Dieses E-BOOK ist nur zum nichtkommerziellen Gebrauch bestimmt!
R U D O L F
STEINER
Themen aus dem Gesamtwerk Band n
Das Werk Rudolf Steiners gründet sich methodisch und erkenntniswissenschaftlich auf die Darstellungen der grundlegenden Schriften. Diese bilden zusammen mit den übrigen Schriften und den Aufsatzbänden das geschriebene Werk von überschaubarem Umfang, rund 4 0 Bände. Daneben ist die Fülle der nachgeschriebenen Vorträge außerordentlich, in der Gesamtausgabe mehr als 2 5 0 Bände. Diese Vorträge waren alle frei gehalten und nicht zum Druck bestimmt. Ihre Herausgabe erfolgt nach von Rudolf Steiner nicht durchgesehenen Nachschriften. Sie enthalten jedoch den Ausbau und die Entfaltung der in den Schriften entwickelten Grundkonzeptionen nach den verschiedensten Richtungen und Lebensbereichen. Sie stellen in ihrer thematischen Mannigfaltigkeit auch heute noch eine nicht bewältigte Aufgabe dar. So ist das M o t i v dieser Taschenbuchreihe: unter den in unserer Zeit aktuellen Gesichtspunkten den Zugang z u verschiedenen i m Vortragswerk verstreuten und nicht zusammenhängend ausgearbeiteten Themenkomplexen z u eröffnen und damit zugleich den Ansatz der anthroposophischen Erkenntnismethode an bestimmten Problemkreisen z u verdeutlichen; die jeweilige Z u sammenstellung von Vorträgen beansprucht dabei inhaltlich keine Vollständigkeit.
R U D O L F STEINER
Spirituelle Psychologie Grundbegriffe einer anthroposophischen Seelenkunde Vorträge, ausgewählt und herausgegeben von Markus Treichler
V E R L A G FREIES G E I S T E S L E B E N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Steiner,
Rudolf:
Themen aus dem Gesamtwerk / Rudolf Steiner. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben N E : Steiner, Rudolf: [Sammlung] B d . i i . Spirituelle Psychologie: Grundbegriffe e. anthroposoph. Seelenkunde; Vorträge / ausgew. u. hrsg. von Markus Treichler. - 1 9 8 4 ISBN 3-7725-0081-1 N E : Treichler, Markus [Hrsg.]
Einbandgestaltung: Martin Diethelm Alle Rechte an den Texten von Rudolf Steiner, insbesondere das Recht der Ubersetzung, bei der Rudolf-SteinerNachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz © 1 9 8 4 Verlag Freies Geistesleben G m b H , Stuttgart Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Inhalt
V o r w o r t (des Herausgebers)
6
A n t h r o p o s o p h i e u n d Psychologie (2. 6. 1922) Theosophische Seelenlehre (16. 3. 1904) Geist, Seele u n d L e i b des Menschen
(28.2.
9 33
1918)
53
D i e vorgeburtliche u n d nachtodliche W u r z e l des Seelischen i n B i l d u n d K e i m (22. 8. 1919)
83
D i e Dreigliederung der Seele (30.10.1921)
99
D i e leibliche, seelische u n d geistige Seite des Seelenlebens (1. 11. 1910)
119
Seelenkräfte zwischen Vorstellen u n d Begehren (3. 11. 1910)
141
V o m Wesen des Bewußtseins. Das Entstehen des Urteils und der Ich-Vorstellung (4. 11. 1910) D e r menschliche Charakter
(14.3.
1910)
i6j 203
D e n k e n - Fühlen - W o l l e n (1 j . 7. 1921)
233
G r u n d l i n i e n einer okkulten Psychologie (30. 9. 1921)
253
A n m e r k u n g e n (des Herausgebers)
271
Nachwort
279
Quellennachweis
310
Vorwort
Spirituelle Psychologie durchzieht das gesamte geisteswissenschaftliche Werk Rudolf Steiners. Es gibt keinen speziell psychologischen Kurs, wie es pädagogische, landwirtschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und andere Fachkurse von Rudolf Steiner gibt. Eine spirituelle Psychologie aus anthroposophischer Welt- und Menschenerkenntnis soll nicht eine neue psychologische Theorie sein. D i e anthroposophisch-spirituelle psychologische Anschauung soll fruchtbar werden im Umgang mit Menschen. «Die Psychologie muß aus der Bewußtseinsseele heraus neu begründet werden. Die Psychologie sollte aber keine neue Theorie, sondern eine spirituelle Betätigung werden, mit der man dem Niedergang entgegenarbeitet, denn die Menschen verlieren das Seelische. Dies wäre Ihre anthroposophische Aufgabe.»' Die psychologische Wissenschaft, wie sie heute betrieben wird, ist in den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts entstanden, zu der Zeit, als Rudolf Steiner neben der Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften seine eigenen philosophischen Werke verfaßte. E r beobachtete und kommentierte aufmerksam die Entstehung und Entwicklung der neuen Wissenschaft vom Seelenleben, die vor ihrer Geburt schon den Geist und unter der Geburt ihre Seele verloren hatte. Heute, so könnte man als k r i tischer und skeptischer Beobachter hinzufügen, habe diese Wissenschaft i m Alter von gerade 1 0 0 Jahren - für eine Wissenschaft noch kein Alter - vorzeitig den Verstand und zuletzt auch noch das Bewußtsein verloren. So wenigstens die Richtungen der orthodoxen Verhaltenspsychologie und der Lerntheorien, die ihre als H u m a n psychologie verbreiteten Erkenntnisse fast ausschließlich i n Experimenten mit Ratten gewonnen haben. Freilich gibt es auch andere psychologische Theorien, für die die «Psychologie des Menschlichen» nicht nur Lippenbekenntnisse sind. Die in diesem Band zusammengefaßten Vorträge Rudolf Steiners stellen nun weder eine vollständige noch eine systematische A b handlung einer anthroposophischen Psychologie dar. Sie wollen dem an Psychologie interessierten Leser das Kennenlernen einiger wesentlicher Gesichtspunkte einer spirituellen Psychologie aus dem 2
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Werk Rudolf Steiners erleichtern. Daß es dabei auf die «spirituelle Betätigung» ankommt, sollte nicht vergessen werden. Die Reihenfolge der Vorträge, die der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe entnommen sind, ist nicht chronologisch, sondern folgt einem inhaltlichen Aufbau, der im einzelnen in den den Vorträgen vorangestellten Bemerkungen unter Berücksichtigung der ursprünglichen Umstände der Vorträge angesprochen wird. Verzichtet wurde in der vorliegenden Auswahl auf die Wiedergabe von Darstellungen Rudolf Steiners zum Komplex des Unterbewußtseins ', weil es hier darauf ankam, die Grundlagen und Methoden einer anthroposophisch-spirituellen Psychologie aufzuzeigen. Ihre Stellung zur gegenwärtigen Psychologie, in der dieser Komplex eine bedeutende Rolle spielt, wird unter dem Gesichtspunkt der Selbsterkenntnis i m Nachwort z u beschreiben versucht.
Anmerkungen
1 R. Steiner am 6. Juli 1 9 2 4 , siehe Kurt Vieri: «Selbsterziehung in der Heilpädagogik» 1 9 7 9 . Dazu auch Kurt Vieri: «Psychologie - eine spirituelle Betätigung?»; i n : Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Heft 4 , Weihnachten 1 9 8 3 . 2 Vgl. A n m . 11 zu den Vorträgen, S. 2 7 1 f. 3 K. Holzkamp: «Verborgene anthropologische Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie»; in: Neue Anthropologie Bd. 5: Psychologische Anthropologie 1 9 7 3 . 4 C . F . Graumann: «Bericht zur Lage der Psychologie 1 9 7 0 » ; in: «Psychologie in Deutschland, ein Bericht zur Lage von Forschung und Lehre» 1 9 8 3 . 5 In unserer Auswahl ist das «Unterbewußte» angesprochen in dem Vortrag vom 4. n . 1 9 1 0 . Vgl. dazu im weiteren die beiden Vorträge von Rudolf Steiner «Uber die Psychoanalyse» vom 1 0 . und 1 1 . 1 1 . 1 9 1 7 in G A
178.
D e r nachfolgende erste Vortrag der vorliegenden Zusammenstellung wurde als öffentlicher Vortrag am 2. Juni 1 9 2 2 auf dem von ca. zweitausend Menschen aus ganz Europa besuchten Wiener WestOst-Kongreß gehalten. Es ist der zweite von fünf Vorträgen, die unter dem Oberthema «Anthroposophie und Wissenschaften» gehalten wurden. D e r erste Abendvortrag des Kongresses war dem Verhältnis Anthroposophie und Naturwissenschaft gewidmet. Der zweite, hier abgedruckte Vortrag behandelt den Zusammenhang von Anthroposophie und Psychologie. Rudolf Steiner führt darin in einem großen Bogen den Weg von dem fragenden und staunenden Erleben des Menschen seiner eigenen Seele gegenüber zu den methodischen Schritten einer anthroposophisch-geisteswissenschaftlich fundierten Psychologie. Bestimmte Seelenübungen werden charakterisiert, um sich den höchsten Fragen der Psychologie zu nähern und die Seele z u einem Geistorgan zu bilden. Durch seinen umfassenden Charakter und die enthaltenen methodischen Hinweise ist dieser öffentliche Vortrag eine geeignete Einführung i n das Gebiet einer spirituellen Psychologie. 8
Anthroposophie und Psychologie
M e i n e sehr verehrten Anwesenden! W e n n die Daseinsrätsel des Lebens die menschliche Seele selbst betreffen, so werden sie nicht n u r z u großen Lebensfragen, sondern sie werden i n einem intimen Sinn z u m Leben selbst. Sie werden Glück oder L e i d des Daseins des Menschen. U n d zwar nicht bloß vorübergehendes G l ü c k oder L e i d , sondern Glück oder L e i d , das der M e n s c h durch eine gewisse D a u e r durch das Leben tragen muß, so daß er durch dieses Glücks- oder Leideserlebnis tüchtig oder untüchtig für das Leben w i r d . N u n steht der M e n s c h seiner eigenen Seele so gegenüber, daß i h m die wichtigsten Daseinsfragen i n bezug auf diese Seele und ihre geistige Wesenheit eigentlich nicht aus dem G r u n d e aufgehen, w e i l er irgendwie zweifeln könnte an dem Geistig-Seelischen seines eigenen Wesens. Gerade w e i l er i n einer gewissen Beziehung dieser seiner eigenen geistigen u n d seelischen Wesenheit gewiß ist, w e i l er i n dieser geistigen u n d seelischen Wesenheit seine eigentliche Bedeutung als M e n s c h u n d seine Würde als M e n s c h sehen m u ß , w i r d i h m die Frage nach dem Weltenschicksal seiner Seele z u m großen, gewaltigen Daseinsrätsel. Das G e i stige i n dem Menschen selbst z u leugnen, fällt ja selbstverständlich auch dem strammsten Materialisten nicht ein. E r w i r d das Geistige als solches anerkennen, es gewissermaßen nur ansehen als Ergebnis der physischen, materiellen Vorgänge. D e r jenige aber, der ohne solche Theorie, einfach aus den tiefsten Empfindungsbedürfnissen seiner Seele, nach dem Schicksal dieses seelischen Selbstes fragt, der w i r d sich i m Leben gegenübergestellt finden einer U n s u m m e v o n Erscheinungen, v o n Erfahrungen, die i h m gerade deshalb z u Rätselfragen werden, w e i l er sich des seelisch-geistigen Lebens v o l l bewußt ist, u n d weil er gerade deshalb fragen m u ß : Ist dieses geistig-seelische Leben ein vorübergehender H a u c h , aufsteigend aus dem physischen D a -
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sein u n d m i t i h m wiederum i n die allgemeine Naturtatsachenwelt zurückkehrend, oder hängt dieses Geistig-Seelische mit einer geistig-seelischen Welt selbst zusammen, innerhalb welcher es eine ewige Bedeutung hat? Ich möchte v o n den vielen Erlebnissen des Seelischen, die an den Menschen herantreten und die i h m die Rätselfragen der Seele vor das geistige A u g e führen, n u r z w e i herausgreifen. M a n kann sagen: Wenigen Menschen werden sich vielleicht diese Erlebnisse so aufdrängen, daß sie sie z u bewußten oder gar z u theoretischen Seelenfragen machen. Das ist aber auch gar nicht das Wichtige. Das Wichtige ist, daß solche Erlebnisse gerade die unterbewußten oder unbewußten Seelenregionen ergreifen, i n diesen sich festlegen u n d i n das Bewußtsein n u r heraufströmen als allgemeine Seelenstimmung oder auch Seelenverstimmung, als dasjenige, was uns m u t i g u n d kraftvoll i m Leben macht, oder als dasjenige, was uns niedergeschlagen macht, so daß w i r an keiner Stelle i n der Lage sind, uns selbst richtig i n das Leben hineinzufinden oder auch dieses Leben i n der für uns geeigneten Weise z u erfassen. W i e gesagt, nur zwei v o n diesen E r lebnissen möchte i c h herausheben. Das eine tritt dem Menschen jeden A b e n d , wenn er einschläft, v o r das Seelenauge, w e n n das, was während des wachen Tageslebens auf u n d ab wallt u n d webt i m seelischen Erleben, wie ausgelöscht hinuntersinkt i n die Unbewußtheit. D a n n , w e n n der M e n s c h hinschaut auf dieses Erlebnis oder, wie es bei den meisten M e n s c h e n der Fall ist, w e n n er die unbewußten E m p f i n d u n gen dieses Erlebnisses i n seiner Seele w i r k s a m hat, dann überk o m m t i h n etwas wie die O h n m a c h t dieses Seelenlebens gegenüber dem äußeren Weltengang. U n d gerade weil der M e n s c h i m Seelenleben sein Wertvollstes, sein Würdigstes sieht, w e i l er nicht ableugnen kann, daß er i m wahren Sinn des Wortes eben ein geistig-seelisches Wesen ist, so bestürmt ihn v o n innen heraus dasjenige, was er also als O h n m a c h t des seelischen Lebens empfindet, u n d er muß sich fragen: Übernimmt, wenn der M e n s c h durch die Pforte des Todes schreitet, das allgemeine Naturgeschehen ebenso die seelischen Erlebnisse, wie dieses allgemeine Naturgeschehen sie jedesmal beim Einschlafen übernimmt? 10
Ich möchte sagen, das eine Erlebnis ist die O h n m a c h t des Seelenlebens. Das andere Erlebnis ist dem ersten i n einer gewissen Weise polarisch entgegengesetzt. W i r erfühlen es mehr oder weniger bestimmt oder unbestimmt, bewußt oder unbewußt, w e n n w i r i m Aufwachen, vielleicht nach dem Ubergang durch eine phantastisch chaotische, mit der W i r k l i c h k e i t nicht übereinstimmende Traumwelt, mit dem, was w i r als unser Geistig-Seelisches erfühlen u n d erleben, untertauchen i n unsere Leiblichkeit. W i r empfinden dann, wie dieses Geistig-Seelische unsere Sinne ergreift, wie w i r d u r c h die Wechselbeziehungen zwischen der A u ßenwelt u n d unseren Sinnen, die ja physisch-physiologischer N a t u r sind, unser seelisches Erleben durchsetzt haben. W i r empfinden, wie dieses Geistig-Seelische weiter hinuntersteigt i n unsere Leiblichkeit, wie w i r unsere Willensorgane mit diesem Geistig-Seelischen ergreifen u n d dann z u m wachen, besonnenen Menschen werden, der sich seines Leibes, seines Organismus bedienen kann. A b e r w e n n w i r uns n u n besinnen, so müssen w i r uns sagen: T r o t z aller A n a t o m i e u n d Physiologie, die ja v o n außen i n großartiger Weise die Leibesfunktionen z u durchschauen, z u analysieren bestrebt sind: v o n innen angeschaut, wissen w i r Menschen durch das gewöhnliche Bewußtsein zunächst nichts v o n dem, was da als ein Wechselverhältnis besteht zwischen unserem Geistig-Seelischen u n d unseren leiblichen Verrichtungen. W e n n w i r die einfachste Leibesverrichtung, die aus dem W i l l e n hervorgeht, ins A u g e fassen, das Erheben des A r m e s , das Bewegen der H a n d , müssen w i r uns sagen: Zunächst sitzt i n uns die Vorstellung, der Gedanke dieses Armhebens, dieser H a n d b e w e gung. W i e aber dieser Gedanke, diese Vorstellung hinunterströmt i n unseren Organismus, wie er eingreift i n unser Muskelsystem, wie zuletzt das zustande k o m m t , was w i r doch wiederum nur durch Anschauung selber kennen: was da i m Innern eigentlich vorgeht, bleibt dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen, ebenso wie verborgen bleibt i n jenem wunderbaren Mechanismus, den uns die P h y s i k u n d Physiologie zeigen, i m menschlichen A u g e oder i n einem anderen Sinnesorgan das Geistig-Seelische, das i n diesen wunderbaren Mechanismus eingreift.
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So, müssen w i r sagen, ist es die O h n m a c h t des Seelenlebens auf der einen Seite, die uns Rätsel aufdrängt, so ist es die Finsternis, i n die w i r untertauchen m i t unserem Geistig-Seelischen, w e n n w i r i n den eigenen L e i b dieses Geistig-Seelische einströmen fühlen, was uns die Rätselfragen weiter aufwirft. W i r müssen uns sagen - gewiß, die meisten Menschen tun das wieder nicht bewußt, aber sie empfinden es als die Stimmung ihrer Seele-: Dieses Geistig-Seelische i n seinem Wechselverhältnis mit dem Organismus ist uns als Schöpferisches unbekannt, es ist uns da unbekannt, w o es gerade i m physischen Erdenleben seine eigentliche B e s t i m m u n g nach außen i m Dasein offenbart. Was auf diese A r t jeder naive M e n s c h erlebt, erstreckt sich i n einer etwas veränderten F o r m hinein i n die Seelenwissenschaft. Es müßte allerdings lange gesprochen werden, wenn die A r t u n d Weise, wie sich diese Rätselfragen i n die Wissenschaft hineinschleichen, wissenschaftsgemäß erörtert werden sollten; aber es kann wenigstens, m i t einer gewissen Äußerlichkeit vielleicht, i n der folgenden Weise gesagt werden. A u f der einen Seite sieht die Wissenschaft nach dem Seelischen h i n u n d fragt sich: W i e steht dieses Seelische mit dem Körperlichen, mit dem Äußerlich-Leiblichen i m Wechselverhältnis? I n dem sie nach der anderen Seite, nach dem Körperlichen h i n schauen u n d nach all dem, was die äußere Naturwissenschaft über dieses Körperliche z u sagen hat, sind dann die einen - u n d die Seelenkunde hat i n dieser Beziehung eine lange Geschichte der M e i n u n g , man müsse das Seelische vorstellen als die eigentlich wirksame Ursache des L e i b l i c h e n ; die andern sind der M e i nung, man müsse das Leibliche ansehen als das, was das eigentlich Kraftende dabei ist, u n d das Seelische n u r als eine A r t W i r kung des Leiblichen. Das Unbefriedigende dieser beiden A n schauungen haben neuere Seelenforscher oder -denker durchschaut, u n d sie haben daher die sonderbare Anschauung v o n dem psychophysischen Parallelismus aufgestellt, nach welcher man nicht sagen kann, das Leibliche w i r k e auf das Seelische oder das Seelische auf das Leibliche, sondern n u r : leibliche Vorgänge seien dem seelischen Geschehen parallel u n d seelische Vorgänge dem leiblichen; man könne i m m e r n u r sagen, welche seelischen 1
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Vorgänge die leiblichen begleiten oder welche leiblichen die seelischen. A b e r diese Seelenkunde empfindet ja selbst auf der einen Seite etwas wie die O h n m a c h t des Seelenlebens. W e n n man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein dieses Seelenleben, auch wie es dem Seelenforscher, dem Psychologen, vorliegt, z u durchschauen unternimmt, so hat es etwas innerlich Passives, es hat etwas, dem man nicht anschauen kann, daß es kraftend eingreift i n das L e i besleben. W e r die seelischen Wesenhaftigkeiten v o n D e n k e n u n d Fühlen - beim W o l l e n ist es so, daß es nicht durchschaut werden k a n n ; daher gilt i n einer gewissen Beziehung für die Seelenforschung gegenüber dem W o l l e n dasselbe wie gegenüber dem D e n k e n u n d Fühlen - , wer dieses D e n k e n u n d Fühlen mit den M i t t e l n der Seelenkunde anschaut, dem k o m m t es kraftlos vor, so daß er nirgends etwas finden kann, was w i r k s a m w i r k l i c h eingreifen könnte i n das Leibliche. D a empfindet dann der Seelenforscher, was man nennen könnte die O h n m a c h t des Seelenlebens für das gewöhnliche Bewußtsein. Allerdings ist ja i n der verschiedensten Weise versucht w o r d e n , dieses Gefühl der O h n macht des Seelenlebens z u überwinden. A b e r der Streit der P h i losophen, die Wandlungen der einzelnen philosophischen Weltanschauungen, die i m Laufe der Zeit aufgetaucht sind, liefern dem unbefangenen Menschenbetrachter einen Tatsachenbeweis, w i e unmöglich es dem gewöhnlichen Bewußtsein ist, diesem seelischen Erleben b e i z u k o m m e n , weil sich überall das Gefühl v o n der O h n m a c h t jenes Seelischen aufdrängt, das eben dieses gewöhnliche Bewußtsein beobachten kann. Gerade i n bezug auf eine solche Beobachtung des Seelenlebens v o r dem gewöhnlichen Bewußtsein ist hier i n W i e n eine Reihe klassischer Literaturwerke aufgetreten, die wie Marksteine dastehen innerhalb der philosophischen Entwickelung. Ich meine, trotzdem i c h nicht i m entferntesten m i c h selber irgendwie z u dem Inhalt dieser Bücher bekennen kann, daß diese Bücher gerade v o m Standpunkt des gewöhnlichen Bewußtseins aus außerordentlich bedeutsam sind. Ich meine Richard Wahles «Das G a n z e der Philosophie u n d ihr Ende», i n dem dargestellt werden soll, wie dieses gewöhnliche Bewußtsein eigentlich z u keinen er13
heblichen Resultaten gegenüber dem Seelenleben k o m m e n könne, wie dann abgegeben werden müsse, was philosophische F o r s c h u n g i n dieser R i c h t u n g z u erstreben versucht, an T h e o l o gie, Physiologie, Ästhetik, Sozialpädagogik. U n d i n einer n o c h schärferen Weise hat dann R i c h a r d Wahle die Gedanken dieses Buches i n seinem «Mechanismus des geistigen Lebens» ausgeführt. W i r können sagen: D a w i r d w i r k l i c h einmal gezeigt, daß das gewöhnliche Bewußtsein i m G r u n d e genommen ohnmächtig ist, irgendwie etwas auszusagen gegenüber den Fragen des seelischen Lebens. Das Ich, die seelische Einheit, alles das, was eine ältere Psychologie an die Oberfläche gebracht hat, sie zerfallen v o r der K r i t i k , die dieses gewöhnliche Bewußtsein gegenüber sich selbst ausübt. A u f der anderen Seite ist i n der neueren Zeit i n begreiflicher, ja man muß sagen, i n notwendiger Weise versucht w o r d e n , mit der Seelenkunde nicht direkt auf das Seelische loszugehen, demgegenüber das gewöhnliche Bewußtsein eben ohnmächtig ist, sondern auf dem U m w e g e durch die Leibeserscheinungen, die aus dem sogenannten Seelischen hervorquellen, irgend etwas z u erkunden über dasjenige, was man gewöhnlich seelische Erscheinungen nennt. So ist experimentelle Psychologie entstanden. Diese ist durchaus ein notwendiges P r o d u k t unserer gegenwärtigen Weltanschauung u n d unserer gegenwärtigen Forschungsmethode. U n d w e r auf dem B o d e n steht, v o n dem aus ich hier heute z u Ihnen spreche, der w i r d die volle Berechtigung dieser experimentellen Seelenkunde niemals leugnen. E r w i r d vielleicht i m einzelnen s o w o h l mit den Forschungswegen wie auch mit den Forschungsergebnissen nicht ganz einverstanden sein; aber die Berechtigung dieser experimentellen Psychologie oder Seelenkunde darf nicht geleugnet werden. D a erhebt sich dann gerade das andere Seelenrätsel. W e n n w i r n o c h soviel erfahren über das, was durch experimentelle Seelenkunde m i t dem menschlichen Leibe erlebt werden kann, so müssen w i r d o c h sagen: Alles was i n dieser Weise auf dem U m w e g e durch den L e i b erkundet w i r d , oder auch was erkundet w i r d scheinbar über reine Seelenfunktionen, ist doch nur, wenn man sich nicht täuschen w i l l , auf dem U m w e g durch den L e i b er14
kannt. A l l e s das gehört d o c h einer Sphäre an, die mit dem T o d des M e n s c h e n übergeben w i r d dem allgemeinen Naturgeschehen, so daß dadurch nichts erfahren werden kann über das G e i stig-Seelische, dessen Weltschicksal dem Menschen eine so große, gewaltige Angelegenheit ist. U n d so können w i r sagen, i n einer gewissen Weise ist auch für diese Seelenkunde das große Seelenrätsel neu aufgetaucht. W i e d e r ist es ein neuerer Seelenforscher, der lange hier i n W i e n gelebt u n d gewirkt hat, der allen denen unvergeßlich sein w i r d , die jemals v o r i h m auf den Schulbänken hier i n W i e n gesessen haben, wie i c h selber, der i c h z u Ihnen spreche. E s ist ein moderner Seelenforscher, der i n dem ersten Bande seines unvollendet gebliebenen Werkes über Psychologie es ausgesprochen hat: Was könnte uns alle Seelenkunde bringen, w e n n sie uns aufklärte - sei es n u n , das füge i c h ein, auf experimentellem oder nichtexperimentellem Wege - über die A r t u n d Weise, wie sich die Vorstellungen verbinden oder lösen, wie die Aufmerksamkeit w i r k t , wie das Gedächtnis etwa zustande k o m m t i m Leben zwischen G e b u r t u n d T o d u n d so weiter, wenn w i r gerade wegen der W i s senschaftlichkeit dieser Seelenkunde, die der Naturwissenschaft nacheifern w i l l , verzichten müßten, z u erkennen, welches das Schicksal der menschlichen Seele ist, wenn der menschliche L e i b in seine Elemente zerfällt? Das, meine sehr verehrten Anwesenden, hat nicht irgendein Phantast ausgesprochen, sondern der strenge D e n k e r F r a n z B r e n t a n o , der die Seelenkunde i m wesentlichen z u r Aufgabe seines Lebens gemacht hat u n d der i n der Seelenkunde so arbeiten wollte, wie es der strengen naturwissenschaftlichen M e t h o d e der neueren Zeit gemäß ist. D e n n o c h hat gerade er das Seelenrätsel i n der Weise, wie ich es eben angedeutet habe, als ein wissenschaftlich Notwendiges vor seine M i t w e l t hingestellt. 2
A u s alledem m u ß doch der unbefangene M e n s c h heute eine Konsequenz ziehen. Es ist diese, daß w i r m i t den naturwissenschaftlichen M e t h o d e n bis z u dem P u n k t , bis z u dem sie heute ausgebildet sind, i n der Erforschung des Menschen k o m m e n können, daß w i r aber, w e n n w i r mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, das für die Naturwissenschaft vollberechtigt ist, wie es auch
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vollberechtigt ist für das gewöhnliche Leben, an das Seelische herangehen, gegenüber dem Seelischen nicht zurechtkommen. U n d aus diesem G r u n d e , w e i l diese Einsicht gerade aus wissenschaftlichen Untergründen sich heute dem unbefangenen M e n schen ergeben muß, spreche ich z u Ihnen v o m Gesichtspunkt einer Weltanschauung, die sich n u n sagt: Es kann eben nicht mit den Seelenkräften, die sich für das gewöhnliche Bewußtsein offenbaren, die da i m gewöhnlichen Leben u n d i n der gewöhnlichen Wissenschaft arbeiten, das seelische Leben erforscht werden. D a müssen i n dieser Seele andere Seelenkräfte entwickelt werden, die für das gewöhnliche Bewußtsein i n der Seele nur mehr oder weniger schlummern oder, wenn ich m i c h eines wissenschaftlichen A u s d r u c k s bedienen w i l l , latent sind. Wenn man die richtige Stellung z u einer solchen Lebensauffassung gewinnen w i l l , dann braucht es allerdings etwas, was heute i m Menschen nur i n einem geringen Maße - lassen Sie m i c h das schon aussprechen - eigentlich vorhanden ist. Es braucht das, was i c h nennen möchte intellektuelle Bescheidenheit. Es muß ein M o m e n t i m Leben k o m m e n , w o man sich sagt: Ich war ein kleines K i n d , i c h habe dazumal seelisches Leben entwickelt, das so hindämmernd traumhaft war, daß es auch so vergessen ist wie ein Traum. Erst allmählich tauchte aus diesem traumhaften k i n d l i chen Seelenleben nach u n d nach dasjenige auf, was m i c h dazu bringt, daß ich mich i m Leben orientieren kann, daß i c h meine Gedanken, meine Gefühlsimpulse, meine Willensentschlüsse einfügen kann dem G a n g der Welt, daß ich ein arbeitsfähiger M e n s c h geworden b i n . A u s dem Unbestimmten und Undifferenzierten des mit dem Leibe verwobenen kindlichen Seelenlebens ist aufgetaucht dasjenige Erleben, das w i r durch unsere vererbten Eigenschaften haben, die sich dann mit dem H e r a n w a c h sen des Leibes ausbilden, das w i r auch durch unsere gebräuchliche E r z i e h u n g haben. Wer so zurückschaut, i n intellektueller Bescheidenheit, wie er i n diesem Erdenleben geworden ist, w i r d es auch nicht verschmähen, sich i n einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens z u sagen: W a r u m sollte denn das nicht weitergehen? Diejenigen seelischen Kräfte, die m i r heute die wichtigsten sind, durch die ich 16
m i c h i m Leben orientiere, durch die ich ein arbeitsfähiger M e n s c h werde, sind schlummernde gewesen während meines kindlichen Daseins. W a r u m sollten i n meiner Seele nicht auch Kräfte schlummern, die i c h weiter aus ihr hervorentwickeln kann? M a n muß z u diesem aus der intellektuellen Bescheidenheit hervorgehenden Entschluß k o m m e n . Intellektuelle Bescheidenheit nenne i c h das aus dem G r u n d e , weil der M e n s c h geneigt ist z u sagen: D i e F o r m des Bewußtseins, die i c h einmal als erwachsener M e n s c h habe, ist die des normalen Menschen; was anders sein w i l l i m inneren Seelenleben als dieses sogenannte normale Bewußtsein, das ist entweder Phantasterei oder Halluzination oder V i s i o n oder dergleichen. D i e Weltanschauung, v o n der ich hier spreche, geht durchaus v o m gesunden Seelenleben aus u n d versucht v o m gesunden Seelenleben aus i n der Seele schlummernde Kräfte, auch Erkenntniskräfte, z u entwickeln, die dann Seherkräfte werden i n dem Sinn, wie ich gestern v o n exakten Seherkräften gesprochen habe. Das, was die Seele da mit sich vorzunehmen hat, habe i c h gestern i n einem gewissen Sinne angedeutet. Ich habe auch auf mein B u c h «Wie erlangt man E r kenntnisse der höheren Welten?» hingewiesen, auf meine «Geheimwissenschaft», auf «Von Seelenrätseln» u n d so weiter. D o r t findet man die Einzelheiten jener Seelenübungen, die, ausgehend v o m gesunden Seelenleben, hinaufführen z u einer Entwickelung der Seele, so daß diese tatsächlich z u einer A r t geistigen Schauens k o m m t , d u r c h das sie hineinblicken k a n n i n eine geistig-seelische Welt, wie sie durch die gewöhnlichen Sinnesorgane wahrnehmen kann die physisch-sinnliche Welt. Sie werden i n den genannten Büchern überall einen ersten Teil finden; dieser erste Teil, der w i r d selbst v o n manchen Gegnern der Weltanschauung, die ich hier vertrete, als etwas anerkannt, was dem Menschen durchaus nütze sein könnte. E r handelt davon, daß sich der M e n s c h durch gewisse Übungen intellektueller, gefühlsmäßiger, moralischer A r t i n eine Seelenverfassung und i n eine Leibesverfassung bringt, die durchaus als gesund gelten können, die durchaus dahin streben, daß der M e n s c h auch i n die Lage k o m m e , wachsam innerlich sein z u können gegenüber all dem, was, aus krankhaftem 3
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Seelenleben herauskommend, z u m M e d i u m i s m u s , z u H a l l u z i nationen u n d V i s i o n e n führt. D e n n alles das, was auf diesem Wege zustande k o m m t , muß abgewiesen werden für eine w i r k l i che Seelenkunde. Gerade z u V i s i o n e n k o m m t der M e n s c h nicht aus dem Seelischen heraus, sondern dadurch, daß krankhafte Bildungen innerhalb seines Organismus sich finden; ebenso z u m M e d i u m i s m u s . Das alles hat mit einer gesunden Seelenkunde u n d Seelenentwickelung nichts z u tun, muß selbst seiner Bedeutung nach v o m Gesichtspunkt dieser gesunden Seelenkunde beurteilt werden. Gegner finden heute aber die Übungen, die dann als Fortsetzung dieser vorbereitenden auftreten, die n u n aus der Seele hervorholen sollen diejenigen Kräfte des Denkens, Fühlens u n d Wollens, die, wenn sie ausgebildet sind, den Menschen i n eine geistige Welt so einführen, daß er sich i n ihr orientieren lernt, daß er auch m i t seinem W i l l e n i n sie einzutreten i n die Lage k o m m t , phantastisch u n d schädlich. Andeutungsweise habe i c h gestern schon davon gesprochen, wie w i r zunächst als moderne Menschen durch gewisse D e n k übungen dazu k o m m e n , das D e n k e n aus dem gewöhnlichen Zustand herauszubringen, i n dem es sich passiv hingibt an die Erscheinungen der Außenwelt u n d an das, was innerlich als Erinnerungen auftaucht, was sich ja auch an die Außenwelt anknüpft. W i r k o m m e n dadurch über dieses D e n k e n hinaus, daß w i r Meditationsübungen i n ernster, geduldiger u n d energischer Weise machen, daß w i r sie immer wieder u n d wiederum machen. Je nach den A n l a g e n dauert es bei dem einen jahrelang, bei dem andern weniger lang; aber jeder kann merken, wenn er an dem entscheidenden P u n k t angelangt ist, wie sein D e n k e n dann aus dem, was i c h gestern das abstrakte, tote D e n k e n nannte, ein i n nerlich lebendiges D e n k e n w i r d , ein innerlich lebendiges D e n ken, das den Weltrhythmus mitzuerleben i n der Lage ist. D a strebt eine besonnene Welt- u n d Lebensauffassung nicht danach, Visionen oder H a l l u z i n a t i o n e n aus der Seele herauszuzaubern, sondern danach, das, was Vorstellungsleben, was Gedankenleben ist, i n einer solchen Intensität z u erleben, wie man sonst n u r erlebt, was den äußeren Sinnen gegeben w i r d . Sie brauchen ja n u r ehrlich z u vergleichen die Lebendigkeit, 18
mit der w i r leben i n den Farben, wenn w i r durch das A u g e diese Farben wahrnehmen, i n den Tönen, wenn w i r durch das O h r die Töne hören, mit der Blaßheit des Gedankenerlebens i m gewöhnlichen Bewußtsein. D u r c h jenes Energisieren des Gedankenlebens von dem ich gestern gesprochen habe, machen w i r allmählich das bloße Vorstellungsleben, das bloße Gedankenleben i n nerlich so intensiv, wie sonst nur das Sinnenleben ist. N i c h t also sucht der moderne M e n s c h , der Geistiges erkennen w i l l , wenn er ein besonnener M e n s c h ist, die auftauchenden Halluzinationen und V i s i o n e n ; er strebt gerade nach dem Ideal, möchte ich sagen, des Sinneslebens i n bezug auf dessen Intensität u n d dessen B i l d haftigkeit, i n v o l l besonnener Weise i m Gedankenleben, i m V o r stellungsleben selbst. U n d w e n n Sie sich solchen Meditationen als Geistesforscher hingeben, wie ich sie charakterisiert habe, so dürfen Sie nicht irgendwie abhängig sein v o m Unbewußten oder Unterbewußten, sondern das, was da vollzogen w i r d - Sie können die Übungen nachlesen, alle sind sie auf das gestimmt, was ich jetzt charakterisieren w i l l - , alles, was da i m intimen Seelenleben an Übungen vollführt w i r d , verläuft so bewußt, so besonnen, man darf sagen, so exakt, wie sonst nur die mathematischen oder geometrischen Verrichtungen verlaufen. D a h e r darf gesagt werden: M a n hat es hier nicht mit dem alten nebulosen Hellsehen, sondern mit einem Hellsehen z u tun, das durch vollbewußte, besonnene Seelenerlebnisse u n d Seelenübungen herbeigeführt ist. D i e Besonnenheit ist dabei auf jedem Schritt so, daß man das, was der M e n s c h erlebt u n d aus sich selber macht, eben mit dem vergleichen k a n n , was man sonst an einem geometrischen P r o b l e m erlebt. Sonst ist dieses Üben nicht tauglich. D a n n aber, wenn der moderne Mensch z u einem solchen V o r stellungsleben k o m m t , das nun energisiert ist, das nun auch u n abhängig w i r d v o m Atmungsleben, das aber auch leibfrei w i r d , das eine bloße geistig-seelische F u n k t i o n ist, demgegenüber man durch die unmittelbare Wahrnehmung weiß: man vollzieht nicht mit dem Körper dieses D e n k e n , sondern i m rein Geistig-Seelischen - , dann fühlt er erst dieses D e n k e n gegenüber dem abstrakten D e n k e n wie ein Lebendiges gegenüber dem Toten. G e 19
rade so wie w e n n w i r einen toten Organismus plötzlich z u m L e ben erwacht fänden, so erleben w i r , w e n n w i r den Ubergang gew a h r w e r d e n v o n dem gewöhnlichen abstrakten D e n k e n z u dem lebendigen D e n k e n . U n d dieses lebendige D e n k e n ist, trotzdem es geistig-seelischer Vorgang ist, nicht so linienhaft, nicht so flächenhaft n u r w i e das gewöhnliche abstrakte D e n k e n . Es ist i n nerlich gesättigt u n d bildhaft. U n d auf diese Bildhaftigkeit k o m m t es an. D a n n aber k o m m t des weiteren außerordentlich viel darauf an, daß w i r jene Besonnenheit, die w i r während des Ubens haben müssen, ausdehnen auf den A u g e n b l i c k , w o dieses belebte D e n ken, dieses bildsame D e n k e n i n uns auftritt. W e n n w i r i n diesem Augenblicke uns hingeben den B i l d e r n , z u denen w i r uns selber hingerungen haben, u n d glauben, i n ihnen schon Realitäten geistiger A r t z u finden, dann sind w i r nicht Geistesforscher, dann sind w i r eben Phantasten. Das dürfen w i r gewiß nicht werden; denn das könnte uns nicht eine auf festem G r u n d e erbaute Weltanschauung für den modernen Menschen geben. Erst dann, w e n n w i r uns sagen: W i r haben einen Inhalt des seelischen L e bens erlangt, aber dieser Inhalt ist ein Bildinhalt, dieser Inhalt sagt uns n u r etwas über Kräfte, die i n uns selber walten, über das, was w i r selber durch unsere eigene menschliche Wesenheit i m Innern vermögen; erst w e n n w i r uns i m vollen Sinn des Wortes sagen: Über keinerlei Außenwelt, auch nicht über das, was w i r sind i n der Außenwelt, vermag uns diese, ich nenne sie gewöhnl i c h imaginative Erkenntnis, eine A u s k u n f t z u geben; sondern allein, wenn w i r uns i n diesem B i l d w e r d e n , i n diesem B i l d w e b e n erfühlen, w e n n w i r uns drinnen lebend wissen als eine Kraftheit: erst dann stehen w i r auf dem rechten Standpunkt diesem E r l e b nis gegenüber, dann fühlen w i r uns i n unserem Selbst, dann fühlen w i r uns als geistig-seelisches Wesen außerhalb des Leibes fühlen uns aber eben nur i n unserem Selbst, mit einem innerlichen Bildcharakter unseres Wesens. U n d erst w e n n w i r dann den M u t haben, die Übungen bis z u r nächsten Stufe fortzusetzen, k o m m e n w i r z u einer w i r k l i c h e n geistigen Anschauung. Dieser nächste Schritt muß nicht n u r darin bestehen, daß w i r jetzt die Fähigkeit entwickeln, gewisse 20
Vorstellungen, die w i r leicht überschauen - so etwa, wie w i r geometrische Vorstellungen überschauen, denen gegenüber w i r wissen: es ist nicht etwas Unbewußtes i n ihnen w i r k s a m - , i n den M i t t e l p u n k t unseres Bewußtseins z u rücken, u m an ihnen unsere seelische Kraft z u verstärken, sondern darin, daß w i r i n die Lage k o m m e n , diese Vorstellungen mit Besonnenheit u n d W i l l k ü r aus unserem Bewußtsein fortzuschaffen. Das ist unter Umständen eine schwierige Aufgabe. I m gewöhnlichen Leben ist das Vergessen nicht etwas so Schwieriges, wie ja das gewöhnliche Bewußtsein weiß. A b e r w e n n man sich erst angestrengt hat auch ohne daß man sich i n irgendeine Selbstsuggestion hineintreibt; das k a n n ja bei Besonnenheit nicht stattfinden - , gewisse Vorstellungen i n den M i t t e l p u n k t seines Bewußtseins z u rücken, dann hat man eine stärkere Kraft, als sie sonst i m Seelenleben angewendet z u werden braucht, nötig, u m diese Vorstellungen wiederum aus dem Bewußtsein fortzuschaffen. M a n muß aber diese starke Kraft allmählich entwickeln, so daß man ebenso, w i e man zuerst alle Aufmerksamkeit, alle innere Seelenkraft, Seelenspannkraft zusammengenommen hat, u m z u ruhen auf einer solchen Vorstellung i m Meditationszustand, nun dazu k o m m e n muß, diese Vorstellungen, u n d überhaupt alle Vorstellungen, mit besonnener Willkür aus dem Bewußtsein fortzuschaffen. U n d es muß eintreten können aus unserem W i l l e n heraus, was man nennen könnte «leeres Bewußtsein». Was «leeres Bewußtsein» heißt, auch nur für einige Augenblicke, das w i r d der ermessen, der unbefangen darüber nachdenkt, wie es dem Menschen mit dem gewöhnlichen Bewußtsein ergeht, wenn dieses Bewußtsein entbehren muß der Sinneseindrücke, entbehren muß auch der Erinnerungsvorstellungen, w e n n durch irgendwelche V o r kommnisse dem Menschen die äußeren Eindrücke, auch die Erinnerungen genommen werden: er k o m m t z u m Einschlafen, das heißt, das Bewußtsein w i r d herabgedämpft u n d herabgedämmert. Das Gegenteil davon muß eintreten: vollständig besonnenes, bewußtes Wachsein, trotzdem alles durch inneren W i l l e n aus dem Bewußtsein herausgeschafft w o r d e n ist. 4
W e n n man so erst die Seele erkraftet u n d sie dann leer gemacht und bei Bewußtsein erhalten hat, dann tritt ebenso, wie vor das 21
A u g e die Farbe tritt, wie vor das O h r die Töne treten, v o r dieser Seele, die sich also dazu vorbereitet hat, eine geistige U m w e l t auf. W i r schauen i n die geistige Welt hinein. U n d so können w i r sagen: Gerade der hier gemeinten Geistesforschung ist es v o l l k o m m e n begreiflich, daß für das gewöhnliche Bewußtsein Geist u n d Seele nicht erreicht werden können, ja daß sich als ein R i c h tiges - wie z u m Beispiel für Richard W a h l e - herausstellen m u ß : das gewöhnliche Bewußtsein sollte gar nicht v o n einem Ich reden. D e n n alles, was da, i c h möchte sagen, wie D u n k e l h e i t gegenüber der H e l l i g k e i t hereintaucht u n d i m gewöhnlichen L e b e n eigentlich n u r mit W o r t e n bezeichnet w i r d , das taucht eben erst auf, w e n n solche Kräfte entwickelt werden, die gewöhnlich n o c h nicht da sind. Gerade die nüchterne Erkenntnis, was das gewöhnliche, an den L e i b gebundene Bewußtsein vermag, spornt uns an, solche Kräfte i n uns z u entwickeln, die n u n die Seele u n d den Geist erst w i r k l i c h entdecken können. s
D a b e i ist aber n o c h eins z u berücksichtigen, wenn man auf diesem Wege z u einer gesunden u n d nicht z u einer krankhaften Seelenkunde k o m m e n w i l l . N e h m e n Sie als krankhaft das M e diumistische, Visionäre, Halluzinatorische, so ist es so, daß der, der i n ein solches krankhaftes Seelenleben verfällt, mit seiner ganzen Wesenheit i n i h m aufgeht. E r w i r d eins - wenigstens für den Verlauf seiner seelischen E r k r a n k u n g - mit dem, was als krankhaftes Seelenleben auftritt. N i c h t so ist es, wenn solche Übungen vorgenommen werden, wie sie hier angegeben w u r den. Derjenige, der auf diese A r t ein Seelenforscher w i r d , der läßt zwar seinen physischen L e i b zurück mit den Fähigkeiten, die da sein müssen für das gewöhnliche D e n k e n , für gewöhnliche O r i e n t i e r u n g i m L e b e n ; er tritt heraus aus diesem Leibe, lernt leibfrei imaginativ schauen; ein schauendes D e n k e n entwickelt er: aber keinen M o m e n t geht er vollständig auf i n diesem - w e n n ich es so nennen darf, es ist nicht i m H o c h m u t so genannt - , i n diesem höheren Menschen, sondern er ist i m m e r i n der Lage, ebenso besonnen wiederum innerhalb seines Leibes z u w i r k e n wie sonst, so daß der gewöhnliche M e n s c h mit seinem gesunden Menschenverstand immer neben diesem höher entwickelten Menschen steht - der gewöhnliche M e n s c h mit seinem 22
gesunden Menschenverstand, der ein nüchterner K r i t i k e r alles dessen ist, w o z u i m Schauen dieser höhere M e n s c h k o m m t . Gegenüber der eigenen seelischen Wesenheit gelangen w i r z u nächst dadurch, daß w i r das bildhafte lebendige D e n k e n ausbilden u n d dann das leere Bewußtsein herstellen, z u einer A n s c h a u ung, die als eine Bildeinheit alles umfaßt, was w i r durchgemacht haben in dem Erdenleben seit unserer Geburt, seit w i r eingetreten sind i n dieses Erdenleben. N i c h t so wie es sonst i n der E r i n nerung ist, i n der einzelne Reminiszenzen auftauchen-selbständig oder durch Anstrengung —, nicht so steht dieses vergangene Erdenleben jetzt vor der Seele, sondern es w i r d auf einmal überschaut wie ein mächtiges Tableau, das aber nicht i m R a u m , sondern i n der Zeit v o r uns steht. W i r überblicken auf einmal, mit einem Seelenblick, dieses L e b e n ; aber so, wie es auch eingreift i n unsere Wachstumsverhältnisse, i n die Kraftwirksamkeiten unseres physischen Leibes. W i r schauen uns, wie w i r auf dieser Erde hier als denkende, fühlende, wollende Wesen waren, aber so, daß D e n k e n , Fühlen u n d W o l l e n sich jetzt verdichten u n d sich z u gleicher Zeit hineinorganisieren i n die menschliche Wesenheit. W i r durchschauen unser geistig-seelisches Leben, wie es i n unmittelbarer Verbindung steht mit dem Körperlichen. W i r geben es auf, durch philosophische Spekulation z u ergründen, wie die Seele auf den L e i b w i r k t . Wenn w i r die Seele schauen, dann schauen w i r auch, wie i n jedem Augenblick das, was uns so i n dem Tableau erscheint, i n unser physisches Erdenleben eingegriffen hat. D i e Einzelheiten werden in den nächsten Tagen z u schildern sein. D e r nächste Schritt muß n u n darin bestehen, daß wir, indem w i r die Kraftvorstellungen, die w i r selbst i n uns versetzt haben, wegschaffen aus unserem Bewußtsein, diese Kraftvorstellungen immer mehr u n d mehr verstärken. W i r verstärken sie, indem w i r diese Übungen i m m e r mehr u n d mehr fortsetzen, wie w i r die M u s k e l n verstärken, w e n n w i r sie immer u n d immer üben. U n d indem w i r diese Kraftvorstellungen fortsetzen, gelangen w i r dahin, dieses ganze Tableau des Seelenlebens, z u dem w i r uns selbst erst durchgerungen haben, dieses ganze Tableau des Seelenlebens zwischen unserer G e b u r t u n d dem M o m e n t , w o w i r stehen, nun
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auch aus dem Bewußtsein wegzuschaffen. Das erfordert allerdings eine größere Anstrengung, als bloß Bildvorstellungen wegzuschaffen; aber man gelangt zuletzt dazu. U n d w e n n es uns gelingt, dieses eigene Leben, das w i r i m Erdendasein unser I n nenleben nennen, aus dem Bewußtsein so fortzuschaffen, daß jetzt nicht n u r unser Bewußtsein gegenüber gegenwärtigen E i n drücken leer w i r d , sondern daß es leer w i r d v o n alledem, was w i r innerlich als i n einem zweiten Leibe, i n einem feineren Leibe, der aber i n unsere Wachstums- u n d Erinnerungsverhältnisse selbst eingreift, erleben, was w i r so wie i n einem feineren Menschen, gleichsam i n einem ätherischen M e n s c h e n , einem ersten übersinnlichen M e n s c h e n erleben - dann w i r d unser Bewußtsein, das n u n bei vollständigem Wachsein z w a r leer ist, aber eine stärkere innere Kraft sich errungen hat, weiter schauen können i n der geistigen Welt. U n d es kann jetzt auf das schauen, was das eigene Seelenwesen war, bevor es aus geistig-seelischen Welten heruntergestiegen ist z u einem physischen Erdendasein. Jetzt w i r d das, was w i r die E w i g k e i t der Menschenseele nennen, A n s c h a u ung, w i r d herausgehoben aus der Sphäre der bloß p h i l o sophischen Spekulation. Jetzt lernen w i r hinschauen auf ein rein Geistig-Seelisches, das w i r waren i n einer geistig-seelischen Welt, bevor w i r heruntergestiegen sind, u m durch K o n z e p t i o n , Keimleben u n d G e b u r t uns mit einem physischen Erdenleib z u umkleiden. So phantastisch das schon für manchen Menschen der Gegenwart ist - w e n n es auch auf einem so exakten Weg erworben ist wie nur die mathematischen Vorstellungen - , noch paradoxer mag erscheinen, was nun noch gesagt werden muß: nicht n u r über die Seele, als sie n o c h ein geistig-seelisches Dasein hatte, sondern über das K o n k r e t e dieses Erlebnisses. N u r andeutungsweise kann darüber gesprochen werden i n diesem Vortrage; w e i teres w i r d i n den nächsten Vorträgen gesagt werden. Was so angedeutet werden soll, kann vielleicht auf die folgende A r t verständlich gemacht werden. Fragen w i r uns zunächst: Was schauen w i r denn eigentlich, wenn w i r i m gewöhnlichen Erdenleben als erkennender, als verstehender, als wahrnehmender M e n s c h i n das Wechselverhältnis 24
treten mit unserer natürlichen U m g e b u n g ? W i r schauen eigentlich nur die Außenwelt. Schon aus dem, was i c h heute eingangs erwähnt habe, geht das hervor. W i r schauen eigentlich nur die Außenwelt, den K o s m o s . A b e r das, was sich i n unserem Innern abspielt, schauen w i r auch n u r dadurch, daß w i r es z u einem Äußerlichen machen i n Physiologie, A n a t o m i e . W e n n es auch großartig ist, w i r schauen das Innere doch nur, indem w i r es z u erst z u einem Äußerlichen machen u n d die Untersuchungen dann so machen, wie w i r sie an äußeren Vorgängen z u machen gewohnt sind. A b e r es ist Finsternis da unten i n dem Gebiet, i n das w i r eintauchen, i n das w i r unser Geistig-Seelisches hinunterströmen fühlen i n die Organe. W i r schauen i m gewöhnlichen Leben, zwischen G e b u r t u n d T o d , i m G r u n d e genommen nur das, was außer uns ist; d u r c h unmittelbares Anschauen können wir nicht ins Innere des M e n s c h e n hineinblicken u n d sehen, wie das Geistig-Seelische eingreift i n die Leibesorgane. D e r aber, der ein wenig i n unbefangener Weise v o n dem Standpunkt einer geistigen A n s c h a u u n g , wie i c h i h n entwickelt habe, auf das Leben forschend hinzuschauen vermag, w i r d z u dem Folgenden k o m men. E r w i r d sagen: Großartig u n d gewaltig ist schon der äußere A n b l i c k , sind die Gesetzmäßigkeiten, die w i r erkunden i n der äußeren Welt der Sterne, i n der äußeren Welt der Sonne, die uns zusendet L i c h t u n d Wärme; großartig und gewaltig ist das, was w i r erleben, w e n n w i r entweder nur anschauen u n d ganze M e n schen sind bei diesem Anschauen, oder w e n n w i r wissenschaftlich erkunden, was da an Gesetzmäßigkeiten vorliegt, wenn die Sonne uns L i c h t u n d Wärme zusendet u n d hervorzaubert das Grün der Pflanzen; großartig u n d gewaltig ist das. A b e r könnten w i r hineinschauen i n den B a u des menschlichen Herzens, so wäre die innere Gesetzmäßigkeit dieses Herzens eine großartigere u n d gewaltigere als das, was w i r äußerlich erblicken! Das kann der M e n s c h mit dem gewöhnlichen Bewußtsein ahnen. A b e r die Wissenschaft, die auf exaktem Hellsehen beruht, kann es auch z u einem w i r k l i c h e n Forschungsresultat erheben. Sie k a n n sagen: G r o ß u n d gewaltig erscheinen uns die Veränderungen i m Luftkreis; u n d es liegt ein Ideal vor der Wissenschaft, die auch hier in größere und gewaltigere Gesetzmäßigkeiten h i n -
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einschauen w i r d ; aber n o c h größer ist das, was i m B a u u n d i n den F u n k t i o n e n der menschlichen L u n g e vorhanden ist u n d v o r sich geht! N i c h t auf die G r ö ß e k o m m t es an. D e r M e n s c h ist eine kleine Welt gegenüber der großen. A l l e i n schon Schiller sagt: I m R a u m w o h n t , F r e u n d , das Erhabene nicht. - E r meint das höchste Erhabene. Dieses höchste Erhabene kann erst erlebt werden, w e n n man es i n der menschlichen Organisation selber erlebt. Z w i s c h e n G e b u r t u n d T o d w i r d es v o m Menschen mit seinem gewöhnlichen Bewußtsein nicht erkundet. A b e r i n dem Dasein, i n d e m w i r sind, bevor w i r uns mit dem Leibesdasein vereinigen, i n dem geistig-seelischen Dasein, i n einer geistig-seelischen U m gebung, da liegt gerade das Umgekehrte vor. W i e uns hier finster ist die innere Menschenwelt und hell u n d t o n v o l l die äußere Welt des K o s m o s , so ist uns i n dem rein geistig-seelischen Leben v o r unserer Erdenverkörperung d u n k e l die äußere kosmische Welt; dagegen ist unsere Welt dann das menschliche Innere. W i r schauen das menschliche Innere! U n d wahrhaftig, es erscheint uns da nicht kleiner u n d ungewaltiger, als uns der K o s m o s erscheint, w e n n w i r i h n durch unsere physischen A u g e n während unseres Erdendaseins erschauen. W i r finden uns hinein als i n u n sere «Außenwelt» i n dasjenige, was die Gesetzmäßigkeit unseres menschlichen Innern, unseres geistig-seelischen menschlichen Innern ist, u n d w i r bereiten uns vor, nun i m Geistig-Seelischen innere Berater unserer Leibesfunktionen z u werden, Bearbeiter dessen z u werden, was w i r sind zwischen G e b u r t u n d T o d . Was w i r zwischen G e b u r t u n d T o d sein werden, das liegt offen als eine Welt v o r uns ausgebreitet, bevor w i r heruntersteigen i n dieses physische Erdendasein. M e i n e sehr verehrten Anwesenden! Das ist keine Spekulation. Das ist unmittelbare Anschauung, die sich dem exakten Hellsehen ergibt. Das ist etwas, was v o m Gesichtspunkt dieses exakten Hellsefiens aus uns ein Stück hineinführt i n das, was w i r den Zusammenhang des menschlichen E w i g e n mit dem Leben z w i schen G e b u r t u n d T o d nennen können - des menschlichen E w i gen, das uns verborgen bleibt zwischen G e b u r t u n d T o d , das uns erst aufleuchtet, wenn w i r es anzuschauen vermögen i n dem n o c h unverkörperten Zustand. Es ist ein Teil der menschlichen 26
Ewigkeit selbst damit erkundet. Für diesen Teil der menschlichen E w i g k e i t haben w i r i n den neueren Sprachen nicht einmal ein W o r t . W i r reden v o n Unsterblichkeit mit Recht; aber w i r sollten auch reden von Ungeborenheit. D e n n diese tritt uns als unmittelbare Erkenntnis zunächst auf. Das ist die eine Seite des exakten Hellsehens, die eine Seite der menschlichen E w i g k e i t , der großen Rätselfrage des menschlichen Seelenlebens, damit der höchsten Frage der Psychologie überhaupt. D i e andere Seite ergibt sich, wenn w i r jene anderen Übungen machen, die ich gestern als Willensübungen bezeichnet habe, durch die w i r unseren W i l l e n so i n die H a n d nehmen, daß w i r uns dieses Willens leibfrei, unabhängig v o m L e i b bedienen lernen. Ich habe ausgeführt, daß diese Übungen dazu führen, Schmerz u n d L e i d innerhalb der Seele überwinden z u müssen, u m diese Seele, uneigentlich gesprochen, ganz z u m «Sinnesorgan», eigentlich gesprochen, z u m geistigen A n s c h a u ungsorgan z u machen, so daß w i r das Geistige nicht nur anschauen, sondern i n seiner Verbürgtheit anschauen. D a n n aber, wenn w i r lernen, i n dieser A r t außerhalb unseres Leibes nicht nur mit unseren Gedanken, sondern mit unserem W i l l e n selbst, also m i t unserer ganzen menschlichen Wesenheit, leibfrei z u erleben, dann tritt v o r die A n s c h a u u n g der Seele das B i l d des T o des i n der A r t , daß w i r jetzt wissen, wie das Erleben ist ohne den L e i b : s o w o h l i m D e n k e n , wie i m W i l l e n u n d i n dem, was dazwischenliegt, i m Fühlen. W i r lernen i n bildhafter Weise ohne den L e i b leben. Das gibt uns ein B i l d davon, wie w i r h i n ausgehen durch die Pforte des Todes, wie w i r den L e i b auch i n der Realität entbehren können u n d wie wir, durch die Pforte des Todes hindurchgehend, wiederum i n jene geistig-seelische Sphäre k o m m e n , aus der w i r heruntergestiegen sind i n diese Leiblichkeit. N i c h t nur z u einer philosophischen Gewißheit, sondern z u unmittelbarer Anschauung w i r d das, was i n uns als Ewiges, Unsterbliches lebt. D u r c h die W i l l e n s b i l d u n g w i r d die andere Seite der E w i g k e i t , die Unsterblichkeit, ebenso enthüllt für die seelische Anschauung, wie die Ungeborenheit für die Gedankenbildung enthüllt w i r d . D a n n aber, w e n n die Seele i n dieser A r t ein Geistorgan w i r d , 27
dann ist es i n der Tat so, als ob, i n einer niedrigeren Region, ein Blindgeborener operiert würde. D e r Blindgeborene war bisher gewohnt, das, was für den Sehenden Farbenwelt ist, nur durch das Tasten wahrzunehmen. E r schaut ganz Neues, w e n n er n u n operiert w o r d e n ist. Dieselbe Welt, i n der er früher lebte, w i r d jetzt für i h n eine andere. So w i r d für den, dessen seelisches A u g e i n der geschilderten Weise geöffnet w i r d , diese U m w e l t eine andere. U n d i c h w i l l n u r i n bezug auf einen P u n k t heute n o c h hervorheben, inwiefern sie eine andere w i r d . W i r sehen sonst i m Leben mit dem ungeöffneten Seelenauge, wie z u m Beispiel ein M e n s c h da lebt, indem er zuerst seine k i n d lichen Lebensschritte unternimmt, dann heranwächst, z u einem Schicksalsereignis seines Lebens k o m m t : E r trifft einen anderen Menschen; die Seelen verbinden sich so, daß die beiden M e n schen durch diese Verbindung der Seelen ihr Schicksal aneinanderbinden, ihren Lebensweg n u n weiter zusammen verfolgen nur ein einzelnes Ereignis w i l l i c h , wie gesagt, herausgreifen. W i r sind angewiesen i m gewöhnlichen Bewußtsein, das, was eintritt i m L e b e n , wie eine Summe v o n Zufälligkeiten anzusehen u n d mehr oder weniger auch als einen Zufall, daß w i r zuletzt z u diesem Schicksalsereignis, z u dem Treffen mit dem andern M e n schen geführt w o r d e n sind. N u r einzelne Menschen, wie Goethes F r e u n d K n e b e l , erwerben sich, gewissermaßen rein durch i h r Alter, eine innere Lebensweisheit. E r sprach es einmal aus seinem F r e u n d Goethe gegenüber: W e n n man zurückschaut i n vorgerückterem A l t e r auf seine Lebensschritte, da findet man etwas i n ihnen, was wie planvoll geordnet erscheint, so daß v o n vornherein alles so keimhaft veranlagt erscheint u n d sich das Weitere so entwickelt, daß man wie durch innere N o t w e n d i g k e i t hingeführt w i r d z u dem, was dann als Schicksalsereignis erscheint. M i t dem geöffneten Seelenauge erblicken w i r allerdings ein Leben der Menschen, das sich z u dem Leben, welches man mit dem ungeöffneten Auge schaut, verhält wie die farbige Welt z u der bloß getasteten des B l i n d e n . M a n schaut h i n , wie aus dem kindlichen Seelenleben, aus dem Wechselspiel v o n Sympathie u n d Antipathie, sich die ersten Schritte des Kindes entwickeln, wie dann, aus dem innersten 28
Menschenwesen hervorquellend, der M e n s c h selbst, wie aus i n nersten Sehnsüchten, seine Schritte lenkt, wie er sich selbst h i n führt z u dem Schicksalsereignis. Das ist nüchterne Lebensbeobachtung. W e n n man aber das Leben so ansieht, dann steht es vor einem wie etwa das Leben eines Greises: w i r werden nicht sagen, das Leben des Greises sei «an u n d für sich da»; durch die L o g i k wissen w i r das Greisenleben auf ein Kindesleben zurückzuführen; durch seine eigenen Eigentümlichkeiten müssen w i r es auf ein Kindesleben zurückführen. Was für das Greisenleben die bloße L o g i k tut, das tut für das Menschenleben überhaupt, durch das exakte Hellsehen, das Anschauen: W e n n w i r das L e ben, wie es sich aus den innersten Seelensehnsüchten entwickelt, w i r k l i c h schauen, dann müssen w i r es schauend zurückverfolgen. U n d dann k o m m e n w i r z u früheren Erdenleben, i n denen sich dasjenige vorbereitet hat, was i n der Gegenwart als Seelensehnsüchte sich herausentwickelt, was dann z u unseren Betätigungen führt u n d so weiter. Ich konnte heute nur andeuten, daß nicht irgendeine Phantasterei, sondern ein ganz exakter Weg z u einer solchen umfassenden Lebensbetrachtung führt, die i n der Tat durch eine entwikkelte Seelenkunde hineindringt z u dem E w i g e n in der M e n schennatur. D a n n aber erhebt sich auf einem solchen U n t e r b o den, der manchem n o c h abstrakt erscheinen mag, etwas, was nun Gewißheit w i r d , etwas, was aus der gegenwärtig uns als m o dernen Menschen angemessenen Erkenntnis herausquillt u n d eine Erkenntnisgrundlage für eine wahre innere Frömmigkeit, für ein wahres inneres religiöses Leben bietet. Wer einmal eingesehen hat, u n d zwar meine ich jetzt das Wort «eingesehen» i m wörtlichen Sinne, wer geschaut hat, wie sich die einzelne Seele aus dem Leibe losringt, u m i n ein geistig-seelisches Reich einzugehen, der schaut auch unser soziales Leben anders an. E r schaut, ausgerüstet i n seiner Gesinnung, h i n , wie unter den Menschen sich Freundschaften, Liebesverhältnisse, andere soziale Zusammenhänge bilden; er schaut hin, wie Seele z u Seele sich findet aus der Familie, aus anderen Gemeinschaften heraus; er findet, wie das körperliche Beisammensein die seelische G e meinschaft, das seelische Ineinanderfühlen u n d Ineinanderleben 29
vermittelt; er weiß n u n , daß ebenso wie v o n der einzelnen Seele der L e i b abfällt, so die irdischen Leiblichkeiten u n d Geschehnisse abfallen v o n den Freundschaften, v o n den Liebeszusammenhängen, u n d er schaut, wie sich das, was seelisch geworden ist v o n M e n s c h z u M e n s c h , fortsetzt i n eine geistig-seelische Welt, w o es auch geistig-seelisch erlebt werden kann. U n d dann k a n n gesagt werden, jetzt auf einer Erkenntnis-, nicht auf einer Glaubensgrundlage: D i e Menschen finden sich, indem sie d u r c h die Pforte des Todes schreiten, wiederum z u sammen. U n d gerade wie i n der geistigen Welt der L e i b als H i n dernis für das Schauen des Geistigen wegfällt, so fällt jedes H i n dernis für Freundschaft u n d Liebe n u n hinweg i n der geistigen Welt. D i e Menschen sind da näher zusammen als i n der L e i b l i c h keit. E i n e E r k e n n t n i s , die noch abstrakt ausschauen mag i n bez u g auf wahre Psychologie, gipfelt i n diesem religiösen E m p f i n den, i n diesem religiösen Schauen, ohne daß diejenige Weltanschauung, v o n deren B o d e n aus ich hier spreche, irgendein R e l i gionsbekenntnis antasten w i l l . Sie kann tolerant sein, sie kann jedes einzelne Religionsbekenntnis i n seinem Wert v o l l anerkennen, es auch praktisch ausüben; aber sie führt z u gleicher Zeit als eine H e l f e r i n des religiösen Lebens eine Erkenntnisgrundlage auch dieses religiösen Lebens herbei. N u n , damit wollte ich heute n u r einiges Grundlegende über das Verhältnis einer modernen geistmäßigen Weltanschauung zur Seelenkunde ausführen. Ich weiß vielleicht besser als mancher Gegner, was heute n o c h alles eingewendet werden kann, wenn so die Anfänge einer solchen Weltanschauung dargestellt werden. A b e r ich glaube auch z u wissen, daß die Sehnsüchte nach einer solchen Seelenkunde, wenn auch ganz i m U n b e w u ß ten, bei unzähligen Seelen heute vorhanden sind, so daß es i m mer u n d i m m e r wiederum gesagt werden muß: W i e man kein M a l e r z u sein braucht, u m die Schönheit eines Bildes z u empfinden, so braucht man selbst nicht Geistesforscher z u sein - obw o h l man es bis z u einem gewissen Grade werden kann - , u m prüfen z u können, ob das wahr ist, was i c h hier sage. W i e man die Schönheit eines Bildes empfinden kann, ohne selbst M a l e r z u sein, so k a n n man mit dem gewöhnlichen, gesunden Menschen3°
verstand heute einsehen, was der Geistesforscher der Seele sagt. Daß man es einsehen kann, das glaube ich u m so mehr erhärtet z u haben, als i c h z u erkennen glaube, wie die Seelen nach einer Vertiefung der Seelenkunde, der großen Daseinsrätsel des Lebens i n bezug auf die Seele dürsten, wie tatsächlich das, was mit einer solchen modernen Weltanschauung, wie sie hier skizziert wurde, versucht w i r d , heute den D r a n g zahlloser Menschen b i l det, die es auch gar nicht wissen i n ihrem gewöhnlichen Bewußtsein, wie es den Schmerz, das L e i d , die Entbehrung, den Wunsch unzähliger Menschen bildet, all derer, die es ernst meinen mit dem, was w i r finden müssen als aufsteigende Kräfte gegenüber so vielen i n unserer Gegenwart vorhandenen Niedergangskräften. U n d dessen muß sich heute jeder, der v o n einer zeitgemäßen Weltanschauung spricht, bewußt sein: daß er i m Einklang sprechen, denken u n d w o l l e n muß mit dem, was unsere so ernste Zeit in den Seelen, w e n n auch vielfach unbewußt, erstrebt. U n d ich glaube - lassen Sie m i c h damit schließen - , daß gerade i n solchen Weltanschauungsansätzen, w i e ich sie heute entwickelt habe, etwas v o n dem liegt, was zahlreiche Seelen heute erstreben, weil sie es brauchen als geistigen Inhalt, als lebendiges Geistesleben für die Gegenwart u n d für die nächste Z u k u n f t .
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«Die Entwicklung der Wissenschaften im letzten Jahrhundert könnte man nicht mit Unrecht eine Eroberung des naturwissenschaftlichen Geistes über fast alle Gebiete des menschlichen Erkennens nennen. Was für eine sieghafte Gewalt diesem Zuge eigen ist, das sieht man w o h l nirgends besser als an dem Charakter, den die Erforschung der menschlichen Seele in fachwissenschaftlichen Kreisen während der letzten Jahrzehnte angenommen hat. Der moderne Psychologe, der mit seinen Zähl- und Meßapparaten den auf- und abflutenden Erscheinungen unseres Innern beizukommen sucht, hat wenig Ähnlichkeit mit dem früheren Seelenforscher, der bloß mit dem geistigen Auge nach der eigenen Seele sehen wollte; dafür sieht er um so ähnlicher dem physikalischen oder chemischen Experimentator.» M i t diesen Worten charakterisierte Rudolf Steiner 1 9 0 1 i n einem Zeitschriftenartikel die Situation der damaligen psychologischen Forschung. Im weiteren Kontext dieses Aufsatzes würdigt Rudolf Steiner, wie auch in unserem ersten Vortrag, die Bedeutung einer experimentellen, physiologischen Psychologie. In dem folgenden Vortrag w i r d demgegenüber, wie auch schon in unserem ersten Vortrag, als Methode der hier gemeinten geisteswissenschaftlichen Psychologie die zu schulende Selbstbeobachtung betont. In ihrem historischen Zusammenhang w i r d auf die Bedeutung der anthropologischen Dreigliederung des Menschen nach Leib, Seele und Geist hingewiesen und die bis heute folgenschwere «Abschaffung» des Geistes durch das 8. ökumenische K o n z i l von K o n stantinopel i m Jahre 8 6 9 erwähnt. Ausdrücklich thematisiert wird die Dreiheit von Geist, Seele und Leib dann in dem dritten Vortrag unseres Bandes, einem öffentlichen Vortrag v o m 2 8 . Februar 1 9 1 8 in Berlin. A u c h in methodischer Hinsicht finden w i r in diesem Vortrag konkrete Hinweise für die Erlernung und Übung der Selbstbeobachtung. Denn es ist nicht das ständige Reflektieren, das «Viel-übersich-Sprechen, dieses Viel-über-sich-Nachdenken» gemeint, das «wirklich der schlechteste Weg zur Selbsterkenntnis ist» , sondern ein streng methodisches Vorgehen, eine «innere Empirie», durch die äußere Psychologie und Anthropologie erst zu einer wirklichen A n throposophie werden. 6
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Theosophische Seelenlehre
U m die H i m m e l s w e i s h e i t den Menschen mitteilen z u können, bedarf es der Selbsterkenntnis. Plato verehrte seinen großen Lehrer Sokrates aus d e m G r u n d e besonders, w e i l Sokrates durch die Selbsterkenntnis z u m Höchsten, z u r Gotteserkenntnis k o m men konnte, w e i l er mehr als alle Erkenntnis der äußeren N a t u r , mehr als alles dasjenige, was sich auf irgend etwas jenseits unserer Welt bezieht, die Erkenntnis der eigenen Seele schätzte. Sokrates ist gerade dadurch einer der Märtyrer der Erkenntnis u n d Wahrheit geworden, w e i l er mißverstanden w u r d e i n dieser seiner Seelenerkenntnis. M a n hat i h n beschuldigt, daß er die Götter leugne, während er sie d o c h n u r auf einem anderen Wege gesucht hat als andere, auf dem Wege d u r c h die eigene Seele; beschuldigt um dieser Seelenerkenntnis willen, welche z u m Ziele nicht bloß die Erkenntnis der eigenen Menschenseele hatj sondern auch das K l e i n o d , das diese Menschenseele an Erkenntnis birgt, nämlich die Erkenntnis des göttlichen Weltengrundes. V o n dieser Seelenerkenntnis sollen diese drei Vorträge handeln. N i c h t willkürlich ist die Z a h l der Vorträge festgesetzt w o r den u n d auch nicht zufällig, sondern wohlüberlegt ist sie aus dem Entwicklungsgang der Seele heraus. D e n n i n den Zeiten, i n denen das Seelenwissen u n d die Seelenweisheit i n den M i t t e l p u n k t des ganzen menschlichen Sinnens u n d Trachtens gerückt w o r d e n ist, i n den Zeiten der alten indischen Vedantaweisheit, die dem Buddhismus vorangegangen ist u n d wiederum z u r Zeit des B u d dhismus, als er i n seiner Blüte war, u n d wiederum z u r Zeit auch, als die griechische Philosophie ihre Blüte hatte, u n d wiederum i n der ersten u n d späteren besten Zeit der christlichen E n t w i c k lung hat man das Wesen des Menschen i n drei Teile geteilt, i n Körper, Seele u n d Geist. W i l l man die Seele i m richtigen Sinne betrachten, dann muß man sie i n Beziehung setzen z u den beiden anderen G l i e d e r n der menschlichen Wesenheit, z u m Körper auf 8
der einen Seite u n d z u m Geist auf der anderen Seite. D a h e r muß dieser erste einleitende Vortrag handeln v o n den Beziehungen der Seele z u m Körper. D e r zweite Vortrag w i r d v o n dem eigentlichen inneren Wesen der Menschenseele handeln u n d der dritte v o n dem A u f b l i c k , den sie gewinnen kann v o n der menschlichen Seele aus z u m göttlich-geistigen Urgründe des Weltendaseins. D u r c h eine merkwürdige Fügung der Geschichte ist diese dreigliedrige Einteilung der menschlichen Wesenheit dem abendländischen Forschen abhanden gekommen, denn, w o Sie auch heute die Seelenwissenschaft aufsuchen, überall werden Sie finden, daß m a n die Seelenwissenschaft oder Psychologie einfach der Naturwissenschaft oder der Körperlehre entgegensetzt, u n d überall können Sie hören, daß man dabei ausgeht v o n der M e i n u n g , daß der M e n s c h z u betrachten sei nach z w e i Gesichtspunkten : nach dem Gesichtspunkte, der über die Körperlichkeit aufklärt, u n d nach dem Gesichtspunkte, der über die Seele aufklärt. Populär ausgedrückt besagt das, der M e n s c h besteht aus L e i b u n d Seele. Dieser Satz, auf dem i m G r u n d e genommen u n sere ganze Ihnen bekannte Psychologie fußt und auf den viele Irrtümer i n der Psychologie zurückzuführen sind, dieser Satz hat eine merkwürdige Geschichte. Bis i n die ersten Zeiten des Christentums hinein hat niemand, wenn man über den M e n schen nachgedacht hat u n d sein Wesen z u erklären suchte, den Menschen anders als i n drei Glieder unterschieden, als i n Körper, Seele u n d Geist. G e h e n Sie z u den ersten christlichen K i r chenlehrern, gehen Sie z u den G n o s t i k e r n , dann werden Sie überall diese Einteilung finden. Bis ins 2., 3 . Jahrhundert hinein tritt Ihnen die auch v o n der christlichen Wissenschaft u n d D o g matik anerkannte Dreiteilung des Menschen entgegen. M a n hat später diese Lehre innerhalb des Christentums für gefährlich gehalten. M a n hat gemeint, daß der M e n s c h dadurch, daß er über seine Seele hinaus aufsteigt z u dem Geist, z u hoffärtig würde, daß er sich z u sehr vermessen würde, über den G r u n d der Dinge Aufklärungen z u bringen, über den nur die Offenbarung aufklären sollte. D a h e r hat man auf verschiedenen K o n z i l i e n beraten u n d beschlossen, daß als D o g m a für die Z u k u n f t z u lehren sei: der M e n s c h bestehe aus L e i b u n d Seele. Angesehene Theologen
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haben i n gewisser H i n s i c h t festgehalten an der Dreiteilung, wie Johannes Scotus Erigena u n d Thomas v o n A q u i n o . A b e r immer mehr u n d mehr ging der christlichen Wissenschaft, der v o r allen Dingen i m Mittelalter die Pflege der Seelenwissenschaft oblag, das Bewußtsein der D r e i t e i l u n g verloren. U n d bei dem Aufblühen der Wissenschaft i m 1 5 . u n d 16. Jahrhundert hatte man k e i n Bewußtsein mehr v o n der alten Einteilung. Selbst C a r t e s i u s unterschied nur zwischen Seele, die er Geist nennt, u n d Körper. U n d so blieb es. Diejenigen, welche heute v o n der Psychologie oder Seelenwissenschaft sprechen, wissen nicht, daß sie unter dem Einfluß eines christlichen Dogmas sprechen. M a n glaubt und kann es aus den Handbüchern lesen, daß der M e n s c h n u r aus Leib u n d Seele besteht. M a n hat damit aber nur ein jahrhundertealtes V o r u r t e i l fortgepflanzt, u n d darauf fußt man n o c h heute. Das w i r d sich uns i m Laufe dieser Vorträge auch zeigen. 9
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V o r allem obliegt es uns jetzt z u zeigen, welche Beziehung v o n dem unbefangenen Seelenbetrachter angenommen werden m u ß zwischen Seele u n d Körper; denn es scheint mit ein Ergebnis der modernen Naturwissenschaft z u sein, daß man überhaupt nicht mehr v o n der Seele sprechen s o l l , wie man Jahrtausende v o r unserer Zeit v o n Seele gesprochen hat. D i e Naturforschung, w e l che dem 1 9 . Jahrhundert u n d seiner geistigen E n t w i c k e l u n g den Stempel aufgedrückt hat, hat immer u n d i m m e r wieder erklärt, daß mit ihren Anschauungen eine Seelenwissenschaft i m alten Sinne des Wortes - wie z u m Beispiel die Goethesche u n d teilweise die des Aristoteles - nicht vereinbar u n d daher nicht haltbar ist. Sie können Handbücher über Psychologie nehmen, oder nehmen Sie die «Welträtsel» v o n H a e c k e l , Sie werden überall finden, daß die dogmatischen Vorurteile bestehen u n d man der M e i n u n g ist, daß die alten Anschauungsweisen, unter denen man sich der Seele z u nähern suchte, überwunden sind. N i e m a n d kann - das sage i c h für die Naturwissenschafter u n d die Verehrer von Ernst H a e c k e l - H a e c k e l mehr verehren als ich selbst, als eine G r ö ß e , als eine monumentale wissenschaftliche Größe. A b e r große Menschen haben auch große Fehler, u n d so ziemt es sich w o h l , ganz unbefangen ein Vorurteil unserer Zeit z u prüfen. 1 1
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Was w i r d uns v o n dieser Seite gesagt? M a n sagt uns: Seht ein35
mal z u , dasjenige, was i h r Seele genannt habt, ist ja unter unseren Händen verschwunden. W i r Naturforscher haben euch gezeigt, daß alle Sinnesempfindungen, alles dasjenige, was sich als V o r stellungsleben entwickelt, alles D e n k e n , alles W o l l e n , alles Fühlen, daß alles dies gebunden ist an ganz bestimmte Organe unseres G e h i r n s u n d unseres N e r v e n s y s t e m s . " D i e N a t u r w i s s e n schaft des 1 9 . Jahrhunderts hat gezeigt, so sagt man, daß gewisse Partien unserer Großhirnrinde, w e n n sie nicht vollständig intakt sind, es uns unmöglich machen, gewisse geistige Äußerungen z u vollbringen. Daraus zieht man den Schluß, daß i n diesen einzelnen Partien unseres G e h i r n s diese geistigen Äußerungen l o k a l i siert sind, daß sie, w i e man sagt, v o n diesen Partien unseres G e hirns abhängen. M a n hat das drastisch ausgedrückt, i n d e m man sagt: E i n gewisser P u n k t des Gehirns ist das Z e n t r u m für die Sprache, eine andere Partie für diese Seelentätigkeit, eine andere Partie für eine andere, so daß man Stück für Stück der Seele abtragen k a n n . - M a n hat gezeigt, daß mit der E r k r a n k u n g ganz bestimmter G e h i r n p a r t i e n z u gleicher Zeit der Verlust bestimmter Seelenfähigkeiten einhergeht. Was man sich seit Jahrtausenden unter Seele vorgestellt hat, das k a n n kein Naturforscher finden, das ist ein Begriff, mit dem der Naturforscher nichts anzufangen weiß. W i r finden den Körper u n d seine F u n k t i o n e n , aber nirgends eine Seele. D e r große Sittenlehrer des D a r w i n i s m u s , Bartholomäus C a r n e r i , ' der eine E t h i k des D a r w i n i s m u s geschrieben hat, hat seine Überzeugung klar z u m A u s d r u c k gebracht, w i e sie vielleicht niemals deutlicher aus diesen Kreisen der Naturforscher gegeben werden kann. E r sagt: N e h m e n w i r einmal eine U h r . D i e Zeiger rücken vor, das U h r w e r k ist i n Bewegung. Das alles geschieht d u r c h den Mechanismus, der v o r uns steht. W i e w i r i n dem, was die U h r vollbringt, eine Ä u ß e rung des U h r m e c h a n i s m u s haben, so haben w i r i n dem, was der M e n s c h fühlt u n d denkt u n d w i l l , eine Äußerung des ganzen Nervenmechanismus vor uns. Ebensowenig wie man annehmen kann, i n der U h r sitze ein kleines Seelenwesen, das die Räder bewegt, die Zeiger vorrückt, ebensowenig können w i r annehmen, daß außer dem Organismus eine Seele ist, welche das D e n ken, Fühlen u n d W o l l e n bewirkt. - Das ist das Bekenntnis eines 13
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Naturforschers i n geistiger Beziehung, das ist es, was die N a t u r forscher z u r Grundlage eines neuen Glaubens, einer solchen reinen naturalistischen R e l i g i o n gemacht haben. D e r Naturforscher glaubt, daß er durch die Ergebnisse der Wissenschaft z u diesem Bekenntnis gezwungen sei, u n d er glaubt, daß er jeden für einen kindlichen Geist halten darf, der unter dem Einfluß der Wissenschaft nicht z u diesen Schlüssen k o m m t . Bartholomäus C a r n e r i hat es unbeschönigt gezeigt. Solange die Menschen K i n d e r waren, haben sie gesprochen wie Aristoteles; da sie n u n aber Männer geworden sind u n d die Wissenschaft verstehen, müssen sie v o n den Kinderanschauungen abkommen. D i e Auffassung der N a turforscher, die sie i n den Menschen nichts anderes sehen läßt als einen Mechanismus, deckt sich mit dem Gleichnis v o n der U h r . Diese Anschauung ist radikal ausgesprochen. Sie w i r d als die einzige angesehen, die der Gegenwart würdig ist. Sie w i r d so hingestellt, daß die naturwissenschaftlichen Entdeckungen des Zeitalters uns z w i n g e n , z u diesen Bekenntnissen z u k o m m e n . N u n aber müssen w i r uns fragen: Sind es w i r k l i c h vor allen Dingen die Naturwissenschaft, die genaue Untersuchung unseres Nervensystems, die genaue Untersuchung unserer Organe und deren F u n k t i o n e n , die uns gezwungen haben z u dieser A n schauung? N e i n , denn i m 1 8 . Jahrhundert lag alles dasjenige, was man heute anführt als auf wissenschaftlicher Höhe stehend und als maßgebend, n o c h i m K e i m . D a gab es nichts v o n moderner Psychologie, nichts v o n den Entdeckungen des großen J o hannes M ü l l e r u n d seiner Schule, nichts v o n den Entdeckungen, die die Naturforscher i m 1 9 . Jahrhundert gemacht haben. U n d damals, i m 1 8 . Jahrhundert, waren diese Anschauungen i n der radikalsten Weise ausgesprochen w o r d e n i n der französischen Aufklärung, die nicht auf Naturwissenschaft bauen konnte, da erklangen z u m erstenmal die W o r t e : D e r M e n s c h ist eine M a schine. - A u s dieser Zeit stammt ein B u c h v o n H o l b a c h , betitelt: «Systeme de la nature», v o n dem Goethe sagte, daß er sich abgestoßen gefühlt habe v o n der Oberflächlichkeit u n d Gehaltlosigkeit desselben. Dies z u m Beweis dafür, daß diese Anschauung vor der modernen Naturwissenschaft da war. M a n darf sagen, daß i m Gegenteil der Materialismus des 1 8 . Jahrhunderts über 1!
