seien, präziser das jeweilige Alter berücksichtigen müsse. Isaacs befand den Film als «wunderbare Unterhaltung» für Kinder über sieben oder acht Jahre, nicht aber für jüngere, die, wie sie argumentiert, noch nicht zwischen ‹real› und ‹imaginär› unterscheiden könnten. Sie riet den Eltern, kleine Kinder nicht mit in den Film zu nehmen. Aus einer anderen Perspektive verteidigte der bekannte Kolumnist P.L. Mammock Snow White im Daily Herald, ihm
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ging es um die künstlerische Qualität. Zwar räumte er ein, dass Kinder sich bei manchen Szenen fürchten könnten, «doch es wäre schade, diesen wunderbaren Film mit seinen exquisiten malerischen Experimenten in Schattengebung, Farbtönung, reflektierenden Lichtflecken und perspektivischer Darstellung zu kürzen» (21.II.1938). Tatsächlich lief die Diskussion über Kinder und Kino schon seit einigen Jahren in Großbritannien und hatte in den späten 30ern bereits hohe Differenziertheit gewonnen. Seit den Anfängen des Kinos hatte die Wirkung von Filmen auf Kinder die Öffentlichkeit relativ ausgiebig beschäftigt, wobei sich die Diskussion zunächst auf mutmaßliche Schäden richtete, auf Überanstrengung der Augen, Müdigkeit und dergleichen, sowie auf die Auswirkungen des Kinos auf die Arbeiterklasse (vgl. Kuhn 1998, 120ff). In den 30er Jahren konzentrierten sich die Befürchtungen nun weniger auf negative physische Folgen als zunehmend darauf, was man als zuträglich für Kinder erachtete und wie das Kino ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen oder, im Gegenteil, fördern könnte. Zu Beginn der Dekade hatte der Zyklus von angsterregenden oder «horrorifizierenden» Hollywoodfilmen die Gemüter bewegt (so etwa Frankenstein, Dracula oder Dr. Jekyll and Mr Hyde, alle USA 1931), und Pressure Groups schalteten sich ein, die um das Wohl der Kinder besorgt waren. Sie bezweifelten vor allem die Wirksamkeit des A-Zertifikats und der Altersbeschränkung. Damals war die Zensurbehörde BBFC lediglich ermächtigt, Empfehlungen auszusprechen, nicht aber ihre Einhaltung durchzusetzen: Lokale Behörden hatten das letzte Wort, und ohnehin konnten Kinder leicht Mittel und Wege finden, um die Regelung, dass sie von Erwachsenen begleitet sein mussten, zu unterlaufen. Die Diskussion betraf vor allem die Rechte der Eltern und ihre Verantwortung, die richtigen Filme für ihre Kinder auszuwählen; problematisch war zudem, dass das Zertifikat von Erwachsenen oft bewusst ignoriert wurde. Welche Filme überhaupt für Kinder geeignet oder ungeeignet waren, stand im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.6 Im Verlauf weniger Jahre hatte sich der Tenor der öffentlichen Meinung allerdings verschoben, und zwar von der Frage, inwieweit Kinder durch nicht-kindgerechte Filme zu Schaden kommen könnten, auf die Forderung, Filme speziell für Kinder zu produzieren und zu programmieren. Der bevorstehende Kinostart von Snow White and the Seven Dwarfs ließ jedoch frühere Sorgen über die psychischen Effekte angsterregender Filme wieder aufleben. Man machte sich einerseits Gedanken darüber, welche Rolle die Zensur oder die Zertifikatvergabe für den Schutz der Kin6
National Archives, HO45/17036/20, FCCC «Report to Home Office on Children and ‹A› Films», 21. Dezember 1932; HO-Zirkular «Children and ‹A› Films», 596,323/20, 6. März 1933.
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der spielte, und überlegte andererseits, wie die Werbung für kindgerechte Filme aussehen sollte. Das Problem von Snow White bestand darin, dass er sowohl als angsterregend wie als kindgerecht empfunden wurde. Das vom BBFC empfohlene Zertifikat ‹A› sollte dieses Problem lösen. Doch es zeigte sich, dass viele lokale Behörden (auch die Londoner und die der Nachbargemeinden) die Empfehlung in den Wind schlugen und das Zertifikat ‹U› (für unbeschränkten Eintritt) vergaben. Haben sich die jungen Kinobesucher der 30er Jahre wirklich bei manchen Szenen von Snow White gefürchtet? Zweifellos kam das vor, und obwohl der Film nur wenige solcher potenziell angsterregenden Passagen enthält und sie zudem ziemlich kurz sind, scheinen sich gerade diese Augenblicke tief ins Gedächtnis der Rezipienten gegraben zu haben. Auch wenn die Angst-Erinnerungen (im Gegensatz zu Erinnerungen an den Kinobesuch als solchen) nicht allzu zahlreich sind, werden sie doch mit vielsagendem Nachdruck und plastischer Intensität geschildert: So vermögen sie vielleicht Einblick in die Art und Weise zu gewähren, wie das Kinogedächtnis, und vor allem das früheste, funktioniert (vgl. Kuhn 2002, 3962). Allerdings müssen Erinnerungen an die Angst in Snow White nicht nur negativ gefärbt sein. Zum Beispiel erinnert sich der Filmkritiker Philip French, dass er 1938, als er den Film im Alter von fünf Jahren sah, «verzaubert, verängstigt und gebannt» war (The Observer, 18.X.1987). Eine Reihe von Antworten auf den Snow-White-Fragebogen bestätigen Frenchs Erinnerung: Joy Matthews zum Beispiel sah den Film bei ihrem allerersten Kinobesuch mit zwei Jahren, und sie weiß noch, dass sie sowohl begeistert war wie sich vor der Königin fürchtete.7 Bei anderen Zuschauern, die sich an frühe Kinoerlebnisse erinnern, ist eindeutig der damalige Horror – und die Bilder, die ihn auslösten – besonders präsent. Philip Barnsby erinnert sich, dass er für einen Achtjährigen ungewöhnlich empfindlich war. Er schreibt: Snow White war von allen 30er-Jahre-Filmen am besten für meine zarte Jugend geeignet, doch selbst hier war mir die böse Stiefmutter gar nicht geheuer. Während meiner ganzen Kindheit scheine ich mich im Kino vor allem gefürchtet zu haben.8
Andere Erinnerungen an Snow White bekräftigen Susan Isaacs Rat, Kinder nicht zu früh der Filmerfahrung auszusetzen. Leonard Finegold und der Kinderbuchautor Alan Garner waren beide erst drei Jahre, als sie den Film sahen. Ersterer sagt: 7 8
CCINTB 07-002, Joy Matthews, Caerphilly (geb. 1936, lebte als Kind in Suffolk). CCINTB 95-16-Ia, Philip Barnsby (geb. 1930), Brief an CCINTB vom März 1996.
