Slavoj Žižek
Die Revolution steht bevor Dreizehn Versuche über Lenin Lenin Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider
»Lenin – heute? Die erste quasiautomatische Antwort auf diesen Vorschlag wird ein Lachen sein: Das meinst Du unmöglich ernst! Eine Rückkehr zu Marx, das könnten wir gerade noch verstehen; die ökonomische und technologische Globalisierung scheint Marx' Analysen der kapitalistischen Dynamik in der Tat zu bestätigen, und auch der Beschreibung des Fetischcharakters der Ware‹ können wir noch etwas abgewinnen. Aber Lenin?! Die Arbeiterklasse, die revolutionäre Arbeiterpartei und ähnliche Zombiebegriffe?« So formulierte Slavoj Žižek in seinem programmatischen ZEIT-Artikel »Von Lenin lernen« erste zu erwartende Reaktionen auf seine Beschäftigung mit Lenin. Hierbei handelt es sich aber keineswegs um eine Rückkehr zu Lenin, sondern um den Versuch, eine kritische Perspektive auf die gegenwärtige politische Situation zu gewinnen. »Die Frage lautet also nicht: ›Was ›Was hat Lenin gemeint, und was hat er uns heute zu sagen?‹ Sie lautet genau andersherum: Wie erscheint uns die gegenwärtige Gesellschaft aus einer leninistischen Perspektive?« Slavoj Žižek ist einer der innovativsten und originellsten Theoretiker der Gegenwart. Gegenwärtig leitet er ein Forschungsprojekt zum Thema »Antinomien der postmodernen Vernunft« in Essen. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt ist bei Suhrkamp erschienen: Die Tücke des Sub jekts, 2001 und Die gnadenlose Liebe, stw 1545.
Krankfurt: Suhrkamp 2002
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. edition suhrkamp 2298 Erste Auflage 2002 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002 Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vertrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Inhalt Einleitung: Zwischen den beiden Revolutionen 7
I.
Das Recht auf Wahrheit 17
II.
Wiedersehen mit dem Materialismus 27
III. Die innere Größe des Stalinismus 42 IV. Lenin als Schubertianer 50 V.
Ein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia, Lahnau Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany G ermany Redigitalisiert vom Schwarzkommando Schwarzkommando Erdschweinhöhle, Mecklenburg 2002 Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
Liebte Lenin seine Nächsten? 60
VI. Die erlösende Gewalt 78 VII. Gegen reine Politik 93 VIII. Denn sie wissen nicht, was sie glauben 106 IX. »Kulturkapitalismus« 117 X.
Gegen Post-Politik 127
XI. Ideologie heute 141 XII. Willkommen Willkommen in der Wüste des Realen 147 XIII. Gibt es eine Politik der Subtraktion? 159 Schluß: Rückkehr versus Wiederholung 181
Einleitung Zwischen den beiden Revolutionen Eine Salve sarkastischen Gelächters ist das erste, was man heute zu hören bekommt, wenn man ernsthaft vorschlägt, Lenin einer Reaktualisierung zu unterziehen. Marx, okay; heute gibt es sogar in der Wall Street Leute, die ihn schätzen – Marx, den Poeten des Warenfetischismus, Marx, der die Dynamik des Kapitalismus perfekt beschrieben hat, Marx, der die Entfremdung und Verdinglichung unseres Alltags so anschaulich geschildert hat. Aber Lenin? Nein, das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Steht Lenin denn nicht gerade für das Scheitern der praktischen Umsetzung von Marx, für die große Katastro phe, die ihre nachhaltigen Spuren in der Weltpolitik des zwanzigsten Jahrhunderts hinterlassen hat, für das Experiment des Realen Sozialismus, das in einer wirtschaftlich völlig ineffizienten Diktatur gipfelte? Wenn es heute einen Konsens innerhalb der radikalen Linken (oder dem, was von ihr übriggeblieben ist) gibt, dann den, daß man bei der Wiederbelebung des radikalen politischen Projekts das leninistische Erbe hinter sich lassen müsse. Die gnadenlose Konzentration auf den Klassenkampf, die Partei als die privilegierte Form der Organisation, die gewaltsame revolutionäre Machtergreifung, die anschließende »Diktatur des Proletariats« – sind das nicht alles »Zombiekonzepte«, von denen man sich besser verabschieden sollte, wenn die Linke unter den Bedingungen des »postindustriellen« Spätkapitalismus noch irgendeine Chance haben will? Das Problem mit diesem scheinbar überzeugenden Argument besteht darin, daß es gar zu leichtfertig das überkommene Leninbild des weisen Revolutionsführers übernimmt, der in Was tun? die Grundprinzipien seines Denkens und Handelns darlegte und sie dann ebenso konsequent wie rücksichtslos in die Tat umsetzte. Aber was, wenn es noch eine ganz andere Version dieser Geschichte Lenins gäbe? Es stimmt zwar, daß die Linke heute die ernüchternde Erfahrung machen muß, daß eine ganze Ära des politischen Fortschritts zu Ende geht und daß diese Erfahrung sie dazu zwingt, die grundlegenden Koordinaten ihres Projektes zu erneuern, aber genau solch eine Erfahrung brachte auch den Leni7
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