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den Geistern des 1 9 . Jahrhunderts lag u n d daß das materialistische Glaubensbekenntnis tonangebend war für die Denkweise, die man dann erst i n die Naturwissenschaft hineingetragen hat. Das i n bezug auf die historische Wahrheit. D e n n wäre es nicht so, dann müßte man geradezu die A n s c h a u u n g , welche die m o derne Naturwissenschaft hat, nämlich, daß man von der Seele i n dem alten Sinne nicht sprechen könne, w e i l man die Seele abtragen kann i n derselben Weise, wie m a n gezeigt hat, daß man das G e h i r n abtragen kann - man müßte diese Ansicht kindlich nennen. D e n n , was ist mit dieser A n s i c h t besonders gewonnen? K e i n Forscher auf dem Gebiete des Seelenlebens, der i m Sinne des Aristoteles, i m Sinne der alten G r i e c h e n , oder - sagen w i r trotz allen Widerspruchs, der von manchen Seiten herankommen w i r d - kein Seelenforscher, der i m Sinne des christlichen Mittelalters die Seele z u erkennen sucht, kann A n s t o ß nehmen an den W a h r heiten der heutigen Naturwissenschaft. Jeder vernünftige Seelenforscher w i r d mit demjenigen, was die Naturwissenschaft über das Nervensystem u n d das G e h i r n als die Vermittler unserer Seelenfunktionen sagt, einverstanden sein. E r ist nicht überrascht, daß, w e n n eine gewisse Partie des Gehirns erkrankt, man nicht mehr sprechen kann. Darüber ist der alte Forscher nicht mehr erstaunt als darüber, daß er nicht mehr denken kann, wenn er erschlagen w i r d . D i e moderne Wissenschaft tut nichts anderes, als daß sie i m einzelnen festlegt, was die Menschen schon i m allgemeinen eingesehen haben. U n d genauso, weil der M e n s c h weiß, daß er ohne gewisse Gehirnpartien nicht sprechen, nicht Vorstellungen bilden kann, genauso müßte es ein Beweis sein, daß er keine Seele hat, wenn er erschlagen werden kann. A u c h die Vedantisten, auch Plato u n d so weiter, sind sich klar darüber, daß die Seelentätigkeit des Menschen aufhört, wenn i h m ein großer Feldstein auf den K o p f fällt u n d i h n zertrümmert. Etwas anderes hat die alte Seelenlehre auch nicht gelehrt. Darüber können w i r uns klar sein. W i r können die ganze Naturwissenschaft akzeptieren u n d die Seelenlehre d o c h anders fassen. In früheren Jahrhunderten war man sich darüber klar, daß der Weg, den die Naturwissenschaft einschlug, nicht z u r Erkenntnis der Seele führt u n d daher auch nicht z u ihrer Widerlegung eingeschlagen
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werden kann. Würden diejenigen, welche v o m Standpunkte der Naturwissenschaft die alte Seelenwissenschaft z u widerlegen sich bemühen, bewandert sein i n den Gedankengängen früherer Zeiten, als man noch nicht so befangen war i m äußeren Leben, als man noch nicht gewohnt war, das eigene Seelenleben, ja das Seelenleben überhaupt z u beobachten, würden die naturalistischen Gläubigen eingehen auf die Gedankengänge uralter W e i ser, dann würden sie gerade durch diese Gedankengänge einsehen können, welche Donquichotterie es ist, i n diesem naturwissenschaftlichen Sinne gegen die Seelenlehre z u kämpfen. Dieser ganze K a m p f ist schon dargestellt i n einem Gespräch, das Sie i n der buddhistischen Literatur f i n d e n , i n einem G e spräche, das nicht den Reden Buddhas selbst angehört, das erst i n den ersten Jahren v o r C h r i s t i G e b u r t aufgezeichnet wurde. Wer aber das Gespräch untersucht, der sieht, daß es sich u m die älteren echten Anschauungen des Buddhismus handelt, welche i n der Unterhaltung des mit griechischer Weisheit u n d D i a l e k t i k ausgestatteten Königs M i l i n d a mit dem buddhistischen Weisen Nagasena z u m A u s d r u c k k o m m t . Dieser König tritt v o r den i n dischen Weisen h i n u n d fragt: Sage einmal, als w e n erkennt man dich ? - Darauf gibt der weise Nagasena zur A n t w o r t : M a n nennt m i c h Nagasena. A b e r das ist nur ein N a m e . Es steckt kein Subjekt, keine Persönlichkeit dahinter. - W i e ? - sagte da der König M i l i n d a , welcher die griechische D i a l e k t i k u n d die ganze Fähigkeit u n d M a c h t des griechischen Denkens i n sich barg - , hört einmal, die ihr herbeigekommen seid, der Weise behauptet, daß hinter dem N a m e n Nagasena nichts stecke. Was ist denn das, was da v o r m i r steht? Sind deine Hände, deine Beine Nagasena? N e i n . Sind deine E m p f i n d u n g e n , Gefühle u n d Vorstellungen Nagasena? N e i n , alles das ist nicht Nagasena. N u n , dann ist der Zusammenhang v o n allem Nagasena. Aber, da er nun behauptet, daß alles das nicht Nagasena ist, daß nur ein N a m e da ist, der alles zusammenhält, wer ist er denn dann u n d was ist denn dann eigentlich Nagasena? Ist dasjenige, was hinter dem H i r n , hinter den Organen, hinter der Körperlichkeit, hinter den Gefühlen und Vorstellungen lebt, ein N i c h t s ? Ist ein N i c h t s derjenige, welcher anderen Wohltaten erweist? Ist der ein N i c h t s , welcher 17
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Gutes u n d Böses tut? Ist ein N i c h t s derjenige, welcher nach H e i ligkeit strebt? Steckt nichts hinter alledem als der bloße Name? D a antwortete Nagasena mit einem anderen Gleichnis: W i e bist du hergekommen, großer König, z u Fuß oder z u Wagen? - D e r König antwortete: Z u Wagen. - N u n , erkläre m i r den Wagen. Ist die Deichsel dein Wagen? Sind die Räder dein Wagen? Ist der Wagenkasten dein Wagen? — N e i n , antwortet der König. - Was ist also dann dein Wagen? Es ist ein N a m e , der sich n u r auf den Zusammenhang der verschiedenen G l i e d e r bezieht. Was wollte der Weise Nagasena, der i n den buddhistischen Lehren groß geworden ist, mit seiner A n t w o r t sagen? - O K ö nig, der d u i n Griechenland, i n der griechischen Philosophie eine große, gewaltige Fähigkeit dir errungen hast, du mußt verstehen, daß du ebensowenig, wenn du die Glieder des Wagens in ihrem Zusammenhang betrachtest, z u etwas anderem als z u einem N a men kommst, wie wenn du die G l i e d e r des Menschen zusammenhältst. N e h m e n Sie diese uralte Lehre, die sich zurückverfolgen läßt bis i n die ältesten Zeiten der buddhistischen Weltanschauung, u n d fragen Sie sich, was ist i n ihr gesagt? N i c h t s anderes, als daß der Weg, durch die Betrachtung der äußeren Organe, ganz gleich ob grob oder fein betrachtet- die Betrachtung des Wechselspieles der Vorstellungen, welche ein großer A n a t o m , M e t s c h n i k o w , ' auf eine M i l l i a r d e geschätzt hat - , zur Kenntnis der Seele z u gelangen, ein Irrweg ist. I m Sinne dieses richtigen Ausspruches des Weisen Nagasena können w i r auf diese Weise die Seele nicht finden. Das ist ein falscher Weg. Niemals hat man sich i n den Z e i ten, i n welchen man wußte, auf welchem Wege man die Seele z u finden u n d z u studieren hat, auf diesem Wege der Seele z u nähern versucht. Das war eine geschichtliche Notwendigkeit, daß die feinen, intimen Wege, auf denen noch die alten Weisen des christlichen Mittelalters die Seele suchten, etwas zurücktraten, als unsere Naturwissenschaft sich mehr auf die äußere Welt z u verlegen begann. D e n n , was sind denn diejenigen M e t h o d e n u n d Anschauungsweisen und die Gesichtspunkte, welche die N a t u r wissenschaft ganz besonders ausgebildet hat? Sie können i n den nachgelassenen Werken eines der genialsten Naturforscher unse8
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rer unmittelbaren Gegenwart, der große Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizitätstheorie gemacht hat, finden, daß die m o derne Naturwissenschaft auf ihre Fahne geschrieben hat: E i n fachheit u n d Zweckmäßigkeit. U n d Sie können bei einem Psychologen, der auch i m Sinne der Naturwissenschaft arbeitet, z u diesen zwei Forderungen der Einfachheit u n d der Zweckmäßigkeit n o c h die Anschaulichkeit hinzugefügt finden. U n d man kann sagen, daß durch diese drei - Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Anschaulichkeit - die Naturwissenschaft geradezu Wunder gewirkt hat. A b e r das ist nicht auf die Seelenweisheit anwendbar. A n s c h a u lichkeit i n bezug auf die Betrachtung der äußeren Glieder, Zweckmäßigkeit i n bezug auf die äußere Erscheinung, das war es, weshalb die Naturwissenschaft darauf gekommen ist, den Zusammenhang der Teile z u suchen, z u errechnen, z u erforschen. Das war es aber auch gerade, was i m Sinne des A u s s p r u ches des Weisen Nagasena niemals zur Seele führen kann. W e i l die Naturwissenschaft n u n diesen Weg genommen hat, ist es nur z u begreiflich, daß sie v o n den Wegen der Seele abgekommen ist. N i c h t einmal ein Bewußtsein hat man heute v o n dem, was Seelenforscher durch Jahrhunderte hindurch angestrebt haben. Es ist geradezu fabelhaft, was i n dieser Beziehung ausgesprochen w i r d u n d welche Summe v o n U n k e n n t n i s dabei zutage tritt, w e n n heute i n scheinbar maßgebenden Kreisen über die Seelenlehre des A r i s t o t e l e s oder über die Seelenlehre der ersten christlichen Forscher, über die Seelenlehre des Mittelalters gesprochen w i r d . U n d dennoch, wenn jemand das Wesen der Seele wissenschaftlich verstehen w i l l , dann gibt es keinen arideren Z u gang als den der sorgfältigen inneren A r b e i t , sich die Vorstellungen des Aristoteles anzueignen, die Vorstellungen, welche die ersten C h r i s t e n u n d die großen christlichen Kirchenlehrer zur Kenntnis der Seele geführt haben. Es gibt keine andere Methode. Sie ist ebenso w i c h t i g für dieses Gebiet wie die Methode der N a turwissenschaft für die äußere Wissenschaft. A b e r diese M e t h o den der Seelenwissenschaft sind uns z u m großen Teil verlorengegangen. W i r k l i c h innere Beobachtungen werden gar nicht als wissenschaftliches Gebiet angesehen. 19
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D i e theosophische Bewegung hat sich zur Aufgabe gestellt, die Wege der Seele wieder z u erforschen. A u f die verschiedenste A r t kann der Zugang zur Seele gefunden werden. In anderen Vorträgen versuchte i c h , auf rein geisteswissenschaftlichem Wege, durch rein theosophische M e t h o d e die Erkenntnis der Seele z u vermitteln. H i e r aber soll zunächst gesprochen werden in dem Sinne, w i e der große Aristoteles am Abschluß der griechischen, großen philosophischen E p o c h e diese Seelenwissenschaft begründet hat. D e n n anders als bei Aristoteles war die Seelenweisheit i n der früheren Zeit gepflogen worden. W i r werden verstehen, wie die Seelenweisheit gepflegt worden ist i n der alten ägyptischen Weisheit, gepflegt w o r d e n ist i n der alten Vedenweisheit. Das aber für später. H e u t e lassen Sie mich sprechen v o n der Seelenlehre des Aristoteles, der Jahrhunderte vor C h r i s t i G e burt als Gelehrter, als Wissenschaftler dasjenige, was auf ganz anderen Wegen gefunden worden ist, z u m Abschluß gebracht hat. W i r können sagen, daß w i r i n der Seelenlehre des Aristoteles etwas haben, was die Besten auf dem Gebiete der Seelenlehre z u geben vermochten. U n d w e i l Aristoteles das Beste vermittelt, muß vor allen D i n g e n von Aristoteles gesprochen werden. U n d doch war dieser Riesengeist seiner Zeit - seine Schriften sind eine Schatzkammer i n bezug auf das Wissen der alten Zeit, u n d wer sich i n Aristoteles vertieft, der weiß, was vor seiner Zeit geleistet war - , dieser Riesengeist war kein Hellseher wie Plato, er war Wissenschafter. Derjenige, welcher auf wissenschaftlichem G e biete der Seele näherkommen w i l l , der muß es auf dem Wege des Aristoteles tun. Aristoteles ist eine Persönlichkeit, die i n jeder Beziehung - w e n n man die Zeit berücksichtigt - die A n f o r d e r u n gen naturwissenschaftlichen Denkens befriedigt. N u r , wie w i r sehen werden, i n einem einzigen Punkte nicht. U n d dieser einzige P u n k t , i n dem w i r Aristoteles unbefriedigend finden werden für die Seelenlehre, dieser ist das große Verhängnis aller wissenschaftlichen Seelenlehren des Abendlandes geworden. E i n naturwissenschaftlicher Entwicklungslehrer war A r i s t o teles. E r stand ganz auf dem Standpunkte der E n t w i c k l u n g s lehre. E r nahm an, daß sich alle Wesen i n streng naturwissenschaftlicher N o t w e n d i g k e i t entwickelt haben. D i e u n v o l l k o m 42
mensten Wesenheiten Heß er sogar durch U r z e u g u n g erstehen, durch das bloße Zusammentreten von leblosen Naturstoffen, auf rein natürliche Weise. Das ist eine H y p o t h e s e , die ein wichtiger wissenschaftlicher Zankapfel ist, aber eine Hypothese, die H a e c k e l mit Aristoteles teilt. U n d Haeckel teilt auch mit A r i s t o teles die Überzeugung, daß eine gerade Stufenleiter hinaufführt bis z u m Menschen. Aristoteles schließt auch alle Seelenentwicklung i n diese E n t w i c k e l u n g ein u n d ist überzeugt, daß zwischen Seele u n d Körperlichkeit nicht ein radikaler, sondern nur ein gradweiser Unterschied ist. Das heißt, Aristoteles ist der Überzeugung, daß bei der E n t w i c k l u n g v o m U n v o l l k o m m e n e n z u m V o l l k o m m e n e n der M o m e n t eintritt, w o die Stufe erreicht ist, daß alles Leblose seine Gestaltung gefunden hat u n d dann ganz v o n selbst die Möglichkeit eintritt, daß aus dem Leblosen das Seelische sich herauf entwickelt. U n d n u n unterscheidet er stufenweise eine sogenannte Pflanzenseele, die i n der ganzen Pflanzenwelt lebt, eine Tierseele, die i m Tierreich lebt, u n d endlich unterscheidet er eine höhere Stufe dieser Tierseele, die i m M e n schen lebt. Sie sehen, der richtig verstandene Aristoteles stimmt vollständig überein mit alledem, was die moderne Naturwissenschaft lehrt. U n d n u n nehmen Sie die «Welträtsel» von Haeckel, die ersten Seiten, w o er auf dem B o d e n der richtigen Naturgesetze steht, u n d vergleichen Sie das mit der Naturwissenschaft u n d Seelenlehre des Aristoteles, dann werden Sie finden, w e n n Sie die durch die Zeit gegebene Differenz abrechnen, daß eine w i r k l i c h e Differenz nicht besteht. A b e r n u n k o m m t das, w o Aristoteles hinausgeht über die Seelenwissenschaft, z u welcher die moderne Naturwissenschaft z u k o m m e n glaubt. D a zeigt Aristoteles, daß er imstande ist, w i r k liches Innenleben z u beobachten. D e n n wer dasjenige, was A r i stoteles n u n m e h r aufbaut auf diese naturgesetzliche Erkenntnistheorie, verfolgt m i t tiefem Verständnis, der sieht, daß alle diejenigen, welche gegen diese Anschauung des Aristoteles etwas einwenden, diese A n s c h a u u n g einfach nicht i m wahren Sinne des Wortes verstanden haben. U n e n d l i c h einfach ist es, einzusehen, daß w i r v o n der Tierseele z u r Menschenseele einen Schritt, einen gewaltigen Schritt machen müssen. U n e n d l i c h leicht ist es einzu43
sehen. N i c h t s hindert diesen Schritt z u machen mit Aristoteles als lediglich die Denkgewohnheiten, die sich i m Laufe der n e u zeitlichen Geistesrichtung herausgebildet haben. D e n n Aristoteles ist sich klar darüber, daß innerhalb der Menschenseele etwas auftritt, was sich wesentlich unterscheidet v o n allem, was als Seelisches außerhalb gefunden w i r d . S c h o n die alten Pythagoreer haben ja übrigens gesagt, derjenige, der die Wahrheit, daß der M e n s c h das einzige Wesen ist, das zählen lernen kann, w i r k l i c h einsieht, der weiß, w o r i n sich der M e n s c h v o m Tiere unterscheidet. A b e r es ist nicht so leicht einzusehen, was es eigentlich heißt, daß nur der M e n s c h zählen lernen kann. D e r griechische Weise Plato hat niemand für seine Philosophenschule für reif erklärt, der nicht zuerst Mathematik gelernt hat, wenigstens die Elemente, die Anfangsgründe. Das heißt: nichts anderes wollte Plato, als daß diejenigen, die er i n die Seelenwissenschaft einführte, etwas wissen über die N a t u r des Mathematischen, etwas wissen über die N a t u r dieser eigentümlichen Geistestätigkeit, die der M e n s c h ausübt, wenn er Mathematik treibt. Das ist aber auch Aristoteles klar; es k o m m t nicht darauf an, Mathematik z u treiben, als vielmehr darauf, z u verstehen: dem Menschen ist es möglich, Mathematik z u treiben. Das heißt nichts anderes, als der M e n s c h ist imstande, Gesetze aufzufinden, streng i n sich geschlossene Gesetze, die i h m keine Außenwelt geben kann. N u r derjenige, welcher nicht i m D e n k e n geschult ist, n u r derjenige, der nicht Selbstbeobachtung z u erreichen versteht, n u r der macht sich nicht klar, daß niemals durch bloße Beobachtung auch n u r der einfachste mathematische Lehrsatz gewonnen werden könnte. N i r g e n d s i n der N a t u r ist ein wirklicher K r e i s , nirgends i n der N a t u r ist eine wirkliche gerade L i n i e , nirgends eine Ellipse, aber i n der Mathematik erforschen w i r diese, u n d die Welt, die w i r aus dem Inneren heraus gewonnen haben, wenden w i r auf das Außere an. Das ist eine Tatsache, ohne deren D u r c h denken man niemals z u einer wahren Anschauung über das Wesen der Seele k o m m e n kann. Deshalb verlangt die Theosophie v o n ihren Zöglingen, die sich tiefer i n sie einlassen w o l l e n , eine strenge Schulung des Denkens; nicht das irrlichtelierende D e n ken des Alltags, nicht das irrlichtelierende D e n k e n der abendlän-
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dischen Philosophie, sondern das D e n k e n , welches i n innerlicher Gründlichkeit Selbstbeobachtung übt. Dieses D e n k e n läßt die Tragweite dieses Satzes erkennen. U n d diejenigen, welche durch ihre mathematische Schulung die größten Eroberungen auf d e m Gebiete der H i m m e l s k u n d e z u verzeichnen hatten, sehen die Tragweite ein u n d sprechen sie aus. Lesen Sie die Schriften v o n Kepler, diesem großen A s t r o n o m e n , lesen Sie das d u r c h , was er über diese Grunderscheinung der menschlichen Selbstbeobachtung sagt, dann werden Sie sehen, was diese Persönlichkeit darüber ausspricht. D i e wußte, welche Tragweite mathematisches D e n k e n bis i n die fernsten Himmelsräume hinauf hat. E r sagt: E s ist wunderbar, die Übereinstimmung, die w i r finden, wenn w i r i n einsamer Studierstube gesessen u n d über Kreise u n d Ellipsen nachgedacht haben, lediglich aus unserem D e n k e n heraus, u n d dann hinaufblicken z u m H i m m e l u n d deren Übereinstimmung finden mit den Sphären des H i m m e l s . - N i c h t u m äußere Forschung handelt es sich bei solchen Lehren, sondern u m die Vertiefung solcher Erkenntnisse. Schon i n der Vorhalle sollte es sich zeigen bei denen, die i n die Philosophenschule aufgenommen werden w o l l t e n , wer v o n ihnen zugelassen werden kann. D e n n dann wußte man, daß wie derjenige, der seine fünf Sinne hat, die äußere Welt erforschen kann, sie ebenso denkerisch das Wesen der Seele erforschen können. N i c h t früher war das möglich. A b e r man verlangte noch etwas anderes. Das mathematische D e n k e n genügt nicht. Es ist die erste Stufe, w o w i r ganz i n uns selbst leben, w o sich uns der Geist der Welt aus unserem Inneren heraus entwickelt. Es ist die trivialste, die untergeordnetste Stufe, die zuerst beschritten werden muß, über die w i r aber hinausschreiten müssen. Das verlangte gerade der ältere Seelenforscher, die höchsten Gebiete der menschlichen Erkenntnis auf dieselbe A r t aus den Tiefen der Seele herauszuholen, wie die Mathematik die Wahrheiten des gestirnten H i m m e l s aus den Tiefen der Seele herausholt. Das war d i e ' F o r d e r u n g , welche Plato i n d e m Satze verbarg: Jeder, der eintreten w i l l i n meine Schule, muß zuerst einen mathematischen K u r s u s durchgemacht haben. - N i c h t Mathematik ist nötig, aber eine Erkenntnis, w e l che die Unabhängigkeit des mathematischen Denkens hat. U n d
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sieht man ein, daß der M e n s c h i n s i c h ein Leben hat, das unabhängig ist v o m äußeren N a t u r l e b e n , daß er aus sich heraus die höchsten Wahrheiten holen muß, d a n n sieht man auch ein, daß des Menschen beste W i r k s a m k e i t s i c h auf etwas erstreckt, das jenseits aller Naturtätigkeit ist. Sehen Sie sich das T i e r an. Seine Tätigkeit verläuft rein gattungsmäßig. Jedes T i e r tut, was unzählige seiner Vorfahren auch getan haben. D e r Gattungsbegriff beherrscht das T i e r ganz. M o r g e n tut es dasselbe, was es gestern getan hat. D i e Ameise baut an ihrem Wunderbau, der B i b e r an dem seinigen, i n zehn, hundert, tausend Jahren so wie heute. E n t w i c k l u n g ist auch darin, aber nicht Geschichte. W e r sich klarmacht, daß die menschliche E n t w i c k l u n g nicht bloß E n t w i c k l u n g , sondern G e schichte ist, der kann i n ähnlicher Weise sich klar sein über die M e t h o d e der Seelenbeobachtung, w i e derjenige, welcher sich klargemacht hat, was mathematische Wahrheiten sind. Es gibt n o c h w i l d e Völker. Sie sind zwar i m Aussterben begriffen, aber es gibt n o c h solche, welche keinen Zusammenhang erkennen können zwischen heute u n d morgen. Es gibt solche, welche, wenn es des Abends kalt w i r d , sich zudecken mit Baumblättern. A m M o r g e n werfen sie diese wieder weg, u n d abends müssen sie sie wieder v o n neuem suchen. Sie sind nicht imstande, die E r f a h rung v o n gestern hinüberzutragen i n das Heute u n d M o r g e n . Was ist notwendig, wenn w i r die Erfahrung von gestern i n das H e u t e u n d M o r g e n hinübertragen wollen? W i r können nicht sagen, w e n n w i r heute wissen, was w i r gestern getan haben, dann werden w i r morgen auch tun, was w i r gestern getan haben. Das ist Eigenart der Tierseele. D i e kann fortschreiten, sie kann i m Laufe der Zeiten etwas anderes werden, aber dann ist das A n derswerden nicht ein Geschichtliches. E i n Geschichtliches besteht darin, daß das I n d i v i d u u m Mensch sich dasjenige, was es erfahren hat, i n der Weise zunutze macht, daß es auf ein N i c h t e r fahrenes, auf ein M o r g e n schließen kann. Ich lerne den Sinn, den Geist des Gestern u n d baue darauf, daß die Gesetze, die meine Seele aus der Beobachtung gewinnt, i n dasjenige, was i c h n o c h nicht beobachtet habe, also i n die Zukunft, hinübertragen. R e i sende erzählen uns, daß es vorgekommen sei, daß irgendwelche
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Wanderer sich Feuer angefacht hätten i n Gegenden, w o A f f e n wohnten. Sie seien weggezogen u n d hätten das Feuer brennen und das H o l z liegen lassen. D i e Affen seien herangekommen u n d hätten sich erwärmt am Feuer. A b e r sie konnten das Feuer nicht schüren. Sie können sich nicht unabhängig machen v o n den Beobachtungen u n d Erfahrungen, sie können keine Schlüsse ziehen. D e r M e n s c h schließt aus seinen Beobachtungen u n d Erfahrungen heraus u n d w i r d dadurch z u m selbstherrlichen Bestimmer seiner Z u k u n f t . E r sendet seine Erfahrungen i n das M o r g e n hinein, er verwandelt die E n t w i c k l u n g in Geschichte. So wie er die Erfahrung i n Theorie verwandelt, aus der N a t u r die Wahrheiten des Geistes herausholt, so holt er aus dem Vergangenen die Regeln der Z u k u n f t u n d w i r d dadurch z u m Erbauer der Zukunft. Wer diese beiden D i n g e gründlich durchdenkt, daß der M e n s c h sich i n zweifacher Weise unabhängig machen kann, daß er nicht bloß beobachten, sondern auch Theorien aufstellen kann, daß er nicht bloß wie die Tierseele E n t w i c k l u n g , sondern auch Geschichte hat, wer sich diese beiden D i n g e klarmacht, der versteht, was ich meinte, w e n n ich sagte, i m Menschen lebt nicht nur die Tierseele, sondern die Tierseele entwickelt sich so weit herauf, daß sie aufnehmen kann den sogenannten N u s , den Weltengeist. Das hält Aristoteles für notwendig, damit der M e n s c h Geschichte bilden könne, daß i n die Tierseele sich der Weltengeist hineinsenkt. D i e Seele des Menschen unterscheidet sich i m Sinne des Aristoteles v o n der Tierseele dadurch, daß sie heraufgehoben w o r d e n ist v o n dem, w o z u sie sich innerhalb der Tierentwicklung erhoben hat, bis z u den F u n k t i o n e n u n d Tätigkeiten, durch die sie i n den Besitz des Geistes gekommen ist. U n d w e n n der große K e p l e r sagt, daß die i n einsamer Studierstube gewonnenen Gesetze anwendbar sind auf die äußeren N a t u r e r eignisse, so erklärt sich das dadurch, daß der Weltengeist, der N u s , der Mahat, sich hineinsenkt u n d die Menschenseele eine weitere Stufe hinaufhebt. D i e Menschenseele w i r d gleichsam hinausgehoben aus dem Tiersein. D e r Geist ist es, der sie heraushebt. D e r Geist lebt i n der Seele. E r entwickelt sich aus der Seele heraus. E r entwickelt sich so, wie sich die Seele stufenweise aus d e m Körper heraushebt.
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A b e r gerade dieses letztere sagte Aristoteles nicht oder nicht klar. E r sagt z w a r immer wieder u n d wieder: die Seele entwickelt sich stufenweise bis z u r Menschenseele auf einem ganz naturgemäßen Wege - aber nun k o m m t d e r Geist v o n außen i n diese naturgemäß entwickelte Menschenseele hinein. N u s ist i m Sinne des Aristoteles etwas, was v o n außen d u r c h schöpferische Tätigkeit i n die Menschenseele hineingelegt w i r d . U n d das wurde das Verhängnis der Seelenwissenschaft des Abendlandes. Es ist das ein Verhängnis des Aristoteles, daß er nicht imstande ist, seine richtige A n s i c h t , daß durch das E i n s e n k e n des N u s i n die M e n schenseele diese Menschenseele heraufgehoben w i r d , z u einer Theorie des Geschichtsverlaufes z u gestalten. Diese E n t w i c k lung ist er nicht imstande ebenso naturgemäß z u begreifen, wie die E n t w i c k l u n g der Seele z u begreifen ist. Das haben aber schon griechische Weise, schon indische Weise getan. Sie haben K ö r per, Seele u n d Geist i n naturgemäßer Weise bis z u m Menschengeist i n ihrer E n t w i c k l u n g begriffen. B e i Aristoteles ist es ein B r u c h . E s k o m m t der Schöpfungsgedanke in die Auffassung h i n ein. W i r werden sehen, wie die theosophische Seelenlehre diesen Schöpfungsgedanken überwindet, wie sie dasjenige ist, was i m wahren Sinne die letzten Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, allerdings v o m geistigen Gesichtspunkte aus, zieht. A b e r n u r dadurch, daß w i r uns klarwerden, daß w i r wieder zurückkehren müssen z u r alten Einteilung i n Körper, Seele u n d Geist, n u r dadurch werden w i r diese naturgemäße E n t w i c k l u n g des Menschen w i r k l i c h verstehen. N i c h t aber dürfen w i r glauben, daß jemals auf dem durch die moderne Naturwissenschaft gepflegten, scheinbar unwiderlegten Wege, durch die Betrachtung der einzelnen Teile des Gehirnes, der Zugang zur Seele gefunden w i r d . Einsehen müssen wir, daß die Einwendungen des indischen Weisen Nagasena auch der heutigen naturalistischen Seelenlehre gegenüber gelten. Einsehen müssen w i r vor allen D i n g e n , daß tiefere, innere Selbstbeobachtung, tiefere Geistesforschung notwendig ist, u m den Zugang z u Seele u n d Geist z u finden. E i n e falsche Vorstellung macht man sich v o n denjenigen, welche glauben, daß die verschiedenen Religionsbekenntnisse 48
und die verschiedenen Weisen, welche aus den verschiedenen Religionsbekenntnissen hervorgegangen sind, das gesagt hätten, was die moderne Naturwissenschaft z u widerlegen sucht. Das haben sie nie gesagt, nie versucht. Wer die E n t w i c k l u n g der Seelenlehre verfolgt, der kann klar u n d deutlich sehen, daß die, w e l che v o n den M e t h o d e n der Seelenlehre etwas gewußt haben, niemals die M e t h o d e n der Naturwissenschaft angewendet haben, so daß sie sie widerlegen müßten. N i c h t diese können z u r Seele finden. O nein, auf diesem Wege haben die Seelenforscher, die noch gewußt haben, was Seele ist, niemals die Seele gesucht. Ich w i l l Ihnen einen nennen, den Verpöntesten unter den A u f klärern, den man aber auch am wenigsten kennt, ich w i l l mit ein paar W o r t e n v o n der Seelenlehre des 1 3 . Jahrhunderts sprechen, v o n der Seelenlehre des Thomas v o n A q u i n o . Es gehört z u den charakteristischen Eigenschaften dieser Seelenlehre, daß der A u tor derselben sagt: Dasjenige, was der Menschengeist mitnimmt, wenn er diesen Körper verläßt, dasjenige, was der Menschengeist i n die rein geistige Welt mitnimmt, das läßt sich nicht mehr vergleichen mit alledem, was der M e n s c h innerhalb seines Körpers erlebt. J a , Thomas v o n A q u i n o sagt, die Aufgabe der R e l i gion i n ihrem idealsten Sinne besteht darin, den Menschen dazu z u erziehen, daß er aus diesem Leibe etwas mitnehmen kann, was nicht sinnlich ist, was nicht an die Erforschung, an die B e trachtung u n d Erfahrung der äußeren N a t u r gebunden ist. Solange w i r i n diesem Körper leben, sehen w i r durch unser Auge u n d hören d u r c h unsere O h r e n Sinnliches. W i r nehmen durch unsere Sinnesorgane alles Sinnliche wahr. A b e r der Geist verarbeitet dieses Sinnliche. D e r Geist ist das eigentlich Tätige. D e r Geist ist dasjenige, was das E w i g e ist. U n d n u n beachten Sie die tiefe Anschauung, die da gewonnen w o r d e n ist auf G r u n d jahrtausendealter Seelenlehre, die sich in den W o r t e n ausdrückt: D e r jenige Geist, welcher wenig während dieses Lebens gesammelt hat, was unabhängig ist v o n äußerer sinnlicher Beobachtung, unabhängig ist v o m äußeren Sinnesleben, der ist nicht glückl i c h daran, w e n n er entkörpert ist. Thomas v o n A q u i n o sagt: Dasjenige, was w i r in unserer sinnlichen U m g e b u n g sehen, ist fortwährend durchdrungen v o n sinnlichen Phantasmen. - D e r 20
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Geist aber, gerade der Geist, den ich geschildert habe i m Sinne der Mathematik, geschildert habe als N u s , der sich ergibt i n einfacher A r t , wie sich aus dem Gestern u n d Heute das M o r g e n ergibt, dieser Geist, indem er sich frei macht, sammelt Früchte für die E w i g k e i t . U n e n d l i c h vereinsamt u n d leer fühlt sich der Geist - das ist Thomas von A q u i n o s Lehre - , wenn er i n das Geisterland eintritt, ohne so weit gekommen z u sein, daß er v o n allen Phantasmen der Sinnenwelt frei ist. D e r tiefe Sinn der griechischen M y t h e v o n dem T r i n k e n aus dem Lethestrom enthüllt sich uns damit als ein Gedanke: D e r Geist i n seinem rein geistigen Dasein w i r d immer höher u n d höher sich entwickeln, je freier u n d freier er w i r d v o n allen sinnlichen Phantasmen. Wer daher den Geist auf sinnliche A r t sucht, der kann i h n nicht finden; denn der Geist, w e n n er v o n der Sinnlichkeit frei geworden ist, hat nichts mehr mit der Sinnlichkeit z u tun. Thomas von A q u i n o verpönt daher auf das entschiedenste die M e t h o d e n , mit denen er auf sinnlichem Wege gesucht w i r d . Dieser Karchenlehrer ist ein G egner von j edem Experiment u n d Versuch, auf sinnlichem Wege i n Verkehr mit Entkörperten u n d Verstorbenen z u k o m m e n . D e r Geist muß am reinsten sein, wenn er von sinnlichen Phantasmen u n d v o n dem Haften an der Sinnlichkeit frei ist. Ist er das nicht, dann fühlt er sich i n der geistigen Welt unendlich vereinsamt. D e r Geist, der angewiesen ist auf die sinnliche Beobachtung, der aufgeht i n sinnlichen Beobachtungen, der lebt i n der geistigen Welt wie i n einer unbekannten Welt. Diese Vereinsamung ist sein Schicksal, sein L o s , w e i l er nicht gelernt hat, frei z u sein v o n sinnlichen Phantasmen. Dies werden w i r erst völlig durchdringen, wenn w i r z u m zweiten Vortrage k o m m e n . Sie sehen, gerade auf dem entgegengesetzten Wege wurde die Seele gesucht i n den Zeiten, i n denen die Innenbeobachtung, die Beobachtung dessen, was i m eigenen Inneren des Menschen lebt, den Ausschlag gegeben hat für die Seelenwissenschaft. Das ist dasjenige, was als ein G r u n d i r r t u m i n der modernen Wissenschaft lebt u n d was dazu geführt hat, geradezu das Schlagwort v o n der Seelenwissenschaft ohne Seele hinauszuposaunen als naturalistisches Glaubensbekenntnis des 1 9 . Jahrhunderts. Diese Wissenschaft, die bloß auf die äußeren Anschauungen geht, 5°
glaubt die A l t e n widerlegen z u können. A b e r diese Wissenschaft weiß nichts v o n den Wegen, auf denen die Seele gesucht worden ist. N i c h t s , nicht das geringste soll gesagt werden gegen die m o derne Wissenschaft. W i r w o l l e n i m Gegenteil gerade als Theosophen i m Sinne dieser modernen Wissenschaft das Gebiet der Seele so durchforschen, wie diese das Gebiet der rein räumlichen N a t u r durchforscht, aber w i r w o l l e n nicht i n der äußeren N a t u r die Seele suchen, sondern i n unserem Inneren. W i r w o l l e n den Geist suchen da, w o er sich enthüllt, indem w i r die Wege der Seele wandeln u n d durch Seelenerkenntnis zur Geist-Erkenntnis k o m m e n . Das ist der durch jahrtausendealte Lehren vorgeschriebene Weg, den man n u r verstehen muß, u m i h n i n seiner Wahrheit u n d Gültigkeit z u erfassen. Das macht uns aber auch klar u n d w i r d uns immer klarer machen, was der tiefere M e n s c h , wenn er die Seele erkennen w i l l , gerade an der modernen kalten Wissenschaft ebenso vermissen w i r d , wie es Goethe vermißt hat, als i h m diese kalte Wissenschaft im «Systeme de la nature» v o n H o l b a c h entgegengetreten ist. W i r können i n der äußeren N a t u r z w a r verfolgen, wie der M e n s c h sich hinsichtlich der Äußerlichkeit entwickelt hat, wie er geworden ist, wie die M o n a d e i n den feineren Gebilden arbeitet, wie das mittlere Organsystem für einen A u s d r u c k der Seele gelten kann, aber das alles führt uns nur zur Erkenntnis der Äußerlichkeit. D a bleibt n o c h i m m e r die große Frage nach dem Schicksal des Menschen. H a b e n w i r einen Menschen auch noch so gut verstanden i n bezug auf seine Äußerlichkeit, w i r haben i h n nicht verstanden, insofern er i n dieser oder jener Weise dieses oder jenes Schicksal hat, w i r haben nicht begriffen, welche R o l l e spielt das Gute u n d Böse, das V o l l k o m m e n e u n d U n v o l l k o m m e n e . Was der M e n s c h i m Inneren erlebt, darüber kann uns die äußere Wissenschaft keinen Aufschluß geben; darüber kann uns n u r die Seelenlehre, die auf Selbstbeobachtung gegründet ist, eine G e dankenantwort geben. D a n n k o m m e n die großen Fragen: W o her k o m m e n wir, w o h i n gehen wir, was ist unser Ziel? - diese größten Fragen aller Religionen. Diese Fragen, die den M e n schen erheben können z u erhabener Stimmung, diese Fragen werden es sein, die uns hinüberführen aus der Seelenwelt z u dem
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Geiste, z u dem die Welt durchflutenden Gottesgeist. Das muß der Inhalt des nächsten Vortrages sein: D u r c h die Seele z u m Geist. Das w i r d uns zeigen, daß es durchaus wahr ist - nicht bloß ein bildlicher A u s d r u c k - , daß auch die vollkommene Tierseele, die geworden ist d u r c h rein äußerliche E n t w i c k l u n g , i m M e n schen nur dadurch Menschenseele ist, daß sie heute ein n o c h H ö heres, ein Vollkommeneres darstellt, u n d daß sie die A n w a r t schaft, den K e i m z u einem n o c h weit Höheren, z u einem grenzenlos V o l l k o m m e n e n i n sich trägt; daß diese Menschenseele aber i m Sinne desselben Ausspruches als etwas z u gelten hat, was nicht den Geist u n d nicht die Seelenerscheinungen aus der T i e r heit hervorbringt, sondern daß das T i e r i m Menschen sich entw i c k e l n muß z u Höherem, u m dadurch seine Bestimmung, seine Aufgabe u n d auch sein Schicksal z u erhalten. Das drückt die mittelalterliche Seelenlehre mit den W o r t e n aus, daß nur der die Wahrheit i m w i r k l i c h e n Sinne erkennt, der sie nicht so betrachtet, wie sie i h m erscheint, w e n n er m i t äußerem O h r e hört, mit äußerem A u g e zuschaut, sondern so, wie sie erscheint, w e n n w i r sie i m Abglanze des höchsten Geistes sehen. So möchte i c h den ersten Vortrag mit den Worten schließen, die Thomas v o n A q u i n o i n seinem Vortrag gebrauchte: Des Menschen Seele gleicht dem M o n d e , der leuchtet, aber sein L i c h t v o n der Sonne empfängt. - Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, das nicht kalt u n d nicht w a r m für sich ist, sondern seine Wärme v o m Feuer erhält. - D i e Menschenseele gleicht nur einer höheren Tierseele, aber sie ist Menschenseele dadurch, daß sie ihr L i c h t v o n dem Menschengeist erhält. I m E i n k l a n g mit dieser mittelalterlichen Überzeugung sagt Goethe: «Des Menschen Seele/Gleicht dem W a s s e r : / V o m H i m m e l k o m m t e s , / Z u m H i m m e l steigt e s , / U n d wieder nied e r / Z u r E r d e muß e s , / E w i g wechselnd.» D a n n erst versteht man die Menschenseele, wenn man sie i n diesem Sinne faßt, wenn man sie faßt i n dem Sinne, daß sie begriffen w i r d als ein A b g l a n z der höchsten Wesenheit, die w i r überall i m Weltenall finden können, als ein Abglanz des das Weltall durchflutenden Weltengeistes. S
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Geist, Seele und Leib des Menschen
Wer heute ein populäres oder auch wissenschaftliches B u c h i n die H a n d nimmt, u m darin irgendwelche Belehrungen z u suchen über das Verhältnis des menschlichen Geist- u n d Seelenwesens z u der äußeren Leibesorganisation, der w i r d zumeist auf so etwas wie das folgende Gleichnis stoßen können: Daß die Sinneseindrücke, die der M e n s c h v o n der Außenwelt empfängt, gewissermaßen telegraphische Nachrichten seien, die zur Zentralstat i o n des Nervensystems, z u m G e h i r n , über die N e r v e n wie Drähte geleitet u n d v o n dort wiederum i n den Organismus ausgesendet werden, u m die Impulse des Wollens hervorzurufen, u n d so weiter. So einnehmend für manche heute ein solches oder ein ähnliches Gleichnis z u sein scheint, so kann man doch sagen, daß i m G r u n d e m i t einem solchen Gleichnis n u r verdeckt werden soll die Hilflosigkeit gegenüber dem großen Seelen- u n d Geisträtsel, das man einschließen kann i n die Worte, die den G e genstand der heutigen Betrachtung charakterisieren sollen: Geist, Seele u n d L e i b des Menschen. N u n habe ich schon i n den vorangehenden Vorträgen angedeutet, daß die heutigen Betrachtungen auf diesem Gebiete an einem G r u n d m a n g e l leiden. Gerade wenn man sich mit einer solchen Betrachtung auf den B o d e n der auf anderen Gebieten so erfolgreichen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise stellt, dann tritt einem heute n o c h die Unmöglichkeit i n den Weg, über das V o r u r t e i l h i n w e g z u k o m m e n , das da zusammenwirft i m menschlichen Wesen das Seelenleben mit den Wirksamkeiten des eigentlichen Geisteslebens. Seele und Geist werden heute fast überall i n naturwissenschaftlichen, i n philosophischen, i n p o p u lären Betrachtungsweisen durcheinandergeworfen. Es geht mit solchen Betrachtungen heute i n der Tat n o c h so, wie es einem C h e m i k e r gehen würde, der eine zusammengesetzte Substanz analysieren wollte u n d sich durchaus einbildete, es müßten zwei 21
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Glieder, z w e i Teilsubstanzen, i n dieser zusammengesetzten Substanz sein, der dann ganz unter diesem Vorurteil handelte u n d infolgedessen nichts Ordentliches herausbringen kann, w e i l er eben nicht berücksichtigt, daß die Untersuchung nur fruchtbar werden k a n n , w e n n er auf eine Dreigliedrigkeit losgeht. So bleiben die Untersuchungen heute häufig aus dem G r u n d e unfruchtbar - neben dem Umstände, daß sie es auch aus mannigfachen anderen Gründen sind - , w e i l man sich nicht lossagen w i l l von dem V o r u r t e i l , der M e n s c h könne betrachtet werden, ohne daß man seine Gliederung in die drei Wesenheiten, wenn i c h sie so nennen darf, oder i n die drei Wesensglieder L e i b , Seele u n d Geist, ins A u g e fasse. Ich habe auch schon i n einem früheren Vortrage angedeutet, daß es sich für dasjenige, was hier unter Geisteswissenschaft gemeint ist, darum handelt, ebenso von dem seelischen Leben aus die Brücke z u m Geist z u schlagen, wie es sich für die physische Wissenschaft u n d Biologie darum handelt, die Brücke z u schlagen v o m seelischen Leben herüber z u m leiblichen Wesen des Menschen. N o c h einmal möchte i c h auf das aufmerksam m a chen, worauf ich schon hingedeutet habe zur Erläuterung dessen, was eigentlich gemeint ist. Seelisches Erleben, allerdings i m w e i teren Sinne, ist es zweifellos - w e n n das seelische Erleben i n diesem Falle auch auf körperlichen u n d leiblichen Grundlagen beruht - , w e n n der M e n s c h Hunger, D u r s t , Sättigung, Atmungsbedürfnis u n d dergleichen empfindet. A b e r w e n n man auch diese Empfindungen n o c h so sehr ausbildet, wenn man n o c h so sehr versucht, den H u n g e r größer oder kleiner z u machen, u m i h n innerlich seelisch z u beobachten, oder w e n n man das Hungergefühl vergleicht mit der Sättigung u n d dergleichen, es ist unmögl i c h , durch diese bloße innere Beobachtung, durch das, was m a n seelisch erlebt, darauf z u k o m m e n , welche leiblichen, körperlichen Grundlagen diesem seelischen Erleben als Bedingung dienen. D a muß i n der Ihnen ja allbekannten Weise die Brücke durch wissenschaftliche M e t h o d e n so geschlagen werden, daß man übergeht v o n dem bloßen seelischen Erleben z u demjenigen, was sich, während dieses oder jenes seelische Erleben da ist, i n der leiblichen Organisation des Menschen abspielt. 22
Ebenso aber ist es unmöglich, z u irgendeiner fruchtbaren A n 54
schauung z u k o m m e n über den Menschen als Geistwesen, wenn man bloß stehenbleiben w i l l bei dem, was der M e n s c h innerlichseelisch i n seinem Vorstellungsleben, i n seinem Gefühlsleben, i n seinem Willensleben durchmacht. Vorstellungen, Gefühle, W i l lensimpulse sind ja der Inhalt der Seele. Sie wogen auf u n d ab i m alltäglichen wachen Tagesleben. M a n versucht, sie zuweilen dadurch z u vertiefen, daß man übergeht v o n dem bloßen alltäglichen seelischen Erleben i m Vorstellen, Fühlen, W o l l e n z u einer A r t mystischer Versenkung i n sein Inneres, z u einem vertieften D u r c h l e b e n desjenigen, was die Seele eben nach dieser R i c h t u n g h i n durchleben k a n n . A l l e i n , wieweit man auch gehen mag mit einem solchen mystischen Versenken, z u einer Geisterkenntnis des Menschen kann man durch solche M y s t i k , u n d sei sie noch so subtil, nicht k o m m e n . Es muß vielmehr, w e n n Geisterkenntnis angestrebt werden soll - allerdings nach der anderen Seite h i n , aber i n ebenso ernster wissenschaftlicher Weise - , die Brücke geschlagen werden v o n dem bloßen seelischen Erleben z u dem geistigen, wie auf dem Gebiete der physischen Wissenschaft d u r c h ernste, strenge M e t h o d e n die Brücke geschlagen w i r d von dem seelischen Erleben z u den leiblichen Vorgängen, z u den chemischen oder physischen Vorgängen, die dem Hungergefühl, dem Sättigungsgefühl, dem Atmungsbedürfnis u n d dergleichen zugrunde liegen. N u n kann man allerdings nicht i n einer ebensolchen Weise, wie man v o n der Seele übergeht z u der Betrachtung der leiblichen Organisation des Menschen, übergehen z u einer Betrachtung des geistigen Lebens des Menschen. D a sind andere M e t h o d e n notwendig. A u f diese M e t h o d e n habe ich schon i n einer prinzipiellen Weise hingedeutet. D i e Einzelheiten können natürlich i n einem k u r z e n Vortrage nicht erörtert werden. Sie finden sie i n den schon öfter genannten Büchern «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», i n meiner «Geheimwissenschaft», i n den Büchern «Vom Menschenrätsel», «Von Seelenrätseln» u n d so weiter. A b e r einige bemerkenswerte Eigenschaften jener M e t h o d e n , welche die Brücke schlagen können v o m gewöhnlichen menschlichen Seelenleben z u m geistigen Wesen des Menschen, möchte ich auch heute wiederum einleitungsweise vorbringen.
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D a handelt es sich vor allen D i n g e n u m eines - auch darauf habe i c h v o n anderen Gesichtspunkten aus i n diesen Vorträgen schon hingedeutet - , es handelt sich darum, daß gerade viele Seelenforscher der Gegenwart glauben, daß gewisse D i n g e einfach unmöglich sind, die für die Geistesforschung unbedingt angestrebt werden müssen. W i e oft findet man heute v o n Seelenforschern erwähnt, daß das eigentliche Seelenleben nicht beobachtet werden könne. M a n findet darauf hingewiesen, daß z u m Beispiel zarte Gefühle nicht beobachtet werden können, w e i l sie einem entschlüpfen, w e n n man mit der beobachtenden Seelentätigkeit an sie herantreten w i l l . Es w i r d mit Recht darauf hingewiesen, wie w i r uns gestört fühlen, wenn w i r z u m Beispiel etwas auswendig gelernt haben, es hersagen, u n d uns selbst beobachten w o l l e n . Das w i r d so angeführt, als ob es eine d u r c h greifende Eigentümlichkeit des Seelenlebens wäre. Gerade das ist aber notwendig einzusehen, daß, was da wie eine U n m ö g lichkeit, wie eine charakteristische Unfähigkeit des Seelenlebens hingestellt w i r d , gerade als geisteswissenschaftliche M e t h o d e angestrebt werden muß. Was der Biologe, was der Physiologe für den L e i b verrichtet, das verrichtet der Geistesforscher für den Geist, indem er v o n der bloßen alltäglichen u n d v o n der bloßen mystischen Selbstbeobachtung z u jener wahren Seelenbeobachtung aufzusteigen bestrebt ist, deren Unmöglichkeit mit dem erwähnten H i n w e i s e dargetan werden soll, daß w i r uns beim H e r sagen eines Gedichtes nicht selber beobachten können, w e i l w i r uns dadurch stören. N u n ist es ja nicht notwendig, daß man gerade i n solch äußerlichen D i n g e n , wie dem Hersagen eines memorierten Stoffes, z u einer Möglichkeit der Selbstbeobachtung k o m m t , o b w o h l das für den, der Geistesforscher werden w i l l , auch eine N o t w e n d i g k e i t ist. N o t w e n d i g aber ist es, daß der G e i stes- u n d Seelenforscher dazu vordringt, wirkliche Selbstbeobachtung dadurch z u erringen, daß er einen Vorstellungsverlauf, eine Gedankenfolge, auch den Verlauf von Willensimpulsen, von Gemütszuständen w i r k l i c h so v o r sich hat, daß er gewissermaßen, während das i n seiner Seele abläuft, wie sein eigener Z u schauer dabeisteht u n d sich w i r k l i c h innerlich selbst beobachten lernt, so selbst beobachten lernt, daß Beobachter u n d Beobach-
tetes eigentlich vollständig auseinanderfallen. Diese Möglichkeit w i r d oftmals als etwas sehr Leichtes hingestellt, u n d diejenigen, die dies als etwas sehr Leichtes hinstellen, o b w o h l sie natürlich sie nicht i n der ganzen Schwierigkeit ihres Wesens anstreben, die sind es auch, die da glauben, während der Naturwissenschaft strenge M e t h o d e n obliegen, sei Geisteswissenschaft irgend etwas, was leichten H e r z e n s auf leichte Weise erlangt werden könne. Z u w i r k l i c h e r Geistesforschung, die z u sagen vermag, worauf es dem geistigen Leben gegenüber ankommt, ist aber ebensolches, w e n n auch nur i m Geistigen angewendetes, methodisch strenges, geduldiges, energisches Fortschreiten i n einer bestimmten Weise notwendig, u n d zwar nicht nur wie das auf äußerlich naturwissenschaftlichem Gebiete geschieht, sondern so, daß der, der beides kennt, naturwissenschaftliches Forschen u n d geisteswissenschaftliches Forschen, sagen muß, daß gegenüber dem oftmals jahrelangen Streben, das notwendig ist, u m z u ernsten geisteswissenschaftlichen Resultaten z u k o m m e n , man sich die M e t h o d e n der Naturwissenschaft i m G r u n d e doch noch auf eine leichtere Weise aneignen kann. Für diese wahre Selbstbeobachtung w i r d eine Grundlage dadurch geschaffen, daß man versucht, ganz methodisch regelrecht den inneren W i l l e n des Menschen einzuführen i n das Vorstellungsleben. D a d u r c h gelangt man z u dem, was man i m wahren Sinne des Wortes, nicht i n einem dunklen, mystischen Sinne, nennen kann M e d i t a t i o n , meditatives inneres Leben. In unserem gewöhnlichen alltäglichen Bewußtsein sind w i r ja an solches meditatives Leben durchaus nicht gewöhnt, da richten w i r die Folge der Gedanken ganz nach dem Verlauf der äußeren Welt mit ihren Eindrücken ein; w i r lassen einen Gedanken auf den anderen folgen, je nachdem der äußere E i n d r u c k auf den andern folgt. D i e Folge der äußeren Eindrücke gibt uns den Faden, nach dem u n sere Gedanken verlaufen. A u f der Grundlage dessen, was sich dann der M e n s c h als eine Lebenserfahrung oder auch Lebensweisheit angeeignet hat, regelt er sich sein inneres Leben, seinen Gedankenverlauf, so daß er dann dazu k o m m t , v o n innen heraus seinen Gedanken Folge geben z u können. A l l e i n alles das kann höchstens Vorbereitung z u dem sein, was hier gemeint ist. Das 57
muß i n langsamer, geduldiger, energischer A r b e i t erlangt werden. Es w i r d dadurch erlangt, daß man zunächst die Vorsicht anwendet, i n seine Gedanken eine solche Regelmäßigkeit u n d dennoch, i c h möchte sagen, solche Willkür hineinzubringen, daß man sicher ist: In dem, was man so übt, w i r k t nichts v o n einer bloßen Reminiszenz, nichts v o n dem, was heraufsteigen kann aus irgendwelchen mehr oder weniger vergessenen Vorstellungswelten, Lebenserfahrungen u n d dergleichen. Daher ist es notwendig, daß derjenige, der z u r Geistesforschung k o m m e n w i l l , sich einlebt i n ein solches Verfolgen der Vorstellungen, die er sich i n übersichtlicher Weise selber zubereitet, oder v o n da oder dort her i n übersichtlicher u n d kunstgerechter Weise zubereitet erhält, daß er w i r k l i c h i n dem Augenblick, i n dem er sich diesem Vorstellungsverlaufe hingibt, sagen kann: Ich überschaue, wie ich die eine Vorstellung an die andere reihe, wie ich durch den W i l l e n beeinflusse den Vorstellungsverlauf. 23
Das alles muß man dahin bringen, daß es nichts weiter ist als eine Vorbereitung z u dem, was eigentlich für das Seelen- u n d Geistesleben eintreten soll. D e n n das muß zwar auf diese A r t sorgfältig vorbereitet werden, stellt sich aber i n einem bestimmten P u n k t der E n t w i c k l u n g als etwas Objektives ein, als eine v o n der geistigen Außenwelt kommende W i r k l i c h k e i t . N u r derjenige, der sich eine Zeitlang sorgfältig solchen inneren Übungen hingibt - es ist individuell verschieden, wieviel Zeit man dazu braucht - , d u r c h die er den W i l l e n i n die Vorstellungswelt einführt, d u r c h die er dahin k o m m t , sich z u sagen: Ich lasse die Vorstellungen nicht nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit oder nach der v o n außen aufgenommenen Gesetzmäßigkeit aufeinander folgen, sondern i c h bringe durch meinen W i l l e n selber jene Regelmäßigkeit i n mein Vorstellungsleben, w o d u r c h eine V o r stellung an die andere angereiht w i r d — der bringt es nach u n d nach dahin - , w e n n er i n die Vorstellungsfolge die Willkür eingeführt u n d wieder überwunden hat, etwas innerlich z u entdecken, das ebenso notwendig v o m geistigen Gebiete her eine Vorstellung, einen Gedanken an den anderen reiht, u n d so ein inneres Seelenleben, beherrscht v o n einer geistigen W i r k l i c h k e i t , hervorruft. W i e die äußere Beobachtung das Vorstellungsleben re-
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gelt u n d dadurch, daß die Folge der äußeren Ereignisse, die charakteristischen Eigenschaften der äußeren Wesenheiten, den Vorstellungen zugrunde liegen, N o t w e n d i g k e i t i n die Vorstellungen hineinbringt, so daß sie z u m Vermittler der äußeren W i r k l i c h k e i t werden, so w i r d nach u n d nach das Vorstellungsleben z u einem Vermittler einer geistigen W i r k l i c h k e i t . M a n m u ß n u r eben dasjenige, was hier gemeint ist, i n demselben Sinne als etwas ernst Wissenschaftliches erkennen wie die N a t u r w i s senschaft u n d sich nicht dem Vorurteil hingeben, daß man dad u r c h i n irgendwelche Phantastik hineingerät, w e i l man allerdings i n eine innere Willkür hineinkommt, u n d einsehen, daß man auf diese Weise ein geistig Lebendiges, ein geistig W i r k l i ches ergreifen k a n n , das v o n der anderen Seite her an unser V o r stellen herankommt, als die Seite ist, die der äußeren physischen W i r k l i c h k e i t entspricht. Es ist für denjenigen, der sich mit solchen D i n g e n nicht viel befaßt hat, ja zunächst schwierig, sich vorzustellen, was mit diesen D i n g e n eigentlich gemeint ist. A l lein diese D i n g e , die einer kommenden Geisteswissenschaft z u grunde hegen sollen, die eine kommende geisteswissenschaftliche Forschungsweise abgeben sollen, sind ebenso wie die naturwissenschaftlichen Verrichtungen i m L a b o r a t o r i u m u n d so w e i ter nichts weiter als feinere Ausbildungen der auch sonst i n der Außenwelt erfolgenden Hantierungen. Diese inneren, wenn ich m i c h des A u s d r u c k s bedienen darf, Hantierungen des Geistesforschers sind nichts anderes als die Fortsetzung desjenigen, was das Seelenleben sonst auch vollbringt, u m die Beziehung z w i schen menschlichem Seelenleben u n d Geistesleben herzustellen, die eigentlich immer da ist, die aber durch diese Übungen mehr oder weniger ins Bewußtsein hineingerufen w i r d . Ich möchte von etwas, das leichter verständlich sein kann, ausgehen, u m das, was i c h eigentlich meine, z u charakterisieren. W e r sich befaßt mit allerlei Betrachtungen über diese oder jene menschlichen oder sonstigen Lebensverhältnisse, der kann ja, w e n n er sich nach u n d nach eine E m p f i n d u n g dafür aneignet, Unterschiede herausfinden zwischen den Darstellungen des einen Menschen u n d den Darstellungen eines anderen Menschen. E r w i r d bei dem einen Schriftsteller finden, daß er mit dem, was 59
er sagt, ja recht gelehrt sein kann, recht streng seine bestimmte M e t h o d e handhaben kann, daß er aber durch die A r t , wie er die D i n g e sagt, i m G r u n d e recht fern steht dem, was sich eigentlich i n dem Wesen der D i n g e abspielt. Dagegen kann man bei einem anderen Schriftsteller oftmals, ohne daß man vielleicht geneigt ist, z u untersuchen, u m was es sich handelt, sich sagen: D e r ist einfach durch die A r t , wie er über die D i n g e spricht, ein den D i n g e n , ihrem inneren Wesen nahestehender M e n s c h . E r vermittelt einem, während man seine Zeilen liest, etwas, was einen so recht an die D i n g e heranbringt. Dafür ein Beispiel: M a n kann sehr viel haben gegen eine solche Kunstbetrachtung, wie sie der anregende, so sympathische Schriftsteller H e r man G r i m m geübt hat, aber man w i r d doch, wenn man dafür eine E m p f i n d u n g hat, selbst dann, wenn man oftmals mit irgendwelchen Ausführungen H e r m a n G r i m m s nicht einverstanden ist, wenn man i h n sogar dilettantisch findet gegenüber dem, was strenge Gelehrte z u sagen haben, zugeben müssen: In seinen Ausführungen liegt etwas, w o d u r c h man herangeführt w i r d an die K u n s t w e r k e , an die Künstler, an deren persönlichen Charakter sogar. E s ist, i c h möchte sagen, etwas von Atmosphäre i n den Schriften H e r m a n G r i m m s , die unmittelbar hinüberführt v o n dem, was er sagt, z u dem Wesen dessen, worüber er spricht. M a n kann sich die Frage vorlegen: W i e k o m m t ein solcher Geist dazu, sich gerade i n solcher charakteristischer Weise von anderen, die recht gelehrt sein mögen, z u unterscheiden? Für den, der gew o h n t ist, über solche Dinge nicht i m allgemeinen Abstrakten herumzureden, sondern wirkliche Gründe für eine solche E r scheinung z u suchen, für den kann sich dann eben das Folgende ergeben: Sie werden z u m Beispiel an einer Stelle - Sie können aber ähnliche Beobachtungen i n den Schriften H e r m a n G r i m m s auch an anderen Stellen machen —, w o H e r m a n G r i m m i n einem sehr schönen Aufsatz über Raffael spricht, auf einige Sätze stoßen, welche für den, der ein trockener, pedantischer, nüchterner Gelehrter ist, wahrscheinlich aufreizend, ärgerlich klingen m ö gen. D a sagt H e r m a n G r i m m , was man nach seiner M e i n u n g empfinden würde, w e n n einem heute Raffael begegnete, u n d wie man ganz anders empfinden würde, wenn einem heute M i c h e l 60
angelo begegnete. - N i c h t wahr, i n einer wissenschaftlichen A b handlung solches Zeug z u reden, ist ja für manche von vornherein Träumerei. Selbstverständlich, man kann ein solches U r t e i l durchaus begreifen. B e i H e r m a n G r i m m finden Sie an zahlreichen Stellen solche sonderbaren Bemerkungen. M a n möchte sagen, er gibt sich da v o n vornherein gewissen Vorstellungszusammenhängen hin, v o n denen er ja natürlich weiß, daß sie sich nicht i n der unmittelbaren W i r k l i c h k e i t realisieren können, u n d w i l l selbstverständlich auch gar nichts Besonderes i n bezug auf die äußere W i r k l i c h k e i t mit solchen Bemerkungen sagen. A b e r wer sich immer wieder u n d wieder gerade solchen Gedankengängen hingegeben hat, der hätte - allerdings jetzt nicht auf diesem G e biete, denn auf diesem Gebiete führen solche Gedankengänge z u gar nichts - w o h l aber auf anderen Gebieten, i n anderen P u n k t e n seiner Betrachtung, das Ergebnis, daß dann seine Seelenkräfte so i n Bewegung versetzt w o r d e n sind, daß er tiefer i n die Dinge hineinschauen k a n n , sie treffsicherer z u m A u s d r u c k bringen kann als andere, die es verschmähen, solche «unnötigen» G e d a n kengänge anzustellen. Das ist es, worauf es ankommt, u n d was ich hervorheben möchte. W e n n man Gedankengänge anstellt i n seinem Innern, nur u m diese Gedankengänge herzustellen, bloß u m sein D e n k e n i n Bewegung z u bringen, i n eine solche Bewegung z u bringen, daß es eine mögliche Beziehung zur W i r k l i c h k e i t hat, u n d w e n n man darauf verzichtet, mit diesen Gedankengängen etwas anderes z u w o l l e n als sein D e n k e n i n eine gewisse Entwicklungsströmung hineinzubringen, dann führt einen zunächst das, was man da tut, z u nichts anderem als z u einem Beweglicherwerden seines D e n kens, z u einem Beweglicherwerden der seelischen Fähigkeiten überhaupt. D i e F r u c h t davon tritt dann auf ganz anderen Gebieten der Betrachtung zutage. M a n muß beides streng voneinander scheiden können. Wer das nicht kann, wer da mit solch einem I n Bewegung-Bringen des Denkens etwas W i r k l i c h e s erfassen w i l l , wer etwas anderes w i l l als sein D e n k e n erst herzurichten, u m dann i n eine W i r k l i c h k e i t einzudringen, der k o m m t i n Phantastereien, i n Träumereien, i n allerlei Hypothesenmacherei hinein. Wer aber die Selbstbeherrschung u n d Selbstkontrolle hat, genau 61
z u wissen, daß ein solches In-Bewegung-Bringen des Denkens zunächst n u r subjektive Bedeutung hat, wer dann die Kraft, die aus einem solchen Sichbetätigen des Denkens i n der Seele w i r k t , in Bewegung bringt, für den treten die Früchte davon z u einer ganz andern Zeit ein. V o n da ausgehend war H e r m a n G r i m m w i r k l i c h imstande, i n seinen Abhandlungen über Macaulay, Friedrich den Großen u n d so weiter historische Bemerkungen z u machen, welche hart an das anklingen, was Geisteswissenschaft über das Leben der menschlichen Seele u n d des menschlichen Geistes z u sagen hat. Ich w i l l damit nicht sagen, daß H e r man G r i m m schon ein Geistesforscher war; das lehnt er ja gerade ab. Ich w i l l damit auch nicht sagen, daß das, was i c h bei i h m charakterisiert habe, mehr ist als etwas, was schon i m gewöhnlichen Bewußtsein v o r sich gehen kann. So etwas ausgebildet, so etwas immer weiter u n d weiter betrieben, das führt dazu, den W i l l e n einzuführen i n das Vorstellungsleben u n d die geistige N o t w e n d i g k e i t i m Vorstellungsleben z u ergreifen. D a z u muß allerdings etwas anderes k o m m e n . Ich habe auch darauf schon hingewiesen, daß ja i n der E n t w i c k l u n g des Geistesforschers dem eine besondere Wichtigkeit zugeschrieben werden muß, daß er sich an die sogenannten G r e n z p u n k t e des Erkennens hingeben kann. D u B o i s - R e y m o n d spricht v o n sieben Welträtseln, denen sich der M e n s c h gegenübergestellt sehen kann, als v o n G r e n z p u n k t e n , über die das menschliche E r k e n n e n nicht hinauskommen kann. W e n n der M e n s c h sich an solchen G r e n z p u n k t e n ein Doppeltes sagt, dann bilden sie gerade den Ausgangspunkt geisteswissenschaftlicher Untersuchungen. Das eine ist, daß man zunächst i m vollen inneren Leben empfindet, was mit einer solchen Grenzfrage eigentlich gesagt ist. Ich mache bei einer solchen Gelegenheit gern aufmerksam auf w i r k l i c h e , echte Ringer nach Erkenntnis. A l s B e i spiel sei angeführt Friedrich T h e o d o r V i s c h e r . A l s dieser das wichtige T h e m a der menschlichen Traumphantasie behandelte, kam er auf eine solche Grenzfrage. E r sagte sich: Betrachtet man das Verhältnis des menschlichen Seelenlebens z u m menschlichen Leibesleben, so muß man sich sagen: Es ist ganz gewiß, daß die Seele nicht i m Leibe sein kann, aber ebenso gewiß ist, daß die 2 4
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Seele nicht irgendwo außer dem Leibe sein kann. Wer solch ein D e n k e n entwickelt, das nicht nach landläufigen, schulmäßig gegebenen M e t h o d e n , sondern nach inneren notwendigen Strömungen des Seelenlebens nach Erkenntnis ringt, der k o m m t i n zahlreichen Fällen dahin, daß er sich sagen muß: D u stehst an einem P u n k t , w o alle die Vorstellungen, die sich dir ergeben haben aus deinen Sinnesbeobachtungen, aus dem ganzen bewußten Leben, das sich unter dem Einfluß der Sinnesbeobachtung Tag für Tag abspielt, d i c h gar nicht weiterführen. M a n kann n u n , wie das so vielfach i n der Gegenwart geschieht, an solchen G r e n z punkten stehenbleiben u n d sagen, n u n ja, da ist eben eine G r e n z e , darüber kann der M e n s c h nicht hinaus! M a n täuscht sich schon, indem man dies sagt. A b e r darüber w i l l ich nicht sprechen. Das, u m was es sich handelt, ist, daß man gerade an solchen G r e n z p u n k t e n versucht, mit dem vollen Leben der Seele einzudringen, daß man versucht, sich i n einen w i r k l i c h e n W i d e r spruch einzuleben, der die geistig-seelische W i r k l i c h k e i t uns darstellt, wie sich als äußere widerspruchsvolle W i r k l i c h k e i t darstellt, w e n n an einer Pflanze einmal ein grünes Pflanzenblatt, ein andermal ein gelbes Blumenblatt erscheint. In der W i r k l i c h k e i t realisieren sich auch die Widersprüche. W e n n man sie erlebt, statt mit seinem logischen D e n k e n , mit seiner gewöhnlichen, nüchternen Urteilskraft an sie heranzugehen, wenn man statt dessen an sie herangeht m i t dem vollen lebendigen inneren Seelenwesen, w e n n man einen W i d e r s p r u c h i n der Seele selbst sich ausleben läßt und nicht mit dem Vorurteil des Lebens an ihn herankommt und i h n auflösen w i l l , dann merkt man, wie er aufquillt, wie sich da w i r k l i c h etwas einstellt, das man mit folgendem vergleichen kann, wie ich das i n meinem Buche «Von Seelenrätseln» getan habe. W e n n ein niederes Lebewesen zunächst keinen Tastsinn hat, sondern n u r ein inneres wogendes Leben, u n d nach u n d nach i n der Außenwelt anstößt, so bildet sich das, was vorher nur inneres wogendes Leben war, u m i n Tastsinn - es ist das ja eine gebräuchliche naturwissenschaftliche Vorstellung - , und der Tastsinn wiederum differenziert sich, so daß gewissermaßen nach u n d nach i m Zusammenstoßen dieses inneren Lebens mit der 63
Außenwelt diese selber erst inneres Erlebnis w i r d . Dieses B i l d v o m Tastsinn kann man anwenden auf jenes seelisch-geistige E r leben, das beim Geistesforscher eintreten muß. Solchen G r e n z punkten des Erkennens gegenüberstehend, läßt er sie sich i n seiner Seele ausleben, läßt er sie i n ihrer Eigengeltung. D a n n ist es so, als w e n n das innere Leben nicht an eine physische Außenwelt stieße, sondern an eine geistige Welt u n d ein geistiger Tastsinn sich w i r k l i c h entwickelt, dann sich weiter differenziert u n d z u dem werden w i l l , was man i n übertragener Bedeutung mit Goethe Geistesaugen, Geistesohren nennen kann. Es ist allerdings weit h i n v o n einer Beschäftigung mit solchen Grenzfragen des Erkennens bis z u dem, was i c h i n meinem Buche «Vom M e n schenrätsel» schauendes Bewußtsein genannt habe. A b e r dieses schauende Bewußtsein kann entwickelt werden. Das ist das eine, was z u berücksichtigen ist. Das andere ist, daß man n u n gerade i n einer solchen inneren geistig-seelischen Betätigung erfährt, daß man nicht mit dem, was man auf der Grundlage der Beobachtung der Sinneswelt an Urteilskraft gewonnen hat, i n die geistige Welt darf eindringen wollen, nicht einmal i n dem negativen Sinne, daß man sagt, es könne das menschliche E r k e n n e n an diesem P u n k t über sich selbst nicht hinaus. M a n muß vielmehr darauf verzichten, i n die geistige Welt einzudringen mit dem, was man vorher i n der Seele hatte, bevor m a n sich erst durch diese u n d ähnliche Übungen bereit machte, i n die geistige Welt w i r k l i c h einzudringen. D a z u gehört eine gewisse Resignation, dazu gehört überhaupt Verzicht. Während i n der Regel der M e n s c h gewohnt ist, mit dem, was er an der äußeren Welt sich erobert hat, Hypothesen u n d allerlei logische Schlußfolgerungen aufzustellen über das, was jenseits der physischen Erfahrung sein könnte oder nicht sein könnte, muß der Geistesforscher es sich w i r k l i c h nicht nur z u einer inneren Überzeugung, sondern - ich sage ausdrücklich - z u einer inneren intellektuellen Tugend machen, das nicht z u gebrauchen für die Charakteristik der geistigen Welt, für die A n schauung der geistigen Welt, was n u r aus der physisch-sinnlichen W i r k l i c h k e i t stammt. Diesen V e r z i c h t muß man sich erst aneignen, er muß habituelle Eigenschaft der Seele werden, so daß 64
man es sich versagt, bloße H y p o t h e s e n oder bloße p h i l o sophische Erörterungen anzustellen über das, was jenseits der physisch-sinnlichen Beobachtung liegt. M a n ringt sich dann d u r c h z u der Erkenntnis, daß, u m i n die geistige Welt einzudringen, die Seele sich dafür selber erst reif machen muß. Das, was sich allmählich d u r c h das volle Festsetzen dieser intellektuellen Tugend ausbildet, unterstützt durch die Einführung des Willens in das Vorstellungsleben, wie i c h es geschildert habe, das bringt einen dahin, jene Selbstbeobachtung üben z u können, v o n der ich v o r h i n gesprochen habe, die w i r k l i c h i n die Lage k o m m t , gewissermaßen der eigene Zuschauer z u sein, während die G e danken, Gefühle u n d Willensimpulse ablaufen. N u r durch solche wahre Selbstbeobachtung gelangt der M e n s c h dazu, eine geistige Tätigkeit z u entwickeln, v o n der er durch Erleben weiß, sie w i r d nicht mit H i l f e des Leibes vollführt, sondern sie w i r d v o l l führt, indem der M e n s c h mit seinem wahren Ich nunmehr außerhalb des Leibes steht. Das ist eine Vorstellung, v o n der ja zugegeben werden muß, sie ist ganz ungewohnt für die Weltanschauungen, die ihre festen W u r z e l n aus jenem B o d e n ziehen, aus dem fast einzig u n d allein i n der Gegenwart die Weltanschauungen ihre W u r z e l n ziehen w o l l e n . D e n n alles geht i n diesen Weltanschauungen dahin, die Möglichkeit z u verneinen, daß der M e n s c h ein Seelenleben entw i c k e l n könne, das unabhängig v o m Leibe ist, u n d , wenn auf diese Weise die Ergebnisse der Selbstbeobachtung angeführt werden, sie z u kritisieren mit demjenigen, was man an der äußeren Welt gewonnen hat oder was sich für die Urteilskraft aus dieser äußeren Welt ergeben hat. D a m i t k o m m t man nicht z u recht. M a n schafft Mißverständnisse über Mißverständnisse aus dem einfachen G r u n d e , w e i l aller Geistesforschung ein gerade Entgegengesetztes zugrunde liegen muß v o n dem, was zugrunde liegen muß der naturwissenschaftlichen Denkungsweise, obw o h l Geistesforschung ganz nach dem M u s t e r naturwissenschaftlicher Forschung aufgebaut ist. D a werden das D e n k e n u n d der methodische A u s b a u des Denkens i m Experimentieren u n d so weiter so eingerichtet, daß der M e n s c h die v o n der Urteilskraft u n d dem Verstände ausgebildeten wissenschaftlichen M e 65
thoden anwendet, u m der N a t u r ihre Geheimnisse abzulauschen, daß er durch seinen Verstand die D i n g e i n diese oder jene Verbindung bringt, w o d u r c h sie i h r Wesen, ihre Geheimnisse aussprechen. Das ist ganz selbstverständlich auf dem B o d e n naturwissenschaftlicher Denkungsweise. A l l e i n dieselbe Kraft des Denkens und Vorstellens, die da verwendet w i r d , u m allerlei wissenschaftliche M e t h o d e n auszubilden, w i r d i n der Geisteswissenschaft dazu verwendet, die Seele erst vorzubereiten, damit sie dann beobachten k a n n , was das Ergebnis der Geisteswissenschaft ist. Das dient dazu, die Seele z u präparieren, damit sie auf eine v o m Leibe völlig freie Weise die Erscheinungen des Seelenlebens beobachten kann. D a d u r c h kann der M e n s c h herausrücken von der Seele z u m Geiste, wie er nach der andern Seite h i n durch wissenschaftliche M e t h o d e n herausgerückt w i r d von der Seele i n den L e i b . So daß man sagen k a n n , schon die ganze A r t des beweisenden, des urteilenden Denkens muß eine andere werden i n der Geisteswissenschaft. Sie darf nicht fehlen, aber was damit erreicht w i r d , ist dann nicht ein Erwägen nach Gründen u n d Folgen i n derselben Weise wie i n der äußeren Wissenschaft, sondern es ist ein Beobachtenkönnen, w e i l m a n die M e t h o d e n der äußeren Wissenschaft zuerst auf die E n t w i c k e l u n g der Seele selbst angewendet hat. So bereitet sich der Geistesforscher durch dieselben M i t t e l , mit denen die Wissenschaft sonst z u ihrem Schlußresultat k o m m t , i m A n f a n g vor, u m geistig beobachten z u können, so daß das Geistige für i h n eben als Erfahrung auftritt, wie für die äußeren Sinne die physisch-sinnliche Welt. D a d u r c h k o m m t dasjenige zustande, was ich ungern hellsichtiges Anschauen der geistigen Welt nenne, ungern aus dem G r u n d e , w e i l ja heute noch vielfach, w e n n man v o n einem hellsichtigen Anschauen der äußeren Welt spricht, auf ältere abnorme Zustände des menschlichen Seelenlebens hingewiesen w i r d u n d man absichtlich oder unabsichtlich die ernste, strenge M e t h o d e der Geisteswissenschaft verwechselt mit allerlei krankhaften u n d dilettantischen Methoden, durch welche die Menschheit heute oftmals i n die geistige Welt eindringen w i l l . U b e r solche D i n g e werde ich näher i n dem Vortrage über die «Offenbarungen des Unbewußten» sprechen. 26
M a n gelangt nunmehr dazu, das Seelenleben so z u beobachten, 66
daß die Beobachtung nicht bloß i m seelischen Erleben stehen bleibt, sondern auf den Geist hinweist. Z w e i Punkte möchte ich zunächst erwähnen, o b w o h l sie verhundertfältigt werden können, die aber wichtige K e r n p u n k t e sind. Indem der M e n s c h i n dieser Weise z u r wahren Selbstbeobachtung k o m m t , die außerhalb des Leibes ausgeführt w i r d u n d dadurch dem Geiste gegenübersteht, gelangt er dazu, als unmittelbares Beobachtungsresultat eine A n s c h a u u n g z u bekommen nicht nur über das Verhältnis des gewöhnlichen Wachens z u m gewöhnlichen Schlafen, sondern v o r allen D i n g e n über das, was die Phänomene des A u f w a chens u n d Einschlafens sind. Es ist einmal heute noch das Schicksal der Geisteswissenschaft, daß sie nicht nur v o n heute vielfach U n b e k a n n t e m spricht, sondern daß sie über das, was i n das Bewußtsein eines jeden Menschen hineinspielt, was eigentlich alltäglich Bekanntes ist, i n einer ganz andern Weise sprechen m u ß , als sonst gesprochen w i r d . D a z u k o m m t , daß die Geisteswissenschaft ja Worte verwenden muß, die geprägt sind für das äußere, gewöhnliche L e b e n . Das bietet viele Schwierigkeiten, da Geisteswissenschaft dieselben Worte zuweilen schon i n einer andern R i c h t u n g gebrauchen muß. Sie muß anknüpfen an bekannte Erscheinungen des Lebens, u m v o n diesen ausgehend i n das geistige Gebiet hineinleuchten z u können. D e n Wechselzustand v o n Schlafen u n d Wachen kennt ja der M e n s c h , w e n n man z u nächst v o m Bewußtseinsstandpunkt aus spricht, nicht v o m naturwissenschaftlichen Standpunkt - der soll heute nicht Gegenstand unserer Betrachtung sein - , auf der einen Seite als die Zeit, i n der das Bewußtsein des Menschen vorhanden ist v o m A u f w a chen bis z u m Einschlafen, u n d auf der andern Seite als die Zeit, i n der das Bewußtsein i n eine Finsternis hinuntergetaucht ist, i n das Schlafbewußtsein. D e r Geistesforscher weiß, daß es so schwach ist, daß man gewöhnlich v o m Nichtvorhandensein des Bewußtseins i m Schlafe spricht. N u n , diese beiden, für das Leben wahrhaftig gleich notwendigen Wechselzustände des menschlichen Wesens, sie sind geeignet, d u r c h eine wirklichkeitsgemäße Betrachtung schon ein Stück i n das Menschenrätsel hineinzuführen. V o n vornherein müßte ja jedem auffallen, daß das eigentliche menschliche Wesen unmöglich mit dem Einschlafen u n d
Aufwachen w i e d e r u m neu beginnen kann. Das, was i m M e n schen seelisch-geistiges Wesen ist, das sonst i m Wachzustande als Bewußtsein lebt, das muß auch i m Schlafe vorhanden sein. A b e r für das gewöhnliche Bewußtsein ist ja die Sache so, daß der M e n s c h i n eigener Selbstbeobachtung sich i m Schlafe nicht betrachten k a n n , daß er daher den Wachzustand mit dem Schlafzustand innerlich geistig nicht vergleichen kann. Äußerlich naturwissenschaftlich ist das eine andere Sache. N u n handelt es sich darum, daß man diesen D i n g e n näher k o m m t , wenn man w i r k lich von der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung zur geistigen Beobachtung i n der geschilderten Weise so aufsteigt, daß man ins innere geistige A u g e faßt das Vorstellungsleben, Gefühlsleben u n d Willensleben. Richten w i r unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das Vorstellungsleben. D e r M e n s c h betrachtet es i n der Regel so, daß er weiß: Ich b i n wach v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen. M e i n e Gedanken, herrührend von Wahrnehmungen oder auch innerlich aufsteigend, sie stellen sich hinein i n mein gewöhnliches Wachleben. E s kann das gewöhnliche Bewußtsein gar nicht z u einem andern U r t e i l k o m m e n . A n d e r s ist es, wenn das menschliche Seelenleben durch solche Übungen z u einer geistigen Beobachtung vorbereitet ist. D a gelangt man dazu, diese ganze innere Ausdehnungswelt, das Wachbewußtsein überhaupt, v o m A u f wachen bis z u m Einschlafen z u beobachten. Es ist merkwürdig, wie auch hier, wie auf so vielen anderen Punkten, ernsthafte N a turforscher heute sich begegnen mit dem, was Geisteswissenschaft v o n einer ganz andern Seite her zutage fördert. A b e r N a turforschung kann ja nur, ausgehend von der Leibesuntersuchung, die Brücke herüberschlagen z u m Seelenleben. Sie lehnt es heute n o c h ab, über dasjenige z u sprechen, über das hier gesprochen w i r d . D a h e r reden heute die Naturforscher, wenn sie v o n diesen D i n g e n reden, eine ganz andere Sprache als der Geistesforscher. A b e r die Dinge werden sich finden, so sicher zusammenfinden, wie die nach richtigen geologischen u n d geometrischen M e t h o d e n zur Herstellung eines Tunnels unternommene D u r c h b o h r u n g eines Berges sich i n der M i t t e zusammenfindet. So sind z u m Beispiel seit kurzer Zeit auf naturwissenschaftli68
chem Gebiete interessante Untersuchungen erschienen von dem Forscher Julius P i k l e r , der das Wachbewußtsein des Menschen ganz anders, als man es i n der Biologie bisher gewohnt war, ins A u g e faßt. N u r k o m m t er natürlich nicht darauf, so etwas geisteswissenschaftlich z u untersuchen. E r legt daher etwas z u grunde, was auch nicht viel mehr ist als ein W o r t . Pikler spricht v o n einem Wachtrieb, der den Menschen v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen einfach wachhält, der da ist, auch w e n n keine besonderen Gedanken u n d Vorstellungen vorliegen, der sich als solcher insbesondere i n der Langeweile zeigen soll. Darauf wollte i c h nur hinweisen, u m z u zeigen, wie auch v o n der andern Seite gebohrt w i r d . 27
Geisteswissenschaft kann nicht einfach da, w o eine Erscheinung vorhegt, irgendein W o r t oder irgendeine hypothetisch angenommene Kraft zugrunde legen, sondern muß beobachten. Sie beobachtet in der Tat das, was die menschliche Seele erlebt, indem sie i n dem für jeden erlebbaren Wachzustande ist. Sie beobachtet das gleichmäßige Hinfließen des bewußten Tageslebens v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen. Was findet die Geisteswissenschaft? Sie findet sich insbesondere dann zurecht, w e n n sie mit ihren Beobachtungsmethoden das H i n e i n d r i n g e n v o n G e danken u n d Vorstellungen i n diesen einfachen Wachzustand beobachtet. Was beobachtet der Geistesforscher, wenn er den r u h i gen Strom des Wachlebens verfolgt u n d dann das Hineindringen v o n Vorstellungen? D a ergibt sich für den Geistesforscher, daß der gewöhnliche helle Wachzustand, der sonst wie ein ruhiger Strom dahinfließt, unterbrochen w i r d dadurch, daß ein partielles Einschlafen im Gedankenfassen, i m Gedankenerleben eintritt. W i r wachen so, daß w i r fortwährend den Wachzustand herunterdämpfen z u einem partiellen Schlafen, indem w i r i n den Wachzustand die Vorstellungen hineinrücken. W i r lernen nur dadurch das Verhalten der Seele z u m Vorstellungsleben kennen, daß w i r beobachten können, wie der sonst intensive W a c h z u stand zwar nicht so stark herabgestimmt w i r d wie i m traumlosen Schlaf, daß er aber d o c h herabgestimmt w i r d u n d i n diese H e r a b stimmung jedesmal der Gedanke, der v o n einer Wahrnehmung hervorgerufen werden k a n n , hineinfällt. W i r machen also den 69
gewöhnlichen Wachzustand nicht i n einer gleichmäßigen Intensität durch, sondern er w i r d fortwährend abgedämpft u n d abgedämmert, indem w i r Gedanken fassen. Es setzt sich also i m V o r stellen, i m Gedankenleben das, was sonst i n stärkerer oder völliger A b s t u m p f u n g i m Schlaf vorhanden ist, ins Wachleben hinein fort. D a d u r c h k o m m t man darauf, das, was man sonst eigentlich als ein buntes Aufeinanderfolgen v o n Vorstellungen i m W a c h z u stande hat, n u n z u differenzieren. Was man sonst als Wachen u n d Schlafen mit einem einheitlichen Intensitätsgrad kennt, das muß man mit anderen Intensitätsgraden vorstellen lernen. M a n muß beobachten können völligen Wachzustand, abgeschwächten Wachzustand, weiter völligen Schlafzustand, abgeschwächten Schlafzustand u n d so weiter. So lernt man allmählich das, was sonst gar nicht beachtet w i r d , i m Bewußtseinsleben w i r k l i c h beachten. Indem man so hineindringt i n das gewöhnliche Seelenleben, gelangt man dazu, n u n auch den Wachzustand selber ins A u g e fassen z u können durch Beobachtung, z u der das geistige A u g e erst geschaffen sein muß, wie das physische A u g e für die Sinnenwelt geschaffen ist. D a n n braucht man keine Beweise für das, was man sieht, sondern man schaut es eben. D a gelangt man dazu, eine A n s i c h t als die richtige, als die unmittelbare, d u r c h Erfahrung gegebene einzusehen, v o n der i n der bisherigen Seelenlehre außerordentlich selten, aber d o c h einmal sehr schön gesprochen w i r d , nämlich v o n dem viel z u wenig beachteten Seelenforscher Fortlage. H i e r steht man an einem derjenigen Punkte, die so interessant sind für die E n t w i c k l u n g desjenigen, was heute zusammenfassend als Geistesforschung auftreten w i l l . Das ist nicht etwas völlig Neues, sondern etwas, was nur i n systematischer Zusammenfassung aufgebaut werden soll, wofür aber die Anfänge bei solchen, die auf diesem Gebiete da oder dort mit der Erkenntnis gerungen haben, schon zutage getreten sind. Fortlage spricht einmal dav o n , u n d E d u a r d v o n H a r t m a n n tadelt i h n deshalb, daß eigentlich das gewöhnliche Bewußtsein der menschlichen Seele ein fortwährendes abgeschwächtes Sterben sei. Es ist eine sonderbare, kühne Behauptung, aber eine Behauptung, die naturwissenschaftlich z u erhärten ist, o b w o h l die Naturwissenschaft die 28
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entsprechenden Tatsachen falsch deutet; man lese z u m Beispiel die Untersuchungen v o n G a s w i t z . Fortlage k o m m t darauf, einzusehen, daß das, w o d u r c h Bewußtsein entsteht, nicht allein beruht auf einem Zutagetreten des wachsenden, sprossenden, gedeihenden Lebens, sondern daß gerade, w e n n bewußtes L e ben i n der Seele auftritt, das sprossende, wachsende, gedeihende Leben i m menschlichen Organismus absterben muß, so daß w i r den T o d durch unser ganzes Leben partiell i n uns tragen, sofern es ein bewußtes ist. Indem w i r Vorstellungen b i l den, w i r d etwas i n unserm Nervensystem zerstört, das sich aber gleich nachher wieder neu bildet. D e m A b b a u folgt wieder ein A u f b a u . A u f Abbauprozessen, nicht auf sprossenden, sprießenden Aufbauprozessen, beruht das bewußte Seelenleben. Fortlage sagt sehr schön: W e n n dasjenige, was beim Bilden des Bewußtseins immer i n einem Teil des Leibes, i m G e h i r n , auftritt, das partielle Sterben, jedesmal den ganzen L e i b ergreifen würde, wie es der physische T o d tut, so würde der M e n s c h fortwährend sterben müssen. D e r physische T o d bringt für Fortlage nur einmal das summiert z u m A u s d r u c k , worauf das Bewußtsein fortwährend beruht. Daher kann Fortlage, freilich nur hypothetisch, w e i l er noch nicht Geistesschau hat, z u der Schlußfolgerung übergehen, daß er sagt, w e n n w i r es jedesmal, w e n n unser gewöhnliches Bewußtsein auftaucht, mit einem partiellen Tode z u tun haben, so ist der generelle T o d das A u f gehen eines Bewußtseins unter anderen Bedingungen, welches der M e n s c h dann für die geistige Welt entwickelt, wenn er durch die Pforte des Todes hindurchgeschritten ist. D a zeigt sich wie ein L i c h t b l i c k klar u n d deutlich, was Geisteswissenschaft genauer u n d i m m e r genauer entwickeln w i r d , indem sie ihre Beobachtungsmethoden auf das menschliche Wesen anwendet. 30
D a zeigt die Wissenschaft, daß das Gesamtwesen des M e n schen, das mit Recht heute v o n der einen Seite her unter den Entwicklungsgedanken gestellt w i r d , nicht bloß unter den Entwicklungsgedanken gestellt werden darf. Ich dehne jetzt diese Betrachtung nicht über den Menschen hinaus aus; w i r werden später eingehend über die N a t u r sprechen, w o solche 7i
Fragen behandelt werden können. Es muß, wenn man beim Menschen stehen bleibt, dieses Menschenwesen so betrachtet werden, daß man weiß, es findet eine Entwicklung v o n sprießendem, sprossendem, wachsendem L e b e n , aber fortwährend auch ein Abbauprozeß, rückschreitende E n t w i c k l u n g statt. D i e O r gane dieses Abbauprozesses, die Organe, i n denen nicht eine fortschreitende, sondern eine rückführende E n t w i c k l u n g stattfindet, sind i m menschlichen Leibe vorzugsweise das N e r v e n s y stem. Das seelische Bewußtsein greift in den Menschen ein dadurch, daß es die wachsenden, sprossenden Prozesse abwechseln läßt mit Prozessen, die eine rückläufige E n t w i c k l u n g darstellen. Das gesamte Wachleben v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen beruht darauf, daß mit dem Aufwachen das Seelisch-Geistige, das sich m i t dem Einschlafen v o m L e i b e getrennt hat, i n den L e i b untertaucht u n d das, was v o m Einschlafen bis z u m A u f w a c h e n fortschreitende E n t w i c k l u n g ist, i n bezug auf das Nervensystem sich i n rückschreitende E n t w i c k l u n g verwandelt. Indem der M e n s c h denkt, indem er vorstellt, muß er abbauen, muß er L e i chenprozesse i n seinen N e r v e n hervorrufen, u m dem W i r k e n des Geistig-Seelischen Platz z u machen. Das w i r d N a t u r w i s s e n schaft v o n der andern Seite i m m e r mehr bezeugen. D e r G e i stesforscher rückt v o m Geistig-Seelischen an das Leibliche heran u n d zeigt, daß, indem mit dem Aufwachen das Geistig-Seelische i n das Leibliche einströmt, abgebaut w i r d , bis der A b b a u so weit gediehen ist, daß wiederum die fortschreitende E n t w i c k l u n g mit dem Beginn des Schlafens auftreten muß. D e r gleichmäßig fortschreitende Wachzustand beruht darauf, daß durch das SeelischGeistige i m menschlichen Leibe immer wieder ein ordnungsgemäßer, ein gesetzmäßiger Abbauprozeß, eine Rückentwicklung stattfindet, entgegengesetzt derjenigen Strömung, die lebt i n dem gewöhnlichen Wachen, die tätig ist i n den Kräften, die uns als K i n d wachsen u n d gedeihen lassen. Stellen w i r i n den gewöhnlichen Wachzustand das Vorstellen, den Gedanken hinein, so w i r k e n w i r wiederum entgegengesetzt. D a bringen w i r i n den Abbauprozeß v o n der Leibesseite aus Stücke von Fortentw i c k l u n g hinein, partielle Schlafzustände, so daß w i r sagen können: Abgeschwächt w i r d durch Prozesse, die ganz schwach 31
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dasjenige darstellen, was i m Wachstum vorhanden ist, jener Z u stand, der sich ausdehnt über das gewöhnliche Wachleben dadurch, daß abgebaut w i r d . N u n zeigt sich für den Geistesforscher, daß dieses A b b a u e n , dieser kontinuierlich fortschreitende Prozeß v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen, die W i r k u n g desjenigen ist, was der Geistesforscher mit der wahren Selbstbeobachtung als den Geist i m Menschen erkennt. Geist baut ab, u n d innerhalb dieses Abbaues machen sich wiederum jene Tätigkeiten des Vorstellens u n d Denkens geltend, i n denen die Seele die Aufbauprozesse benutzt, u m sie i n die geistigen Abbauprozesse hineinzustellen. H i e r sehen w i r ineinanderwirken Geistig-Seelisches u n d Leibliches. D e r Geistesforscher ist nicht geneigt, d i lettantisch über Geistig-Seelisches z u sprechen mit Außerachtlassung desjenigen, was sich i m Leibe abspielt, gerade weil er selber beobachtet, wie der Geist nicht so w i r k t , daß er die P r o zesse des Wachsens, der E n t w i c k l u n g , die reine Naturprozesse sind, z u m A u s d r u c k bringt, sondern diesen entgegengesetzte Prozesse. Indem der Geistesforscher das, was der Geist am Leibe vollbringt, kennenlernt, lernt er auch wieder erkennen, wie sich die Seele der Leibesprozesse bedient, u m die geistigen Prozesse abzudämpfen, indem sie die Vorstellungen hineinrückt i n den Abbauprozeß, den der Geist vollführt. D a m i t deute ich nur an, wie der Geistesforscher dazu k o m m t , das Wechselverhältnis, die Wechselwirkung des Geistigen, des Seelischen u n d des L e i b l i chen i m Menschen anzuschauen. So wie er auf der einen Seite i n den Vorstellungen, die i n den gewöhnlichen Wachzustand hineinspielen, ein partielles E i n schlafen erkennt, so lernt er auf der andern Seite erkennen, wie jedesmal, w e n n ein Willensimpuls sich i n das Seelenleben hineinstellt, dieser sich wie eine A r t Erhöhung des Wachzustandes, wie ein Aufwachen hineinstellt. Das Vorstellen ist wie ein Abdämpfen des Wachzustandes, der Willensimpuls wie ein Aufwachen, wie ein Aufleuchten desjenigen Zustandes, der fortlaufend ist v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen i n bezug auf das Willensleben, das ja so d u m p f ist, daß man es auch, w e n n man wacht, als ein Schlafleben bezeichnen kann. Was weiß der M e n s c h , indem er irgendeinen Willensimpuls ausführt, was da i n seinem A r m 73
vor sich geht? A b e r jedesmal w e n n ein Willensimpuls auftaucht, ist es wie ein A u f w a c h e n . D a m i t habe i c h Ihnen angedeutet, wie der wirkliche Beobachter, der z u r wahren Selbstbeobachtung aufgestiegen ist, das W i r ken der menschlichen Seelenkräfte und Geisteskräfte i m Geistigen auffassen kann. E r kann, i n d e m er mit seinen M e t h o d e n weiter vorrückt, gerade so, wie man das gewöhnliche, alltägliche Ich kennenlernt, dasjenige Ich kennenlernen, das er i n dieser Selbstbeobachtung i n sich selber erlebt, mit dem er eben die Selbstbeobachtung anstellt. Dieses Ich läßt sich nicht durch philosophische Spekulationen erkennen, es läßt sich nur erleben. W i r d es erlebt, dann lernt man durch unmittelbare Anschauung das k e n nen, was i c h jetzt skizzenhaft charakterisiert habe. D e r M e n s c h mit dem gewöhnlichen Bewußtsein kann gar nicht anders als glauben, indem er nur die wachsenden, sprossenden, sprießenden Entwicklungskräfte ins A u g e faßt, daß, indem das K i n d heranwächst aus der dumpfen Bewußtseinslage u n d allmählich dazu übergeht, Ich z u sagen, überhaupt z u m Selbstbewußtsein z u k o m m e n , allmählich aus den Entwicklungsvorgängen des L e i bes das, was i m Seelischen als I c h z u m A u s d r u c k k o m m t , sich heranentwickelt. Für den, der das Ich d u r c h wahre Selbstbeobachtung kennenlernt, w i r d klar, daß dies irrtümlich ist - aber es ist ein notwendiger Irrtum für das gewöhnliche Bewußtsein - , so wie es irrtümlich wäre, w e n n man glauben würde, w e i l der M e n s c h L u f t i n der Lunge hat, steige die L u f t , die er ausatmet, aus der Lunge heraus. H i e r kann man schon durch äußere, tatsächliche Beobachtung erfahren, daß es U n s i n n wäre, die Luft, die mit der menschlichen Lunge verbunden ist, als irgend etwas anzusehen, das aus der menschlichen Lunge entspringt. W i l l man die Luft erkennen, so muß man aus der Lunge herausgehen; w i l l man die L u f t i n ihrer eigenen Wesenheit erkennen, so muß man z u m äußeren L u f t r a u m übergehen. Dasselbe tut man, w e n n man i n der hier charakterisierten Weise z u r Selbstbeobachtung aufgestiegen ist. D a lernt man erkennen, daß das, was sich i m Leibe abspielt i n den fortlaufenden sprießenden, sprossenden Entwicklungsprozessen, z u dem I c h des Menschen, z u dem wahren Selbst sich so verhält wie die Lunge zur Luft. Sowenig
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die L u n g e Luftschöpferin ist, sowenig ist dieser menschliche L e i b irgendwie Ichschöpfer. N u r solange man das wirkliche G e i stig-Seelische nicht kennt, k o m m t man z u dem notwendigen Irrt u m , als ob dieses Ich irgend etwas mit d e m Leibe z u tun habe. D e r Geistesforscher geht aber durch seine M e t h o d e n bei der E r forschung des Ich hinaus aus dem Leibe, so wie der, der die L u f t für sich betrachten w i l l , aus der Lunge herausgeht. So k o m m t der Geistesforscher dazu, durch w i r k l i c h e Beobachtung z u erkennen, wie dieses Selbst, dieses Geistig-Seelische des Menschen - w e n n ich m i c h eines bildhaften A u s d r u c k s bedienen darf - , i n den physischen L e i b mit der Geburt, respektive Empfängnis eingeht, den es durch die Vererbungsströmung bekommt, wie dieses Ich, das aus der geistigen Welt herabsteigt, den L e i b hinzuerhält, so wie z u der L u f t die Lunge h i n z u k o m m t , daß der L e i b dieses Ich einatmet, u n d indem der M e n s c h durch die Pforte des Todes tritt, wieder ausatmet. Es ist das ein bildhafter A u s d r u c k für die Verbindung des Geistig-Seelischen, das aus der geistigen Welt heruntersteigt, mit dem Physisch-Leiblichen. W i e man, w e n n man die L u f t i n ihrer Wesenheit kennenlernt, diese Wesenheit i n dem äußeren L u f t r a u m , nicht i n der Lunge sucht, ebensowenig sucht man i n der äußeren physischen Leiblichkeit die Wesenhaftigkeit des geistig-seelischen Ich, sobald man das Ich w i r k l i c h kennengelernt hat. 32
Gerade dann aber ergibt sich für den Geistesforscher eine wesentliche Unterscheidung des Geistigen u n d des Seelischen auch beim Ubergang v o m Menschen z u der seelisch-geistigen U m g e bung, i n der der M e n s c h lebt mit jenem Teil seiner Wesenheit, der durch G e b u r t u n d T o d geht, der gegenüber der Vergänglichkeit des Leibes das E w i g e , Unsterbliche i m Menschen ist. Dieser Unterschied des Seelischen u n d des Geistigen ergibt sich dadurch, daß w i r i n dem Seelischen, das sich loslöst v o n dem M e n schen, das nicht unmittelbar mit dem Menschen verbunden ist, erkennen lernen etwas, das v o n dem, was man sonst i m Seelenleben erlebt als Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n , gewissermaßen nur ein verklungener G r u n d t o n ist. Ich möchte m i c h durch F o l gendes ausdrücken: N e h m e n w i r ein gesungenes L i e d . W i r können die Worte, w i r können das L i e d zunächst als D i c h t u n g be75
trachten u n d können diese Betrachtung fortsetzen in dem A n h ö ren des gesungenen Liedes. A b e r w i r können auch beim Singen absehen v o n dem Inhalt der Worte, v o n den Sätzen, u n d können auf das bloß Tonliche, auf das bloß Melodische achten, auf dasjenige also, das zutage tritt, w e n n w i r gerade v o n dem Inhaltlichen der Worte absehen. Es ist nur ein Vergleich, den ich brauche, aber der Vergleich hat reale Bedeutung i n bezug auf dasjenige, was i c h hier sage. Es läßt sich das ganze Erleben des Menschen i m Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n so ergreifen, daß man auch da einen U n t e r t o n erfassen kann, w e n n man nicht eingeht auf den Inhalt des Vorstellens, des Fühlens u n d Wollens, wie sie sich i m gewöhnlichen Bewußtsein darstellen. U m m i c h n o c h deutlicher auszudrücken, möchte i c h die Sache noch v o n einer andern Seite charakterisieren. Ihnen allen ist bekannt, daß gewisse orientalische Völker z u dem Geistig-Seelischen aufsteigen d u r c h M e t h o d e n , v o n denen i c h i n den Vorträgen, die ich hier gehalten habe, u n d auch i n meinen Büchern immer wieder gesagt habe, daß sie für unsere abendländische K u l t u r e n t w i c k e l u n g nicht i n derselben Weise anwendbar sind, daß vielmehr hier z u r bewußten Geistesforschung andere M e thoden angewendet werden müssen. A b e r es kann doch z u m Vergleich einiges herangezogen werden. Es ist Ihnen bekannt, daß die Morgenländer z u einem gewissen Erkennen des Seelischen - was sie vielleicht nicht zugeben, d o c h darauf k o m m t es jetzt nicht an — dadurch k o m m e n , daß sie mantrische Sprüche immer wieder hersagen. M a n lacht i m Abendlande über die W i e derholungen i n den Reden des B u d d h a u n d weiß nicht, daß für den morgenländischen Menschen diese Wiederholung gewisser Sätze eine N o t w e n d i g k e i t ist, w e i l dadurch eben ein gewisser U n t e r t o n i n der innerlichen Aufnahme des Stoffes erreicht w i r d , mit Außerachtlassung dessen, was unmittelbarer Inhalt ist. Es w i r d , i c h möchte sagen, i n der Seele gewissermaßen eine i n diesen Sprüchen lebende M u s i k gehört oder gesprochen. D i e Seele versetzt sich i n so etwas. In meinen Büchern können Sie finden, wie w i r das i n der abendländischen Geistesentwicklung auf eine geistig-seelischere Weise machen, daß w i r nicht i n ein solches Absingen oder Absprechen v o n mantrischen Sprüchen oder W i e -
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derholungen verfallen. A b e r was da auf andere Weise erreicht w i r d , kann erläutert werden dadurch, daß man aufmerksam macht, wie i m Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n etwas miterlebt w i r d , was ein G r u n d - oder U n t e r t o n ist. Verlegt man sich darauf, zur vollen Selbstbeobachtung z u k o m m e n , unter Aufrechterhaltung des Inhalts des Vorstellens, Fühlens u n d Wollens, wie Sie i h n i m gewöhnlichen Wachbewußtsein haben, so entdeckt man zumeist am leichtesten das W i r k e n des Geistes. Dagegen ist das Seelische ein Intimeres, das entzieht sich vielfach. M a n muß schon schwierige u n d langandauernde Übungen anstellen, wenn man darauf k o m m e n w i l l . Während man verhältnismäßig leichter darauf k o m m e n kann, wie der Geist abbaut i m fortströmenden Wachzustande, muß man feinere, intimere Übungen anwenden, u m z u beobachten, wie die Vorstellungen, die da auftauchen, partielle Schlafzustände sind. A b e r w e n n man dann z u diesem intimeren Erleben i m Seelischen k o m m t durch M e t h o d e n , wie i c h sie i n meinen Büchern beschrieben habe, so gelangt man auch von dem bloßen subjektiven Seelenleben i n das objektive Seelenleben hinaus. M a n verfolgt dann nicht bloß das Geistig-Seelische als solches, wie man die L u f t aus der Lunge i n den L u f t r a u m hinaus verfolgt, i n jenen Geistesraum hinaus, den der M e n s c h zwischen T o d u n d einer neuen G e b u r t durchlebt, i n einem rein geistigen Erleben, sondern man kann dann das Seelische verfolgen i n seinem Z u stande v o r der G e b u r t u n d i n seinem Zustande nach dem Tode. So sonderbar das für den heutigen Menschen noch klingt, diese D i n g e können erfahren werden. U n d auf G r u n d dieser Erfahrung, die der Orientale gerade auf eine dem intimen Seelenleben so naheliegende A r t ausbildet, k a m er eher als der Abendländer darauf, wie sich das gesamte menschliche Seelenleben i m wiederholten Erdenleben abspielt, wie sich das wiederholte Erdenleben w i r k l i c h als Beobachtungsresultat ergibt. Es ist ein Beobachtungsresultat des seelischen Erlebens. Das ewige Unvergängliche, das durch Geburten u n d Tode geht, i n seiner Geistigkeit z u erleben, ist n u n etwas anderes als dieses seelische Erleben, wie es i m wiederholten Erdenleben auftritt. Es ist wie eine Spezialisierung, eine Differenzierung des geistigen Erlebens.