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Ich kann mich noch gut an die (grüne?) Hexe/Stiefmutter/Königin erinnern, die aus dem Bild schaute. Ich rannte aus dem Kino. Meine Mutter hat erzählt, dass sie lange brauchte, um mich wieder einzufangen.9
Und Garner erinnert sich: Ich war drei Jahre alt. Niemand hatte mir erklärt, was Kino oder was ein Film ist, und schon gar nicht, was ein Zeichentrickfilm ist. Und ich wurde in den größten Saal geführt, den ich je gesehen hatte [...]. Fünf Meter hohe Figuren türmten sich vor mir auf. Gezeigt wurde Snow White, und ich merkte, wie mir immer mulmiger wurde, bis zum Augenblick, als die Königin sich in eine Hexe verwandelt. Dann begann ich zu schreien und zu schreien und konnte gar nicht mehr aufhören. Meine Mutter rief eine Platzanweiserin, die mich hinausbringen sollte, und drückte mich in fremd riechende Arme hinter einem hellen Lichtstrahl, der mich blendete. Die Arme umfingen meinen sich sträubenden Körper und trugen mich hinaus, während meine Mutter sitzen blieb, um sich den Rest des Films anzusehen. Doch der Ausgang befand sich auf der Stirnseite bei der Leinwand, und ich wurde der riesigen, geifernden Hexe entgegen getragen, fort von aller Sicherheit, festgehalten von einer Person, die ich nicht sehen konnte, und die Hexe lachte dazu. Zu Hause angekommen, bezog ich Haue, weil ich meine Mutter blamiert hatte. Danach begannen die Alpträume und haben nie wieder aufgehört. Die Hexe trägt das Gesicht meiner Mutter. (Garner 1990, 9)
‹Hype› Wie bereits erwähnt, bildete Snow White and the Seven Dwarfs während der Wochen vor dem Kinostart in diversen Sektionen der britischen Medien das Hauptthema. Die Fan-Magazine dürften seit Monaten oder sogar Jahren gewusst haben, dass etwas Außergewöhnliches bei Disney ausgebrütet wurde. Viele der Artikel betonten die neue kinematografische Technologie, die für den Film entwickelt worden war, besonders die multiplane Kamera, sowie die enorme Leistung, die abertausend Zeichnungen anzufertigen, welche für einen Animationsfilm dieser Länge erforderlich sind. Als der britische Kinostart näher rückte, wurden die Figuren des Films – vor allem die Zwerge – in der Fan-Presse in allen Einzelheiten vorgestellt. So widmet die Januar-Ausgabe des Screen Pictorial von 1938 Snow White drei Seiten, inklusive einer Handlungsangabe sowie Zeichnungen der Figuren mit genauer Namensnennung und individueller Charakterbe9
CCINTB 07-008, Leonard Finegold, Philadelphia (geb. 1935, aufgewachsen in Hackney, East London).
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schreibung jedes einzelnen Zwergs; eine illustrierte doppelseitige Einlage im Picturegoer vom 25.XII.1937 betont die genialen Ton- und Farbeffekte und stellt wiederum die Zwerge einzeln vor (als «Eingeborene» des Disney-Studios); und weiter heißt es, »Wenn Sie Anfang nächsten Jahres den Film sehen, werden Sie feststellen, dass er sich, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, eng an das Märchen der Gebrüder Grimm anlehnt». Ähnlichkeiten von Ton und Inhalt dieses Texts mit einem frühen Disney-Trailer (der den «Thrill Ihres Lebens [...] in multiplanem Technicolor» verspricht) lassen vermuten, dass er auf die Werbeabteilung des Studios zurückgeht. Andere Beispiele des Medienfeldzugs scheinen sich stärker an den Interessen und Vorlieben der Journalisten und der Leser orientiert zu haben. In den zwei Wochen vor dem Kinostart brachte der Daily Mirror zwei positive Artikel über die begeisterte Aufnahme dieses «liebenswerten» Films in den USA, deren einer von dem «einzigen Mann in England, der Snow White bereits gesehen hat», stammte (10. und 17. II.1938). Andererseits äußerte ein Leitartikel in The Times die Meinung, die Gebrüder Grimm müssten sich im Grabe umdrehen (9.II.1938). Wie bereits erwähnt, wurde in diesen Wochen ja auch die Zertifikatempfehlung weithin in der Presse kommentiert. Kurz nach der Londoner Premiere strahlte BBC Radio landesweit ein Hörspiel aus, dem der Film zugrunde lag, und zwar dreimal innerhalb einer Woche, was eine bissige Kritik von Grace Wyndham Goldie im Listener vom 23.III.1938 zur Folge hatte. Doch angesichts des Films selbst schmolz jede blasierte Geste von Seiten des Establishments dahin. Selbst The Times gab zu, dass trotz seines «groben Humors» und der offenkundigen Attraktivität der Zwerge für «die dicken Männer in ihren Logen» Snow White and the Seven Dwarfs sowohl voller «Magie» war als auch Werktreue gegenüber dem Original der Gebrüder Grimm bewies (22.II.1938). Rezensionen in allen Zweigen der Presse und im Radio rangierten von Zustimmung – trotz gelegentlicher kleinerer Einschränkungen – bis zu äußerster, extremer Begeisterung. Die höheren Weihen erhielt der Film mit einer Meldung der Times vom 15.III.1938, dass die beiden jungen Prinzessinnen Elizabeth und Margaret zusammen mit erwachsenen Mitgliedern des Königshauses eine Privatvorführung des Films im Buckingham Palace genossen hatten. Obwohl es damals üblich war, dass die Pressemappen der Verleiher Reklamevorschläge enthielten, übertraf das Material zu Snow White in Umfang, Sortiment und Reichweite alles Bisherige. Das Verhalten der BBC, sich in Form eines Schneewittchen-Hörspiels an den Reklamerummel anzuhängen, fand rasch Nachahmer. Kurz nach der Premiere brachte HMV eine Schallplatte mit Liedern aus Snow White heraus («aufgezeichnet mit allen Toneffekten»), deren Cover entsprechend bebildert war, und der Verlag Faber & Faber publizierte eine neue Übersetzung des Märchens