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W i e man beim einzelnen M e n s c h e n i m seelischen D u r c h w i r ken des allgemeinen Geisteslebens das Vorstellen als ein partielles Schlafen hineinspielen sieht, so kann man i n der äußeren Welt beobachten - auf diese Dinge werde ich i n dem nächsten V o r trage genauer eingehen - , wie i n jenen Geistesraum, den man als Schauplatz des ewigen Geistigen i m Menschen entdeckt, h i n einspielt das Seelische, indem es spezialisiert das allgemein-ewige Geistesleben i n wiederholte Erdenleben, die allerdings einmal einen A n f a n g genommen haben u n d ein Ende nehmen werden. D a v o n werde i c h i n dem nächsten Vortrage sprechen. 33
D a z u gelangt man durch w i r k l i c h e A u s b i l d u n g der seelischen Fähigkeiten, die sich nicht jeder anzueignen braucht. A b e r jeder M e n s c h hat den Sinn für Wahrheit. W e n n dieser Sinn für Wahrheit nicht getrübt w i r d durch Vorurteile, die heute nur allzu leicht i n populären oder wissenschaftlichen Weltanschauungen z u finden sind, so w i r d man dem, was der Geistesforscher z u sagen hat, zustimmen können, auch bevor man selber ein G e i stesforscher geworden ist. D e n n der Seher unterscheidet sich v o n anderen Menschen - ich habe das auch hier schon als G l e i c h nis z u m A u s d r u c k gebracht - wie derjenige, der dem U h r m a c h e r zuschaut, v o n dem, der nur die U h r sieht. D e r die U h r sieht, der weiß, daß sie d u r c h intellektuelle Tätigkeit des Uhrmachers entstanden ist, dazu braucht man dem U h r m a c h e r nicht zugeschaut z u haben. Indem der Geistesforscher aus seiner Forschung heraus durch seherische Beobachtung schildert, wie zustande k o m m t , was i m alltäglichen Leben darinnen steht, w i r d derjenige, der dieses unmittelbar beobachtet, daraus überall die Bestätigung für das Gesagte finden, auch w e n n er nicht selbst ein G e i stesforscher ist. W e n n das auch heute noch wie etwas Paradoxes sich hineinstellt i n die allgemeine geistige K u l t u r e n t w i c k l u n g , wie der Geistesforscher z u denken hat über L e i b , Seele u n d Geist des Menschen, es w i r d sich i m Laufe der Zeit, indem die N a t u r wissenschaft entgegenarbeitet dem, was die Geistesforschung z u sagen hat, auch für die Geistesforschung dasjenige ergeben, was sich für die Naturforschung auch langsam u n d allmählich ergeben hat. Bedenken Sie nur, es hat ja auch eine Zeit gegeben, i n der gewisse Vorurteile das Entstehen von Physiologie u n d Biologie
i m heutigen Sinne verhindert haben. So hat man heute ein V o r u r teil dagegen, die Brücke z u schlagen v o m menschlichen Seelenleben z u dem hinüber, was i m menschlichen Leibe vor sich geht, während das Seelenleben dahinfließt. A n a t o m i e z u studieren, ist auch erst i m Laufe des Mittelalters aufgekommen. Vorher stand ein V o r u r t e i l dagegen, das, was sich da i m Leibe abspielt, h i n z u zufügen z u dem, was die Seele i m Innern erleben kann. In derselben Lage ist heute die Geisteswissenschaft. U n d wenn man es auch nicht glaubt, die heutigen Vorurteile sind v o n demselben Wert u n d stammen aus denselben Ursachen. W i e man i m M i t t e l alter den L e i b nicht sezieren lassen wollte, u m das, was sich i m Leibe abspielt, als Bedingung für das seelische Leben z u erkennen, so sträubt sich heute noch selbst der ernsteste Wissenschaftler dagegen, den Geist z u erforschen durch geisteswissenschaftliche M e t h o d e n . U n d wie das Mittelalter erst nach u n d nach dazu gekommen ist, die Untersuchung des Menschenleibes der W i s senschaft freizugeben, so w i r d auch die K u l t u r e n t w i c k l u n g der Menschheit es notwendig machen, daß auch die Erforschung des Geistes, der nicht einerlei ist mit der Seele, der Geisteswissenschaft freigegeben w i r d . O b man heute z u naturforscherisch denkenden Menschen, ob man z u sonstigen Seelenforschern geht u n d m i t geisteswissenschaftlichen Resultaten k o m m t , man erlebt w i r k l i c h dasselbe, nur auf einem andern Gebiete, w o v o n die Biographie Galileis erzählt. Bis z u Galileis Zeiten galt das alte n o c h gegenüber den Leibeserscheinungen z u überwindende Vorurteil, das sich durch eine mißverständliche Auffassung des Aristoteles durch das ganze Mittelalter fortgepflanzt hat, daß die N e r v e n aus dem H e r z e n entspringen. Galilei hatte einem Freunde die Mitteilung gemacht, daß das ein V o r u r t e i l sei. D e r F r e u n d war ein strenggläubiger Anhänger des Aristoteles. E r sagte, was i m Aristoteles steht, ist wahr, u n d da steht, daß die N e r v e n aus dem H e r z e n entspringen. D a zeigte Galilei dem Betreffenden an einer Leiche, wie der Augenschein lehre, daß die N e r v e n aus dem G e h i r n entspringen, nicht aus dem H e r z e n , daß Aristoteles das nicht beachtet hatte, w e i l i h m noch keine solche Leibesbeobachtung möglich war. D e r Aristoteles-Gläubige blieb trotzdem ungläu79
big. O b g l e i c h er sah, daß die N e r v e n aus dem G e h i r n entspringen, sagte er, der Augenschein spricht zwar für dich, aber A r i stoteles sagt anders, u n d w e n n ein W i d e r s p r u c h vorliegt z w i schen Aristoteles u n d der N a t u r , so glaube ich nicht der N a t u r , sondern Aristoteles. Das ist w i r k l i c h vorgekommen. U n d so ist es noch heute. G e h e n Sie heute z u denjenigen, die i m alten Sinne v o m philosophischen Standpunkt aus Seelenforschung begründen w o l l e n , gehen Sie z u denjenigen, die Seelenforschung auf naturforscherische A r t begründen w o l l e n , sie werden behaupten, daß man das, was aus dem Geiste oder Leibe stammend den seelischen Erscheinungen zugrunde liegt, bloß aus dem Seelischen heraus irgendwie z u erklären habe; u n d wenn man noch so sehr auf Tatsachen der geistigen Beobachtung hinweist - sie ist ja nicht so leicht anzustellen wie unsere naturwissenschaftliche Beobachtung, u n d geistige A n a t o m i e w i r d schwerer z u treiben sein als physische A n a t o m i e - , es w i r d einem heute aus demselben Geiste heraus erwidert werden: W e n n ein Widerspruch besteht zwischen dem, was W u n d t oder Paulsen oder irgendeine A u t o r i tät sagt, u n d demjenigen, was Geisteswissenschaft d u r c h geistige Beobachtung zeigt, so glauben w i r nicht der geistigen Beobachtung, sondern demjenigen, was i n den Büchern steht, an die w i r in dieser autoritätslosen Zeit gewöhnt sind. D e n n heute glaubt man ja nicht mehr an Autoritäten, sondern - allerdings so, daß man es nicht bemerkt - an das, was irgendwie offiziell abgestempelt ist. Geisteswissenschaft w i r d sich ebenso durchringen, wie sich Naturwissenschaft mit Bezug auf die Leibesforschung durchgerungen hat. Naturforscher wie D u B o i s - R e y m o n d u n d ähnliche sprechen davon, daß, w o das Übersinnliche beginne, Wissenschaft aufhören müsse. Ich habe schon i n einem früheren Vortrage auf den Irrtum hingedeutet, der da zutage tritt. W o d u r c h ist er entstanden? M a n hat zwar gefühlt - u n d D u B o i s - R e y m o n d fühlt es recht deutlich - , daß das menschliche Wesen i n einem Geistigen wurzelt. A b e r dieses Geistige muß erst durch A u s b i l d u n g v o n geisteswissenschaftlichen Methoden als der B o d e n erkannt werden, aus dem das Seelische des Menschen fließt. H a b e i c h einen B a u m v o r m i r u n d sehe, wie seine W u r z e l n i n den B o d e n hinein-
reichen, so kann i c h vielleicht ungehalten darüber sein, daß er m i r den A n b l i c k seiner W u r z e l n entzieht, u n d i c h w i l l den B a u m übersichtlich haben. D i e heutige Wissenschaft w i l l die Dinge übersichtlich machen, indem sie dasjenige ins Auge faßt, was sinnlich anschaubar ist; denn das Wurzelhafte i m geistigen B o den entzieht sich ihr. D i e Wissenschaft macht es wie jemand, der, u m einen B a u m übersichtlich, anschaulich vor sich z u haben, i h n aus dem B o d e n herausreißt oder herausgräbt. E r hat i h n dann übersichtlich v o r sich, aber der B a u m verdorrt. So hat die heutige Wissenschaft, die nicht auf den Geist eingehen w i l l , den B a u m der Erkenntnis ausgerissen. A b e r ebenso wahr, wie der aus seinem W u r z e l b o d e n herausgerissene B a u m , w e n n er auch übersichtlich anzuschauen ist, verdorrt, ebenso verdorrt die E r kenntnis, die m a n aus dem geistigen M u t t e r b o d e n herausreißt. E i n solcher A u s s p r u c h wie der v o n D u B o i s - R e y m o n d , daß die Wissenschaft da aufhört, w o das Übersinnliche anfängt, w i r d i n der Z u k u n f t z u der entgegengesetzten Überzeugung übergeleitet werden. M a n w i r d erkennen: W e n n man das Übersinnliche nicht anerkennen w i l l bis i n die Naturerscheinungen hinein, so reißt man den B a u m der Erkenntnis aus seinem M u t t e r b o d e n heraus u n d bringt die Erkenntnis z u m Verdorren. M a n w i r d i n Z u k u n f t nicht sagen, w o das Übersinnliche anfängt, hört die Wissenschaft auf, sondern man w i r d , w e n n man Wissenschaft auf die Weise begründen w i l l , daß m a n sie aus dem B o d e n des Übersinnlichen herausriimmt, erfahren, daß da, w o i m menschlichen G e i stesleben das Übersinnliche aufhört, Wissenschaft nicht gedeihen kann, daß da nicht außerhalb des Übersinnlichen eine w i r k liche Wissenschaft entstehen w i r d , sondern daß da, w o das Übersinnliche aufhört, es n u r eine tote Wissenschaft geben w i r d .
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Waren die ersten drei Vorträge dieser Ausgabe noch Hinführungen z u dem Gegenstand einer Seelenkunde, mit notwendigen methodischen Wegweisern, wie man sich ihr geisteswissenschaftlich nähern kann, so führt der folgende Vortrag mitten i n das Gebiet der menschlichen Seele hinein. Zentrale Begriffe des Seelenlebens werden im großen Zusammenhang des anthroposophischen Welt- und Menschenbildes charakterisiert. Dieser Vortrag ist der zweite aus der «Allgemeinen Menschenkunde», jenem pädagogischen «Gründungskurs» i m August/September 1 9 1 9 für das Lehrerkollegium der anschließend an diesen Kurs eröffneten ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart. N a c h dem ersten, i n die Aufgabe der Pädagogik einführenden Vortrag der «Allgemeinen Menschenkunde» beginnt in dem hier abgedruckten zweiten Vortrag die Betrachtung des Menschen vom seelischen Gesichtspunkt. W i r haben diesen Vortrag hier aufgenommen, weil die darin charakterisierten Elemente des Seelischen von grundlegender Bedeutung für eine anthroposophische Psychologie sind.
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Die vorgeburtliche und nachtodliche Wurzel des Seelischen in B i l d und K e i m
Jeder Unterricht i n der Z u k u n f t w i r d gebaut werden müssen auf eine w i r k l i c h e Psychologie, welche herausgeholt ist aus anthroposophischer Welterkenntnis. Daß der U n t e r r i c h t u n d das E r ziehungswesen überhaupt auf Psychologie gebaut werden müssen, erkannte man selbstverständlich an den verschiedensten O r ten, u n d Sie wissen ja w o h l , daß z u m Beispiel die i n der Vergangenheit i n sehr weiten Kreisen wirkende Herbartsche Pädagogik ihre Erziehungsmaßnahmen auf die Herbartsche Psychologie aufgebaut hat. N u n hegt heute u n d auch i n der Vergangenheit der letzten Jahrhunderte eine gewisse Tatsache vor, welche eigentlich eine w i r k l i c h e , eine brauchbare Psychologie gar nicht aufkommen ließ. Das muß darauf zurückgeführt werden, daß i n dem Zeitalter, i n welchem w i r jetzt sind, i n dem Bewußtseinsseelenzeitalter, bisher noch nicht eine solche geistige Vertiefung erreicht w o r d e n ist, daß man w i r k l i c h z u einer tatsächlichen Erfassung der menschlichen Seele hätte k o m m e n können. Diejenigen Begriffe aber, die m a n sich früher auf psychologischem Gebiete, auf dem Gebiete der Seelenkunde gebildet hatte aus dem alten Wissen n o c h des vierten nachatlantischen Zeitraumes heraus, diese Begriffe sind eigentlich heute mehr oder weniger inhaltleer, sind z u r Phrase geworden. Wer heute irgendeine Psychologie oder auch n u r irgend etwas i n die H a n d n i m m t , das mit Psychologiebegriffen z u tun hat, der w i r d finden, daß ein w i r k l i c h e r Inhalt heute i n solchen Schriftwerken nicht mehr drinnen ist. M a n hat das Gefühl, daß die Psychologen n u r mit Begriffen spielen. W e r entwickelt heute z u m Beispiel einen richtigen deutlichen Begriff von dem, was Vorstellung, was W i l l e ist? Sie können heute Definitionen nach Definitionen aus Psychologien u n d Pädagogiken nehmen über Vorstellung, über W i l l e : eine eigene Vorstellung über die Vorstellung, eine eigentliche Vorstellung v o m W i l l e n werden Ihnen diese Definitionen nicht geben kön34
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nen. M a n hat eben vollständig versäumt - natürlich aus einer äußeren geschichtlichen N o t w e n d i g k e i t heraus - , den einzelnen Menschen anzuschließen auch seelisch an das ganze Weltenall. M a n war nicht imstande z u begreifen, wie das Seelische des Menschen i n Zusammenhang steht mit dem ganzen Weltenall. Erst dann, w e n n man den Zusammenhang des einzelnen M e n schen mit dem ganzen Weltenall ins Auge fassen kann, ergibt sich ja eine Idee v o n der Wesenheit M e n s c h als solcher. Sehen w i r einmal auf das, was man gewöhnlich die Vorstellung nennt. W i r müssen ja Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n bei den K i n d e r n entwickeln. A l s o w i r müssen zunächst für uns einen deutlichen Begriff gewinnen v o n dem, was Vorstellung ist. Wer w i r k l i c h unbefangen das anschaut, was als Vorstellung i m Menschen lebt, dem w i r d w o h l sogleich der Bildcharakter der Vorstellung auffallen: Vorstellung hat einen Bildcharakter. U n d wer einen Seins-Charakter i n der Vorstellung sucht, wer eine wirkliche Existenz i n der Vorstellung sucht, der gibt sich einer großen Illusion h i n . Was sollte für uns aber auch Vorstellung sein, w e n n sie ein Sein wäre? W i r haben zweifellos auch SeinsElemente i n uns. N e h m e n Sie n u r unsere leiblichen Seins-Elemente, nehmen Sie nur das, was ich jetzt sage, ganz grob: z u m Beispiel Ihre A u g e n , die Seins-Elemente sind, Ihre Nase, die ein Seins-Element ist, oder auch Ihren Magen, der ein SeinsElement ist. Sie werden sich sagen, i n diesen Seins-Elementen leben Sie zwar, aber Sie können mit ihnen nicht vorstellen. Sie fließen mit Ihrem eigenen Wesen i n die Seins-Elemente aus, Sie identifizieren sich mit den Seins-Elementen. Gerade das ergibt die Möglickeit, daß w i r mit den Vorstellungen etwas ergreifen, etwas erfassen können, daß sie Bildcharakter haben, daß sie nicht so mit uns zusammenfließen, daß w i r i n ihnen sind. Sie sind also eigentlich nicht, sie sind bloße Bilder. Es ist der große Fehler gerade i m Ausgange der letzten Entwicklungsepoche der Menschheit i n den letzten Jahrhunderten gemacht w o r d e n , das Sein mit dem D e n k e n als solchem z u identifizieren. «Cogito, ergo sum» ist der größte Irrtum, der an die Spitze der neueren Weltanschauung gestellt worden ist; denn i n dem ganzen U m fange des «cogito» liegt nicht das «sum», sondern das «non
sum». Das heißt, soweit meine Erkenntnis reicht, b i n i c h nicht, sondern ist nur B i l d . N u n müssen Sie, wenn Sie den Bildcharakter des Vorstellens ins A u g e fassen, i h n vor allem qualitativ ins A u g e fassen. Sie müssen auf die Beweglichkeit des Vorstellens sehen, müssen sich gewissermaßen einen nicht ganz zutreffenden Begriff v o m Tätigsein machen, was ja anklingen würde an das Sein. A b e r w i r müssen uns vorstellen, daß w i r auch i m gedanklichen Tätigsein nur eine bildhafte Tätigkeit haben. A l s o alles, was auch nur B e wegung ist i m Vorstellen, ist Bewegung v o n Bildern. A b e r Bilder müssen B i l d e r v o n etwas sein, können nicht bloß an sich sein. W e n n Sie reflektieren auf den Vergleich mit den Spiegelbildern, so können Sie sich sagen: A u s dem Spiegel heraus erscheinen zwar die Spiegelbilder, aber alles, was i n den Spiegelbildern liegt, ist nicht hinter dem Spiegel, sondern ganz unabhängig v o n i h m irgendwo anders vorhanden, u n d es ist für den Spiegel ziemlich gleichgültig, was sich i n i h m spiegelt; es kann sich alles mögliche i n i h m spiegeln. - W e n n w i r genau i n diesem Sinne v o n der vorstellenden Tätigkeit wissen, daß sie bildhaft ist, so handelt es sich darum, z u fragen: W o v o n ist das Vorstellen B i l d ? Darüber gibt natürlich keine äußere Wissenschaft A u s k u n f t ; darüber kann nur anthroposophisch orientierte Wissenschaft A u s k u n f t geben. Vorstellen ist B i l d v o n all den Erlebnissen, die vorgeburtlich beziehungsweise v o r der Empfängnis von uns erlebt sind. Sie k o m men nicht anders z u einem w i r k l i c h e n Begreifen des Vorstellens, als w e n n Sie sich darüber klar sind, daß Sie ein Leben vor der G e b u r t , vor der Empfängnis durchlebt haben. U n d so wie die gewöhnlichen Spiegelbilder räumlich als Spiegelbilder entstehen, so spiegelt sich Ihr Leben zwischen T o d u n d neuer Geburt i n dem jetzigen Leben drinnen, u n d diese Spiegelung ist das V o r stellen. A l s o Sie müssen sich geradezu vorstellen - wenn Sie es sich bildhaft v o r s t e l l e n - , Ihren Lebensgang verlaufend zwischen den beiden horizontalen L i n i e n , begrenzt rechts u n d links durch G e b u r t u n d T o d . Sie müssen sich dann weiter vorstellen, daß fortwährend v o n jenseits der G e b u r t das Vorstellen hereinspielt und durch die menschliche Wesenheit selber zurückgeworfen w i r d . U n d auf diese Weise, indem die Tätigkeit, die Sie vor der
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Geburt
Tod
G e b u r t beziehungsweise der Empfängnis ausgeführt haben i n der geistigen Welt, zurückgeworfen w i r d durch Ihre L e i b l i c h keit, dadurch erfahren Sie das Vorstellen. Für w i r k l i c h E r k e n nende ist einfach das Vorstellen selbst ein Beweis des vorgeburtlichen Daseins, w e i l es B i l d dieses vorgeburtlichen Daseins ist. Ich wollte dies zunächst als Idee hinstellen - w i r k o m m e n auf die eigendichen Erläuterungen der D i n g e noch zurück - , u m Sie darauf aufmerksam z u machen, daß w i r auf die Weise aus den bloßen Worterklärungen, die Sie i n den Psychologien u n d Pädagogiken finden, herauskommen u n d daß w i r z u einem w i r k l i chen Ergreifen dessen, was vorstellende Tätigkeit ist, k o m m e n , indem w i r wissen lernen, daß w i r i m Vorstellen die Tätigkeit gespiegelt haben, die vor der G e b u r t oder Empfängnis v o n der Seele i n der rein geistigen Welt ausgeübt w o r d e n ist. Alles übrige Definieren des Vorstellens nützt gar nichts, w e i l man keine w i r k liche Idee v o n dem bekommt, was das Vorstellen i n uns ist. N u n w o l l e n w i r uns i n derselben A r t nach dem W i l l e n fragen. D e r W i l l e ist eigentlich für das gewöhnliche Bewußtsein etwas außerordentlich Rätselhaftes; er ist eine C r u x der Psychologen, einfach aus dem G r u n d e , w e i l dem Psychologen der W i l l e entgegentritt als etwas sehr Reales, aber i m G r u n d e genommen d o c h keinen rechten Inhalt hat. D e n n w e n n Sie bei den Psychologen nachsehen, welchen Inhalt sie dem W i l l e n verleihen, dann werden Sie immer finden: solcher Inhalt rührt v o m Vorstellen her. Für sich selber hat der W i l l e zunächst einen eigentlichen Inhalt nicht. N u n ist es wiederum so, daß keine Definitionen da sind für den W i l l e n ; diese Definitionen sind beim W i l l e n u m so schwieriger, w e i l er keinen rechten Inhalt hat. Was ist er aber eigentlich? E r ist nichts anderes, als schon der K e i m i n uns für
das, was nach dem Tode i n uns geistig-seelische Realität sein w i r d . A l s o w e n n Sie sich vorstellen, was nach dem Tode geistigseelische Realität v o n uns w i r d , u n d w e n n Sie es sich keimhaft i n uns vorstellen, dann bekommen Sie den W i l l e n . I n unserer Zeichnung endet der Lebenslauf auf der Seite des Todes, u n d der W i l l e geht darüber hinaus. W i r haben uns also vorzustellen: Vorstellung auf der einen Seite, die w i r als B i l d aufzufassen haben v o m vorgeburtlichen L e b e n ; W i l l e n auf der anderen Seite, den w i r als K e i m aufzufassen haben für späteres. Ich bitte, den Unterschied zwischen K e i m u n d B i l d recht ins A u g e z u fassen. D e n n ein K e i m ist etwas Überreales, ein B i l d ist etwas Unterreales; ein K e i m w i r d später erst z u einem Realen, trägt also der Anlage nach das spätere Reale in sich, so daß der W i l l e i n der Tat sehr geistiger N a t u r ist. Das hat Schopenhauer geahnt; aber er konnte natürlich nicht bis z u der Erkenntnis vordringen, daß der W i l l e der K e i m des GeistigSeelischen ist, wie dieses Geistig-Seelische sich nach dem Tode i n der geistigen Welt entfaltet. N u n haben Sie i n einer gewissen Weise das menschliche Seelenleben i n z w e i Gebiete zerteilt: i n das bildhafte Vorstellen u n d i n den keimhaften W i l l e n ; u n d zwischen B i l d u n d K e i m liegt eine G r e n z e . Diese G r e n z e ist das ganze Ausleben des physischen Menschen selbst, der das Vorgeburtliche zurückwirft, dadurch die B i l d e r der Vorstellung erzeugt, u n d der den W i l l e n nicht sich ausleben läßt u n d dadurch i h n fortwährend als K e i m erhält, bloß K e i m sein läßt. D u r c h welche Kräfte, so müssen w i r fragen, geschieht denn das eigentlich? W i r müssen uns klar sein, daß i m Menschen gewisse Kräfte vorhanden sein müssen, d u r c h welche die Zurückwerfung der vorgeburtlichen Realität u n d das Im-Keime-Behalten der nachtodlichen Realität bewirkt w i r d ; u n d hier k o m m e n w i r auf die wichtigsten psychologischen Begriffe v o n den Tatsachen, die Spiegelung desjenigen sind, was Sie aus dem Buche «Theosophie» schon kennen: Spiegelungen v o n Antipathie u n d Sympathie. W i r werden - u n d jetzt knüpfen w i r an das i m ersten V o r trage Gesagte an - , w e i l w i r nicht mehr i n der geistigen Welt bleiben können, herunterversetzt i n die physische Welt. W i r ent87
wickeln, i n dem w i r i n diese herunterversetzt werden, gegen alles, was geistig ist, Antipathie, so daß w i r die geistige vorgeburtliche Realität zurückstrahlen i n einer uns unbewußten A n t i pathie. W i r tragen die Kraft der Antipathie i n uns u n d verwandeln d u r c h sie das vorgeburtliche Element i n ein bloßes Vorstellungsbild. U n d m i t demjenigen, was als Willensrealität nach dem Tode hinausstrahlt z u unserem Dasein, verbinden w i r uns i n Sympathie. Dieser z w e i , der Sympathie u n d der Antipathie, werden w i r uns nicht unmittelbar bewußt, aber sie leben i n uns unbewußt, u n d sie bedeuten unser Fühlen, das fortwährend aus einem R h y t h m u s , aus einem Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie sich zusammensetzt.
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Vorstellung
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I Wille
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Sympathie
Fühlen W i r entwickeln i n uns die Gefühlswelt, die ein fortwährendes Wechselspiel — Systole, Diastole - zwischen Sympathie u n d Antipathie ist. Dieses Wechselspiel ist fortwährend i n uns. D i e Antipathie, die nach der einen Seite geht, verwandelt fortwährend unser Seelenleben i n ein vorstellendes; die Sympathie, die nach der anderen Seite geht, verwandelt uns das Seelenleben i n das, was w i r als unseren Tatwillen kennen, i n das Keimhafthalten dessen, was nach dem Tode geistige Realität ist. H i e r k o m m e n Sie z u m realen Verstehen des geistig-seelischen Lebens: w i r schaffen den K e i m des seelischen Lebens als einen R h y t h m u s v o n Sympathie u n d Antipathie. Was strahlen Sie n u n i n der Antipathie zurück? Sie strahlen das 88
ganze L e b e n , das Sie durchlebt, die ganze Welt, die Sie v o r der G e b u r t beziehungsweise v o r der Empfängnis durchlebt haben, zurück. Das hat i m wesentlichen einen erkennenden Charakter. A l s o Ihre Erkenntnis verdanken Sie eigentlich dem Hereinscheinen, dem Hereinstrahlen Ihres vorgeburtlichen Lebens. U n d dieses E r k e n n e n , das i n weit höherem Maße vorhanden ist, als Realität vorhanden ist v o r der G e b u r t oder der Empfängnis, w i r d abgeschwächt z u m B i l d e durch die Antipathie. Daher können w i r sagen: Dieses E r k e n n e n begegnet der Antipathie u n d w i r d dadurch abgeschwächt z u m Vorstellungsbild. W e n n die Antipathie n u n genügend stark w i r d , dann tritt etwas ganz Besonderes ein. D e n n w i r könnten auch i m gewöhnlichen Leben nach der G e b u r t nicht vorstellen, wenn w i r es nicht d o c h auch mit derselben Kraft i n gewissem Sinn täten, die uns gebheben ist aus der Zeit v o r der Geburt. W e n n Sie heute als physische Menschen vorstellen, so stellen Sie nicht mit einer Kraft vor, die i n Ihnen ist, sondern mit der Kraft aus der Zeit v o r der G e b u r t , die n o c h i n Ihnen nachwirkt. M a n meint vielleicht, die habe aufgehört mit der Empfängnis, aber sie ist noch immer tätig, u n d w i r stellen v o r mit dieser Kraft, die n o c h immer i n uns hereinstrahlt. Sie haben das Lebendige v o m Vorgeburtlichen fortwährend i n sich, nur haben Sie die Kraft i n sich, es zurückzustrahlen. D i e begegnet Ihrer Antipathie. W e n n Sie nun jetzt vorstellen, so begegnet jedes solche Vorstellen der Antipathie, u n d w i r d die Antipathie genügend stark, so entsteht das E r i n n e rungsbild, das Gedächtnis, so daß das Gedächtnis nichts anderes ist als ein Ergebnis der i n uns waltenden Antipathie. H i e r haben Sie den Zusammenhang zwischen dem rein Gefühlsmäßigen n o c h der Antipathie, die unbestimmt n o c h zurückstrahlt, u n d dem bestimmten Zurückstrahlen, dem Zurückstrahlen der jetzt n o c h bildhaft ausgeübten Wahrnehmungstätigkeit i m Gedächtnis. Das Gedächtnis ist n u r gesteigerte Antipathie. Sie könnten kein Gedächtnis haben, w e n n Sie z u Ihren Vorstellungen so große Sympathie hätten, daß Sie sie «verschlucken» würden; Sie haben Gedächtnis n u r dadurch, daß Sie eine A r t E k e l haben v o r den Vorstellungen, sie zurückwerfen - u n d dadurch sie präsent machen. Das ist ihre Realität. 89
Wenn Sie diese ganze P r o z e d u r durchgemacht haben, wenn Sie bildhaft vorgestellt haben, dies zurückgeworfen haben i m Gedächtnis u n d das Bildhafte festhalten, dann entsteht der Begriff. A u f diese Weise haben Sie die eine Seite der Seelentätigkeit, die Antipathie, die zusammenhängt mit unserem vorgeburtlichen L e b e n . Jetzt nehmen w i r die andere Seite, die des Wollens, was K e i m haftes, Nachtodliches i n uns ist. Das W o l l e n lebt i n uns, w e i l w i r mit i h m Sympathie haben, w e i l w i r mit diesem K e i m , der nach dem Tode sich erst entwickelt, Sympathie haben. Ebenso wie das Vorstellen auf Antipathie beruht, so beruht das Wollen auf S y m pathie. W i r d n u n die Sympathie genügend stark - wie es bei der Vorstellung war, die durch A n t i p a t h i e z u m Gedächtnis w i r d - , dann entsteht aus Sympathie die Phantasie. Genau ebenso wie aus der Antipathie das Gedächtnis entsteht, so entsteht aus S y m pathie die Phantasie. U n d b e k o m m e n Sie die Phantasie genügend stark, was beim gewöhnlichen Leben nur unbewußt geschieht, w i r d sie so stark, daß sie wieder Ihren ganzen Menschen durchdringt bis i n die Sinne, dann bekommen Sie die gewöhnlichen Imaginationen, durch die Sie die äußeren D i n g e vorstellen. W i e der Begriff aus dem Gedächtnis, so geht aus der Phantasie die Imagination hervor, welche die sinnlichen Anschauungen liefert. D i e gehen aus dem W i l l e n hervor. Es ist der große Irrtum, dem sich die Menschen hingeben, daß sie fortwährend i n der Psychologie erzählen: W i r schauen die D i n g e an, dann abstrahieren w i r u n d bekommen so die Vorstellung. Das ist nicht der Fall. Daß w i r z u m Beispiel die Kreide weiß empfinden, das ist hervorgegangen aus der A n w e n d u n g des Willens, der über die Sympathie u n d Phantasie zur Imagination w i r d . W e n n w i r uns dagegen einen Begriff bilden, so hat dieser einen ganz anderen U r s p r u n g , denn der Begriff geht aus dem Gedächtnis hervor. D a m i t habe i c h Ihnen das Seelische geschildert. Sie können unmöglich das Menschenwesen erfassen, wenn Sie nicht den U n terschied ergreifen zwischen dem sympathischen u n d antipathischen Element i m Menschen. Diese, das sympathische u n d das antipathische Element, kommen z u m A u s d r u c k an sich - wie i c h 90
es geschildert habe - i n der Seelenwelt nach dem Tode. D o r t herrscht unverhüllt Sympathie u n d Antipathie. Ich habe Ihnen den seelischen Menschen geschildert. D e r ist verbunden auf dem physischen Plan mit dem leiblichen M e n schen. Alles Seelische drückt sich aus, offenbart sich i m L e i b l i chen, so daß sich auf der einen Seite alles das i m Leiblichen offenbart, was sich ausdrückt i n Antipathie, Gedächtnis u n d Begriff. Das ist gebunden an die Leibesorganisation der N e r v e n . Indem die Nervenorganisationen gebildet werden i m Leibe, w i r k t darin für den menschlichen L e i b alles Vorgeburtliche. Das seelisch Vorgeburtliche w i r k t d u r c h Antipathie, Gedächtnis u n d Begriff herein i n den menschlichen L e i b u n d schafft sich die N e r v e n . Das ist der richtige Begriff der N e r v e n . Alles Reden v o n einer Unterscheidung der N e r v e n i n sensitive u n d motorische ist, wie ich Ihnen schon öfter auseinandergesetzt habe, nur ein U n s i n n . 35
U n d ebenso w i r k t W o l l e n , Sympathie, Phantasie u n d Imagination i n gewisser Beziehung wieder aus dem Menschen heraus. Das ist an das Keimhafte gebunden, das muß i m Keimhaften bleiben, darf daher eigentlich nie z u einem w i r k l i c h e n Abschluß k o m m e n , sondern muß i m Entstehen schon wieder vergehen. Es m u ß i m K e i m e bleiben, es darf der K e i m i n der E n t w i c k l u n g nicht z u weit gehen; daher muß es i m Entstehen vergehen. H i e r k o m men w i r z u etwas sehr W i c h t i g e m i m Menschen. Sie müssen den ganzen Menschen verstehen lernen: geistig, seelisch u n d leiblich. N u n w i r d i m Menschen fortwährend etwas gebildet, das immer die Tendenz hat, geistig z u werden. A b e r w e i l man es i n großer Liebe, allerdings i n egoistischer Liebe, i m Leibe festhalten w i l l , kann es nie geistig werden; es zerrinnt i n seiner Leiblichkeit. W i r haben etwas i n uns, was materiell ist, aber aus dem materiellen
Blut Erkennen Antipathie Gedächtnis Begriff
Wollen Sympathie Phantasie Imagination Nerv 9i
Zustand fortwährend i n einen geistigen Zustand übergehen w i l l . W i r lassen es nicht geistig w e r d e n ; daher vernichten w i r es i n dem M o m e n t , w o es geistig w e r d e n w i l l . Es ist das B l u t - das Gegenteil der N e r v e n . Das B l u t ist w i r k l i c h ein «ganz besonderer Saft». D e n n es ist derjenige Saft, welcher, w e n n w i r i h n aus dem menschlichen Leibe entfernen könnten - was innerhalb der irdischen B e d i n gungen nicht geht - , so daß er n o c h B l u t bliebe und durch die anderen physischen A g e n z i e n nicht vernichtet würde, dann als Geist aufwirbeln würde. D a m i t nicht das B l u t als Geist aufwirbele, damit w i r es so lange, als w i r auf der Erde sind, bis z u m Tode i n uns behalten können, deshalb muß es vernichtet werden. D a h e r haben w i r immerwährend i n uns: B i l d u n g des Blutes Vernichtung des Blutes, B i l d u n g des Blutes - Vernichtung des Blutes u n d so weiter durch E i n a t m u n g u n d Ausatmung. W i r haben einen polarischen Prozeß i n uns. W i r haben diejenigen Prozesse i n uns, die längs des Blutes, der Blutbahnen laufen, die fortwährend die Tendenz haben, unser Dasein ins G e i stige hinauszuleiten. V o n motorischen N e r v e n so z u reden, wie dies üblich geworden ist, ist ein U n s i n n , w e i l die motorischen N e r v e n eigentlich die Blutbahnen wären. I m Gegensatz z u m B l u t sind alle N e r v e n so veranlagt, daß sie fortwährend i m A b sterben, i m Materiellwerden begriffen sind. Was längs der N e r venbahnen liegt, das ist eigentlich ausgeschiedene Materie; der N e r v ist eigentlich abgesonderte Materie. Das B l u t w i l l immer geistiger werden, der N e r v immer materieller; darin besteht der polarische Gegensatz. W i r werden i n den späteren Vorträgen diese hiermit gegebenen G r u n d p r i n z i p i e n weiter verfolgen u n d werden sehen, wie ihre Verfolgung uns w i r k l i c h das geben kann, was uns auch i n bezug auf die hygienische Gestaltung des Unterrichts dienlich sein w i r d , damit w i r das K i n d z u r seelischen und leiblichen G e sundheit heranerziehen u n d nicht z u r geistigen und seelischen Dekadenz. Es w i r d deshalb so viel mißerzogen, w e i l so vieles nicht erkannt w i r d . So sehr die Physiologie glaubt, etwas z u haben, indem sie v o n sensitiven und motorischen N e r v e n spricht, so hat sie darin d o c h n u r ein Spiel mit Worten. V o n motorischen
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N e r v e n w i r d gesprochen, weil die Tatsache besteht, daß der M e n s c h nicht gehen kann, w e n n gewisse N e r v e n beschädigt sind, z u m Beispiel die, welche nach den Beinen gehen. M a n sagt, er könne das nicht, w e i l er die N e r v e n gelähmt hat, die als «motorische» die Beine i n Bewegung setzen. In Wahrheit ist es so, daß man i n einem solchen F a l l nicht gehen kann, weil man die eigenen Beine nicht wahrnehmen kann. Dieses Zeitalter, i n dem w i r leben, hat sich eben notwendigerweise i n eine Summe v o n Irrtümern verstricken müssen, damit w i r wieder die Möglichkeit haben, uns aus diesen Irrtümern herauszuwinden, selbständig als Menschen z u werden. N u n merken Sie schon an dem, was i c h jetzt hier entwickelt habe, daß eigentlich das Menschenwesen nur begriffen werden kann i m Zusammenhange mit dem Kosmischen. D e n n indem w i r vorstellen, haben w i r das Kosmische i n uns. W i r waren i m Kosmischen, ehe w i r geboren wurden, u n d unser damaliges E r leben spiegelt sich jetzt i n uns; u n d w i r werden wieder i m K o s mischen sein, w e n n w i r die Todespforte durchschritten haben werden, u n d unser künftiges Leben drückt sich keimhaft aus i n dem, was i n unserem W i l l e n waltet. Was i n uns unbewußt w a l tet, das waltet sehr bewußt für das höhere Erkennen i m K o s m o s . W i r haben allerdings selbst i n der leiblichen Offenbarung einen dreifachen A u s d r u c k dieser Sympathie u n d Antipathie. G e wissermaßen drei H e r d e haben wir, w o Sympathie u n d A n t i pathie ineinanderspielen. Zunächst haben w i r i n unserem K o p f einen solchen H e r d , i m Zusammenwirken v o n B l u t u n d N e r v e n , w o d u r c h das Gedächtnis entsteht. Überall, w o die Nerventätigkeit unterbrochen ist, überall, w o ein Sprung ist, da ist ein solcher H e r d , w o Sympathie u n d Antipathie ineinanderspielen. E i n weiterer solcher Sprung findet sich i m Rückenmark, z u m B e i spiel w e n n ein N e r v nach dem hinteren Stachel des Rückenwirbels hingeht, ein anderer N e r v v o n dem vorderen Stachel ausgeht. D a n n ist wieder ein solcher Sprung i n den Ganglienhäufchen, die i n die sympathischen N e r v e n eingebettet sind. W i r sind gar nicht so unkomplizierte Wesen, wie es scheinen mag. A n drei Stellen unseres Organismus, i m K o p f , i n der Brust u n d i m U n terleib spielt das hinein, da sind G r e n z e n , an denen Antipathie 93
und Sympathie sich begegnen. Es ist mit "Wahrnehmen u n d W o l len nicht so, daß sich etwas umleitet v o n einem sensitiven N e r ven z u einem motorischen, sondern ein gerader Strom springt über v o n einem N e r v e n auf den anderen, u n d dadurch w i r d i n uns das Seelische berührt: i n G e h i r n u n d Rückenmark. A n diesen Stellen, w o die N e r v e n unterbrochen sind, sind w i r eingeschaltet mit unserer Sympathie u n d Antipathie i n das Leibliche; und dann sind w i r wieder eingeschaltet, w o die Ganglienhäufchen sich entwickeln i m sympathischen Nervensystem. W i r sind m i t unserem E r l e b e n i n den K o s m o s eingeschaltet. Ebenso wie w i r Tätigkeiten entwickeln, die i m K o s m o s weiter z u verfolgen sind, so entwickelt wieder m i t uns der K o s m o s fortwährend Tätigkeiten, denn er entwickelt fortwährend die Tätigkeit v o n Antipathie u n d Sympathie. W e n n w i r uns als Menschen betrachten, so sind w i r wieder selbst ein Ergebnis v o n Sympathien u n d A n t i p a t h i e n des K o s m o s . W i r entwickeln Antipathie v o n uns aus: der K o s m o s entwickelt mit uns Antipathie; w i r entw i c k e l n Sympathie: der K o s m o s entwickelt mit uns Sympathie. N u n sind w i r ja als Menschen, indem w i r uns äußerlich offenbaren, deutlich gegliedert i n das Kopfsystem, i n das Brustsystem u n d i n das eigentliche Leibessystem mit den Gliedmaßen. N u n bitte i c h aber z u berücksichtigen, daß diese Einteilung i n gegliederte Systeme sehr leicht angefochten werden kann, w e i l die Menschen, w e n n sie heute systematisieren, die einzelnen Glieder hübsch nebeneinander haben w o l l e n . W e n n man also sagt: M a n unterscheidet am Menschen ein Kopfsystem, ein Brustsystem u n d ein Unterleibssystem mit den Gliedmaßen, dann muß nach A n s i c h t der Menschen jedes System eine strenge Grenze haben. D i e Menschen w o l l e n L i n i e n ziehen, w e n n sie einteilen, u n d das kann man nicht, w e n n man v o n Realitäten spricht. W i r sind i m K o p f hauptsächlich K o p f , aber der ganze M e n s c h ist K o p f , nur ist das andere nicht hauptsächlich K o p f . D e n n wie w i r i m K o p f e die eigentlichen Sinneswerkzeuge haben, so haben w i r über den ganzen L e i b ausgebildet zum Beispiel den Tastsinn u n d den Wärmesinn; i n d e m w i r daher Wärme empfinden, sind w i r ganz K o p f . W i r sind n u r i m Kopfe hauptsächlich K o p f , sonst sind w i r «nebenbei» K o p f . So gehen also die Teile ineinander, u n d w i r 94
haben es nicht so bequem mit den G l i e d e r n , wie es die Pedanten haben möchten. D e r K o p f setzt sich also fort; er ist nur i m Kopfe besonders ausgebildet. Ebenso ist es m i t der Brust. Brust ist die eigentliche Brust, aber nur hauptsächlich, denn der ganze M e n s c h ist w i e d e r u m Brust. A l s o auch der K o p f ist etwas Brust und auch der Unterleib mit den Gliedmaßen. D i e Glieder gehen also ineinander über. U n d ebenso ist es mit dem Unterleib. Daß der K o p f Unterleib ist, haben einige Physiologen bemerkt, denn die sehr feine A u s b i l d u n g des Kopf-Nervensystems liegt eigentlich nicht i n dem, was unser Stolz ist, i m G e h i r n , i n der äußeren H i r n r i n d e , sondern die liegt unter der äußeren H i r n r i n d e . Ja, der kunstvollere B a u , die äußere H i r n r i n d e , ist gewissermaßen schon eine Rückbildung; da ist der komplizierte B a u schon i n Rückbildung begriffen; es ist vielmehr schon ein Ernährungssystem i m Gehirnmantel vorliegend. So daß der M e n s c h , w e n n man das so vergleichsweise ausdrücken w i l l , sich auf seinen G e hirnmantel gar nichts Besonderes einzubilden braucht; der ist ein Zurückgehen des k o m p l i z i e r t e n Gehirns i n ein mehr ernährendes G e h i r n . W i r haben den Gehirnmantel mit dazu, daß die N e r ven, die mit dem E r k e n n e n zusammenhängen, ordentlich mit N a h r u n g versorgt werden. U n d daß w i r das über das tierische G e h i r n hinausgehende bessere G e h i r n haben, das ist n u r aus dem G r u n d e , w e i l w i r die Gehirnnerven besser ernähren. N u r dad u r c h haben w i r die Möglichkeit, unser höheres Erkennen z u entfalten, daß w i r die Gehirnnerven besser ernähren, als die Tiere es können. A b e r m i t dem eigentlichen Erkennen hat das G e h i r n u n d das Nervensystem überhaupt nichts z u tun, sondern nur mit dem A u s d r u c k des Erkennens i m physischen Organismus. N u n fragt es sich: W a r u m haben w i r den Gegensatz zwischen K o p f System - lassen w i r zunächst das mittlere System unberücksichtigt - u n d dem polarischen Gliedmaßensystem mit dem U n terleibssystem? W i r haben i h n , w e i l das Kopfsystem i n einem bestimmten Zeitpunkte «ausgeatmet» w i r d durch den K o s m o s . D e r M e n s c h hat durch die Antipathie des K o s m o s seine H a u p tesbildung. W e n n dem K o s m o s sozusagen gegenüber dem, was der M e n s c h i n sich trägt, so stark «ekelt», daß er es ausstößt, 9$
so entsteht dieses A b b i l d . I m K o p f e trägt w i r k l i c h der M e n s c h das A b b i l d des K o s m o s i n sich. Das r u n d geformte menschliche H a u p t ist ein solches A b b i l d . D u r c h eine Antipathie des K o s m o s schafft der K o s m o s ein A b b i l d v o n sich außerhalb seiner. Das ist unser H a u p t . W i r können uns unseres Hauptes als eines Organs z u unserer Freiheit deshalb bedienen, weil der K o s m o s dieses H a u p t zuerst v o n sich ausgestoßen hat. W i r betrachten das H a u p t nicht richtig, wenn w i r es etwa i n demselben Sinne intensiv eingegliedert denken i n den K o s m o s wie unser Gliedmaßensystem, m i t dem die Sexualsphäre ja zusammengehört. Unser Gliedmaßensystem ist i n den K o s m o s eingegliedert, u n d der K o s m o s zieht es an, hat m i t i h m Sympathie, wie er dem H a u p t gegenüber A n t i p a t h i e hat. I m H a u p t e begegnet unsere A n t i pathie der Antipathie des K o s m o s , die stoßen dort zusammen. D a , i n dem Aufeinanderprallen unserer Antipathien mit denen des K o s m o s , entstehen unsere Wahrnehmungen. Alles Innenleben, das auf der anderen Seite des Menschen entsteht, rührt her v o n dem liebevollen sympathischen Umschlingen unseres G l i e d maßensystems d u r c h den K o s m o s . So drückt sich i n der menschlichen Leibesgestalt aus, wie der M e n s c h auch seelisch aus dem K o s m o s heraus gebildet ist u n d was er i n seiner Trennung wiederum aufnimmt aus dem K o s m o s heraus. Sie werden daher auf Grundlage solcher Betrachtungen leichter einsehen, daß ein großer Unterschied ist zwischen der W i l l e n s b i l d u n g u n d der Vorstellungsbildung. W i r k e n Sie besonders auf die Vorstellungsbildung, w i r k e n Sie einseitig auf die Vorstellungsbildung, so weisen Sie eigentlich den ganzen M e n schen auf das Vorgeburtliche zurück, u n d Sie werden i h m schaden, wenn Sie i h n rationalistisch erziehen, weil Sie dann seinen W i l l e n einspannen i n das, was er eigentlich schon absolviert hat: in das Vorgeburtliche. Sie dürfen nicht z u viel abstrakte Begriffe i n das einmischen, was Sie i n der E r z i e h u n g an das K i n d heranbringen. Sie müssen mehr Bilder darin einmischen. Warum? Das können Sie an unserer Zusammenstellung ablesen. B i l d e r sind Imaginationen, gehen durch die Phantasie u n d Sympathie. B e griffe, abstrakte Begriffe, sind Abstraktionen, gehen durch das Gedächtnis u n d durch die Antipathie, k o m m e n v o m vorgeburt5,6
liehen L e b e n . W e n n Sie also beim K i n d e viele Abstraktionen anwenden, werden Sie fördern, daß das K i n d sich besonders intensiv verlegen muß auf den Prozeß des Kohlensäurewerdens, K o h lensäurebildens i m Blute, auf den Prozeß der Leibesverhärtung, des Absterbens. W e n n Sie dem K i n d e möglichst viele Imaginationen beibringen, w e n n Sie es möglichst so ausbilden, daß Sie i n Bildern z u i h m sprechen, dann legen Sie i n das K i n d den K e i m z u m fortwährenden Sauerstoffbewahren, z u m fortwährenden Werden, w e i l Sie es auf die Z u k u n f t , auf das Nachtodliche h i n weisen. W i r nehmen gewissermaßen, indem w i r erziehen, die Tätigkeiten, die vor der G e b u r t mit uns Menschen ausgeübt werden, wieder auf. W i r müssen uns heute gestehen: Vorstellen ist eine Bildtätigkeit, die herrührt v o n dem, was w i r vor der Geburt oder Empfängnis erlebt haben. D a ist mit uns v o n den geistigen Mächten so verfahren w o r d e n , daß Bildtätigkeit i n uns gelegt wurde, die i n uns nachwirkt n o c h nach der Geburt. Indem w i r den K i n d e r n Bilder überliefern, fangen w i r i m Erziehen damit an, diese kosmische Tätigkeit wieder aufzunehmen. W i r verpflanzen i n sie Bilder, die z u K e i m e n werden können, weil w i r sie hineinlegen i n eine Leibestätigkeit. W i r müssen daher, indem w i r uns als Pädagogen die Fähigkeit aneignen, i n Bildern z u w i r ken, das fortwährende Gefühl haben: d u w i r k s t auf den ganzen Menschen, eine Resonanz des ganzen Menschen ist da, wenn du in Bildern wirkst. Dieses i n das eigene Gefühl aufnehmen, daß man i n aller E r ziehung eine A r t Fortsetzung der vorgeburtlichen übersinnlichen Tätigkeit bewirkt, dies gibt allem E r z i e h e n die nötige Weihe, u n d ohne diese Weihe kann man überhaupt nicht erziehen. So haben w i r uns z w e i Begriffssysteme angeeignet: Erkennen, Antipathie, Gedächtnis, Begriff - W o l l e n , Sympathie, Phantasie, Imagination; z w e i Systeme, die uns dann i m speziellen A n wenden für alles dienen können, was w i r praktisch auszuüben haben i n unserer pädagogischen Tätigkeit. D a v o n w o l l e n w i r dann morgen weitersprechen.
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Der folgende Vortrag ist ein Vortrag aus dem Zyklus «Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen», vor M i t gliedern der Anthroposophischen Gesellschaft i m Herbst 1 9 2 1 i n Dornach gehalten. Für unseren Zusammenhang ist dieser Vortrag besonders bedeutungsvoll, weil Rudolf Steiner darin den Gesichtspunkt von Vorstellung und Bild, Wille und K e i m aus der «Allgemeinen Menschenkunde» aufgreift und von den makrokosmischen U r bildern der dreigliedrigen Menschenorganisation weitergeführt zur mikrokosmischen Dreigliederung der Seele.
Die Dreigliederung der Seele
W i r haben versucht, den Menschen z u betrachten, zusammenhängend mit dem U n i v e r s u m nach seiner F o r m u n d nach seinem Leben. W i r haben gesehen, wie der M e n s c h gewissermaßen nach dem Kopfende u n d nach dem Gliedmaßenende i n verschiedener Weise zugeordnet ist dem U n i v e r s u m . A l l e diese D i n g e gelten natürlich i m wesentlichen für den Zeitraum der menschlichen E n t w i c k l u n g , i n dem w i r stehen, der nachatlantischen Zeit, u n d Sie müssen sich ja klar darüber sein, daß eben das, was gesagt werden kann über Welterscheinungen, immer nur für gewisse E p o c h e n gilt, w e i l ja die Welt i n E n t w i c k l u n g ist u n d sich i n den aufeinanderfolgenden Stadien ihrer E n t w i c k l u n g radikal verändert. W i r haben gesehen, wie der M e n s c h sich i n bezug auf die F o r m gewissermaßen herausreißt aus seinem Zugeordnetsein dem Tierkreise, also gegenüber dem tierischen K o p f , der i m Tierkreis drinnen liegt, herausgehoben ist, gewissermaßen u m einen rechten W i n k e l gedreht ist. Dieser Teil des Menschen, dieses K o p f ende des Menschen ist ja erfüllt v o n einem Lebenswesen, das gewissermaßen z u der unorganischen, z u der leblosen N a t u r hinneigt. Es ist mehr oder weniger an diesem E n d e des Menschen untergehendes, ersterbendes L e b e n . A l s o w i r haben dieses E n d e des Menschen so v o r uns, daß s o w o h l die F o r m wie das L e b e n selbst nach dieser Seite h i n sich aus dem Zusammenhange m i t dem K o s m o s herausreißt; daß es dadurch, daß es sich herausreißt, sich gewissermaßen i n eine A r t v o n Erstarrung, i n eine A r t v o n beginnender Leblosigkeit bringt. 36
N u n ist das, was w i r so als Menschen an uns tragen, ja i m wesentlichen das Ergebnis der vergangenen E n t w i c k l u n g . Sie brauchen nur zunächst an das Individuelle des Menschen z u denk e n , u n d Sie werden sich erinnern, wie i c h wiederholt auseinandergesetzt habe, daß das H a u p t des Menschen eine M e t a m o r 99
phose des anderen M e n s c h e n ist aus dem früheren Lebenslaufe, daß also das H a u p t hinweist auf die Vergangenheit, während ja, wie w i r betonen mußten, der Gliedmaßenmensch hinweist auf die Z u k u n f t . A u c h sonst weist uns ja gerade dieses Hauptesende des M e n schen auf die kosmischen W e i t e n der Vergangenheit zurück. W i r wissen ja, daß das H a u p t der vorzügliche Träger der Sinnesorgane ist. W i r wissen aber, daß die Sinnesorgane ihre erste Anlage während der alten Saturnzeit erfahren haben. D i e ausgebildeten Sinne - es k o m m e n ja i m m e r auch wiederum Sinnesbildungen nach während der Sonnen- u n d M o n d e n z e i t - , aber die ausgebildetsten Sinne gehen also i n die frühesten Zeiten der kosmischen Erdenentwicklung zurück. Alles also am menschlichen H a u p t e weist auf die Vergangenheit zurück, u n d i n einer gewissen Beziehung kann man sagen: Indem sich während des Erdendaseins das Mineralreich ausgebildet hat, n i m m t das H a u p t des Menschen als die älteste B i l d u n g am stärksten an dieser Mineralisierung des Menschen teil. U n d indem der M e n s c h sich noch außerdem aus dem K o s m o s herausreißt, konserviert er i n einer gewissen Beziehung während seines Lebens zwischen G e b u r t u n d T o d diese erstens nicht mehr mit dem K o s m o s zusammenhängende F o r m , zweitens das ersterbende, sich mineralisierende Leben. So daß man sagen k a n n : Hätte der M e n s c h sich bewahrt seine tierische B i l d u n g , das heißt mit anderen W o r t e n , wäre sein H a u p t i n der Tierkreisrichtung drinnen geblieben, wäre i n i h m jenes w u c h t i gere Leben, das i m tierischen H a u p t e drinnen ist, dann würde der M e n s c h dadurch i n seinem H a u p t e ganz ein Ergebnis seiner Vorzeit sein. E r würde gewissermaßen i n seinem H a u p t e etwas an sich tragen, dem man unmittelbar ansehen würde, wie es sich ergibt aus der ganzen vergangenen kosmischen E n t w i c k l u n g . D a d u r c h aber, daß der M e n s c h das, was er da erhält als Ergebnis der vorhergehenden kosmischen E n t w i c k l u n g , herausreißt, dadurch zerstört er, vernichtet er i n einer gewissen Weise seine kosmische Vergangenheit. 37
U n d das ist etwas außerordentüch Wichtiges, daß w i r durch diejenigen Zusammenhänge, die w i r gestern u n d vorgestern vor unsere Seele geführt haben, erkennen, w i e der M e n s c h i n seiner ioo
Hauptesbildung i m G r u n d e genommen seine kosmische Vergangenheit vernichtet. Es ist so, daß der M e n s c h innerhalb seines Hauptes i n der Tat n o c h hinausgeht über den eigentlichen M i n e ralisierungsprozeß z u einer A r t außerordentlich feinen Verteilung der Materie. Es durchdringen ja selbstverständlich die organischen Gebilde auch das H a u p t . D a d u r c h ist eingebettet i n das Organische diese eigentlich n o c h über die mineralische Stufe hinausgehende Zerstäubung des materiellen Lebens. W e n n man i n richtiger Weise das H a u p t des Menschen ins A u g e faßt, so muß man sagen: Es ist dieses H a u p t der H e r d eines die Materie als solche vernichtenden Prozesses. Das Materielle w i r d vernichtet, u n d dadurch gerade w i r d das H a u p t als solches der Träger des besonderen seelischen Lebens. M a n kann nur sagen: der Träger des besonderen seelischen Lebens, denn gerade mit B e z u g auf die menschliche Hauptesbildung ist die materialistische A n s c h a u u n g durchaus falsch, so wie sie gewöhnlich auftritt. Indem durch die Anwesenheit des menschlichen H a u p tes i m Organismus der M e n s c h der Träger des Gedankenlebens w i r d , des Vorstellungslebens, beruht dieses ganze Vorstellungsleben darauf, daß eigentlich das materielle Leben zerstäubt. D a d u r c h aber, daß das materielle Leben zerstäubt, findet ein merkwürdiger Prozeß statt, den i c h Ihnen durch ein B i l d vor die Seele führen möchte. D e n k e n Sie sich einmal - wie gesagt, es ist ein B i l d , aber es IOI
w i r d Ihnen den sehr subtilen Vorgang, mit dem w i r es da z u tun haben, d o c h etwas vor die Seele rücken - , denken Sie sich einmal ein Gemälde, meinetwegen die Raffaelsche M a d o n n a . W i r haben natürlich, sonst würde das Gemälde i n der physischen Welt nicht vorhanden sein können, das, was w i r auf der Tafel haben, materiell. N u n denken Sie sich aber, das Materielle der Sixtinischen M a d o n n a würde ganz zerstäubt werden, z u Staub zerfallen, u n d es würde doch ein feines ätherisches Gewebe bleiben können. A l s o die Sixtinische M a d o n n a würde materiell zerstäuben, aber alles das, was i n dieser Materie gemalt ist, auch mit seiner F a r bentingierung, das würde ätherisch verbleiben, u n d jemand, der das ätherisch wahrnehmen könnte, würde, trotzdem das M a t e rielle jede Bedeutung verliert, er würde wahrnehmen können, was als ätherisches G e b i l d e zurückbleibt. So ist der Denkvorgang, so ist der Vorgang i n der Gedankenbildung. W e n n Sie sich bewußt werden i m gewöhnlichen Bewußtsein eines Gedankens, einer Vorstellung, so beruht dieses B e wußtwerden der Vorstellung, des Gedankens darauf, daß durch das Herausgehen aus dem ganzen K o s m o s , wie w i r das gestern u n d vorgestern gesehen haben, das Materielle jede Bedeutung verliert, der M e n s c h fortwährend genötigt ist, sein H a u p t gewissermaßen neu z u beleben, weil alle Einzelheiten des Hauptes fortwährend i m Zerfall, i m Ersterben sind. U n d während dieses E r sterbens hebt sich das Ätherische des Hauptes heraus (siehe Zeichnung Seite 101, rot außen), u n d dieses Herausheben des Ätherischen des Hauptes bedeutet das Fassen v o n Gedanken. Indem gewissermaßen abstäubt das Materielle u n d das Ätherische bleibt, w i r d sich der M e n s c h bewußt seiner Vorstellung. E r i n n e r n Sie sich, daß ich gesagt habe: In den Sinnen ist schon mehr oder weniger etwas wie ein physikalischer Apparat v o r handen. Das A u g e ist ein physikalischer Apparat, ist eben n u r v o n dem Ätherleib des Menschen durchwebt. D a ist es schon so, wie i c h es jetzt beschreibe für das übrige H a u p t , für das N e r v e n gewebe. So daß w i r folgendes sagen können - i c h bitte Sie, diesen Satz, den i c h jetzt aussprechen werde, recht genau ins A u g e z u fassen: In den Sinnen, also namentlich i n den Hauptessinnen, ist abgesondertes ätherisches Wesen während der Wahrnehmung
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webend. — A b e r insofern w i r i n den Sinnen leben, haben w i r eine A r t freien ätherischen Prozesses, der sich abspielt i n der Sinnensphäre. N e h m e n Sie das A u g e . Es ist ein physikalischer Apparat, aber es ist durchzogen v o n dem Ätherischen. U n d i n diesem Durchziehen eines Unorganischen, eines solchen, welches fortwährend zerfallen w i l l , das eigentlich ein Mechanisches, man möchte sagen, ein Untermechanisches darstellt, i n dem lebt frei das ätherische Wesen. So ist es für die Sinnesregion. Für die Nervenregion, die ja die Fortsetzung der Sinnesregion nach innen ist, ist es so, daß zwar die Nervenregion i n n i ger verbunden hat den Ätherleib mit der Materie, aber fortwährend w i l l unser gesamtes Nervenleben Sinnesleben werden. A l s o stellen Sie sich v o r : Sie sehen, sagen w i r , irgendeine farbige Fläche. D a haben Sie zunächst die Sinneswahrnehmung. D a ist es so, daß der Ätherleib frei webt. Indem Sie jetzt absehen v o n der Sinneswahrnehmung u n d sich dem Nervenleben überlassen, w i r d das ganze Nervenwesen Sinneswesen: da ist die V o r stellung i n Ihrem Bewußtsein anwesend. M a n möchte sagen: Insofern der M e n s c h Nervenmensch ist, w i r d er in der Vorstellung d u r c h u n d d u r c h Sinneswesen. D a n n k o m m t die R e a k t i o n . D i e Sinne, sie sind nach dem Physikalischen h i n orientiert. D i e vertragen ein fortwährendes A u f n e h m e n . D e r Organismus der N e r v e n , der n i m m t auf i n sich, was i h m die Sinne darbieten. E r gestaltet sich u m z u m Sinneswesen. A b e r damit ertötet er sich. E r würde ganz Auge oder ganz O h r oder so etwas werden. D a m i t er das nicht w i r d , durchdringt i h n wiederum das V i t a l p r i n z i p , das Lebensprinzip aus dem übrigen Organismus. D e r M e n s c h läßt gewissermaßen die Vorstellung hinschwinden. So daß w i r sagen können: N a c h d e m Kopfende h i n vernichtet der M e n s c h seine Vergangenheit. D a d u r c h w i r d er als Nerven-Sinnes-Mensch der Träger v o n B i l d e r n , hat er ein B i l d - E r l e b e n ; ein B i l d - E r l e b e n , das i m Ätherischen webt. Sie sehen, man kann, w e n n man geisteswissenschaftlich-anthroposophisch vorgeht, dieses Gedankenleben, wie es i n Bewußtsein urständet, durchaus beschreiben. U n d es ist notwen-
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dig, daß man z u r A n t h r o p o s o p h i e greift, u m dieses Leben der Gedanken i m Bewußtsein z u beschreiben. W i r können also sagen: Indem der M e n s c h das Kopfende der F o r m nach entwickelt, entwickelt er es i n dem Sinne, daß er für die heutige Zeit ausgesetzt ist den E i n w i r k u n g e n jener Kräfte, die sich i m K o s m o s entwickeln, w e n n die Sonne i m Zeichen der Fische, des W i d d e r s , des Stiers u n d so weiter steht; aber der M e n s c h hebt seinen K o p f der F o r m nach heraus. D a d u r c h w i r d er nicht tierischer K o p f , sondern er wendet sich, dieser M e n s c h , man möchte sagen, i n die Menschenvertikale, während das Tier i m Tierkreis stehenbleibt. Wenn w i r das Leben betrachten, so können w i r sagen: N a c h dem Kopfende z u entwickelt sich das Leben unter der E i n w i r k u n g der äußeren Planeten, des Saturn u n d Jupiter, wie w i r gestern gesehen haben. A b e r der M e n s c h hebt heraus dieses sein Leben, u n d folgendes geschieht: Würden sie durch die Sonne niemals bedeckt - erinnern Sie sich an das, was ich gestern auseinandergesetzt habe i n bezug auf Saturn u n d Jupiter' - , dann würde das ganze Nervenleben immer mehr Sinnesleben werden. D e r M e n s c h würde durchaus die Augenempfindung haben, aber sie würde sich ins Nervenleben fortsetzen; er würde die Gehörempfindung haben, sie würde sich ins Nervenleben fortsetzen es würde i m Nervenleben chaotisch-unorganisch durcheinanderschießen das Sinnesleben der zwölf Sinne. D a d u r c h , daß n u n diese äußersten Planeten bedeckt werden, dadurch w i r d das Nervenleben aus dem Sinnesleben herausgerissen, u n d der M e n s c h ist i n der Lage, eben sich so z u verhalten, wie i c h gesagt habe, daß er i m Vorstellungsleben bewußt willkürlich w i r k t , daß er gewissermaßen Sinn w i r d , sich wiederum entsinnt, indem er die Vorstellungen willkürlich unterdrücken kann u n d so weiter. 8
So daß w i r sagen können: In den Sinnen ist abgesondertes ätherisches Wesen während der Wahrnehmung webend. In dem Nervenorganismus ist dem Leibe verbundenes, abgeschwächtes Sinnenleben webend. - Das G a n z e bekommt einen Bildcharakter, w e i l das ,was bewirken würde, daß man es nicht mit einem Bildcharakter z u tun hätte, sondern mit einem materiellen C h a rakter, vernichtet w i r d durch das Herausgehen des Menschen i n 104
die Menschenvertikale, während das T i e r i m Tierkreise drinnen bleibt. Das T i e r hat eben nur Traumvorstellungen, nicht B i l d vorstellungen, wie sie der M e n s c h hat. U n d Traumvorstellungen sind etwas, was hervorsprießt aus dem V i t a l p r i n z i p des Organismus, während die Bildvorstellungen rein herausgehoben sind ins freie ätherische L e b e n , das nicht mehr mit dem physischen L e i b verbunden ist. Es muß durchaus betont werden, daß durch die Organisation des M e n s c h e n , durch das Herausheben seines Kopfendes aus den Tierkreisbildern u n d aus dem Planetenweben, daß dadurch i m Menschen ein freies ätherisches Leben nach dem Kopfende h i n entsteht; daß dieses freie ätherische Leben i n dem K o p f dann erst v o n dem astralischen L e i b durchzogen ist, v o n dem Ich durchzogen ist, die dadurch teilnehmen an dem G e d a n k e n - u n d Vorstellungsweben des ätherischen Leibes. Dieses kann uns schon zeigen, wie m a n das Seelische dann erfaßt, wenn man weiß, w o d u r c h eben das Gedankenleben i m Menschen ein Seelisches ist, das heißt, nicht teilnimmt an dem materiellen Leben. Gehen w i r n u n weiter. W i r haben gezeigt - w i r wollen den anderen P o l betrachten - , wie der M e n s c h nach der anderen Seite h i n sich der F o r m u n d dem Leben nach entwickelt. W i r haben gesehen, vorgestern, wie der M e n s c h seine äußere Tätigkeit als Gliedmaßenmensch entwickelt. Ich habe Ihnen gezeigt, wie der M e n s c h - u n d w i r mußten dazu noch z u den griechischen Z u ständen zurückblicken — als Jäger, als Tierzüchter, als A c k e r bauer, als die Meere befahrender Handelsmann sich betätigt. In dieser menschlichen Betätigung verharrt der M e n s c h dann aber dadurch, daß er sich entzieht der E i n w i r k u n g der entsprechenden Fixstern-Tierkreisbilder. Das Tier bleibt durchaus unter der E i n w i r k u n g des Schützen, des Steinbocks, des Wassermanns, der Fische. D a d u r c h bilden sich die Tiere i n ihrer F o r m so aus, daß sie sich hinordnen auf das Irdische, bilden sich so aus, wie sie sind. Studiert man den Tierkreis, so kann man erkennen, w a r u m die Tiere i n einer gewissen Weise ihr Gliedmaßensystem ausgebildet haben. D e r M e n s c h bildet sein Gliedmaßensystem so aus, daß er es hinordnet auf das Irdische, wenn diese Tierkreisbilder eben unter dem Irdischen sind, wenn die E r d e für einige Zeit 39
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dort i m Tierkreis auf der nördlichen Hemisphäre ist. Es sind dad u r c h auch geographisch d i e Erdteile i n verschiedener Weise bewohnbar. D e r M e n s c h k a n n aber, was er an einem Orte ausbildet, auf einen anderen übertragen. Das, was hier entwickelt w i r d , muß natürlich für die älteren Zeiten gelten; für die heutigen vermischen sich die verschiedenen Menschenformen auf der E r d e , u n d man hat, wenn m a n heute Geographie studiert, nicht mehr ein reines B i l d v o n d e m , was der M e n s c h i m Zusammenhange mit dem M a k r o k o s m o s ist. D e r M e n s c h reißt sich also da auf eine andere A r t heraus aus der Tierkreislinie. E r bringt sich gewissermaßen nach der anderen Seite h i n i n die Menschenvertikale, i n die Menschensenkrechte. U n d während er voll ausgesetzt bleibt s o w o h l der F o r m nach den Tierkreisbildern, wie auch den äußeren Planeten i n bezug auf sein Hauptesende, entzieht er sich s o w o h l der planetarischen E i n w i r k u n g wie auch der Tierkreiseinwirkung, indem er auf der Erde steht u n d sich die andere Seite zudecken läßt v o n der E r d e . Saturn u n d Jupiter w i r ken auf den Menschen, indem sie i h r L i c h t auf die Erde herabstrahlen. D e r M e n s c h , der i n seinem Hauptesende ein Bildesleben hat, empfängt auch die B i l d e r dieser Sternwelten, ebenso wie er die B i l d e r der planetarischen Bewegungen empfängt, indem er sein Lebenswesen nach dem Hauptesende z u entwickelt. E r entwickelt da ein Bildleben u n d n i m m t auch v o m K o s m o s , v o m M a k r o k o s m o s die Bilder auf. V o n der anderen Seite n i m m t er die Bilder nicht auf. D a h e r entstehen jene F o r m e n , die i c h vorgestern gezeigt habe, die die Gliedmaßen sind, die entgegengesetzten F o r m e n v o n den H a u p tesformen. U n d er entwickelt aber auch Tätigkeiten, die sich entziehen dem makrokosmischen Einfluß, die diesen m a k r o k o s m i schen Einfluß nicht herankommen lassen. N u n ist es so, daß, wenn w i r sagen können, daß der M e n s c h seinem Kopfende nach seine Vergangenheit vernichtet, so ist das Entgegengesetzte der Fall nach dem Gliedmaßenende h i n . Würde der M e n s c h auf einer durchsichtigen Erde stehen, so daß auch v o n der anderen Seite Tierkreis u n d Planetenbewegung auf i h n w i r k e n könnten, dann würde er erstens nicht selbständige, freie Taten entfalten können. E r würde unter dem Einflüsse des
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Planetarischen u n d des Fixsternlebens stehen. N u r dadurch, daß i h m die E r d e dieses Planetarische u n d Fixsternleben zudeckt, k o m m t er z u der freien Entfaltung seiner Tätigkeit. A b e r er würde außerdem, wenn er i h m v o l l ausgesetzt wäre gerade mit seiner besonderen Lebenszeit, mit seinem sich i m m e r wiederholenden Erdenleben, i n seinem Gliedmaßensystem ein verholzendes L e ben, ein sich stark verhärtetes Leben entwickeln. E r würde ja die Materie nicht zerstäuben können, sondern die organische Materie würde v o r der Ausreifung verhornen. D e r M e n s c h würde eigentlich n u r Gliedmaßen haben, die i n ganz anderer Weise noch wie die H u f e der Pferde oder R i n d e r verhornt wären bis weit an den L e i b heran. D e r M e n s c h ist dieser Verhornung dadurch entzogen, daß er sich heraushebt aus dem Tierkreise. D a d u r c h aber findet der entgegengesetzte Prozeß statt wie nach dem Hauptesende. N a c h dem Hauptesende w i r d die Vergangenheit vernichtet, die Materie zerstäubt. N a c h dem G l i e d maßenende entwickelt sich der M e n s c h so, daß er die Materie nicht z u r vollen kosmischen Reife gelangen läßt. Sie bleibt z u rück. E r hält sie zurück. W i r haben nur dadurch Finger, w i r haben n u r dadurch Zehen, daß w i r unsere Gliedmaßen nicht auswachsen lassen. Würden w i r sie auswachsen lassen, so wären sie nicht n u r mit Nägeln besetzt, sondern sie wären ganz versteift, verhornt. W i r halten sie also auf einer früheren Stufe zurück. D a d u r c h , daß w i r unsere Gliedmaßen so zurückhalten, dadurch können w i r i n ihnen den W i l l e n entwickeln, der dann die Anlage ist für die folgenden Erdenleben. Würden w i r den Menschen als Gliedmaßenmenschen ausreifen lassen, dann würde mit unserem einen Erdenleben das L e b e n abschließen. W i r bewahren das, was i n die Z u k u n f t hinübergeht, dadurch, daß w i r unseren G l i e d m a ßenmenschen nicht v o l l ausreifen lassen. Es ist also hier das G e genteil der F a l l : Während nach dem Gedankenende h i n das seelische L e b e n ein Bildleben w i r d , bleibt i n der Tat, wenn ich m i c h grob ausdrücken darf, nach dem Gliedmaßenende h i n das Leben fleischlich materiell, organisch materiell jung, möchte ich sagen. Es w i r d nicht alt, es verhornt nicht, es bleibt jung. D a d u r c h , daß es jung bleibt, k a n n dann das Materielle abfallen, u n d das B i l d des Jungen geht hinüber d u r c h den T o d i n das folgende Erdenle-
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ben. D a drinnen kann sieb, der W i l l e dann entwickeln. D a ist das Willensende. So daß w i r sagen können: Das Willensende des Menschen ist nicht z u E n d e gekommene organische B i l d u n g . Können w i r hier (am Kopfende) v o m B i l d sprechen, so müssen w i r da v o n etwas anderem sprechen. Was ist denn eine nicht z u E n d e gekommene organische Bildung? E i n K e i m . D e n n der K e i m kann sich weiter entwickeln. Während w i r am Kopfende etwas haben wie eine Austernschale, wie etwas, was als Materie sich abgesondert hat u n d reine Materie ist, haben w i r nach dem Gliedmaßenende etwas w i e K e i m e . H i e r (oben) können w i r sagen: W i r erleben seelisch das reine Ätherische, das B i l d . H i e r (unten) erleben w i r nicht das B i l d , sondern w i r erleben keimendes Leben. (Siehe Darstellung Seite 111.) H i e r erleben w i r Verbundensein mit der Materie. Deshalb können w i r auch unsere Gliedmaßen bewegen, w e i l w i r mit der Materie verbunden sind. A m K o p f k a n n der M e n s c h nicht viel bewegen, höchstens insofern seine Sinne z u Gliedmaßen umgebildet sind u n d der M e n s c h auch am K o p f Gliedmaßenmensch ist. Es durchdringt sich ja alles, jedes einzelne G l i e d durchdringt die anderen. In gewissem Sinne sind die A u g e n auch H a n d , insofern sie sich bewegen können. A b e r nicht vieles ist beweglich am K o p f , der K o p f ist z u meist unbeweglich, u n d der willkürlichen Bewegung sind vor allen D i n g e n , sagen wir, die Gehirnlappen u n d dergleichen entzogen. A b e r auch am Außenhaupte ist wenig beweglich, u n d es ist schon eine Seltenheit, wenn der M e n s c h gewisse O h r m u s k e l n bewegen k a n n ; er kann damit schon außerordentlich brillieren. Dieses Erleben i n der Materie läßt das Bewußtsein nicht aufk o m m e n . D a d u r c h aber sind w i r i n der Lage, den W i l l e n eben z u entwickeln. So daß w i r hier (oben) die Materie vernichten, hier (unten) aber behalten wir, wenn die Materie v o n uns abfällt i m Tode, K e i m e zurück als Kraft für die nächsten Erdenleben. Was dazwischen liegt, wir haben es gestern bezeichnet auf der einen Seite als das Atmungswesen, w e n n w i r auf das L e b e n sehen, oder das Zirkulationswesen. W i r haben dann gesehen, wie das zugeteilt ist als F o r m demjenigen, was da liegt zwischen den oberen Tierkreisbildern und den unteren Tierkreisbildern. Wenn Sie also für die heutige Zeit den Fixsternhimmel sich i n
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folgender Weise repräsentiert denken: Widder, Stier, Z w i l l i n g e , K r e b s , L ö w e , Jungfrau, Waage, S k o r p i o n , Schütze, Steinbock, Wassermann, Fische - dann würden w i r diese vier Tierkreisbilder (Fische, Widder, Stier, Z w i l l i n g e , siehe Zeichnung) dem H a u p t e zuzuteilen haben, u n d unter ihrer E i n w i r k u n g w i r d das H a u p t i m Sinne derjenigen Planetenbewegungen, die über der E r d e sind, mit einem ersterbenden Leben ausgerüstet. So daß das H a u p t ein B i l d - E r l e b e n hat, ein Vorstellungserleben als Seelisches. D i e anderen vier entgegengesetzten Zeichen für das H e u tige - für das Griechische wäre es etwas anders - wären dann Jungfrau, Waage, S k o r p i o n , Schütze. U n d w i r hätten dann für den rhythmischen Menschen das, was dazwischen liegt, wie w i r v o m planetarischen Leben den M a r s u n d den M e r k u r als die Zwischenlage haben, die dazwischenliegenden Planeten haben. D a , können w i r sagen, ist der M e n s c h so, daß er zwischen dem B i l d e u n d dem K e i m e drinnen h i n u n d her pendelt. Das A t m u n g s - B l u t - L e b e n zeigt Ihnen ja das, i c h möchte sagen, wie i n einem äußeren B i l d e wunderbar. D e r M e n s c h n i m m t den belebenden Sauerstoff auf, der mit seinem Gliedmaßenorganismus, m i t allem Beweglichen i n i h m verbunden ist. E r verbindet den Sauerstoff m i t dem Kohlenstoff. D e r Kohlenstoff w i r k t zuerst
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anregend als das Ertötende auf das Nerven-Sinnes-Leben, dann w i r d er ausgestoßen als das Ersterbende. D a haben w i r fortwährend schon materiell das äußerste Leben i m Sauerstoff, den äußersten T o d i m Kohlenstoff: Ersterben - Beleben, Ersterben Beleben. Es schwingt das Leben zwischen Ersterben u n d Beleben h i n u n d her. Seelisch ist das aber so, daß w i r innerlich etwas erleben, was auf der einen Seite, wie n o c h das Gedankenleben, rein ätherisch ist; aber der Ätherleib erfaßt gewisse Gebilde, Drüsengebilde. Diese Drüsen sondern Materie ab. Es ist das, was körperlich so v o r sich geht, daß der Atherleib auf die Drüsen w i r k t . D i e D r ü sen verbinden sich nicht so wie etwa die M u s k e l n - die dann vorzugsweise dem Gliedmaßenorganismus angehören - mit dem ätherischen L e b e n , sondern indem das Ätherleben die Drüsen ergreift, sondert die Drüse Materie ab. Es ist also ein nicht v o l l ständiges Zusammenschmelzen des ätherischen Lebens mit dem materiellen Leben. Es ist der Übergang. Es ist ein Ergreifen der Materie, aber zugleich ein Sich-Wehren der Materie, ein A b s o n dern der Materie. W e n n Sie den M u s k e l studieren, den K n o c h e n studieren, was z u m Gliedmaßensystem gehört, dann haben Sie das so, daß die Materie streng - am meisten beim K n o c h e n ergriffen w i r d v o n dem Ätherleib des Menschen. D a zerstäubt nichts, da bleibt alles frisch-lebendig. D a w i r d die Materie u n mittelbar ergriffen v o n dem Ätherleib des Menschen. I m H a u p t e w i r d nichts ergriffen v o n der Materie, sondern indem das H a u p t sich entwickelt, zerstäubt die Materie. Das freie ätherische Weben entwickelt sich als Gedankenleben. Indem der Ätherleib die Drüsen ergreift, verbindet er sich zwar mit den Drüsen, aber die leiden i h n nicht; der M u s k e l leidet i h n . D e r M u s k e l n i m m t den Ätherleib auf. D i e Drüse leidet i h n nicht; sie sondert sogleich Materie ab, treibt den Äther gleich wieder heraus. Das ist seelisch, das Gefühlsleben. So daß w i r jetzt w i r k l i c h beschreiben können, wie das G e d a n kenleben v o r sich geht. Das Gedankenleben geht so vor sich, daß die Materie nicht i n A n s p r u c h genommen w i r d , daß es nur bis z u dem Ätherischen herankommt u n d das Bewußtsein in diesem Ätherischen lebt. Das Gefühlsleben geht so vor sich, daß der IIO
Bild
Vorstellung Gefüh sieben
Keim
Wille
Ätherleib das Drüsenleben ergreift, aber das Drüsenleben leidet i h n nicht. Während aber der Ätherleib i n das Drüsenleben hinein verschwindet, bevor die eigentliche A b s o n d e r u n g sich geltend macht, da hat der M e n s c h seinen Ätherleib nicht, da verschwindet i h m sein Ätherleib i n die Drüsen hinein. E r erlebt sich daher n u r i n seinem Ich u n d i n seinem astralischen L e i b . U n d so ist es beim Gefühl. Vorstellung: Gefühlswesen: Willensleben:
Ätherleib, Astralleib, Ich Astralleib, Ich Ich
W e n n w i r also die Vorstellungen des Gedankenlebens haben: abgestoßen w i r d da das Leben des physischen Leibes, der M e n s c h erlebt sich i m Ätherleib, i m astralischen L e i b , i m Ich i m menschlichen H a u p t ist das Ich, das durchwebt den astralischen L e i b , das durchwebt den Ätherleib, stößt das Physische aus; dadurch erlebt das Ich m i t H i l f e des astralischen Leibes i m Ätherleib die Gedanken, das D e n k e n . Das Gefühlswesen: D a w i r d dem Menschen der Ätherleib gen o m m e n , indem der Ätherleib die Drüse ergreift; so lange bis die Drüse v o l l abgesondert hat, ist n u n der Ätherleib dem Menschen entzogen. E r steckt drinnen i m physischen L e i b . D a hat der M e n s c h z u seinem inneren bewußten Erleben nur den Astralleib u n d das Ich. Das erlebt er gefühlsmäßig-traumhaft, weil er ja untertaucht i n den physischen L e i b . N u n k o m m e n w i r z u m Willensleben. D a ist es w i r k l i c h so, daß der M e n s c h mit seinem ätherischen Leibe ganz untertaucht in die organische Materie. A b e r i m wachenden Zustand n i m m t der ätherische L e i b den astralischen L e i b mit. D a d u r c h ist ja der M e n s c h imstande, die Bewegung auszuführen. E r n i m m t den i n
astralischen L e i b mit i n die Materie hinein. D a ist auch der astralische L e i b dem M e n s c h e n entzogen, und der Mensch erlebt i m Bewußtsein nur das Ich. Sie sehen, w i r finden einen vollständigen Zusammenhang z w i schen dem seelischen L e b e n u n d dem leiblichen Leben. W i r müssen nur aus anthroposophischer Erkenntnis heraus uns klar sein, wie Ich, astralischer L e i b , Atherleib teilnehmen an dem physischen L e i b , dann merken w i r den Unterschied zwischen dem seelischen Gedankenleben, dem seelischen Gefühlsleben, dem seelischen Willensleben u n d finden, daß das seelische G e dankenleben i m ersterbenden Organismusteil ist, der sich aus der oberen Fixsternwelt u n d der oberen planetarischen Welt herausgerissen hat, das Vergangene zerstäubt und dadurch z u m B i l d - E r l e b e n w i r d . W i r finden, daß i n der mittleren Region, i m rhythmischen Menschen, der M e n s c h auf der einen Seite miterleben kann das Vergangene, deshalb auch den M a k r o k o s m o s , der sich aus der Vergangenheit heraus ja gebildet hat; aber dadurch, daß ein fortwährendes Rhythmisches stattfindet, entweder ein rhythmisches Verbinden des Sauerstoffs mit dem Kohlenstoff oder aber ein Ergreifen der Drüsen u n d Absondern der Drüsen, reagiert der M e n s c h darauf. In dem Ergriffenwerden und E r g r e i fen des makrokosmischen Lebens des Menschen, i n der A b s o n derung reagiert der M i k r o k o s m o s , der einzelne M e n s c h , darauf. D e r M e n s c h lebt i m Rhythmus nicht nur innerlich; er lebt i m R h y t h m u s mit der Welt, er öffnet sich der Welt, nimmt sie i n sich zurück. D e r M e n s c h nimmt die Welt i n sich herein, ist halb ein individuelles Wesen u n d pendelt rhythmisch h i n u n d her z w i schen M a k r o k o s m o s u n d M i k r o k o s m o s . Das ist das Leben u n d Weben i m Gefühl. U n d man kann sogar ganz genau sehen, wie das Materiell-Physische des Organismus mit dem Seelisch-Geistigen zusammenwirkt. Im Willensleben ist es so, daß das M a t e riell-Physische am meisten ergriffen w i r d , daß da der M e n s c h am meisten bloß M i k r o k o s m o s ist, daß er sich völlig entzieht i n seiner Tätigkeit der makrokosmischen Tätigkeit. Lebt er auf der nördlichen H a l b k u g e l , so entzieht er sich eben i n unserer Weise den übrigen Fixsternen und übrigen Planeten; auf der südlichen Halbkugel i n ähnlicher Weise, das Ganze dreht
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sich ja herum, u n d auf diese Weise ist der M e n s c h als G l i e d m a ßenmensch, indem er als solcher lebt zwischen G e b u r t u n d T o d , ganz M i k r o k o s m o s , hat eine Welt für sich, die deshalb sich selber auch i n eine Z u k u n f t hinübertragen kann. Jetzt entwickelt er das jüngste G l i e d des Seelenlebens, den W i l l e n , der noch ganz der Stütze des physischen Leibes bedarf, der n u r das Ich z u sich selber k o m m e n läßt, während astralischer L e i b u n d Atherleib i n dem physischen L e i b untergehen. N i e m a n d w i r d das Seelenleben begreifen, der es nicht i n einer solchen Weise begreifen k a n n , daß er unterscheiden kann z w i schen Ich, astralischem L e i b u n d ätherischem L e i b ; denn niemals w i r d irgend jemandem begreif lieh erscheinen können das G e dankenleben, das Gefühlsleben oder das Willensleben, ohne daß die Sache so innerlich konkret erfaßt w i r d . Weist man diese E r fassung i n der heutigen Zeit zurück, was k o m m t dann zustande? D a n n k o m m t das zustande, daß die offiziellen Vertreter sich hinstellen u n d den Leuten erzählen: Eigentlich kann man über das Seelische nichts wissen, aber dennoch, man muß aus gewissen Erscheinungen annehmen, daß es so ein Seelenartiges, ein «Psycho'id» gibt. M a n stellt sich dann h i n u n d erklärt, wie der Descartes u n d der S p i n o z a sich bemüht haben, darauf z u k o m men, wie die Wechselwirkung ist, aber man bleibt bei dem A b strakten stehen: auf der einen Seite der Körper, auf der anderen Seite die Seele. D a k o m m t man niemals hinein, w e i l i m Gedankenleben die Seele m i t dem L e i b anders zusammenwirkt als i m Gefühlsleben u n d als i m Willensleben, u n d w e i l man dieses Z u sammenwirken nicht verstehen kann, w e n n man das ganze Seelenleben einfach durcheinanderwirft u n d v o n einem «Psycho'id» spricht, statt daß man sich einläßt auf diese Konfiguration, auf diese Konkretisierung des Lebens i n Ich, astralischen L e i b u n d Ätherleib. Es ist heute ein furchtbares, möchte man sagen, A b lehnen der Wahrheit vorhanden, dafür aber dann ein bloßes Stammeln u n d ein Bekämpfen teilweise des Fechnerismus, auf der anderen Seite ein Reden von «Psycho'id». Das ist gerade so, w i e w e n n einer verzichten würde, den Menschen anzuschauen u n d v o m «Anthropoid» reden würde, w e i l er vermeiden möchte, v o m A n t h r o p o s z u reden. I m G r u n d e genommen ist solche W i s 40
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senschaft eben nicht A n t h r o p o s o p h i e , sondern A n t h r o p o i d - S o phie, Psychoidologie. Wenn m a n w i r l i c h eingeht auf das seelisch-geistige L e b e n , dann kann man i n allen Einzelheiten hinweisen auf das, was die Leute «Wechselwirkung» u n d so weiter nennen. M a n bekommt dann tatsächliche Vorstellungen v o n den D i n g e n , u n d man muß auch nicht bloß, i c h möchte sagen, anatomisch so hübsch hinlegen, was man aus der Leber herausschneidet, u n d was man aus dem G e h i r n herausschneidet u n d es als abstrakte Gewebe nebeneinanderlegen, sondern man muß wissen, wie der M e n s c h am Kopfende i n anderer Weise sich z u dem ganzen M a k r o k o s m o s verhält als am Gliedmaßenende. A m Kopfende zerstäubt er i h n , da vernichtet er die Vergangenheit. A m Gliedmaßenende läßt er seine Wachstumstendenz nicht z u E n d e k o m m e n , er bleibt Keim. A m schrecklichsten ist es, w e n n mit Ausschluß einer w i r k l i c h keitsgemäßen Anschauung die Leute dann herumspekulieren über das Wesen des Leibes s o w o h l wie über das Wesen des G e i stig-Seelischen, u n d dann i m G r u n d e genommen i n altabgebrauchten W o r t e n reden, die sie z u «oi'den» machen, u n d eigentlich das, u m was es sich handelt, gar nicht ergreifen. Es gibt Leute, die heute gar nicht einmal mehr eine A h n u n g davon haben, wie man v o m Worte z u einem Begriff k o m m t . So z u m B e i spiel werden jetzt i n Deutschland überall i n den freireligiösen Gemeinden u n d i n den monistischen Gemeinden, die eigentlich beide Vereinigungen sind, die da leben v o n dem Abwaschwasser der materialistischen Naturwissenschaft der sechziger u n d siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, da werden überall Vorträge veranstaltet von einem Menschen, A r t h u r D r e w s heißt er, der eigentlich so konstituiert ist: E r hat einmal Hartmannsche P h i l o sophie studiert - er tänzelte ja immer i n seinen Jugendjahren u m H a r t m a n n herum - , aber v o n dieser Hartmannschen P h i l o sophie i m G r u n d e genommen n u r die Worte aufgenommen. Diese Worte sind i n seinem K o p f e wie das Spiel v o n automatischen D i n g e n , da rollt es herum, u n d er hat keine A h n u n g dav o n , wie man v o n dem Worte z u irgendeinem Begriff k o m m t . U n d mit diesen aus der Hartmannschen Philosophie i n seinem 43
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K o p f e automatenhaft herumwirbelnden W o r t e n kritisiert er die Anthroposophie. Das sind die Früchte der gegenwärtigen Zivilisation, die Früchte der gegenwärtigen B i l d u n g , die es durchaus ablehnen w i l l , sich w i r k l i c h einzulassen darauf, wie man eine Einsicht bek o m m e n kann i n den Zusammenhang des Menschen mit dem K o s m o s , so daß man des Menschen F o r m u n d des Menschen L e b e n aus dem K o s m o s heraus beschreibt u n d auch begreift, wie das besondere Herausreißen des Menschen aus dem K o s m o s eben bewirkt, daß er auf der einen Seite i n einem ersterbenden Leben das bildhafte Vorstellungs-Seelenwesen entwickeln kann, auf der anderen Seite i n einem keimhaft bleibenden Leben das willensartige Element des Seelischen entwickeln kann. Diese D i n g e klingen ja eigentlich denjenigen, die heute offiz i e l l Wissenschaft treiben, als etwas, was sie nicht verstehen können. M a n sollte eigentlich darauf verzichten, daß diejenigen, die einmal i n der offiziellen Wissenschaft ein bestimmtes A l t e r erreicht haben, i n der Regel — i c h sage natürlich: i n der Regel - sich n o c h hineinfinden können i n so etwas, denn sie haben ja alle Begriffe u n d damit alle W i r k l i c h k e i t aus i h r e m Wortkaleidoskop i m G r u n d e genommen verloren. D e n n solche Vorträge über Psychoide sind für den, der die W i r k l i c h k e i t durchschaut, i m G r u n d e genommen nichts anderes als Wortkaleidoskope; was da über Descartes, über Spinoza u n d so weiter bis z u Fechner herauf auseinandergesetzt w i r d , das hat eigentlich keinen inneren Zusammenhang, das sind Wortkaleidoskope. D e n n was diesen Wortfetzen, die da kaleidoskopartig durcheinanderwurlen, -wellen, was denen einen inneren Sinn geben könnte, das ist eben die Einsicht i n Ich, astralischen L e i b , Ätherleib u n d so weiter. Es tut einem ja fast leid, daß man über die Gegenwart so sprechen m u ß ; aber es muß eben gerade da, w o es sich u m das sogenannte Geistesleben handelt, über diese Gegenwart so gesprochen werden. D i e Philosophen haben sich nicht mehr zurechtgefunden, w e i l sie schon v o r einigen Dezennien aus den W o r t e n die Begriffe verloren haben. Jetzt ist man darauf gekommen, daß man an die philosophischen L e h r k a n z e l n Naturgelehrte i m heutigen Stil beruft. D i e müssen dann Philosophie tradieren. Bei M a c h ' hat 4
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es angefangen, u n d einer der hauptsächlichsten Repräsentanten dieser Sorte ist heute der D r i e s c h . W e i l die Philosophen allen Inhalt ihres Kopfes schon verloren haben, die Naturforscher wenigstens n o c h die äußere Sinnesbeobachtung haben, hat man die Naturforscher an die philosophischen Lehrkanzeln berufen. U b e r Philosophie reden sie ja natürlich noch inhaltsloser als die Philosophen. D i e Philosophen haben wenigstens noch die Worte gehabt. A b e r eine merkwürdige E n t w i c k l u n g hat sich schon z u getragen. M a n hat es erlebt, daß zunächst die noch inhaltsvolle Philosophie v o n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollständig verduftet ist i n den Worthelden, sagen w i r v o n der Sorte eines K u n o F i s c h e r . A b e r i n der K u n o - F i s c h e r - Z e i t haben noch P h i losophen an den Lehrkanzeln gelehrt. Innerer Gehalt war i n dieser Philosophie nicht mehr. 46
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A b e r was eben notwendig ist, das ist durchaus, daß w i r diesen Zusammenhang durchschauen, daß w i r uns darüber klar sind, daß wenigstens einige Menschen i n der Welt dasein müssen, die all das Geflunker v o n den Psycho'iden durchschauen und die wissen, wie stark w i r i n der Dekadenz drinnenstecken gerade i n bezug auf unsere gelehrte B i l d u n g . M a n kann nicht stark genug dieses wissen; u n d i c h glaube, es ist gut, w e n n Sie sich vertiefen i n das, was ich versuchte, i n diesen drei Vorträgen vor Ihre Seele hinzustellen, nämlich wie der M e n s c h auf der einen Seite durch seine äußere F o r m , durch sein Leben, anzuknüpfen schien an das U n i v e r s u m , aber sich v o n dem U n i v e r s u m nach beiden Seiten h i n lossagt, u m nur als rhythmischer M e n s c h i m R h y t h m u s des Universums aufzugehen; lossagt, u m auf der einen Seite das Gedankenleben als Bildleben, also i n Freiheit von der Materie z u entwickeln, nach der anderen Seite h i n das Willensleben so z u entwickeln, daß er die Materie i m K e i m e erhält, so daß sie nicht schon die starre F o r m , die ihr v o n dem M a k r o k o s m o s aufgezwungen werden kann, ann i m m t , damit der M e n s c h an diesem Ende sich noch beweglich erhält und v o n der E r d e z u m Jupiter-, Venus-, und Vulkandasein hinüber sich entwickle, damit der M e n s c h i n beweglicher F o r m sich erhalte, u m sich hinüber z u entwickeln. Wenn Sie dieses zusammenhalten, dann werden Sie sehen, wie tatsächlich das, was i n der Anthroposophie als Erkenntnis auf-
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tritt, ergreifen w i l l erstens das Wahrheitsgefühl des Menschen, zweitens das ästhetische Gefühl, wenn Sie studieren den M e n schen als F o r m , so wie sich die F o r m herausergibt aus dem M a k r o k o s m o s , u n d drittens auch nach der R i c h t u n g des G u t e n u n d des religiösen Lebens. Es w i r d Ihnen gerade aus diesen drei V o r trägen hervorgehen können, mit welcher tiefen Berechtigung oftmals hier i n K u r s e n u n d sonst ausgesprochen worden ist, daß gesucht werden muß eine Synthese, eine Vereinigung, eine H a r monie v o n R e l i g i o n , K u n s t u n d Wissenschaft. A b e r eine Vereinigung v o n R e l i g i o n , K u n s t u n d Wissenschaft erlangt man nicht, ohne daß man sich aufschwingt z u einer wirklichen K o s mologie, welche uns klarlegt, was der M e n s c h nach F o r m u n d Leben ist. Was w i r weiter brauchen, ist eine Freiheitslehre i n bezug auf das Seelische, welche uns darlegt, was der M e n s c h ist dadurch, daß er sich losreißt v o n dem M a k r o k o s m o s nach seinen z w e i E n d e n h i n , nach seinen z w e i Polen h i n . U n d auf der anderen Seite braucht man die Erkenntnis dessen, was der M e n s c h i n Freiheit entwickelt nach der Weltenzukunft, nach dem, was die E r d e i m M a k r o k o s m o s ablösen w i r d . Das entwickelt dann tief religiöse Empfindungen, Gefühle. D a m i t der M e n s c h z u einem w i r k l i c h e n Aufstieg unserer K u l tur k o m m t , braucht er erstens eine K o s m o l o g i e , welche den Menschen selbst umfaßt, die den Menschen nicht, wie unsere heutige K o s m o l o g i e , links liegen läßt. M a n braucht eine F r e i heitslehre, u n d man braucht eine E t h i k , welche imstande ist z u zeigen, wie das i n ihr veranlagte Gute der K e i m z u Welten ist. M a n braucht eine E t h i k , die Realität i n sich enthält, nicht bloße abstrakte Werte, sondern Werte, die i n sich die Kraft haben, sich z u realisieren. K o s m o l o g i e , Freiheitslehre, E t h i k sind dasjenige, was der M e n s c h braucht z u m Aufstieg.
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1 9 0 9 , anläßlich der Generalversammlung der Theosophischen Gesellschaft, deren Generalsekretär Rudolf Steiner damals war, hielt Rudolf Steiner vier Vorträge unter dem Titel «Anthroposophie». Während sich die Theosophie den übersinnlichen Welten zuwandte, wurde mit diesen Vorträgen, deren Titel programmatisch war, das Fundament für eine neue Richtung gelegt: die neue Geisteswissenschaft die Rudolf Steiner hier entwickelte, wandte sich auch den Gegenständen der sinnlichen Welt z u , den Naturreichen und zu allererst dem Menschen. Damit war der erste Schritt zu einer Durchgeistigung der Naturwissenschaften getan. Der Ansatzpunkt von 1 9 0 9 , in einem B u c h von 1 9 1 0 und in den späteren Jahren weitergeführt, war eine neue Sinneslehre.' Diese Richtung von der Theosophie zur Anthroposophie wurde von Rudolf Steiner i n den Vorträgen zur Generalversammlung 1 9 1 0 ( 1 . - 4 . November) fortgesetzt. Es sind die «Psychosophie»-Vorträge, in denen eine Durchgeistigung der Seelenwissenschaft - wie 1 9 0 9 der Naturwissenschaft - begründet wurde, als die wissenschaftliche Psychologie sich seit einigen Jahren anschickte, eine N a turwissenschaft zu werden. Von den vier Vorträgen werden im folgenden drei abgedruckt. Der zweite Vortrag wird hier weggelassen. E r enthält eine Reihe von seelischen Beobachtungen, z. B. über die Ich-Empfindung, über das Vorstellungsleben, über die Wirkungen des Nicht-Verstehens und das Wesen der Langeweile. Diese «Psychosophie»-Vorträge beginnen mit Rezitationen von Dichtungen Goethes und Hegels. D e m ersten Vortrag wurde die Rezitation des Gedichtes von Goethe «Der ewige Jude» vorangestellt, das w i r nicht wiedergeben, weil es erst im hier weggelassenen zweiten Vortrag aufgegriffen wird. Rudolf Steiner begründet dieses Stil-Element seiner «Psychosophie-Vorträge» zu Beginn des Vortrags mit folgenden Worten: «Im Laufe der Vorträge dieser Abende wird es notwendig sein, daß von mir Bezug genommen w i r d auf diese oder jene Beispiele, die sich am besten geben lassen aus einzelnen Dichtungen. U n d damit Sie i m Laufe dieser vier Vorträge einiges von dem, worauf es als Illustration ankommen wird, vor sich haben können, w i r d an einzelnen Abenden eine kurze Rezitation gewisser Dichtungen stattfinden, die mir dann Gelegenheit geben werden, an ihnen manches ebenso ideell zu illustrieren, wie ich Kleinigkeiten auf der Tafel zu illustrieren oder z u markieren haben werde. Es ist durchaus ein psychosophisches Interesse, worum es sich handeln w i r d bei der Illustration dieser Vorträge durch das, was uns diese Rezitationen zu Gehör bringen können.» 1
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Die leibliche, seelische und geistige Seite des Seelenlebens
I m vorigen Jahr - gelegentlich unserer Generalversammlung nannte i c h eine Reihe v o n Vorträgen solche zur A n t h r o p o s o phie. In diesem Jahr soll eine Reihe v o n Vorträgen, die v o n einem ähnlichen Gesichtspunkte aus gehalten sein werden, mit dem T i tel Psychosophie belegt werden. U n d w e n n sich einmal Gelegenheit dazu finden sollte, so w i r d gleichsam als ein drittes K a p i t e l z u den Vorträgen über A n t h r o p o s o p h i e u n d Psychosophie eine Vortragsreihe über Pneumatosophie folgen. D a d u r c h werden sich diese drei Vortragsreihen zusammenschließen z u einer Brücke, die hinaufführen kann v o n der Welt, i n der w i r unmittelbar leben, z u den Welten, die v o n einem höheren Gesichtspunkte aus i n der Theosophie betrachtet werden. Psychosophie soll sein eine Betrachtung der menschlichen Seele, die zunächst v o n dem ausgeht, was diese Seele hier i n der physischen Welt erleben k a n n , u n d die dann aufsteigt z u höheren Gebieten, u m z u zeigen, daß dasjenige, was uns hier i n der p h y sischen Welt als für jeden beobachtbares Seelenleben entgegentritt, doch hinaufführt z u A u s b l i c k e n , aus denen uns gleichsam entgegenkommen w i r d das L i c h t der Theosophie. Mancherlei w i r d uns an diesen A b e n d e n beschäftigen. W i r werden heute ausgehen v o n scheinbar recht Einfachem, werden an uns vorüberziehen lassen alle diejenigen Erscheinungen des Seelenlebens, die man bezeichnen kann mit den W o r t e n A u f m e r k s a m keit, Gedächtnis, dann Erscheinungen wie etwa diejenigen, w e l che uns i n den Leidenschaften u n d Affekten entgegentreten, dann Erscheinungen, die w i r schon i n das Gebiet des Wahren, Schönen u n d G u t e n rechnen. Erscheinungen werden uns entgegentreten, die fördernd i m gesundheitlichen Sinne oder schädigend als Krankheiten eingreifen i n das menschliche Leben. W i r k l i c h e seelische Ursachen v o n Krankheitserscheinungen werden uns entgegentreten. D a d u r c h werden w i r hart die
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Grenze z u berühren haben, w o sich das Seelische herabsenkt i n das leibliche L e b e n , u n d werden die Wechselbeziehungen z u studieren haben zwischen W o h l u n d Wehe des Leibes u n d der Tätigkeit, der A r b e i t e n i m inneren Leben der Seele. D a n n werden w i r uns z u erheben haben z u den hohen Idealen der Menschheit u n d werden das, was diese hohen Ideale der Menschheit sein können für das menschliche Seelenleben, z u betrachten haben. W i r werden Erscheinungen z u betrachten haben, die i m alltäglichen L e ben eine R o l l e spielen wie, sagen wir, das, was den Menschen die Zeit verkürzt, u n d werden sehen, wie dieses letztere wiederum einwirkt auf das Seelenleben u n d sich i n merkwürdiger Verkettung innerhalb desselben zeigt. W i r werden z u betrachten haben die ganz merkwürdige W i r k u n g der Langeweile. U n d vieles könnte n o c h angeführt werden, was w i r s o w o h l seiner Erscheinung nach betrachten werden, wie auch danach, welche H e i l u n d H i l f s m i t t e l es gibt, u m das z u korrigieren, was uns als krankhafte Erscheinung des Seelenlebens entgegentritt, wie z u m Beispiel eine schlechte Denkkraft, ein schlechtes Gedächtnis oder dergleichen. Sie werden sich auch denken können, daß wir, u m v o m Seelenleben z u sprechen, notwendigerweise Gebiete berühren müssen, die an anderes angrenzen. U n d der Theosoph hat ja i n einer gewissen Weise geläufige Vorstellungen, wenn es sich darum handelt, das Seelenleben des Menschen mit anderem i n Beziehung z u bringen. Sie kennen alle die Gliederung der menschlichen N a t u r , die durch die Geisteswissenschaft vorgenommen w i r d i n L e i b , Seele u n d Geist. Schon dadurch werden Sie sich sagen können: Das Seelenleben des Menschen muß sich auf der einen Seite berühren m i t dem leiblichen, auf der anderen Seite aber sich hinaufwenden z u dem geistigen Leben. H a b e n w i r uns mit dem mehr L e i b l i chen i n der A n t h r o p o s o p h i e beschäftigt, so werden w i r uns mit dem seelischen Leben z u beschäftigen haben i n der Psychosophie, u n d w i r werden aufsteigen z u dem geistigen Leben i n der Pneumatosophie. Was ist n u n das Seelenleben, w e n n w i r es jetzt innerhalb seiner beiden G r e n z e n , die w i r eben angedeutet haben, für sich betrachten wollen? Was w i r gewohnt sind, die Außenwelt z u nen-
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nen, was w i r gewohnt sind sozusagen v o r uns u n d u m uns i n der Welt als hingestellt z u betrachten, das rechnen w i r nicht z u unserem Seelenleben. E i n M i n e r a l , eine Pflanze, ein Tier, die L u f t , die W o l k e n , die Berge u n d Flüsse u n d so weiter, die u m uns h e r u m sind, gleichgültig was w i r selber vielleicht aus unserem Geiste heraus dazugeben, w e n n w i r sie vorstellen, alles, was so u m uns ist u n d was w i r als Außenwelt bezeichnen, rechnen w i r nicht z u unserem Seelenleben. D i e Rose, der w i r begegnen, rechnen w i r nicht z u unserem Seelenleben, w e n n w i r uns auf dem physischen Plan recht verstehen. W e n n w i r aber der Rose entgegentreten u n d sie uns erfreut, wenn beim A n b l i c k der Rose i n unserer Seele etwas aufglänzt wie Wohlgefallen, so rechnen w i r diese Tatsache w o h l z u unserem Seelenleben. Wenn w i r einem Menschen begegnen u n d i h n ansehen, uns eine Vorstellung v o n i h m machen, was für Haare, was für ein Gesicht er hat, wie sein Gesichtsausdruck ist u n d so weiter, so rechnen w i r das nicht z u unserem seelischen Leben. Wenn w i r aber Interesse für i h n gew i n n e n , w e n n er uns sympathisch oder antipathisch ist, wenn w i r i n Liebe seiner gedenken müssen, so rechnen w i r diese E r l e b nisse der Sympathie oder Antipathie, der Liebe, des Interesses z u m seelischen Erleben. Sie wissen, ich liebe Definitionen nicht, sondern ich versuche z u charakterisieren; daher möchte ich Ihnen auch nicht eine D e finition des seelischen Lebens geben. D a m i t ist wenig getan. Ich möchte charakterisieren, w o die Dinge liegen, die man z u m seelischen Leben rechnen k a n n . N e h m e n w i r aber etwas anderes. N e h m e n w i r einmal an, w i r sehen einen Menschen handeln. W i r beobachten seine Tat u n d finden, daß w i r z u dieser Tat sagen müssen: Das ist eine gute Tat; das ist eine Tat, welche gebilligt werden kann v o n einem gewissen moralischen Gesichtspunkt aus. - D a n n haben w i r ein solches seelisches Erlebnis, das sich dadurch ausdrückt, daß w i r sagen: Diese Tat war eine gute! - dann haben w i r i n einem solchen Erlebnis n o c h etwas anderes als das schon jetzt Charakterisierte. D a k o m m t es uns v o r allen D i n g e n nicht so sehr darauf an, z u beschreiben, wie die Tat geschieht, wie die einzelnen Maßregeln z u bezeichnen sind, aus denen sie besteht; da k o m m t es aber 121
auch nicht darauf an, ob w i r das lieben oder hassen, was i n dieser Tat hegt, sondern da spielen höhere Interessen mit. W e n n w i r diese Tat gut nennen, so wissen wir, daß es gar nicht v o n uns abhängen sollte, ob w i r diese Tat gut oder nicht gut nennen. D e n n o c h müssen w i r dieses U r t e i l i n der Seele fällen, wenn w i r ein Bewußtsein davon haben w o l l e n , wie diese Tat ist. A b e r nichts i n der Außenwelt kann uns sagen, daß die Tat gut ist. Das U r t e i l : Diese Tat ist gut - muß i n uns aufsteigen, muß heraufglänzen aus dem eigenen Erleben. A b e r w e n n das U r t e i l berechtigt sein soll, muß es unabhängig v o n unserem eigenen Erleben sein. In allen solchen Seelenerlebnissen, w o etwas mitspielt, das, u m i n unser Bewußtsein z u k o m m e n , innerlich erlebt werden m u ß , was aber eine v o n unserem Bewußtsein unabhängige Bedeutung hat, so daß es etwas ist, w o b e i es nicht darauf ankommt, ob w i r das U r t e i l n u n fällen oder nicht, i n allen solchen Vorgängen spricht i m menschlichen Seelenleben der Geist mit. U n d so schon könnten w i r sagen: W i r haben i n diesen drei Fällen, w o w i r uns vergegenwärtigt haben, wie w i r etwas als Außenwelt betrachten, wie w i r etwas als rein inneres Erlebnis betrachten, als das Interesse an einem Menschen, das Wohlgefallen, das w i r an einer Rose nehmen, u n d als drittes das innere Erlebnis, w o w i r ein U r t e i l fällen, das v o n unserem Seelenleben unabhängig sein muß, w e n n es gelten soll, w i r haben i n diesen drei Fällen charakterisiert, was w i r nennen können das Verhältnis der Seele gegenüber der Außenwelt. D i e Außenwelt muß sich v o n außen der Seele ankündigen durch das L e i b l i c h e ; das seelische Erleben ist ein rein innerliches; der Geist aber kündigt sich wiederum i m Innern der Seele an, wie w i r sehen an diesen Beispielen, die w i r eben angeführt haben. So also handelt es sich darum, daß w i r streng festhalten, daß dieses Seelenleben auf u n d ab wogt i n inneren Tatsachen, u n d es w i r d sich zunächst darum handeln, jetzt irgend etwas z u finden, was uns auch innerlich gewissermaßen den Charakter des seelischen Erlebens angibt. W i r haben bis jetzt dieses seelische E r l e ben nach außen h i n begrenzt, haben gezeigt, w o es angrenzt an anderes. N u n aber w o l l e n w i r einmal sehen, wie w i r dieses Seelenleben i m Inneren charakterisieren können. M i t anderen W o r -
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ten: Was müssen w i r denn für Vorstellungen anwenden, wenn w i r v o n der Seele des Menschen sprechen, so daß w i r i n diesen Vorstellungen klar z u m A u s d r u c k bringen, w i r meinen nichts anderes als Seelisches ? - W i r müssen uns Vorstellungen verschaffen, die uns die reine N a t u r des Seelischen, wie es sich darlebt auf dem physischen P l a n , charakterisieren. Was ist der G r u n d z u g , der Grundcharakter des seelischen E r lebens? In einer zweifachen Weise läßt sich dieser Grundcharakter des seelischen Erlebens zunächst angeben. Z w e i Vorstellungen können w i r gewinnen, die w i r nur auf das seelische Erleben anwenden können, u n d zwar zunächst nur auf das seelische E r l e ben des Menschen u n d auf gar nichts anderes, wenn w i r genau m i t B e z u g auf die physischen Verhältnisse des Menschen sprechen. M e i n e Aufgabe w i r d es also sein, i n exakter Weise die inneren Phänomene, die inneren Erscheinungen des Seelenlebens genau bis an die Grenze, bis w o h i n dieses seelische Leben reicht, wie es i m Innern wogt, z u charakterisieren, die Charakterzüge anzugeben. Es gibt z w e i Vorstellungen für das, was inneres seelisches E r leben sozusagen repräsentiert. Stoßen Sie sich nicht daran, daß w i r es heute z u t u n haben werden mit dem Zusammentragen v o n Vorstellungen. Sie werden i n den nächsten Tagen schon sehen, daß uns dieses genaue Fassen v o n Vorstellungen eine sehr große H i l f e sein w i r d , u m Erscheinungen begreifen z u lernen, die uns allen naheliegen, u n d u m solche H i n w e i s e für unser Seelenleben z u gewinnen, die i m täglichen Seelenleben für das gesunde wie für das kranke Seelenleben v o n großer Wichtigkeit sind. E i n e Vorstellung, durch die w i r das Seelenleben charakterisieren können, ist das Urteilen. U r t e i l e n ist die eine Tätigkeit des Seelenlebens. U n d die Summe der andern Erlebnisse des Seelenlebens erschöpft sich i n dem, was man nennen kann die inneren Erlebnisse v o n Liebe u n d Haß. W e n n diese Worte i m richtigen Sinne verstanden werden, umspannen sie innerlich, u n d zwar bis an seine G r e n z e n h i n , das gesamte innere Seelenleben. U n d w i r werden sehen, wie fruchtbar die beiden Vorstellungen, das U r teilen u n d die Betrachtung der Erscheinungen von Liebe und
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H a ß , für uns sein werden. Alles Seelische ist entweder ein U r t e i len oder aber es ist ein Leben i n Liebe u n d H a ß . I m G r u n d e genommen gibt es n u r i n diesen z w e i Vorstellungen das, was w i r k l i c h seelisch ist; alles andere bezeichnet etwas, was schon i n das Seelische etwas hineinträgt, entweder aus dem Äußeren durch das Leibliche, oder aus einem G r u n d e , den w i r n o c h k e n nenlernen werden, aus dem sogenannten Inneren, aus dem G e i stigen. U r t e i l e n auf der einen Seite, Liebe u n d Haß auf der andern Seite sind diejenigen - ob w i r es n u n so oder so nennen Kräfte oder meinetwillen Tätigkeiten, die dem Seelenleben ganz allein gehören. W e n n w i r uns n u n i n der rechten A r t verständigen w o l l e n über die R o l l e , welche diese beiden Tätigkeiten haben, so müssen w i r uns zunächst eine deutliche Vorstellung v o m Urteilen machen, u n d dann müssen w i r sehen, welche Bedeutung Urteilen s o w o h l wie Liebe u n d H a ß innerhalb des seelischen Lebens haben. Ich meine jetzt nichts Logisches; eine logische Betrachtung wäre etwas ganz anderes. Ich spreche nicht v o n dem Charakter des U r teils, nicht v o n den Gesetzen des U r t e i l s ; i c h spreche nicht v o n einem logischen, sondern v o m psychosophischen Standpunkte aus, v o n dem Standpunkte, der die innere Seelentätigkeit des U r teilens, den seelischen Vorgang des Urteilens ins Auge faßt. A l l e s also, was Sie d u r c h die L o g i k erfahren können über das U r t e i l , ist zunächst ausgeschlossen. Ich spreche nicht v o m U r t e i l , sondern v o m U r t e i l e n , v o n der Tätigkeit des Urteilens. Das ist ein Zeitw o r t : das U r t e i l e n . Wenn Sie veranlaßt werden - u n d w i r wollen jetzt weniger Rücksicht darauf nehmen, welche Veranlassung etwa vorliegt - , sich z u gestehen: «Die Rose ist rot», so haben Sie geurteilt. D a n n hegt die Tätigkeit des Urteilens vor. «Die Rose ist rot», «Der M e n s c h ist gut», «Die Sixtinische M a d o n n a ist schön», «Der K i r c h t u r m ist hoch»: indem Sie dies i m inneren Seelenleben als Tätigkeiten vollziehen, ist es Urteilen. N u n betrachten w i r die Erlebnisse v o n Liebe u n d H a ß . Wer sich ein wenig bemüht, den B l i c k nach innen z u wenden, der w i r d finden, daß er an der Außenwelt nicht so vorübergeht, daß seine Seele v o n den meisten Erscheinungen sozusagen unberührt
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bleibt. D e n k e n Sie, Sie fahren durch eine Landschaft. Sie sehen nicht n u r das G r ü n der Berge, die G i p f e l v o n W o l k e n bedeckt, Sie sehen nicht nur die Flüsse, die durch die Täler strömen, sondern Sie erleben i n Ihrer Seele Entzücken über die Landschaft. D a s , was da zugrunde liegt, ist nichts anderes, als daß Sie das Erlebnis heben, u m das es sich handelt. U n d wenn sich auch diese Liebe i n Ihren Seelenerlebnissen verbirgt, so ist dies doch etwas, was den Menschen i m bewußten wachen Leben v o m M o r g e n bis z u m A b e n d fast gegenüber allen D i n g e n begleitet. W e n n Sie jemanden auf der Straße sehen, der eine schlimme Tat begeht, so daß Sie davon abgestoßen werden, w o ist das nur, w e n n man so sagen w i l l , ein kaschiertes, ein verborgenes Auftreten des inneren Seelenerlebnisses des Hasses. W e n n Sie eine B l u m e auf dem Felde treffen, die übel riecht, u n d sich v o n ihr abwenden, so ist das nur ein etwas verändertes Erlebnis des H a s ses, das nicht gleich z u Tage tritt. Liebe u n d H a ß begleiten das Seelenleben fortwährend. Urteilen ist ebenso etwas, was das Seelenleben nach der einen Seite h i n fortdauernd begleitet. F o r t d a u ernd urteilen Sie, während Sie seelisch leben, fortwährend haben Sie die Erlebnisse v o n Liebe u n d H a ß . M a n kann nun n o c h genauer die Erscheinungen des inneren Seelenlebens kennenlernen, wenn man etwas am Urteilen ins A u g e faßt, was wichtig ist für das Urteilen. I m Seelenleben hat nämlich jedes Urteilen eine W i r k u n g ; u n d darauf k o m m t es an für das Begreifen des Seelenlebens, daß das Urteilen eine W i r k u n g hat. W e n n Sie das U r t e i l bilden: «Die Rose ist rot», wenn Sie einen Menschen eine gute Tat vollbringen sehen u n d das U r teil bilden: «Der M e n s c h ist gut», dann tragen Sie ein Ergebnis i n Ihrer Seele weiter fort. Dieses Ergebnis k a n n man i n beiden Fällen i n folgender A r t charakterisieren. M a n kann sagen: W e n n Sie das U r t e i l gefällt haben «Die Rose ist rot», so geht dann m i t I h nen d u r c h das weitere Seelenleben etwas mit als die Vorstellung der roten Rose. - Das U r t e i l : «Die Rose ist rot», verwandelt sich i m weiteren Seelenleben i n die Vorstellung v o n der roten Rose, u n d mit dieser Vorstellung leben Sie n u n weiter als seelisches Wesen. Jedes U r t e i l spitzt sich z u i m seelischen Erleben z u einer Vorstellung. E s ist also das Urteilen gleichsam etwas, was z u -
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sammengetragen w i r d , zusammenstrebt aus z w e i Tendenzen: «Die Rose» ist das eine, «rot» ist das andere; dann w i r d dies beides eines: «die rote Rose.» Das fließt zusammen i n eine Vorstellung, u n d dieses eine nehmen Sie mit d u r c h das weitere Seelenleben. W e n n w i r die beiden Erlebnisse «rot» u n d «Rose» als z w e i Strömungen zeichnen w o l l e n , so müssen w i r sagen: Sie fließen zuletzt zusammen, u n d was w i r als Urteilen haben, spitzt sich immer z u i n die Vorstellung.
Vorstellung.- £ i rote Rose' e
Kose
cot
M a n versteht nicht das Seelenleben, u n d auch die Beziehungen des Seelenlebens z u den höheren Welten, die w i r i n den nächsten Tagen z u betrachten haben, versteht man nicht ganz genau, w e n n man sich nicht vor die Seele schreibt, daß sich i n der Tat Urteilen i m m e r zuspitzt z u r Vorstellung. Anders müssen w i r fragen bei den Phänomenen, den Erscheinungen der Liebe u n d des Hasses. D a können w i r nicht fragen: W o h i n spitzen sie sich zu? - sondern w i r müssen eine andere Frage aufwerfen, w e n n w i r sie verstehen w o l l e n : Woher k o m men sie? W o h e r stammen sie? - B e i m U r t e i l e n k o m m t es auf das W o h i n an, darauf: W o h i n bewegt es sich? - B e i den Phänomenen v o n Liebe u n d H a ß k o m m t es darauf an: Woher k o m m e n sie? U n d w i r werden i m m e r eines finden innerhalb des seelischen Lebens selber, woher Liebe u n d H a ß k o m m e n , etwas nämlich, was gleichsam v o n der andern Seite i n das Seelenleben hereinbricht. A l l e s L i e b e n u n d Hassen führt zuletzt, wenn man es als Seelenerlebnisse betrachtet, auf das zurück, was man innerhalb dieses seelischen Lebens das Begehren, ein Begehren nennen kann. Legen w i r also an die andere Seite des Seelenlebens das Begehren (siehe Zeichnung), so können w i r sagen: H i n t e r dem, was i n unserer Seele als Liebe u n d Haß auftritt, steht i m m e r das
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Begehren u n d strahlt sich hinein i n unser Seelenleben. So daß w i r sagen können: W i r haben gleichsam eine Seite unseres Seelenlebens, die w i r n o c h kennenlernen werden, v o n der fließt herein i n das Seelenleben das Begehren. - U n d wenn w i r jetzt i n unsere Seele hineinschauen, was w i r d da aus dem Begehren? Liebe oder H a ß ! D a n n schauen w i r weiter i n unsere Seele hinein, finden die Tätigkeit des Urteilens u n d fragen uns: W o h i n führt diese Tätigkeit auf der andern Seite ? U n d w i r finden: Das Urteilen führt z u r Vorstellung. Begehren ist etwas, an dem Sie leicht erkennen können, daß es immer so betrachtet werden muß, wie w e n n es aufsteigen würde aus dem inneren Seelenleben. V o n einer Begierde können Sie nicht so sprechen, als ob sie irgendwie d u r c h diesen oder jenen äußeren Anlaß verursacht wäre; denn möglicherweise kennen Sie diesen äußeren Anlaß gar nicht. Das aber wissen Sie gewiß, daß sie, gleichgültig w o h e r sie stammt, i m Seelenleben auftaucht, u n d Sie können verfolgen, wie, sobald die Begierde aufgetaucht ist, als Ergebnis sich innerhalb des Seelenlebens Liebe u n d Haß einstellt. Ebenso können Sie sich sagen: Urteilen müssen Sie i n der Seele: «Die Rose ist rot.» W e n n Sie aber dann das U r t e i l haben, z u r Vorstellung zugespitzt, «die rote Rose», so muß diese Vorstellung «die rote Rose», wenn sie einen Wert für Sie haben
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soll, eine äußere Gültigkeit, eine äußere Bedeutung haben. So taucht gleichsam aus für den Geistesforscher bekannten Gründen, für uns heute, so dürfen w i r sagen, zunächst unbekannten Gründen, das Begehren i n der Seele auf u n d lebt sich aus i n den Phänomenen v o n Liebe u n d H a ß . So fühlt sich die Seele i n sich selbst veranlaßt, aus dem Q u e l l b o r n ihres eigenen Wesens die Tätigkeit des Urteilens fließen z u lassen u n d spitzt die Urteile z u Vorstellungen mit dem Bewußtsein, daß, wenn das U r t e i l e n i n einer gewissen Weise vollzogen ist, die Vorstellung eine gültige sein kann. Es w i r d Ihnen sonderbar v o r k o m m e n , daß ich - nicht allein m i t wenigen W o r t e n , sondern vielleicht mit vielen W o r t e n diese elementaren Begriffe des Seelenlebens auseinandersetze, u n d Sie könnten leicht glauben, daß man auch kürzer über solche D i n g e hinweggehen könnte. Was i c h jetzt sage, sage i c h gleichsam als eine A n m e r k u n g unter den Zeilen. M a n könnte vielleicht über diese D i n g e kürzer hinweggehen. A b e r w e i l sie nicht beachtet werden, auch i n dem weitesten Umkreise unseres heutigen wissenschaftlichen Lebens einfach nicht beachtet werden, deshalb werden i n bezug auf sie Fehler über Fehler gemacht. U n d gleichsam als A n m e r k u n g unter den Zeilen möchte i c h auf einen solchen Kapitalfehler hinweisen, w e i l die, welche i h n machen, sich keine klare Vorstellung v o n dem bilden, was w i r jetzt kennengelernt haben u n d n o c h kennenlernen werden, u n d w e i l die, die diesen Fehler machen, weitgehende Konsequenzen ziehen i n bezug auf eine gewisse Tatsache, die ganz falsch aufgefaßt wird. Sie können i n vielen physiologischen Büchern nachlesen: Wenn w i r irgendwie die H a n d oder das Bein bewegen, so k o m m e das daher, w e i l w i r innerhalb unseres Organismus nicht nur solche N e r v e n haben, die z u m Beispiel v o n den Sinnesorganen z u m G e h i r n hingehen u n d gleichsam die Botschaften der Sinnesorgane v o n den Sinnesorganen z u m G e h i r n oder auch z u m Rückenmark hinleiten; sondern überall w i r d die Sache so dargestellt, als ob diesen N e r v e n andere gegenüberstünden selbstverständlich stehen sie ihnen auf dem physischen Plan gegenüber - , die man, i m Gegensatz z u den Empfindungs- oder
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Wahrnehmungsnerven, die Bewegungsnerven nennt. U n d man sagt n u n : W e n n i c h einen Gegenstand sehe, so w i r d die Botschaft dieses Gegenstandes d u r c h den N e r v , der v o n dem Sinnesorgan z u m G e h i r n führt, also zunächst z u diesem Zentralorgan geführt, u n d dann w i r d der R e i z , der dort ausgeübt w i r d , gleichsam übertragen auf einen andern N e r v , der wiederum v o m G e h i r n z u m M u s k e l geht, u n d dieser N e r v spornt dann den M u s k e l an, i n Bewegung z u geraten. So unterscheidet man E m p f i n dungsnerven u n d Bewegungsnerven. N u n ist v o r der Geisteswissenschaft diese Sache gar nicht so. Was da Bewegungsnerv genannt w i r d , ist als physisches Gebilde w i r k l i c h vorhanden, aber nicht u m die Bewegung z u erregen, sondern u m die Bewegung selber wahrzunehmen, u m die Bewegung z u kontrollieren, u m ein Bewußtsein v o n der eigenen Bewegung z u haben. Geradeso wie w i r die N e r v e n haben, m i t denen w i r einen äußeren Farbeindruck empfangen, so haben w i r auch N e r v e n , die es uns ermöglichen, das, was w i r tun, z u k o n trollieren, u m es dem Bewußtsein z u überliefern. D a s ist ein K a pitalfehler, der i m weitesten U m k r e i s e heute grassiert u n d der die ganze Physiologie, wie sie heute getrieben w i r d , u n d auch die ganze Psychologie verdorben hat. Das nehmen Sie wie eine A n m e r k u n g unter den Z e i l e n . 48
N u n handelt es sich darum, daß w i r uns klar werden darüber: Welche R o l l e i m Seelenleben spielen denn n u n die beiden E l e mente, die w i r i n demselben gefunden haben, das Urteilen u n d die Phänomene v o n Liebe u n d Haß? Sie spielen eine ungeheuer große R o l l e . Es setzt sich nämlich nichts Geringeres als das ganze Seelenleben aus verschiedenen K o m b i n a t i o n e n dieser beiden Elemente zusammen. N u n würde man aber dieses Seelenleben falsch beurteilen, w e n n man nicht darauf Rücksicht nehmen wollte, daß überall i n dasselbe an seinen G r e n z e n fortwährend anderes, was i m strengen Sinne zunächst nicht z u m Seelenleben z u zählen ist, hereinspielt. D a fällt uns zunächst gewiß ein, was sozusagen überall i n unserem alltäglichen Seelenleben anzutreffen ist, u n d w o v o n w i r schon i m vorigen Jahre bei den Vorträgen über A n t h r o p o s o p h i e gesprochen haben: daß unser Seelenleben sich aufbaut auf G r u n d dessen, was w i r die Sinnesempfindungen
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nennen, die verschiedenen Erlebnisse z u m Beispiel des Gehörorganes i n den Tönen, des Gesichtsorganes i n den Farben, des G e schmacksorganes, des Geruchsorganes u n d so weiter. Was w i r da an den äußeren D i n g e n erleben durch unsere Sinnesorgane, das nehmen w i r i n einer gewissen Weise i n unsere Seele herein, u n d es lebt i n unserer Seele weiter. W e n n w i r dies, was w i r so i n u n sere Seele hereinnehmen, ins A u g e fassen, können w i r davon sprechen, daß w i r tatsächlich mit diesem Seelenleben an eine G r e n z e gehen, nämlich bis an die G r e n z e der Sinnesorgane. Gleichsam Wächter haber w i r ausgestellt i n unseren Sinnesorganen, u n d was uns diese Wächter künden v o n der U m w e l t , das nehmen w i r dann i n unser Seelenleben auf u n d tragen es weiter. W i e verhält sich denn n u n eigentlich innerhalb des Seelenlebens das, was uns da die Sinneserlebnisse geben? Was stellt das innerhalb des Seelenlebens dar, was w i r d u r c h das O h r als T o n , durch das A u g e als Farbe, durch den Geschmackssinn als Geschmack u n d so weiter wahrnehmen u n d dann i n uns weitertragen? Was stellt das für das Seelenleben dar? N u n sehen Sie, die Betrachtung dieser Sinneserlebnisse w i r d gewöhnlich i n einer recht einseitigen Weise gepflogen, u n d man macht sich dabei nicht klar, daß dasjenige, was uns da an der G r e n z e unseres Seelenlebens entgegentritt, sich aus z w e i F a k t o ren, aus z w e i Elementen zusammensetzt. Das eine ist nämlich das, was w i r unmittelbar erleben müssen an der Außenwelt: das ist die Wahrnehmung. Einen Farbeindruck, einen Toneindruck können Sie n u r haben, wenn Sie die entsprechenden Sinnesorgane der Außenwelt aussetzen, w e n n Sie der Außenwelt gegenüberstehen. U n d Sie haben den Färb- oder Toneindruck so lange, als Sie m i t dem äußeren Gegenstande i n Zusammenhang sind. D e r E i n d r u c k v o n außen, die Wechselwirkung zwischen außen u n d innen hört sofort auf, wenn Sie sich mit dem A u g e v o n dem Gegenstand abwenden, oder wenn Sie mit dem O h r so weit weggehen, daß Sie den Gegenstand nicht mehr hören können. Was beweist Ihnen diese Tatsache? W e n n Sie diese Tatsache zusammenhalten mit der andern, daß Sie etwas mitgenommen haben v o n diesen Erlebnissen der A u ßenwelt, was Sie weitertragen, was Sie nachher wissen - Sie
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wissen, was es für ein T o n war, den Sie gehört haben, was es für eine Farbe war, die Sie gesehen haben, w e n n Sie die Farbe nicht mehr sehen, den T o n nicht mehr hören - , was ist dann damit eigentlich gegeben? Etwas ist damit gegeben, was sich ganz i n Ihrem Inneren abspielt, was ganz z u Ihrem Seelenleben gehört, was durchaus innerlich sich abspielen m u ß ; denn wenn es z u r Außenwelt gehörte, könnten Sie es nicht mittragen. Sie können die E m p f i n d u n g eines Farbeindruckes, den Sie empfangen haben, indem Sie das A u g e auf die Farbe gerichtet haben, nur dann i n Ihrer Seele weitertragen, wenn sie drinnen ist i n der Seele, w e n n sie inneres Erlebnis der Seele ist, so daß es i n der Seele bleibt. A l s o Sie müssen unterscheiden, was sich abgespielt hat zwischen der Seele u n d der Außenwelt als die Sinneswahrnehm u n g , u n d das, was Sie loslösen v o n der Wechselwirkung mit der Außenwelt u n d i n der Seele weitertragen. Sie müssen streng unterscheiden zwischen diesen beiden D i n g e n , u n d es ist gut, auf solchen Gebieten streng z u unterscheiden. N e h m e n Sie es nicht als Pedanterie, was i c h sage; es soll eine Grundlage geschaffen werden für das Folgende. Was Sie erleben, solange Sie den Gegenstand v o r sich haben, können Sie für den weiteren Gebrauch genau unterscheiden von dem, w o v o n es unterschieden werden soll, w e n n Sie das, was Sie erleben an dem D i n g , die Sinneswahrnehmung nennen, u n d das, was Sie i n der Seele weitertragen, die E m p f i n d u n g ; so daß Sie also unterscheiden zwischen Farbwahrnehmung u n d Farbempfindung. D i e F a r b wahrnehmung müssen Sie lassen, w e n n Sie sich abwenden, die Farbempfindung tragen Sie weiter. M a n macht i m gewöhnlichen L e b e n nicht so strenge Unterscheidungen, u n d es ist auch nicht notwendig. A b e r für unsere vier Vorträge müssen w i r uns schon solche Vorstellungen schaffen, die uns dann weiterhelfen können. N u n tragen w i r also i n unserer Seele die Empfindungen herum. Sind n u n vielleicht diese Empfindungen, die w i r an den äußeren Gegenständen gewinnen, ein ganz neues Element des Seelenlebens gegenüber dem Urteilen u n d den Phänomenen v o n Liebe u n d Haß? W e n n das der Fall wäre, so müßten Sie sagen: Ja, d u hast etwas nicht genannt, was auch i m inneren Seelenleben ist:
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die E m p f i n d u n g e n der Sinne, die Empfindungen, die durch die Sinne gewonnen werden. - So ist es aber nicht. Diese E m p f i n dungen sind k e i n besonderes Element des Seelenlebens. D e n n Sie müssen unterscheiden i n der E m p f i n d u n g ihren Inhalt - so bei der Farbempfindung die Farbe, w e n n Sie z u m Beispiel «Rot» empfunden haben - v o n etwas anderem. W e n n das «Rot» inneres Seelenerlebnis wäre, würde Ihnen die ganze Farbwahrnehmung des R o t e n nichts helfen. D e r Inhalt, die Farbe, ist durchaus nicht inneres Seelenerlebnis. Was sich Ihnen gegenübergestellt hat, der Gegenstand, ist rot; nicht aus Ihrer Seele ist diese Qualität, diese Eigenschaft «rot» entsprungen. A u s Ihrer Seele ist etwas ganz anderes entsprungen, nämlich das, was Sie getan haben, u m etwas mittragen z u können, eine Tätigkeit, die Sie verübt haben, während das R o t v o r Ihnen stand. U n d diese Tätigkeit, die sich da vollzogen hat, ist inneres Seelenerleben u n d ist i n W i r k l i c h keit nichts anderes als eine Zusammenfügung v o n denjenigen Elementen des Seelenlebens, die i c h Ihnen heute als die zwei Grundelemente genannt habe. D a müssen w i r aber genau darauf eingehen: Was geschieht, w e n n w i r uns einer Farbe, z u m B e i spiel R o t , gegenüberstellen u n d dann i n unserem inneren Seelenerleben den E i n d r u c k R o t weitertragen? W e n n das w a h r ist, was ich Ihnen gesagt habe, daß i n unserem Seelenleben die z w e i Elemente sind, Liebe u n d Haß, die auf ein Begehren zurückweisen, u n d U r t e i l e n , das z u Vorstellungen sich zuspitzt, so müßte auch, wenn w i r uns einem Sinneserlebnis entgegenstellen u n d Sinnesempfindungen feststellen w o l l e n , nur etwas i n Betracht k o m m e n , was seelisch ist, was mit diesen beiden Elementen des Seelenlebens zusammenhängt. D e n k e n Sie sich, Sie stellen sich v o r einen Farbeindruck h i n u n d haben ein Sinneserlebnis der Farbe. Was w i r d als Tätigkeit aus dem seelischen Erleben heraus entspringen können, w e n n Sie diesem Sinneserlebnis gegenüberstehen, wenn Sie z u m Beispiel R o t v o r sich haben? Liebe oder H a ß , u n d andererseits w i r d U r t e i l e n auch hier aus der Seele entspringen. Stellen w i r es uns graphisch dar (siehe Zeichnung S. 13 3). N e h men Sie an, hier sei die Grenze der Seele gegenüber der A u ß e n welt. D e r horizontale Strich trennt dabei das Gebiet des Seelir
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sehen, das Untere, v o n dem Gebiet der Außenwelt, dem O b e r e n . W e n n es wahr ist, was ich gesagt habe, so muß, wenn an der G r e n z e zwischen der Seele und der Außenwelt ein D i n g einen E i n d r u c k auf ein Sinnesorgan macht - angenommen, bei c spiele sich ein Farbeidruck ab —, aus dem Innern der Seele entgegenkommen Urteilen u n d die Phänomene v o n Liebe u n d Haß. D e n n sonst kann nichts aus der Seele herausströmen als diese Phänomene. D a n n kann also, indem w i r vor der Farbe R o t stehen, diesem Sinneserlebnis nichts anderes entgegenströmen als das, was i n der Seele ist: U r t e i l e n u n d die Phänomene v o n Liebe u n d Haß.
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A b e r jetzt merken Sie einen wichtigen Unterschied, der bestehen kann zwischen U r t e i l e n und U r t e i l e n , und zwischen Begehren und Begehren. N e h m e n Sie einmal an: Während Sie träumen oder irgendwo sitzen und vielleicht i n Langeweile auf einen Eisenbahnzug warten oder dergleichen, taucht auf i n Ihrem Seelenleben aus der E r i n n e r u n g heraus die Vorstellung einer unangenehmen Tatsache, die Sie erlebt haben. U n d neben dieser Tatsache tritt etwas anderes i n Ihrem Seelenleben auf: was Ihnen alles an W i d r i g e m widerfahren ist durch diese Tatsache durch lange Zeiten hindurch. D a können Sie sozusagen empfinden, wie sich diese zwei Vorstellungen, die da auftauchen, neuerdings z u sammensetzen z u einer intensiven Vorstellung v o n dem E i n drucke v o n dem unliebsamen Ereignisse. D a vollzieht sich ein Urteilen, und das bleibt rein innerhalb des seelischen Erlebens. N i c h t s von der Außenwelt ist dabei hinzugekommen. A b e r m i t -
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gespielt haben auch Liebe u n d H a ß , indem die Vorstellung heraufgezogen ist aus der Seele u n d sich gleichsam aus dem inneren Seelenleben heraus Liebe u n d H a ß an sie angegliedert haben. U n d w i e d e r u m gelangt dabei nichts nach außen. Während Sie so ruhig sitzen u n d das alles i n Ihrem Seelenleben vor sich gegangen ist, k a n n jemand dabeistehen, u n d i n alledem, was der andere sehen k a n n , ist nichts enthalten v o n dem, was i n der Seele da sich abspielt. D i e ganze U m g e b u n g ist gleichgültig, die ganze A u ß e n welt hat keine Bedeutung für das, was da i n der Seele durchlebt w i r d v o n Liebe u n d H a ß u n d v o m Urteilen. Wenn w i r eine solche innere Tatsache vollziehen, wie i c h sie eben erzählt habe, w o Liebe u n d H a ß Urteilen hervorrufen, bleiben w i r gleichsam i n dem M e e r des Seelenlebens darinnen. Das können w i r k u r z graphisch i n folgender Weise darstellen (siehe Zeichnung). Innerhalb der G r e n z e n der Seele sei a die erste V o r stellung, die auftaucht, b die zweite; beide gruppieren sich z u sammen z u einer neuen Vorstellung x, z u dem Urteile, u n d dabei k o m m e n Liebe u n d H a ß irgendwie i n Betracht. A b e r das geht nicht bis an die G r e n z e n der Seele, das bleibt rein innerhalb des seelischen Erlebens.
G a n z anders ist es n u n , w e n n es sich u m ein Sinneserlebnis handelt. Taucht ein Sinneserlebnis auf, so müssen w i r bis an die Grenze der Seele gehen, müssen an die Außenwelt herantreten.
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D a ist es so, wie w e n n die Ströme unseres Seelenlebens hinfließen würden u n d unmittelbar aufgehalten werden durch die A u ßenwelt. Was w i r d da aufgehalten? Das Begehren, oder Liebe u n d H a ß können w i r auch sagen, fließen h i n bis zur G r e n z e , u n d die Urteilsfähigkeit fließt auch h i n . Beide werden an der G r e n z e gehemmt, u n d die Folge davon ist, daß das Begehren stillestehen m u ß , u n d daß das Urteilen stillestehen muß. U r t e i len ist schon da u n d ebenso das Begehren, aber die Seele n i m m t sie nicht wahr. A b e r indem Begehren u n d Urteilen hinfließen bis an die G r e n z e des Seelenlebens u n d da gehemmt werden, bildet sich die Sinnesempfindung. D i e Sinnesempfindung ist nichts anderes als auch etwas, was zusammengeflossen ist aus einem inneren unbewußt bleibenden U r t e i l e n u n d einem unbew u ß t bleibenden Phänomene v o n Liebe u n d H a ß , die hinausstreben, die aber nach außen h i n gehemmt, festgehalten werden. Das, was w i r k l i c h i n der Seele als eine Sinnesempfindung weitergetragen w i r d , entsteht auf diese Weise. Daher können w i r also sagen - u n d w i r werden alle diese D i n g e i n den nächsten Tagen ja bis z u r E v i d e n z genau betrachten u n d auch noch klarer machen: Es w o g t innerhalb des Meeres des Seelenlebens, substantiell möchte m a n sagen, seelisch substantiell dasjenige, was mit Liebe u n d H a ß , was mit U r t e i l e n bezeichnet werden darf. W e n n das U r t e i l e n sich innerhalb des Seelenlebens selber z u r Vorstellung zuspitzt, dann merkt das Seelenleben diese Z u spitzung, die ganze Tätigkeit des Urteilens, u n d sieht zuletzt die Vorstellung als Ergebnis. Läßt die Seele aber denselben Strom bis an die G r e n z e fließen, so daß er an der G r e n z e aufschlägt, so w i r d sie gezwungen, stillestehen z u lassen den Strom des Begehrens u n d den Strom des Urteilens, u n d das Ganze, dieses Zusammenfließen v o n Begehren u n d Urteilen, ergibt sich i n der E m p f i n d u n g . E m p f i n d u n g ist i m strengen Sinne das Z u sammenfließen v o n U r t e i l e n u n d Begehren innerhalb des Seelenlebens. Wenn w i r den alltäglichen U m f a n g unseres Seelenlebens i n Betracht ziehen u n d namentlich das ins A u g e fassen, was diesem unserem Seelenleben reichhchen Inhalt gibt, so sind es eben gerade diese Sinneserlebnisse. D e n n Sie werden sich leicht
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durch eine innere Selbstschau überzeugen können, daß das, was Sie innerlich erleben, i m G r u n d e genommen i n weitaus den meisten Fällen das ist, was Sie aus Sinneserlebnissen mitgenommen haben. U n d w e n n Sie sich Vorstellungen über etwas Höheres machen w o l l e n , Vorstellungen v o n dem, was nicht sinnlich erlebt werden k a n n , so werden Sie bemerken, daß es Ihnen auch ganz gut tut i m Seelenleben, w e n n Sie versuchen sich z u versinnlichen, was nicht sinnlich ist, das heißt, es sich bildlich vorzustellen d u r c h irgendwelche D i n g e , die - w e n n auch noch so leise - , Färb- oder Tonempfindungen sind. D i e Sprache selbst könnte Sie lehren, i n wie weitem Umfange aus der Seele heraus das Bedürfnis i m m e r wieder u n d wieder entsteht, i n dieser Weise auch das Höhere so auszudrücken, daß es versinnlicht w i r d i n Sinnesempfindungen. Gewöhnlich haben die Menschen gar kein Bewußtsein davon, daß dies der F a l l ist, w e i l bei den Versinnlichungen, welche vielfach die des alltäglichen Lebens sind, die Bildartigkeit, die Sinnbildlichkeit eine sehr schattenhafte u n d nebulose ist. U n d die Menschen glauben, sie haben etwas anderes als B i l der v o n Sinnesempfindungen zusammenkombiniert, aber das ist nicht der F a l l . Versuchen Sie einmal, unsinnlich ein Dreieck sich vorzustellen, ein Dreieck, das aber auch keine Farben hat, das also i n gar nichts an eine Sinnesempfindung irgendwie anknüpft! Sie werden sehen, wie schwierig das ist u n d wie die meisten M e n schen überhaupt unfähig sind, w e n n sie sich z u m Beispiel eine Vorstellung v o n einem Dreieck bilden wollen, es sich unsinnlich vorzustellen. Sie können das n u r tun, wenn Sie sich die Sache versinnlichen. W e n n man sich ein Dreieck vorstellen w i l l , muß man immer versinnlichen, man muß eine sinnliche Vorstellung an den Begriff des Dreiecks knüpfen. Das hegt schon ganz i n unserer Sprache. Sie können bemerken, wie man bei jeder Gelegenheit durch die Sprache notwendigerweise gezwungen ist, z u versinnlichen. Ich habe z u m Beispiel den Satz ausgesprochen: Eine sinnliche Vorstellung muß geknüpft werden an den Begriff des Dreiecks-«Knüpfen», was ist das für eine sinnliche Vorstellung? Etwas zusammenknüpfen! In den Worten selbst liegt es schon, daß überall versinnlicht w i r d . So also können w i r sagen: I m weitesten Umfange besteht das Seelenleben des Menschen aus
dem, was als Sinnesempfindungen an der Außenwelt gewonnen wird. N u r eine einzige Vorstellung hat der M e n s c h , die i h n sozusagen so begleitet, daß sie immer wieder u n d wiederum unter seinen inneren seelischen Erlebnissen auftritt, die er aber nicht d i rekt unter die äußeren Sinneserlebnisse stellen kann, trotzdem er sie m i t den äußeren Sinneserlebnissen fortwährend verknüpfen muß. U n d diese einzige Vorstellung ist die, die hier oft genannt w o r d e n ist: die Vorstellung des Ich. W e n n w i r den reinen Tatbestand, den seelischen Tatbestand ins A u g e fassen, so können w i r sagen: D e r M e n s c h lebt eigentlich z u m großen Teil i n einer Welt v o n Sinnesempfindungen, u n d innerhalb dieser Welt v o n Sinnesempfindungen taucht auf, ab u n d z u immer wieder sich hervordrängend, die Vorstellung des Ich. Dahinter liegt ein gewisses Bewußtsein, aber, nicht wahr, wenn Sie Ihr seelisches Leben prüfen, werden Sie leicht darauf k o m m e n können, daß dieses Ich nicht immer als Vorstellung da ist. Sie stellen nicht immerfort nur Ich vor, sondern auch anderes: R o t , Grün, Blau, zusammenknüpfend u n d auflösend u n d so weiter, aber nicht immerfort das Ich. T r o t z d e m aber wissen Sie, daß Sie i n dem Ich etwas vorstellen, was sozusagen bei jedem Sinneserlebnis dabei sein muß; denn Sie wissen, daß Sie es den Sinnesempfindungen entgegenstemmen i n dem Begehren, i n dem Urteilen. U n d was w i r seelisches Erleben nennen können, ist i n einem gewissen Sinne auch Ich-Erleben. Tonerleben, Farberleben ist i n einem gewissen Sinne auch Ich-Erleben. A b e r niemals k a n n an der Außenwelt nur die Vorstellung des Ich entzündet werden. Sie tritt immer auf zwischen den Vorstellungen, die Sie an den Sinneserlebnissen gewonnen haben. A b e r sie kann nicht v o n der Außenwelt hineink o m m e n wie R o t oder G r ü n , wie dieser oder jener T o n . Sie steigt aus dem Meere des Seelenlebens auf u n d gesellt sich gleichsam als eine Vorstellung z u allen andern Vorstellungen h i n z u . A u s diesem Meere des Seelenlebens tauchen aber auch alle die andern Vorstellungen auf, die veranlaßt werden durch die äußeren E i n drücke, aber nur dann, w e n n äußere Eindrücke da sind. D i e IchVorstellung taucht aber auf, ohne daß ein äußerer E i n d r u c k da sein muß. I n dieser Tatsache ist zunächst der einzige Unterschied
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gegeben zwischen d e r Ich-Vorstellung, der Ich-Empfindung könnten w i r auch sagen, u n d den Vorstellungen u n d E m p f i n dungen, die sich an die Sinneserlebnisse knüpfen. N u n können w i r also sagen: D a tritt uns die bedeutsame Tatsache entgegen, daß mitten i n unserem Seelenleben eine Vorstellung auftaucht, welche sich z u den zunächst v o n außen veranlaßten Vorstellungen hinzugesellt. E i n e merkwürdige, bedeutsame Tatsache. W i e haben w i r sie uns z u erklären? N u n , sehen Sie, es gibt unter den gegenwärtigen Philosophen und Psychologen schon einige, auch außerhalb der geisteswissenschaftlichen Bewegung, die auf die Wichtigkeit der I c h - V o r stellung hinweisen, auf die ja i m m e r wieder und wiederum durch unseren H e r r n D r . U n g e r ' i n seinen erkenntnistheoretischen Betrachtungen i n so eindringlicher Weise aufmerksam gemacht w i r d . A b e r das Merkwürdige ist, daß die Betreffenden selbst da, w o sie es gut meinen, furchtbar über das Z i e l hinausschießen. Ich w i l l als Beispiel dafür herausgreifen den französischen P h i l o sophen B e r g s o n , ' bei dem Sie an unzähligen Stellen lesen können über die Ich-Vorstellung u n d bei dem Sie immer wieder eines betont finden. Es fällt solchen Leuten auf das ganz Bedeutungsvolle, das Auszeichnende der Ich-Vorstellung. U n d daraus schließen sie dann, daß die Ich-Vorstellung, w e i l sie wie aus u n bekannten Tiefen der Seele heraus, nicht durch einen äußeren Anlaß, auftaucht, ein Dauerndes darstelle oder auf ein D a u e r n des hinweise, u n d sie begründen das damit, wie z u m Beispiel Bergson, daß sie sagen: Das Ich unterscheidet sich v o n allen E r lebnissen der Sinne u n d allen andern Seelenerlebnissen dadurch, daß es gleichsam drinnensteckt i n seinem Erleben, also eigentlich drinnen ist i n sich selber und darum seine wahre Gestalt erlebt. Wenn aber das Ich i n seiner Vorstellung seine wahre Gestalt erlebe, so sei damit etwas Dauerndes gegeben, nicht bloß etwas Vorübergehendes. - Das ist etwas, was Sie heute, hervorgerufen durch das Bedeutungsvolle der Ich-Vorstellung, als ein Ergebnis mancher Philosophie und Psychologie, auch außerhalb der G e i steswissenschaft, finden können. 4
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N u n liegt dem aber, ich möchte sagen, etwas sehr Fatales z u grunde. U n d die Tatsache, die derartigen Ausführungen entge-
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gengehalten werden muß, ist für eine solche Folgerung, wie sie Bergson zieht, w i r k l i c h fatal. N e h m e n w i r an, die Ich-Vorstellung ergebe etwas, w o r i n n e n man das eigentliche Menschenwesen habe, also etwas, w o die Seele innerhalb dieses Selbst ist. N e h m e n w i r an, die Ich-Vorstellung ergebe das. D a n n könnte u n d müßte die berechtigte Frage aufgeworfen werden: W i e steht es jetzt i n der N a c h t , i m Schlafe? D a ist der M e n s c h nicht i n der Ich-Vorstellung drinnen, da hört diese Ich-Vorstellung vollständig auf! - A l s o alle Begriffe, die man sich bildet von dem D r i n nensein i n dem Ich aus der Ich-Vorstellung heraus, gelten n u r für das wache Leben, denn die Ich-Vorstellung hört auf mit dem Einschlafen. D a ist sie fort, u n d am M o r g e n tritt sie wieder neu auf. Sie ist also durchaus nichts Dauerndes! Wenn die Ich-Vorstellung selber etwas beweisen sollte für die Dauer des Ich, so müßte sie als Vorstellung nach dem Einschlafen da sein. Das ist sie aber nicht. A u s der bloßen Ich-Vorstellung ist es also unmögl i c h , ein Zeugnis z u schöpfen für die Dauer oder die Unsterblichkeit des Ich. W e i l sie i n der N a c h t nicht da ist, könnte jemand ganz berechtigt schließen: A l s o w i r d sie auch nach dem Tode nicht sein! - Sie kann fehlen. Sie ist durchaus nicht etwas U n v e r gängliches, denn sie vergeht jeden Tag. So müssen w i r auf der einen Seite festhalten das ganz auszeichnend Bedeutungsvolle der Ich-Vorstellung, die durch nichts Äußeres veranlaßt ist, i n der das Ich w i r k l i c h sich drinnen fühlt, die aber z u gleicher Zeit in einem gewissen andern Sinne wiederum nichts für das Ich beweist, w e i l diese Vorstellung i n der N a c h t nicht da ist. So also haben w i r heute sozusagen das Ergebnis z u verzeichnen, auf dem w i r dann weiterbauen wollen v o n morgen ab: daß i n dem auf und ab wogenden Meere unseres Seelenlebens vorhanden sind U r t e i l e n u n d die Phänomene v o n Liebe u n d Haß, aus denen das Seelenleben i m G r u n d e genommen besteht; daß an der Grenze der Seele mit der Außenwelt die Sinnesempfindungen auftreten als ein für uns nicht bewußtes Zusammenfließen v o n Begehren u n d U r t e i l e n ; daß hereingenommen werden i n u n ser Seelenleben die Sinneserlebnisse, u n d daß innerhalb der Sinneserlebnisse, nicht hervorgerufen durch Äußeres, die Ich-Vorstellung auftaucht; daß diese Ich-Vorstellung aber mit allen Sin51
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neserlebnissen, insofern sie seelische Erlebnisse werden, ein Schicksal teilt: denn T o n - u n d Farbeindrücke u n d die andern Sinneserlebnisse sinken i n der N a c h t ebenso hinunter i n das D u n k e l des Unbewußten wie die Ich-Vorstellung auch. W i r werden uns n u n fragen müssen: W o h e r k o m m t aber n u n das Auszeichnende der Ich-Vorstellung? U n d wie steht die Ich-Vorstellung mit dem i m Zusammenhang, was w i r die Elemente der Seele genannt haben, mit dem U r t e i l e n u n d mit den Phänomenen v o n Liebe u n d Haß ? M i t dieser Frage nach dem Verhältnis der Ich-Vorstellung, des eigentlichen Seelenzentrums, z u dem übrigen Seelenleben, mit dieser Frage w i l l i c h heute schließen. A n diesem P u n k t werden w i r morgen anknüpfen.
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Seelenkräfte zwischen Vorstellen und Begehren
W i r werden diesen Vortrag wiederum beginnen mit der R e z i t a tion einer D i c h t u n g , die dienen soll z u r Illustration einiger D i n g e , die i c h heute u n d morgen werde auszuführen haben. D i e s m a l soll es sich gewissermaßen handeln u m eine D i c h t u n g eines N i c h t - D i c h t e r s , die gegenüber der andern Geistesbetätigung der betreffenden Persönlichkeit erscheint wie ein gelegentlicher A b f a l l aus dieser Geistesbetätigung. W i r haben es also mit einer Seelenoffenbarung z u t u n , die gewissermaßen nicht aus dem allerinnersten Impuls dieser Seele hervorgegangen ist. U n d gerade an dieser Tatsache w i r d es uns dann möglich sein, innerhalb dieser Vorträge manches z u m T h e m a gehörige besonders gut z u beobachten. D i e D i c h t u n g ist v o n dem deutschen P h i l o sophen H e g e l u n d behandelt sein Verhältnis z u gewissen E i n weihungsgeheimnissen der Menschheit. 5 2
ELEUSIS
An
Hölderlin
U m m i c h , i n m i r w o h n t R u h e . D e r geschärt'gen Menschen N i e müde Sorge schläft. Sie geben Freiheit U n d Muße mir. D a n k dir, du meine Befreierin, o N a c h t ! - M i t weißem N e b e l f l o r U m z i e h t der M o n d die ungewissen G r e n z e n D e r fernen Hügel. F r e u n d l i c h blinkt D e r helle Streif des Sees herüber. Des Tags langweil'gen Lärmen fernt Erinnerung, A l s lägen Jahre zwischen i h m u n d jetzt. D e i n B i l d , Geliebter, tritt vor mich, U n d der entfloh'nen Tage Lust. D o c h bald weicht sie Des Wiedersehens süßern H o f f n u n g e n . Schon malt sich m i r der langersehnten, feurigen
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U m a r m u n g Szene; dann der Fragen, des geheimem, Des wechselseitigen Ausspähens Szene, Was hier an H a l t u n g , A u s d r u c k , Sinnesart am F r e u n d Sich seit der Zeit geändert; - der Gewißheit Wonne, Des alten Bundes Treue, fester, reifer noch z u finden, Des Bundes, den k e i n E i d besiegelte: Der freien Frieden
Wahrheit
mit der
Die Meinung
nur zu
leben,
Satzung,
und Empfindung
regelt, nie, nie
einzugehn!