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der Gebrüder Grimm. Eine veritable Lawine von Tie-ins, von Schneewittchen-Objekten aller Art, ergoss sich im Zuge dieser wohl ersten nationalen Werbekampagne, die mit filmbezogenen Konsumgütern arbeitete. SnowWhite-Produkte der Marke ‹Disney› , die in Lizenz in Großbritannien hergestellt und vermarktet wurden, waren zum Beispiel: Zahn- und Nagelbürsten, Keramik, Bakelit-Artikel, Laterna-Magica-Bilder, Papierservietten, Tischtücher, Luftballons, Lätzchen, Süßigkeiten, Modeschmuck, Kleiderstoffe, Malbücher, elektrische Lampen, Tapeten, Taschentücher, Kamine, Post- und Grußkarten, Kinder-Pyjamas, dekorierte Gläser, Handtaschen, gestickte Applikationen, Bleistifte, Federkästchen und dergleichen mehr.10 Eine Reihe meiner Informanten aus dem Projekt Cinema Culture in 1930s Britain erinnern sich, dass sie solche Werbeartikel zu Hause hatten. Barry Blains Schlafzimmer war mit entsprechenden Tapeten und Vorhängen geschmückt, und sein Vater schnitzte ihm ein Set von Schneewittchen und den sieben Zwergen. Blain fügt an, «und ich spielte die Platte unablässig». Joy Matthews besaß eine Schneewittchen-Puppe aus Zelluloid und eine Brosche mit Schneewittchen und den Zwergen. Ann Gray besaß die Schallplatte und eine aus Filz gefertigte Gruppe der Märchenfiguren.11 In den sieben Monaten, die zwischen der Londoner Premiere und dem landesweiten Kinostart lagen, setzte sich die intensive Reklame für den Film und die Vermarktung der Tie-ins fort. Eine Pressemappe des Disney-Studios, die in London gedruckt worden war und sich an Kinobetreiber außerhalb der Hauptstadt richtete, enthielt einen Brief von Roy Disney. Er riet, die Werbung so zu gestalten, «dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Ihrem Einzugsgebiet erfährt, dass Snow White in Ihrem Theater läuft». Zahlreiche Werbematerialien konnten bezogen werden: Poster, Lobbykarten, animierte Szenen und andere Dekorationen für die Eingangshalle des Theaters, aber auch kindgerechte Objekte wie Masken oder Vorlagen für Malwettbewerbe.12 Derweil hatte sich eine Vorhut der Mass-Observation-Organisation, die 1937 mit dem Ziel ins Leben gerufen worden war, Informationen über alle Aspekte des britischen Alltagslebens zu sammeln, in der baumwollverarbeitenden Stadt Bolton («Worktown») etabliert. Sie sollte den Alltag 10
11 12
British Film Institute, Library and Information Service, Special Collection Snow White and the Seven Dwarfs, Auswertungs-Supplement (o.D.). Über 130 solche Artikel (darunter Keramik, Anstecker, Wandschmuck, Postkarten und Geburtstagskarten) sind im Bill-Douglas-Center für Filmgeschichte und Populärkultur an der Universität Exeter versammelt [http://www.ex.ac.uk/bdc/]. CCINTB 07-007, Barry Blain; CCINTB 07-002, Joy Matthews; CCINTB 07-003, Ann Gray, Beaconsfield (geb. 1931, aufgewachsen in Dublin). British Film Institute, Library and Information Service, Special Collection Snow White [...], Auswertungs-Supplement.
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der Einwohner und ihre Freizeitaktivitäten dokumentieren – unter denen der Kinobesuch an erster Stelle rangierte (Mass-Observation 1943; Spender 1982). Im April 1938 beantworteten mindestens 500 Besucher des neu eröffneten Odeon-Theaters einen Fragebogen zu ihren Filmpräferenzen; die Antworten enthielten mehrere spontane Hinweise auf den «sehnlich erwarteten» Film Snow White and the Seven Dwarfs (Richards/Sheridan 1987, 61). Die Einwohner von Bolton mussten sich allerdings bis November gedulden – einem Zeitpunkt, zu dem die Stadt fast vor Erwartung platzte. Snow White hatte am Freitag, dem 4. November, im Odeon Premiere (interessanterweise mit einem U-Zertifikat ohne Altersbeschränkung). Seit Montag derselben Woche hatte die Bolton Evening News täglich große Inserate auf der Frontseite gebracht: «Der größte Leinwanderfolg der Welt» sollte im Odeon lediglich eine Woche laufen, mit kontinuierlichen Vorstellungen von 12 Uhr mittags bis 18 Uhr und zwei Abendvorstellungen, für die man Karten reservieren konnte. Die wöchentliche «Cinema-Chat»-Kolumne derselben Zeitung berichtete, Snow White breche «alle Rekorde für das Odeon und habe die Vorbestellungen für den bisherigen Kassenschlager dieses Theaters, Victoria the Great, schon übertroffen». Snow Whites Start in Bolton war zweifellos auch für die Mass-Observation ein wichtiges Ereignis. Die Beobachter dokumentierten Unterhaltungen über den Film, die sie im öffentlichen wie im privaten Bereich mitgehört hatten. Diese besagten, dass, obwohl der Film sich eigentlich an Kinder richtete (die mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berge hielten), auch Erwachsene seine technischen und musikalischen Innovationen äußerst eindrucksvoll fanden. Ein Mass-Observer oder eine Observerin zeichnete folgenden Dialog auf: N: Warst du letzte Woche im Odeon, Percy? Percy (Büroangestellter, 45 Jahre): Ja. N: Wie hat es dir gefallen? Percy: Na ja, einigermaßen. J (35 Jahre): Tja, das war nichts Besonderes. Percy: Aber mir hat imponiert, wie clever der Film war, verstehst du. J: Jaja, die Musik hat mir auch gefallen. Aber ein bisschen zu lang war er schon.13
Ein anderer Mass-Beobachter sammelte Äußerungen in der Schlange vor der Premiere im Odeon, wieder ein anderer notierte neun Seiten von Zuschauer-Gelächter, das er mit der Stoppuhr getimed hatte. Der Besuch eines 13
University of Sussex, Mass-Observation Archive, Worktown Collection, Box 36, W36/F, Snow-White and the Seven Dwarves [sic!].
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Beobachters oder einer Beobachterin in der Jugendabteilung der öffentlichen Zentralbibliothek von Bolton erbrachte, dass man schon hunderte von Nachfragen nach der neuen Faber-Übersetzung des Märchens entgegengenommen hatte. Das ursprüngliche Exemplar war bereits völlig zerlesen und musste ersetzt werden. «Viele Kinder warten darauf», hieß es. Die Läden quollen über von Snow-White-Artikeln. Ein Schreibwarengeschäft hatte Kalender und Keramikfiguren von Zwergen und Tieren im Schaufenster; ein Tapetenladen stellte eine Szene aus dem Film aus (die Mass-ObserverAufzeichnung enthält eine Bleistift-Skizze) sowie «Laubsäge-Figuren, die man im Kinderzimmer an die Wand heften kann, etc.». Ein Blumenladen verkaufte Gartendekoration und ein Juwelier stellte ein Armband aus, «an dem die sieben Zwerge baumelten wie kleine Amulette». In der Markthalle am Tag nach der örtlichen Premiere «hatte Grimshaws Stand [...] eine Preisliste der Snow-White-Schallplatten ausgehängt [...]. Ein entsprechendes Plattenalbum stand daneben. Das Ganze kostete 6/6d». Ein anderer Stand hatte ein Schneewittchen-Buch «an der Seitenwand am Mittelgang» angebracht. Dazu gab es Snow-White-Notenblätter zum Nachsingen. Woolworth verkaufte entsprechende Broschen, Ketten, Spielzeuge, Puppengeschirr, Figurinen, Süßigkeiten, Puzzles, Märchenbücher und Malbücher (ibid.). Boltons begeisterte Aufnahme von Snow White and the Seven Dwarfs wiederholte sich augenscheinlich quer durchs Land, und das Angebot an Schneewittchen-Artikeln und anderem Reklamematerial signalisiert, dass für alle etwas dabei war, für die Reichen und die weniger Reichen, für die Mittelklasse und die Arbeiter, für die Klientel der Juweliere und für die Kinder, die ihr Taschengeld bei Woolworth ausgaben. Insgesamt lassen sich die Objekte wie die Zielgruppen in zwei Hauptkategorien aufteilen: Gegenstände für Babys und Kinder (Märchen- und Malbücher, Spielzeug, Süßigkeiten) und Gegenstände für das Heim (Figurinen, Tischtücher, Geschirr). Manches richtete sich auch an beide Zielgruppen (Tapeten und Aufkleber, Proviantbüchsen), und diese Bezogenheit auf Kindheit/Heim erinnert an die Provenienz der ursprünglichen Schneewittchen-Geschichte aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. ‹Heim› Trotz der diversen Versicherungen, die Filmversion halte sich eng an das Grimmsche Märchen, weicht sie in verschiedener Hinsicht davon ab. Vor allem kondensiert oder eliminiert der Film einige Schlüsselelemente des Volksmärchens. Am Auffälligsten ist das Fehlen des Prologs, in dem Schneewittchens Mutter sich in den Finger sticht und sich ein Kind wünscht, das so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie
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Ebenholz sei. Der Film verzichtet auch auf den Schluss – die Hochzeit mit dem jungen Prinzen, auf der die böse Königin zur Strafe mit rotglühenden Schuhen tanzen muss. Das Schneewittchen des Films ist ein paar Jahre älter als die Siebenjährige des Märchens, und die Dauer der eigentlichen Handlung ist auf wenige Tage zusammengezogen, während sie sich im Märchen auf gut und gern mehrere Jahre erstreckt. Auch reduziert der Film die mörderischen Gegenstände – Schnürriemen (fürs Mieder), Kamm und Apfel – einzig auf den Apfel. Mehrere Forscher haben darauf hingewiesen, dass die Disney-Version dem Märchen auch charakteristische Genre-Elemente der Zeit hinzufügt: zum Beispiel Elemente der Operette (à la Nelson Eddy und Jeannette MacDonald) oder der Screwball-Comedy, und ebenso die bereits erwähnten ‹horrifizierenden› Momente (vgl. Wright 1997). Geht man davon aus, dass das Genre jenen Punkt darstellt, an dem sich die Produktionserfordernisse der Filmindustrie mit den Zuschauer-Erwartungen treffen, ist dies wichtig für das Verständnis der Reaktionen auf den Film. Von besonderer Bedeutung ist dabei nicht nur, wie filmische Handlung, Schauplätze und Ikonografie mit den bisherigen Kenntnissen und Genre-Erwartungen des Publikums interagieren, sondern auch der Bezug auf die reale Lebenswelt. An anderer Stelle habe ich ausgeführt, dass die Zuschauer der 30er Jahre den Kinobesuch in ihren Alltag und ihre Aktivitäten integriert, jene ‹andere› Welt also buchstäblich domestiziert und als Heterotopie in ihr Zuhause verpflanzt haben (vgl. Kuhn 2004). In Disneys Snow White and the Seven Dwarfs ist diese Domestizierung sowohl im Film selbst angelegt – in seiner Thematik, seinen Bildern, seiner Adressierung der Zuschauer – sowie, und das ist wichtig, in seinem ‹Hype›, dem Werberummel, der im Zuge seines ersten Einsatzes in Großbritannien losbrach. Vielleicht ist der wichtigste Unterschied zwischen dem Volksmärchen und der filmischen Version an jener Stelle der Handlung festzumachen, als Schneewittchen das Haus der Zwerge entdeckt und dort Zuflucht findet. Im Volksmärchen stößt die Protagonistin nach ihrer Flucht durch den Wald auf ein Häuschen in einem waldigen Tal, tritt ein und findet es makellos sauber. Die Bereitschaft der Zwerge, sie als ihre kleine Haushälterin zu akzeptieren, ist daher eher ein Akt der Großzügigkeit als Ausdruck eines Bedürfnisses. Außerdem ist die Zeitspanne, in der Schneewittchen bei den Zwergen wohnt, im Film relativ lang – Jahre scheinen zu vergehen –, während dies im Volksmärchen sehr knapp erzählt wird, nämlich mit wenigen Worten in ein oder zwei Sätzen. Im Film nehmen die Szenen im Häuschen einen substanziellen Teil der etwa 80 Minuten Laufzeit ein: ungefähr eine halbe Stunde, wobei die Passage, in der die Hexe Schneewittchen den Apfel gibt, und die anschließende Trauer der Zwerge nicht mitgerechnet sind.