N u n unterhandelt m i t der trägem W i r k l i c h k e i t der Sinn, D e r über Berge, Flüsse leicht m i c h z u dir trug. D o c h ihren Z w i s t verkündet bald ein Seufzer u n d mit i h m Entflieht der süßen Phantasien Traum. M e i n A u g ' erhebt sich z u des ew'gen H i m m e l s Wölbung, Z u dir, o glänzendes G e s t i r n der N a c h t ! U n d aller Wünsche, aller H o f f n u n g e n Vergessen strömt aus deiner E w i g k e i t herab. D e r Sinn verliert sich i n dem A n s c h a u ' n , Was mein i c h nannte, schwindet. Ich gebe m i c h dem Unermeßlichen dahin. Ich b i n i n i h m , b i n alles, b i n nur es. D e m wiederkehrenden Gedanken fremdet, I h m graut v o r dem U n e n d l i c h e n , u n d staunend faßt E r dieses Anschau'ns Tiefe nicht. D e m Sinne nähert Phantasie das E w i g e , Vermählt es mit Gestalt. - W i l l k o m m e n , ihr, Erhab'ne Geister, hohe Schatten, V o n deren Stirne die V o l l e n d u n g strahlt! Erschrecket nicht. Ich fühl', es ist auch meine H e i m a t , D e r G l a n z , der Ernst, der euch umfließt. H a ! Sprängen jetzt die Pforten deines Heiligtums, O Ceres, die du i n Eleusis throntest! Begeist'rungstrunken fühlt' i c h jetzt D i e Schauer deiner Nähe, Verstände deine Offenbarungen,
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Ich deutete der B i l d e r hohen Sinn, vernähme D i e H y m n e n bei der Götter M a h l e , D i e hohen Sprüche ihres Rats. D o c h deine H a l l e n sind verstummt, o Göttin! Geflohen ist der Götter Kreis i n den O l y m p Zurück v o n den entheiligten Altären, G e f l o h ' n v o n der entweihten Menschheit G r a b D e r U n s c h u l d Genius, der her sie zauberte. D i e Weisheit deiner Priester schweigt. K e i n T o n der heil'gen W e i h ' n H a t sich z u uns gerettet, und vergebens sucht D e r Forscher N e u g i e r mehr, als Liebe Z u r Weisheit. Sie besitzen die Sucher u n d verachten dich. U m sie z u meistern, graben sie nach W o r t e n , In die dein hoher Sinn gepräget war'. Vergebens! E t w a Staub u n d Asche nur erhaschen sie, W o r e i n dein Leben ihnen ewig nimmer wiederkehrt. D o c h unter M o d e r u n d Entseeltem auch gefielen sich D i e E w i g t o t e n , die Genügsamen! - U m s o n s t , es blieb K e i n Zeichen deiner Feste, keines Bildes Spur. D e m Sohn der Weihe war der hohen Lehren Fülle, Des unaussprechlichen Gefühles Tiefe viel z u heilig, A l s daß er trock'ne Zeichen ihrer würdigte. Schon der Gedanke faßt die Seele nicht, D i e , außer Zeit u n d R a u m i n A h n u n g der Unendlichkeit Versunken, sich vergißt u n d wieder z u m Bewußtsein nun Erwacht. Wer gar davon z u andern sprechen wollte, Sprach' er mit Engelzungen, fühlt der Worte A r m u t . I h m graut, das H e i l i g e so klein gedacht, D u r c h sie so klein gemacht z u haben, daß die R e d ' i h m Sünde deucht, U n d daß er bebend sich den M u n d verschließt. Was der Geweihte sich so selbst verbot, verbot ein weises Gesetz den ärmern Geistern, das nicht k u n d z u tun, Was sie i n heil'ger N a c h t gesehn, gehört, gefühlt, D a ß nicht den Bessern selbst auch ihres Unfugs Lärm
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In seiner A n d a c h t stört', i h r hohler Wörterkram Ihn auf das Heil'ge selbst erzürnen machte, dieses nicht So i n den K o t getreten würde, daß man dem Gedächtnis gar es anvertraute, daß es nicht Z u m Spielzeug u n d z u r Ware des Sophisten, D i e er obolenweis verkaufte, Z u des beredten Heuchlers M a n t e l , oder gar Z u r Rute schon des frohen K n a b e n , u n d so leer A m E n d e würde, daß es n u r i m W i d e r h a l l V o n fremden Zungen seines Lebens W u r z e l hätte. Es trugen geizig deine Söhne, Göttin, N i c h t deine E h r ' auf G a ß ' u n d M a r k t , verwahrten sie Im innern H e i l i g t u m der Brust. D r u m lebtest d u auf i h r e m M u n d e nicht. Ihr Leben ehrte dich. I n ihren Taten lebst d u noch. A u c h diese N a c h t vernahm i c h , heil'ge Gottheit, D i c h . D i c h offenbart oft m i r auch deiner K i n d e r Leben, D i c h ahn' i c h oft als Seele ihrer Taten! D u bist der hohe Sinn, der treue G l a u b e n , D e r einer Gottheit, w e n n auch alles untergeht, nicht wankt. W e n n w i r an die Behauptung der beiden letzten Vorträge denken, daß das Seelenleben, w e n n w i r es überblicken, uns bis an seine G r e n z e n h i n i m wesentlichen seine beiden Elemente zeige, das U r t e i l e n u n d die Erlebnisse v o n Liebe u n d H a ß , die mit dem Begehren zusammenhängen, so könnte es scheinen, als ob mit dieser Behauptung gerade das Allerwichtigste des Seelenlebens außer acht gelassen wäre, w o d u r c h sich die Seele so recht i n ihrer Innerlichkeit erlebt: das Gefühl, das Fühlen. So könnte es jemandem b e i k o m m e n z u sagen, es sei i n diesen Vorträgen das Seelenleben gerade durch das charakterisiert w o r d e n , was i h m gewissermaßen nicht eigentümlich ist, u n d es sei zunächst keine Rücksicht auf das genommen w o r d e n , was i m Seelenleben h i n u n d her, auf u n d ab wogt als Gefühl u n d i h m seinen jeweiligen Charakter gibt. W i r werden n u n sehen, daß w i r allerdings das Dramatische des
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Seelenlebens, das w i r gestern versuchten hervorzuheben, werden verstehen können, w e n n w i r uns dem Gefühle dadurch nähern, daß w i r v o n den beiden charakterisierten Elementen des Seelenlebens ausgehen. D a müssen w i r zunächst wieder bei einfachen Tatsachen des Seelenlebens beginnen. U n d die einfachsten Tatsachen des Seelenlebens wurden ja schon öfter genannt. Es sind die durch die Tore unserer Sinne gewonnenen Sinneserlebnisse, die hereindringen i n unser Seelenleben u n d i n demselben dann weiter i h r Dasein haben. Vergleichen Sie einmal diese Tatsache, daß sozusagen das Seelenleben seine Wogen h i n schlägt bis z u den Toren der Sinne u n d v o n diesen Toren der Sinne zurücknimmt i n sich selber die Erlebnisse der Sinneswahrnehmungen, die dann selbständig weiterleben innerhalb des Seelenlebens, vergleichen Sie diese Tatsache mit der anderen, daß alles, was sich zusammenfassen läßt i n den Erlebnissen v o n Liebe u n d H a ß , die aus den Begehrungen k o m m e n , aufsteigt wie aus dem inneren Seelenleben selber. W i e aus einem M i t t e l p u n k t des Seelenlebens steigen zunächst für die bloße Seelenbeobachtung die Begehrungen auf, u n d diese Begehrungen sind es ja, die, selbst für eine oberflächliche Betrachtung, i n der Seele z u den Erlebnissen v o n Liebe u n d Haß führen. A b e r w i r würden fehl gehen, w e n n w i r die Begehrungen etwa selber zunächst i n der Seele suchen wollten. Für die Seelenbeobachtungen sind diese Begehrungen nicht i n der Seele selbst z u suchen. D a würden sie nicht gefunden werden können. Wenn Sie nur eine allseitige Seelenbeobachtung dagegen nehmen, so werden Sie finden, w e n n Sie Ihr Seelenleben betrachten, wie die Begehrungen aufsteigen gegenüber der Außenwelt, und wie nun in der Seele selber hervorquellen Liebe u n d H a ß , die Ausdrücke des Begehrens. So können w i r sagen, daß weitaus der größte U m f a n g der seelischen Erlebnisse, soweit es sich u m Vorstellungen handelt, gewonnen w i r d an den G r e n z e n des Seelenlebens durch die Tore der Sinne. Dasjenige dagegen, was i m Seelischen sich als Begehren auslebt, als Liebe u n d H a ß , das steigt aus dem M i t t e l p u n k t der Seele auf. N u n werden w i r uns am besten verständigen können, wenn w i r i n eine A r t graphisches B i l d bringen, was w i r so als eine Tat-
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sache erkennen. D a w e r d e n w i r dieses Seelenleben, das v o n uns i n seiner Innerlichkeit zunächst betrachtet werden soll, gut charakterisieren können, w e n n w i r es als das Innere eines Kreises betrachten, das uns den Inhalt unseres vielgestaltigen Seelenlebens repräsentieren soll. D e n k e n w i r uns n u n die Sinnesorgane w i r k l i c h wie Tore, als die w i r sie auch z u betrachten haben. Das können Sie auch aus den Vorträgen über Anthroposophie entnehmen. Jetzt genügt es, daß w i r sie als Tore, wie Offnungen nach der Außenwelt h i n betrachten. Wenn w i r nun das Innere des Seelenlebens graphisch darstellen wollten, könnten w i r
Ohr (Toni
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Zunge ((jeichmack)
nichts Besseres t u n , als aus dem M i t t e l p u n k t dieses Seelenlebens wie hervorquellen z u lassen allseitig i n das Seelenleben hinein die Flut der Begehrungen, die sich ausleben i n den Phänomenen v o n Liebe u n d H a ß . So würden w i r gleichsam unsere Seele ganz angefüllt haben mit Begehrungen u n d würden bis z u den Toren der Sinne die Flut der Begehrungen hinbrandend finden. Was w i r d n u n da zustande k o m m e n , w o ein Sinneserlebnis eintritt, z u m Beispiel das des Tones durch das Gehörorgan oder das der Farbe durch das Gesichtsorgan? D i e Außenwelt lassen w i r zunächst i n bezug auf ihren Inhalt unberücksichtigt u n d sagen: N e h m e n w i r auf der einen Seite den M o m e n t , i n dem die sinnliche Wahrnehmung geschieht, dieser Wechselverkehr der
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Seele mit der Außenwelt. Versetzen w i r uns lebendig i n diesen A u g e n b l i c k , w o die Seele, innerlich es erlebend, durch das T o r des Sinnesorganes an der Außenwelt unmittelbar das Färb- oder Tonerlebnis hat. Jetzt denken Sie sich abgewendet v o n dem Sinneserlebnis, und denken Sie sich einmal, daß die Seele nun weiter in der Zeit lebt u n d sich als Erinnerungsvorstellung das mitn i m m t u n d behält, was sie sich gleichsam erobert hat an dem Sinneserlebnis. Das trägt also die Seele jetzt weiter. W i r haben gesagt, w i r müssen unterscheiden zwischen dem, was die Seele da weiterträgt als Erinnerungsvorstellung der Sinneswahrnehmung u n d zwischen der Sinneswahrnehmung selber; denn wenn man nicht ordentlich unterscheidet, k o m m t nicht Wahrheit heraus, sondern Schopenhauerianismus. Daher müssen w i r unterscheiden das i n der Seele als Erinnerungsvorstellung fortdauernde Erleben u n d das i n der Tätigkeit der Sinneswahrnehmung entstehende Erleben. Was ist geschehen i n dem A u g e n b l i c k , da die Seele durch das T o r der Sinneswahrnehm u n g ausgesetzt war der Außenwelt? W i e die E r f a h r u n g unmittelbar ergibt, ist ja w i r k l i c h unsere Seele innerlich lebend i n dem Flutenmeer der Begehrungen, der Phänomene v o n Liebe u n d Haß, i n dem Umfange, wie i c h es gestern u n d vorgestern charakterisiert habe. U n d indem die Seele ihre eigenen Wogen bis z u den Toren der Sinne hinschlagen läßt, schlägt eben an das T o r der Sinne das Begehren an, u n d dieses Begehren berührt sich tatsächlich in dem A u g e n b l i c k des Sinneserlebnisses mit der Außenwelt. Dieses Begehren ist es, das gleichsam v o n der andern Seite her einen Siegelabdruck erhält. N e h m e n Sie ein Petschaft, auf dem der N a m e Müller steht, u n d drücken Sie es i n Siegellack ab, dann bleibt der N a m e Müller i n dem Siegellack zurück. Was ist i n dem Siegelabdruck zurückgebheben? E i n e Prägung, durch das Petschaft verursacht. Sie können nicht sagen, was da hineingedrückt ist, stimme nicht überein mit dem, was die äußere Welt bewirkt hat! Das wäre wieder nicht unbefangene Beobachtung, sondern Kantianismus. Insofern Sie bloß auf das äußere Materielle sehen w o l l e n , ist es schon K a n tianismus. W e n n Sie aber auf das sehen, worauf es ankommt, auf den N a m e n Müller i n diesem F a l l , u n d nicht auf das Messing, so 53
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müssen Sie sagen: I n dem, was sich da entgegengestellt hat dem Sinneserlebnis, hat sich v o n außen eine Prägung hineingedrückt, ein A b d r u c k gebildet. D e r w i r d mitgenommen. Geradeso wie Sie nicht das Petschaft m i t n e h m e n , so nehmen Sie auch die Farbe oder den T o n nicht mit, aber Sie nehmen mit, was i n der Seele als Prägung enstanden ist. Was man Begehren, was man die Phänomene v o n Liebe u n d H a ß nennen k a n n , das k o m m t den Sinneserlebnissen entgegen. K a n n man es denn so nennen? Ist denn w i r k l i c h , selbst bei dem bloßen Sinneserlebnis, etwas z u spüren v o n einem Phänomen v o n Liebe u n d Haß? G i b t es etwas i m unmittelbaren Sinneserlebnis, was w i r k l i c h wie eine A r t v o n Begehren nach außen sich hindrängen muß ? W e n n da nichts, was einem Begehren ähnlich oder gleichartig wäre, hindrängen würde z u dem Sinneserlebnis, so bekämen Sie es nicht m i t i m weiteren Seelenleben; dann bildete sich keine Erinnerungsvorstellung. Es gibt aber eine Tatsache dafür, daß Begehren anschlägt nach außen, ob Sie n u n Tonwahrnehmungen, Farbwahrnehmungen, Geruchswahrnehmungen oder dergleichen haben, u n d diese Tatsache ist die Tatsache der Aufmerksamkeit. E i n Sinneserlebnis, auf das w i r nur hinstieren, macht natürlich dann auch einen E i n d r u c k auf uns nach den Gesetzen, die bestehen zwischen der Außenwelt u n d dem Sinnesorgan, aber der E i n d r u c k , auf den Sie nur hinstieren, trägt sich nicht i m Seelenleben weiter fort. Sie müssen i h m v o n innen entgegenkommen mit der Kraft der Aufmerksamkeit. U n d je größer die Aufmerksamkeit ist, desto leichter trägt die Seele die Sinneserlebnisse als Erinnerungsvorstellungen i m w e i teren Leben mit. So steht die Seele mit der Außenwelt so i m Z u sammenhang, daß gleichsam diese Seele das, was sie i m Innern ist, substantiell, bis an die äußersten G r e n z e n ihres Wesens schlagen läßt, u n d das zeigt sich an den äußersten G r e n z e n ihres Wesens n o c h i n der Tatsache der Aufmerksamkeit. Das andere, was z u m Seelenleben gehört, das U r t e i l e n , w i r d gerade beim unmittelbaren Sinneserlebnis ausgeschaltet. D a macht sich das Begehren, das Hingebende u n d Exponierende der Seele gegenüber den äußeren Eindrücken allein geltend. E i n Sinneseindruck ist gerade dadurch charakterisiert, daß die A u f -
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merksamkeit bei i h m so hingeordnet ist, daß die Urteilsfällung als solche ausgeschaltet w i r d . W e n n sich die Seele dem R o t oder irgendeinem T o n exponiert, lebt i n diesem Exponieren nur Begehren, u n d die andere Seelentätigkeit, das Urteilen, w i r d i n diesem Falle ausgeschaltet, unterdrückt. N u r muß man sich klar sein, daß man da ganz genau die G r e n z e ziehen muß, wenn man genau u n d nicht phantastisch betrachten w i l l . W e n n Sie z u m B e i spiel eine rote Farbe gesehen haben u n d sagen: «Rot ist» - so haben Sie schon geurteilt; nur wenn Sie beim Farbeindruck stehenbleiben, haben Sie es m i t einer bloßen Korrespondenz der Seele mit der Außenwelt z u tun. Was entsteht nun bei der Wechselwirkung des Begehrungselementes mit der Außenwelt? W i r haben ja, w e i l w i r genau vorstellen w o l l e n , unterschieden zwischen Sinneswahrnehmung u n d Sinnesempfindung u n d haben die Sinneswahrnehmung das Erlebnis genannt, das beim E x ponieren den äußeren Eindrücken gegenüber durchgemacht w i r d , was erlebt w i r d während des Eindruckes, die Sinnesempfindung aber dasjenige, was dableibt, was die Seele mitträgt. D a her können w i r sagen: I n dem, was w i r mittragen, haben w i r eine M o d i f i k a t i o n des Begehrens. D i e Aufmerksamkeit zeigt uns, daß Begehren da ist, u n d was bleibt, das entpuppt sich als Sinnesempfindung. Was i n unserer Seele weiterlebt, ist daher m o d i f i ziertes Begehren als E m p f i n d u n g . W i r tragen i n der Tat das Wesen unerer eigenen Seele auch mit den Sinnesvorstellungen, mit den Sinnesempfindungen mit. D u r c h das, was da wogt und brandet durch unser ganzes Seelenwesen, d u r c h die Begehrenskraft i n uns, entsteht die Sinnesempfindung. D i e Sinnesempfindung, haben w i r gesehen, entsteht an der G r e n z e zwischen Seelenleben u n d Außenwelt, bei dem T o r der Sinne. N e h m e n w i r aber einmal an, die Begehrungskraft i n uns ginge nicht bis an die G r e n z e des Seelenlebens, sie bliebe innerhalb desselben. W e n n w i r v o n einem Sinneserlebnis sprechen, würden w i r sagen, es dringe die Begehrungskraft bis an die Oberfläche der Seele. D e n k e n w i r uns aber n u n , es würde sich eine Begehrung vorschieben, würde aber nicht bis an die Grenze des Seelenlebens k o m m e n , sondern sie stumpfe sich gleichsam innerhalb des Seelenwesens ab, bliebe innerhalb desselben u n d
griffe nicht v o r bis z u m T o r e eines Sinnes. Was wäre i n diesem Falle geschehen? W i r haben gesehen: Wenn die Begehrung vorstößt u n d genötigt ist, sich zurückzuziehen, so entsteht die E m p f i n d u n g , die Sinnesempfindung. D i e Sinnesempfindung entsteht n u r dann, wenn das Zurückziehen durch einen Gegenschlag v o n außen b e w i r k t w i r d , also d u r c h das, was der Sinn macht. Innere E m p f i n d u n g entsteht, w e n n das Begehren nicht durch eine direkte Berührung mit der Außenwelt i n sich zurückgeschoben w i r d , sondern innerhalb der Seele - ein Stück v o r der G r e n z e irgendwie - zurückgeschlagen w i r d . D a entsteht die i n nere E m p f i n d u n g , u n d diese ist das Gefühl. Gefühle sind daher für die Seelenbeobachtung modifiziertes Begehren. Gefühle sind gleichsam solche stehenbleibende, i n sich selber sich zurückschlagende Begehrungen, die nicht hinbrandend sind bis an die G r e n z e des Seelenlebens, sondern die innerhalb des Seelenlebens leben. So können w i r sagen: A u c h i n den Gefühlen haben w i r i m wesentlichen dasjenige seelensubstantiell enthalten, was w i r Begehren nennen. W e n n dies der F a l l ist, sind Gefühle als solche nicht irgendwie etwas Neues i m Seelenleben, wenn w i r dessen Elemente betrachten, sondern Gefühle sind dann substantiell, real innerhalb des Seelenlebens selber sich abspielende Begehrungsvorgänge. (Siehe Zeichnung.)
Cf.
,
;•'
\*
Begehren, aas nicht bis z u r g r e n z e o e r i e e i e ger/t, w i r d Qefühl.
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Diese D i n g e , die w i r jetzt gewonnen haben, wollen w i r einmal festhalten, u n d n u n die beiden Elemente des Seelenlebens, U r t e i len u n d die Erlebnisse v o n Liebe u n d H a ß , die aus den Begehrungen stammen, einmal nach einer gewissen Seite h i n charakterisieren. W i r können nämlich sagen: Alles, was als Urteilstätigkeit - u n d darauf k o m m t es ja an - sich i n der Seele vollzieht, endet i n einem gewissen M o m e n t ; aber auch was sich als Begehrung abspielt, endet i n einem gewissen M o m e n t . - D i e Urteilstätigkeit der Seele endet da, w o die Entscheidung zustande gekommen ist, w o w i r sozusagen das U r t e i l abgeschlossen haben i n einer Vorstellung, die w i r dann als eine wahre mit uns weitertragen. U n d fragen w i r nach dem Ende der Begehrung, so finden w i r die Befriedigung. So daß tatsächlich jede Begehrung i n unserer Seele sozusagen nach Befriedigung strebt und jede Urteilstätigkeit nach Entscheidung. W e n n w i r also gleichsam i n unser Seelenleben hineinschauen, finden w i r auf der einen Seite Urteilstätigkeit. Solange sie noch nicht z u m Abschluß gekommen ist, drängt sie i m Seelenleben auf Entscheidung. U n d auf der andern Seite finden w i r Begehrungen. Solange sie nicht ihre Befriedigung gefunden haben, drängen sie i m lebendigen Seelenleben nach der Befriedigung. So können w i r jetzt sagen: Weil unser Seelenleben aus den Elementen Urteilen u n d Begehren besteht, deshalb sind die wichtigsten Tatsachen des Seelenlebens, die w i r fortdauernd i n jeder Seele finden müssen, w e i l jede Seele fortwährend diese Elemente i n sich enthält, das Hinströmen der Seele z u Entscheidungen u n d z u Befriedigungen. W e n n w i r also ein Seelenleben i n seinem hinfließenden S t r o m betrachten würden, würden w i r es gewissermaßen erfüllt finden v o m Streben z u Entscheidungen u n d v o m Streben z u Befriedigungen. Das ist auch i n der Tat der F a l l . Wenn Sie n u n das Gefühlsleben des Menschen nach gewissen Seiten h i n betrachten, werden Sie die Ursprünge einer großen Mannigfaltigkeit v o n Gefühlen leicht finden können, wenn Sie bedenken, daß das i m Seelenleben etwas herbeiführen muß, w e n n fortwährend Strebungen nach Befriedigungen u n d nach Entscheidungen fortströmen. Betrachten Sie innerhalb des G e fühlslebens solche Erscheinungen, welche z u m Beispiel fallen
unter den Begriff der U n g e d u l d , unter den Begriff der H o f f nung, der Sehnsucht, des Zweifels, ja auch vielleicht der Verzweiflung, so haben Sie A n h a l t s p u n k t e , u m etwas Reales, geistig Greifbares mit diesen W o r t e n z u verbinden, wenn Sie sich sagen: Alles dies - U n g e d u l d , H o f f n u n g , Sehnsucht, Zweifel, Verz w e i f l u n g - sind verschiedene A r t e n , wie i n der Seele der fortfließende Strom sich äußert i n dem Streben nach Entscheidungen der Urteilskräfte oder nach Befriedigungen der Begehrungskräfte. Versuchen Sie dies einmal real i n dem Gefühl der U n g e duld z u fassen. D a werden Sie es lebendig spüren können, wie i n der U n g e d u l d das Streben nach einer Befriedigung lebt. D a können Sie es fassen, wie i n dem Gefühl der U n g e d u l d etwas lebt, was man nennen k a n n ein i n dem Strom der Seele fortfließendes Begehren. U n d das kann erst einen Abschluß finden, wenn es i n die Befriedigung ausläuft. Urteilskräfte werden dabei k a u m entfaltet. O d e r nehmen Sie das Gefühl der H o f f n u n g . In der H o f f nung werden Sie leicht erkennen können den fortlaufenden Strom des Begehrens, aber jenes Begehrens, das auf der andern Seite durchsetzt ist v o n dem andern Element des Seelenlebens, v o n dem, was w i r genannt haben das Bewegen der Urteilskräfte nach der Entscheidung h i n . Wer sich das Gefühl der H o f f n u n g analysiert, w i r d darin leicht diese z w e i Elemente fließen sehen: das Begehren, das durchtränkt ist v o n dem Streben der Urteilstätigkeit nach der Entscheidung. U n d w e i l gerade i n diesem G e fühl diese z w e i Elemente sich so das Gleichgewicht halten für das Seelenleben, sich absolut die Waage halten wie z w e i gleiche G e wichte i n den z w e i Waageschalen, darum hat das Gefühl der H o f f nung das i n sich Abgeschlossene. Es ist genau so viel Begehren nach Befriedigung da wie Aussicht auf günstige Entscheidung. N e h m e n Sie an, ein anderes Gefühl würde dadurch entstehen, daß ein Begehren da ist, das nach Erfüllung drängt; dieses Begehren wäre aber v o n einer Urteilstätigkeit durchsetzt i n der Seele, die durch ihre eigene Stärke u n d Kraft keine Entscheidung herbeiführen könnte. D i e Urteilstätigkeit wäre nicht fähig, eine Entscheidung herbeizuführen. Das Begehren aber verbinde sich mit einer solchen Urteilstätigkeit, die keine Entscheidung herbeiführen kann. D a haben Sie das Gefühl des Zweifels.
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So könnten w i r i m weiten U m k r e i s der Gefühle finden, daß zusammenspielen i n merkwürdiger Weise Urteilstätigkeit u n d Begehrungen. U n d w e n n jemand die beiden Elemente i n einem Gefühl n o c h nicht gefunden hat, so muß er weiter suchen. E r kann ganz sicher sein, daß er n o c h nicht weit genug gesucht hat. W e n n w i r die Bedeutung der Urteilstätigkeit für das Seelenleben als das eine Element nehmen, müssen w i r sagen: D i e Urteilstätigkeit schließt ab i n einer Vorstellung, u n d die Vorstellung hat nur dann i m Leben eine Bedeutung, w e n n sie eine wahre ist. Wahrheit hat ihren G r u n d i n sich selber. D i e Seele für sich selbst kann nicht entscheiden über die Wahrheit. Das muß jeder empfinden, w e n n er das Seelenleben i n seiner eigentümlichen A r t vergleicht mit dem, was zuletzt i n der Wahrheit v o n i h m erobert werden soll. M a n braucht sich nur folgendes z u überlegen: Was w i r für das Seelenleben U r t e i l e n nennen, ist etwas, was auch, mit einem andern A u s d r u c k , Überlegung genannt werden kann, u n d die Überlegung führt zuletzt z u dem, was w i r uns als U r t e i l aus der Vorstellung bilden. A b e r nicht dadurch, daß w i r überlegen, w i r d die Entscheidung, das U r t e i l , richtig, sondern es w i r d richtig aus ganz andern, aus sachlichen Gründen, die herausgehoben sind aus der Willkür des Seelenlebens, so daß das U r t e i l , wonach die Seele i n der Entscheidung strebt, außerhalb des Seelenelementes zustande k o m m t . Fragen w i r nach dem andern Element, das w i e aus unbekannten Untergründen aus dem M i t t e l p u n k t der Seele hereinquillt und sich i m Seelenleben nach allen Seiten ausbreitet, fragen w i r nach dem U r s p r u n g des Begehrens, so finden w i r es zunächst nicht i m Seelenleben, sondern außerhalb desselben, so daß Begehrungen u n d Entscheidungen von außen hereinreichen i n u n ser Seelenleben. A b e r innerhalb des Seelenlebens spielt sich nun das ab, was das E n d e der Begehrungen ist: die Befriedigung. U n d innerhalb des Seelenlebens spielt sich gegenüber der Wahrheit, die ihren G r u n d außen hat, der K a m p f u m die Wahrheit, der K a m p f bis z u r Entscheidung ab. So sind w i r i n unserem Urteilen sozusagen Kämpfer, u n d so sind w i r innerhalb unseres Seelenlebens gegenüber unseren Begehrungen Genießer. U n d es ist w i c h t i g z u unterscheiden, daß v o m Urteilen nur der A n f a n g dem
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Seelenleben angehörig i s t ; die Entscheidung führt uns über das Seelenleben hinaus. B e i m Begehren ist es umgekehrt; da fällt nicht der A n f a n g , sondern das E n d e , die Befriedigung, i n das Seelenleben herein. Prüfen w i r einmal genauer, was da i n das Seelenleben hereinfällt als die Befriedigung, u n d halten w i r es zusammen mit dem, was w i r v o r h i n gesagt haben: die E m p f i n d u n g sei i m G r u n d e genommen ein H i n b r a n d e n des Begehrens bis an die G r e n z e des Seelenlebens, u n d das Gefühl sei etwas, was i n der M i t t e bleibe, w o das Begehren sich gleichsam i n sich selber zurückstumpft. Was w i r d also an der Stelle sein, w o das Seelenleben i n sich selber die Befriedigung, das E n d e des Begehrens erlebt? D a w i r d das Gefühl sein. D a h e r können w i r sagen: W e n n innerhalb des Seelenbinnenlebens das Begehren sein Ende erreicht i n der Befriedigung, dann entsteht das Gefühl. Das ist aber doch n u r die eine A r t v o n Gefühlen, w o das B e gehren sein E n d e erreicht inmitten des Seelenbinnenlebens. Eine andere A r t v o n Gefühlen entsteht auf eine n o c h andere A r t , nämlich dadurch, daß i n der Tat i n den Untergründen des Seelenlebens Beziehungen bestehen zwischen dem seelischen Innenleben, gleichsam dem seelischen Binnenleben, u n d der Außenwelt. Das drückt sich darin aus, daß sich unsere Begehrungen auf äußere Gegenstände richten. A b e r sie reichen deshalb nicht überall — wie bei den Sinneswahrnehmungen - bis an die äußeren Gegenstände heran. Wenn w i r die Farbe erkennen, reicht das Begehren bis an die Außenwelt heran. A b e r aus dem Begehren kann sich auch ein Gefühl entwickeln innerhalb des Seelenlebens, das d o c h einen Bezug hat z u einem äußeren Gegenstande. Das Begehren kann sich jedem Gegenstande gegenüber entwikkeln, auch w e n n es inmitten der Seele stehenbleibt. Es hat da doch einen B e z u g z u dem Gegenstande w i e i n einer F e r n w i r kung, ähnlich wie eine Magnetnadel sich einstellt auf den P o l , ohne i h n z u erreichen. Daraus sehen w i r : Begehrungen können sich i m Seelenbinnenleben abschließen, auch w e n n sie mit der Außenwelt i n einer Beziehung stehen; so daß die Außenwelt auch mit d e m Seelenleben ein Verhältnis hat, das nicht bis an die G r e n z e dieses Seelenlebens heranprallt. D a n n können diejenigen
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Gefühle entstehen, w o das Begehren dem Gegenstande gegenüber aufrecht bleibt, u n d w o es fortbesteht gegenüber dem G e genstande, auch w e n n dieser nicht i n der Lage ist, das Begehren z u befriedigen. N e h m e n w i r an, eine Seele naht sich einem G e genstande, ein Begehren w i r d gegenüber dem Gegenstande erregt, der Gegenstand ist aber nicht i n der Lage, dieses Begehren z u befriedigen: dann bleibt das Begehren aufrecht i n der Seele und erlebt nicht die Befriedigung. Betrachten Sie einmal diese Erscheinung ganz genau u n d vergleichen Sie sie mit einem Begehren, das innerhalb des Seelenlebens sein E n d e erreicht. Es ist ein beträchtlicher Unterschied zwischen diesen z w e i Begehrungen, w o v o n die eine i n der Seele z u Ende gekommen ist, die andere nicht. E i n Begehrung, die i n der Befriedigung geendet hat, die v o m Seelenleben so weitergetragen w i r d , daß sie gleichsam neutralisiert ist, w i r k t innerhalb des Seelenlebens so, daß alles, was mit dem Seelenleben zusammenhängt, einen gesundenden Einfluß erhält. D u r c h diejenige Begehrung aber, die unbefriedigt bleibt u n d n u n i n der Seele w e i tergetragen w i r d , w e i l sie der Gegenstand nicht befriedigen konnte, erhält die Seele, nachdem der Gegenstand weg ist, einen lebendigen B e z u g - sozusagen z u nichts. U n d die Folge ist, daß die Seele lebt i n einer unbefriedigten Begierde als i n einer nicht i n der Realität begründeten inneren Tatsache. Dieses F a k t u m allein genügt, daß das Seelenleben auf das, w o m i t es zusammenhängt, nämlich auf das Geist- u n d Leibesleben, durch die unbefriedigten Begierden einen ungünstigen Einfluß, einen krankmachenden Einfluß ausübt. Gefühle, die sich an befriedigte Begierden anschließen, sind daher für die unmittelbare Seelenbeobachtung sehr w o h l z u unterscheiden v o n denjenigen, welche sozusagen v o n stehenbleibenden Begierden sich bilden. W e n n die D i n g e grob auftreten, sind sie ja leicht z u unterscheiden. Wenn sie aber feiner auftreten, glaubt der M e n s c h gewöhnlich nicht, daß er es mit d e m z u t u n hat, w o m i t er es nun doch z u tun hat. N e h m e n Sie an, ein M e n s c h steht einem Gegenstande gegenüber. E r geht davon weg. D a k o m m t es jetzt nicht auf ein Begehren an, das bis z u m Gegenstande gekommen ist, sondern auf ein Begehren, das bis z u m seelischen Binnenleben gekommen ist. E r r
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kann also weggehen u n d sagt nachher, der Gegenstand habe ihn befriedigt, oder er sagt, der Gegenstand habe i h n nicht befriedigt. W e n n er es auch anders ausdrückt, so ist es doch dasselbe, z u m Beispiel w e n n er sagt, es habe i h m gefallen oder nicht gefallen. D a liegt d o c h i n d e m einen Falle, wenn auch noch so versteckt, ein Begehren vor, das seine Befriedigung gefunden hat, oder, beim Mißfallen, liegt eine Begehrung vor, die als Begehrung aufrecht geblieben ist. N u r eine einzige A r t v o n Gefühlen gibt es zunächst - u n d das ist etwas tief Bezeichnendes für das Seelenleben - , die i n einer etwas andern A r t sich ausnehmen i m Seelenleben. Sie werden leicht einsehen, daß Gefühle - also entweder solche Begehrungen, die ihr E n d e gefunden haben oder solche, die es nicht gefunden haben - sich nicht nur anlehnen können an äußere Gegenstände, sondern auch an innere Seelenerlebnisse. So kann sich das Gefühl, das w i r bezeichnen müssen als eine unbefriedigte Begierde, anlehnen an eine E m p f i n d u n g , die vielleicht etwas ins Gedächtnis zurückbringt, das w i r längst hinter uns haben. A l s o i n uns selbst finden w i r Anlässe für unsere Gefühle, für befriedigte oder nicht befriedigte Begehrungen. Unterscheiden w i r einmal i n uns die Erregung v o n Begehrungen durch äußere G e genstände u n d die Erregung v o n Begehrungen durch uns selber, durch unser eigenes Seelenleben. Es gibt z u m Beispiel n o c h andere, gar sehr hervortretende innere Erlebnisse, die uns zeigen können, wie w i r durch unser Innenleben stehengebliebene Begierden haben, die nicht bis z u m E n d z i e l gekommen sind. Stellen Sie sich vor, Sie denken nach über eine Sache. Ihre U r teilskraft ist z u schwach, Sie k o m m e n i n Ihrem N a c h d e n k e n z u keinem Ende u n d müssen ohne Entscheidung schließen. D a stehen Sie Ihrem Seelenleben, Ihren eigenen Begehrungen gegenüber mit einem Unbefriedigtsein. D a haben Sie ein Schmerzerlebnis an Ihrem Gefühl des Unbefriedigtseins. N u r eine einzige A r t v o n Gefühlen gibt es, w o w i r weder mit dem U r t e i l e n z u r Entscheidung k o m m e n , noch das Begehren i n der Befriedigung endet, u n d w o d o c h kein Schmerzgefühl ensteht. Es sind G e fühle, w o w i r weder einem äußeren Gegenstande mit unseren Begehrungen unmittelbar gegenüberstehen, noch auch unseren
inneren Erlebnissen unmittelbar. B e i den gewöhnlichen Sinneserlebnissen des Alltags stehen w i r mit unseren Begehrungen dem Gegenstande unmittelbar gegenüber, aber w i r urteilen dabei nicht. Sobald das U r t e i l e n beginnt, sind w i r über das Sinneserlebnis schon hinausgegangen. N e h m e n w i r an, w i r tragen das Urteilen wie auch das Begehren bis an die G r e n z e des Seelenlebens, w o der Sinneseindruck aus der Außenwelt unmittelbar an uns heranbrandet; w i r entwickelten also ein Begehren, das wir, indem es durch den Gegenstand erregt w i r d , ganz durchdringen bis an die G r e n z e , aber n u n bis an die genaue Grenze des E i n druckes h i n mit Urteilskraft, m i t Urteilsfähigkeit. D a n n w i r d ein eigentümliches Gefühl entstehen, das sozusagen zusammengesetzt ist i n einer ganz merkwürdigen A r t . Das können w i r uns am besten i n folgender Weise klarmachen. W i r lassen (angedeutet i n den Querlinien) unser Begehren h i n fließen bis an G r e n z e unseres Seelenlebens, z u m Beispiel bis z u m A u g e h i n . W i r strengen unser Seelenleben i n bezug auf die Begehrungen an, lassen es hinfließen - insofern es ein Begehrungsvermögen ist - bis an die Tore des Sinneserlebnisses, A . W i r strengen aber auch unsere Urteilskraft an u n d lassen sie ebenso bis z u m äußeren E i n d r u c k hinströmen (angedeutet in den Längslinien). D a n n hätten w i r ein S y m b o l für das eben angedeutete, i n ganz einzigartiger A r t zusammengesetzte Gefühl. D e n Unterschied zwischen diesen beiden Strömungen, die da bis z u m äußeren E i n d r u c k hingehen, werden w i r recht würdi-
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gen, w e n n w i r ins A u g e fassen, was bereits gesagt w o r d e n ist. Wenn w i r Urteilskraft entwickeln, so liegt die Spitze der Tätigkeit der Seele nicht i n der Seele, sondern außerhalb derselben. D e n n über Wahrheit entscheidet nicht die Seele. Wahrheit überwältigt das Begehren. Das Begehren muß kapitulieren v o r der Wahrheit. U n d wenn "wir i n unserer Seele etwas durch unsere Urteilskraft entscheiden sollen, was i m eminentesten Sinne wahr sein soll, so müssen w i r i n unsere Seele eben etwas hereinnehmen, was der Seele f r e m d ist. W i r können also sagen: D i e L i n i e n v o n unten nach oben, die die Kräfte der Urteilsfähigkeit darstellen sollen, gehen aus uns heraus, umfassen etwas Äußeres. U n s e r Seelenleben kann aber als das L e b e n der Begehrungen überhaupt nicht weiter als bis an die G r e n z e k o m m e n . D o r t w i r d es entweder i n sich zurückgeschleudert, oder es n i m m t sich vorher selber i n sich zurück, bleibt auf sich selber beschränkt. Es fühlt sich unser Begehren überwältigt, wenn das U r t e i l i n der Seele abschließt mit der Entscheidung der Wahrheit. A b e r w i r nehmen i n unserem Beispiel ja gerade an, daß bis z u m E i n d r u c k h i n s o w o h l das Begehren fließe wie auch das Urteilen, u n d daß die beiden Ströme sich gegenüber dem E i n d r u c k vollständig decken. U n d da sehen w i r dann: Es fließt nicht unser Begehren aus u n d bringt uns sozusagen ein Fremdes zurück i n der Wahrheit, sondern da geht unser Begehren fort u n d bringt uns das U r t e i l zurück, das bis an die G r e n z e des Seelenlebens gegangen ist. D a wogt das Begehren bis an die Grenze der Seele, kehrt da gleichsam u m u n d kehrt mit dem U r t e i l in sich selber zurück. A b e r was für Urteile können w i r da nur zurückbringen? N u r ästhetische Urteile, die irgendwie zusammenhängen mit K u n s t u n d Schönheit. Das kann nur bei der Kunstbetrachtung vorliegen, daß sozusagen u n ser eigenes Seelenleben just bis an die Grenze seiner Wirksamkeit geht u n d da unmittelbar an dem O b j e k t der Außenwelt kehrtmacht u n d m i t dem Urteil i n sich selber zurückkehrt. Sie können das zunächst sonderbar finden, aber die eigene Seelenbeobachtung könnte es Ihnen bestätigen. N e h m e n Sie einmal an, Sie stehen vor der Sixtinischen M a donna oder der Venus v o n M i l o oder vor irgendeinem K u n s t werke, das i m wahren Sinne w i r k l i c h ein K u n s t w e r k ist. Können 158
Sie sagen, daß der Gegenstand i n diesem Falle Ihr Begehren erregt? Ja, er erregt es; aber nicht durch sich selber. Wenn der G e genstand d u r c h sich selber das Begehren erregen würde, was ja möglich ist, so würde es nicht abhängen v o n einer gewissen E n t wicklung der Seele, ob überhaupt das Begehren erregt w i r d . Es ist durchaus denkbar, daß Sie etwa vor der Venus v o n M i l o stehen und gar kein inneres Bewegen dem Kunstwerke gegenüber verspüren. G e w i ß , das kann bei andern Objekten auch sein. A b e r wenn das bei andern Objekten v o r k o m m t , dann entsteht diesen andern Objekten gegenüber die gewöhnliche Gleichgültigkeit. Diese Gleichgültigkeit entsteht auch bei denjenigen, die keine entsprechende Seelentätigkeit der Venus v o n M i l o entgegenbringen. Diejenigen aber, die ein entsprechendes Seelenleben dem Kunstwerke entgegenbringen, lassen den Strom des Begehrens bis an die G r e n z e fließen, u n d dann k o m m t ihnen etwas zurück. D e n andern k o m m t nichts zurück. Es k o m m t aber nicht ein Begehren zurück. Es k o m m t auch gar kein Begehren zurück, das nach dem O b j e k t zurückdrängt, sondern es k o m m t das Begehren zurück, was sich i n einem U r t e i l ausspricht: Dies ist schön. - D a setzen sich i n der Seele Begehrungskräfte u n d Urteilskräfte mit sich selber auseinander. U n d der M e n s c h kann sich dabei an der Außenwelt nur dann befriedigen, wenn die Außenwelt nur die Erregerin ist seiner eigenen inneren Seelentätigkeit. Geradesoviel kann der M e n s c h an der Venus v o n M i l o erleben, als er selber i n der Seele schon hat, u n d geradesoviel w i r d i h m zurückkehren, als er nach außen strömen läßt an dem unmittelbaren E i n d r u c k . D a her gehört z u m Genießen des Schönen die unmittelbare Gegenwart des Kunstwerkes, w e i l i n der Tat die Seelensubstanz streben muß bis an die G r e n z e des Seelenlebens. U n d jede Erinnerung an das K u n s t w e r k gibt i m G r u n d e genommen etwas anderes als ein ästhetisches U r t e i l . D a s ästhetische U r t e i l entsteht unter dem u n mittelbaren E i n d r u c k des Kunstwerkes, w o bis an die Grenze die Wogen des Seelenlebens gehen, w i l l i g bis an die Grenze gehen, u n d als ästhetische Urteile wieder zurückkommen. So haben w i r i n der Wahrheit etwas, wovor, gewissermaßen als vor einem dem Seelenleben Äußeren, die Begehrung kapituliert, u n d so haben w i r i n dem Schönen etwas, w o dieBegehrung unmit-
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telbar zusammenfällt m i t dem U r t e i l e n , w o die Entscheidung selber herbeigerufen w i r d d u r c h die f r e i w i l l i g sich an den G r e n z e n des Seelenlebens abschließende Begehrung, die als U r t e i l zurückk o m m t . D a h e r breitet das innere Seelenerlebnis i m Schönen eine so unendliche warme Befriedigung innerhalb der Seele aus. U n d es ist das höchste Gleichmaß der Seelenkräfte i m G r u n d e genommen vorhanden, w e n n die Begehrung brandet bis an die Grenze des Seelenlebens u n d nun nicht i n sich wieder zurückkehrt als bloßes Begehren, sondern als ein U r t e i l , was der Seele n u n ist wie eine Sache der Außenwelt. Daher gibt es auch nicht leicht etwas, w o eine Bedingung für ein gesundes Seelenleben so stark entwikkelt werden k a n n als i n der H i n g a b e an das Schöne. W e n n w i r streben nach den denkerischen Früchten der Seele, arbeiten w i r i m G r u n d e genommen innerhalb der Seele mit einem Material, vor dem das Begehrungsvermögen fortwährend kapitulieren muß. Dieses Begehrungsvermögen w i r d ja gewiß vor der Majestät der Wahrheit kapitulieren müssen; aber das ist nicht möglich ohne eine Beeinträchtigung der Seelengesundheit u n d desjenigen, was mit dem Seelenleben zusammenhängt. E i n sozusagen fortdauerndes Streben auf dem denkerischen Gebiet, w o b e i fortdauernd Begehrungen kapitulieren müssen, das ist etwas, was i n einer gewissen Beziehung den Menschen doch leiblich u n d seelisch ausdörren w i r d . B e i denjenigen U r t e i l e n dagegen, die z u gleicher Zeit ein gleiches Maß v o n befriedigten Begehrungen mit zurückbringen i n unser Seelenleben, ist es so, daß die Begierden als solche mit dem U r t e i l sich am meisten ausgleichen. N u n mißverstehen Sie m i c h nicht. Es soll mit alledem nicht gesagt sein, daß etwa der M e n s c h gut tue, wenn er fortwährend i m Genuß des Schönen schwelgen würde u n d der Wahrheit gegenüber geltend machen würde, daß sie ungesund sei. D a m i t gäbe es eine leichte Entschuldigung für ein faules Wahrheitsstreben, w e n n jemand anführen wollte: Sie haben gesagt, D e n k e n ist ungesund, u n d i n Schönheit schwelgen ist gesund; also tue i c h das letztere! - Das ist nicht etwas, was eintreten sollte, sondern es sollte sich als Folge für die Seele folgendes ergeben. W e i l Wahrheit i n bezug auf den Fortgang der menschlichen K u l t u r wie auch des einzelnen menschlichen Lebens eine Pflicht ist, so
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ist der M e n s c h gegenüber dem Wahrheitsstreben gezwungen, sein Begierdenleben zurückzudrängen. W e i l die Entscheidung über die Wahrheit nicht bei i h m selbst liegt, zwingt uns die Wahrheit, das Begierdenleben i n uns selber zurückzudrängen. U n d das müssen w i r auch ruhig tun innerhalb des Wahrheitsstrebens. D a h e r ist das Wahrheitsstreben i m G r u n d e genommen dasjenige, was unser Selbstgefühl am allermeisten i n das richtige Maß zurückdrängt. W e n n w i r an uns selbst erleben, wie unser Wahrheitsstreben fortdauernd seine G r e n z e findet an der eigenen Urteilsfähigkeit u n d objektiv die Sachlage betrachten, dann können w i r ganz zufrieden sein. Wahrheitsstreben macht uns immer bescheidener u n d bescheidener. A b e r w e n n der M e n s c h es i m m e r so machte, w e n n er immer bloß so weiterlebte, daß er auf diese Weise i m m e r bescheidener u n d bescheidener würde, so würde er schließlich bei seiner eigenen Auflösung ankommen; es würde i h m etwas fehlen, was z u r Erfüllung des Seelenlebens notwendig ist: das Spüren, das E m p f i n d e n des eigenen Innern. D e r M e n s c h darf sich nicht entselbsten, indem er sich bloß dem h i n gibt, vor dem das innere Gewoge seines Begierdenlebens k a p i tulieren muß. U n d hier tritt n u n das W i r k e n des ästhetischen Urteils ein. Das L e b e n des ästhetischen Urteils ist so, daß der M e n s c h das, was er an die Grenze der Seele hinbringt, auch z u rückbringt. Das ist ein solches Leben, w o der M e n s c h das darf, was er i n der Wahrheit soll. Was man i n der Wahrheit soll, das ist: absolut unselbstisch, unegoistisch die Entscheidung sich herbeiführen lassen. A n d e r s geht das Wahrheitsstreben nicht. W i e ist es aber i n der Schönheit? D a ist es etwas anders. D a geben w i r uns auch ganz h i n , lassen, fast wie bei der Sinnesempfindung, das innere Seelengewoge bis an seine Grenze fließen. Was k o m m t uns dann aber zurück? Was uns v o n außen gar nicht gegeben werden kann, was v o n außen gar nicht entschieden werden k a n n : w i r selbst k o m m e n uns wieder zurück. W i r haben uns hingegeben u n d werden uns zurückgegeben. Das ist das Eigentümliche des ästhetischen Urteils, daß es das M o m e n t des Selbstlosen wie die Wahrheit i n sich enthält, u n d zugleich das Geltendmachen des menschlichen Selbstsinnes, dessen, was w i r gestern u n d vorgestern den «inneren Herrn» genannt ha-
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ben. W i e ein freies Geschenk w e r d e n w i r uns selbst zurückgegeben i m ästhetischen U r t e i l . Sie sehen: Ich muß insbesondere i n diesen Vorträgen Ihnen etwas geben, was am wenigsten z u Definitionen u n d so weiter führen kann. Ich habe m i c h ja öfters gegen das Definieren ausgesprochen. U n d ich werde deshalb auch nicht sagen: Dies ist ein Gefühl u n d so weiter, sondern i c h werde versuchen z u charakterisieren, indem w i r einfach den U m f a n g des Seelenlebens abstekken, indem w i r uns einfach ergehen i n dem U m f a n g des Seelenlebens. Bei den Vorträgen über A n t h r o p o s o p h i e i m vorigen Jahr haben w i r ja gesehen, daß nach unten die Leiblichkeit an das Seelenleben angrenzt, u n d an der G r e n z e des Leiblichen u n d des Seelischen haben w i r den M e n s c h e n z u erfassen versucht u n d abzuleiten versucht, was mit der äußeren Leibesgestalt zusammenhängt. W e n n Sie sich das zurückrufen, werden Sie eine Grundlage bekommen für manches, was i n diesen Vorträgen z u sagen ist, u n d worauf eigentlich diese psychosophischen V o r träge sich zuletzt zuspitzen. Sie sollen ja zuletzt auch Lebensregeln, Lebensweisheit bieten. D a z u mußten w i r i n den früheren Vorträgen eine breite Grundlage erst schaffen. D u r c h die heutigen Charakterisierungen haben w i r vielleicht einen H i n w e i s darauf gewonnen, daß i m inneren Seelenleben dasjenige wogt, was w i r begehren. N u n haben w i r gestern gesagt, daß gewisse auch gefühlsartige Erlebnisse wie die Urteile, i n einer gewissen Beziehung abhängen v o n dem, was unsere Vorstellungen i n uns selber für ein eigenes L e b e n führen. W i r haben gestern damit geschlossen, daß w i r gesagt haben: Unsere Vorstellungen, die w i r uns i n der Vergangenheit angeeignet haben, werden lebendig, sind wie Blasen i n unserem Seelenleben, indem sie wieder ein eigenes Seelenleben, ein eigenes Begehrungsleben führen. - Was sie für ein L e b e n führen, davon hängt i n einem gewissen M o m e n t e unseres Daseins für uns vieles ab. Was w i r gestern charakterisieren konnten als Langeweile oder als sonst den Menschen schädigende oder nützende Seelenereignisse, das macht es aus, ob der M e n s c h glücklich oder unglücklich i n einem gewissen M o m e n t ist. A l s o , wie unsere Vorstellungen, die w i r uns früher angeeignet haben,
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sich als selbständige Wesenheiten benehmen, davon hängt unser gegenwärtiges Seelenempfinden ab. D a entsteht dann die Frage: W i e müssen w i r uns verhalten, w e n n w i r das Seelenleben betrachten gerade mit Bezug darauf, daß w i r z u m Beispiel gewissen Vorstellungen gegenüber, die w i r i n unser gegenwärtiges Seelenleben hereinbekommen sollen, i n einer gewissen Weise machtlos sind? Andere Vorstellungen gehen leichter i n unser Seelenleben herein. U n d Sie wissen, wieviel davon abhängt, ob w i r i n dieser Beziehung mächtig oder machtlos sind, leicht oder schwer die Vorstellungen hervorbringen, ob w i r imstande sind, sie aus der Erinnerung leicht oder schwer heraufzuholen. W o w i r uns erinnern an eine bestimmte Sache, da müssen w i r fragen: Welche Vorstellungen sind es, die sich leichter ergeben, u n d welche sind es, die sich schwerer ergeben? D e n n das kann i m Leben außerordentlich wichtig sein. Können w i r v o n vornherein etwas tun bei der Aufnahme von Vorstellungen, so daß w i r ihnen etwas mitgeben, w o d u r c h sie sich uns leichter wieder ergeben? Ja, w i r können ihnen etwas mitgeben. U n d schon allein die Betrachtung dieser Tatsache würde für viele Menschen unendlich nützlich sein, denn es würden sich viele Menschen ihr äußeres L e b e n u n d ihr Seelenleben ungeheuer erleichtern, w e n n sie beachten würden, w o d u r c h eine Vorstellung leichter erinnert werden k a n n , w o d u r c h man das Leichter-erinnert-Werden fördern k a n n . W e n n Sie die Seelenbeobachtung allseitig pflegen, kann sie Ihnen zeigen, daß Sie der Vorstellung etwas mitgeben müssen, w e n n sie leichter i n die Erinnerung k o m m e n soll. W i r haben als Elemente des Seelenlebens gefunden Begehren u n d Urteilen. D a das Seelenleben aus diesen zwei E l e menten besteht, werden w i r auch nur innerhalb dieser beiden Elemente das finden können, was w i r einer Vorstellung mitgeben müssen, w e n n sie leichter erinnert werden soll. Was können w i r einer Vorstellung v o n unserem Begehren mitgeben? W i r können der Vorstellung eben nur Begehren mitgeben. W i e tun w i r denn das? D a d u r c h , daß w i r i m M o m e n t e , w o w i r die V o r stellung aufnehmen, möglichst viel von unseren eigenen Begehrungen auf sie übertragen. Das ist ein guter Paß für unser Seelenleben, wenn w i r der Vorstellung einen Teil unseres Begehrens
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abgeben. Das können w i r n u r dadurch tun, daß w i r die betreffende Vorstellung mit Liebe aufnehmen, mit Liebe durchdringen. Je liebevoller w i r eine Vorstellung aufnehmen - u n d das kann n o c h i n einer andern Weise ausgedrückt werden: je mehr Interesse w i r einer Vorstellung zuwenden, je mehr w i r uns beim A u f n e h m e n einer Vorstellung selbst verlieren mit unserem E g o ismus, desto besser w i r d sie i n der E r i n n e r u n g bleiben. Wer sich nicht gegenüber einer Vorstellung verlieren kann, dem gegenüber w i r d sie nicht leicht i m Gedächtnis bleiben. W i r werden i m weiteren Verlauf der Vorträge auch noch Anhaltspunkte gewinnen, wie w i r eine Vorstellung umgeben können mit einer A t m o sphäre v o n Liebe. Das andere, was w i r einer Vorstellung mitgeben können, ist das, was w i r i n der Seele an Urteilskraft haben. Das heißt mit andern W o r t e n : Eine jede Vorstellung w i r d leichter erinnert werden können, w e n n sie durch urteilende Seelenkraft aufgenommen w o r d e n ist, als w e n n sie n u r einfach eingeprägt w o r d e n ist. A l s o , w e n n Sie einer Vorstellung gegenüber, die Sie i n Ihr Seelen gefüge aufnehmen, urteilen u n d sie aufnehmen, indem Sie sie umfassen, umspannen mit dem U r t e i l , geben Sie ihr wieder etwas m i t , was die Erinnerung an sie fördert. So geben Sie ihr etwas mit wie eine Atmosphäre. U n d es hängt v o n dem Menschen selber ab, wie er seine Vorstellungen zubereitet, ob sie leichter oder schwieriger wieder auftreten. W i r werden sehen, daß die A r t , wie w i r eine Vorstellung mit Liebe oder Urteilskraft umgeben, etwas außerordentlich Wichtiges ist für unser Seelenleben. Das ist die eine Frage für morgen. Das andere ist das, daß u n ser Seelenleben i n einer fortlaufenden Beziehung steht z u dem Ich-Zentrum. U n d wenn w i r den Weg gehen, den w i r heute mit einer gewissen Schwierigkeit hingestellt haben, so werden w i r morgen die Möglichkeit finden, die beiden Richtungen, die R i c h t u n g des Gedächtnisses und die R i c h t u n g des Ich-Erlebnisses, zusammenzuführen. Es könnte manchen wundern, daß alle Gefühle i m Menschen i m G r u n d e genommen Begehrungen sein sollen. U n d es könnte namentlich denjenigen wundern, welcher weiß, daß m i t dem höheren Seelenleben, mit dem Seelenleben, das durch eine esoteri-
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sehe E n t w i c k l u n g angestrebt w i r d , gerade verbunden ist, das Begehren i n einer gewissen Weise z u überwinden. W e n n man jedoch sagt: das Begehren ü b e r w i n d e n - , so ist das gegenüber der Seelenkunde ein nicht genauer A u s d r u c k ; denn das Begehren entspringt nicht i n der Seele selbst, es w o g t herein aus unbekannten Tiefen. Was ist es, was da i n die Seele hereinwogt? Wofür ist es ein A u s d r u c k ? W i r können es vorläufig abstrakt - morgen werden w i r es k o n k r e t fassen - auffassen als das, was auf einem höheren Gebiet dem Begehren entspricht u n d aus des Menschen ureigenstem Wesen hervorgeht als der W i l l e . U n d wenn w i r das Begehren z u m Z w e c k e einer höheren E n t w i c k l u n g bekämpfen, so bekämpfen w i r nicht den W i l l e n , der einer Begehrung z u grunde liegt, sondern n u r die einzelnen M o d i f i k a t i o n e n , die einzelnen Gegenstände des Begehrens. D a d u r c h machen w i r den W i l l e n rein, u n d dann w i r k t der W i l l e i n uns rein. U n d ein solcher W i l l e , der frei geworden ist v o n den Gegenständen, der gegenstandslos ist, stellt gerade i n einer gewissen Beziehung ein Höchstes i n uns dar. Sie dürfen dabei nicht an den «Willen z u m Dasein» denken - das wäre kein gegenstandsloser W i l l e - , sondern Sie müssen denken an W i l l e n mit einem Inhalt des Begehrens, der sich an keinen Gegenstand wendet. W i l l e ist nur dann rein u n d frei, w e n n er zunächst nicht modifiziert ist z u einem bestimmten Begehren, w e n n er also hinwegführt v o n einem bestimmten Begehren. So können w i r selbst n o c h bis i n unser Gefühlsleben hereinwogen sehen das Willensleben. W e n n das der F a l l ist, so müßte man daran so recht studieren können, daß W i l l e u n d Gefühl etwas Verwandtes haben. M a n k a n n ja allerlei phantastische D e f i nitionen für W i l l e u n d Gefühl geben, u n d so könnte z u m B e i spiel jemand sagen: W i l l e muß hinführen z u einem Gegenstande, m u ß i n Tat übergehen. - A b e r mit solchen Definitionen ist der W i r k l i c h k e i t gegenüber gar nichts getan, u n d w i r werden sehen, daß sie gewöhnlich ganz u n d gar unberechtigt sind u n d daß der M e n s c h , der solche D e f i n i t i o n e n abgibt, gut daran tun würde, w e n n er sich dem Genius der Sprache hingeben würde, der gescheiter ist als die persönliche Menschenseele. So hat die Sprache z u m Beispiel ein geniales W o r t für dasjenige innere Erlebnis, w o
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der W i l l e unmittelbar Gefühl w i r d . D e n k e n Sie, der W i l l e würde bis z u einer G r e n z e gehen, sich dann i n sich selber abstumpfen, und der M e n s c h würde das i n sich selber sich abstumpfende W i l lensstreben v o n innen beschauen, gleichsam den W i l l e n i n sich zurückgehen lassen u n d dann beschauen (siehe Zeichnung). Das
Wfdß-,t>er in sich, zurückgeht". würde eintreten, wenn der M e n s c h einem andern Wesen gegenüberträte, u n d das innere Gewoge des Willens bis z u einem Punkte gehen würde u n d dann zurückgehalten würde. Das ist ganz gewiß ein tiefes Gefühl des Unbefriedigtseins des Willens. D a erfindet die Sprache für diesen W i l l e n , der ganz gewiß nicht zur Tat w i r d , denn er geht i n sich zurück, ein geniales W o r t . D a erfindet sie das W o r t «Widerwille», u n d das ist für jeden ganz deutlich kein W i l l e ; so daß dieser W i l l e , wenn er sich selbst erkennt, für das Gefühl der W i l l e ist, der sich i n sich selbst zurückzieht. U n d die Sprache hat für diese Selbstanschauung des W i l lens das W o r t «Widerwille» u n d drückt damit ein Gefühl aus. D a r a n können w i r sehen, wie unsinnig die Definition wäre, daß W i l l e der Ausgangspunkt z u r Tat wäre. U n d innerhalb des W i l lens wogt dann der modifizierte W i l l e , das Begehren; u n d je nachdem er sich so oder so auslebt, zeigen sich die verschiedenen Seelengebilde.
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V o m Wesen des Bewußtseins. Das Entstehen des Urteils und der Ich-Vorstellung
A u c h heute w i r d v o r dem Vortrag eine kurze D i c h t u n g zur R e z i tation gebracht werden, u n d zwar wieder v o n dem jungen Goethe».
P O E T I S C H E Ü B E R
G E D A N K E N
D I E H Ö L L E N F A H R T
JESU
C H R I S T I
Welch ungewöhnliches Getümmel! E i n Jauchzen tönet durch die H i m m e l , E i n großes H e e r zieht herrlich fort. Gefolgt v o n tausend M i l l i o n e n , Steigt Gottes Sohn v o n Seinen T h r o n e n , U n d eilt an jenen finstern O r t . E r eilt, umgeben v o n Gewittern, A l s Richter k o m m t E r u n d als H e l d ; E r geht, u n d alle Sterne zittern, D i e Sonne bebt, es bebt die Welt. Ich seh I h n auf dem Siegeswagen, V o n Feuerrädern fortgetragen, D e n , der für uns am K r e u z e starb. E r zeigt den Sieg auch jenen Fernen, Weit v o n der Welt, weit v o n den Sternen, D e n Sieg, den E r für uns erwarb. E r k o m m t , die Hölle z u zerstören, D i e schon Sein T o d darnieder schlug; Sie soll v o n I h m i h r U r t e i l hören: H ö r t ! jetzt erfüllet sich der F l u c h .
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D i e Hölle sieht den Sieger k o m m e n , Sie fühlt sich ihre M a c h e genommen, Sie bebt u n d scheut Sein Angesicht; Sie kennet Seines D o n n e r s Schrecken, Sie sucht umsonst sich z u verstecken, Sie sucht z u fliehn u n d k a n n es nicht; Sie eilt vergebens sich z u retten U n d sich dem Richter z u entziehn, D e r Z o r n des H e r r n , gleich ehrnen Ketten, Hält ihren Fuß, sie k a n n nicht fliehn. H i e r lieget der zertretne Drache, E r hegt u n d fühlt des Höchsten Rache, E r fühlet sie u n d knirscht vor W u t ; E r fühlt der ganzen Hölle Q u a l e n , E r ächzt u n d heult bei tausend M a l e n : Vernichte m i c h , o heiße G l u t ! D a liegt er i n dem Flammen-Meere, I h n foltern ewig Angst u n d P e i n ; E r flucht, daß i h n die Q u a l verzehre, U n d hört, die Q u a l soll ewig sein. A u c h hier sind jene großen Scharen, D i e mit i h m gleichen Lasters waren, D o c h lange nicht so bös als er. H i e r hegt die ungezählte Menge I n schwarzem, schrecklichen Gedränge, I m F e u e r - O r k a n u m i h n her; E r sieht, wie sie den Richter scheuen, E r sieht, wie sie der Sturm zerfrißt, E r sieht's u n d kann sich doch nicht freuen, W e i l seine Pein noch größer ist. Des Menschen Sohn steigt i m Triumphe H i n a b z u m schwarzen Höllen-Sumpfe, U n d zeigt dort seine Herrlichkeit.
D i e Hölle kann den G l a n z nicht tragen; Seit ihren ersten Schöpfungstagen Beherrschte sie die Dunkelheit. Sie lag entfernt v o n allem Lichte, Erfüllt von Q u a l i m Chaos hier; D e n Strahl von Seinem Angesichte Verwandte G o t t auf stets von ihr. Jetzt siehet sie i n ihren G r e n z e n D i e Herrlichkeit des Sohnes glänzen, D i e fürchterliche Majestät. Sie sieht mit D o n n e r n Ihn umgeben, Sie sieht, daß alle Felsen beben, W i e G o t t i m G r i m m e vor ihr steht. Sie sieht's, E r kommet, sie z u richten, Sie fühlt den Schmerzen, der sie plagt, Sie wünscht umsonst, sich z u vernichten; A u c h dieser Trost bleibt ihr versagt. N u n denkt sie an i h r altes Glücke, V o l l P e i n an jene Zeit zurücke, D a dieser G l a n z i h r L u s t gebar; D a n o c h i h r H e r z i m Stand der Tugend, Ihr froher Geist i n frischer Jugend U n d stets v o l l neuer W o n n e war. Sie denkt mit W u t an ihr Verbrechen, W i e sie die Menschen kühn betrog; Sie dachte, sich an G o t t z u rächen, Jetzt fühlt sie, was es nach sich zog. G o t t w a r d ein M e n s c h . E r kam auf E r d e n . «Auch dieser soll mein O p f e r werden», Sprach Satanas u n d freute sich. E r suchte C h r i s t u m z u verderben, D e r Welten Schöpfer sollte sterben; D o c h w e h dir, Satan, ewiglich! D u glaubtest I h n z u überwinden,
D u freutest dich b e i Seiner N o t ; D o c h siegreich k o m m t E r , dich z u binden: W o ist dein Stachel h i n , o Tod? Sprich, Hölle! s p r i c h , w o ist dein Siegen? Sieh nur, wie deine Mächte liegen; Erkennst d u bald des Höchsten Macht? Sieh, Satan! sieh d e i n R e i c h zerstöret, V o n tausendfacher Q u a l beschweret, Liegst d u i n ewig finstrer N a c h t . D a liegst d u wie v o m B l i t z getroffen, K e i n Schein v o m Glück erfreuet dich. Es ist umsonst. D u darfst nichts hoffen, Messias starb allein für m i c h ! E s steigt ein H e u l e n d u r c h die Lüfte, Schnell wanken jene schwarzen Grüfte, A l s Christus Sich der Hölle zeigt. Sie knirscht aus W u t ; doch ihrem Wüten K a n n unser großer H e l d gebieten; E r w i n k t - die ganze Hölle schweigt. D e r D o n n e r rollt vor seiner Stimme, D i e hohe Siegesfahne weht; Selbst E n g e l zittern v o r dem G r i m m e , W e n n Christus z u m Gerichte geht. Jetzt spricht E r ; D o n n e r ist Sein Sprechen, E r spricht, u n d alle Felsen brechen, Sein A t e m ist dem Feuer gleich. So spricht E r : «Zittert, ihr Verruchte! Der, der i n E d e n euch verfluchte, K o m m t u n d zerstöret euer R e i c h . Seht auf! Ihr wäret Meine Kinder, Ihr habt euch wider M i c h empört, Ihr fielt u n d wurdet freche Sünder, Ihr habt den L o h n , der euch gehört, Ihr wurdet Meine größten Feinde,
Verführet M e i n e besten Freunde, D i e Menschen fielen so wie ihr. Ihr wolltet ewig sie verderben, Des Todes sollten alle sterben; D o c h , heulet! Ich erwarb sie M i r . Für sie b i n Ich herabgegangen, Ich litt, Ich bat, Ich starb für sie. Ihr sollt nicht euren Z w e c k erlangen; W e r an M i c h glaubt, der stirbet nie. H i e r lieget i h r i n ew'gen Ketten, N i c h t s kann euch aus dem Pfuhl erretten, N i c h t Reue, nicht Verwegenheit. D a liegt, krümmt euch i n Schwefel-Flammen, Ihr eiltet, euch selbst z u verdammen, D a liegt u n d klagt i n Ewigkeit! A u c h ihr, so Ich M i r auserkoren, A u c h i h r verscherztet M e i n e H u l d ; A u c h i h r seid ewiglich verloren. Ihr murret? G e b t M i r keine Schuld. Ihr solltet ewig m i t M i r leben, E u c h w a r d h i e r z u M e i n W o r t gegeben, Ihr sündigtet u n d folgtet nicht. Ihr lebtet i n dem Sünden-Schlafe; N u n quält euch die gerechte Strafe, Ihr fühlt M e i n schreckliches Gericht.» So sprach E r , u n d ein furchtbar Wetter G e h t v o n I h m aus, die B l i t z e glühn, D e r D o n n e r faßt die Übertreter U n d stürzt sie i n den A b g r u n d h i n . D e r G o t t - M e n s c h schließt der Höllen Pforten, E r schwingt Sich aus den dunklen O r t e n In Seine H e r r l i c h k e i t zurück. E r sitzet an des Vaters Seiten, E r w i l l n o c h i m m e r für uns streiten,
E r w i l l ' s ! O F r e u n d e , welches Glück! D e r E n g e l feierliche C h ö r e , D i e jauchzen v o r dem großen G o t t , D a ß es die ganze Schöpfung höre: Groß
ist der Herr,
Gott
Zebaoth!
Es w i r d einiges beitragen können z u einem intimeren Verständnisse dessen, was gestern gesagt w o r d e n ist u n d was n o c h heute gesagt werden w i r d , w e n n w i r einen Vergleich z u ziehen versuchen zwischen der gestern vorgetragenen D i c h t u n g Hegels u n d der D i c h t u n g des jungen Goethe, die w i r soeben gehört haben. Dieser Vergleich w i r d aus dem G r u n d e gut sein, w e i l uns durch i h n z u m Bewußtsein k o m m e n k a n n die Verschiedenartigkeit der Seelen derjenigen, v o n denen die beiden Gedichte herrühren. Versuchen w i r uns einmal z u vergegenwärtigen, wie gewaltig verschieden die beiden D i c h t u n g e n sind, die gestern u n d die heute vorgetragene. D u r c h die Kürze der Zeit ist es ja geboten, daß gewisse D i n g e mehr oder weniger nur angedeutet werden können. A l l e i n i c h denke, es w i r d möglich sein, daß w i r uns verständigen. W i r haben gestern gehört die D i c h t u n g eines Philosophen, eines Menschen, der es i m Reiche des reinen Gedankens z u einer ungeheuren H ö h e gebracht hat. U n d w i r haben gesehen, daß i n dieser D i c h t u n g «Eleusis» gewissermaßen der Gedanke selber i n der Seele Hegels schöpferisch geworden ist. W e n n Sie sich n u n vergegenwärtigen, wie die gestrige D i c h t u n g auf Sie gewirkt hat, so werden Sie sich sagen können: M a n fühlt gewaltige G e d a n ken, die da ringen mit den größten Fragen der Menschheit ebenso w i e mit den großen Fragen der Zeiten, die anknüpfen an die sogenanten Mysterien. M a n fühlt, daß jemand den Gedanken eingebohrt hat i n diese großen Weltengeheimnisse, aljer man fühlt eine gewisse Ungelenkigkeit i n der dichterischen Behandlung. M a n fühlt sozusagen an dieser D i c h t u n g heraus, daß sie etwas ist, was nicht i n der H a u p t m i s s i o n derjenigen Persönlichkeit liegt, v o n der sie herrührt. Es ist ein R i n g e n mit der dichterischen F o r m , u n d man sieht es der D i c h t u n g an, daß sich der Gedanke n u r schwer hat z u der F o r m heranringen können,
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d u r c h welche die dichterische F o r m überhaupt erst möglich w i r d . M a n sieht es der D i c h t u n g an, daß derjenigen Persönlichkeit, v o n der sie herrührt, nicht viele D i c h t u n g e n i m Leben mögl i c h gewesen wären. Vergleichen w i r damit die D i c h t u n g , die w i r eben gehört haben, aber an der H a n d eines bestimmten Umstandes. Ich habe Ihnen v o r dem ersten Vortrage vorlesen lassen eine Jugenddichtung Goethes, die z u diesem Zwecke umgeändert worden war, u n d an der uns so recht hat anschaulich werden können, wie z w e i Seelen i n Goethes Brust lebten, z w e i Seelenmächte, z w e i Seelenkräfte, u n d w i r sahen, was i n dieser D i c h t u n g - würdig auch dessen, was i n dem alten Goethe als sein Wesenskern gelebt hat - dennoch i n gewaltigen B i l d e r n vor den Menschen h i n tritt. A b e r w i r sehen an der D i c h t u n g des jungen Goethe, daß eine ganz andere Seelenkraft zunächst w i r k t i n Goethe als etwa i n H e g e l . U b e r a l l ist es i n Goethe das, was w i r nennen können: es fließen i h m die vollsaftigen Bilder z u . U n d wie bilderinhaltv o l l ist n u n auch die D i c h t u n g , die jetzt eben als ein Gedicht des jungen Goethe v o r uns hingetreten ist! Das also lag schon i n seinen A n l a g e n , daß i h m zuflössen vollsaftige, inhaltvolle Bilder. U n d w o die G r ö ß e des Gegenstandes i h n überwältigt, da werden w i r gewahr, w i e das, was sich i n der ersten D i c h t u n g i h m n o c h störend i n den W e g gestellt hat, zurückgedrängt w i r d d u r c h ein mächtiges Seelenleben, das sich i n vollsaftigen B i l d e r n auslebt. W i r sehen gewissermaßen ein Dreifaches an den vorgetragenen D i c h t u n g e n . W i r sehen, w i e i n H e g e l der Gedanke w i r k t , der es mehr oder weniger z u B i l d e r n n u r dadurch bringt, daß er ein ungeheures R i n g e n durchmacht. W i r sehen es der Blässe der B i l d e r n o c h an, wie stark das R i n g e n nach ihnen war. W i r sehen es den D i c h t u n g e n des jungen Goethe an, wie sie i n vollsaftigen B i l d e r n dahinrollen. U n d w i r sehen, w i e diese vollsaftigen Bilder i n der D i c h t u n g Goethes, w o er die Sage v o m «Ewigen Juden»' behandelte, i n einer gewissen Weise so beeinträchtigt werden konnten - w e i l jene z w e i Seelen i n i h m kämpften - , daß er sie gar nicht hat z u E n d e führen können. Sie ist ja nur Fragment geblieben. D a werden w i r auf eine Vielgestaltigkeit des Seelenlebens 6
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hingewiesen. H a l t e n w i r uns das einmal vor A u g e n , wie eine Seelenkraft, die w i r i n gewissem Sinne gedankenhaft nennen können, wie bei H e g e l , sich nur schwer hineinbohrt i n jene Seelenkraft, die bei Goethe die größte ist, u n d wie diese Seelenkraft i n der Seele Goethes selber wiederum sich i n ein Entgegengesetztes hineinbohrt. U n d n u n w o l l e n w i r i n unseren psychosophischen Betrachtungen fortfahren. E r i n n e r n w i r uns, daß innerhalb unseres Seelenlebens w i r k e n U r t e i l e u n d die Erlebnisse v o n Liebe u n d H a ß , die aus dem Begehrungsvermögen stammen. W i r können auch noch i n anderer Weise, als w i r es gestern getan haben, zusammentragen, was i n unserer Seele einerseits lebt als urteilende Kraft, indem w i r uns erinnern, daß uns diese Urteilskraft da entgegentritt, w o w i r v o n der Verstandesfähigkeit der Seele reden, v o n der Fähigkeit, die Wahrheiten der Welt z u verstehen, u n d wenn w i r andererseits daran denken, daß uns eine ganz andere Seelenkraft entgegentritt, wenn w i r davon sprechen: eine Seele ist i n der oder jener Weise an der Außenwelt interessiert. - Je nachdem die Erlebnisse v o n Liebe u n d Haß w i r k e n , ist eine Seele an der Außenwelt interessiert. A b e r diese Phänomene v o n Liebe u n d Haß selbst haben nichts z u tun mit der Denkfähigkeit, mit der Intelligenz. Urteilsfähigkeit u n d Interessiertheit sind z w e i i n der Seele verschieden wirksame Kräfte. Das zeigt schon eine einfache Beobachtung. Wer glaubt, daß das Wollen noch etwas Besonderes i n der Seele sei, der kann sehen, wenn er i n seine Seele blickt, daß er i n ihr nur begegnet dem Interesse an dem G e w o l l ten. K u r z , außer Interesse durch L i e b e und Haß und Urteilsfähigkeit, die sich äußert in dem U r t e i l e n , außer diesen beiden G e bieten werden Sie i m Binnenleben der Seele nichts finden. D a m i t haben Sie das Seelenleben i n bezug auf seinen Inhalt erschöpft. A b e r eines lassen Sie dabei vollständig unberücksichtigt, was z u m Wichtigsten gehört, was uns sogleich am Seelenleben entgegentritt, nämlich das Bewußtsein. Z u m Seelenleben gehört Bewußtsein. Das heißt, wenn w i r den Inhalt des Seelenlebens nach allen Seiten z u durchforschen trachten, treten uns entgegen U r teilsfähigkeit u n d Interesse; wenn w i r aber auf die innere Eigentümlickeit, auf die A r t u n g des Seelenlebens sehen, so müssen w i r
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sagen: W i r dürfen nur insofern die Erlebnisse v o n Liebe u n d H a ß u n d die Urteilsfähigkeit z u m Seelenleben rechnen, als w i r sie mit dem W o r t «Bewußtsein» belegen. W i r müssen uns daher fragen: Was ist denn Bewußtsein? Das werde i c h Ihnen nun wieder nicht definieren, sondern i c h werde es charakterisieren. W e n n Sie mit H i l f e dessen, was w i r schon betrachtet haben, an das menschliche Bewußtsein herantreten, werden Sie gerade über den fortfließenden Strom der Vorstellungen, die Sie aufgen o m m e n haben, sagen: Es zeigt sich i n der Seele, daß die Bewußtheit d o c h nicht zusammenfällt mit dem Seelenleben. D e n n w i r haben ja gesehen, daß ein gewisser Unterschied ist zwischen dem Seelenleben überhaupt u n d der Bewußtheit. Eine Vorstellung, die w i r vor Tagen, W o c h e n oder Jahren einmal aufgenommen haben, lebt i n uns weiter, denn w i r können uns ihrer erinnern. A b e r wenn w i r uns ihrer i n diesem A u g e n b l i c k nicht erinnern, sondern vielleicht erst nach z w e i Tagen, so hat diese V o r stellung z w a r weitergelebt, aber sie war i n diesem A u g e n b l i c k nicht bewußt, das heißt, sie war i n unserer Seele, aber nicht i m Bewußtsein.
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A l s o der Strom des Seelenlebens fließt dahin, u n d das Bewußtsein ist wieder etwas anderes n o c h als der fortfließende Strom des Seelenlebens. K u r z , w i r müssen sagen: W e n n w i r die Vorstellungen, an die w i r uns einmal wieder erinnern können, bezeichnen m i t einem Strom, der - die Seele als K r e i s gedacht - i n der R i c h tung des Pfeiles geht (siehe Zeichnung), dann kann dieser Strom i n sich enthalten alle Vorstellungen, die sozusagen i n unserer
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Seele fließen v o n der Vergangenheit i n die Zukunft hinein; aber w e n n sie bewußt w e r d e n sollen, müssen sie aus der A r t , wie sie unbewußt i n der Seele leben, erst d u r c h ein Streben heraufgeholt werden ins Bewußtsein. Bewußtheit ist also etwas, was z u r Seele gehört. A b e r Bewußtheit gehört nicht so z u m Seelenleben, daß alles, was i n der Seele ist, i n das Bewußtsein hereinfallen müßte. Es fließt der Strom des Vorstellungslebens weiter, u n d das Bewußtsein beleuchtet n u r i n einem gewissen M o m e n t e einen gewissen Teil unseres Seelenlebens. W e i l w i r n u n d o c h auch mit andern Leuten z u tun haben u n d auf E i n w e n d u n g e n gefaßt sein müssen, so muß folgendes wie i n Parenthese gesagt werden. Es könnte jemand jetzt einwenden: Was du den fortfließenden Strom der Vorstellungen nennst, ist nichts weiter als die Seelen- oder Gehirndisposition, die einmal hergestellt w o r d e n ist u n d dann bleibt; u n d es braucht dann nichts weiter z u erfolgen, als daß die Gehirndisposition i n einem gewissen M o m e n t e v o m Bewußtsein erleuchtet würde. - Das wäre dann der F a l l , w e n n es nicht notwendig wäre, daß gleich nach dem Wahrnehmen etwas losgelöst würde v o n der Wahrnehmung, damit dieselbe weitergetragen werden kann. W e n n w i r k lich v o n der Wahrnehmung schon die Disposition geschaffen wäre z u r Erinnerung, brauchte nicht erst etwas losgelöst werden v o n dem ganzen Prozeß u n d die Wahrnehmung i n eine Vorstellung umgeändert z u werden. D i e Wahrnehmung entwickelt sich am äußeren Gegenstande, die Vorstellung aber nicht. D i e V o r stellung ist eine A n t w o r t v o n innen heraus. W i r haben also i n uns dasjenige, was erlebt worden ist an der Welt, u n d was mit dem Strom der Zeit weiterfließt v o n der Vergangenheit i n die Z u kunft, aber d o c h nicht immer mit dem Bewußtsein zusammenfällt, sondern erst v o n dem Bewußtsein beleuchtet werden muß, w e n n es erinnert werden soll. W i e geschieht es nun, daß auf den fortfließenden Strom der Vorstellung i n unserer Seele L i c h t geworfen werden kann, so daß Teile davon sichtbar werden können i n der Erinnerung oder sonstwie? Eine Tatsache des gewöhnlichen Seelenlebens, wie es sich auf dem physischen Plan abspielt, kann uns darauf führen, wie das geschieht. Das ist folgende Tatsache, die ja i n der äuße-
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ren Psychologie überhaupt nicht berücksichtigt w i r d , w e i l man da nicht mit den Tatsachen, sondern mit den Vorurteilen arbeitet. W i r aber w o l l e n unbefangen mit den Tatsachen arbeiten. U n t e r den Gefühlen des Menschen gibt es mancherlei A r t e n . Ich w i l l n u r auf einige aufmerksam machen, die w i r gestern schon genannt haben, u n d auf einige andere, auf Gefühle z u m Beispiel, welche sich aussprechen i n der Sehnsucht, i n der U n g e d u l d , i n der H o f f n u n g , i m Zweifel; ich w i l l Sie verweisen auf solche Gefühle, wie A n g s t u n d Furcht sind. Was sagen uns denn alle derartigen Gefühle? Wenn w i r sie w i r k l i c h prüfen, haben sie alle etwas merkwürdig Gemeinsames: sie beziehen sich alle auf die Z u k u n f t , sie beziehen sich auf das, was eintreten kann, oder v o n uns als eintretend gewünscht w i r d . D e r M e n s c h also lebt i n seiner Seele so, daß i h n i n seinen Gefühlen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Z u k u n f t interessiert. U n d sogar recht lebhaft interessiert i h n die Z u k u n f t ! Sie können weitergehen: Sie können die Tatsache, daß Gefühle i n uns leben, die sich auf die Z u n k u n f t beziehen, mit einer andern vergleichen. Versuchen Sie i n Ihren Erinnerungen wachzurufen irgend etwas, was Sie i n I h rer Jugend oder vielleicht auch erst vor k u r z e r Zeit erlebt haben als Freude oder als Schmerz. Versuchen Sie einmal, nur ein klein wenig z u vergleichen, was i n Ihren Gefühlen lebt v o n der Vergangenheit herein v o n einem überstandenen Schmerz oder auch v o n einer erlebten Freude, u n d wie unendlich blaß die Erinnerung an solche D i n g e n u r wieder aufgefrischt werden kann. W e n n sie etwas hinterlassen haben, wenn sie auf unsere Gesundheit oder sonstwie eingewirkt haben, da machen sie sich geltend, da drängen sie sich i n das Bewußtsein herein. D a ist es aber die Gegenwart! Was w i r aber i n der Vergangenheit erfahren haben i n bezug auf unser Gefühlsleben, das verblaßt, je mehr w i r uns dav o n entfernen. U n d n u n denken Sie, wie es bei den ausgesprochenen Begehrungen ist. W e n n Sie etwas begehren, was Ihnen i n der Z u k u n f t beschert werden soll, da versuchen Sie einmal das R u m o r e n i n der Seele so recht z u beobachten. Ich möchte aber wissen, wieviele Leute darüber jammern, daß ihnen dieses oder jenes v o r zehn Jahren nicht zugekommen ist, w e n n es sich nicht etwa i n die Gegenwart fortgesetzt hat u n d einen gegenwärtigen
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Mangel bewirkt. D a ist ein gewaltiger Unterschied zwischen u n serem Interesseleben, insofern w i r der Z u n k u n f t entgegenschauen u n d insofern w i r nach der Vergangenheit den B l i c k richten. So weit Sie sich auch umsehen, w e n n Sie alles z u Rate ziehen, gibt es n u r eine Erklärung für die Ihnen eben charakterisierte Tatsache. D i e Tatsache ist ja offenbar; Erklärungen aber gibt es n u r die eine einzige: daß das, was w i r begehren, überhaupt nicht i n derselben R i c h t u n g fließt wie der dahinfließende Strom der Vorstellungen, sondern daß es diesem Strom entgegenkommt. Sie werden einen ungeheuren Lichtblitz auf Ihr ganzes Seelenleben werfen können, w e n n Sie das eine Einzige n u r voraussetzen: daß alles, was Begehrungen, Wünsche, Interessiertsein, was die Phänomene v o n Liebe u n d Haß sind, einen Strom darstellen i m Seelenleben, der gar nicht fließt v o n der Vergangenheit i n die Z u k u n f t , sondern der uns entgegenkommt v o n der Z u k u n f t , der v o n der Z u k u n f t i n die Vergangenheit fließt (siehe Zeichnung, D - C ) . M i t einem M a l e w i r d die ganze Summe der Seelenerlebnisse klar! Ich brauchte Tage, u m das weiter auszuführen, und kann daher jetzt n u r folgendes sagen.
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Wenn Sie voraussetzen, daß der Strom der Phänomene v o n Liebe und H a ß , v o n Begehrungen u n d so weiter Ihnen entgegenk o m m t aus der Zukunft und sich begegnet mit dem Strom der Vorstellungen, den w i r v o r h i n charakterisiert haben, was ist dann i m M o m e n t unser Seelenleben? E s ist nichts anderes als die Begegnung eines Stromes aus der Vergangenheit i n die Z u k u n f t , u n d eines Stromes, der aus der Z u k u n f t i n die Vergangenheit
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fließt. U n d w e n n der gegenwärtige A u g e n b l i c k i n unserem Seelenleben eine solche Begegnung ist, dann werden Sie leicht begreifen, daß diese z w e i Ströme in der Seele selber zusammenkommen, sozusagen übereinanderschlagen. Dieses Übereinanderschlagen ist das Bewußtsein. Es gibt keine andere Erklärung für das Bewußtsein, als die eben gegebene. So n i m m t also unsere Seele teil an allem, was aus der Vergangenheit weiterfließt i n die Zukunft, u n d an allem, was uns aus der Z u k u n f t entgegenkommt. Wenn Sie also i n irgendeinem M o m e n t in Ihr Seelenleben schauen, können Sie sagen: D a i s t etwas wie eine D u r c h d r i n g u n g v o n dem, was aus der Vergangenheit i n die Z u k u n f t fließt, mit dem, was aus der Z u k u n f t i n die Vergangenheit fließt und sich dem ersteren entgegenstemmt als Begehrungen, als Interessierheit, als Wünsche u n d so weiter. Zweierlei durchdringt sich. W i r w o l l e n , w e i l das ganz deutlich z u unterscheiden ist, diesen Strömungen i m Seelenleben z w e i N a m e n geben. Wenn ich jetzt so v o r einem P u b l i k u m sprechen würde, als ob es gar keine geisteswissenschaftliche Bewegung gäbe, so würde ich möglichst sonderbare N a m e n wählen, welche die z w e i Strömungen bezeichnen sollen. A b e r es k o m m t ja nicht auf die N a m e n an. Ich möchte i n diesem A u g e n b l i c k N a m e n wählen, i n denen Sie wiedererkennen, was Sie schon v o n anderer Seite her kennengelernt haben, so daß Sie es jetzt v o n z w e i Seiten betrachten können: einmal v o n der Seite des reinen E m p i r i k e r s , der Ihnen die Seelenphänomene schildert, w i e sie sich auf dem physischen Plan abspielen, u n d der daher N a m e n wählen k a n n für etwas, was er konstatiert hat, so w i e er w i l l ; u n d dann können Sie es betrachten v o n der Seite der o k k u l t e n Forschung. Betrachten w i r zunächst diese Seite. N a m e n sind da ganz gleichgültig, aber ich möchte d o c h solche N a m e n wählen, wie sie derjenige wählt, der v o m Standpunkte der Hellsichtigkeit die D i n g e anschaut u n d sie daher w i r k l i c h ineinanderfließen sieht, N a m e n aus der Geisteswissenschaft, durch welche Sie i n der Psychosophie wiedererkennen werden, was Sie i n der Geisteswissenschaft gelernt haben. Bezeichnen w i r daher den S t r o m , der die für den M o m e n t unbewußten Vorstellungen birgt, der aus der Vergangenheit k o m m t u n d i n die Z u k u n f t fließt, als den Ätherleib, u n d den andern
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Strom, der v o n der Z u k u n f t i n die Vergangenheit geht, der sich mit dem ersteren staut u n d z u m Schnitt bringt, als den A s t r a l leib. U n d was ist das Bewußtsein? Das sich gegenseitige Treffen des Astralleibes u n d des Ätherleibes. Versuchen Sie einmal die Probe z u machen: Alles, was Sie aus den Forschungen des hellsichtigen Bewußtseins gelernt haben über den Ätherleib, versuchen Sie es anzuwenden auf das hier Gesagte. Sie werden es schon wiedererkennen. U n d versuchen Sie alles, was Sie über den Astralleib gelernt haben, mit dem z u vergleichen, was hier gesagt w o r d e n ist: Sie werden auch damit zurecht k o m m e n u n d Ihre Wahrheiten v o n dort wiedererkennen. Sie brauchen sich n u r die Frage vorzulegen: Was ist es, was da die Stauung hervorbringt, was den Durchschnitt hervorbringt? - D a ß sich da etwas staut, das liegt daran, daß sich die beiden Ströme i m physischen menschlichen Leben begegnen. N e h m e n Sie an, der physische menschliche L e i b sei weggenomm e n , u n d der Ätherleib sei auch weggenommen. Das ist aber der F a l l nach dem Tode, w o die v o n der Vergangenheit i n die Z u kunft gehende Strömung nicht mehr da ist. D a n n hat die v o n der Zukunft i n die Vergangenheit drängende Strömung, das heißt, der Astralleib, freien L a u f u n d macht sich n u n nach dem Tode unmittelbar geltend. U n d die Folge ist, daß das Leben i n K a m a l o k a rückwärts verläuft, wie es Ihnen erzählt worden ist. So sehen Sie, daß w i r auf psychosophischem Gebiet wiederfinden, was w i r auf geisteswissenschaftlichem Gebiet gelernt haben. Ich möchte allerdings, daß Sie dabei n o c h eines bemerken: daß es i n der Tat manchmal ein recht weiter Weg ist v o n dem Wissen der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aus M i t t e i l u n gen hellseherischer Forschung heraus z u dem, was auf dem p h y sischen Plan w i r k l i c h erfahren weden kann, denn dies muß erst i n O r d u n g gebracht werden. Wenn es aber i n O r d n u n g gebracht ist, dann werden Sie überall finden, daß die Forschungen des hellsichtigen Bewußtseins sich durch die Beobachtungen des physischen Plans überall rechtfertigen lassen. Jetzt aber betrachten wir eine andere Erscheinung unseres Seelenlebens, eine solche Erscheinung, die gewöhnlich bezeichnet w i r d durch Worte wie «Überraschung», «Erstaunen» gegenüber 180
irgendeiner Sache. Wann können w i r v o n einer Sache, die uns begegnet, überrascht sein? N u r dann, wenn w i r i n dem A u g e n blick, w o sie an uns herantritt, nicht i n der Lage sind, sogleich z u urteilen, w o sozusagen auf unser Seelenleben ein E i n d r u c k gemacht w i r d u n d w i r also nicht gleich mit unserem U r t e i l der Sache gewachsen sind. Im Augenblick, w o w i r mit dem U r t e i l der Sache gewachsen sind, hört das Erstaunen, hört die Überraschung auf. U n d was uns so begegnet, daß w i r gleich der Sache gewachsen sind, das bringt uns überhaupt nicht z u r Überraschung, z u m Erstaunen. So also können w i r sagen: W e n n uns eine Erscheinung so gegenübertritt, daß w i r überrascht sind, vielleicht sogar F u r c h t empfinden - denn auch da werden w i r das Gefühl so charakterisieren können, daß w i r mit unserem U r t e i l der uns entgegentretenden Erscheinung nicht gewachsen sind - , w o also die Erscheinung auf unser Seelenleben einen bewußten E i n d r u c k macht, ohne daß unser U r t e i l sogleich eintreten kann, da drängt sich die Z u k u n f t i n unser Seelenleben hinein. D a tritt unser Gefühl, unser Interesse i n Kraft, aber unser U r t e i l kann nicht sogleich heran. Daraus müssen w i r uns sagen, daß i n der Tat unsere Interessiertheit, unsere Gefühle u n d unser Begehrungsleben nicht die R i c h t u n g haben können, die v o n der Vergangenheit i n die Z u k u n f t geht, denn da würde unmittelbar aus derselben R i c h t u n g her das U r t e i l fließen können. A l s o muß das U r t e i l n o c h etwas anderes sein als die Interessiertheit. Das haben w i r schon aus der gewöhnlichen Beobachtung heraus gewonnen. A b e r dieses U r t e i l k a n n auch nicht zusammenfließen, kann auch nicht ein u n d dasselbe sein mit dem aus der Vergangenheit i n die Z u k u n f t fließenden S t r o m des Seelenlebens. W e n n das der Fall wäre, müßte i n jedem A u g e n b l i c k das U r t e i l sich decken mit dem Strom der Vorstellungen. Es müßte i n jedem Augenblick, so w i r urteilen, unser ganzes Seelenleben tätig sein. Es müßte i n jedem A u g e n b l i c k fertig sein m i t den Vorstellungen. Das Urteilen ist aber etwas Bewußtes. D e n k e n Sie aber, w i e weit Sie entfernt sind i n dem A u g e n b l i c k , w o Sie urteilen, v o n dem Gegenwärtig-Haben aller Ihrer Vorstellungen, die Sie haben könnten! Das U r t e i len fällt ins Bewußtsein herein, ist aber nicht imstande, den fortfließenden Strom des Seelenlebens aufzufangen. Es stehen Ihnen
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nicht immer alle Ihre Vorstellungen z u Gebote. A l s o mit dem fortfließenden Strom des Seelenlebens kann unser U r t e i l e n nicht zusammenfallen. Es k a n n aber auch nicht zusammenfallen mit dem v o n der Z u k u n f t i n die Vergangenheit gehenden Strom, weil sonst solche Gefühle, w i e F u r c h t , Überraschung, Staunen, nicht möglich sein würden. Daraus folgt, daß mit keiner dieser R i c h tungen zusammenfällt, was w i r U r t e i l e n nennen. H a l t e n w i r das fest u n d betrachten w i r jetzt einmal den fortfließenden Strom des Ätherleibes, der v o n der Vergangenheit i n die Z u k u n f t sich bewegt. E r zeigt als sein Eigentümlichstes, daß er s o w o h l unbewußt fortfließen k a n n i n der Seele, wie auch bew u ß t werden kann. Fassen w i r n u n ins Auge, w o d u r c h unbewußte, i n der Seele fortfließende Vorstellungen bewußt werden können. Darüber müssen w i r uns klar sein: vorhanden sind diese Vorstellungen fortwährend. A b e r was geschieht i n dem M o ment, w o sie bewußt werden? Betrachten w i r einmal den M o ment, w o , i n einer höchst eigenartigen Weise, uns entschwundene Vorstellungen bewußt werden. Ich w i l l Ihnen einen solchen M o m e n t v o r die Seele rufen. Sie gehen durch eine Bildergalerie; Sie sehen ein B i l d , schauen es an. In diesem A u g e n b l i c k taucht i n Ihnen dasselbe B i l d auf: Sie haben es nämlich schon gesehen. N e h m e n w i r das an. Was hat da die Erinnerung hervorgerufen? Sie ist hervorgerufen w o r d e n d u r c h den E i n d r u c k des neuen B i l des. D e r E i n d r u c k des neuen Bildes war es also, der Ihnen, wenn ich so sagen darf, i n die Seelensichtbarkeit hereingezaubert hat die alte Vorstellung v o n dem Bilde, die i n Ihnen fortgelebt hatte. Wenn das neue B i l d nicht gekommen wäre, würde sie nicht aufgetreten sein. Diesen Vorgang können w i r uns überhaupt nur verdeutlichen, wenn Sie sich folgendes klarmachen. Was ist geschehen, indem Sie das neue B i l d gesehen haben? Ihr Ich ist willens, dem B i l d e entgegenzutreten. Es tritt i n Wechselverkehr mit dem Bilde durch die Sinne. U n d dieser U m s t a n d , daß Ihr Ich einen neuen E i n d r u c k hat, etwas Neues i n sich hereinnimmt, der w i r k t merkwürdigerweise auf etwas i n dem fortfließenden Strom des Seelenlebens derartig, daß dieses n u n auch sichtbar w i r d . Versuchen w i r ein B i l d z u gewinnen, u m diesen Vorgang z u charakterisie-
ren. D e n k e n Sie einmal an alle die Gegenstände, die, wenn Sie i n einer R i c h t u n g stehen, hinter Ihnen sind. Sie sehen sie nicht, weil sie hinter Ihnen sind. Sie können sie n u r sehen, wenn Sie sich einen Spiegel vorhalten; dann sehen Sie i m Spiegel die Gegenstände, welche hinter Ihnen sind. Daraus können Sie schon schließen, daß etwas Ahnliches der F a l l sein muß mit den V o r stellungen, die i n der Seele unbewußt fortleben. Wenn der neue E i n d r u c k k o m m t , stellt er sich so i n das Seelenleben herein, daß der alte E i n d r u c k seelisch sichtbar w i r d . W e n n Sie sich nun vorstellen, daß das Ich i m Seelenleben etwas ist, was vor den alten Vorstellungen steht, die unbewußt sind, u n d der M o m e n t des Erinnerns dadurch charakterisiert ist, daß diese Vorstellungen durch einen inneren Seelenvorgang veranlaßt werden, sozusagen sich z u spiegeln, dadurch, daß eine Ursache für die Spiegelung geschaffen w i r d , dann haben Sie den Vorgang des Erinnerns, des Bewußtwerdens der alten Vorstellungen. U n d w o ist denn der G r u n d , daß eine solche Spiegelung entsteht? Sie können i h n leicht finden, wenn Sie nur nachdenken w o l l e n . Sie gewinnen eine Anschauung über den G r u n d , daß eine solche Spiegelung entsteht, wenn Sie sich an etwas erinnern, was i c h sogar schon neulich i m öffentlichen Vortrage über «Leben u n d T o d » ' gesagt habe: daß als eine höchst wichtige Tatsache i m Seelenleben z u beobachten ist, daß die rückwärtslaufende E r i n n e r u n g des Seelenlebens bei einem bestimmten P u n k t aufhört. V o n diesem P u n k t e rückwärts erinnert sich der M e n s c h nicht mehr. B e i diesem P u n k t e fängt dann i m Menschen die E r i n n e r u n g an. M i t andern W o r t e n : Welche Vorstellungen werden überhaupt i m gewöhnlichen physischen Leben des M e n schen erinnert? N u r diejenigen, bei denen das Ich dabeigewesen ist, die w i r k l i c h das Ich hereingenommen hat. D e n n ich habe schon darauf aufmerksam gemacht: Ungefähr so weit zurück, als die E r i n n e r u n g an die früheren Ereignisse zurückreicht, liegt auch der M o m e n t , w o das K i n d überhaupt fähig geworden ist, die Ich-Vorstellung, das Ich-Bewußtsein z u entwickeln. N u r diejenigen Vorstellungen, die so aufgenommen worden sind, daß das Ich tätig dabei war, daß eine aktive Kraft dabei war, indem das Ich sich als bewußtes Ich gefühlt hat, n u r diese Vorstellungen 7
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werden i m gewöhnlichen Menschenleben überhaupt erinnert, können nur erinnert werden. Was macht denn also dieses Ich, indem es sozusagen geboren w i r d , sagen w i r i m zweiten oder dritten Jahre des k i n d l i c h e n Lebens? Früher hat es sozusagen unbewußt die Eindrücke aufgenommen, war nicht selbst dabei. D a n n fängt es an, als Ich-Bewußtsein sich w i r k l i c h z u entwikkeln, und m i t diesem Ich-Bewußtsein beginnt dann das K i n d alle Vorstellungen z u verknüpfen, die es von außen hereinnimmt. Das ist der M o m e n t , w o das menschliche Ich beginnt, sich vor seine Vorstellungen z u stellen u n d diese hinter sich z u setzen. Sie können das fast handgreiflich erfassen: Vorher war das Ich s o z u sagen i n seinem ganzen Vorstellungsleben darinnen; dann tritt es heraus u n d stellt sich so, daß es nunmehr frei der Zukunft entgegengeht u n d sozusagen gewappnet ist, alles das, was aus der Z u kunft herankommt, aufzunehmen, aber hinter sich stellt die vergangenen Vorstellungen. Wenn w i r das, was w i r jetzt gesagt haben, festhalten, was muß denn dann geschehen in dem M o m e n t , wo das Ich anfängt, alle Vorstellungen sozusagen i n sich hereinzunehmen, w o das Ich bewußt wird? D a muß das Ich sich verbinden mit dem fortfließenden Strom, mit dem, was w i r den Ätherleib genannt haben. U n d i n der Tat, i n dem M o m e n t , w o das K i n d anfängt, sein IchBewußtsein z u entwickeln, da hat der Strom des Seelenlebens einen Eigeneindruck auf den Atherleib gemacht. D a d u r c h entsteht aber auch die Ich-Vorstellung. D e n n bedenken Sie einmal, daß die Ich-Vorstellung Ihnen niemals v o n außen gegeben werden kann. A l l e andern Vorstellungen, die sich auf die physische Welt beziehen, sind Ihnen v o n außen gegeben. D i e Ich-Vorstellung, schon die Ich-Wahrnehmung, kann Ihnen niemals v o n außen zufließen. Das w i r d Ihnen erst erklärlich, wenn Sie sich jetzt vorstellen, daß das K i n d , bevor es die Ich-Vorstellung hat, unfähig ist, den eigenen Ätherleib z u verspüren; i n dem Augenblick, w o es anfängt, das Ich-Bewußtsein z u entwickeln, verspürt es seinen Ätherleib, u n d es spiegelt zurück i n das Ich das Wesen des eigenen Ätherleibes. D a hat es den «Spiegel». Während also alle andern Vorstellungen, die sich auf physischen R a u m u n d auf das Leben i m physischen Raum beziehen, durch den physischen
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L e i b des Menschen aufgenommen werden, nämlich durch die Sinnesorgane, entsteht überhaupt das Ich-Bewußtsein dadurch, daß das Ich den Atherleib ausfüllt und sich gleichsam an seinen Innenwänden spiegelt. Das ist das Wesentliche des Ich-Bewußtseins, daß es der nach innen sich spiegelnde Ätherleib ist. D u r c h was k a n n das Ich denn nur veranlaßt werden, sich so i m Innern z u spiegeln? D a d u r c h allein kann es dazu veranlaßt werden, daß der Ätherleib einen gewissen inneren Abschluß verlangt. W i r sahen ja, daß dem Ätherleib entgegenkommt der Astralleib. Es ist also sozusagen das Ich, welches den Ätherleib ausfüllt u n d sich dieses Ätherleibes als solchem, wie durch innere Spiegelung, bewußt w i r d . A b e r eines hat diese Ich-Vorstellung, dieses Ich-Bewußtsein: es w i r d mächtig ergriffen v o n aller Interessiertheit u n d v o n allen Begehrungen. D e n n die setzen sich gehörig fest i n dem Ich. A b e r trotzdem sich die Interessiertheit, die Begehrungen so i n dem Ich festsetzen- was w i r als die verschiedenen Egoismen bezeichnen-, müssen w i r sagen: Diese Ich-Wahrnehmung hat wieder etwas sehr Eigentümliches. Sie hat i n gewisser Beziehung doch wieder etwas Unabhängiges v o n den Begehrungen. Es gibt nämlich eine gewisse F o r d e r u n g i n der Menschenseele, die sie sich selbst stellt u n d die ja sehr leicht für die Seele selber beglaubigt werden kann. E s w i r d sich j ede Seele sagen: D u r c h das bloße Begehren kann ich unmöglich mein I c h hervorrufen. W e n n ich n o c h so sehr mein Ich wünsche: dadurch ist es nicht da, daß ich es wünsche. - Ebensowenig wie das Ich etwa n u r besteht aus dem fortfließenden Strom der Vorstellungen, ebensowenig besteht es aus dem andern Strom, der aus der Z u k u n f t i n die Vergangenheit geht, dem Strom der Begehrungen. E s ist ein v o n beiden Strömen grundverschiedenes Element, das aber beide Ströme i n sich aufnimmt. Das können w i r uns graphisch darstellen - u n d die graphische Darstellung entspricht i n diesem Falle vollständig dem Tatbestand - , indem w i r den S t r o m des Ich senkrecht auf den Strom der Zeit fassen. So muß m a n es nämlich t u n , wenn man alle Seelenerscheinungen richtig i n Betracht zieht. Sie k o m m e n zurecht mit den Seelenerscheinungen, w e n n Sie außer den beiden Strömen - dem aus der Vergangenheit i n die Z u k u n f t u n d dem aus der I8J
Zukunft i n die Vergangenheit—noch eine solche Strömung i n der menschlichen Seele annehmen, welche senkrecht auf den beiden andern steht. Das ist die, welche dem menschlichen I c h - E i n schlag selber entspricht.
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N u n ist aber m i t dem Ich etwas verbunden, was Sie auch wieder durch eine bloße Beobachtung des Seelenlebens leicht finden können, nämlich die Urteilsfähigkeit. M i t dem Ich schlägt die U r t e i l s fähigkeit herein. Sie können das an einer solchen Erscheinung wie der Überraschung ganz leicht jetzt begreifen. Wenn das Ich seitlich allerdings - w i r k t , kann ein Ereignis an Sie herantreten, das Ihnen entgegenbringen w i r d eine Fülle v o n Interessiertheit. A b e r wenn nicht seitlich zugleich einschlagen kann die urteilende Tätigkeit des Ich, dann ist es unmöglich, daß sich das Ereignis mit dem U r t e i l begegnet. A b e r was geschieht denn, wenn das Ich seitlich einschlägt? W i r haben gesehen, es ist die Ich-Wahrnehm u n g wie eine innere Spiegelung i n der Seele. D i e Spiegelung müßte so geschehen, daß das Ich förmlich die Vorstellungen h i n ter sich hätte, die da unbewußt fließen. Das würde dann der F a l l sein, wenn die Ich-Strömung so einströmte, daß sie tatsächlich i n ihrem eigenen Einströmen die R i c h t u n g hat, die ich mit dem Pfeil E - F bezeichnet habe, im Leben aber die R i c h t u n g hätte, die i c h
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m i t dem Pfeil G — H bezeichne, nämlich der Zukunft entgegen. N u n nehmen Sie an, das Ich wäre, sofern es i n den Ätherleib eingeschlagen hat, selber ein Spiegel geworden. D i e Sache stimmt i n ganz auffälliger Weise. Wenn das Ich die Vorstellungen, die
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unbewußt weiterfließen, hinter sich hat, was hat es denn dann v o r sich, w e n n es nach der Z u k u n f t schaut, wie es ja die N a t u r des Ich ist, der Z u k u n f t entgegenzuleben? Was müßte da sein? D e n k e n Sie sich: Sie stehen v o r einem Spiegel u n d sehen hinein. W e n n auf der Rückseite des Spiegels kein Spiegelbelag ist, sehen Sie überhaupt nichts; dann sehen Sie i n die unendliche Ferne h i n ein. Das ist zunächst der B l i c k des Menschen i n die Z u k u n f t . So sieht der M e n s c h i n der Tat i n den Strom hinein, der v o n der Z u k u n f t hereinkommt. D e r fließt seelisch auf i h n z u : er sieht nichts. W a n n nur sieht er etwas ? W e n n er d a d r i n n e n - i m S p i e g e l etwas sieht v o n der Vergangenheit. D a n n sieht er natürlich nicht die Z u k u n f t , sondern die Vergangenheit! Sie sehen nicht die G e genstände, welche v o r Ihnen sind, w e n n Sie i n den Spiegel schauen, sondern die, welche hinter Ihnen sind. Wenn das Ich i n dem A u g e n b l i c k , w o das K i n d z u m Selbstbewußtsein k o m m t , das dadurch entsteht, daß das Ich einschlägt i n den Ätherleib, sich innerlich spiegelt, so bedeutet alles seelische Leben v o n da
ab ein Mitspiegeln der Erlebnisse, ein Mitspiegeln der E i n drücke. D a h e r können Sie sich an nichts erinnern, bevor sich das Ich z u m Spiegelapparat gemacht hat. D i e allerersten Kindheitseindrücke bleiben außer der E r i n n e r u n g . Das Wesentliche ist nämlich, daß das menschliche Ich, insofern es i n den Atherleib hineinschlägt, das heißt, aufnimmt die Vorstellungen aus der Vergangenheit, dadurch selber z u einem Seelen-Spiegelungsapparat w i r d . U n d für alles, was es v o n da ab hereinnimmt i n seinen Spiegelungsapparat, ist es zugänglich. Was muß denn also geschehen, damit n u n das Ich sozusagen Vergangenes w i r k l i c h w i derspiegeln kann? M a n könnte sagen: Wenn Sie einen äußeren E i n d r u c k haben, wie ich i h n v o r h i n geschildert habe - w e n n Sie ein B i l d neuerdings sehen, das sie schon gesehen haben - , so w i r d dadurch die Spiegelung bewirkt i n bezug auf die alte Seelenvorstellung, die früher unbewußt w a r ; die w i r d dadurch v o n der andern Seite so i n ihrer Strahlung zurückgehalten, daß sie i n den inneren Seelenspiegel hereinfällt. W e n n aber k e i n neuer E i n d r u c k , keine W i e derholung irgendeines alten Eindruckes geschieht, so muß das Ich selbst herbeiziehen, was als Spiegelung auftreten soll; da muß es v o n der andern Seite w i r k e n u n d Ersatz schaffen für das, was sonst der äußere E i n d r u c k bewirkt hat. Was ist denn aber dieses Ich zunächst, wie es sich i m physischen menschlichen Leben auslebt? Es ist die innere Erfüllung des Ätherleibes. A l s o es muß innerlich diesen Ätherleib, damit es sich an seinen Innenwänden spiegeln kann, z u m Spiegeln gebracht haben. Das kann n u r dadurch geschehen, daß der Ätherleib w i r k l i c h abgeschlossen w i r d . Für die äußeren Sinneseindrücke w i r d er abgeschlossen, indem Sie i m physischen Leibe sind, denn dadurch sind Sie mit A u g e n , O h r e n u n d so weiter umgeben, und was innerhalb des Ätherleibes lebt, kann dadurch zurückgeworfen werden. Für das aber, dessen Sie sich frei erinnern sollen, müssen Sie eine andere Kraft haben, denn wenn der Ätherleib spiegeln soll, muß er einen Spiegelbelag haben. Diesen Spiegelbelag geben für die neuen Eindrücke die Sinnesorgane, das heißt der physische L e i b . W e n n aber der physische L e i b nicht w i r k t , wie das bei einer freien Erinnerung ist, wenn w i r keine neuen Eindrücke z u r
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Auffrischung haben, so muß der Belag v o n der andern Seite hergenommen werden. Das kann nur dadurch geschehen, daß w i r das, was entgegenschlägt dem Ich, w i r könnten sagen, seitlich entgegenschlägt dem Ich, als eine Hauptkraft verwenden, indem w i r das Begehren heranziehen, den uns entgegenkommenden Strom hereinschieben und ihn z u m Spiegelbelag machen. Das heißt, n u r d u r c h eine entsprechende Stärkung unseres Astralleibes können w i r bewirken, daß w i r die Strebenskräfte, die Begehrungskräfte entwickeln können, die uns fähig machen, eine V o r stellung, die sich weigert z u r Spiegelung z u k o m m e n , i n die E r i n n e r u n g heraufzurufen. N u r dadurch, daß w i r unser Ich, wie es sich i n der physischen Welt auslebt, stärker machen, sind w i r allein imstande, diesen Strom, der sonst nicht v o n uns ergriffen w i r d , der v o n der Z u k u n f t k o m m t , tatsächlich hereinzuziehen u n d i h n z u m Spiegelbelag z u machen. A l s o nur durch eine Stärk u n g unseres Ich, n u r d u r c h den U m s t a n d , daß w i r das Ich z u m Meister des Astralleibes, des Stromes aus der Z u k u n f t machen, können w i r das Ich z u r Erinnerungsfähigkeit bringen v o n V o r stellungen, die sich nicht spiegeln w o l l e n , die sich weigern, sich uns z u ergeben. Es ist da ein K a m p f , den w i r kämpfen mit den unbewußten Vorstellungen. Das Ich ist nicht stark genug, sie herbeizuholen, u n d da müssen w i r eine A n l e i h e machen bei dem, was uns entgegenkommt. U m das z u verdeutlichen, w i l l i c h ein Beispiel nehmen aus der Lebenspraxis, u m z u zeigen, w o d u r c h es geschehen kann, daß Sie tatsächlich eine Stärkung Ihres Ich herbeiführen. G e w ö h n lich erleben Sie die Lebensereignisse so, daß Sie einfach dem fortlaufenden Strom des Erlebens folgen. W e n n eine G l o c k e tönt, einmal, ein zweites, ein drittes M a l anschlägt, so hören Sie zuerst den ersten, dann den zweiten u n d dann den dritten T o n . D a n n sind Sie aber fertig. W e n n Sie ein D r a m a anhören, hören Sie die einzelnen Teile hintereinander; dann sind Sie fertig. Das heißt, Sie leben i n dem Ätherleib mit dem fortlaufenden Strom. N e h men w i r aber an, Sie betreiben es systematisch, den umgekehrten Strom sich anzueignen, Sie gewöhnten sich daran, Dinge, die Sie sonst n u r i n der einen R i c h t u n g verfolgen, auch umgekehrt z u verfolgen. Z u m Beispiel, Sie nehmen sich vor, einige Ereignisse 189
des Tages i n umgekehrter Reihenfolge zu erinnern. W e n n Sie so das Tagesleben rückwärts betrachten, dann folgen Sie nicht dem gewöhnlichen I c h - S t r o m , der dadurch zustande k o m m t , daß das Ich i m Atherleib lebt, sondern Sie folgen d a n n dem entgegengesetzten Strom, dem S t r o m des Astralleibes. W e n n Sie z u m B e i spiel das Vaterunser statt, wie Sie gewohnt sind, es vorwärts z u beten, es jetzt rückwärts beten, dann folgen Sie einem dem gewöhnlichen S t r o m der Ereignisse entgegengesetzten Strom. Das ist nicht der gewöhnliche Strom, der dadurch zustande k o m m t , daß das Ich den Ätherleib ausfüllt. U n d die Folge ist, daß Sie Ihrem Ich dadurch eine K r a f t z u f u h r bereiten aus dem astralischen Strom heraus. D a n n tritt i n der Tat eine Erinnerungsfähigkeit ein i n gewaltigem Maße. Ich selbst habe i n meiner Erziehertätigkeit bei meinen Schülern dahin gewirkt, damit sie eine Stärk u n g des Gedächtnisses für später haben sollten, daß sie gewisse D i n g e , die man sonst nur i n einer R i c h t u n g lernt, auch i n der umgekehrten R i c h t u n g lernten u n d immer wieder u n d wieder üben mußten. So w i r d die Härteskala der Mineralien gewöhnlich in der folgenden Reihenfolge gelernt: i . Talk, 2. Steinsalz, 3. Kalkspat, 4. Flußspat, 5. Apatit, 6. O r t h o k l a s oder Kalifeldspat, 7. Q u a r z , 8. Topas, 9. K o r u n d , 10. Diamant. D a habe ich nun die Schüler neben dieser Aufzählung auch immer wieder die u m gekehrte Reihenfolge üben lassen: Diamant, K o r u n d , Topas, Q u a r z , O r t h o k l a s , Apatit, Flußspat, Kalkspat, Steinsalz, Talk. Das ist eine außerordentlich gute Ü b u n g - b e s o n d e r s wenn sie z u guter Zeit i m Kindheitsalter vorgenommen w i r d - für die Stärk u n g der Gedächtniskraft. Eine andere Ü b u n g gibt es dafür n o c h , eine Übung, die wieder mit alledem zusammenhängt, was w i r i n den verflossenen Tagen u n d auch heute betrachtet haben, u n d die besteht i n folgendem. N e h m e n w i r an, jemand leide an auffallendem Gedächtnisschwund, u n d er gibt sich die Mühe, irgendeine Beschäftigung, die er i n der Jugend vorgenommen hat, mit voller Hingabe wieder vorzunehmen. Denken Sie, der Betreffende stände jetzt i m siebenundvierzigsten Lebensjahr, u n d er habe sich mit fünfzehn Jahren besonders befaßt mit einem B u c h e , das i h m damals sehr große Freude gemacht hat, u n d er n i m m t dieses B u c h jetzt w i e -
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der v o r u n d versucht es von neuem durchzugehen. Wenn Sie i n einem solchen Falle dieselben Tatsachen wieder vor die Seele r u fen, k o m m t Ihnen der neue Strom entgegen, u n d Sie stärken sich aus dem astralischen Strom, der Ihnen aus der Z u k u n f t entgegenk o m m t . W e n n das ausgeführt w i r d v o n einem Menschen, w e n n er z u m Beispiel als ein Greis wieder an Beschäftigungen geht, die er zwischen dem siebenten u n d vierzehnten Jahre getrieben hat, dann ist das eine ganz besondere H i l f e z u r Aufbesserung des Gedächtnisses. Diese D i n g e können Ihnen also zeigen, daß tatsächlich unser Ich sich stärken muß aus dem dem Strom des Ätherleibes entgegenkommenden astralischen Strom, w e n n es die Erinnerungsfähigkeit fördern w i l l . Das alles sind außerordentlich wichtige D i n g e für die Lebenspraxis. U n d w e n n z u m Beispiel beim U n terricht mehr Aufmerksamkeit auf solche D i n g e verwendet würde, so könnte man dadurch ungeheuer segensreich w i r k e n . So könnte man z u m Beispiel segensreich w i r k e n , wenn man die aufeinanderfolgenden Schulklassen i n einer siebenklassigen Schule so einteilen würde, daß man sozusagen eine Mittelklasse einrichtete, die gewissermaßen für sich dann bestünde, u n d daß dann i n der fünften Klasse - verändert - sich das wiederholen würde, was i n der dritten durchgenommen w o r d e n ist, u n d ebenso i n der sechsten Klasse sich wiederholen würde, was i n der zweiten, u n d i n der siebenten, was i n der ersten Klasse behandelt w o r d e n ist. Das würde eine vorzügliche Stärkung des Gedächtnisses bedeuten, u n d die Menschen würden schon sehen, wenn sie dies i n die Praxis einführten, wie segensreich sich diese D i n g e auswirken würden, einfach aus dem G r u n d e , w e i l sie den Gesetz e n des w i r k l i c h e n Lebens entstammen. Daraus sehen w i r zugleich, daß der M e n s c h i n seiner Ich-Vorstellung, i n seinem Ich-Bewußtsein überhaupt etwas hat, was erst entsteht. Es entsteht ja erst i m kindlichen Alter. U n d w i r haben auch hingewiesen darauf, w o d u r c h es entsteht: nämlich dadurch, daß sich der Ätherleib nach innen spiegelt. K e i n W u n der daher - dür denjenigen, der die Geisteswissenschaft kennt, gewiß nicht, da er weiß, daß der M e n s c h i n der N a c h t außer dem physischen L e i b u n d Ätherleib ist -^daß das Ich-Bewußtsein i n
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der N a c h t nicht da sein kann, w e i l sich das I c h nicht i m Ätherleibe spiegeln kann. W i r sind also gar nicht überrascht, wenn w i r hören, daß die Ich-Vorstellung während des Schlafzustandes auch i n die Unbewußtheit hinuntergehen muß, denn der Ätherleib ist der fortlaufende Strom der Zeit; er enthält die V o r stellungen, die erst v o n der andern Seite beleuchtet werden müssen, das heißt v o m Astralleib. D a n n kann das, was i m Ätherleib sozusagen vorwärtsschwimmt, beleuchtet werden v o m Seelenleben. Was der M e n s c h als Ich-Vorstellung hat, ist selbst nur i m Ätherleibe; das ist selbst nur der gesamte Ätherleib v o n innen gesehen. D i e Ich-Vorstellung ist selbst nur i m Ätherleibe w i r k s a m , nicht aber das Ich selber, denn - haben w i r gesagt - das Ich ist die seitlich einfallende Urteilskraft. In dem Augenblick, w o Sie das Ich begreifen w o l l e n , dürfen Sie nicht z u m Ich-Bewußtsein gehen, sondern da müssen Sie z u m U r t e i l gehen. U n d merkwürdigerweise erklärt sich das U r t e i l ziemlich souverän gegenüber dem Ich-Bewußtsein. W i r haben ganz genau unterschieden zwischen dem, was v o m Urteilen ergriffen ist, u n d dem, was noch nicht davon ergriffen ist. Wenn w i r den E i n d r u c k der roten Farbe haben, so ist noch kein U r t e i l gefällt v o m Seelenleben. D a steht die Urteilsfähigkeit still. Es brandet v o n außen herein, was entscheidet über dem E i n d r u c k . In dem Augenblick, w o w i r das einfachste U r t e i l fällen: «Rot ist», w e n n w i r dem R o t das Sein zuschreiben, findet schon eine U r teilsfällung des Seelenlebens statt. In dem Augenblick, w o w i r Urteile fällen, regt sich das Ich. W e n n n u n das Ich seine Urteile fällt auf G r u n d der Ergebnisse der äußeren Eindrücke, so k o m men die äußeren Eindrücke ins U r t e i l herein, dann sind die äußeren Eindrücke Gegenstand des Urteilens, z u m Beispiel «Rot ist». Was muß denn aber möglich sein, w e n n das Ich eine Wesenheit ist, verschieden v o n allen Vorstellungen u n d auch v o n seiner eigenen Wahrnehmung? W e n n das I c h der Veranlasser ist der Ich-Wahrnehmung, was muß da sein? D a n n muß eine U r t e i l s möglichkeit sein. U n t e r den verschiedenen Urteilen i n unserem Seelenleben muß es eines geben, dem gegenüber sich das Ich souverän fühlt, nicht angewiesen auf einen äußeren E i n d r u c k . Das tritt i n der Tat ein, w e n n Sie das U r t e i l fällen: «Ich ist.» «Ich
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bin», ist ja nur ein anderer A u s d r u c k dafür. D a haben Sie das, was sonst i m Ich lebt, was Sie aber noch nicht z u m Bewußtsein gebracht haben, mit Urteilsfähigkeit ausgefüllt i m «Ich ist» oder «Ich bin». Was vorher eine leere Blase war, die wie Schaum zerfließt, w e n n das Seelenleben unbewußt w i r d , das haben Sie ausgefüllt mit Urteilskraft. W e n n das so ist, wenn das Ich sich selber ausfüllt, was geschieht dann? Urteilen ist eine Seelentätigkeit. Seelentätigkeiten entstehen i m Seelenbinnenleben, innerlich. Sie führen z u V o r stellungen. I m Bereiche dieser Vorstellungen taucht auch auf die Ich-Vorstellung. A u s der Ich-Vorstellung haben w i r aber nichts über das Ich selbst lernen können. A b e r eines zeigt sich jetzt: N i c h t s v o n äußeren Eindrücken kann uns z u r Ich-Vorstellung bringen. M i t andern W o r t e n : D i e Ich-Vorstellung stammt nicht aus der physischen Welt. D a sie also nicht aus der physischen Welt stammt, sonst aber ganz den Charakter hat wie Vorstellungen, die aus der physischen Welt stammen, u n d da doch das U r teilen i n der Seele, das eben z u den elementaren Inhalten des Seelenlebens gehört, auf das Ich angewendet w i r d , w o muß das Ich v o n woanders her i n das Seelenleben hereinkommen. Das heißt, w i r haben damit z u r E v i d e n z gezeigt, daß geradeso wie die V o r stellung «Rot» v o n der äußeren Welt i n die Seele hereinkommt u n d v o m Ich durch das U r t e i l umspannt w i r d , so v o n der andern Seite her etwas i n die Seele hereinkommt, das v o m U r t e i l u m spannt w i r d . N e h m e n w i r den E i n d r u c k «Rot» u n d umspannen i h n mit einem U r t e i l , so haben w i r «Rot ist». N e h m e n w i r i n ähnlicher Weise das Ich u n d sagen «Ich ist», so nehmen w i r einen E i n d r u c k aus derjenigen Außenwelt, die w i r die geistige Welt nennen, auf u n d umspannen i h n mit einem U r t e i l . «Rot» als solches entspricht den Daseinsformen der physischen Welt. «Röt ist» ist ein U r t e i l u n d k a n n nur innerhalb des Seelenlebens z u stande k o m m e n . «Ich» ist eine Tatsache, w i e «Rot» eine Tatsache ist, u n d es kann nur i n das Seelenleben eintreten, das heißt, v o n einem U r t e i l umspannt werden, w e n n das U r t e i l v o n der andern Seite der Seele entgegenkommt u n d das Ich umspannt mit dem U r t e i l u n d sagt «Ich bin» oder «Ich ist». «Ich ist» ist nur die U m k e h r u n g des «Ich bin» nach der andern Seite. D e r Sprachge-
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nius ist eben sehr gescheit u n d drückt die D i n g e sehr prägnant aus. Wenn i c h die vierte R i c h t u n g zeichne, v o n unten nach o b e n , so würde i c h die dem I c h entgegengesetzt laufende R i c h t u n g als die R i c h t u n g der physischen Welt bezeichnen müssen (siehe Zeichnung, I - K ) . D a r i n hätten w i r das, was dem physischen L e i b entspricht. D i e Eindrücke der physischen Welt gehen also, graphisch dargestellt, v o n unten nach oben u n d offenbaren sich i n der Seele als Sinneseindrücke. A u f der einen Seite sind entgegengesetzt das Ich u n d seine physisch-leiblichen Sinnesorgane, auf der andern Seite stehen sich entgegen die Strömung des Ätherleibes u n d die des Astralleibes. W e n n nun das Ich aufstößt an das, was der physische L e i b ist, w e n n es gerade hinströmt gegen sein A u g e , gegen sein O h r , so bekommt es die Eindrücke der physischen Welt. D i e werden i n der Seele weitergebracht dadurch, daß die Seele ein Bewußtsein hat durch das Gegenströmen v o n astralischer u n d ätherischer Welt. U n d aus dem ganzen Bilde können Sie sich klarmachen, daß man verhältnismäßig eine gute graphische Darstellung b e k o m m t v o n dem Verhältnis der
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verschieden zusammenwirkenden Welten i n der menschlichen Seele, wenn man sich sagt: A u f der einen Seite ist engegengesetzt Ich u n d der physische L e i b mit seinen Sinnesorganen; die stehen sich direkt gegenüber. D a n n stehen sich direkt gegenüber, indem sie gleichsam z u den beiden andern Strömungen einen rechten W i n k e l bilden, Ätherleib u n d Astralleib. N u n kann i c h Ihnen die Versicherung geben, daß sich Ihnen unzählige Rätsel der Seele lösen werden, w e n n Sie dieses Schema zugrundelegen. Sie werden dann schon begreifen, daß i n diesem K r e u z , das v o n einem Kreis durchzogen ist, ein sehr gutes Schema des Seelenlebens gegeben ist, wie es angrenzt an das G e i stige nach oben, an das Physische nach unten, an das Ätherische nach links u n d an das Astralische nach rechts. N u r müssen Sie sich dabei z u der Vorstellung aufschwingen, daß der Strom der Zeit nicht nur etwas ruhig Dahinfließendes ist, sondern daß ihr etwas entgegenkommt, daß aber das Ich-Leben u n d das Sinnesleben nur begriffen werden können, w e n n sie wieder i m rechten W i n k e l auf die Zeitströmung auftreffend verstanden werden. Wenn Sie dies ins A u g e fassen, werden Sie w o h l verstehen, daß i n unserer Seele w i r k l i c h recht verschiedene Kräfte sich treffen. Unsere Seele ist gewissermaßen der Schauplatz, auf dem sich Kräfte treffen der verschiedensten Richtungen. N e h m e n w i r einmal an - da ja diese Kräfte gerade bei der M a n nigfaltigkeit der Menschen sich auch i n der mannigfaltigsten Weise geltend machen werden - , bei einem Menschen sei das urteilende Ich vorherrschend. D a n n w i r d es seiner Seele außerordentlich schwer sein, die abstrakten Begriffe so vollsaftig z u machen, daß sie unmittelbar die Gefühle ansprechen. Daher werden w i r erwarten können, daß bei einem Menschen, dessen Hauptgeschäft das U r t e i l e n ist, sich nicht so leicht aus dem, was i n seinen W o r t e n hegt, Vollsaftiges ergeben w i r d , was z u unserem Gefühlsleben spricht. E i n M e n s c h dagegen, dessen Seelenleben so veranlagt ist, daß schon i n seinen A n l a g e n reiches astralisches L e b e n fließt, reiche Interessen fließen, die entgegenströmen dem fortlaufenden Strom des physischen Lebens, der w i r d hereinbringen i n das Leben die Anlagen für vollsaftige Begriffe. D e r w i r d sozusagen nicht als ein Gedankenmensch auf den p h y -
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sischen Plan treten, sondern so, daß er zeigt, wie leicht es i h m w i r d , was er i n n e r l i c h erlebt, i n solche Worte z u kleiden, die z u unserem Interesse sprechen. U n d da n u n der M e n s c h i n verschiedenen Inkarnationen lebt u n d sich mitbringt i n seinen Anlagen die Dispositionen für den einen oder den andern Strom, so müssen Sie sich denken i n die Goethe-Seele hereingebracht die D i s position für den aus der Z u k u n f t entgegenkommenden Strom. U n d wenn er sich d e m überläßt, dann bringt er v o n vornherein die i n der Z u k u n f t liegenden Ideen als vollsaftige Begriffe i n das Leben. W e n n er aber einmal dieses Element, was sein eigentliches Wesen ist, i n K a m p f treten läßt mit dem, was da unter der Schwelle des Bewußtseins die i n seinem Atherleib fortschwebenden Vorstellungen sind, k u r z , was er aufgenommen hat aus der U m g e b u n g , dann k o m m t etwas heraus, was nicht zusammenstimmt, so wie die beiden D i n g e , welche w i r als die nichtsnutzigen i n dem Gedicht v o m «Ewigen Juden» bezeichnet haben, u n d diejenigen, die w i r davon herausgehoben haben. U n d bei einem Menschen wie H e g e l , der sich die Urteilsdisposition mitgebracht hat, ist es so, daß er ringt mit alledem, was jener Strom i h m entgegenströmen läßt, der v o n der Z u k u n f t i n die Vergangenheit fließt. In der Tat ist es so, daß sich der Mensch mit seinem Ich fortwährend so stellt, daß der fortlaufende Strom von der Vergangenheit i n die Z u k u n f t i n jeder Gegenwart zugedeckt ist. Das Ich deckt i h n z u , u n d es läßt sich entgegenkommen den Strom des Begehrungsvermögens. Es sieht i n die unendliche Z u k u n f t hinein wie i n einem Spiegel, der keinen Belag hat. U n d i n dem A u g e n b l i c k , w o der Spiegel den Belag bekommt, werden die vergangenen D i n g e sichtbar. Ich konnte n u r einiges i n diesen Vorträgen aus dem unendlich reichen Gebiet der Psychosophie Ihnen vor die Seele stellen. Sie werden aber aus dem Gesagten, w e n n Sie die Dinge w i r k e n lassen, mancherlei Schlüsse ziehen können. Besonders w i r d Ihnen manches aufgehen, wenn Sie sich klarmachen, daß der v o n der Vergangenheit i n die Z u k u n f t fortlaufende Strom i m Seelenleben, der Atherleib, die unbewußten Vorstellungen enthält, die da sind, auch w e n n sie nicht ins Bewußtsein hereintreten. W e n n Sie aber aus der Geisteswissenschaft wissen, daß der Atherleib
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der A r c h i t e k t des physischen Leibes ist, dann werden Sie sich sagen können: W e n n die Vorstellungen auch nicht i m Bewußtsein sind, vorhanden sind sie d o c h ; der Ätherleib trägt sie. U n d solche i m Ätherleib vorhandenen Vorstellungen können - gerade w e n n sie nicht bewußt sind - eine rege Tätigkeit nach der andern Seite entwickeln. U n d wer Leibes- u n d Seelenkenner ist, der weiß, wie unendlich zerstörend Vorstellungen sein können, die das Bewußtsein nicht herauflocken k a n n aus dem unbewußten Seelenleben, u n d die dennoch i n dem unbewußten Seelenleben fortschwimmen m i t dem ätherischen Strom. Sie entwickeln dann alle Kräfte i n die Leiblichkeit hinein. Es gibt eine diesbezügliche Tatsache i m Leben. D e n k e n Sie, der M e n s c h habe i m zehnten bis zwölften Jahre seines Lebens etwas erfahren oder erlebt, was ganz u n d gar v o n i h m vergessen w o r d e n ist. Es kann nicht ins Bewußtsein heraufgerufen werden. Es w i r k t aber d o c h i m Ätherleib weiter u n d kann i h n krank machen. D a unten i n der Unbewußtheit w i r k e n gar manche V o r stellungen, die w i r k l i c h als Vorstellungen Krankheitsursachen sind. W e r das weiß, der weiß aber auch, daß es i n einer gewissen Weise eine H i l f e dafür gibt. Sie besteht darin, daß man diesen Vorstellungen ihre Kräfte nimmt, das heißt, daß man sie nach andern Richtungen hinleitet, indem man versucht, dem betreffenden Menschen, der selbst dazu nicht stark genug ist, Anhaltspunkte z u geben, daß seine Vorstellungen i h m ins Bewußtsein hinaufkommen können. D a m i t hat man recht viel bewirkt. W e n n man jemandem bei Vorstellungen, denen gegenüber er machtlos ist u n d die i m Ätherleibe weiterwirken, dazu verhilft, daß sie ins Bewußtsein heraufkommen, so w i r k t man ungeheuer gesundend i m L e b e n . Vielleicht sagen jetzt einige v o n Ihnen: Das versucht man auch schon! Es gibt sogar schon eine Schule, die Freudsche P s y c h iaterschule, die sich damit befaßt, Vorstellungen von dem früher Getanen u n d Erlebten heraufzurufen i n das Bewußtsein. - A b e r i c h kann diese Schule nicht auffassen als irgend etwas, was mit dem zusammenhängt, was i c h jetzt gesagt habe, w e i l diese Schule gerade dort dieses M i t t e l versucht, w o es nicht w i r k s a m ist: näml i c h gerade für die Vorstellungsmassen des sexuellen Lebens gilt s8
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es nicht. B e i allem übrigen gilt es. U n d gerade mit Vorliebe w i r d dieses M i t t e l auf die Vorstellungen des sexuellen Lebens ausgedehnt. A b e r da fruchtet es nicht. U n d das muß ins A u g e gefaßt werden. A l s o es handelt sich nicht darum, daß man unter dem Einfluß der materialistischen Vorstellungen hintappt auf etwas, worauf die Tatsachen schon stoßen, sondern daß man die Tatsachen ganz genau kennt. So werden Sie vielleicht außer den einzelnen Bemerkungen, die Sie mit nach H a u s e tragen können, noch eines gewonnen haben. W e n n man gewissenhaft u n d mit Urteilskraft z u Werke geht i n der Beobachtung des gewöhnhchen Lebens auf dem p h y s i schen P l a n , so bietet sich durch solche Beobachtung überall das, was man Belege nennen kann für die Geisteswissenschaft. U n d Sie werden gerade d u r c h solche Vorträge eine gewisse Sicherheit gewinnen können für das, was Ihnen an Mitteilungen, die auf hellseherischer F o r s c h u n g beruhen, z u k o m m e n kann. Hellseherische F o r s c h u n g sucht allerdings nicht durch solche D i n g e i m physischen L e b e n die Tatsachen auf. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß der Hellseher selbst oft überrascht ist, w e n n er, nachdem er etwas auf dem hellseherischen Wege gefunden hat, darangeht, die D i n g e i m physischen Leben z u prüfen u n d dann eine wunderbare H a r m o n i e findet. Umgekehrt würde vielleicht der Weg nicht gelungen sein. W e n n man versucht, bloß auf dem physischen P l a n z u bleiben, gruppiert man die D i n g e falsch; da bekommt m a n gar nicht die richtigen Gruppierungen heraus u n d schlägt fortwährend den Tatsachen ins Gesicht. A l s o das Grundgefühl, das Sie haben gewinnen können, u n d das sein kann eine gewisse Sicherheit auch gegenüber den geisteswissenschaftlichen Forschungen, das ist etwas, was Sie mitnehmen können auch als Sicherheit für die psychosophische F o r schung. D a h e r bemühe ich m i c h auch, Ihnen da, w o ich Ihnen erzähle aus höheren Welten, ab u n d z u mit Nüchternheit, mit Trockenheit z u kommen, entsprechend einer streng wissenschaftlichen Betrachtung des physischen Planes. Das entspricht der Pflicht: z u beobachten, daß der M e n s c h auf den physischen Plan gestellt ist, damit er den physischen Plan verstehen lernt. Unsere Zeit hat ein Zweifaches notwendig. Das eine ist, w i r k l i c h
i n entsagungsvollem Denken den physischen Plan z u studieren, auf den w i r nicht umsonst durch die großen Weltgesetze gestellt sind. A u f der andern Seite sind w i r heute schon i n jenem Stad i u m , w o w i r nicht mehr mit den gewöhnlichen M i t t e l n den physischen Plan bewältigen können, wenn uns nicht die okkulte F o r s c h u n g z u H i l f e kommt. M a g heute noch so viel Scharfsinn aufgewendet werden v o n der gewöhnlichen Wissenschaft auf die D i n g e : sie w i r d notwendig irren, wenn sie nicht z u m Führer hat die okkulte Wissenschaft, die ihr die R i c h t u n g geben kann. N a c h d e m die Menschheit an der Wende des IJ., 16., 17. Jahrhunderts an einem P u n k t gestanden hat, w o die physische F o r schung i m heutigen Sinne geboren w o r d e n ist u n d daher das Hauptaugenmerk darauf gewendet werden konnte, sind w i r heute schon wieder so weit, daß neben diese physische F o r schung jetzt eine andere, die okkulte Forschung treten muß, die der physischen Forschung die Richtlinien geben kann. D a m i t aber, daß er dies nicht nur weiß, sondern es i n seine Pflichten aufnimmt, erfüllt der O k k u l i s t etwas, was unsere Zeit als ein Zweifaches i n sich aufnehmen muß: ein Gefühl dafür, daß w i r fest stehen sollen auf dem physischen P l a n , nicht davor zurückscheuen, uns auch i n entsagungsvoller Weise dem D e n k e n h i n zugeben, u n d gerade die physischen Tatsachen erfordern ein entsagungsvolles D e n k e n . E i n Gefühl dafür hervorrufen sollen diese Vorträge, w o i c h Ihnen mit Nüchternheit komme. U n d ganz gewiß w i r d andererseits derjenige, der den Gedanken aufn i m m t des Hereinspielens des astralischen Stromes v o n der Z u kunft her, ungeheuer viel für das Leben gewinnen können. Ich muß gestehen - i c h könnte es Ihnen fast ad oculos beweisen, daß es so ist; i c h habe die entsprechende Tatsache an einem andern O r t e einmal erwähnt - , unter allen Psychologen der G e genwart, die, ohne v o n O k k u l t i s m u s etwas wissen z u wollen, mit einer feinen Schulung an die Seelenphänomene herangegangen sind u n d daher, w e n n auch i n schiefer Weise, für die allerelementarsten D i n g e das Richtige auch gefühlt haben, v o n diesen ist eigentlich nur z u nennen der N a m e F r a n z Brentano . F r a n z Brentano hat sich an die psychologischen Probleme herangemacht i n den sechziger, siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. 59
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U n d o b w o h l eigentlich das, was i n seiner Psychologie steht, ein scholastisches Spintisieren ist, so lebt doch darin etwas, was einem so v o r k o m m t w i e die ersten kindlichen Schritte, die w i r jetzt weitergehen sollen. So ist z u m Beispiel die Lehre v o m B e gehren u n d v o m Fühlen u n d auch was er über das Urteilen sagt, schief; aber die Tendenz ist eine solche, die merkwürdig richtige L i n i e n hätte nehmen können, w e n n nicht eine absolute Ignoranz i n bezug auf alle o k k u l t e n Einschläge dagewesen wäre. D a ist sozusagen der fähigste Psychologe auf den physischen Plan getreten. E r hat auch den ersten B a n d seiner «Psychologie» erscheinen lassen i m Frühjahr 1874, m i t dem Versprechen, daß i m H e r b s t der zweite B a n d folgen werde. A b e r dieser zweite B a n d ist bis heute n o c h nicht erschienen. E s gibt nur den ersten B a n d . W a r u m ist das? In den psychologischen Vorträgen können Sie sich die A n t w o r t suchen: F r a n z Brentano mußte steckenbleiben, konnte überhaupt nicht weiter. E r hat i n einer ganz netten Weise abgegrenzt, was die nächsten Abschnitte hätten bringen sollen. E r hat sogar einen A u s b l i c k geben w o l l e n v o m dem Ich aus auf das Geistesleben u n d v o n da i n die Unsterblichkeit. Das ist alles abgesteckt. A b e r er ist steckengeblieben! D e n n es hätte ausgeführt werden müssen, indem v o n der andern Seite eingezogen wäre der S t r o m des o k k u l t e n Forschens, so daß beobachtet w o r den wäre der Strom der Seelenphänomene v o n der Seite der okkulten F o r s c h u n g aus. D a haben Sie den Tatsachenbeweis: F r a n z Brentano lebte als ein K i n d unserer Zeit. E r fing an, die Tatsachen z u gruppieren, die Sie auf dem physischen Plan finden. A b e r er blieb stecken, konnte nicht weiter. E r lebt heute als ein alter H e r r i n F l o r e n z . So w i r d alles i n unserer Zeit steckenbleiben müssen, wenn es auf die W i r k l i c h k e i t losgehen w i l l . Selbstverständlich k a n n man Psychologien schreiben, wie z u m Beispiel L i p p s und W u n d t ' ; aber das sind alles vorgefaßte Begriffe u n d keine Vorgänge, w e l che i m Seelenleben w i r k l i c h geschehen, sondern die nur existieren i n den vorgefaßten M e i n u n g e n der betreffenden A u t o r e n . Gerade da, w o sie auf das psychologische Gebiet gehen, da dreschen sie - es ist nicht so böse gemeint, es soll nur deutlich ausgedrückt sein - n u r leeres Stroh, selbst i n der Völkerpsychologie 60
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oder Sprachenpsychologie. U n d so würden alle Wissenschaften steckenbleiben, w e n n nicht das, was v o n der andern Seite k o m m t , ihnen entgegenkommt. Fassen Sie daher v o n dieser Seite das Gefühl auf, daß Sie sich d u r c h Ihre eigenen Interessen hineingestellt haben i n eine Bewegung, w o z u verstehen gesucht w i r d , was so recht die M i s s i o n der Zeit ist, und daß Ihr Vertrauen, Ihr Wissen u n d Glauben wachsen kann, w e n n Sie dies so als eine karmische Tatsache auffassen, daß Sie sich sagen: M e i n K a r m a hat m i c h dazu geführt, teilzunehmen an einem Kreuzungspunkt einer Zeitenströmung, u n d i c h muß gerade aus dieser Erkenntnis M u t , Kraft u n d Zuversicht gewinnen, u m energisch mitzuarbeiten auf diesem Gebiet! U n d furchtbar muß diese A r b e i t sein, w e i l sie v o n der N o t w e n digkeit des Menschheitsfortschrittes gefördert w i r d . U n d wenn i c h selber m i t w i r k e n k a n n , so werde ich selbst Gelegenheit nehmen, eine so selbstlose A r b e i t jetzt oder i n einem späteren Leben i n der Z u k u n f t z u w i r k e n , welche der Weiterentwicklung der ganzen Menschheit dienen kann. - U n d damit k o m m e n w i r z u d e m größten Ideal, das derjenige fühlen kann, der an den Geist glaubt. Dieses Ideal fassen Sie nicht bloß als ein abstraktes Ideal auf, sondern gewinnen Sie es durch das immer wieder stetige Zurückkehren z u unserer geisteswissenschaftlichen A r b e i t , w o z u ja i n unseren Versammlungen hinreichend Gelegenheit geboten ist. U n d versuchen Sie mitzunehmen das Gefühl der Z u sammengehörigkeit z u dieser A r b e i t . H a b e i c h etwas dazu getan, was dieses Gefühl Ihnen i n die Seele geben kann, dann habe i c h Ihnen den G r u ß mitgegeben i n die H e i m a t , denen, die sich jetzt an die einzelnen O r t e ihrer H e i m a t zerstreuen. N e h m e n Sie diesen G r u ß mit als einen Ausfluß der Kraft des Zusammenhaltes, der bestehen soll zwischen allen Gliedern unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung. Fühlen Sie dies, auch wenn w i r nicht räumlich zusammen sind, u n d versuchen Sie aus unserem räumlichen Zusammensein, w e n n w i r uns wieder i n die Welt zerstreuen, M u t , Zuversicht u n d Energie z u schöpfen, so wie sie jetzt charakterisiert w o r d e n sind.
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Im letzten der «Psychosophie»-Vorträge hat Rudolf Steiner ein Schema des menschlichen Seelenlebens entworfen, aus dem wir reichliche Hinweise für eine differentielle Psychologie (Charakterpsychologie) i n der Praxis entnehmen können. Bereits am 29. O k t o ber 1909 i n Berlin (Öffentliche Vorträge i m Berliner Architektenhaus) und noch einmal i m Frühjahr 1910 in anderen Städten hielt Rudolf Steiner i m Rahmen einer Vortragsreihe über Themen einer anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen Seelenkunde den Vortrag über den «menschlichen Charakter». Damit haben w i r das Zentrum der Psychologie, den Charakter als Ergebnis der Ich-Tätigkeit in der Seele erreicht. U n d indem w i r von dem Innersten der menschlichen Seele wieder herausgeführt werden an die Peripherie der Leibesgestalt i n Physiognomie, M i m i k und Gestik als Ausdruck des individuellen Charakters, werden w i r unausgesprochen auf ein Gesetz des menschlichen Ich hingewiesen, daß es Zentrum und Peripherie, Umkreis und Mitte zugleich ist.
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Der menschliche Charakter
E s kann einen tiefen E i n d r u c k auf die menschliche Seele machen, w e n n man die Worte liest, die Goethe niedergeschrieben hat i n Anknüpfung an die Betrachtung v o n Schillers Schädel. Diese Betrachtung konnte er anstellen, als er zugegen war beim Ausgraben v o n Schillers L e i c h n a m , da dieser aus dem provisorischen G r a b , i n dem er war, i n die weimarische Fürstengruft hinübergetragen werden sollte. D a nahm Goethe Schillers Schädel i n die H a n d u n d glaubte an der F o r m u n g u n d Prägung dieses wunderbaren Gebildes das ganze Wesen v o n Schillers Geist wie i n einem A b d r u c k wiederzuerkennen. W i e da das geistige Wesen sich ausdrückt i n den L i n i e n u n d F o r m e n der Materie, das inspirierte Goethe z u den schönsten W o r t e n : «Was kann der M e n s c h i m Leben mehr gewinnen, A l s daß sich G o t t - N a t u r i h m offenbare, W i e sie das Feste läßt z u Geist verrinnen, W i e sie das Geist-Erzeugte fest bewahre!» Wer eine solche Stimmung wie diejenige, die damals durch Goethes Seele z o g , z u würdigen versteht, der w i r d leicht, von ihr ausgehend, seine G e d a n k e n hinlenken können z u all jenen E r scheinungen i m L e b e n , w o ein Inneres sich herausarbeitet, u m sich i n materieller F o r m , i n plastischer Gestaltung, i n L i n i e n u n d sonstigem äußerlich z u offenbaren. I m eminentesten Sinn aber haben w i r ein solches Prägen und Abdrücken, ein solches O f f e n baren eines inneren Wesens i n demjenigen v o r uns, was w i r den menschlichen Charakter nennen. In dem menschlichen Charakter drückt sich ja auf die mannigfaltigste Weise aus, was der M e n s c h i m m e r wieder u n d wiederum darlebt; ein Einheitliches verstehen w i r darunter, wenn w i r v o n dem menschlichen C h a -
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rakter sprechen. J a , w i r haben dabei das Gefühl, daß Charakter etwas ist, was sozusagen z u m ganzen Wesen des Menschen notwendig gehört, u n d daß es sich uns als Fehler darstellt, wenn das, was der M e n s c h denkt, empfindet u n d tut, sich nicht i n einer gewissen Weise z u einem E i n k l a n g vereinigen läßt. V o n einem B r u c h i m menschlichen Wesen, v o n einem B r u c h i n seinem C h a rakter sprechen w i r als v o n etwas w i r k l i c h Fehlerhaftem i n seiner N a t u r . W e n n sich der M e n s c h i m Privatleben mit diesem oder jenem G r u n d s a t z u n d Ideal äußert, u n d ein andermal i m öffentlichen L e b e n i n ganz entgegengesetzter oder wenigstens abweichender Weise, so sprechen w i r davon, daß sein Wesen auseinanderfällt, daß sein Charakter einen B r u c h hat. U n d man ist sich bewußt, daß ein solcher B r u c h den Menschen überhaupt i m L e ben i n schwierige Lagen oder gar w o h l i n den Schiffbruch hineintreiben k a n n . Was eine solche Zerspaltung des menschlichen Wesens bedeutet, darauf wollte Goethe hinweisen i n einem bemerkenswerten Spruch, den er seinem «Faust» einverleibt hat. E i n e n Spruch berühren w i r da, der sehr häufig, sogar v o n M e n schen, die da glauben z u wissen, was Goethe i m Innersten wollte, falsch angeführt w i r d . Es ist gemeint der Spruch i m Goetheschen Faust: «Zwei Seelen wohnen, ach! i n meiner Brust, D i e eine w i l l sich v o n der andern trennen; D i e eine hält i n derber Liebeslust Sich an die Welt mit klammernden Organen; D i e andre hebt gewaltsam sich v o m D u s t Z u den Gefilden hoher Ahnen.» Diese Zweispaltung i n der Seele w i r d sehr häufig so angeführt, als ob sie etwas Erstrebenswertes für den Menschen sei. Goethe charakterisiert sie durchaus nicht unbedingt als etwas Erstrebenswertes, sondern es zeigt sich an der Steile ganz genau, daß er den Faust i n jener Epoche sagen lassen w i l l , wie unglückselig er sich fühlt unter dem E i n d r u c k der z w e i Triebe, von denen der eine nach idealen Höhen geht, der andere nach dem Irdischen herunterstrebt. Etwas Unbefriedigendes soll damit angedeutet
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werden. Gerade dasjenige, worüber Faust hinaus soll, das w i l l Goethe damit charakterisieren. W i r dürfen diesen Zwiespalt nicht anführen als etwas Berechtigtes i m menschlichen Charakter, sondern nur als etwas, was gerade durch den einheitlichen Charakter, der gewonnen werden soll, z u überwinden ist. W e n n w i r aber das Wesen des menschlichen Charakters vor unsere Seele treten lassen w o l l e n , so müssen w i r auch heute wieder berücksichtigen, was w i r zur Charakteristik des Wesens der A n d a c h t skizzierten. W i r haben wiederum z u berücksichtigen, daß dasjenige, was w i r das eigentliche menschliche Seelenleben, das menschliche Innere nennen, nicht einfach ein Chaos von durcheinanderwogenden Empfindungen, Trieben, Vorstellungen, Leidenschaften, Idealen ist; sondern w i r haben uns mit aller Klarheit z u sagen, daß diese menschliche Seele i n drei voneinander gesonderte G l i e d e r zerfällt; daß w i r ganz genau unterscheiden können: das unterste Seelenglied, die Empfindungsseele; das mittlere Seelenglied, die Verstandes- oder Gemütsseele; u n d das höchste Seelenglied, die Bewußtseinsseele. Diese drei Glieder sind i m menschlichen Seelenleben z u unterscheiden. Sie dürfen aber i n dieser menschlichen Seele nicht auseinanderfallen. D i e menschliche Seele muß eine Einheit sein. Was verbindet n u n i m Menschen diese drei Seelenglieder z u einer Einheit? Das ist eben dasjenige, was w i r i m eigentlichen Sinne das menschliche «Ich», den Träger des menschlichen Selbstbewußtseins nennen. So erscheint uns denn dieses menschliche Seelenwesen so, daß w i r es zerspalten müssen i n seine drei G l i e d e r - das unterste Seelenglied: die Empfindungsseele, das mittlere Seelenglied: die Verstandesseele oder Gemütsseele, u n d das höchste Seelenglied: die Bewußtseinsseele - , u n d es erscheint uns das Ich gleichsam als das Tätige, als der A k t e u r , der innerhalb unseres Seelenwesens auf den drei Seelengliedern spielt, wie ein Mensch spielt auf den Saiten seines Instruments. U n d jene H a r m o n i e oder Disharmonie, welche das Ich hervorbringt aus dem Zusammenspiel der drei Seelenglieder, ist das, was dem menschlichen Charakter z u grunde liegt. Das Ich ist w i r k l i c h etwas wie ein innerer Musiker, der bald die Empfindungsseele, bald die Verstandesseele oder Gemütsseele,
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bald die Bewußtseinsseele mit einem kräftigen Schlag i n Tätigkeit versetzt; aber zusammenklingend erweisen sich die W i r k u n gen dieser drei Seelenglieder wie eine H a r m o n i e oder D i s h a r m o nie, die sich v o m M e n s c h e n aus offenbaren u n d als die eigentliche Grundlage seines Charakters erscheinen. Freilich, so haben w i r den Charakter n u r ganz abstrakt bezeichnet, denn w e n n w i r i h n verstehen w o l l e n , wie er i m Menschen eigentlich auftritt, dann müssen w i r etwas tiefer n o c h eingehen auf das ganze menschliche Leben u n d Wesen; w i r müssen zeigen, wie sich dieses harmonische u n d disharmonische Spiel des Ichs auf den Seelengliedern i n der ganzen menschlichen Persönlichkeit, wie sie v o r uns steht, ausprägt, wie sie nach außen sich offenbart. Dieses Menschenleben — das haben w i r schon öfter betont tritt uns ja so v o r A u g e n , daß es alltäglich wechselt zwischen den Zuständen des Wachens u n d den Zuständen des Schlafens. W e n n der M e n s c h des A b e n d s einschläft, so sinken i n ein unbestimmtes D u n k e l hinunter seine Empfindungen, seine Lust, sein L e i d , seine Freude, sein Schmerz, alle Triebe, Begierden u n d L e i d e n schaften, alle Vorstellungen u n d Wahrnehmungen, Ideen u n d Ideale; u n d das eigentliche Innere geht über i n einen Zustand des Unbewußtseins oder des Unterbewußtseins. Was ist da geschehen? N u n , was da geschehen ist beim Einschlafen, das w i r d uns klar, w e n n w i r uns an etwas erinnern, was schon auseinandergesetzt w o r d e n ist: daß der M e n s c h ein kompliziertes Wesen ist für die Geisteswissenschaft, daß er sich überhaupt aus verschiedenen G l i e d e r n bestehend darstellt. Was uns hierüber schon bekannt ist, muß heute wieder skizziert werden, damit w i r das ganze Wesen des Charakters begreifen können, das da dem M e n schen zugrunde liegt. Alles das am Menschen, was uns gegenüber der äußeren Sinneswelt zutage tritt, was w i r mit A u g e n sehen können, mit H ä n den greifen können, was die äußere Wissenschaft allein betrachten kann, das nennt Geisteswissenschaft den physischen L e i b des Menschen. Das aber, was diesen physischen L e i b des Menschen durchzieht u n d durchwebt, das, was diesen physischen L e i b zwischen G e b u r t und T o d verhindert, ein Leichnam z u sein, sei-
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nen eigenen physischen und chemischen Kräften z u folgen, das nennen w i r i n der Geisteswissenschaft den Äther- oder Lebensleib. I m G r u n d e setzt sich der äußere M e n s c h aus dem p h y s i schen u n d Ätherleibe zusammen. D a n n haben w i r ein drittes G l i e d der menschlichen Wesenheit; das ist der Träger v o n alledem, was w i r hinuntersinken sehen mit dem Einschlafen i n ein unbestimmtes D u n k e l . Dieses dritte G l i e d der menschlichen Wesenheit bezeichnen w i r mit dem A u s d r u c k astralischer L e i b . Dieser astralische L e i b ist der Träger v o n Lust u n d L e i d , Freude u n d Schmerz, v o n Trieben, Begierden u n d Leidenschaften, v o n alledem, was eben i m Wachleben auf- u n d abwogt i n der Seele. U n d i n diesem Astralleibe ist der eigentliche M i t t e l p u n k t unseres Wesens: das Ich. Für unseren gewöhnlichen Menschen gliedert sich dieser Astralleib weiter, denn i n i h m finden w i r als U n t e r glieder gleichsam dasjenige, was Ihnen aufgezählt worden ist als die Seelenglieder: die Empfindungsseele, die Verstandesseele, die Bewußtseinsseele. W e n n n u n der M e n s c h des Abends einschläft, so bleiben i m Bette liegen physischer L e i b u n d Ätherleib; heraus tritt der Astralleib mit all dem, was w i r Empfindungsseele, Verstandesoder Gemütsseele, Bewußtseinsseele nennen; heraus tritt auch das Ich. Astralleib u n d Ich n u n , i n ihrer ganzen Wesenheit, sind während des Schlafzustandes i n einer geistigen Welt. W a r u m kehrt der M e n s c h jede N a c h t i n diese geistige Welt ein? W a r u m m u ß er seinen physischen L e i b u n d seinen Ätherleib jede N a c h t zurücklassen? Das hat seinen guten Sinn für das menschliche L e ben. W i r können diesen Sinn so recht v o r unsere Seele stellen, w e n n w i r jetzt einmal die folgende Betrachtung anstellen: D i e Geisteswissenschaft sagt uns, der Astralleib ist der Träger v o n L u s t u n d L e i d , v o n Freude u n d Schmerz, v o n Trieben, Begierden u n d Leidenschaften! Schön! A b e r das sind ja gerade diejenigen Erlebnisse, die i n ein unbestimmtes D u n k e l hinuntersinken beim Einschlafen. D e n n o c h behauptet man, daß der Astralleib mit dem Ich i n geistigen Welten i s t - der eigentliche innere M e n s c h ist i n einer geistigen Welt, ist mit dem Astralleib i n einer geistigen Welt. - A b e r Triebe u n d Leidenschaften, alles dasjenige, was eigentlich i m Astralleib sitzt, das gerade schwindet doch sozusa-
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gen i n ein unbestimmtes D u n k e l während der N a c h t hinab. Ist das nicht ein W i d e r s p r u c h ? N u n , der W i d e r s p r u c h ist bloß scheinbar. In der Tat ist der Astralleib der Träger v o n L u s t u n d L e i d , v o n Freude u n d Schmerz, v o n allen auf- u n d abwogenden inneren Seelenerlebnisses des Tages; aber er kann sie nicht durch sich selber, so wie der M e n s c h heute ist, wahrnehmen. D a m i t dieser Astralleib u n d das Ich wahrnehmen können ihre eigenen Erlebnisse, sind sie darauf angewiesen, daß sich diese inneren Erlebnisse äußerlich spiegeln; u n d spiegeln können sie sich nur, w e n n des Morgens beim Aufwachen das Ich mit dem Astralleib untertaucht i n den Äther- u n d physischen L e i b . D a w i r k t für alles das, was der M e n s c h innerlich erlebt, für alle Lust u n d alles L e i d , für Freude u n d Schmerz u n d so weiter der p h y s i sche, aber namentlich der Ätherleib wie ein Spiegel, der zurückwirft, was w i r i m Innern erleben. W i e w i r uns selber i n einem Spiegel sehen, so sehen w i r dasjenige, was w i r i m Astralleib erleben, aus dem Spiegel unseres physischen u n d unseres Ätherleibes; aber w i r dürfen nicht glauben, daß dieses Seelenleben, das v o m M o r g e n bis z u m A b e n d sich v o r unserer Seele abspielt, z u seinem Zustandekommen keine A r b e i t erfordert. Des Menschen Inneres, das Ich u n d der Astralleib, alles dasjenige, was Bewußtseinsseele, Verstandesseele, Empfindungsseele ist, das muß arbeiten m i t seinen Kräften an dem physischen L e i b u n d an dem Ätherleib, muß sozusagen durch seine Wechselwirkung auf diese beiden Leiber des Menschen das auf- u n d abwogende Leben des Tages erst erzeugen. Während dieses Erlebens des Tages werden n u n gewisse Kräfte verbraucht. In dieser Wechselwirkung des menschhchen Innern mit dem Äußern des Menschen werden fortwährend Seelenkräfte verbraucht. Das drückt sich dadurch aus, daß der M e n s c h am A b e n d sich ermüdet fühlt, das heißt, nicht imstande ist, aus dem Innern heraus jene Kräfte z u finden, die i h m möglich machen, i n das Getriebe v o n Äther- u n d physichem Leibe einzugreifen. W e n n des Abends der M e n s c h i n der Ermüdung fühlt, wie dasjenige zuerst erlahmt, was am meisten v o n seinem Geist in die Materie hineinspielt, w e n n er sich ohnmächtig des Spre-
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chens fühlt, w e n n Gesicht, G e r u c h , Geschmack u n d zuletzt das Gehör, der geistigste der Sinne, nach u n d nach dahinschwinden, w e i l der Mensch nicht aus dem Innern heraus die Kräfte entfalten kann, dann zeigt uns das, wie die Kräfte während des Tageslebens verbraucht sind. Woher stammen n u n die Kräfte, welche da v o m M o r g e n bis z u m A b e n d verbraucht werden? Diese Kräfte stammen aus dem Nachtleben, aus dem Schlafzustand. Während des Lebens, das die Seele v o m Einschlafen bis z u m Aufwachen führt, saugt sie sich gleichsam v o l l mit jenen Kräften, die sie braucht, u m das ganze Tagesleben v o r uns hinzaubern z u können. I m Tagesleben kann sie ihre Kräfte entwickeln, aber sie kann aus i h m nicht die Kräfte ziehen, die sie z u m A u f b a u braucht. - Es ist selbstverständlich, daß die verschiedenen H y p o t h e s e n , die über den Ersatz der i m Tage verbrauchten Kräfte v o n der äußeren Wissenschaft gegeben werden, auch der Geisteswissenschaft bekannt sind, aber darauf brauchen w i r jetzt nicht einzugehen. - So also können w i r sagen: W e n n die Seele aus dem Schlafzustand herausu n d i n den Wachzustand übergeht, bringt sie sich aus dem Lande, das gleichsam ihre geistige H e i m a t ist, die Kräfte mit, die sie den ganzen Tag über verwenden muß z u m A u f b a u jenes Seelenlebens, das sie v o r uns hinzaubert. So wissen w i r also, was die Seele sich mitbringt aus der geistigen Welt heraus, wenn sie des M o r g e n s aufwacht. Fragen w i r uns jetzt das andere: Trägt die Seele nichts am A b e n d , wenn sie einschläft, i n die geistige Welt hinein? Was bringt sich die Seele des Abends i n den Zustand, den w i r Schlaf nennen, aus dem Wachzustand mit hinein? W e n n w i r das einmal durchdringen w o l l e n , was sich die Seele aus der äußeren Welt der physischen W i r k l i c h k e i t , in der sie v o n Erlebnis z u Erlebnis geht während des Wachens, hineinbringt i n das geistige Wesen des Schlafes, dann müssen w i r uns vor allen D i n g e n an dasjenige halten, was w i r die persönliche E n t w i c k l u n g des Menschen zwischen Geburt u n d T o d nennen. Diese E n t w i c k l u n g des Menschen tritt uns ja darin entgegen, daß uns der M e n s c h i n einem späteren Lebenszustand reifer, mehr durchdrungen v o n Lebenserfahrung u n d Lebensweisheit er-
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scheint, daß er i n einem späteren Lebensalter gewisse Fähigkeiten u n d Kräfte s i c h erworben hat, die er i n früherem Lebensalter nicht hatte. Daß der M e n s c h aus der Außenwelt etwas i n sich hineinnimmt u n d es umgestaltet i n seinem Innern, davon können w i r uns schon überzeugen, wenn w i r folgendes überlegen: Zwischen 1770 u n d 181 j haben sich gewisse Ereignisse abgespielt, die für die W e l t e n t w i c k l u n g v o n großer Bedeutung waren. D i e verschiedensten M e n s c h e n haben diese Ereignisse mitgemacht. Es gab nun solche Menschen, die sie mitgemacht haben, an denen aber diese Ereignisse stumm vorbeigegangen waren; andere hat es gegeben, auf welche diese Ereignisse so gewirkt haben, daß sie sich mit Lebenserfahrung, mit Lebensweisheit erfüllt haben, so daß sie auf eine höhere Stufe ihres Seelenlebens hinaufgestiegen sind. Was ist da eigenthch geschehen? Das zeigt sich uns am besten an einem einfachen Ereignis des menschlichen Lebens. N e h m e n w i r die E n t w i c k l u n g des M e n schen i n bezug auf das Schreibenkönnen. Was ist eigenthch geschehen, damit w i r imstande sind, i n einem bestimmten A u g e n blick unseres Lebens die Feder ansetzen u n d unsere Gedanken durch die Schrift ausdrücken z u können? D a mußte früher mancherlei geschehen. E i n e ganze Reihe von Erlebnissen mußte gemacht werden, v o m ersten Versuch an, die Feder i n die H a n d z u nehmen, den ersten Strich z u machen, bis z u all den Bemühungen, die zuletzt dahin führten, daß w i r diese K u n s t auch w i r k l i c h verstanden. W e n n w i r uns erinnern, was sich da alles abspielen mußte, d u r c h Monate u n d Jahre hindurch, wenn w i r uns erinnern an alles, was w i r durchgemacht haben dabei, vielleicht an Strafen, Verweisen u n d dergleichen, u m endlich umzuwandeln eine Reihe v o n Erlebnissen i n die Fähigkeit des Schreibenkönnens, dann müssen w i r sagen: es sind Erlebnisse umgegossen, umgeschmolzen worden, so daß sie gleichsam wie i n einer E s senz erscheinen im späteren L e b e n i n dem, was w i r die Fähigkeit des Schreibenkönnens nennen. Geisteswissenschaft zeigt, wie das geschieht, wie eine Reihe von Erlebnissen zusammenrinnt, gleichsam gerinnt i n eine Fä-
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higkeit. Das aber könnte niemals geschehen, w e n n der M e n s c h nicht i m m e r u n d immer wieder d u r c h den Schlaf durchgehen könnte. Derjenige, der das Leben beobachtet, der w i r d wissen, was sich schon i m Alltag zeigt: W e n n w i r uns bemühen, dies oder jenes uns einzuprägen, dann erfährt das Einprägen u n d Behalten eine wesentliche Förderung, w e n n w i r wieder darüber schlafen können; dann w i r d es unser Eigentum. U n d so ist es i m ganzen menschlichen Leben. Dasjenige, was w i r an Erlebnissen durchmachen, muß sich vereinigen mit unserer Seele; es muß v o n dieser verarbeitet werden; es muß z u r G e r i n n u n g gebracht werden, u m i n Fähigkeit umgebildet werden z u können. Diesen ganzen Prozeß vollzieht die Seele während des Schlafzustandes. D i e Tageserlebnisse, die sich ausbreiten i n der Zeit, die rinnen zusammen während des nächtlichen Schlafes u n d gießen sich u m i n dasjenige, was w i r geronnene Erlebnisse, menschliche Fähigkeiten nennen. So zeigt sich uns, was w i r des Abends mitnehmen aus den äußeren Erlebnissen, nämlich dasjenige, was dann umgewandelt w i r d u n d umgewoben z u unseren Fähigkeiten. So steigert sich unser L e b e n dadurch, daß die Erlebnisse des Tages umgegossen werden während der N a c h t i n Fähigkeiten, i n Kräfte. Das heutige Zeitbewußtsein hat v o n diesen D i n g e n nicht viel A h n u n g ; aber es war nicht immer so, es gab Zeiten, i n denen man aus einem alten Hellsehertum heraus über diese Dinge w o h l B e scheid wußte. D a soll n u r ein Beispiel angeführt werden, w o ein D i c h t e r i n einer höchst merkwürdigen Weise bildlich zeigt, wie er sich dieser U m w a n d l u n g bewußt war. D e r alte Dichter H o mer, der m i t Recht auch ein Seher genannt w i r d , schildert uns i n seiner «Odyssee», wie Penelope i n der Abwesenheit ihres Gatten v o n einer A n z a h l v o n Freiern bestürmt w i r d , u n d wie sie ihnen verspricht, sich erst dann z u entscheiden, w e n n sie ein Gewebe fertig gebracht hätte. Sie löste aber i n der N a c h t immer wieder auf, was sie bei Tag gewoben hatte. W e n n ein Dichter darstellen w i l l , wie eine Reihe v o n Erlebnissen, die w i r am Tage haben, eine Reihe v o n Erlebnissen, w i e es diejenigen der Penelope mit den Freiern waren, sich nicht z u irgendeiner Fähigkeit umbilden sol-
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len u n d nicht zusammenrinnen sollen z u der Fähigkeit des E n t schlusses, dann muß er darstellen, wie das, was die Tageserlebnisse weben, des Nachts wieder aufgedröselt werden muß, denn sonst würde es sich unweigerlich umgestalten zur Fähigkeit des Entscheidens. Solche D i n g e können demjenigen, der nur v o m heutigen Bewußtsein erfüllt ist, wie eine Haarspalterei erscheinen, u n d er k a n n glauben, daß m a n i n die D i c h t e r etwas hineinträgt; aber die Großen unter den Menschen waren w i r k l i c h nur diejenigen, die aus den großen Weltgeheimnissen heraus gearbeitet haben, u n d man hat, wenn m a n heute schön v o n Ursprünglichkeit u n d ähnlichem redet, keine A h n u n g davon, aus welchen Tiefen die w i r k l i c h großen Kunstleistungen der Welt gekommen sind. A l s o w i r sehen, wie sich die äußeren Erlebnisse, die w i r h i n einnehmen i n den Schlafzustand der Seele, umgießen i n Fähigkeiten u n d Kräfte, u n d wie die menschliche Seele dadurch vorrückt i n dem Leben zwischen G e b u r t u n d T o d , wie sie etwas hineinbringt i n die geistige Welt, u m es wiederum herauszubringen z u einer Steigerung der menschhchen Seele. W e n n w i r aber dann diese E n t w i c k e l u n g zwischen der Geburt u n d dem Tode betrachten, dann müssen w i r sagen: O h , es ist dem Menschen eine gewisse enge Grenze gesetzt i n bezug auf diese E n t w i c k lung. Diese G r e n z e tritt uns dann besonders v o r die Seele, wenn w i r uns überlegen, daß w i r zwar an unseren Seelenfähigkeiten arbeiten u n d sie steigern können, daß w i r sie umgestalten können u n d i n einer späteren Epoche des Lebens mit einer v o l l k o m meneren Seele existieren als i n einer früheren Epoche, aber daß hier eine G r e n z e der E n t w i c k l u n g ist. M a n kann gewisse Fähigkeiten i m Menschen entwickeln, aber alles das nicht, was nur dadurch vorwärts schreiten könnte, daß w i r das O r g a n des p h y sischen u n d des Ätherleibes umgestalteten. Diese sind mit ihren bestimmten A n l a g e n von der Geburt an vorhanden; w i r finden sie vor. W i r können uns zum Beispiel n u r dann ein gewisses M u sikverständnis aneignen, wenn w i r von vornherein die Anlage z u einem musikalischen Gehör haben. Das ist ein krasser F a l l , an dem sich zeigt, daß die U m w a n d l u n g scheitern kann, u n d daß sich die Erlebnisse zwar mit unserer Seele vereinigen können,
w i r aber darauf verzichten müssen, sie uns einzuverleiben. W e n n w i r solche Grenzen finden an unserem Leibesleben, dann müssen w i r verzichten, zwischen G e b u r t u n d T o d diese Erlebnisse i n unser Leibesleben hineinzuverweben. W e i l das so ist, so müssen wir, w e n n w i r das menschliche Leben v o n einem höheren Standp u n k t aus betrachten, die Möglichkeit, diesen L e i b zersprengen, ablegen z u können, geradezu als etwas ungeheuer Heilsames, als etwas ungeheuer Bedeutsames für unser gesamtes menschliches L e b e n betrachten. D a r a n scheitert unsere Umwandlungsfähigkeit für den menschlichen L e i b , daß w i r diesen Atherleib u n d physischen Leib jeden M o r g e n wieder vorfinden. I m Tode erst legen w i r i h n ab. W i r schreiten durch die Pforte des Todes i n eine geistige Welt hinein. D a , i n dieser geistigen Welt, w o w i r jetzt nicht mehr einen physischen u n d Ätherleib als Hindernis vorfinden, da können w i r innerhalb der geistigen Substantialitäten alles dasjenige ausbilden, was w i r erleben konnten zwischen G e b u r t u n d T o d , dem gegenüber w i r aber resignieren mußten, weil w i r an G r e n z e n stießen. - W e n n w i r aus der geistigen Welt wiederum i n ein neues Leben treten, dann erst können w i r diese Kräfte, die w i r dem geistigen U r b i l d e einverwoben haben, eintreten lassen i n ein Dasein, das w i r uns jetzt plastisch gestalten können i n dem zunächst weichen Menschenleib. N u n erst können w i r mit unserem Wesen verweben dasjenige, was w i r uns i m vorhergehenden Leben zwar aneignen, nicht aber auch hineintragen konnten i n unser Wesen. So ist die Steigerung des Lebens möglich durch den T o d , w e i l w i r dasjenige, was w i r uns i n einem Leben als Frucht der Erlebnisse nicht einverleiben konnten, n u n i m nächsten L e ben uns einverweben können. Dasjenige, was das eigentliche menschliche Innere ist, was am Menschen durch die Leiber sich z u m Dasein arbeitet, das tritt durch die Pforte des Todes v o n einem L e b e n z u m anderen. D e r Mensch hat n u n nicht bloß die Möglichkeit, gewissermaßen z u arbeiten i m Gröberen an seiner plastischen L e i b l i c h k e i t , damit er i n diese plastische Leiblichkeit hineinprägt dasjenige, was er vorher nicht hineinprägen konnte, sondern er hat auch die Möglichkeit, gewisse feinere Früchte der vorhergehenden Leben i n sein ganzes Wesen einzuprägen. Wenn w i r einen Menschen durch die G e b u r t ins Dasein treten