380 Orte des Films und Schichten des Wissens
Doch die häuslichen Szenen treiben die Handlung nicht voran, und das ist auch nicht ihre Funktion. Zunächst macht sich Schneewittchen mit Hilfe der Tiere an den Frühjahrsputz; dann erkundet sie das Obergeschoss und schläft ein. Die Zwerge kommen heim, und wir sehen, wie sie reagieren, als sie ihren Gast bemerken. Schneewittchen empfiehlt sich als Haushälterin, gleich darauf wird das Abendessen zubereitet. Später vergnügt man sich mit Musik und einem Tänzchen, dann singt Schneewittchen ein Lied, bevor alle zu Bett gehen. Offenbar ist es diesem Film (neben der unübersehbaren Ausstellung der Wunder der Animation) um eine Meditation über Häuslichkeit und Kinderpflege zu tun: Die Zwerge spielen hier die Rolle der Kinder, während sie im Volksmärchen als Beschützer Schneewittchens fungieren. Die Disney-Version dreht sich also in beträchtlichem Maße um Hausfrauen-Belange und ebenso darum, wie man sich zu Hause benehmen sollte. Natürlich fügt der Film dem Märchen auch audiovisuelle Elemente hinzu, und in diesem Zusammenhang sind die räumlichen Verhältnisse im Zwergenhäuschen von Interesse. Das Gebäude mutet an wie ein rustikales mitteleuropäisches Pfefferkuchenhaus, es enthält hölzerne Möbel und allerlei Schnitzwerk im Überfluss, ganz abgesehen vom hinzuerfundenen Obergeschoss und der Treppe, die zu diversen Effekten und Scherzen Anlass gibt. Über die Mise en scène und Beschaffenheit des filmischen Raums ließe sich vieles sagen und ebenso über die Tatsache, dass es sich hier um Animation und nicht um Realfotografie handelt. Im Kontext des vorliegenden Aufsatzes ist jedoch vor allem relevant, dass der Film Handlung und Schauplätze des Volksmärchens an verschiedenen Stellen teils kondensiert, teils ausschmückt; und dass es bei dieser Akzentuierung jeweils darum geht, den Topos von ‹Heim und Häuslichkeit› ins Zentrum zu rükken, um die Zuschauer dort abzuholen und darauf einzuschwören. Die Vermarktung und Bewerbung des Films – und vor allem die Tie-ups in Form von Konsumgütern mit dem Schwerpunkt auf Haushalt und Spielzeug – sind Teil davon und unterstützen den Diskurs. Unter den Werbevorschlägen, die in der britischen Pressemappe enthalten sind, findet sich ein kurzer Artikel zum Häuschen der Zwerge und der Expertise hinter dessen Design. Neben Abbildungen von Möbeln steht der Hinweis, dass «fast alles in diesem phantastischen, charmanten Heim sich ohne Schwierigkeit auch in einem Landhaus oder einer Berghütte realisieren ließe». Diese nicht gerade naheliegende Idee kann verdeutlichen, wie wenig man im kalifornischen Burbank vom britischen Alltag der ausgehenden 30er Jahre verstand. Damals begann man hierzulande ja erst, das eigene Zuhause zu perfektionieren. Tausende neuer Gebäude wurden an der Peripherie der britischen Städte gebaut. Die Träume, vor allem der
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Frauen der unteren Mittelklasse, von einem attraktiven Heim – das vorstädtisch-modern und eigentlich nicht rustikal aussehen sollte – fanden Ausdruck in der jährlichen Ausstellung Daily Mail Ideal Home (vgl. Ryan 1995). Die Ausstellung von 1938 enthielt eine Replik des Zwergenhäuschens, dessen Maßstab allerdings zum Ausdruck brachte, dass es für kleine Leute gedacht war – für Zwerge und Kinder (Abb. 1). Dies mag einiges darüber aussagen, wie der Disney-Film und seine Werbefeldzüge zu einer Zeit, als der Konsumerismus in Großbritannien sich gerade erst zu entwikkeln begann, populäre und möglicherweise intensive Vorstellungen von ‹Heim› und ‹Häuslichkeit› zu nutzen suchte, um den Traum vom Besitz zu verkaufen – dem Besitz von Geschirr, von Nippes und Ähnlichem, vor allem aber von einem wohlgeordneten und schönen Zuhause. In der Tat gibt es zeitgenössische Indizien, dass die SchneewittchenHäuslichkeit und die Szenen des Films im Zwergenhäuschen damals alle Altersklassen tief beeindruckten, mindestens ebenso tief wie die lebhaft erinnerten ‹horrifizierenden› Passagen. A.N. Wilson erzählt in seiner C.S. Lewis-Biografie die Anekdote, wie Lewis und seine Brüder – die nur selten ins Kino gingen – Karten für Snow White kauften und den Film «erstklassig fanden [...]. Er lohnte sich durchaus, und sei es nur wegen des Frühjahrsputzes im Zwergenhaus» (1990, 160). Die wissenschaftlicheren Erhebungen der Mass-Observer, die das Boltoner Publikum bei der Vorführung des Films beobachteten, enthüllen, dass die deutlichsten Reaktionen (die in Sekunden gemessenen Lacher) bei den Szenen im Zwergenhäuschen erfolgten.14 Die Mass-Observation-Gruppe sammelte auch 25 Kinderzeichnungen zum Thema ‹Snow White›, von denen viele ein kindlich gemaltes Häuschen enthielten. Die ‹Heim›-Sequenzen – im Gegensatz zu den ‹horrifizierenden› – scheinen den kleinen Künstlern am besten gefallen zu haben (Abb. 2). 14
University of Sussex, Mass-Observation Archive, Worktown Collection, Box 36, W36/F.
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Dies mag nicht das letzte Wort über diesen faszinierenden Film sein, doch die suggestiven Fragmente zeitgenössischer Zeugenschaft für dessen ungewöhnliche britische Karriere vermögen ein deutliches Zeugnis davon abzulegen, wie man in den 30er Jahren mit Snow White and the Seven Dwarfs umging oder ihn erlebte. Sie summieren sich zu einem signifikanten Beleg für die Zentralität des Themas ‹Heim› in der Phantasie des damaligen Publikums. So argumentiert auch Thomas Inge, der ideologische Hauptimpuls von Disneys Film sei es, die Zuschauer auf Heim und Familie zu fokussieren, und der Handlungsbogen bewege sich in Richtung ‹familiäre Stabilität› und ‹sozialer Zusammenhang› – eine Argumentation, die sich, ohne tatsächliche Publikumsreaktionen hinzuzuziehen, allein der textuellen Analyse des Films verdankt (vgl. Inge 2004). Mein zentrales Anliegen betrifft jedoch die Art und Weise, wie Snow White und die Diskurse, die sich um den Film ranken, mit dem Alltag der britischen Zuschauer und ihren Aktivitäten interagierten. Verstehen wir dies, so können wir beginnen uns vorzustellen, wie der imaginäre Austausch zwischen dem Film und den damaligen Zuschauern beschaffen war, und darüber nachdenken, welche Rolle er in der Aushandlung der Beziehungen zwischen innerem und äußerem Leben der Menschen spielte. Die Kinderzeichnungen, die von der Mass-Observation-Gruppe gesammelt wurden, erinnern an Carolyn Steedmans Buch The Tidy House (1982). Steedmans Erörterung der Bedeutung, die ein geordnetes Zuhause in den Vorstellungen junger Kinder besitzt, dürfte sich mit der Psychodynamik der Filmrezeption und der Beziehung zwischen realen und imaginären häuslichen Räumen berühren – insbesondere von Häusern der Kindheit. Aus den Begleitumständen der britischen Erstbegegnung mit Snow White and the Seven Dwarfs ließe sich noch vieles entnehmen, das Licht auf diese Dinge wirft. Auf Basis der unterschiedlichen zeitgenössischen Zeugnisse zu und den Erinnerungen an die Lancierung des Films im Jahre 1938 hat der vorliegende Aufsatz versucht herauszuarbeiten, wie der britische Rezeptionskontext mit den besonderen Charakteristika des Films interagiert hat – eines Films, der nicht nur bestimmte zeitgenössische Intertextualitäten generierte, sondern auch eigentümliche Modi der Erinnerung bei jenen Zuschauern, die ihn 1938 gesehen haben. Das Erscheinen von Snow White in Großbritannien traf zusammen mit einem Wandel in der britischen Kinokultur, als die offiziellen und halboffiziellen Diskurse um das Kino und seine Zuschauer – vor allem seine jüngeren Zuschauer – sich signifikant veränderten. Die beispiellose Berichterstattung in den Medien hatte viel damit zu tun, dass der Film mit dem bereits bestehenden Diskurs über Horrorfilme in Verbindung gebracht wurde – insbesondere mit
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der Problematik der Zensur, wobei es vor allem um Altersbeschränkungen bei Kindern ging; und er traf auf den Diskurs um Häuslichkeit und Heim sowie generell auf den um den aufkommenden Konsumerismus. Das Zusammenwirken all dieser Umstände zeichnet Snow White and the Seven Dwarfs und seine britische Rezeption auf allen Ebenen als distinktes Phänomen aus. Das machte ihn in der Erfahrung der Zuschauer zu einem außerordentlichen ‹Event›, der sich ins Gedächtnis einschrieb. Aus dem Englischen von Christine N. Brinckmann Literatur Disney, Walt (1979) Walt Disney’s SNOW WHITE AND THE SEVEN DWARFS. New York: Viking. Garner, Alan (1990). «Snow White». In: Seeing in the Dark. Hg. v. I. Breakwell & P. Hammond. London: Serpent’s Tail. Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm (1938) Snow White and the Seven Dwarfs. Freely translated and illustrated by Wanda Gag. London: Faber & Faber. – (1812) Kinder- und Hausmärchen, 1. Bd. Berlin: Reimer. Inge, M. Thomas (2004) «Art, Adaptation and Ideology: Walt Disney’s Snow White and the Seven Dwarfs». In: Journal of Popular Film and Television 32,3; S. 132–142. Kuhn, Annette (2010) «Was tun mit der Kinoerinnerung?». In: Montage/AV 19,1; S. 116–133. [Englisch als: «What to Do with Cinema Memory?» In: New Cinema History: Approaches and Case Studies. Hg. v. Richard Maltby, Daniel Biltereyst and Philippe Meers. Malden, MA: Blackwell 2011, S. 85–97]. – (2004) «Heterotopia, Heterochronia: Space and Time in Cinema Memory». In: Screen 45,2; S. 106–14. [ Deutsch als: «Heterotopie, Heterochronie: Ort und Zeit der Kinoerinnerung». In: Film – Kino – Zuschauer: Filmrezeption. Hg. v. Irmbert Schenk, Margrit Tröhler & Yvonne Zimmermann. Marburg: Schüren 2010; S. 27–39]. – (2002) An Everyday Magic: Cinema and Cultural Memory. London: I.B. Tauris. – (1998) Cinema, Censorship and Sexuality, 1909–1925. London: Routledge & Kegan Paul. – (1996) «Cinema Culture and Femininity in the 1930s». In: Nationalising Femininity. Culture, Sexuality, and British Cinema. Hg. v. Christine Gledhill & Gillian Swanson. Manchester: Manchester University Press. Mass-Observation (1943) The Pub and the People: A Worktown Study. London: Gollancz. Richards, Jeffrey/Sheridan, Dorothy (Hg.) (1987) Mass-Observation at the Movies. London: Routledge & Kegan Paul. Ryan, Deborah S. (1995) The Daily Mail Ideal Home Exhibition and Suburban Modernity, 1908–1951. Diss. University of East London. Spender, Humphrey (1982) Worktown People. Photographs from Northern England, 1937–38. Bristol: Falling Wall. Steedman, Carolyn (1982) The Tidy House: Little Girls Writing. London: Virago. Struthers, J. (1939) A Study of the Leisure Activities of Schoolchildren in a Middlesex Secondary (Mixed) School. MA Thesis, Institute of Education, University of London.
384 Orte des Films und Schichten des Wissens
Wilson, A.N. (1990) C.S. Lewis: A Biography. London: Flamingo. Wright, Terri Martin (1997) «Romancing the Tale: Walt Disney’s Adaptation of the Grimms’ ‹Snow White›». In: Journal of Popular Film and Television 25,3; S. 98–108.
Autorinnen und Autoren
Cary Bazalgette, arbeitete von 1979 bis 2007 für das British Film Institute. Zuvor war sie Lehrerin für Englisch und Filmgestaltung an verschiedenen Londoner Schulen. Sie ist die Autorin einer Reihe von Handbüchern und Lehrmitteln für Medienerziehung. Sie hat eine Vielzahl von Artikeln zu dem Thema publiziert und ist eine gefragte Vortragsrednerin in Grossbritannien und anderen, auch aussereuropäischen Ländern. Von 1999 bis 2006 war sie Leiterin von BFI Education, der pädagogischen Abteilung des BFI. Sie arbeitet jetzt als freischaffende Autorin und Konsulentin mit Fachgebiet Medienschulung. Sie ist die Vorsitzende der Media Literarcy Association und Mitglied der Media Literacy Experts’ Group der europäischen Kommission. Raymond Bellour, Filmtheoretiker, Kurator und Romancier, war Forschungsdirektor am CNRS in Paris und lehrt als Gastprofessor an zahlreichen Universitäten in den USA und in Deutschland. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen L’analyse du film (Paris: Calman-Lévy 1977); L’entre-images (Paris: La différence 2002); Le corps du cinema (Paris: POL 2009). Alain Bergala, 1978-88 Redakteur, später Chefredakteur und Leiter der Buchkollektion der Cahiers du cinéma. 2000-2002 Kinoberater des französischen Bildungsministers. Lehrstuhl für Filmanalyse an der Fémis und Mitinitiator des Master Didactiques de l’Image an der Sorbonne Nouvelle, Paris. Herausgeber der DVD-Edition für Schulen L’Eden cinéma. Publikationen u.a.: Voyage en italie de Roberto Rossellini (1990); Abbas Kiarostami (2004); Monika de Ingmar Bergman (2005); Kino als Kunst. Filmvermitlung an der Schule und anderswo (2006); Godard au travail, les années 60 (2006); Luis Buñuel (2008). Ausstellungen u.a. Brune Blonde, Cinémathèque française 2010/1. Andrea Braidt, Dr. MLitt., Senior Scientist am TFM Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen (feministischer) Filmtheorie, Genretheorie (Horrorfilm, Porno) und Erzähltheorie. Bücher (u.a.): Screenwise. Film Fernsehen Feminismus (Marburg 2004, hg. mit Monika Bernold, Claudia Preschl); Mit Freud. Zur Psychoanalyse in Theater-, Film- und Medienwissenschaft (Wien 2006, hg. mit Monika Meister, Klemens Gruber); Film-Genus.