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sehen, so können -wir sagen: So wie das Ich u n d der Astralleib mit Empfindungsseele, Verstandes— oder Gemütsseele u n d Bewußtseinsseele durch die Geburt ins Dasein treten, so sind sie nicht bestimmungslos, sondern ihnen sind bestimmte Eigenschaften, bestimmte M e r k m a l e eigen, die sie sich aus vorhergehenden L e ben mitgebracht haben. I m Gröberen arbeitet der M e n s c h i n das Plastische seines Leibes schon vor der G e b u r t alles das hinein, was er vorher als Früchte erhalten hat; aber i m Feineren arbeitet der M e n s c h - u n d das zeichnet i h n dem Tiere gegenüber aus auch nach der G e b u r t während seiner ganzen K i n d h e i t u n d J u gendzeit, er arbeitet i n die feinere Gliederung seiner äußeren u n d auch inneren N a t u r alles das hinein, was das Ich sich an Bestimmungsmerkmalen, an Bestimmungsgründen aus seinem vorhergehenden Leben mitgebracht hat. U n d daß da das Ich hineinarbeitet u n d wie das Ich da arbeitet aus dem Wesen des Menschen heraus, sich i n dem ausprägend, was es darlebt i n der Welt, das ist es, was als der Charakter des Menschen hereintritt i n diese Welt. Dieses Ich des Menschen arbeitet ja zwischen der G e b u r t u n d dem Tode, i n d e m es auf dem Instrumente der Seele, der E m p f i n dungs-, der Verstandes- u n d der Bewußtseinsseele erklingen läßt, was es sich erarbeitet hat. A b e r es arbeitet nicht so i n dieser Seele, daß das Ich etwa als ein Äußerliches dem gegenüberstünde, was als Triebe, Begierden u n d Leidenschaften i n der Empfindungsseele lebt, nein, das Ich eignet sich selber, wie z u seinem inneren Wesen gehörig, die Triebe, Begierden u n d L e i denschaften an: das Ich ist eins m i t ihnen, ist auch eins mit seinen Erkenntnissen u n d mit seinem Wissen i n der Bewußtseinsseele. D a h e r n i m m t sich der M e n s c h dasjenige, was er sich i n diesen Seelengliedern an H a r m o n i e u n d Disharmonie erarbeitet, durch die Pforte des Todes mit u n d arbeitet es i n dem neuen Leben i n die menschliche Äußerlichkeit hinein. Es prägt sich so das menschliche Ich mit dem, was es aus einem vorhergehenden L e ben her geworden ist, i n einem neuen Leben aus. Deshalb erscheint uns der Charakter zwar als etwas Bestimmtes, als etwas Angeborenes, aber d o c h wiederum als etwas, was sich nach u n d nach i m Leben erst herausentwickelt. Das T i e r ist seinem Charakter nach v o n allem Anfange an
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durch die Geburt bestimmt, ist v o l l ausgeprägt; es kann nicht plastisch arbeiten an seinem Äußeren; der M e n s c h aber hat gerade diesen Vorzug, daß er bei seiner G e b u r t auftritt, ohne einen bestimmten Charakter nach außen z u zeigen, daß er aber i n demjenigen, was i n den tiefen Untergründen seines Wesens schlummert, was v o n früheren Leben her i n dieses Dasein hereingeraten ist, Kräfte hat, die sich i n dieses unbestimmte Äußere hineinarbeiten u n d so den Charakter allmählich formen, insoweit er d u r c h das vorige Leben bestimmt ist. So sehen wir, wie der M e n s c h i n gewisser Beziehung einen angeborenen Charakter hat, der aber i m Laufe des Lebens erst nach u n d nach sich auslebt. W e n n w i r dies ins A u g e fassen, so werden w i r verstehen können, daß selbst große Persönlichkeiten sich irren konnten i n bezug auf die Beurteilung des menschlichen Charakters. Es gibt Philosophen, die behaupten, der menschliche Charakter könne sich nicht ändern, er sei als ein ganz Bestimmtes i m Innern vorhanden. Das ist aber nicht richtig, nur insofern ist es zutreffend, als uns dasjenige, was von vorhergehenden Leben stammt, wie ein angeborener Charakter entgegentritt. Das ist es also, was als menschliches Z e n t r u m aus dem I n nern des menschlichen Wesens sich herausarbeitet u n d allen einzelnen G l i e d e r n des Menschen das gemeinsame Siegel aufprägt, den gemeinsamen Charakter verleiht. Dieser Charakter geht sozusagen i n das Seelische selbst hinein, er geht hinein auch i n die äußeren Leibesglieder. W i r sehen das Innere sich gleichsam so nach außen ergießen, daß es alles nach sich i n gewisser Weise formt, u n d w i r empfinden, wie dieses innere Z e n t r u m die einzelnen G l i e d e r des M e n s c h e n zusammenhält. Bis i n das äußere Leibliche hinein empfinden w i r etwas, was uns als A b d r u c k der inneren Wesenheit i n dem Äußeren des Menschen erscheinen kann. Das, was man gewöhnlich theoretisch nicht gehörig beachtet, das hat einmal ein Künstler ganz wunderbar z u r Darstellung gebracht. E r zeigt die menschliche N a t u r i n dem Augenblick, w o das menschliche I c h , das zusammenhaltend allen Gliedern einen M i t t e l p u n k t bildet, eine Einheit gibt, für sie verlorengeht. E r zeigt, wie dann die einzelnen Wesensglieder, ein jedes sich selbst
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folgend, das eine die R i c h t u n g dahin u n d das andere d o r t h i n nimmt. E s gibt ein großes berühmtes K u n s t w e r k , das uns gerade diesen A u g e n b l i c k der menschlichen Wesenheit festhält, w o der M e n s c h desjenigen verlustig w i r d , was seinem Charakter z u grunde liegt, was d e m ganzen Menschenwesen angehört. Es ist hier gemeint ein K u n s t w e r k , das vielfach mißverstanden w o r d e n ist. Glauben Sie n i c h t , daß hier eine billige K r i t i k angelegt wer^ den soll an G e i s t e r n , deren W i r k e n v o n m i r i m höchsten Sinne Verehrung entgegengebracht w i r d ; aber gerade darin zeigt sich die Schwierigkeit des menschlichen Weges z u r Wahrheit, daß gewissen Erscheinungen gegenüber, gerade aus einem ungeheuren Wahrheitstrieb heraus, selbst große Geister irren. E i n e r der größten deutschen Kunstkenner, W i n c k e l m a n n , mußte aus den ganzen Voraussetzungen seines Wesens heraus irren gegenüber jenem K u n s t w e r k , welches unter dem N a m e n L a o k o o n bekannt ist. Diese Winckelmannsche Erklärung des L a o k o o n bewundert man vielfach. M a n ist sich klar darüber i n vielen K r e i s e n , daß man Besseres gar nicht sagen kann, als was W i n c k e l m a n n gesagt hat über die Gestalt des L a o k o o n , jenes Priesters v o n Troja, der inmitten seiner beiden Söhne v o n Schlangen u m w u n d e n , z u Tode gepreßt w i r d . W i n c k e l m a n n , der i n schöner Begeisterung dem K u n s t w e r k gegenüberstand, sagte: m a n sähe hier den Priester L a o k o o n , der i n jeder F o r m , die sich i n seinem Leibe darstellt, edel u n d groß einen unendlichen Schmerz z u m A u s d r u c k bringt, v o r allen D i n g e n den Vaterschmerz. E r steht zwischen den Söhnen; die Schlangen u m w i n den die Leiber. D e r Vater - so meint W i n c k e l m a n n - merkt den Schmerz seiner Söhne, u n d i n seinem Vaterempfinden erfühlt er jenes Ungeheuere, das den Unterleib einzieht u n d das G a n z e des Schmerzes herauspreßt. W i r könnten die Gestalt des L a o k o o n aus dem verstehen, daß er sich selbst vergißt, indem er v o n unendlichem M i t l e i d für die Söhne seines Blutes entbrennt. 62
Es ist eine schöne Erklärung, die W i n c k e l m a n n v o n diesem Schmerz des L a o k o o n gegeben hat, aber derjenige, der Gewissen hat und i m m e r wieder und wieder, weil er gerade W i n c k e l m a n n als große Persönlichkeit verehrt, den L a o k o o n ansieht, der muß sich zuletzt sagen: W i n c k e l m a n n muß hier geirrt haben, denn es
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ist ganz unmöglich, daß i n der G r u p p e der M o m e n t gegeben ist, der aus dem M i t l e i d hervorgeht. D e r K o p f ist so gerichtet, daß der Vater seine Söhne gar nicht sieht. Es ist ganz falsch dargestellt, wie W i n c k e l m a n n die G r u p p e ansah. W e n n w i r die G r u p p e ansehen und ein unmittelbares E m p f i n d e n haben, dann werden w i r uns klar darüber, daß w i r i n der L a o k o o n - G r u p p e den ganz bestimmten M o m e n t gegeben haben, w o durch die U m r i n g e l u n g der Schlangen dasjenige, was w i r das menschliche Ich nennen, aus dem Leibe des L a o k o o n heraus ist, w o die einzelnen des Ichs entblößten Triebe, ein jeder bis i n das Körperliche hinein, ihren Weg gehen. So sehen wir, wie der Unterleib, der K o p f , jedes einzelne G l i e d seinen Weg geht u n d nicht i n einen charaktervollen E i n k l a n g gebracht werden mit der äußeren Gestalt, w e i l das Ich eben entschwunden ist. E i n solcher M o m e n t , der uns i m Äußerlich-Körperlichen zeigt, wie der M e n s c h den einheitlichen Charakter verliert, wenn das Ich schwindet, das als starker M i t t e l p u n k t selbst die Leibesglieder zusammenfügt, ein solcher M o m e n t ist uns i m L a o k o o n dargestellt. U n d gerade, w e n n w i r so etwas w i r k e n lassen auf unsere Seele, dann dringen w i r bis i n jenes Einheitliche vor, das sich uns als das Zusammenstimmende der Leibesglieder ausdrückt, das hineinprägt dasjenige, was w i r den menschlichen Charakter nennen. N u n aber müssen w i r uns fragen: W e n n das richtig ist, daß der M e n s c h i n gewisser Beziehung seinen Charakter angeboren hat u n d das läßt sich nicht leugnen, denn jeder Bück ins Leben kann uns lehren, daß über eine bestimmte Grenze hinaus alles dasjenige, was der M e n s c h mitbringt, sich durch alle Mühe nicht verändern läßt - , w e n n der M e n s c h auf der einen Seite den Charakter angeboren hat, ist es da doch möglich, daß der Mensch etwas tut, u m den Charakter i n gewisser Weise umzuformen? J a , insofern nämlich der Charakter dem Seelenleben angehört, insofern er demjenigen angehört, was, ohne daß w i r eine Grenze finden an den äußeren Leibesgliedern, w e n n w i r des Morgens aufwachen, umgebildet werden kann am Zusammenstimmen der einzelnen Seelenglieder, an Verstärkung der Kräfte der E m p f i n dungsseele, der Verstandes- oder Gemütsseele u n d der Bewußt2 I
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seinsseele, insofern k a n n auch noch am Charakter fortgebildet werden durch das persönliche Leben z w i s c h e n G e b u r t u n d T o d . Darüber etwas z u wissen, ist besonders wichtig für die E r z i e hung. W i e es außerordentlich wichtig ist, die Unterschiede u n d die Wesenheit der menschlichen Temperamente z u kennen, w e n n m a n ein richtiger Erzieher sein s o l l , so notwendig ist es, auch etwas über den menschlichen Charakter z u wissen, u n d auch darüber etwas z u wissen, was der M e n s c h tun kann z w i schen G e b u r t u n d T o d , u m diesen Charakter umzuformen, der i n gewisser Beziehung durch das vorhergehende Leben u n d seine Früchte bestimmt ist. Wenn w i r das wissen wollen, dann müssen w i r uns klar sein, daß der Mensch i n seinem persönlichen Leben gewisse, allgemein typische Entwicklungsepochen durchmacht. Sie finden die nötigen Anhaltspunkte für das, was jetzt s k i z z e n haft angedeutet w i r d , i n meinem Schriftchen: «Die E r z i e h u n g des Kindes v o m Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft». D e r M e n s c h macht zunächst eine Epoche durch v o m M o m e n t e seiner G e b u r t bis z u der Zeit, w o der Zahnwechsel u m das siebente Jahr herum eintritt. Das ist die E p o c h e , w o vorzugsweise der p h y s i sche L e i b d u r c h äußeren Einfluß ausgebildet werden k a n n . V o n diesem siebenten Jahre an, v o n dem Zahnwechsel bis z u m dreizehnten, vierzehnten, fünfzehnten Jahre, bis zur Geschlechtsreife, ist eine E p o c h e , w o vorzugsweise sein Ätherleib ausgebildet werden kann, das zweite G l i e d der menschlichen Wesenheit. D a n n tritt der M e n s c h i n eine dritte Epoche ein, w o vorzugsweise sein Astralleib, der niedrigere Astralleib, gebildet werden kann; u n d dann k o m m t , etwa v o m einundzwanzigsten Jahre angefangen, das Lebensalter, w o der M e n s c h nun gleichsam wie eine selbständige, freie Wesenheit der Welt gegenübersteht u n d selber an der A u s b i l d u n g seiner Seele arbeitet. D a sind die Jahre v o n z w a n z i g bis achtundzwanzig wichtig für die E n t w i c k l u n g der Kräfte der Empfindungsseele. D i e nächsten sieben Jahre etwa - das sind immer nur D u r c h schnittszahlen - bis z u m fünfunddreißigsten Jahre sind besonders wichtig für die E n t w i c k l u n g der Verstandes- oder Gemütsseele, die w i r insbesondere d a d u r c h zur A u s b i l d u n g bringen können, daß w i r mit dem Leben i n Wechselwirkung treten. Wer
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das Leben nicht beobachten w i l l , der mag darin U n s i n n sehen; wer aber das L e b e n mit offenen A u g e n betrachtet, der w i r d wissen, daß gewisse Wesensglieder des Menschen insbesondere i n gewissen E p o c h e n des Lebens ausgebildet werden können. I n den ersten Zwanzigerjahren sind w i r besonders imstande, durch Wechselwirkung mit dem L e b e n unsere Begierden, Triebe, L e i denschaften u n d so weiter an den Eindrücken u n d Einflüssen der Außenwelt z u entfalten. E i n Werden an Kräften werden w i r fühlen können d u r c h entsprechende Wechselwirkung der Verstandesseele mit der U m w e l t ; u n d derjenige, der da weiß, was w i r k l i che Erkenntnis ist, der weiß auch, daß alles frühere Aneignen v o n Erkenntnissen nur Vorbereitung sein k a n n ; daß jene Reife des Lebens, w o m a n w i r k l i c h überschauend sich Erkenntnisse aneignen kann, i m G r u n d e genommen durchschnittlich erst mit dem fünfunddreißigsten Jahre eintritt. Solche Gesetze gibt es. N u r derjenige w i r d sie nicht beobachten, der überhaupt das menschliche L e b e n nicht beobachten w i l l . Wenn w i r das ins A u g e fassen, dann sehen wir, wie dieses menschliche L e b e n zwischen Geburt u n d T o d gegliedert ist. Daraus aber, daß das Ich so arbeitet, daß es die Seelenglieder abstimmt gegeneinander, daß es aber auch dasjenige, was es erarbeitet, gliedern muß nach Maßgabe der äußerlichen Leiblichkeit, daraus werden w i r einsehen, wie w i c h t i g es ist, als Erzieher z u wissen, daß bis z u m siebenten Jahre der äußere physische L e i b seine E n t w i c k l u n g erfährt. Alles dasjenige, was auf den p h y s i schen L e i b einwirken k a n n v o n der physischen Welt, was i h n mit Kraft u n d Stärke ausstattet, das k a n n n u r i n dieser ersten Epoche an den Menschen herangebracht werden. N u n besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem physischen L e i b u n d der Bewußtseinsseele, der bei genauer Beobachtung des L e bens gründlich hervorgehen kann. W e n n n u n das Ich stark werden soll, so daß es sich mit den Kräften der Bewußtseinsseele i m späteren Leben, also erst nach dem fünfunddreißigsten Jahre, durchsetzen soll, wenn das Ich so arbeiten soll i m Seelenleben, daß es d u r c h die D u r c h d r i n g u n g der Bewußtseinsseele herausgehen k a n n aus sich selber z u einem W i s s e n v o n der Welt, so darf es an dem physischen L e i b keine
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Grenze finden, denn der physische Leib gerade kann dasjenige sein, was der Bewußtsseinsseele und dem Ich die größten H i n dernisse entgegensetzt, w e n n dieses Ich nicht verschlossen bleiben w i l l i m I n n e r n , sondern heraus w i l l z u einem offenen Wechselverkehr mit der Welt. D a w i r aber innerhalb gewisser G r e n z e n durch die E r z i e h u n g dem K i n d e bis z u m siebenten Jahr Kräfte zuführen können für den physischen L e i b , so sehen w i r hier einen merkwürdigen Lebenszusammenhang. O h , es ist nicht gleichgültig für das spätere Leben des Menschen, was der E r z i e her mit dem K i n d e v o r n i m m t ! N u r diejenigen, die das L e b e n nicht z u beobachten verstehen, die wissen nichts von solchen Lebensgeheimnissen; wer aber vergleichen kann frühestes K i n desalter mit demjenigen, was v o m fünfunddreißigsten Jahre an auftritt an freiem Wechselverkehr mit der Welt, der weiß, daß w i r einem M e n s c h e n , der mit der Welt i n offenen Verkehr treten soll, der auf die Welt eingehen u n d nicht verschlossen i n sich selber ruhen soll, daß w i r dem die größten Wohltaten erweisen können, w e n n w i r i n entsprechender Weise i n der ersten Epoche seines Lebens auf i h n w i r k e n . Was w i r da dem K i n d e zuführen an Freuden des unmittelbaren physischen Lebens, an Liebe, die einströmt aus seiner U m g e b u n g , das führt dem physischen Leibe Kräfte z u , das macht i h n bildungsfähig, das macht i h n gleichsam weich u n d plastisch. U n d so viel Freude u n d so viel Liebe u n d Glück w i r dem K i n d e i n dieser ersten Lebensepoche zuführen, u m so weniger Hindernisse u n d Hemmnisse hat der M e n s c h dann später, wenn er aus seiner Bewußtseinsseele heraus, durch die A r b e i t des Ichs, das auf der Bewußtseinsseele wie auf einer Saite spielt, einen offenen, einen freien, mit der Welt i n Wechselwirkung tretenden Charakter bilden soll. - Alles das, was w i r an Unliebe, was w i r an finsteren Lebensschicksalen, an Schmerz das K i n d bis z u m siebenten Lebensjahre ertragen lassen, verhärtet seinen p h y s i schen L e i b , u n d das alles schafft dann Hindernisse für das spätere Lebensalter. U n d i n dem gekennzeichneten späteren Lebensalter tritt dann das auf, was man einen verschlossenen Charakter nennt, ein Charakter, der i n seiner Seele sein ganzes Wesen versperrt u n d nicht z u einem freien offenen Verkehr mit all den E i n -
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drücken der A u ß e n v e i t gelangen kann. So geheimnisvoll sind die Zusammenhänge irn Leben. U n d wiederum gibt es Zusammenhänge zwischen dem Ä t her- oder Lebensleib und demjenigen, was i n der zweiten L e bensepoche sich besonders ausbildet. Z w i s c h e n dem Ätherleib u n d der Verstandes- oder Gemütsseele besteht ein Zusammenhang. In der Verstandesseele ruhen die Kräfte, die durch das Spiel des Ichs auf dieser Seele ihr entlockt werden können. Das sind alle die Kräfte, die den Menschen z u einem Menschen der Initiative, des Mutes oder z u einem Menschen der Feigheit, der Unentschlossenheit, der Lässigkeit heranbilden. Je nachdem das Ich stärker ist oder schwächer, je nachdem lebt sich der M e n s c h als feiger oder mutvoller Charakter dar. D a n n aber, w e n n der M e n s c h die beste Gelegenheit hat, durch das W e c h selverhältnis mit dem Leben diese Eigenschaft der Verstandesoder Gemütsseele sich besonders einzuprägen, sie besonders z u einem festen Charakter z u machen, dann kann er Hemmnisse u n d Hindernisse finden an seinem Äther- oder Lebensleib. B r i n g e n w i r n u n dem Äther- oder Lebensleib zwischen dem siebenten, dreizehnten, vierzehnten Jahre alles dasjenige bei, was i h n durchdringen kann mit solchen Kräften, an denen i h m i m späteren Leben kein Widerstand erwächst - also gerade für die Jahre 28 bis 3 5 - , dann haben w i r für die E r z i e h u n g dieses Menschen etwas getan, wofür er uns innig danken muß. W e n n w i r einem Menschen die Möglichkeit geben, zwischen dem siebenten u n d dreizehnten Jahre neben uns so z u stehen, daß w i r i h m eine Autorität sein können, daß w i r i h m persönlich ein Wahrheitsträger sind, w e n n i n diesem Alter, für welches A u t o rität etwas besonders Heilsames ist, w i r als Lehrer, als Eltern oder E r z i e h e r neben d e m jungen Menschen so stehen, daß dieser sich sagt: was sie uns darleben, das ist wahr, - dann steigern w i r die Kräfte des Ätherleibes, u n d der M e n s c h w i r d dann i m späteren Lebensalter, v o m achtundzwanzigsten bis fünfunddreißigsten Jahre, am wenigsten Widerstand finden am Ätheroder Lebensleib; er w i r d dann, entsprechend der Anlage seines Ichs, z u einem m u t v o l l e n Menschen mit Initiative werden können. W i r können also d u r c h diese geheimnisvollen Zusammen-
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hänge des Lebens, wenn w i r sie kennen, i n ungeheuer heilsamer Weise auf den M e n s c h e n einwirken. Es ist i n unserer chaotischen B i l d u n g verlorengegangen das Bewußtsein v o n solchen Zusammenhängen, die man früher i n stinktiv gekannt hat. D a kann man immer mit Wohlbehagen betrachten, was ältere Lehrer wie aus einem tiefen Instinkt oder aus Inspiration heraus über diese D i n g e noch gewußt haben. D a muß man sagen: D i e alte Rottecksche Weltgeschichte mag heute da u n d d o r t überholt sein; w e n n man aber mit Menschenverständnis diese alte Rottecksche Weltgeschichte i n die H a n d n i m m t , die w i r , als w i r jung waren, i n den Bibliotheken unserer Väter gefunden haben, denn da wurde sie gelesen, so findet man eine eigentümliche Darstellungsweise, eine Darstellungsweise, die zeigt, daß jener Badenser Lehrer, der i n Freiburg Geschichte gelehrt hat, nicht nur trocken u n d nüchtern gelehrt hat. W e n n man n u r das V o r w o r t liest z u dieser Rotteckschen Weltgeschichte, die ihrem Geist nach etwas Außerordentliches ist, dann hat man das Gefühl: Das ist ein M e n s c h , der spricht z u der J u gend aus dem Bewußtsein heraus: D u mußt dem Menschen i n diesem A l t e r - zwischen vierzehn u n d einundzwanzig Jahren, w o der Astralleib zur E n t w i c k l u n g k o m m t - die Kräfte zuführen, die aus schönen, großen Idealen hervorgehen. U b e r a l l sucht Rotteck herauszuholen, was den Menschen erfüllen kann mit der Größe der Ideen der H e l d e n , mit Begeisterung für das, was M e n schen gewollt, gelitten haben i m Verlauf der Menschheitsentw i c k l u n g . U n d solch ein Bewußtsein hat seine volle Berechtigung; denn dasjenige, was i n den Astralleib i n diesem Lebensalter, v o n vierzehn bis einundzwanzig Jahren, i n solcher A r t h i n eingegossen w i r d , das k o m m t unmittelbar nachher der E m p f i n dungsseele zugute, wenn das Ich i m freien Wechselspiel mit der Welt den Charakter erarbeiten w i l l . In der Empfindungsseele w i r d eingeprägt, das heißt dem Charakter w i r d einverleibt dasjenige, was an hohen Idealen, an Begeisterung i n die Seele geflossen ist. Das w i r d dem Ich selber einverleibt, das w i r d dem C h a rakter aufgeprägt. 63
So sehen wir, wie i n der Tat dadurch, daß i n einer gewissen Weise die menschlichen Hüllen, der physische L e i b , der Äther-
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oder Lebensleib, der Astralleib noch plastisch sind, sie durch die E r z i e h u n g dieses oder jenes beigefügt erhalten können i n der J u gend, u n d es dadurch möglich machen, daß später der M e n s c h an seinem Charakter arbeitet. W e n n das Nötige nicht geschehen ist, dann w i r d es schwierig, am Charakter z u arbeiten; da sind dann die stärksten M i t t e l notwendig. D a n n w i r d es notwendig, daß der M e n s c h sich ganz bewußt hingibt einer tief innerlichen meditativen Betrachtung gewisser Eigenschaften u n d Gefühle, die er bewußt einprägt i n das Seelenerleben. Solch ein M e n s c h muß versuchen, die Kulturströmungen, die als Bekenntnisse z u m Beispiel religiöser A r t nicht nur wie Theorien sprechen wollen, inhaltlich z u erleben. D e n großen Weltanschauungen, dem, was uns i m späteren Leben noch mit unseren Begriffen und E m p f i n dungen, mit unseren Ideen i n die großen umfassenden Weltengeheimnisse hineinführt, dem müssen w i r uns wieder u n d wiederum hingeben, nicht n u r i n einmaliger Betrachtung. W e n n w i r uns i n solche Weltgeheimnisse vertiefen können, uns ihnen i m mer wieder gerne hingeben, wenn sie uns eingeprägt werden i n Gebeten, die w i r tagtäglich wiederholen, dann können w i r selbst n o c h i m späteren Leben durch das Spiel des Ichs unseren C h a rakter umprägen. Das erste dabei ist, daß der M e n s c h also dasjenige, was seinem Ich einverleibt ist, was sein Ich sich erobert, i n seine Seelenglieder, i n die Empfindungsseele, i n die Verstandes- oder Gemütsseele u n d i n die Bewußtseinsseele hineinprägt. N u n vermag der M e n s c h i m allgemeinen nicht viel über die äußere Leiblichkeit. W i r haben gesehen, daß der M e n s c h eine Grenze hat an der äußeren Leiblichkeit, daß sie m i t gewissen Anlagen ausgestattet ist; d o c h w e n n w i r genauer beobachten, so sehen wir, daß allerdings diese G r e n z e dennoch zuläßt, daß der M e n s c h auch zwischen G e b u r t u n d T o d an seiner äußeren Leiblichkeit arbeitet. W e r w i r d nicht schon beobachtet haben, wie ein M e n s c h , der sich w i r k l i c h tieferen Erkenntnissen durch ein Jahrzehnt z u m Beispiel hingibt - solchen Erkenntnissen, welche nicht graue Lehre bleiben, sondern die sich umgestalten i n Lust u n d L e i d , i n Seligkeit u n d Schmerz, die i m G r u n d e erst dadurch z u w i r k l i c h e r Erkenntnis werden u n d sich mit dem Ich verweben - , wer w i r d
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nicht beobachtet haben, daß da selbst die Physiognomie, die G e ste, das ganze Gehaben des Menschen sich umändert, wie das A r b e i t e n des Ichs sozusagen bis i n die äußere Leiblichkeit h i n eingeht! A b e r viel ist es nicht, was da der M e n s c h durch das, was er sich i m Leben z w i s c h e n G e b u r t u n d T o d erwirbt, i n seine äußere Leiblichkeit einprägen kann. Das meiste v o n dem, was er sich so erwirbt, ist etwas, dem gegenüber er verzichten muß, das er sich aufbewahren m u ß für ein nächstes Leben. Dafür bringt der M e n s c h mancherlei aus früheren Leben mit u n d kann, w e n n er sich die innere Fähigkeit dazu erwirbt, es steigern durch das, was er sich zwischen G e b u r t u n d T o d erarbeitet. U n d so sehen wir, wie der M e n s c h bis i n die Leiblichkeit h i n ein arbeiten k a n n , wie der Charakter nicht bloß i m inneren Seelenleben sich begrenzt, sondern herausdringt i n die äußeren L e i besglieder. Dasjenige am Menschen, i n dem sich das Äußerste seines innersten Charakters besonders ausprägt, das ist i n erster L i n i e sein mimisches Spiel; ferner das, was w i r nennen können seine Physiognomie, u n d drittens die plastische B i l d u n g der K n o c h e n seines Schädels, dasjenige, was uns i n der Schädelkunde entgegentritt. Wenn w i r uns n u n fragen: W i e k o m m t der Charakter des Menschen bis i n der Äußerlichkeit, i n seiner Geste, Physiognomie u n d K n o c h e n b i l d u n g z u m A u s d r u c k ? - so haben w i r dazu wiederum einen Anhaltspunkt durch jene geisteswissenschaftliche Vertiefung i n die menschliche Wesenheit, die sagen k a n n : Das Ich arbeitet bildend zunächst an der Empfindungsseele, die alle Triebe, Begierden, Leidenschaften, k u r z , alles das u m schließt, was man innere Impulse des W i l l e n s nennen kann. Dasjenige, was das Ich auf dieser Saite des Seelenlebens spielt, das k o m m t dann i m Äußeren, i n der Geste zur Darstellung. Was i n der Empfindurigsseele als Charakter innerlich sich auslebt, offenbart sich nach außen i n der M i m i k , i n der Geste, u n d w i r können sagen, daß uns diese Geste v o m Innern des Menschen gerade i n bezug auf seinen Charakter viel verraten kann. Wenn beim Menschen auch vorzugsweise aus seinem Charakterwesen heraus das Ich i n der Empfindungsseele arbeitet, so
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spielt doch das, was das Ich gleichsam anschlägt auf der Saite der Empfindungsseele, i n die anderen Seelenglieder hinein. "Wenn das Ich vorzugsweise an der Empfindungsseele arbeitet, dann klingt besonders stark die Empfindungsseele, u n d es müssen mitklingen die anderen; das drückt sich aber i n der Geste aus. Alles dasjenige, was sich i m gröbsten Stile bloß i n der Empfindungsseele ausprägt, k o m m t i n der Geste z u m Erscheinen i m menschlichen Unterleib. Wer sich i n Wohlbehagen auf den Bauch klopft, bei dem können w i r genau sehen, w i e er ganz mit seinem Charakter in der E m p f i n dungsseele eingeschlossen lebt, wie wenig bei i h m z u m A u s d r u c k k o m m t v o n dem, was seine Willensimpulse i n den höheren Seelengliedern sind. W e n n aber das Ich, das i n der Empfindungsseele vorzugsweise lebt, doch aber das, was es an Trieben, Begierden, Willensentschlüssen i n dieser Empfindungsseele auslebt, heraufschlägt i n die Verstandesseele, dann k o m m t das i n einer Geste z u m A u s d r u c k , die sich auf dasjenige O r g a n des Menschen bezieht, das vorzugsweise der äußere A u s d r u c k ist für die Verstandes- oder Gemütsseele: hier in der Gegend des Herzens. D a h e r sehen w i r bei denjenigen Menschen, die den sogenannten Brustton der Überzeugung haben, die aus ihren Empfindungen heraus zwar sprechen, aber imstande sind, diese Empfindungen doch umzuprägen i n Worte u n d das auszudrücken: daß sie sich ans H e r z schlagen. N i c h t aus der Objektivität des Urteils heraus reden sie, sondern aus L e i d e n schaft. W i r können den leidenschaftlichen Charakter, der aber i n die Verstandesseele heraufschlägt, w i r können den Menschen, der z w a r ganz i n der Empfindungsseele lebt, der aber durch sein starkes Ich fähig ist, die Töne heraufschlagen z u lassen in die Verstandesseele, erkennen, w e n n er sich besonders breit hinstellt. Es gibt Volksredner, die den D a u m e n i n die Westenlöcher h i n einstecken u n d sich breit v o r das P u b l i k u m hinstellen: das sind diejenigen, die aus der unmittelbaren Empfindungsseele heraus sprechen, die das, was sie egoistisch u n d ganz persönlich, nicht aus der Objektivität heraus empfinden, i n Worte umprägen, aber jetzt mit der G e s t e - D a u m e n i n denWestenlöchern-bekräftigen. Diejenigen Menschen, welche bis i n die Bewußtseinsseele heraufklingen lassen, was i n ihrer Empfindungsseele v o m Ich ausge-
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prägt u n d angeschlagen ist, das sind solche, die durch ihre Geste an dem O r g a n arbeiten, das insbesondere der äußerliche A u s druck der Bewußtseinsseele ist. Solche Menschen zeigen es klar, w e n n sie es besonders schwer haben, das, was sie innerlich fühlen, z u einer gewissen Entscheidung z u bringen; es erscheint uns wie ein äußerlicher A b d r u c k dieser Entscheidung, w e n n der M e n s c h den F i n g e r an die Nase legt, w e n n er das insbesondere andeuten w i l l , wie schwer es i h m w i r d , das aus den Tiefen der Bewußtseinsseele z u heben. U n d so können w i r sehen, wie alles, was eigentlich i n den Seelengliedern sich ausprägt als die charakterisierte A r b e i t des Ichs, sich hinausergießt bis i n die Geste. W i r können aber sehen, w e n n der M e n s c h vorzugsweise i n der Verstandes- oder Gemütsseele lebt, was also schon näher dem menschlichen Innern liegt, was also am Menschen nicht v o n außen bestimmt ist, worunter er nicht sklavisch seufzt, was mehr sein E i g e n t u m ist, wie das sich kundgibt i m physiognomischen A u s d r u c k namentlich seines Gesichtes. W e n n das Ich die Saite der Verstandesseele anschlägt, diese aber hinunterklingt i n die Empfindungsseele, wenn der M e n s c h zunächst zwar fähig ist, mit seinem Ich i n der Verstandesseele z u leben, aber alles, was dann darinnen ist, sich hinunterdrückt i n die Empfindungsseele; wenn sein U r t e i l i h n so durchdringt, daß er erglüht für sein U r teil, dann sehen wir, wie sich das ausdrückt i n der zurücktretenden Stirn, i n dem hervortretenden K i n n . Was eigentlich i n der Verstandesseele erlebt w i r d u n d nur hinunterklingt i n die E m p findungsseele, das drückt sich aus an den unteren Partien des Gesichts. W e n n der M e n s c h dasjenige entfaltet, was gerade die Verstandesseele entfalten kann, den E i n k l a n g zwischen dem Ä u ßeren u n d dem Innern, w o der M e n s c h weder d u r c h inneres Grübeln verschlossen, noch d u r c h völliges Hingegebensein leer w i r d i m Innern, w o ein schöner E i n k l a n g ist zwischen dem Ä u ßern u n d Innern, w e n n also vorzugsweise das Ich i n seiner C h a rakterprägung in der Verstandesseele lebt, so drückt sich das i n der Mittelpartie des Gesichts - dem äußeren A u s d r u c k für die Verstandes- oder Gemütsseele - aus. U n d hier können w i r sehen, w i e fruchtbar Geisteswissen-
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schaft w i r d für die Kulturbetrachtung. Sie zeigt, daß die aufeinanderfolgenden Eigenschaften auch bei den aufeinanderfolgenden Völkern in der Weltentwicklung ganz besonders sich ausprägen. So war die Verstandes- oder Gemütsseele insbesondere i m alten Griechentum ausgeprägt. D a war jener schöne Einklang zwischen dem Äußern u n d dem Innern da, da war vorhanden das, was man in der Geisteswissenschaft nennt den charaktervollen A u s d r u c k des Ichs i n der Verstandes- oder Gemütsseele. B e i den Griechen tritt uns daher i n der äußeren Gestaltung die griechische Nase in ihrer V o l l e n d u n g entgegen. W a h r ist es, daß w i r solche D i n g e erst verstehen, w e n n w i r das Äußere, das i n der Materie Geprägte begreifen aus den geistigen Untergründen heraus, aus denen es hervorgeht. U n d der physiognomische A u s d r u c k , der entsteht, wenn der M e n s c h das, was vorzugsweise i n der Verstandes- oder Gemütsseele lebt, heraufbringt bis z u m Wissen, w e n n er es auslebt i n der Bewußtseinsseele, der ergibt die hervortretende Stirne. In diesem physiognomischen A u s d r u c k liegt die Offenbarung der Verstandes- oder Gemütsseele; daher drückt sich dies i n einer besonderen Stirnbildung aus, gleichsam i n die Bewußtseinsseele hinaufströmend das, was das Ich i n der Verstandesseele arbeitet. W e n n aber der M e n s c h ganz besonders lebt mit seinem Ich, so daß er charaktervoll dasjenige, was das Wesen des Ichs ist, i n seiner Bewußtseinsseele ausprägt, dann kann er z u m Beispiel das, was das Ich anschlägt auf der Saite der Bewußtseinsseele, hinunterdrängen i n die Verstandes- oder Gemütsseele u n d i n die Empfindungsseele. Dieses letztere ist eine gewisse höhere V o l l endung der menschlichen E n t w i c k l u n g . N u r i n unserer Bewußtseinsseele können w i r durchdrungen werden v o n den hohen sittlichen Idealen, v o n den großen Erkenntnisüberblicken über die Welt. Das alles m u ß i n unserer Bewußtseinsseele leben. Dasjenige, was das Ich der Bewußtseinsseele an Kräften gibt, damit diese Erkenntnisse u n d einen Überblick über die Welt gewinnen kann, dasjenige, was das Ich der Bewußtseinsseele geben kann, damit i n dieser leben können hohe sittliche Ideale, hohe ästhetische Anschauungen, das kann sich herunterdrücken u n d kann E n t h u -
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siasmus, Leidenschaft w e r d e n , das, was man nennen kann innere Wärme der Empfindungsseele. - Das tritt ein, wenn der M e n s c h erglühen kann für dasjenige, was er erkennt. D a n n ist das E d e l ste, w o z u sich der M e n s c h zunächst erheben kann, wiederum heruntergebracht bis i n die Empfindungsseele. So erhöht der M e n s c h die Empfindungsseele, w e n n er sie durchströmen läßt mit dem, was zuerst i n der Bewußtseinsseele vorhanden ist. A l lerdings, was w i r so i n der Bewußtseinsseele erleben, was als der Ideal-Charakter erscheinen k a n n durch die A r b e i t des Ichs i n der Bewußtseinsseele, das kann, w e i l unsere äußere Leiblichkeit durch die A n l a g e n , die w i r bei der G e b u r t mitbringen, begrenzt ist, nicht hineingeprägt werden i n die menschliche Leiblichkeit. D e m gegenüber müssen w i r darauf verzichten, es i n die L e i b l i c h keit hineinzuprägen; das kann ein A u s d r u c k werden eines edlen Seelencharakters, aber bis i n einen A u s d r u c k der äußeren L e i b lichkeit können w i r es nimmermehr hineinbringen. W i r müssen es mitnehmen durch die Pforte des Todes, dann aber ist es die mächtigste Kraft für das nächste Leben. Was w i r durchfeuert haben i n der Empfindungsseele mit jener Leidenschaft, die erglühen kann für hohe sittliche Ideale, was w i r so i n die Empfindungsseele gegossen haben u n d was w i r mitnehmen können durch die Pforte des Todes, das können w i r h i n übertragen i n das neue L e b e n , u n d da kann es die mächtigste plastische Kraft entwickeln. W i r sehen i m neuen Leben i n der Schädelbildung, i n den verschiedenen Erhöhungen u n d Vertiefungen des Schädels z u m A u s d r u c k k o m m e n , was w i r an hohen sittlichen Idealen uns erarbeitet haben. - So sehen w i r herüberleben bis i n die K n o c h e n hinein dasjenige, was der M e n s c h aus sich gemacht hat; daher müssen w i r auch erkennen, daß alles, was sich auf die Erkenntnis der eigentlichen K n o c h e n b i l d u n g des Schädels bezieht, auf die Erkenntnis der Erhöhungen u n d Vertiefungen i m Schädelbau, daß das schließen läßt auf den Charakter, daß das individuell ist. Es ist H o h n , wenn man glaubt, allgemeine Schemen, allgemeine typische Grundsätze aufstellen z u können für die Schädelkunde. N e i n , so etwas gibt es nicht. Für jeden Menschen gibt es eine besondere Schädelkunde; denn dasjenige, was er als Schädel mitbringt, bringt er sich aus vorherge-
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henden Leben mit, u n d das muß man bei jedem Menschen erkennen. So gibt es hierfür keine allgemeine Wissenschaft. N u r A b straktlinge, die alles auf Schemen bringen wollen, die können Schädelkunde i m allgemeinen Sinn begründen; wer da weiß, was den Menschen bis i n die K n o c h e n hinein formt, wie das eben geschildert wurde, der w i r d nur von einer individuellen E r kenntnis am Knochenbau des Menschen sprechen können. D a m i t haben w i r auch etwas i n dieser Schädelbildung, was bei jedem Menschen anders ist, u n d wofür w i r den G r u n d nimmer i m Einzelleben finden. I n der Schädelbildung können w i r greifen dasjenige, was man Wiederverkörperung nennt; denn i n den F o r m e n des menschlichen Schädels greifen wir, was der M e n s c h i n früheren Leben aus sich gemacht hat. D a w i r d Reinkarnation oder Wiederverkörperung handgreiflich. M a n muß nur erst wissen, w o man die D i n g e i n der Welt aufzugreifen hat. So sehen wir, daß man dasjenige, was i n einer gewissen Weise aus dem menschlichen Charakter herauswächst, bis i n das härteste Gebilde hinein seinem U r s p r u n g nach z u suchen hat, u n d w i r sehen i m menschlichen Charakter ein wunderbares Rätsel vor uns. W i r haben damit begonnen, diesen menschlichen Charakter z u schildern, wie das Ich i h n prägt i n den G e b i l d e n der E m p f i n dungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele u n d Bewußtseinsseele. W i r sahen dann, wie dasjenige, was das Ich i n ihnen erarbeitet, sich i n die äußere Leiblichkeit hineinprägt, bis i n die Geste, i n die Physiognomie, ja bis i n die K n o c h e n hinein. U n d indem das Menschenwesen v o n der G e b u r t bis z u m Tode u n d z u einer neuen G e b u r t geführt w i r d , sehen wir, wie das innere Wesen am Äußern arbeitet, i m Menschen einen Charakter dem i n neren Seelenleben aufprägend, u n d auch dem, was das äußere B i l d u n d Gleichnis für dieses Innere ist, dem äußeren Leib. U n d so verstehen w i r w o h l , wie es uns tief ergreifen kann, wenn w i r i m L a o k o o n den äußeren Leibescharakter auseinanderfallen sehen i n die einzelnen G l i e d e r ; w i r sehen gleichsam das Verschwinden des Charakters, der z u m Wesen des Menschen gehört, an der äußeren Geste an diesem Kunstwerk. H i e r haben w i r vor uns, was uns so recht das Herausarbeiten i n die Materie erweist, u n d umgekehrt wiederum etwas, was uns zeigt, wie die
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Anlagen, die w i r v o n früher mitgebracht haben, uns bestimmen, wie i n der Tat für ein L e b e n lang die materielle Ausgestaltung für den Geist bestimmend ist, und wie der Geist, indem er das Leben zersprengt, i n einem neuen Leben jenen Charakter z u m A u s druck bringen kann, den er als F r u c h t für das neue Leben erwirbt. D a kann uns eine Stimmung ergreifen, die anklingt an jene Stimmung Goethes, die er empfand, da er Schillers Schädel i n der H a n d hielt u n d sagte: I n den F o r m e n dieses Schädels sehe ich materiell den Geist eingeprägt; charaktervoll eingeprägt, was m i r entgegentönte i n den D i c h t u n g e n Schillers, i n den W o r t e n der Freundschaft, die so oftmals z u m i r geklungen haben; ja, hier sehe i c h , wie Geist i n der Materie arbeitete. U n d w e n n ich dieses Stück Materie betrachte, so zeigt es m i r i n seinen edlen F o r m e n , wie frühere L e b e n dasjenige vorbereiteten, was m i r i n Schillers Geist so gewaltig entgegenleuchtete. So lehrt uns diese Betrachtung als eigene Überzeugung den A u s s p r u c h wiederholen, den Goethe der Betrachtung v o n Schillers Schädel gegenüber getan hat: «Was k a n n der M e n s c h i m Leben mehr gewinnen, A l s daß sich G o t t - N a t u r i h m offenbare, W i e sie das Feste läßt z u Geist verrinnen, W i e sie das Geist-Erzeugte fest bewahre.»
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M i t den beiden letzten Vorträgen unserer Auswahl, im Jahre 1921 in Dornach vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft gehalten, schließt sich der Kreis unserer Bausteine zu einer spirituellen Psychologie. D i e Grundkräfte des Seelenlebens: Denken, Fühlen und Wollen werden i n ihrem Zusammenhang mit den Zeitqualitäten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschildert. W i r können von dem achten Vortrag dieser Auswahl eine menschenkundliche Brücke schlagen zu diesem Gesichtspunkt in dem folgenden zehnten Vortrag, der hier noch eine Erweiterung durch die Berücksichtigung der höheren Erkenntnisschritte, die bereits i n unserem ersten Vortrag angesprochen wurden, erfährt. Der letzte Vortrag führt, unter der eindeutigen methodischen Voraussetzung, daß eine «eigentliche Erkenntnis» des Seelischen nicht durch ein normales gegenständliches, sondern nur durch ein imaginatives Erkennen möglich ist, zu den für eine Menschenerkenntnis bedeutsamsten Ergebnissen einer «okkulten Psychologie». Es wird der Weg von der Sinneswahrnehmung an der Peripherie des Leibes bis zur willentlichen, vom Ich durch den Leib in die Welt geführten Handlung beschrieben. Dabei wird die Brücke geschlagen von den Seelentätigkeiten Denken, Fühlen und Wollen zu den menschlichen Wesensgiiedern, und das Verständnis öffnet sich für den Gedanken von der Prä- und Postexistenz des Menschen, für vergangenes und zukünftiges Karma.
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Denken - Fühlen - Wollen
Ich werde heute einige Wahrheiten zusammenfassen, die uns dann wiederum dienen werden, u m i n den nächsten Tagen w e i tere Ausführungen nach einer gewissen R i c h t u n g h i n z u geben. W e n n w i r unser seelisches Leben ins A u g e fassen, so können w i r sagen, daß nach dem einen P o l h i n i n diesem Seelenleben das gedankliche Element, das D e n k e n liegt, nach dem anderen P o l h i n das Willenselement, zwischen beiden das Gefühlselement, dasjenige, was w i r i m gewöhnlichen Leben das Fühlen, den I n halt des Gemütes u n d so weiter nennen. I m w i r k l i c h e n seelischen Leben, so wie es sich i n uns abspielt i n unserem W a c h z u stande, ist natürlich niemals einseitig bloß das D e n k e n vorhanden oder der W i l l e , sondern sie sind immer i n Verbindung miteinander, sie spielen ineinander. N e h m e n w i r an, w i r verhalten uns i m Leben ganz r u h i g , so daß w i r etwa sagen können, unser W i l l e sei nach außen h i n nicht tätig. W i r müssen dann doch, w e n n w i r während einer solchen nach außen gerichteten Ruhe denken, uns klar sein darüber, daß W i l l e waltet i n den Gedank e n , die w i r entfalten: i n d e m w i r einen Gedanken mit dem andern verbinden, waltet der W i l l e i n diesem D e n k e n . A l s o selbst w e n n w i r gewissermaßen scheinbar bloß kontemplativ sind, bloß denken, so waltet i n uns wenigstens innerlich der W i l l e , u n d w e n n w i r uns nicht gerade tobsüchtig verhalten oder nachtwandeln, können w i r ja nicht willentlich tätig sein, ohne unsere Willensimpulse v o n G e d a n k e n durchströmen z u lassen. G e d a n k e n durchziehen i m m e r unsere Willensbetätigung, so daß w i r also sagen können: A u c h der W i l l e ist niemals i m Seelenleben abgesondert für sich vorhanden. A b e r was so abgesondert für sich nicht vorhanden ist, das kann doch verschiedenen U r s p r u n ges sein. U n d so ist auch der eine P o l unseres Seelenlebens, das D e n k e n , ganz andern Ursprunges als das Willensleben. Schon w e n n w i r nur die alltäglichen Lebenserscheinungen be-
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trachten, w e r d e n w i r ja finden, w i e das D e n k e n eigenthch sich immer auf etwas bezieht, was da ist, was Voraussetzungen hat. Das D e n k e n ist zumeist ein N a c h d e n k e n . A u c h wenn w i r vordenken, w e n n w i r also uns etwas vornehmen, das w i r d u r c h den W i l l e n dann ausführen, so liegen ja einem solchen V o r d e n k e n Erfahrungen zugrunde, nach denen w i r uns richten. A u c h dieses D e n k e n ist i n gewisser Beziehung natürlich ein N a c h d e n k e n . D e r W i l l e k a n n s i c h nicht richten auf dasjenige, was schon da ist. D a würde er ja selbstverständlich i m m e r z u spät k o m m e n . D e r W i l l e k a n n sich e i n z i g u n d allein richten auf das, was da k o m m e n soll, auf das Zukünftige. K u r z , w e n n Sie ein wenig über das I n nere des Gedankens, des Denkens u n d über das Innere des W i l lens nachdenken, Sie werden finden, das D e n k e n bezieht sich auch schon i m gewöhnlichen L e b e n mehr auf die Vergangenheit, der W i l l e bezieht sich auf die Z u k u n f t . Das Gemüt, das Fühlen, steht zwischen beiden. W i r begleiten mit Gefühl unsere G e d a n ken. Gedanken freuen uns, stoßen uns ab. A u s unserem Gefühl heraus führen w i r unsere Willensimpulse ins Leben. Fühlen, der Gemütsinhalt, steht zwischen dem D e n k e n u n d dem W o l l e n mitten drinnen. A b e r so wie es schon i m gewöhnlichen Leben, wenn auch nur andeutungsweise der F a l l ist, so steht es auch i n der großen Welt. U n d da müssen w i r sagen: Dasjenige, was unsere Denkkraft ausmacht, was das ausmacht, daß w i r denken können, daß die M ö g lichkeit des Gedankens i n uns ist, das verdanken w i r dem Leben v o r unserer G e b u r t beziehungsweise vor unserer Empfängnis. Es ist i m G r u n d e genommen i n d e m kleinen K i n d e , das uns entgegentritt, schon i m K e i m e all die Gedankenfähigkeit vorhanden, die der M e n s c h überhaupt i n sich entwickelt. Das K i n d verwendet die Gedanken nur - Sie wissen das aus Vorträgen, die i c h schon gehalten habe - als Richtkräfte z u m Aufbauen seines L e i bes. N a m e n t l i c h i n den ersten sieben Lebensjahren, bis z u m Zahnwechsel hin, verwendet das K i n d die Gedankenkräfte z u m A u f b a u seines Leibes als Richtkräfte. D a n n kommen sie i m m e r mehr u n d mehr als eigentliche Gedankenkräfte heraus. A b e r sie sind eben als Gedankenkräfte durchaus veranlagt i m Menschen, w e n n er das physische, das irdische Leben betritt.
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Dasjenige, was als Willenskräfte sich entwickelt - eine unbefangene Beobachtung ergibt das ohne weiteres - , das ist beim K i n d e eigentlich wenig m i t dieser Gedankenkraft verbunden. Beobachten Sie n u r das zappelnde, sich bewegende K i n d i n den ersten Lebenswochen, dann werden Sie sich schon sagen: Dieses Zappelnde, dieses chaotisch Sich-Bewegende, das ist v o n dem K i n d e erst erworben dadurch, daß seine Seele u n d sein Geist v o n der physischen Außenwelt her mit physischer Leiblichkeit u m kleidet w o r d e n sind. I n dieser physischen Leiblichkeit, die w i r erst nach u n d nach entwickeln seit der K o n z e p t i o n u n d seit der G e b u r t , da liegt zunächst der W i l l e , u n d es besteht ja die E n t w i c k l u n g des kindlichen Lebens darinnen, daß allmählich der W i l l e gewissermaßen eingefangen w i r d v o n den Denkkräften, die w i r schon d u r c h die G e b u r t ins physische Dasein mitbringen. Beobachten Sie nur, wie das K i n d zunächst ganz sinnlos, wie es eben aus der Regsamkeit des physischen Leibes herauskommt, seine G l i e d e r bewegt, u n d wie nach u n d nach, ich möchte sagen, der Gedanke hineinschlägt i n diese Bewegungen, so daß sie sinnv o l l werden. Es ist also ein Hineinpressen, ein Hineinstoßen des Denkens i n das Willensleben, das ganz u n d gar i n der Hülle, die den Menschen umgibt, lebt, wenn er geboren beziehungsweise w e n n er empfangen w i r d . Es ist dieses Willensleben ganz u n d gar darinnen enthalten. So daß w i r schematisch etwa den Menschen so zeichnen können, daß w i r sagen, er bringt sich sein Gedankenleben mit, i n
dem er heruntersteigt aus der geistigen Welt. Ich w i l l das schematisch so andeuten (siehe Zeichnung, gelb). U n d er setzt das Willensleben an i n der Leiblichkeit, die i h m durch die Eltern gegeben w i r d (rot). D a d r i n n e n sitzen die Willenskräfte, die sich chaotisch äußern. U n d da drinnen sitzen die Gedankenkräfte (Pfeile), die zunächst als Richtkräfte dienen, u m eben den W i l len i n seiner L e i b l i c h k e i t i n der richtigen Weise z u durchgeistigen. Diese Willenskräfte, sie nehmen w i r dann wahr, w e n n w i r durch den T o d i n die geistige Welt hinübergehen. D a sind sie aber i m höchsten M a ß e geordnet. D a tragen w i r sie hinüber durch die Todespforte i n das geistige L e b e n . D i e Gedankenkräfte, die w i r mitbringen aus dem übersinnlichen Leben i n das Erdenleben, die verlieren w i r eigentlich i m Verlauf des Erdenlebens. Bei Menschenwesen, die früh sterben, ist es etwas anders, w i r w o l l e n jetzt zunächst v o m normalen Menschenwesen sprechen. Das normale Menschenwesen, das über die fünfziger Jahre alt w i r d , das hat eigentlich i m G r u n d e genommen die w i r k l i c h e n Gedankenkräfte, die aus dem früheren Leben mitgebracht werden, schon verloren u n d sich eben die Richtungskräfte des W i l lens bewahrt, die dann durch den T o d hinübergetragen werden i n das L e b e n , das w i r betreten, w e n n w i r durch des Todes Pforte gehen. M a n kann ja annehmen, daß jetzt i n einem der Gedanke sitzt: Ja, w e n n man also über fünfzig Jahre alt geworden ist, dann hat man sein D e n k e n verloren! - In einem gewissen Sinne ist das sogar für die meisten Menschen, die sich heute für nichts G e i stiges interessieren, durchaus der F a l l . Ich möchte nur einmal, daß Sie w i r k l i c h darauf ausgehen, z u registrieren, wieviel ursprüngliche, originelle Gedankenkärfte durch diejenigen M e n schen heute hervorgebracht werden, die über fünfzig Jahre alt geworden sind? Es sind i n der Regel die automatisch sich fortbewegenden Gedanken der früheren Jahre, die sich i m Leibe abgedrückt haben, und der L e i b bewegt sich dann automatisch fort. E r ist ja ein B i l d des Gedankenlebens, und der M e n s c h , der rollt so nach dem Gesetz der Trägheit, nicht wahr, i n dem
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alten Gedankentrott weiter fort. M a n kann sich heute kaum vor diesem Fortlaufen i m alten Gedankentrott anders bewahren, als daß man auch während des Lebens solche Gedanken aufnimmt, welche geistiger N a t u r sind, welche ähnlich sind den Gedankenkräften, i n die w i r versetzt waren vor unserer Geburt. So daß i n der Tat immer mehr die Zeit heranrückt, w o die alten Leute bloße A u t o m a t e n sein werden, wenn sie sich nicht bequemen, Gedankenkräfte aus der übersinnlichen Welt aufzunehmen. N a türlich, automatisch kann der M e n s c h sich weiter denkend betätigen, es kann so ausschauen, als ob er dächte. A b e r es ist nur ein automatisches Fortbewegen der Organe, i n die sich die G e d a n ken hineingelegt haben, hineinverwoben haben, wenn nicht der M e n s c h erfaßt w i r d v o n jenem jugendlichen Element, das da k o m m t , wenn w i r Gedanken aus der Geisteswissenschaft aufnehmen. Dieses A u f n e h m e n v o n Gedanken aus der Geisteswissenschaft ist eben durchaus nicht irgendein Theoretisieren, sondern es greift schon ganz tief i m menschlichen Leben ein. Besondere Bedeutung aber gewinnt die Sache, wenn w i r jetzt des Menschen Verhältnis zur umliegenden N a t u r ins A u g e fassen. Ich verstehe jetzt unter N a t u r all das, was uns umgibt für unsere Sinne, dem w i r also ausgesetzt sind v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen. Das kann man i n einer gewissen Weise i n der folgenden A r t betrachten. M a n kann sich das einmal vor A u g e n führen - i c h meine v o r geistige A u g e n - , was man so sieht. W i r nennen es den Sinnesteppich. Ich w i l l es schematisch so aufzeichnen. H i n t e r allem, was man sieht, hört, als Wärme wahrn i m m t , die Farben i n der N a t u r u n d so weiter - ich zeichne ein A u g e als Schema für das, was da wahrgenommen w i r d - , hinter diesem Sinnesteppich ist etwas. D i e Physiker oder die Menschen der gegenwärtigen Weltanschauung sagen: Dahinter sind A t o m e u n d die w i r b e l n - , u n d nachher, nicht wahr, da wirbeln sie w e i ter, da ist gar kein Sinnesteppich, sondern irgendwie i m Auge oder i m G e h i r n oder irgendwo oder auch nicht irgendwo, da rufen sie dann die Farben u n d die Töne u n d so weiter hervor. N u n stellen Sie sich aber, bitte, ganz unbefangen einmal vor, daß Sie anfangen z u denken über diesen Sinnesteppich. Wenn Sie anfangen z u denken u n d n i c h t v o n der Illusion ausgehen, Sie könn-
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ten dieses riesige H e e r von A t o m e n konstatieren, das da v o n den C h e m i k e r n so i n militärischer Denkweise angeordnet w i r d , sagen w i r z u m Beispiel, da steht Unteroffizier C , dann z w e i G e meine, C , O , O , u n d dann noch ein Gemeiner als H ; nicht wahr, so haben w i r das ja militärisch angeordnet: Äther, A t o m e u n d so weiter. N u n , w e n n man, wie gesagt, sich dieser Illusion nicht hingibt, sondern stehenbleibt bei der W i r k l i c h k e i t , dann weiß m a n : D e r Sinnesteppich ist ausgebreitet, da draußen sind die Sinnesqualitäten, u n d das, was i c h n o c h über dasjenige, was i n den Sinnesqualitäten hegt, mit dem Bewußtsein umfasse, das sind eben Gedanken. Es ist i n W i r k l i c h k e i t nichts hinter diesem S i n nesteppich als Gedanken (blau). Ich meine, hinter dem, was w i r i n der physischen Welt haben, ist nichts anderes da als G e d a n ken. D a ß diese von Wesen getragen werden, darüber werden w i r n o c h sprechen. A b e r man k o m m t z u dem, was w i r i n unserem Bewußtsein haben, n u r dahinter m i t den Gedanken. D i e Kraft aber z u denken, die haben w i r aus unserem vorgeburtlichen L e ben beziehungsweise aus dem Leben vor unserer Empfängnis. W a r u m ist es denn n u n , daß w i r d u r c h diese Kraft hinter den Sinnesteppich kommen?
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Versuchen Sie nur einmal, sich recht vertraut z u machen mit dem Gedanken, den i c h eben angeschlagen habe, versuchen Sie sich die Frage ordentlich vorzulegen auf Grundlage dessen, was w i r n u n gerade wiederum angedeutet haben, was w i r i n vielen Zusammenhängen schon betrachtet haben. W a r u m ist es so, daß w i r hinter den Sinnesteppich mit unseren Gedanken hinuntergelangen, w e n n unsere Gedanken doch aus unserem vorgeburtlichen L e b e n stammen? Sehr einfach: w e i l dahinter dasjenige ist, was gar nicht i n der Gegenwart ist, sondern was i n der Vergangenheit ist, was der Vergangenheit angehört. Das, was unter dem Sinnesteppich ist, ist i n der Tat ein Vergangenes, u n d w i r sehen das n u r richtig, w e n n w i r es als ein Vergangenes anerkennen. D i e Vergangenheit w i r k t herein i n unsere Gegenwart, u n d aus der Vergangenheit heraus sprießt dasjenige, was uns i n der Gegenwart erscheint. Stellen Sie sich eine Wiese vor, die beblumt ist. Sie sehen das Gras als grüne Decke, Sie sehen die blumige A u s schmückung der Wiese. Das ist Gegenwart, aber das wächst aus der Vergangenheit hervor. U n d wenn Sie d u r c h das hindurchdenken, dann haben Sie darunter nicht eine atomistische Gegenwart, dann haben Sie i n W i r k l i c h k e i t darunter die Vergangenheit als verwandt mit dem, was v o n Ihnen selber aus der Vergangenheit herstammt. Es ist interessant: W e n n w i r über die D i n g e nachzudenken beginnen, so enthüllt sich uns v o n der Welt gar nicht die G e genwart, sondern es enthüllt sich die Vergangenheit. Was ist Gegenwart? D i e Gegenwart hat gar keine logische Struktur. D e r Sonnenstrahl fällt auf irgendeine Pflanze, er glänzt dort; i m nächsten A u g e n b l i c k , w e n n die R i c h t u n g des Sonnenstrahls eine andere ist, glänzt es nach einer andern R i c h t u n g . Das B i l d ändert sich i n jedem A u g e n b l i c k . D i e Gegenwart ist eine solche, daß w i r sie nicht umfassen können mit Mathematik, nicht m i t der bloßen Gedankenstruktur. Was w i r mit der bloßen G e dankenstruktur umfassen, ist Vergangenheit, die i n der Gegenwart fortdauert. Das ist etwas, was d e m Menschen sich enthüllen kann als eine große, als eine bedeutsame Wahrheit: D e n k s t d u , so denkst du i m G r u n d e genommen n u r die Vergangenheit; spinnst du L o g i -
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sches, denkst d u i m G r u n d e genommen über dasjenige nach, was vergangen ist. — Wer diesen G e d a n k e n erfaßt, der w i r d auch i n dem Vergangenen keine Wunder mehr suchen. D e n n i n dem sich das Vergangene i n die Gegenwart hereinspinnt, muß es eben i n der Gegenwart sein wie es als Vergangenes ist. D e n ken Sie, w e n n Sie gestern Kirschen gegessen haben, so ist das eine vergangene H a n d l u n g ; Sie können sie nicht ungeschehen machen, w e i l sie eine vergangene H a n d l u n g ist. W e n n aber die K i r s c h e n die G e w o h n h e i t hätten, bevor sie i n Ihrem M u n d e verschwinden, zuerst ein Zeichen i r g e n d w o h i n z u machen, so würde dieses Zeichen bleiben. Sie könnten an diesem Zeichen nichts ändern. W e n n da jede Kirsche, nachdem Sie gestern K i r schen gegessen haben, ihre Vergangenheit i n Ihren M u n d h i n einregistriert hätte, u n d nur einer k o m m e n würde u n d fünf ausstreichen wollte, könnte er sie zwar ausstreichen, aber die Tatsache würde sich nicht ändern. Ebensowenig können Sie i r gendein W u n d e r verrichten i n bezug auf alles, was N a t u r e r scheinungen sind, denn die sind alle Hereinragungen aus dem Vergangenen. U n d alles, was w i r mit Naturgesetzen umfassen können, ist schon vergangen, ist kein Gegenwärtiges mehr. Das Gegenwärtige können Sie nicht anders als durch Bilder erfassen, das ist ein Fluktuierendes. W e n n ein Körper hier aufleuchtet, so entsteht ja ein Schatten. Sie müssen gewissermaßen den Schatten sich richtig begrenzen lassen u n d so weiter. Sie können den Schatten konstruieren. D a ß der Schatten w i r k l i c h entsteht, das kann n u r d u r c h die Hingabe an das B i l d eruiert werden. So daß man sagen k a n n : Schon i m gewöhnlichen Leben bezieht sich das Begrenzen, ich könnte auch sagen, das logische D e n ken, auf die Vergangenheit. U n d die Imagination, die bezieht sich auf die Gegenwart. In bezug auf die Gegenwart hat der M e n s c h i m m e r Imaginationen. D e n k e n Sie doch nur einmal, w e n n Sie logisch leben w o l l t e n i n der Gegenwart! N i c h t wahr, logisch leben heißt, einen Begriff aus dem andern hervorholen, gesetzmäßig v o n einem Begriff z u m andern übergehen. N u n , versetzen Sie sich nur einmal ins Leben. Sie sehen irgendein Ereignis: ist das nächste logisch darrangegliedert? Können Sie das nächste Ereignis logisch aus dem
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vorhergehenden ableiten? W e n n Sie das Leben überblicken, ist es nicht i n seinen B i l d e r n ähnlich wie der Traum? D i e Gegenwart ist ähnlich wie der Traum, u n d nur daß sich i n die Gegenwart die Vergangenheit hineinmischt, das bewirkt, daß diese Gegenwart gesetzmäßig verläuft, logisch verläuft. U n d w e n n Sie irgend etwas Zukünftiges i n der Gegenwart erahnen w o l l e n , ja, wenn Sie nur irgend etwas denken wollen, was Sie i n der Z u k u n f t verrichten wollen, dann ist das ja zunächst ganz ungegenständlich bei Ihnen vorgegangen. Was Sie heute A b e n d erleben werden, steht nicht als B i l d i n Ihnen, sondern als etwas, was unbildlicher als ein B i l d ist. Es steht höchstens als Inspiration i n Ihnen. D i e Inspiration bezieht sich auf die Zukunft. Logisches D e n k e n : Vergangenheit Imagination: Gegenwart Inspiration: Zukunft
] f Intuition J
W i r können uns auch durch ein einfaches Schema klarmachen, u m was es sich da handelt. W e n n der M e n s c h - i c h w i l l i h n hier durch dieses A u g e charakterisiert haben (siehe Zeichnung Seite 242) - auf den Sinnesteppich hinblickt, so sieht er i h n i n seinen sich verwandelnden B i l d e r n , aber er k o m m t jetzt u n d bringt G e setze i n diese B i l d e r hinein. E r bildet sich eine Naturwissenschaft aus den wechselnden B i l d e r n der Sinneswelt. E r bildet sich eine Fachwissenschaft. A b e r denken Sie einmal nach, wie diese N a turwissenschaft ausgebildet w i r d . M a n untersucht, man untersucht denkend. Sie können unmöglich, w e n n Sie eine Wissenschaft ausbilden w o l l e n über das, was sich als Sinnesteppich ausbreitet, eine Wissenschaft, die i n logischen Gedanken verläuft, diese logischen G e d a n k e n aus der Außenwelt heraus gewinnen. Wenn das, was als G e d a n k e n - u n d Naturgesetze sind ja auch Gedanken - , w e n n das, was als Gesetze der Außenwelt erkannt w i r d , aus der Außenwelt selbst folgte, ja, dann wäre ja nicht notwendig, daß w i r irgend etwas lernten über die Außenwelt, dann müßte derjenige, der z u m Beispiel sich dieses L i c h t da ansieht, ganz genau die elektrischen Gesetze u n d so weiter wissen, wie der andere, der es gelernt hat! Ebensowenig weiß der M e n s c h ,
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w e n n er es nicht gelernt hat, irgend etwas, sagen w i r über die Beziehung eines Kreisbogens z u m Radius u n d so weiter. D a bringen w i r die G e d a n k e n , die w i r i n die Außenwelt hineintragen, aus unserem Inneren hervor. Ja, es ist so: Dasjenige, was w i r als G e d a n k e n i n die Außenwelt hineintragen, bringen w i r aus unserem Inneren hervor. W i r sind zunächst dieser M e n s c h , der als Hauptesmensch konstruiert ist. Dieser sieht auf d e n Sinnesteppich h i n . I m Sinnesteppich d r i n nen ist dasjenige, was w i r durch Gedanken erreichen (siehe Zeichnung, weiß), u n d zwischen diesem u n d zwischen dem, was w i r i n unserem eigenen Inneren haben, was w i r nicht wahrnehmen, ist eine V e r b i n d u n g , gewissermaßen eine unterirdische Verbindung. D a h e r k o m m t es, daß w i r dasjenige, was w i r i n der Außenwelt nicht wahrnehmen, w e i l es i n uns hineinragt, aus u n serem Inneren i n F o r m des Gedankenlebens hervorholen u n d i n die Außenwelt hineinlegen. So ist es schon m i t dem Zählen. D i e Außenwelt zählt uns gar nichts v o r ; die Gesetze des Zählens liegen i n unserem eigenen Inneren. A b e r daß das stimmt, rührt dav o n her, daß zwischen diesen Anlagen, die da sind i n der A u ß e n welt und unseren eigenen irdischen Gesetzen, ein unterirdischer
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Zusammenhang ist, ein unterkörperlicher Zusammenhang, u n d so holen w i r die Z a h l aus unserem Inneren heraus. D i e paßt dann z u dem, was draußen ist. A b e r der Weg ist nicht durch unsere A u g e n , nicht durch unsere Sinne, sondern der Weg ist durch u n seren Organismus. U n d dasjenige, was w i r als M e n s c h ausbilden, das bilden w i r als ganzer M e n s c h aus. Es ist nicht wahr, daß w i r durch die Sinne irgendein Naturgesetz erfassen; w i r erfassen es als ganzer M e n s c h . Diese D i n g e muß man i n Erwägung ziehen, wenn man das Verhältnis des Menschen zur U m w e l t i n der richtigen Weise sich z u Gemüte führen w i l l . W i r sind ja fortwährend i n Imaginationen drinnen, u n d man brauchte nur unbefangen das Leben mit d e m Traum z u vergleichen. W e n n der T r a u m abläuft, so läuft er gewiß sehr chaotisch ab, aber er ist dem Leben viel ähnlicher als das logische D e n k e n . N e h m e n w i r einen extremen F a l l . W e n n Sie - na, i c h w i l l sogar eine Unterhaltung unter vernünftigen M e n s c h e n der Gegenwart annehmen: Sie hören z u , reden selber mit. D e n k e n Sie einmal nach, was da, sagen wir, i m Laufe einer halben Stunde hintereinander geredet w i r d , ob mehr Zusammenhang darinnenliegt, w e n n Sie es i n einer Aufeinanderfolge betrachten, als i m Traume ist, oder ob es ein solcher Zusammenhang ist wie i m logischen D e n k e n . Wenn Sie verlangen würden, daß sich da logisches D e n k e n entwickelt, dann würden Sie wahrscheinlich z u großen Enttäuschungen k o m m e n . D i e gegenwärtige Welt tritt uns durchaus i n Bildern entgegen, so daß w i r eigentlich i m G r u n d e genommen fortwährend träumen. D i e L o gik müssen w i r ja erst hineinbringen. D i e L o g i k entringen w i r uns aus unserer Vorgeburtlichkeit; w i r bringen sie erst i n den Zusammenhang der D i n g e hinein u n d treffen dadurch auch das Vergangene i n den D i n g e n . D i e Gegenwart umfassen w i r mit Imaginationen. W e n n w i r dieses imaginative Leben, das uns i n der sinnlichen Gegenwart fortwährend umgibt, betrachten, so können w i r uns sagen: Es gibt sich uns dieses imaginative Leben. W i r tun nichts dazu. - D e n k e n Sie n u r einmal, wie Sie sich haben anstrengen müssen, u m z u logischem D e n k e n z u k o m m e n ! Das Leben z u genießen, das Leben z u betrachten, haben Sie sich gar nicht an-
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zustrengen brauchen, das enthüllt seine B i l d e r v o n selbst v o r I h nen. N u n , da haben w i r es eben gut i m Leben i n bezug auf das Bildervorstellen d e r gewöhnlichen U m w e l t . N i c h t s anderes braucht man aber, als nun auch die Fähigkeit sich z u erwerben, so B i l d e r z u machen - aber jetzt durch eigene Tätigkeit, wie man es sonst i m D e n k e n tut - u n d B i l d e r z u erleben durch innere Anstrengung, w i e es sonst beim D e n k e n geschieht. D a n n sieht man nicht nur die Gegenwart i n B i l d e r n , dann dehnt m a n das bildliche Vorstellen auch aus auf das Leben v o r der Geburt oder v o r der Empfängnis, dann sieht man v o r die Geburt h i n oder vor die Empfängnis. U n d w e n n man da i n Bildern hineinschaut, dann bevölkert sich das D e n k e n mit den Bildern, u n d dann w i r d das vorgeburtliche Leben Realität. W i r müssen uns nur durch A u s b i l d u n g derjenigen Fähigkeiten, v o n denen gesprochen w i r d i n «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», angewöhnen können, i n B i l d e r n z u denken, ohne daß diese B i l d e r sich uns, wie das i m gewöhnlichen Leben der Fall ist, v o n selber geben. W e n n w i r dieses Bilderleben, i n dem w i r eigentlich immer drinnenstehen i m gewöhnlichen L e b e n , z u einem Innenleben machen, dann schauen w i r i n die geistige Welt hinein, u n d dann erblicken w i r allerdings die A r t u n d Weise, wie unser Leben eigenthch verläuft. Heute betrachtet man es ja z i e m l i c h ausschließlich als geistig, w e n n jemand - ich habe darüber öfter gesprochen - das materielle Leben richtig verachtet u n d sagt: Ich strebe z u m Geist, Materie bleibt tief unter mir. - Das ist eine Schwäche, denn nur derjenige gelangt w i r k l i c h z u einem spirituellen Leben, der nicht die Materie unter sich z u lassen braucht, sondern der die Materie selbst i n ihrer Wirksamkeit als Geist begreift, der alles Materielle als ein Geistiges und alles Geistige, auch i n seiner Offenbarung als Materielles, erkennen kann. Das w i r d insbesondere bedeutsam, w e n n w i r auf D e n k e n u n d W o l l e n hinblicken. Höchstens n o c h die Sprache, die ja einen geheimen Genius i n sich enthält, die hat n o c h etwas v o n dem, was auf diesem Felde zur E r k e n n t nis führt. Betrachten Sie das W o l l e n i n seiner Grundlage i m gewöhnlichen L e b e n : Sie wissen, es geht hervor aus dem Begehren; selbst
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das idealste Wollen gellt aus dem Begehren hervor. N u n , nehmen Sie die gröbste F o r m des Begehrens. D i e gröbste F o r m des Begehrens, welche ist sie? D e r Hunger. Daher ist auch alles, was aus dem Begehren hervorgeht, i m G r u n d e immer verwandt dem Hunger. A u s dem, was ich Ihnen heute andeuten w i l l , können Sie ja entnehmen, daß das D e n k e n der andere P o l ist, er w i r d sich daher wie das Entgegengesetzte z u m Begehren verhalten. W i r können sagen: W e n n w i r das Begehren dem W o l l e n zugrunde legen, haben wir dem D e n k e n die Sättigung zugrunde z u legen, die Gesättigtheit, nicht den Hunger. Das entspricht eigentlich i m tiefsten Sinne dem Tatbestand. W e n n Sie unsere Hauptesorganisation als Menschen nehmen u n d die andere Organisation, die daran hängt, so ist es i n der Tat so: W i r nehmen wahr. Was heißt das, w i r nehmen wahr? W i r nehmen wahr durch unsere Sinne. Indem w i r wahrnehmen, w i r d eigentlich fortwährend etwas i n uns abgetragen. Es geht etwas v o n außen i n unser Inneres. D e r Lichtstrahl, der i n unser A u g e dringt, der trägt eigentlich etwas ab. Es w i r d gewissermaßen i n unsere eigene Materie ein L o c h hineingebohrt (siehe Z e i c h nung.) D a war Materie, jetzt hat der Lichtstrahl ein L o c h hinein-
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gebohrt, jetzt ist H u n g e r vorhanden. Dieser H u n g e r muß gesättigt werden, er w i r d aus dem Organismus, aus der vorhandenen N a h r u n g heraus gesättigt; das heißt, dieses L o c h füllt sich aus mit der N a h r u n g , die i n uns ist (rot). Jetzt haben w i r gedacht, jetzt haben w i r dasjenige, was w i r wahrgenommen haben, gedacht: indem w i r denken, füllen w i r fortwährend die Löcher, welche die Sinneswahrnehmungen i n uns bilden, mit Sättigung aus, die aus unserem Organismus aufsteigt. Es ist außerordentlich interessant z u beobachten, w e n n w i r die Kopforganisation ins A u g e fassen, wie w i r aus unserem übrigen Organismus heraus durch die Löcher, die da entstehen, durch O h r e n u n d d u r c h A u g e n , d u r c h die Wärmeempfindungen, da sind überall Löcher, hineinlegen die Materie. D e r M e n s c h füllt sich ganz aus, indem er denkt, indem er dasjenige, was da ausgelocht ist, ausfüllt (rot). U n d w e n n w i r w o l l e n , so ist es ähnlich. N u r w i r k t es dann nicht v o n außen herein, so daß w i r ausgehöhlt werden, sondern da w i r k t es v o n innen. W e n n w i r w o l l e n , entstehen überall i n uns Höhlungen; die müssen wiederum mit Materie sich ausfüllen. So daß w i r sagen können, w i r bekommen negative W i r k u n g e n , aushöhlende W i r k u n g e n , s o w o h l v o n außen wie v o n innen u n d schieben fortwährend unsere Materie hinein. Das sind die intimsten W i r k u n g e n , diese aushöhlenden W i r kungen, die eigentlich i n uns das ganze Erdensein vernichten. D e n n indem w i r den Lichtstrahl empfangen, indem w i r den T o n hören, vernichten w i r unser Erdendasein. W i r reagieren aber darauf, w i r füllen das wiederum mit Erdendasein aus. W i r haben also ein L e b e n zwischen Vernichtung des Erdendaseins u n d A u s füllen des Erdendaseins: luziferisch, ahrimanisch. Das L u z i f e r i sche ist eigentlich fortwährend bestrebt, partiell aus uns ein Nichtmaterielles z u machen, uns ganz hinwegzuheben aus dem Erdendasein; L u z i f e r möchte nämlich, wenn er könnte, uns ganz vergeistigen, das heißt entmaterialisieren. A b e r A h r i m a n ist sein Gegner; der w i r k t so, daß fortwährend dasjenige, was L u z i f e r ausgräbt, wiederum ausgefüllt w i r d . A h r i m a n ist der fortwährende Ausfüller. Wenn Sie den Luzifer plastisch gestalten u n d den A h r i m a n plastisch machen, so könnten Sie ganz gut, w e n n die
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Materie durcheinander durchginge, A h r i m a n immer hineindrängen i n die Höhlung v o n L u z i f e r oder L u z i f e r drüberstülpen. A b e r da innen auch Höhlungen sind, muß man auch hineinstülpen. A h r i m a n u n d Luzifer, das sind die beiden entgegengesetzten Kräfte, die i m Menschen w i r k e n . E r selbst ist die Gleichgewichtslage. Luzifer, mit fortwährendem Entmaterialisieren, ergibt fortwährend Materialisieren: A h r i m a n . W e n n w i r wahrnehmen, das ist Luzifer. W e n n w i r über das Wahrgenommene denk e n : A h r i m a n . W e n n w i r die Idee bilden, dieses oder jenes sollen w i r w o l l e n : Luzifer. W e n n w i r w i r k l i c h w o l l e n auf der E r d e : A h r i m a n . So stehen w i r zwischen den beiden darinnen. W i r pendeln z w i s c h e n ihnen h i n u n d her, u n d w i r müssen uns schon klar sein: W i r s i n d als Menschen zwischen das Ahrimanische u n d das Luziferische i n der intimsten Weise hineingestellt. Eigentlich lernt man den Menschen n u r kennen, wenn man diese zwei entgegengesetzten Pole an i h m i n Betracht zieht. D a haben Sie eine Betrachtungsweise, welche durchaus weder *47
auf ein abstraktes Geistiges bloß geht - denn dieses abstrakte Geistige ist ja e i n nebulos Mystisches - , noch auf ein Materielles, sondern alles, was materielle W i r k u n g ist, ist z u gleicher Zeit geistig. W i r haben es überall mit Geistigem z u tun. U n d w i r durchschauen die Materie i n i h r e m Dasein, i n ihrer W i r k s a m keit, indem w i r überall den Geist hineinschauen können. Ich habe Ihnen gesagt: D i e Imagination k o m m t uns i n bezug auf die Gegenwart von selbst. W e n n w i r die Imagination künstl i c h ausbilden, so schauen w i r i n die Vergangenheit hinein. W e n n w i r die Inspiration ausbilden, schauen w i r i n die Z u k u n f t hinein, so wie m a n i n die Zukunft hinein rechnet, indem man etwa Sonnenfinsternisse oder Mondenfinsternisse berechnet, nicht i n bezug auf die Einzelheiten, aber auf die großen Gesetzmäßigkeiten der Z u k u n f t i n einem höheren Grade. U n d die Intuition faßt alle drei zusammen. U n d der Intuition sind w i r eigentlich fortwährend unterworfen, nur verschlafen w i r das. Wenn w i r schlafen, sind w i r mit unserem Ich u n d m i t unserem astralischen Leibe ganz i n der Außenwelt drinnen; w i r entfalten da jene intuitive Tätigkeit, die m a n sonst bewußt entfalten muß i n der Intuition. N u r ist der M e n s c h i n dieser gegenwärtigen Organisation z u schwach, u m dann bewußt z u sein, wenn er intuitiert; aber er intuitiert i n der Tat i n der N a c h t . So daß man sagen kann: Schlafend entwickelt der M e n s c h die Intuition, wachend entwickelt er
auf-u/ftchencf ////
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"Jntuilion ei'nschla(-««
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- bis z u einem gewissen Grade natürlich - das logische D e n k e n ; zwischen beiden steht Inspiration u n d Imagination. Indem der M e n s c h aus dem Schlafe herüberkommt ins wachende Leben, gehen sein Ich und sein astralischer L e i b i n den physischen L e i b u n d i n den Atherleib herein; dasjenige, was er sich da mitbringt, ist die Inspiration, auf die ich Sie schon i n den verflossenen V o r trägen aufmerksam gemacht habe. W i r können sagen: Schlafend ist der M e n s c h i n Intuition, wachend i m logischen D e n k e n , aufwachend inspiriert er sich, einschlafend imaginiert er. - Sie sehen daraus, daß diejenigen Tätigkeiten, die w i r anführen als die höheren Tätigkeiten der Erkenntnis, dem gewöhnlichen Leben nicht fremd sind, sondern daß sie durchaus i m gewöhnlichen L e ben vorhanden sind, daß sie nur ins Bewußtsein heraufgehoben werden müssen, wenn eine höhere Erkenntnis entwickelt werden soll. Worauf immer wieder hingewiesen werden muß, das ist, daß i n den letzten drei bis vier Jahrhunderten die äußere Wissenschaft eine große Summe von rein materiellen Tatsachen zusammengefaßt u n d i n Gesetze gebracht hat. Diese Tatsachen müssen erst wiederum geistig durchdrungen werden. A b e r es ist gut w e n n ich so sagen darf, o b w o h l es zunächst paradox klingt-, daß der Materialismus da war, sonst wären die Menschen i n die N e bulosität herein verfallen. Sie hätten zuletzt überhaupt allen Z u sammenhang mit dem Erdendasein verloren. A l s i m 15. Jahrhundert der Materialismus begann, war nämlich die Menschheit i m hohen Grade daran, luziferischen Einflüssen z u verfallen, nach u n d nach i m m e r mehr u n d mehr ausgehöhlt z u werden. D a kamen eben die ahrimanischen Einflüsse seit jener Zeit. U n d i n den letzten vier, fünf Jahrhunderten haben sich die ahrimanischen Einflüsse bis z u einer gewissen H ö h e entwickelt. Heute sind sie sehr stark geworden, u n d es ist die Gefahr vorhanden, daß sie über ihr Z i e l hinausschießen, wenn w i r ihnen nicht entgegenhalten dasjenige, was sie gewissermaßen erlahmen macht: w e n n w i r ihnen nicht das Geistige entgegenhalten. A b e r da handelt es sich darum, daß man gerade für das Verhältnis des Geistigen z u m Materiellen das richtige Gefühl entwickelt. Es gibt i n der älteren deutschen Denkweise ein Gedicht,
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das man «Muspilli» genannt hat, das sich zuerst i n einem Buche gefunden hat, das L u d w i g dem Deutschen i m 9. Jahrhundert gewidmet war, das aber natürlich aus v i e l früherer Z e i t stammt. In diesem G e d i c h t liegt etwas rein C h r i s d i c h e s vor: es w i r d uns der K a m p f des Elias mit dem Antichrist vorgeführt. A b e r die ganze A r t u n d Weise, wie diese Erzählung verläuft, dieser K a m p f des Elias mit dem Antichrist, erinnert an die alten Kämpfe der Sagen der Bewohner v o n A s g a r d m i t den B e w o h n e r n v o n Jötunheim, den B e w o h n e r n des Riesenreiches. E s ist einfach das R e i c h der A s e n i n das R e i c h des Elias verwandelt w o r d e n , das R e i c h der Riesen i n das R e i c h des Antichrist. Diese Denkweise, die uns da n o c h entgegentritt, die verhüllt die wahre Tatsache weniger als die späteren Denkweisen. D i e späteren D e n k w e i s e n , die reden eigentlich immer v o n einer D u a lität, v o n dem G u t e n u n d Bösen, v o n G o t t und dem Teufel u n d so weiter. A b e r diese Denkweisen, die man i n der späteren Zeit ausgebildet hat, stimmen nicht mehr z u den früheren. Jene M e n schen, die den K a m p f ausgebildet haben zwischen dem Götterheim u n d dem Riesenheim, die haben i n den Göttern nicht dasselbe gesehen, w i e es etwa der heutige C h r i s t unter dem Reiche seines Gottes versteht, sondern diese älteren Vorstellungen haben z u m Beispiel oben Asgard, das R e i c h der Götter gehabt, u n d unten Jötunheim, das R e i c h der Riesen; i n der M i t t e entfaltet sich der M e n s c h , M i d g a r d . Das ist nichts anderes als i n germanisch-europäischer A r t dasselbe, was i m alten Persien als O r m u z d u n d A h r i m a n vorhanden war. D a müßten w i r n u n i n unserer Sprache sagen: L u z i f e r u n d A h r i m a n . W i r müßten O r m u z d als L u z i f e r ansprechen u n d nicht etwa bloß als den guten G o t t . U n d das ist der große Irrtum, der begangen w i r d , daß man diesen Asqcird Lviifer
-
Ürrnuzd
0\m 17 beir*i
Ahr i m a n 250
Dualismus so faßt, als w e n n O r m u z d n u r der gute G o t t wäre u n d sein Gegner A h r i m a n der böse G o t t . Das Verhältnis ist vielmehr das wie v o n Luzifer z u A h r i m a n . U n d i n Mitteigard, da w i r d i n der Zeit, i n der dieses Gedicht «Muspilli» abgefaßt ist, noch ganz richtig nicht vorgestellt: D e r Christus läßt oben sein B l u t herunterstrahlen-, sondern: Elias ist da, der sein B l u t herunterstrahlen läßt. - U n d der M e n s c h w i r d i n die M i t t e hineingestellt. D i e Vorstlllung war i n der Zeit, i n der wahrscheinlich L u d w i g der Deutsche dieses Gedicht i n sein B u c h hineingeschrieben hat, n o c h eine richtigere als die spätere. D e n n die spätere Zeit hat das Sonderbare begangen, die Trinität außer acht z u lassen; das heißt, die oberen Götter, die i n A s g a r d sind, u n d die unteren Götter, die Riesengötter, die i m ahrimanischen R e i c h sind, diese als das A l l aufzufassen, u n d zwar die oberen, die luziferischen, als die guten Götter u n d die andern als die bösen Götter. Das hat die spätere Zeit gemacht; die frühere Zeit hat n o c h diesen Gegensatz zwischen L u z i f e r u n d A h r i m a n richtig ins Auge gefaßt, u n d daher so etwas wie den Elias i n das luziferische R e i c h hineingestellt mit seiner emotionellen Prophetie, mit demjenigen, was er dazumal verkündigen konnte, weil man den Christus hineinstellen wollte i n Mitteigard, i n dasjenige, was i n der M i t t e liegt. W i r müssen w i e d e r u m zurück z u diesen Vorstellungen i n v o l lem Bewußtsein, sonst werden wir, w e n n w i r nur v o n der D u a l i tät zwischen G o t t u n d dem Teufel sprechen, nicht wiederum z u der Trinität k o m m e n : z u den liziferischen Göttern, z u den ahrimanischen Mächten u n d dazwischen z u dem, was das ChristusR e i c h ist. O h n e daß w i r dazu vorrücken, k o m m e n w i r nicht z u einem w i r k l i c h e n Verständnis der Welt. D e n k e n Sie, es ist darin ein ungeheures Geheimnis der geschichtlichen E n t w i c k e l u n g der europäischen Menschheit, daß der alte O r m u z d z u dem guten G o t t gemacht w o r d e n ist, während er eigentlich eine luziferische M a c h t ist, eine Lichtmacht. D a d u r c h allerdings hat man die G e nugtuung haben können, daß man wiederum den L u z i f e r so schlecht wie möglich machen konnte; w e i l einem der L u z i f e r name nicht gepaßt hat für den O r m u z d , hat man den L u z i f e r auf den A h r i m a n hingeleitet, hat einen Mischmasch gemacht, der n o c h bei Goethe i n seiner Mephistophelesfigur nachwirkt, i n -
dem sich da ja auch L u z i f e r u n d A h r i m a n miteinander vermischen, w i e ich ausdrücklich i n meinem Büchelchen «Goethes Geistesart» gezeigt habe. Es ist i n der Tat die europäische Menschheit, die Menschheit der gegenwärtigen Z i v i l i s a t i o n in eine große V e r w i r r u n g hineingekommen, u n d diese Verwirrung geht schließlich d u r c h alles D e n k e n . Sie w i r d nur wettgemacht dadurch, daß m a n aus der Dualität wieder i n die Trinität hineinführt, denn alles D u a l e führt zuletzt i n etwas, i n dem der Mensch nicht leben kann, das er als eine Polarität anschauen muß, i n der er den A u s g l e i c h n u n w i r k l i c h finden k a n n : C h r i s t u s ist da z u m Ausgleich des Luzifers u n d A h r i m a n , z u m A u s g l e i c h v o n O r m u z d u n d A h r i m a n u n d so weiter. Das ist das T h e m a , das i c h einmal anschlagen wollte u n d das w i r dann i n den nächsten Tagen i n verschiedenen Verzweigungen weiterführen w o l l e n .