386 Zu den Autorinnen und Autoren
Gender und Genre in der Filmwahrnehmung (Marburg 2008); Porno. Montage AV, Jg. 18/Heft 2, 2009 (Heftverantwortung, mit Patrick Vonderau). Matthias Christen, Prof. Dr. phil., geb. 1966 in Engelberg, Schweiz. Studium in Tübingen und Konstanz. Habilitation an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt Vertretung des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. 2011 Berufung auf die Professur für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth. Autor u.a. von Der Zirkusfilm. Exotismus, Konformität, Transgression, Marburg: Schüren 2010, Die letzten Bilder. Tod, Erinnerung und Fotografie in der Zentralschweiz, Baden: hier + jetzt 2010 und «to the end of the line». Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München: W. Fink 1999. Lebt in Berlin. Thomas Elsaesser, Professor emeritus für Filmwissenschaft und Medienkultur an der Universität Amsterdam und Gastprofessor an zahlreichen Universitäten in Europa und den USA. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels (München: Text und Kritik 2002); Filmtheorie zur Einführung (Hamburg: Junius 2007, gemeinsam mit Malte Hagener); Hollywood Heute: Geschichte, Gender und Nation im Deep Focus (Berlin: Bertz 2009). Oliver Fahle, Dr. phil., ist Professor für Filmtheorie und Filmästhetik an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte, Ästhetik und Theorie von Film und Fernsehen und der Bildmedien. Wichtige Publikationen der letzten Jahre: Bilder der Zweiten Moderne (Weimar: vdg 2005); als Herausgeber: Philosophie des Fernsehens (München: Fink 2006, gemeinsam mit Lorenz Engell); Technobilder und Kommunikologie. Die Medientheorie Vilém Flussers (Berlin: Parerga 2009, gemeinsam mit Michael Hanke und Andreas Ziemann). Malte Hagener, Dr., geb. 1971, Professor für Medienwissenschaft an der Phillips-Universität Marburg mit Arbeitsschwerpunkt Geschichte, Ästhetik und Theorie des Films. Mitbegründer von NECS European Network for Cinema and Media Studies (www.necs-initiative.org ). Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Filmtheorie zur Einführung (Hamburg: Junius 2007, Ital. Einaudi 2009, Engl. Routledge 2010, gemeinsam mit Thomas Elsaesser); Moving Forward, Looking Back. The European Avantgarde and the Invention of Film Culture, 1919–1939 (Amsterdam University Press 2007).
Zu den Autorinnen und Autoren 387
Vinzenz Hediger, Dr. phil., ist Professor für Filmwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Von 2004 bis 2011 war er Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftungsprofessor für Theorie und Geschichte bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Publikationen zählt Films that Work. Industrial Film and the Productivity of Media (Amsterdam University Press 2009, gemeinsam mit Patrick Vonderau) und Nostalgia for the Coming Attraction. American Movie Trailers and the Culture of Film Consumption (Columbia University Press 2012). Bettina Henzler, seit 2003 Projektleiterin des Französischen Schulfilmfestivals Cinéfête. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Bremen. Dissertation zu Alain Bergalas Filmvermittlungskonzept im Kontext der französischen Cinephilie. Herausgeberin (zus. mit Winfried Pauleit) von Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo (2006); Filme sehen, Kino verstehen. Methoden der Filmvermittlung (2008); Vom Kino lernen. Internationale Perspektiven der Filmvermittlung (2010). Alexander Horwath, Filmkritiker und seit 2002 Direktor des österreichischen Filmmuseums in Wien. Seit 1985 Tätigkeit als Filmkritiker für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Meteor, Film Comment, Die Presse, Der Standard. Von 1992 bis 1997 war er Direktor der Viennale . In Buchpublikationen beschäftigte er sich u. a. mit Michael Haneke, dem österreichischen Avantgardefilm oder dem US-amerikanischen Film der 1960er und 1970er Jahre. 2007 war er Kurator des Filmprogrammes der documenta 12 . Erkki Huhtamo, geb. 1958, Professor für Medienarchäologie im Department für Design Media Arts an der University of California in Los Angeles (UCLA). Von 1994 bis 1996 Professor für Medienwissenschaft, Universität von Lappland, Finnland. Als freier Wissenschaftler und Kurator publizierte er danach zahlreiche Studien über die Geschichte der Medien und die Ästhetik der Medienkunst, hielt Vorlesungen in Europa, Japan und den USA, lehrte an verschiedenen Hochschulen in Finnland und realisierte Serien für das finnische Fernsehen. Als Kurator war er an zahlreichen internationalen Medienkunstausstellungen beteiligt. Annette Kuhn, Professorin für Filmwissenschaft in der School of Languages, Linguistics and Film am Queen Mary College, University of London. Sie ist seit den frühen 1990er Jahren Mitherausgeberin der Zeitschrift Screen. Zu ihren Büchern zählen: Family Secrets: Acts of Memory and Imagination (1995 and 2002); An Everyday Magic: Cinema and Cultural Memory (2002); (Hg. gemeinsam mit Kirsten Emiko McAllister) Locating Memory:
388 Zu den Autorinnen und Autoren
Photographic Acts (2006); Ratcatcher (2008), sowie als Herausgeberin Screen Theorizing Today: a Celebration of Screen’s 50th Anniversary (2009). Dorit Müller, Dr. phil, ist Postdoc am Graduiertenkolleg «Topologie der Technik» an der TU Darmstadt mit einem Habilprojekt zu Die medientechnische Erschließung und Konstitution polarer Räume. Forschungsschwerpunkte sind: Mediale Inszenierungen von Verkehrstechnik, Wissenspopularisierung im Film, Raumwissen, Mediengeschichte der Polarforschung. Zu ihren Publikationen zählen Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900 (2004); Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850 (2009, gemeinsam mit Petra Boden) und Raum Wissen Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs (2011 gemeinsam mit Sebastian Scholz). Volker Pantenburg, Dr. phil., ist Juniorprofessor für Bildtheorie mit dem Schwerpunkt Bewegtbildforschung an der Fakultät Medien der BauhausUniversität Weimar und Juniordirektor am dortigen «Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie». 2008 und 2009 arbeitete er zudem im Projekt «Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermittelnden Films», das er mitkonzipierte und dessen Veranstaltungen und Forschungen von der Kulturstiftung des Bundes und der Bundeszentrale für Politische Bildung gefördert wurden. Buchveröffentlichungen u.a.: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard (2006); Ränder des Kinos. Godard – Wiseman – Benning – Costa (2010). Weitere Informationen: www.volkerpantenburg.de. Winfried Pauleit, Dr. phil., ist Professor für Film- und Medienwissenschaft mit Arbeitsschwerpunkten im Bereich Filmvermittlung und Medienpädagogik an der Universität Bremen. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Internationalen Bremer Symposiums zum Film und Mitbegründer und Redakteur der Online-Zeitschrift Nach dem Film. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Mediengeschichte im Kino (Marbug: Schüren 2009); Das ABC des Kinos (Frankfurt a.M. und Basel: Stroemfeld 2009) und Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino (Frankfurt a.M. und Basel: Stroemfeld 2004). Joachim Pfeiffer, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur der Goethezeit und der Moderne, Literatur und neue Medien, psychoanalytische Literaturwissenschaft, Literatur- und Filmdidaktik. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Die zerbrochenen Bilder. Gestörte Ordnungen im Werk Heinrich von Kleists (1989); Literaturpsycholo-
Zu den Autorinnen und Autoren 389
gie 1945-1987. Eine systematische und annotierte Bibliographie (1989); Tod und Erzählen. Wege der literarischen Moderne um 1900 (1997); Franz Kafka: Die Verwandlung, Brief an den Vater (1998); Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft (gemeinsam mit W. Schönau, 2003); Freud-Handbuch (Mithg. 2006); Grundkurs Film 2 (gemeinsam mit M. Staiger, 2010). Mitherausgeber des Jahrbuchs für Literatur und Psychoanalyse und der Zeitschrift Der Deutschunterricht. Stefanie Schlüter, ist Filmvermittlerin im Schnittfeld von Kino, Museum, Schule und Hochschule. Sie hat Philosophie und Germanistik für das Lehramt studiert und ihr Referendariat in Berlin-Neukölln absolviert. Mit dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst und der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen hat sie das Projekt «Was ist Kino?» initiiert, ein Filmvermittlungsprojekt für Kinder, Jugendliche und Lehrer/innen. Von 2007–2009 war sie Mitarbeiterin des Projekts «Kunst der Vermittlung – Aus den Archiven des filmvermittelnden Films», parallel dazu unterrichtete sie ein Seminar zum «Filmvermittelnden Film» an der Universität der Künste in Berlin. Seit Oktober 2009 ist sie Stipendiatin des Internationalen Graduiertenkollegs «InterArt» an der Freien Universität in Berlin und arbeitet derzeit an einer filmwissenschaftlichen Dissertation. Alexandra Schneider, Dr. phil., ist Associate Professor für Media and Culture an der Universität Amsterdam. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen transnationale Kinematografien, den Amateurfilm und das Kino im Zeitalter der portablen Medien. Zu ihren wichtigsten Publikationen zählen Die Stars sind wir. Heimkino als filmische Praxis (Marburg: Schüren 2004) und Transmission Image. Visual Translation and Cultural Agency (Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2009; gemeinsam mit Birgit Meersmann). Gudrun Sommer, ist Kuratorin und Programmberaterin im Bereich Dokumentarfilm bei der Duisburger Filmwoche, der Diagonale und dem steirischen herbst. Sie konzipiert Filmreihen, Ausstellungen und Vermittlungskonzepte für Filmbildungsaktivitäten. Sie ist journalistisch und als Dozentin an der Ruhr-Universität Bochum sowie der Athanor Akademie Burghausen tätig. 2008–2010 entwickelte sie gemeinsam mit der dfi-dokumentarfilminitiative im filmbüro NW den Kinderdokumentarfilm- Wettbewerb dok you. Zur Zeit ist Gudrun Sommer Leiterin des Filmfestivals doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche sowie des RUHR.2010 Kulturhauptstadtprojekts RuhrForum Filmbildung.
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Benoît Turquety, Dr. phil., Maître assistant in der section d’Histoire et esthétique du cinéma der Universität Lausanne, wurde an der Universität Paris-8 in Ästhetik und Technologie der Künste promoviert und hat überdies die École nationale supérieure Louis-Lumière mit einem Diplom in Filmregie und Filmtechnik abgeschlossen. Seine Forschungsgebiete sind die Geschichte der Filmtechnik, die Wissensgeschichte von Technologien der Sichtbarkeit, Experimentalkino und literarische Avantgarde sowie der Film an der Schnittstelle zur Wissenschaft. Zu seinen Publikationen zählt Danièle Huillet et Jean-Marie Straub, «objectivistes» en cinéma (Lausanne: L’Âge d’Homme 2009).
Zürcher Filmstudien Im Chronos Verlag erschienen: Henry M. Taylor Der Krieg eines Einzelnen/ La Guerre d’un seul homme Eine filmische Auseinandersetzung mit der Geschichte ISBN 3-905311-60-7 Mariann Lewinsky Eine verrückte Seite Stummfilm und filmische Avantgarde in Japan ISBN 3-905311-60-7 Christine N. Brinckmann Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration ISBN 3-905312-46-8
Im Schüren Verlag erschienen: Vinzenz Hediger Verführung zum Film Der amerikanische Kinotrailer seit 1912 ISBN 978-3-89472-788-8 vergriffen – als e-book erhältlich Hediger/Sahli/Schneider/Tröhler (Hg.) Home Stories Neue Studien zu Film und Kino in der Schweiz Nouvelles approches du cinéma et du film en Suisse ISBN 978-3-89472-504-4 vergriffen Hediger/Vonderau (Hg.) Demnächst in ihrem Kino Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung ISBN 978-3-89472-389-7
ISSN 1867-3708
Barbara Flückiger Sound Design Die virtuelle Klangwelt des Films ISBN 978-3-89472-506-8 Thomas Christen Das Ende im Spielfilm Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen ISBN 978-3-89472-507-5 vergriffen Henry McKean Taylor Rolle des Lebens Die Filmbiographie als narratives System ISBN 978-3-89472-508-2 Alexandra Schneider Die Stars sind wir Heimkino als filmische Praxis ISBN 978-3-89472-509-9 Yvonne Zimmermann Bergführer Lorenz Karriere eines missglückten Films ISBN 978-3-89472-511-2 Brütsch/Hediger/Schneider/ Tröhler/v. Keitz (Hg.) Kinogefühle Emotionalität und Film ISBN 978-3-89472-512-9 Ursula v. Keitz Im Schatten des Gesetzes Schwangerschaftskonflikt und Reproduktion im deutschen Film 1918–1933 ISBN 978-3-89472-513-6 Jan Sahli Filmische Sinneserweiterung László Moholy-Nagys Filmwerk und Theorie ISBN 978-3-89472-514-3
Zürcher Filmstudien Margrit Tröhler Offene Welten ohne Helden Plurale Figurenkonstellationen im Film ISBN 978-3-89472-515-0 Simon Spiegel Die Konstitution des Wunderbaren Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films ISBN 978-3-89472-516-7 Matthias Brütsch Traumbühne Kino Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv ISBN 978-3-89472-517-4 Barbara Flückiger Visual Effects Filmbilder aus dem Computer ISBN 978-3-89472-518-1 Philipp Brunner Konventionen eines Sternmoments Die Liebeserklärung im Spielfilm ISBN 978-3-89473-519-8 Kathleen Bühler Autobiografie als Performance Carolee Schneemanns Experimentalfilme ISBN 978-3-89472-520-4 Christian Jungen Hollywood in Cannes Die Geschichte einer Hassliebe 1939–2008 ISBN 978-3-89472-521-0 Britta Hartmann Aller Anfang Zur Initialphase des Spielfilms ISBN 978-3-89472-522-8
ISSN 1867-3708
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