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Grundlinien einer okkulten Psychologie
W i r w o l l e n i n den Betrachtungen etwas fortfahren, die w i r letzten Freitag u n d Sonnabend hier gepflogen haben, u n d ich möchte heute i m besonderen Ihren B l i c k wenden auf eine B e trachtung des seelischen Lebens, wie sie sich ergibt, wenn man dieses seelische Leben ins A u g e faßt v o n dem Gesichtspunkte der imaginativen Erkenntnis aus, den Sie ja kennen aus meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Sie wissen, w i r unterscheiden, aufsteigend v o n unserem gewöhnlichen Bewußtsein aus, vier Erkenntnisstufen: diejenige E r k e n n t nisstufe, die uns eignet i m heutigen gewöhnlichen Leben u n d i n der heutigen gewöhnlichen Wissenschaft, jene Erkenntnistufe, die das eigentliche Zeitbewußtsein ausmacht u n d die ja genannt w i r d i m Sinne dieser Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» das gegenständliche Erkennen, u n d dann k o m m t man hinein i n das Gebiet des Übersinnlichen durch die Erkenntnisstufen der Imagination, der Inspiration, der Intuit i o n . I m gewöhnlichen gegenständlichen Erkennen ist es u n möglich, das Seelische z u betrachten. Das Seelische w i r d erlebt, u n d indem man es erlebt, entwickelt man die gegenständliche Erkenntnis. A b e r eine eigentliche Erkenntnis kann ja nur gew o n n e n werden, wenn man das z u Erkennende objektiv vor sich hinstellen kann. Das kann man i m gewöhnlichen Bewußtsein mit dem seelischen Leben nicht. M a n muß sich gewissermaßen u m eine Stufe hinter das seelische Leben zurückziehen, damit es außerhalb v o n uns z u stehen k o m m t ; dann kann man es betrachten. Das aber ergibt sich eben durch die imaginative Erkenntnis. U n d zwar möchte ich Ihnen heute einfach schildern, was sich da für die Betrachtung herausstellt. 64
Sie wissen, w i r unterscheiden, indem w i r den Menschen überblicken, den physischen L e i b , den ätherischen oder Bildekräfteleib, der eigentlich eine Summe von Tätigkeiten ist, den astrali-
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sehen L e i b u n d das Ich zunächst, wenn w i r bei dem stehenbleiben, was i m gegenwärtigen Menschen west. W e n n w i r n u n das seelische E r l e b e n heraufbringen nicht z u r Erkenntnis, aber z u m Bewußtsein, so unterscheiden w i r es ja, indem w i r es gewissermaßen i m fluktuierenden Leben erfassen, i n D e n k e n , i n Fühlen, i n Wollen. E s ist das schon so, daß D e n k e n , Fühlen u n d W o l l e n i m gewöhnlichen Seelenleben ineinanderspielen. Sie können sich keinen G e d a n k e n verlauf vorstellen, ohne daß Sie sich das H i n e i n spielen des W i l l e n s i n den Gedankenverlauf mit vorstellen. W i e w i r einen G e d a n k e n z u dem anderen hinzufügen, wie w i r einen Gedanken v o n d e m anderen trennen, das ist durchaus eine i n das Denkleben hineinstrebende Willenstätigkeit. U n d wiederum, wenn auch zunächst, wie ich oftmals auseinandergesetzt habe, der Vorgang dunkel bleibt: w i r wissen d o c h , daß, wenn w i r als M e n schen w o l l e n d sind, i n unser W o l l e n als Impulse unsere Gedanken hineinspielen, so daß w i r auch i m gewöhnlichen Seelenleben durchaus nicht ein W o l l e n abgesondert für sich haben, sondern ein gedankendurchsetztes W o l l e n . U n d erst recht fluten ineinander Gedanken, Willensimpulse u n d die eigentlichen Gefühle i m Fühlen. W i r haben also durchaus das Seelenleben als ineinanderflutend, aber d o c h so, daß w i r gedrängt sind durch Dinge, die w i r heute immer außer acht lassen w o l l e n , innerhalb dieses flutenden Seelenlebens z u unterscheiden D e n k e n , Fühlen, W o l l e n . W e n n Sie meine «Philosophie der Freiheit» i n die H a n d nehmen, werden Sie sehen, wie man genötigt ist, das D e n k e n reinlich loszulösen v o m Fühlen und W o l l e n , aus dem G r u n d e , weil man nur durch eine Betrachtung des losgelösten Denkens z u einer Anschauung über die menschliche Freiheit k o m m t . A l s o indem w i r einfach, i c h möchte sagen, lebendig erfassen D e n k e n , Fühlen, Wollen, erfassen w i r zugleich das flutende, das webende Seelenleben. U n d w e n n w i r das dann, was w i r da i n unmittelbarer Lebendigkeit erfassen, zusammenhalten mit demjenigen, was uns anthroposophische Geisteswissenschaft erkennen lehrt über den Zusammenhang der einzelnen Glieder des Menschen, physischer L e i b , Ätherleib, astralischer Leib u n d Ich, dann ergibt sich ebenfür einimaginatives Erkennen das Folgende. W i r wissen ja, daß w i r während des wachen Lebens, v o m A u f 2
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wachen bis z u m Einschlafen, i n einem gewissen innigen Zusammenhange haben physischen L e i b , Atherleib, astralischen L e i b u n d Ich. W i r wissen ferner, daß w i r i m schlafenden Zustande getrennt haben physischen Leib u n d Atherleib auf der einen Seite, astralischen Leib u n d Ich auf der anderen Seite. W e n n auch die Ausdrucksweise durchaus nur approximativ richtig ist, daß man sagt: Ich u n d astralischer L e i b trennen sich v o m physischen Leibe u n d Atherleibe - man k o m m t zunächst z u einer durchaus gültigen Vorstellung, w e n n man eben diese Ausdrucksweise gebraucht. Das Ich mit dem astralischen Leibe ist v o m Einschlafen bis z u m Aufwachen außer dem physischen Leibe u n d dem Atherleibe. Sobald der M e n s c h n u n z u m imaginativen Erkennen vorrückt, w i r d er immer mehr u n d mehr i n die Lage versetzt, genau ins Seelenauge, ins innere Anschauen z u fassen, was sich erleben läßt, i c h möchte sagen, wie vorübergehend, i m Status nascendi. M a n hat es u n d muß es rasch erfassen, aber man kann es erfassen. M a n hat v o r sich, was i n dem M o m e n t e des Aufwachens u n d Einschlafens besonders scharf beobachtet werden kann. Diese M o m e n t e des Einschlafens u n d Aufwachens können beobachtet werden für ein imaginatives Erkennen. Sie wissen ja, daß unter den Vorbereitungen, welche notwendig sind, u m z u höheren E r kenntnissen z u k o m m e n , v o n m i r i n d e m v o r h i n angeführten Buche erwähnt w o r d e n ist die Heranerziehung einer gewissen Geistesgegenwart. D i e Menschen reden ja i m gewöhnlichen L e ben so wenig v o n den Beobachtungen, die sich von der geistigen Welt her machen lassen, w e i l ihnen diese Geistesgegenwart fehlt. Würde diese Geistesgegenwart i n ausgiebigerem Sinne bei den Menschen heranerzogen, so würden heute schon alle Menschen reden können v o n geistig-übersinnlichen Impressionen, denn sie drängen sich eigenthch i m eminentesten Maße auf beim E i n schlafen u n d A u f w a c h e n , insbesondere beim Aufwachen. N u r weil so wenig heranerzogen w i r d , was Geistesgegenwart ist, deshalb bemerken die M e n s c h e n das nicht. I m M o m e n t e des A u f wachens tritt ja v o r der Seele eine ganze Welt auf. A b e r i m E n t stehen vergeht sie schon wiederum, u n d ehe sich die Menschen darauf besinnen, sie z u erfassen, ist sie fort. Daher können sie so
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wenig reden v o n dieser ganzen Welt, die d a vor die Seele sich hinstellt u n d die wahrhaftig z u m Begreifen des inneren M e n schen v o n ganz besonderer Bedeutung ist. Was sich da vor die Seele hinstellt, w e n n man w i r k l i c h dazu k o m m t , i n Geistesgegenwart den Aufwachrnoment z u ergreifen, das ist eine ganze Welt v o n flutenden Gedanken. N i c h t s Phantastisches braucht dabeizusein. So wie man i m chemischen L a b o ratorium beobachtet, m i t derselben Seelenruhe u n d Besonnenheit kann man sie beobachten. U n d dennoch ist diese flutende Gedankenwelt, die sehr genau z u unterscheiden ist v o m bloßen Träumen, da. Das bloße Träumen spielt sich so ab, daß es erfüllt ist v o n Lebensreminiszenzen. Was sich da abspielt i m M o m e n t e des Aufwachens, das sind nicht Lebensreminiszenzen. Sie sind sehr gut z u unterscheiden v o n Lebensreminiszenzen, diese flutenden Gedanken. M a n kann sie sich i n die Sprache des gewöhnlichen Bewußtseins übersetzen, aber es sind i m G r u n d e genommen fremdartige Gedanken, Gedanken, die w i r sonst nicht erfahren können, w e n n w i r sie nicht i n dem M o m e n t e , der entweder durch geisteswissenschaftliche Schulung i n uns möglich gemacht ist, oder eben i n diesem M o m e n t e des Aufwachens erfassen. Was erfassen w i r da eigentlich? N u n , w i r sind mit unserem Ich u n d unserem astralischen Leibe eingedrungen i n den Ätherleib u n d i n den physischen Leib. Was i m Ätherleibe erlebt w i r d , w i r d allerdings so erlebt, daß es traumhaft ist. U n d man lernt, indem man dieses, wie i c h es angedeutet habe, subtil i n Geistesgegenwart beobachten lernt, man lernt w o h l unterscheiden dieses H i n d u r c h g e h e n durch den Ätherleib, i n dem die Lebensreminiszenzen traumhaft auftreten, u n d dann, vor dem vollen E r w a chen, v o r den Eindrücken, die die Sinne nun haben nach dem Erwachen, das Hineingestelltsein i n eine Welt, die durchaus eine Welt v o n webenden Gedanken ist, die aber nicht so erlebt w i r d wie die Traumgedanken, bei denen m a n genau weiß, man hat sie subjektiv i n sich. D i e Gedanken, die i c h jetzt meine, sie stellen sich wie ganz objektiv dar gegenüber d e m eindringenden Ich u n d astralischen Menschen, u n d man merkt ganz genau: man muß passieren den Ätherleib; denn solange man den Ätherleib pas-
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siert, bleibt alles traumhaft. M a n muß aber auch passieren den A b g r u n d , den Zwischenraum - möchte i c h sagen, wenn i c h m i c h recht uneigentlich, aber dadurch vielleicht deutlicher ausd r ü c k e - , den Z w i s c h e n r a u m zwischen Ätherleib u n d p h y s i schem Leib, u n d schlüpft dann i n das volle Ätherisch-Physische hinein, indem man aufwacht u n d die äußeren physischen E i n drücke der Sinne da sind. Sobald man i n den physischen L e i b hineingeschlüpft ist, sind eben die äußeren physischen Sinneseindrücke da. Was w i r da an Gedankenweben objektiver A r t erleben, spielt sich also durchaus zwischen dem Ätherleib u n d dem physischen Leib ab. W i r müssen i n i h m also sehen eine Wechselw i r k u n g des Ätherleibes u n d des physischen Leibes. So daß w i r sagen können, w e n n w i r schematisch zeichnen: W e n n etwa das den physischen L e i b darstellt (orange), das den Ätherleib (grün), so haben w i r das lebendige Weben v o n physischem L e i b u n d Ätherleib i n den G e d a n k e n , die w i r da erfassen, u n d man k o m m t dann auf dem Wege einer solchen Beobachtung z u der Erkenntnis, daß sich zwischen unserem physischen u n d unserem Ätherleib, gleichgültig ob w i r wachen, ob w i r schlafen, i m m e r z u V o r gänge abspielen, die eigentlich i m webenden Gedankensein bestehen, die webendes Gedankensein zwischen unserem p h y s i schen L e i b u n d unserem Ätherleib sind (gelb). So daß w i r jetzt
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das erste E l e m e n t des seelischen Lebens verobjektiviert erfaßt haben. W i r sehen i n i h m ein Weben zwischen dem Atherleib u n d dem physischen L e i b . Dieses webende Gedankenleben k o m m t eigentlich so, wie es ist, i m Wachzustände nicht z u unserem Bewußtsein. Es muß eben auf die A r t , wie i c h es geschildert habe, erfaßt werden. Wenn w i r nämlich aufgewacht sind, schlüpfen w i r mit unserem Ich u n d mit unserem astralischen Leib i n unseren physischen L e i b hinein. I c h u n d astralischer L e i b i n unserem mit dem Ätherleib durchdrungenen physischen L e i b nehmen teil an dem Sinneswahrnehmungsleben. Sie werden, indem Sie das Sinneswahrnehmungsleben i n sich haben, mit den äußeren Weltengedanken, die Sie sich bilden können an den Sinneswahrnehmungen, durchdrungen u n d haben dann die Stärke, dieses objektive G e dankenweben z u übertönen. A n der Stelle, w o sonst die objektiven G e d a n k e n weben, bilden w i r also gewissermaßen aus der Substanz dieses Gedankenwebens heraus unsere alltäglichen G e danken, die w i r uns i m Verkehre m i t der Sinneswelt auf die eben angedeutete Weise ausbilden. U n d i c h kann sagen: In dieses objektive Gedankenweben hinein spielt dasjenige, was n u n das subjektive Gedankenweben ist (hell), das das andere übertönt, das sich aber auch abspielt zwischen dem Ätherleib u n d dem physischen L e i b . W i r leben i n der Tat i n diesem - wie i c h schon sagte: uneigentlich, aber deshalb d o c h verständlich, muß i c h es als Zwischenraum zwischen Ätherleib u n d physischem L e i b bezeichnen - , w i r leben i n diesem Zwischenraum zwischen Ätherleib u n d physischem Leib, w e n n w i r mit der Seele selber G e d a n k e n weben. W i r übertönen die objektiven Gedanken, die i m schlafenden u n d wachenden Zustand immer vorhanden sind, mit unserem subjektiven Gedanken weben. A b e r gewissermaßen i n derselben R e g i o n unseres menschlichen Wesens ist beides vorhanden: das objektive Gedankenweben u n d das subjektive Gedankenweben. Was hat das objektive Gedankenweben für eine Bedeutung? Das objektive Gedankenweben, w e n n es wahrgenommen w i r d , w e n n w i r k l i c h eintritt, was i c h geschildert habe als das geistesgegenwärtige Ergreifen des Momentes des Aufwachens, dieses ob-
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jektive Gedankenweben w i r d nicht als bloß Gedankliches erfaßt, sondern es wird erfaßt als dasjenige, was i n uns lebt als die Kräfte des Wachstums, als die Kräfte des Lebens überhaupt. Diese Kräfte des Lebens sind verbunden mit dem G e dankenweben. Sie durchsetzen dann den Äther- oder Lebensleib nach innen; sie konfigurieren nach außen den physischen L e i b . W i r nehmen das, was w i r als objektives Gedankenweben da wahrnehmen i m geistesgegenwärtigen Erfassen des A u f wachmomentes, durchaus wahr als Gedankenweben nach der einen Seite u n d als Wachstums-, als Ernährungstätigkeit auf der anderen Seite. Was i n dieser A r t i n uns ist, w i r nehmen es als ein innerliches Weben wahr, das aber durchaus ein Lebendiges darstellt. Das D e n k e n verliert gewissermaßen seine B i l d haftigkeit u n d Abstraktheit. Es verliert auch alles das, was scharfe K o n t u r e n sind. Es w i r d fluktuierendes D e n k e n , aber es ist deutlich als D e n k e n z u erkennen. Das Weltendenken webt i n uns, u n d w i r erfahren, wie das Weltendenken i n uns webt u n d wie w i r mit unserem subjektiven D e n k e n untertauchen i n dieses Weltendenken. So haben w i r das Seehsche i n einem gewissen Gebiete erfaßt. Gehen w i r jetzt weiter i m geistesgegenwärtigen Erfassen des Aufwachmomentes, so finden w i r das Folgende. W i r können, w e n n w i r i n der Lage sind, Traumhaftes z u erleben beim Passieren des Ätherleibes, w e n n w i r also mit dem Ich u n d dem astralischen Leibe den Ätherleib passieren, w i r können dann bildhaft das Traumhafte uns vergegenwärtigen. D i e Bilder des Traumes müssen aufhören i n dem Augenblicke, w o w i r aufwachen, sonst würden w i r den T r a u m i n das gewöhnliche bewußte W a c h erleben hineinnehmen u n d wachende Träumer sein, w o d u r c h w i r ja die Besonnenheit verlieren würden. D i e Träume als solche müssen aufhören. A b e r wer mit Bewußtsein die Träume erlebt, wer also jene Geistesgegenwart bis zurück z u m Erleben der Träume hat — denn das gewöhnliche Erleben der Träume ist ein Reminiszenzerleben, ist eigenthch ein N a c h h e r - E r i n n e r n an die Träume; denn das ist ja das gewöhnliche Gewahrwerden des Traumes, daß man i h n eigentlich erst wie eine Reminiszenz erfaßt, wenn er abgelaufen ist —, also w e n n der T r a u m erlebt w i r d
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beim D u r c h f l u t e n des Ätherleibes, nicht erst nachher i m E r i n nern, w o er i n Kürze erfaßt werden kann, w i e er gewöhnlich erfaßt w i r d , w e n n man i h n also erfaßt während er ist, also gerade beim D u r c h d r i n g e n d u r c h den Ätherleib, d a n n erweist er sich wie etwas Regsames, wie etwas, das man so erlebt wie Wesenhaftes, i n dem man sich fühlt. Das Bildhafte hört auf, bloß Bildhaftes z u sein. M a n b e k o m m t das Erlebnis, daß m a n i m Bilde d r i n nen ist. D a d u r c h aber, daß man dieses Erlebnis bekommt, daß man i m Bilde drinnen ist, daß man also mit dem Seelischen sich regt, wie man sonst i m wachen L e b e n mit d e m Körperlichen i n der Beinbewegung, i n der Handbewegung sich regt - so w i r d nämlich der T r a u m : er w i r d aktiv, er w i r d so, daß man i h n erlebt, wie man eben A r m - u n d Beinbewegungen oder Kopfbewegungen u n d dergleichen erlebt - , wenn man das erlebt, w e n n man dieses Erfassen des Traumhaften wie etwas Wesenhaftes erlebt, dann schließt sich gerade beim weiteren Fortgang, beim A u f w a chen, an dieses Erlebnis ein weiteres an: daß diese Regsamkeit, die man da i m Traume erlebt, i n der man nunmehr drinnensteht als i n etwas Gegenwärtigem, daß diese untertaucht i n unsere Leiblichkeit. Geradeso wie w i r beim D e n k e n fühlen: W i r d r i n gen bis z u der G r e n z e unseres physischen Leibes, w o die Sinnesorgane sind, u n d nehmen die Sinneseindrücke auf mit dem D e n ken, so fühlen wir, wie w i r i n uns untertauchen mit demjenigen, was i m Traume als innerliche Regsamkeit erlebt w i r d . Was man da erlebt i m M o m e n t e des Aufwachens - oder eigentlich vor dem M o m e n t e des Aufwachens, w e n n man i m Traume drinnen ist, w e n n man durchaus noch außer seinem physischen Leibe, aber schon i m Ätherleib ist, beziehungsweise gerade hineingeht i n seinen Ätherleib - , das taucht unter i n unsere Organisation. U n d ist man so weit, daß man dieses Untertauchen als Erlebnis vor sich hat, dann weiß man auch, was n u n w i r d mit dem Untergetauchten: das Untergetauchte strahlt wieder zurück i n unser w a ches Bewußtsein, u n d zwar strahlt es zurück als Gefühl, als Fühlen. D i e Gefühle sind in unsere Organisation untergetauchte Träume. Wenn w i r das, was webend ist i n der Außenwelt, i n diesem traumwebhaften Zustande wahrnehmen, sind es Träume. W e n n
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die Träume untertauchen i n unsere Organisation u n d v o n innen heraus bewußt werden, erleben w i r sie als Gefühle. W i r erleben also die Gefühle dadurch, daß dasjenige i n uns, was i n unserem astralischen L e i b ist, untertaucht i n unseren Atherleib u n d dann weiter i n unsere physische Organisation, nicht bis z u den Sinnen h i n , nicht also bis z u der Peripherie der Organisation, sondern nur i n die innere Organisation hinein. D a n n , wenn man dies erfaßt hat, zunächst d u r c h imaginative Erkenntnis besonders deutlich erschaut hat i m M o m e n t e des Aufwachens, dann b e k o m m t man auch die innere Kraft, es fortwährend z u schauen. W i r träumen nämlich während des wachen Lebens fortwährend. W i r überleuchten n u r das Träumen mit unserem denkenden Bewußtsein, mit dem Vorstellungsleben. Wer unter die Oberfläche des Vorstellungslebens blicken kann - u n d man schult sich z u diesem B l i c k e n dadurch, daß man eben geistesgegenwärtig erfaßt den M o m e n t des Träumens selber - , wer sich so geschult hat, daß er das beim Aufwachen erfassen kann, was i c h bezeichnet habe, der kann dann auch unter der Oberfläche des lichtvollen Vorstellungslebens das den ganzen Tag hindurch dauernde Träumen erleben, das aber nicht als Träumen erlebt w i r d , sondern das immer sofort untertaucht i n unsere Organisation u n d als Gefühlswelt zurückstrahlt. U n d er weiß dann: Was das Fühlen ist, es spielt sich ab zwischen dem astralischen L e i b , den i c h hier schematisch so zeichne (siehe Z e i c h n u n g Seite 257, hell), u n d dem Ätherleib. Es drückt sich natürlich i m physischen L e i b aus. So daß der eigentliche U r s p r u n g des Fühlens zwischen dem astralischen L e i b u n d dem Ätherleib liegt (rot). So wie der physische Leib u n d der Ätherleib i n lebendiger Wechselwirkung ineinanderwirken müssen z u m Gedankenleben, so müssen ätherischer Leib u n d astralischer L e i b i n lebendiger Wechselwirkung sein z u m Gefühlsleben. W e n n w i r wachend sind, erleben w i r dieses lebendige Wechselspiel unseres ineinandergedrängten Ätherleibes u n d astralischen Leibes als unser Fühlen. W e n n w i r schlafen, erleben wir, was der nunmehr außen lebende astralische L e i b i n der äußeren Ätherwelt erlebt, als die Bilder des Traumes, die n u n während des ganzen Schlafens vorhanden sind, aber eben nicht wahrgenommen werden i m gewöhnlichen Bewußtsein, sondern nur
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eben reminiszenzenhaft i n jenen Fragmenten, die das gewöhnliche Traumleben bilden. Sie sehen daraus, daß wir, w e n n w i r das Seelenleben erfassen wollen, n o c h zwischen die Glieder der menschlichen Organisation hineinblicken müssen. W i r denken uns das Seelenleben als flutendes D e n k e n , Fühlen, W o l l e n . V o n letzterem w o l l e n w i r gleich sprechen. A b e r w i r erfassen es objektiv, indem w i r gewissermaßen i n die Zwischenräume zwischen diese vier Glieder h i n einschauen, zwischen den physischen L e i b u n d Ätherleib, u n d Ätherleib u n d astralischen L e i b . Was sich i m W o l l e n ausdrückt, das entzieht sich ja, wie ich öfters v o n anderen Gesichtspunkten aus hier ausgeführt habe, durchaus der Betrachtung des gewöhnlichen Wachlebens, des gewöhnlichen Bewußtseins. I n diesem gewöhnlichen Bewußtsein sind vorhanden die Vorstellungen, nach denen w i r unser Wollen orientieren, die Gefühle, die w i r entwickeln i n A n l e h nung an die Vorstellungen als M o t i v e für unser W o l l e n ; aber wie das, was da als der Vorstellungsinhalt unseres Wollens klar i n unserem Bewußtsein liegt, hinunterspielt, wenn ich nur die A r m e bewege z u m W o l l e n , was da eigentlich vorgeht, das w i r d uns i m gewöhnlichen Bewußtsein nicht gegeben. In dem A u g e n blicke, w o der Geistesforscher die Imagination i n sich heranzieht und dazu k o m m t , die N a t u r des Denkens, des Fühlens so anzusehen, wie i c h gesagt habe, dann kann er auch dahin gelangen, als etwas i n das Bewußtsein Hereinfallendes die menschlichen E r lebnisse z u haben, die zwischen dem Einschlafen u n d dem A u f wachen sich abspielen. D e n n i n den Übungen zur Imagination werden Ich u n d astralischer L e i b erkraftet. Sie werden i n sich stärker, sie lernen sich erleben. I m gewöhnlichen Bewußtsein hat man eben nicht das wirkliche Ich. W i e hat man das Ich i m gewöhnlichen Bewußtsein? Sehen Sie, immer wiederum muß i c h diesen Vergleich machen: W e n n man das Leben i n der E r i n n e rung zurück anschaut, so stellt es sich scheinbar als eine geschlossene Strömung dar. D i e ist es aber doch nicht, sondern w i r müßten eigentlich, indem w i r jetzt leben, den heutigen Tag überblicken bis z u m Aufwachen, haben dann eine leere Stelle, daran schließt sich der Bewußtseinsinhalt des gestrigen Tages u n d so
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weiter fort. Was w i r da i n der Rückerinnerung beobachten, das trägt allerdings i n sich auch diejenigen Zustände, die w i r nicht bewußt durchlebt haben, die also i n dem präsenten Inhalt des Bewußtseins nicht drinnen sind. A b e r sie sind auf andere A r t drinnen. E i n M e n s c h , der gar nicht schlafen würde - wenn ich das hypothetisch anführen darf - , der würde eine ganz zerstörte Rückerinnerung haben. D i e Rückerinnerung würde i h n gewissermaßen blenden. E r würde alles das, was er i n der Rückerinnerung v o r sein Bewußtsein hinstellt, als etwas i h m ganz Fremdes, blendend Glänzendes erleben. E r würde überwältigt sein davon, u n d er würde sich vollständig ausschalten müssen. E r käme gar nicht dazu, sich selber i n sich z u erfühlen. N u r dadurch, daß sich die Schlafzustände hineinstellen i n die Rückerinnerung, w i r d die Rückerinnerung abgeblendet. W i r sind i n der Lage, sie auszuhalten. D e n n dadurch w i r d es möglich, daß w i r uns selbst behaupten gegenüber unserer Erinnerung. Lediglich dem Umstände, daß w i r schlafen, haben w i r unsere Selbstbehauptung i n der E r i n n e r u n g z u verdanken. Was ich jetzt sage, könnte schon d u r c h empirische Beobachtung der menschlichen Lebensläufe i n vergleichender Weise gut konstatiert werden. A b e r geradeso wie w i r da die innere Aktivität erfühlen i n der Rückerinnerung, so erfühlen w i r ja eigentlich unser Ich aus unserem gesamten Organismus heraus. W i r erfühlen es so, w i e w i r die Schlafzustände als, i c h möchte sagen, die finsteren Räume i m Erinnerungsfortgang wahrnehmen. W i r nehmen das Ich nicht direkt wahr für das gewöhnliche Bewußtsein, sondern w i r nehmen es n u r wahr, wie w i r die Schlafzustände wahrnehmen. A b e r indem w i r das imaginative Bewußtsein erwerben, tritt dieses Ich w i r k l i c h auf, u n d es ist willensartiger N a t u r . U n d w i r merken: Was i n uns ein Gefühl, das i n sich schheßt, mit der Welt sympathisch oder antipatisch z u fühlen, was das i n uns aktiviert z u m W o l l e n , das spielt sich i n einem ähnlichen Prozesse ab, wie er sich abspielt zwischen dem Wachen u n d dem H i n e i n k o m m e n i n das Schlafen. M a n kann das wiederum geistesgegenwärtig beobachten, w e n n man ebenso w i e für das Aufwachen für das E i n schlafen dieselben Eigenschaften entwickelt, v o n denen ich gesprochen habe. D a merkt man beim Einschlafen, daß man h i n -
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einträgt i n den Schlafzustand, was ausstrahlt, als Aktivität ausstrahlt aus unserem Gefühlsleben, u n d was hineinstrahlt i n die Außenwelt, u n d man lernt dann erkennen, wie man jedesmal, w e n n man sich w i r k l i c h willensmäßig entwickelt, untertaucht jetzt i n einen ähnlichen Zustand, wie man untertaucht i n den Schlafzustand. I n ein inneres Schlafen taucht man ein. Was einmal vorgeht b e i m Einschlafen, w o dann das Ich mit dem astralischen L e i b herausrückt aus physischem L e i b u n d Ätherleib, das tritt jedesmal i n n e r l i c h ein beim W o l l e n . Natürlich müssen Sie sich darüber klar sein, daß das, was ich Ihnen da schildere, viel schwieriger z u ergreifen ist als das, was ich v o r h i n geschildert habe, denn der M o m e n t des Einschlafens ist eben geistesgegenwärtig meistens noch schwieriger z u erfassen als der des Aufwachens. N a c h dem Aufwachen sind w i r wach; da haben w i r wenigstens die A n l e h n u n g an die Reminiszenzen. B e i m Einschlafen müssen w i r den Wachzustand n o c h i n das Schlafen hinein fortsetzen, w e n n w i r z u einer Beobachtung k o m m e n w o l l e n . A b e r der M e n s c h schläft eben meistens ein; er sendet nicht hinein i n das Einschlafen die Aktivität des Fühlens. K a n n er sie aber da hinein fortsetzen, was eben durch Schulung i n imaginativer Erkenntnis geschieht, dann merkt er, daß tatsächlich i m W o l l e n ein Untertauchen i n dasselbe Element ist, i n das w i r untertauchen, wenn w i r einschlafen. W i r werden tatsächlich i m W o l l e n v o n unserer Organisation frei. W i r verbinden uns mit der realen Objektivität. So wie w i r beim Aufwachen durch unseren Ätherleib einziehen, durch unseren physischen Leib u n d bis i n die Sinnesregion, also bis an die Peripherie des Leibes k o m m e n , gewissermaßen v o n dem ganzen Leib Besitz ergreifen, den ganzen L e i b durchtränken, so senden w i r wiederum i m Fühlen i n den L e i b zurück, indem w i r innerlich untertauchen, unsere Träume; sie werden eben Gefühle. A b e r wenn w i r jetzt nicht i m Leibe bleiben, sondern, ohne daß w i r an die Peripherie des Leibes gehen, innerlich geistig aus dem Leibe herausgehen, dann kommen w i r z u m W o l l e n . So daß sich das W o l len tatsächlich eigentlich unabhängig v o m Leibe vollzieht. Ich weiß, daß damit viel gesagt w i r d , aber ich muß das auch darstellen, weil es eine Realität ist. U n d i n dem Erfassen dessen k o m -
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men w i r dazu, nun einzusehen, daß - w e n n w i r nun hier das Ich haben (siehe Zeichnung Seite 257, blau) - das Wollen sich abspielt zwischen dem astralischen Leib u n d dem Ich (lila). W i r können also sagen: W i r gliedern den Menschen i n physischen L e i b , i n Atherleib oder Bildekräfteleib, i n astralischen L e i b u n d i n Ich. Zwischen dem physischen L e i b u n d dem Ätherleib spielt sich seelisch das D e n k e n ab. Zwischen dem Ätherleib und dem astralischen L e i b spielt sich seelisch das Fühlen ab. Zwischen dem astralischen L e i b u n d dem Ich spielt sich seelisch das W o l l e n ab. Indem w i r an die Peripherie des physischen L e i bes k o m m e n , haben w i r die Sinneswahrnehmung. Indem w i r auf dem Wege durch unser Ich herauskommen aus uns, unsere ganze Organisation i n die Außenwelt hineinstellen, w i r d das W o l l e n z u r H a n d l u n g , dem anderen P o l der Sinneswahrnehmung (siehe Z e i c h n u n g Seite 257). A u f diese Weise gelangt man z u einem objektiven Erfassen dessen, was subjektiv i m flutenden D e n k e n , Fühlen u n d W o l l e n erlebt w i r d . So verwandelt sich das Erleben i n das Erkennen. A l l e Psychologie, welche das flutende D e n k e n , Fühlen u n d W o l len sonst auf eine andere Weise erfassen w i l l , bleibt formal, w e i l sie nicht an die Realität herandringt. A n die Realität kann für das seehsche Erleben nur die imaginative Erkenntnis herandringen. Fassen w i r jetzt einmal ins Auge, was sich uns gewissermaßen wie eine Begleiterscheinung unserer ganzen Betrachtungen ergeben hat. W i r sagten: M a n kann durch geistesgegenwärtige Betrachtung i m M o m e n t des Aufwachens, wenn man durchgeschlüpft ist durch den Ätherleib, Gedankenweben, das objektiver A r t ist, sehen. M a n n i m m t dieses objektive Gedankenweben zunächst wahr. Ich sagte, man kann es v o n den Träumen u n d auch v o m alltäglichen Gedankenleben, v o m subjektiven Gedankenleben ganz gut unterscheiden, denn es ist verbunden mit dem Wachstum, mit dem Werden. Es ist eigentlich eine reale O r g a n i sation. Faßt man es aber auf, was da webt, was man, wenn man es durchschaut, als Gedankenweben w a h r n i m m t , wenn man es, ich möchte sagen, anfühlt, innerlich antastet, so nimmt man es als Wachstumskraft, als Ernährungskraft u n d so weiter, als den wer-
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denden Menschen wahr. E s ist etwas, was zunächst fremd ist, aber Gedankenwelt ist. W e n n man es n u r genauer studieren kann, so ist es ja das innerliche Weben v o n Gedanken an uns selbst. W i r erfassen es an der Peripherie unseres physischen L e i bes; bevor w i r an das Sinneswahrnehmen herankommen, erfassen w i r es. W e n n w i r es genauer verstehen lernen, w e n n w i r uns i n seine Fremdheit gegenüber unserem subjektiven D e n k e n einleben, dann erkennen w i r es, dann erkennen w i r es als das, was w i r mitgebracht haben d u r c h unsere G e b u r t aus früheren E r l e b nissen, aus vorgeburtlichen respektive vor der K o n z e p t i o n liegenden Erlebnissen. U n d es w i r d für uns etwas objektiv Gegenständliches das Geistige, das unseren ganzen Organismus z u sammenbringt. D e r Präexistenzgedanke gewinnt Objektivität, w i r d z u m objektiven Anschauen. W i r können mit innerem E r fassen sagen: W i r sind aus der Welt des Geistes heraus durch Gedanken gewoben. D i e subjektiven Gedanken, die w i r dazufügen, sie stehen i m Bereiche unserer Freiheit. Diejenigen Gedanken, die w i r da erblicken, sie bilden uns, sie bauen unseren Leib aus dem Gedankenweben heraus auf. Sie sind unser vergangenes K a r m a (siehe Zeichnung Seite 268). A l s o : E h e w i r an die Sinneswahrnehmungen herankommen, nehmen w i r unser vergangenes K a r m a wahr. U n d w e n n w i r einschlafen, so hat dieses Einschlafen für denjenigen, der i n objektiver Erkenntnis lebt, etwas Ähnliches mit dem W o l l e n . W e n n das W o l l e n z u r vollständigen Bewußtheit gebracht w i r d , merkt man ganz deutlich: M a n schläft i n den eigenen Organismus hinein. So wie sonst die Träume hinuntergehen, gehen i n unsere Organisation die Wollensmotive hinein. M a n schläft i n den Organismus hinein. M a n lernt unterscheiden dieses Hineinschlafen i n den Organismus, das sich zunächst auslebt i n unseren gewöhnlichen Handlungen - die sind eben äußerlich sich vollziehend, w i r vollziehen sie zwischen dem Aufwachen u n d Einschlafen - ; aber nicht alles das, was i n unserem Gefühlsleben drinnen lebt, lebt sich i n diese Handlungen hinein. W i r vollbringen ja auch das Leben zwischen dem Einschlafen u n d Aufwachen. U n d was w i r sonst i n die Handlungen hineindrängen würden, drängen w i r ja aus uns durch denselben Vorgang i m
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Einschlafen hinaus. Eine ganze Summe v o n Willensimpulsen drängen w i r hinaus i n die rein geistige Welt, i n der w i r uns befinden zwischen dem Einschlafen u n d Aufwachen. W i l l e n s i m pulse, die i n unser geistiges Sein übergehen, die w i r nur hegen zwischen dem Einschlafen u n d A u f w a c h e n : lernen w i r sie durch imaginative Erkenntnis beobachten, so nehmen w i r i n ihnen wahr, was an Handlungsorientierung vorhanden bleibt über den T o d hinaus, was mit uns geht über den T o d hinaus. Z w i s c h e n dem astralischen L e i b u n d dem Ich entwickelt sich das W o l l e n . Das W o l l e n w i r d H a n d l u n g , indem es so weit nach der Außenwelt geht, bis es an den O r t k o m m t , woher sonst die Sinneseindrücke k o m m e n . A b e r i m Einschlafen geht ja eine ganze Menge hinaus, was wie H a n d l u n g werden w i l l , aber eben nicht H a n d l u n g w i r d , sondern mit dem Ich verbunden bleibt, indem das Ich durch den T o d i n die geistige Welt übergeht. Sie sehen, w i r erleben hier auf der anderen Seite unser werdendes K a r m a (siehe Zeichnung Seite 268). Zwischen dem W o l l e n u n d der H a n d l u n g erleben w i r unser werdendes K a r m a . Beide schließen sich dann i m imaginativen Bewußtsein zusammen: das vergangene u n d das werdende K a r m a , das, was i n uns webt u n d lebt u n d so sich gibt, daß es weiterwebt unter der Schwelle, über welcher unsere freien H a n d l u n g e n liegen, die w i r ausleben können zwischen G e b u r t u n d T o d . Z w i s c h e n G e b u r t u n d T o d leben w i r i n der Freiheit. A b e r es webt u n d lebt unter dieser Region des freien W i l l e n s , Wollens, die eigentlich n u r ein Dasein hat z w i schen G e b u r t u n d T o d , das K a r m a , dessen aus der Vergangenheit kommende W i r k u n g e n w i r wahrnehmen, w e n n w i r uns aufhalten können mit unserem Ich u n d unserem astralischen Leibe i m Ätherleib gerade b e i m Durchbrechen bis z u m physischen Leibe h i n . U n d wiederum auf der anderen Seite nehmen w i r unser werdendes K a r m a wahr, w e n n w i r uns aufhalten können i n der Region, die gerade liegt zwischen dem W o l l e n u n d dem H a n d e l n , u n d w e n n w i r soviel Selbstzucht durch Ü b u n g entwickeln können, daß w i r i n n e r l i c h uns ebenso aktivieren können i n einem Gefühl, wie w i r uns, i c h möchte sagen, indem w i r den Leib z u H i l f e nehmen, aktivieren i n der H a n d l u n g ; wenn w i r uns i m
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Wo L i t t ,
Geiste aktivieren können i m Gefühl, w e n n w i r also eine H a n d lung festhalten i m Ich. Stellen Sie sich das lebhaft vor: M a n k a n n so enthusiasmiert sein, so innerlich eingenommen sein für irgend etwas, was aus dem Gefühle sprießt, wie das, was sonst i n die H a n d l u n g übergeht; aber man muß es zurückhalten: dann leuchtet es auf i n der Imagination als das werdende K a r m a . Was i c h Ihnen hier geschildert habe, ist natürlich i m Menschen immer vorhanden. D e r M e n s c h passiert m i t jedem Aufwachen, jeden M o r g e n beim Aufwachen die Region seines vergangenen Karmas; er passiert jeden A b e n d beim Einschlafen die R e g i o n seines werdenden Karmas. D e r M e n s c h kann durch eine gewisse Aufmerksamkeit auch ohne besondere Schulung i n Geistesgegenwärtigkeit erfassen das vergangene Objektive, ohne daß er es freilich so deutlich erkennt, wie i c h es jetzt geschildert habe. E r kann es aber wahrnehmen; es ist da. U n d es ist dann da alles das, was er i n seinen sittlichen Impulsen i n sich trägt i m G u t e n u n d i m Schlechten. D u r c h dieses lernt sich eigentlich der M e n s c h besser kennen, als w e n n er i m Momente des Aufwachens dieses G e d a n kenweben, das i h n selbst bildet, gewahr w i r d . A b e r schon schreckhafter ist das Wahrnehmen dessen, was zwischen dem W o l l e n u n d der H a n d l u n g liegt, was man zurückhalten kann. D a lernt man sich kennen insoweit, als man sich selber gemacht hat während dieses Lebens. D a lernt man kennen, was man als innere A r t u n g d u r c h den T o d hinausträgt als werdendes K a r m a .
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Ich wollte Ihnen heute zeigen, wie man über diese D i n g e i n lebendiger Erfassung reden kann, wie durchaus Anthroposophie sich nicht erschöpft i n einer Schematik, sondern wie die D i n g e lebendig geschildert werden können, u n d werde m o r g e n ' dann i n dieser Betrachtung weiter fortfahren, indem i c h übergehen werde z u einer noch tieferen Erfassung der menschlichen Wesenheit auf Grundlage des heute Ausgeführten. 6
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Anmerkungen
1 Psychophysischer Parallelismus, Anschauung mancher Philosophen (Spinoza, Leibniz, Schelling, Schopenhauer, Fechner), wonach Seelisches und Leibliches, Psychisches und Physisches kausal unabhängig voneinander parallel nebeneinander verlaufen. Z u Beginn der naturwissenschaftlichen Ära von Psychologie und M e d i z i n prägte der Physiologe Johannes Müller in seinem «Handbuch der Physiologie des Menschen» (1833-1840) den allgemein begeistert aufgenommenen Satz: «Nemo psychologus nisi physiologus». 2 Franz Brentano (1838-1917), Philosoph; Hauptwerk: «Die Psychologie vom empirischen Standpunkt» (1874). 3 Gemeint ist der 1. Vortrag des Zyklus «westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit», gehalten am i . J u n i 1922 in Wien unter dem Thema: «Anthroposophie und Naturwissenschaft». 4 M i t Willkür ist hier von R. Steiner bewußte willentliche A b sicht gemeint. 5 Richard Wahle (1857-1936), Philosoph; «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende» (1894); «Uber den Mechanismus des geistigen Lebens» (1906). 6 R. Steiner: «Moderne Seelenforschung» (1901), in G A 30. 7 R. Steiner, G A 161, S. 124. 8 Gemeint sind die drei öffentlichen Vorträge «Theosophische Seelenlehre I,IIundIII», gehalten am 16., 23. und 3 o. März 1904 im Architektenhaus i n Berlin. Der hier abgedruckte Vortrag ist der erste von diesen drei zusammenhängenden Vorträgen. 9 Johannes Scotus Eriugena (um 810-877): «De Divisione Naturae». Thomas von A q u i n o (1225-1274): «Summa Theologica» I, 75—78ff.; «Summa contra gentiles» II, 46ff. 10 Cartesius = Rene Descartes (1596-1650), Philosoph und Mathematiker. 11 Z u r Psychologie ohne Seele vergleiche die folgenden psychologischen Richtungen i m 19. und 20.Jahrhundert: physiologische Psychologie, experimentelle Psychologie, naturwissen-
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schaftliche Psychologie, «objektive» Psychologie, Reflexologie, Behaviorismus (Verhaltenspsychologie). Allen diesen Richtungen gemeinsam ist die aus einer materialistischen Weltanschauung entspringende methodische Grundthese, nur physisch-sinnlich Beobachtbares, Registrierbares und Meßbares könne Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie sein. D e r «Vater» dieser «objektiven» naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie war der Physiologe Carl L u d w i g (i816-1895), der 1858 i n seinem «Lehrbuch der Physiologie des Menschen» einen Grundsatz aller kommenden «Objektivisten» formulierte: «Die Anhänger der zahllosen Abstufungen realistischer Weltanschauungen haben sich, insofern sie sich überhaupt zur Bildung einer Vorstellung entschließen konnten, darüber geeinigt, daß die Seelenerscheinungen resultieren aus einer gewissen Summe im H i r n und Blut enthaltener Bedingungen.» Sein Schüler J . M . Setschenow (1829-1905) veröffentlichte 1863 die Schrift «Reflexe des Gehirns», darin teilt er das gesamte menschliche Seelenleben, Denken, Gefühle, Willenshandlungen und das Verhalten in Gehirnreflexe ein. Diese Schrift hatte entscheidenden Einfluß auf das D e n ken seines Schülers J . P . Pawlow (1849—1936), der auch noch Schüler von C . L u d w i g war und für die Weiterführung dieser Gedanken 1904 den Nobelpreis erhielt. Ernst Haeckel (1834-1919): «Die Welträtsel» (1899). D i e Lehre von den Funktionszentren des Gehirns geht auf die Schädellehre von Franz Joseph Gall (1758-1828) zurück. Galls Lehre (Phrenologie) wurde 1802 in Deutschland verboten. Aber seit der Entdeckung des motorischen Sprachzentrums durch Paul Broca i m Jahre 1861 wurde die Erforschung von Funktionszentren der Großhirnrinde zu einem der interessantesten Forschungsgegenstände von Anatomie, Physiologie, Neurologie, Psychiatrie und Psychologie. Bartholomäus von Carneri (1821-1909): «Grundlegung der Ethik» (1881); «Sittlichkeit und Darwinismus» (1871). Johannes Müller (1801-1858), Physiologe; vgl. A n m . 1. Paul H . D . Baron von Holbach (1723-1789): «Systeme de la nature ou des Lois du monde physique et du monde morale»
17 «Milindapanha», deutsch von Otto Schräder; Die Fragen des Königs Menandros (1905).
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18 Jlja Jljitsch Metschnikow (1845-1916), russischer Zoologe. 19 Aristoteles (384-322 v. Chr.): «De anima» («Über die Seele»). 20 Vgl. A n m . 9. 21 Vgl. Vortrag vom 7. Februar 1918 i n G A 67; gemeint ist die Betrachtung des Menschen nach dem Dogma der Zweiheit von Leib und Seele unter Mißachtung des Geistes seit dem K o n zilsbeschluß von 869. 22 Vgl. Vortrag vom 7. Februar 1918 m G A 67. 23 Vgl. A n m . 4. 24 E m i l D u Bois-Reymond (1818-1896, Physiologe, Schüler, Assistent und Nachfolger von J . Müller (vgl. A n m . 1 und 15): «Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträtsel» (2 Vorträge, 1882). 2$ F . T h . Vischer (1807-1887), Dichter und Ästhetiker. 26 Vgl. Vortrag vom 21. März 1918 in G A 67, der in unsere Auswahl nicht aufgenommen wurde, weil er sich vorwiegend mit dem krankhaften Seelenleben beschäftigt, das hier nicht unser Thema ist. 27 Julius Pikler: «Das Grundgesetz alles neuro-physischen Lebens, zugleich eine physiologisch-psychologische Grundlage für den richtigen Teil der sog. materialistischen Geschichtsauffassung» (Leipzig 1900). 28 K a r l Fortlage: «Vier psychologische Vorträge» (Jena 1874). 29 Eduard von Hartmann (1842-1906), Philosoph, bekannt als der Philosoph des Unbewußten durch sein Hauptwerk: «Die Philosophie des Unbewußten» (1869). 30 Vermutlich handelt es sich um Max von Kassowitz (18421913), Professor an der Universität W i e n ; über «Nerven und Seele» i n «Allgemeine Biologie» (Wien 1906). 31 N o c h immer sind über die für das Bewußtsein notwendige Nerventätigkeit des Gehirns keine ausreichenden Erkenntnisse vorhanden. Es gibt diesbezüglich nur wenige Anhaltspunkte, die sich z. B. auf den Zusammenhang von Großhirnrinde und Formatio reticularis beziehen. D o c h lassen sich drei Grundtatsachen der Neurobiologie und Physiologie erwähnen, die schon deutlich in die Richtung des hier von Rudolf Steiner Gesagten deuten: 1. Das Gehirn ist das einzige Organ, das mit der Geburt seine endgültige A n z a h l von Organzellen besitzt; es können keine neuen Nervenzellen i m Laufe des Lebens gebildet werden.
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2. D i e mit der Geburt ihrer Z a h l nach endgültig vorhandenen Gehirnzellen besitzen keine ausreichende Regenerationsfähigkeit, um sich z. B. nach Verletzungen oder Ernährungs-(Stoffwechsel-)Störungen wieder regenerieren zu können, wie das bereits periphere Nervenzellen schon i n gewissem Maße können, andere Organzellen ständig tun. Daraus ist ersichdich, daß die Gehirnnervenzellen wegen der fehlenden Zellteilungsfähigkeit und der fehlenden Regenerationsfähigkeit sehr viel weniger Leben besitzen als unsere sonstigen Organzellen. 3. Die noch vorhandene Lebendigkeit, die die Zellen des Zentralnervensystems besitzen, zeigt sich i n den enormen katabolen (abbauenden) Stoffwechselvorgängen der Nervenzellen: das Gehirn zählt zu den größten Energieverbrauchern unseres Körpers, was in seiner starken Durchblutung und seinem großen Sauerstoffbedarf zum Ausdruck kommt. D e r Sauerstoffbedarf ist der höchste aller Organe und etwa 2omal größer als i m ruhenden Skelettmuskel. Während das Gewicht des Gehirns beim Erwachsenen nur etwa 2 % des Körpergewichts ausmacht, fließen ihm 20 % des i n Ruhe aufgenommenen Sauerstoffs zu. Der normale Aktivitätszustand des Gehirns variiert, im E E G erkennbar, zwischen Wachzustand mit geöffneten A u gen, Wachzustand mit geschlossenen Augen, verschieden tiefen Schlafzuständen und Traumzuständen. In den Aktivitätsphasen einzelner Nervenzellen finden in diesen Zellen u. a. chemische, enzymatische Abbauvorgänge statt. Diese Abbauvorgänge sind das Charakteristische der Nervenprozesse i m Gehirn, da die entsprechend notwendigen Aufbau- und Ernährungsvorgänge nicht in den eigentlichen Nervenzellen (Neuronen) geschehen, sondern i n den Gliazellen. Die G l i a ist das Stütz-, Ernährungs-, Stoffaustausch- und Entgiftungsgewebe für die Nervenzellen. H i e r findet der eigentliche ernährende Stoffwechsel des Nervensystems statt. D i e reduzierte Lebendigkeit des Gehirns ist der Preis, den wir für unser normales Bewußtsein bezahlen müssen. Diese Grundfakten des Nervensystems sind sicher erste Hinweise für das hier von Rudolf Steiner Gemeinte und von der zukünftigen naturwissenschaftlichen Forschung noch Erwartete. 32 D i e neuere Hirnforschung scheint sich über dieses Stadium der Abhängigkeit des Ich vom Leib (Gehirn) gerade i n ersten Schritten hinwegzubewegen. Vgl. moderne Hirnforscher:
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Sperry (1970): «Bewußtseinsphänomene erscheinen unter dieser Betrachtungsweise so, daß sie mit den physikalisch-chemischen und physiologischen Aspekten der Gehirnvorgänge i n teragieren und deren Ablauf weitgehend bestimmen. Offensichtlich gibt es aber auch den umgekehrten Zusammenhang, und so kommt es zu einem wechselseitigen Zusammenspiel zwischen den physiologischen und den geistigen Faktoren. Die vorliegende Interpretation tendiert dahin, dem Geist wieder seine alte Vorzugsstellung über die Materie zurückzugeben, jedenfalls in dem Sinne, daß die geistigen Phänomene die physiologischen und biochemischen Phänomene transzendieren.» Penfield (1969): «Die körperliche Grundlage des Geistes ist die Gehimtätigkeit in jedem Individuum. Sie begleitet die Aktivität seines Geistes, aber der Geist ist frei. E r besitzt die Fähigkeit, einen gewissen G r a d von Initiative zu entfalten. Der Geist ist der Mensch, den man kennt. E r muß während Perioden des Schlafes oder des Komas stets Kontinuität haben. Dann mutmaße ich auch, daß dieser Geist nach dem Tod des Menschen irgendwie weiterleben muß.» Eccles (1980): «Ich glaube, daß die Wissenschaft zu weit gegangen ist, als sie den Glauben des Menschen an seine geistige Größe zum Einsturz brachte und ihm statt dessen die Uberzeugung einflößte, daß der Mensch bloß ein unbedeutendes animalisches Lebewesen ist, das aus einem Gemisch von Zufall und Notwendigkeit auf einem unbedeutenden Planeten entstanden ist. ... W i r sollten stets der großen unbekannten Tatsachen eingedenk sein, die ebenso in der materiellen Ausstattung und Arbeitsweise unseres Gehirns zu bemerken sind, wie in den Beziehungen zwischen Gehirn und Geist, sowie auch in unserer kreativen Phantasie. ... Indem wir dieses wunderbare Geschenk von Leben und Tod entgegennehmen, müssen wir nicht auf die Unvermeidbarkeit, sondern auf die Möglichkeit irgendeiner anderen Existenz vorbereitet sein. ... Dann mögen w i r mit Ernst und zugleich voller Freude auf die künftigen Enthüllungen alles dessen harren, was uns nach dem Tode bevorsteht.» A l l e Zitate nach J . C . Eccles, H . Zeier: «Gehirn und Geist» (1980).
33 Vortrag vom 7. März 1918 in G A 67. 34 Johann Friedrich Herbart (1776-1841), Philosoph. 35 Vgl. R . Steiner: «Von Seelenrätseln», (1917), G A 21, Kap. IV.
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}6 Vgl. A n m . 31.
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Vgl. hierzu G A 170. Vgl. Vortrag vom 29. Oktober 1921 in G A 208. Vgl. Vortrag vom 28. Oktober 1921 in G A 208. Descartes, vgl. A n m . 10. Baruch Spinoza (1632—1677), Philosoph. «Psychoid», seeienartiges Gebilde, z . B . i n der psychologischen Literatur bei Driesch (1867—1941). Gustav Theodor Fechner (1801—1887), Philosoph und Begründer der Psychophysik, einer experimentellen Psychologie zur Erklärung des Leib-Seele-Verhältnisses i m Sinne eines psychophysischen Parallelismus. R. Steiner 1901 über Fechner: «Dem Versuch in der Psychologie sein Recht angewiesen zu haben ist das Verdienst, das sich Fechner durch die Darlegung seines Werkes »Elemente der Psychophysik> (1860) erworben hat.» Arthur Drews (1865-1935), Professor für Philosophie, hielt im Herbst 1921 eine Reihe von Vorträgen gegen die Anthroposophie; vgl. «Metaphysik und Anthroposophie», (Berlin 1922), besonders das Kapitel «Die Erkenntnis des Ubersinnlichen.» Eduard von Hartmann, vgl. A n m . 29. Ernst M a c h (1838-1916), Physiker und Philosoph, 18971901 Professor für Philosophie i n Wien. Hans Driesch (1867-1941), Biologe und Philosoph, 1909 für Naturphilosophie habilitiert, später Professor für Philosophie; Hauptwerk: «Philosophie des Organischen» (1909). K u n o Fischer (1824-1907), Philosophiehistoriker. Vgl. A n m . 3J und: «Zur Frage der motorischen und sensitiven Nerven», Auszüge aus Werken R. Steiners, zusammengestellt von H . Hensel und H . J . Scheurle (1979). Carl Unger (1878-1929), seit 1902 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, seit 1905 persönlicher Schüler Rudolf Steiners, ab 1912 Mitglied der Anthroposischen Gesellschaft; seit 1907 nach Aufforderung von R. Steiner auf zahlreichen Vortragsreisen in den Zweigen der Theosophischen, später der Anthroposophischen Gesellschaft unterwegs. Werke: Gesammelte Schriften in drei Bänden (1971). H e n r i Bergson (1859-1941), französischer Philosoph. Vgl. die Vorträge «Anthroposophie» vom 23.-27.10.1909 in
G A 115; «Anthroposophie - ein Fragment» (1910), G A 45; und zur Übersicht: Rudolf-Steiner-Thementaschenbücher B d . 3: «Zur Sinneslehre» (1980). 52 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Den H y m n u s «Eleusis» sandte Hegel, der damals Hauslehrer i n der Schweiz war, im Spätsommer 1786 seinem Freund Hölderlin. 53 N a c h der These von Arthur Schopenhauer (1788-1860): Die Welt ist meine Vorstellung. 54 N a c h der These von Immanuel Kant (1724-1804), der von einem unerkennbar sein sollenden « Ding an sich» gesprochen hat. 55 Aus dem Jahre 1765. 56 Dieses Gedicht wurde zu Beginn des 1. Vortrags am 1.11.1910 rezitiert; vgl. G A 115. 57 Vgl. «Leben und Tod», öffentlicher Vortrag vom 27.10.1910 in Berlin, in G A 60. 58 Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse. 59 Franz Brentano (1838-1917), Philosoph, seit 1874 zunächst Professor, später Privatdozent für Philosophie in Wien. In den achtziger Jahren waren R. Steiner, E . Husserl und S. Freud unter seinen Hörern an der Universität in Wien. Psychologisches Hauptwerk: «Psychologie vom empirischen Standpunkt», 1. Band (1874); 2. Band erschien nie. Rudolf Steiner über Franz Brentano vgl. «Von Seelenrätseln» (1917), G A 21. 60 Theodor Lipps (1851-1914), Philosoph, wandte sich gegen die Bevorzugung naturwissenschaftlicher Methoden in der Psychologie; er entwickelte seine «Einfühlungstheorie» in A n lehnung an die «Einfühlung» von Friedrich Theodor Vischer; «Vom Eühlen, Denken und Wollen» (1902); «Leitfaden der Psychologie» (1903). 61 Wilhelm Wundt (1832-1920), Philosoph und Psychologe, gründete 1879 in Leipzig das erste «Institut für experimentelle Psychologie» in Fortführung der experimentellen «Psychophysik» von G . T h . Fechner (1801-1887), seit 1834 Professor in Leipzig. 62 Johann Joachim Winckelmann, (1717-1768) Archäologe; vgl. seine «Geschichte der Kunst im Altertum» (1764). 63 Karl W . R. von Rotteck (1775-1840), Historiker; Hauptwerk: «Allgemeine Weltgeschichte» (1812-1827)in9Bänden. 64 Vgl. Vorträge vom 23. und 24. September 1921 in G A 207. 65 Vgl. Vortrag vom 1. Oktober 1921 in G A 207.
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Nachwort I. Die Frage nach der Seele Erste Ansätze einer Psychologie i. Vom Erleben
der Seele
D i e Frage nach dem Wesen der Seele ist so alt wie die z u sich selbst erwachende Menschheit. A u s frühen Kulturen und alten Zeiten kennen wir Ansichten und Aussagen über die Seele, die den Zusammenhang von Seele und Welt deutlich erkennen lassen. N i c h t das Seelenleben des Einzelmenschen, isoliert und individuell, stand i m Interesse der Menschen alter Kulturen. Es wurde die Seele als ein schaffendes, belebendes Prinzip in der Natur erlebt, an dem auch der Mensch, aber nicht nur er, Anteil hatte. Die Seele wurde als Bewegendes, als A t e m , Hauch, W i n d , Schatten, Feuer, als Stern, als menschliche Gestalt, als Vogel oder Schmetterling und in vielen anderen Bildern erlebt oder vorgestellt. Weniges ist uns davon aus der indischen, persischen, babylonischen und ägyptischen Kultur bekannt. Namen der Seele wie das «Manas» der Inder, das «Ka» oder «Ba»der Ägypter, die «Psyche» der Griechen kennen wir. Bis z u den vorsokratischen Naturphilosophen, bei ihnen in einem staunenden Erleben kulminierend, wurde die Seele als Natur-Seele erlebt. «Der Mensch fühlte sich mit der Welt draußen außer sich, wenn er das Seelische erlebte. Das Physische erlebte man im Innern, das Seelische erlebte man, indem man aus sich heraus ging und mit der Welt draußen lebte.» V o n dieser Zeit an wissen wir dann Genaueres über die Seelenkunde der nachkommenden griechischen Philosophen, denn mit Sokrates ist das Denken erwacht. Das Staunen war der Schritt vom Erleben zum Denken, zur Philosophie. M i t dieser Stufe, die Reflexion, Selbstbesinnung möglich machte, ja Selbsterkenntnis als höchstes menschliches Ziel benennt und fordert, ist die Menschheit zu sich selbst erwacht. D i e Fragen nach dem Wesen der Seele beziehen sich jetzt auf die Seele i m Menschen, auf seine «Innenwelt». Der Zusammenhang mit der ganzen Welt als Schöpfung, deren Teil der Mensch ist, ist aus dem Erleben verschwunden. Das Bewußtsein vom Zusammenhang mit der Geistwelt, an der der Mensch Anteil hat, geht verloren. D i e 1
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Fragen konzentrieren sich nun auf den Menschen allein, der Blick engt sich ein. D e r Mensch erlebt sich unabhängig; er lernt sich als ein freies Wesen i n der Welt kennen und behaupten. In der Entwicklung der individuellen Seele sehen wir ein vergleichbares Ereignis. Das erste bewußte Erlebnis, die erste Beobachtung unserer eigenen Seele haben wir ungefähr i m Ubergang vom zweiten zum dritten Jahrsiebt. Die Suche nach dem eigenen Selbst, das Bemühen u m die Selbstfindung, das Erleben des eigenen Ich ist das zentrale Thema der seelisch-geistigen Entwicklung in der vorpuberalen Zeit des neunten bis zwölften Lebensjahres. «Ich w i l l erzählen, wie das Ich-Erlebnis bei mir persönlich begann. Es war Hochsommer, ich war etwa 12 Jahre alt, ich erwachte sehr früh. Eine kleine Kammer, die mit nur einem Fenster auf den Garten hinaussah. M e i n Bett stand in der hintersten Ecke des Z i m mers mit dem Kopfende nach dem Fenster zu. Ich richtete mich auf, drehte mich u m und sah kniend hinaus i n das Laub der Bäume. In diesem Moment hatte ich das Ich-Erlebnis. Es war, als löste sich alles von mir und ich wurde plötzlich isoliert. E i n merkwürdig schwebendes Gefühl. U n d zugleich die verwunderte Frage an mich selbst: bist du der R u d i Delius? Bist du derselbe, den deine Freunde so nennen? Der i n der Schule einen bestimmten Namen trägt und bestimmte Zensuren bekommt. - Bist du derselbe? E i n zweites Ich in mir stellte sich diesem anderen Ich, das hier ganz objektiv als Namen wirkte, gegenüber. Es war ein fast physisches Losreißen von meiner Umgebung, mit der ich bisher i n unbewußter Einheit gelebt hatte. Ich empfand diese Losreißung als etwas Seltsames, Merkwürdiges. Ich ahnte dunkel, daß da etwas für immer Bedeutsames in mir vorgegangen sei. Daher blieb mir auch dieser Augenblick, das Zimmer, die kniende Stellung i m Bett, das Herumdrehen scharf i m Gedächtnis. Es war mir, als hätte irgendein geistiger Bütz plötzlich in mich eingeschlagen.» Deutlicher kann dieses sich ganz in der Empfindung ausdrückende erste Ich-Erlebnis des Schulkindes kaum beschrieben werden. E i n gewaltiger Schritt geschieht, es ist ein Aufwach-Erlebnis aus dem Traumschlaf der Kindheit in den Wachtraum der Jugend. «Das K i n d kommt in einer gewissen Weise z u einem ersten E r staunen über alles, was in der Welt vorgeht, weil es anfängt, sich i n der Welt drinnen z u sehen. M a n kommt erst in diesem Stadium des Lebens zum Ich-Bewußtsein.» In der weiteren Lebens- und Seelenentwicklung gibt es Steigerun2
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gen und Vertiefungen dieses inneren Freiheitserlebens und Ich-Bewußtseins. In den Kindheitsphasen davor gibt es Vorstufen, Zeiten der Vorbereitung, der Sammlung und Ruhe, Phasen der Anstrengung und Anspannung, vorsichtige Äußerungen und temperamentvolle Eruptionen jenes starken Dranges nach Freiheit und Selbständigkeit, Ausdruck jener menschlichen Ich-Kraft, die sich im menschlichen Schicksal offenbart. Über dem Beginn des individuellen Erdenschicksals, über der Geburt, hegt Dunkel. Ahnungsvoll beschreibt der Dichter Adalbert Stifter eine Nachempfindung, wie er das Licht der Welt erblickte: «Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend i n mein Wesen drang, und dem nichts mehr i n meinem künftigen Leben glich. D i e M e r k male, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein; denn mir ist, als liege eine sehr weite Finsternis des Nichts um das D i n g herum.» N o r m a lerweise haben wir keine Erinnerung an unsere ersten zwei bis drei Lebensjahre. In dieser Zeit entwickeln sich unsere wichtigsten menschlichen Fähigkeiten: wir lernen unsere Bewegung beherrschen. Es beginnt mit der Fähigkeit des Kopfhebens und -wendens und den Augenbewegungen, die den ersten Kontakt aufnehmen können. Die Bewegungsfähigkeit schreitet weiter vom K o p f abwärts, belebt und bewegt, ja beseelt Rumpf, Arme, Hände, Beine und Füße. Koordinierte, abgerundete, harmonische Körperhaltung und -bewegungen werden möglich, sie werden durch Nachahmung gelernt. Später werden sie charakteristisch für den betreffenden Menschen. M a n kann ihn unter Umständen daran erkennen. Blikken, Greifen, Stehen und Gehen sind diese grundlegenden Schritte im ersten Lebensjahr. Eine weitere Stufe erreicht das K i n d mit dem Erwerb der Sprache. Im Sprechenlernen liegt eine weitere Fähigkeit der Äußerung des Menschen. Von außen durch Nachahmung gelernt, liegt dem Sprechenlernen eine innere Empfindung zugrunde. Die seelisch-geistigen Kräfte, die in der aufrechten Körperhaltung und Gliedmaßenbewegung wirksam sind, kommen jetzt von unten, von der Gliedmaßen- und rhythmischen Organisation zu einem Empfinden der Kopf-Organisation mit den Sinneswahrnehmungen. Aus diesen unbewußten Empfindungen lernt das K i n d sprechen, seine Seele äußern. «Gewissermaßen dieselben Kräfte, die beim Geschlechtsreifwerden den ganzen Menschen ergreifen und dirigierend wirken auf 4
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sein Verhältnis zur Außenwelt, machen sich geltend zwischen dem unteren und oberen Menschen. U n d indem der untere Mensch lernt, den oberen Menschen z u empfinden, wie sonst der Mensch i m späteren Alter die Außenwelt empfinden lernt, lernt er sprechen.» In einem weiteren Schritt um das dritte Lebensjahr beginnt die Erinnerungsfähigkeit des Menschen. Darin liegt die offenbarste Äußerung der seelischen Innerlichkeit. D e r Erinnerungsfähigkeit liegen metamorphosierte Lebenskräfte des Ätherleibes zugrunde. In der Sprache drückt sich vornehmlich die Seele, der Astralleib des Menschen aus. In der Körperhaltung und Bewegung wirkt die geistige Ich-Organisation i m physischen Leib des Menschen. Diese drei charakteristischen und menschentypischen Stufen begegnen uns nach der Zäsur der Pubertät, um den Beginn des 3. Jahrsiebts, i n der weiteren Entwicklung als wesentliche Marksteine einer seelischgeistigen Selbstbegegnung des Menschen (siehe unten Seite 304ff). wenden wir uns rückblickend der Geschichte der Psychologie von diesem historischen Augenblick an z u , als die Frage nach dem Wesen der Seele sich der individuellen menschlichen Seele zuwandte. 5
2. Geistlehre
der Seele:
Piaton
Bei Piaton (427-347 v. Chr.) begegnen wir einem Bild von der menschlichen Seele, das der geistigen Ideenwelt des Menschen und der lebendigen Körperwelt gerecht wird. In einem Gleichnis beschreibt Piaton die Seele: «Was die Seele wirklich ist, das ist lang, und nur ein Göttermund könnte es aussprechen. D o c h ihr Gleichnis ist kürzer und kann durch Menschenmund so ausgesprochen werden: Die Seele ist gleich der Kraft, die einem befiederten Gespann und einem Wagenlenker innewohnt. Pferde und Wagenlenker der Götter nun sind alle gut und von guter Herkunft; die der anderen (der Menschen) aber sind gemischt. Bei uns nun lenkt zunächst der Führer das Gespann; darauf erweist sich ihm das eine Pferd als fromm und gut und von ebensolcher Herkunft, das andere dagegen von entgegengesetzter Herkunft und Beschaffenheit, wild und unedel. D i e Lenkung des Wagens ist also bei uns (den Menschen) notwendig beschwerlich und mühsam. Wieso nun ein Lebewesen sterblich und unsterblich genannt werden kann, das müssen wir nun z u sagen versuchen. Alles, was Seele ist, sorgt für das gesamte Unbeseelte; es durchzieht den ganzen Himmelsraum, bald i n dieser, bald in jener Gestalt. Ist sie nun vollkommen und befiedert, so schwebt
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sie in der Höhe und durchwaltet die ganze Welt. Hat sie aber die Federn verloren, so schwebt sie umher, bis sie auf etwas Festes stößt, wo sie seßhaft wird und einen erdigen Leib annimmt, der sich selbst zu bewegen scheint, dank der ihr eigenen Kraft, und dieses Ganze, Seele und Leib zusammengefügt, wurde Lebewesen genannt und bekam den Beinamen sterblich. Den Namen unsterblich dagegen erhält sie auch nicht aus einem einzigen erwiesenen Grunde, sondern ohne einen Gott zu sehen und zu erkennen, bilden wir ihn uns als ein unsterbliches Lebewesen, das zwar eine Seele, doch auch einen Leib hat, bei dem diese aber für alle Zeit zusammengefügt sind. Mag sich das nun so verhalten, wie es dem Gotte gefällt, und so sei auch davon gesprochen.» D i e Seele stammt aus dem übersinnlichen Reich der Ideen. Was der Menschenseele an Sinneswahrnehmungen i m Leben begegnet, ist nur ein schwacher Abglanz, ein dunkler Schatten der geistigideellen Welt. D e r Polarität von ideellem Sein und materiell-sinnlichem Sein entspricht die Polarität von Seele und Leib. Aber die Seele ist nicht einheitlich i n sich: sie ist ein Gebilde aus drei Elementen, dem Wagenlenker und den beiden Pferden. Der Lenker symbolisiert den denkenden Seelenteil; er soll herrschen. Das schöne und fromme Pferd entspricht der tugendhaften und mutigen Seele; das unedle und wilde Pferd entspricht dem begierdehaften Seelenteil. Diese beiden sollen dem Lenker gehorchen, ihm ihre Kraft leihen. «Wo die Lenker nichts taugen, da lahmen die Pferde, und viele Seelen brechen die Flügel.» D i e beiden niederen Seelenteile sind leibgebunden und vergänglich wie dieser. N u r die höhere Geistseele ist unsterblich. Bei Piaton spiegelt sich diese Dreigliederung der Seele wider in seiner Auffassung vom idealen Staat, der sich in drei Stände gliedert, entsprechend den drei Seelenteilen des Menschen. So sehen w i r bei Piaton schon deutlich den Schritt zur individuellen Seele mit der sich daraus ergebenden Spannung der Seele z w i schen Leib- und Geistorientierung. Gleichzeitig weist Piaton aber auch auf die jetzt vom Menschen geprägte Außenwelt, den Staat mit seinen Ständen. D e r Zusammenhang zwischen Seelen-Innenwelt und Kulturwelt des Menschen wird deutlich. In beiden Bereichen sind die Seelengesetze erlebbar. 6
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j. Naturlehre
der Seele:
Aristoteles
Aristoteles (384-321 v. Chr.), der siebzehnjährig nach Athen kam und i n die Akademie des damals 60jährigen Piaton eintrat, verwen-
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det in seiner Schrift «Über die Seele», nach seinem Weggang von der Akademie nach Piatons Tod 347 v. Chr. entstanden, auch ein B i l d , um zu erklären, was die Seele sei. Es ist kein poetisches B i l d , wie bei seinem Lehrer Piaton, sondern ein sachlich-nüchterner Vergleich: «Die Seele ist Substanz ihrem Begriff nach. Dies aber bedeutet das eigentliche Wesen eines so und so bestimmten Körpers ... Wäre das Auge ein Tier, so wäre die Sehkraft seine Seele, die Sehkraft ist ja die Substanz des Auges dem Begriffe nach.» Die Seele ist also wesensmäßig mit dem Leib verbunden, sie ist sein Wesen. N i c h t jeder Körper aber hat eine Seele, «sondern nur bei solchen, die das Prinzip der Bewegung und des Stillstandes in sich selbst» haben. Das heißt, nur belebten Körpern ist eine Seele eigen. Entsprechend schreibt Aristoteles den Pflanzen eine Seele zu, mit den Eigenschaften der Ernährung, des Wachstums und der Fortpflanzung. Dieser Bereich entspricht den grundlegenden Lebensprozessen, die Leben qualitativ bestimmen und von Unbelebtem unterscheiden. Die Seele der Tiere ist durch die Eigenschaften des Wahrnehmungsvermögens, der Begierdenhaftigkeit und der Bewegung gekennzeichnet. D i e menschliche Seele besitzt über diese Eigenschaften der Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung, Wahrnehmung, Bewegung und Begierde hinaus noch die Fähigkeit des Denkens und Wollens. Allein die menschliche Seele hat Anteil an dem denkenden Geist. U n d nur dieser geistbegabte Seelenteil kann von den übrigen Seelenteilen abgetrennt werden «wie das Ewige vom Vergänglichen». Aufbau und Gliederung der Seelenwelt sowie die weitere Beschreibung der einzelnen Seelenvermögen lassen erkennen, welchen Standpunkt Aristoteles, der einer Arztfamilie entstammte, in seiner Seelenlehre vertritt: es ist eine Naturlehre der Seele, im Gegensatz zur Geistlehre der Seele seines Lehrers Piaton. Entsprechend wollte Aristoteles die drei Bücher «Über die Seele» den naturwissenschaftlichen Schriften zugeordnet wissen. «Für Piaton kommt in Betracht, was i n der Seele lebt und als solches an der Geistwelt Anteil hat; für Aristoteles ist wichtig, wie die Seele sich im Menschen für die eigene Erkenntnis darstellt.»' D a z u gehört für Aristoteles noch - oder schon - der Zusammenhang mit der sinnlich-physischen Natur des Menschen und der niedrigeren Naturreiche. Die Polarität zwischen geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Psychologie, die in der über zweitausendjährigen 8
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Geschichte lebendig geblieben ist, hat ihren Ursprung in der platonischen Geistlehre und der aristotelischen Naturlehre von der Seele. Immer wiederkehrend treten diese Strömungen auf den Plan und beanspruchen, das Feld der Seele allein zu bestellen. Tatsächlich sind diese beiden Pole nichts anderes als der Ausdruck der beiden die Seele begrenzenden und bestimmenden Reiche der Natur und des Geistes. «Die menschliche Seele besitzt eine solche Fülle verschiedener Vermögen, weil sie i m Grenzgebiet der geistigen und körperhaften Wesen wohnt; in ihr vereinigen sich daher die Kräfte beider Schöpfungsbereiche» (Thomas von Aquin). 4. Von der äußeren
zur inneren
Empirie:
Augustinus
Gerade tausend Jahre nach der der Außenwelt zugewandten Seelenerfahrung der griechischen Naturphilosophen erschließt der katholische Kirchenvater und Philosoph Augustinus (354-430) in seinen, i m Jahre 400 geschriebenen «Confessiones» dem Menschen die seelische Innenwelt durch Versenkung und Innenschau (Introspektion). «Was also habe ich mit den Menschen z u schaffen, daß sie meine Bekenntnisse hören sollen, gleich als könnten sie alle meine Schwachheiten heilen? Neugierig, von dem Leben anderer zu hören, sind sie träge, wo es gilt, das Eigene zu bessern. Was begehren sie von mir zu vernehmen, was ich bin, wenn sie von dir nicht hören wollen, wer sie selbst sind? U n d wenn sie hören, was ich von mir berichte, woher wissen sie, ob ich die Wahrheit sage, da doch kein Mensch weiß, was i m Menschen vorgeht, als nur der Geist des M e n schen, der in ihm selbst ist.» Dieser Geist ist das Beständige, Wachen und Schlafen Überdauernde. In dem Erlebnis des eigenen M e n schengeistes gründet sich das Ich-Bewußtsein. D a z u gehört auch die Erinnerung: «Dort begegne ich auch mir selbst und erinnere mich, was ich getan habe und wann und wo, und welches meine Eindrücke waren, da ich es t a t . . . In dem umfassenden Schöße meines Geistes, den die unzähligen Bilder aller dieser Dinge erfüllen, gehe ich mit mir zu Rate und spreche: Ich werde das und jenes tun, und das und jenes wird die Folge sein.» «Kurz gesagt: ich bin es, der durch das Gedächtnis sich erinnert, ich bin es, der durch den Intellekt denkt, ich bin es, der durch die Liebe liebt. Ich bin nämlich nicht das Gedächtnis, ich bin nicht der Verstand, ich bin nicht die Liebe, sondern ich habe sie.» Augusti103
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nus ist der «Ahnherr der Ich-Psychologie» (Pongratz) und entwikkelte zum Erleben des Ich-Bewußtseins mit der Innenschau das Fundament einer «inneren Empirie» (Rudolf Steiner). «Das griechische Denken deutet auf die Seele; bei Augustinus wird auf den Mittelpunkt des Seelenlebens gewiesen. Die griechischen Denker betrachten die Seele i n ihrem Verhältnis zur Welt; bei Augustinus stellt sich dem Seelenleben etwas i n demselben gegenüber und betrachtet dieses Seelenleben als eine besondere, in sich geschlossene Welt. M a n kann den Mittelpunkt des Seelenlebens das Ich des Menschen nennen. Im griechischen Denken wird das Verhältnis der Seele zur Welt zum Rätsel; den neueren D e n kern das Verhältnis des Ich zur Seele. Bei Augustinus kündigt sich das erst an; die folgenden Weltanschauungsbestrebungen haben noch zu viel z u tun, um Weltanschauung und Religion in E i n klang z u bringen, als daß das Neue, das jetzt in das Geistesleben hereingetreten ist, ihnen schon deutlich zum Bewußtsein käme. U n d doch lebt i n der Folgezeit, den Seelen mehr oder weniger unbewußt, das Bestreben, die Welträtsel so zu betrachten, wie es das neue Element fordert.» Seit Piaton und Aristoteles konnte die Psychologie Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft sein. Seit Augustinus galt der Wissenschaft von der Seele die Beobachtungder Natur und dermenschlichen Außenwelt nichts mehr; die Seelen-Innenwelt war entdeckt worden. Die Psychologie istlch-Psychologie geworden. Das neue Elementder psychologischen Innenbeobachtung, einer inneren Erfahrung, mithin einer realen Selbsterfahrung, war entdeckt, - wenn es auch in der Folgezeit noch nicht deutlich zum Bewußtsein kam und noch nicht als Erkenntnismethode bewußt gehandhabt wurde. 1
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II. Die gegenwärtige Situation der Psychologie Wege und Abwege N a c h vielen Wegen und Wandlungen der Psychologie - in den dazwischenliegenden Jahrhunderten stets in die beiden angedeuteten Richtungen zur Naturseite und zur Geistseite der Seele getrennt, vorwiegend geisteswissenschaftlich und individualistisch orientiert - b i l d e n die Jahre 1860/61 und 1900 Wendepunkte in der Geschichte der Seelenwissenschaft: 1860 erscheint die «Psychophysik» G . T h .
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Fechners und 1900 die «Traumdeutung» S. Freuds, die die Psychoanalyse begründet. /. Von der Psychologie
zur
Psychophysik
In dem vielfarbigen Panorama des 19. Jahrhunderts, dessen Töne vom Idealismus bis zum Materialismus, von der Romantik bis zur Deszendenstheorie, von dem Triumph der Physik bis zur Geburt der modernen Psychologie reichen, nimmt Gustav Theodor Fechner (1801-1887) eine bemerkenswerte Stelle ein. 1801 als Sohn eines protestantischen Geistlichen geboren, studiert er in Leipzig Medizin. Abgestoßen von den naturphilosophischen Spekulationen, die damals i n der Medizin vorherrschten, wendet er sich der exakten Physik zu. M i t 3 2 Jahren wird er i n Leipzig Professor für Physik. V o n diesem Augenblick an, da er erreichte, was er erstrebt hatte, war seine Kraft gebrochen. M i t Mühe nur kommt er seinen Vorlesungspflichten in den folgenden sieben Jahren nach. Z u sätzlich durch an sich selbst mit Hartnäckigkeit durchgeführte optische Experimente geschwächt, erlebt er 1840 einen Zusammenbruch. E r muß die Lehrtätigkeit einstellen. E r zieht sich von der Außenwelt zurück, lebt i n einem verdunkelten, schwarz gestrichenen Zimmer oder trägt eine Maske vor den Augen. Drei Jahre dauert dieser Zustand einer «sublimen Hypochondrie». Als er, durch merkwürdige und wunderbare Umstände genesen - der Traum einer Bekannten und ein eigener Traum spielten die entscheidende R o l l e nach der Zeit der Dunkelheit in seinem Garten zum erstenmal wieder die Augen öffnet, ist er betroffen von der Schönheit der Blumen und erkennt, daß sie eine Seele haben. Dies führt später zu dem Buch «Nana oder über das Seelenleben der Pflanzen». A u s dem Physiker ist während dreijähriger depressiver Krankheit ein Metaphysiker und Philosoph geworden. 1843 nimmt er seine Lehrtätigkeit wieder auf, nun für Naturphilosophie. U m die Zeit der Jahrhundertmitte, der Hochblüte des Materialismus - die N a turphilosophie war inzwischen unmodern geworden und aus den Universitäten vertrieben — veröffentlicht er eine Reihe geistreicher, pantheistisch orientierter Werke, z. B. «Über die Dinge des H i m mels und des Jenseits». Andererseits, auf dem Fundament der naturwissenschaftlichen Erkenntnis seiner Zeit stehend, beginnt Fechner mit neuen Forschungen, i n denen er die Erscheinungswelt, das heißt für ihn die Welt der bewußten Empfindungen, zu ergründen sucht. Diese Forschungen begründeten die Psychophysik, einen Versuch,
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seelische Beobachtungsresultate auf naturwissenschaftlichem Wege zu gewinnen, der allerdings die seelische Beobachtung auf die quantitativ-meßbare Große der Reizstärke reduziert. E i n Ergebnis dieser Forschungen ist das bekannte Weber-Fechnersche Gesetz (e = k • log r), wonach sich die Empfindung proportional zum Logarithmus der Reizstärke verhält, mit dem konstanten Schwellenwert als Proportionalitätsfaktor k. Die Psychophysik bildet seit Fechner den exakt naturwissenschaftlichen Zweig der Psychologie; Fechners Nachfolger Wilhelm Wundt führte sie ins 20. Jahrhundert hinüber. Das Hauptwerk Fechners, das zweibändige «Elemente der Psychophysik», erschien 1860. Es wurde ein Jahr danach ergänzt durch die Schrift «Uber die Seelenfrage - E i n Gang durch die sichtbare Welt um die unsichtbare zu finden». Die «Psychophysik» ist ein Buch über die Gesetze, «nach denen Leib und Seele zusammenhängen». Das allgemeinste Gesetz besagt, «daß nichts i m Geiste bestehen, entstehen, gehen kann, ohne daß etwas i m Körper mitbesteht, entsteht, geht, was seine Wirkungen und Folgen in den Umkreis und die Zukunft der Körperwelt hinein erstreckt. M a n kann es kurz so ausdrücken, daß alles Geistige seinen Träger oder Ausdruck in etwas Körperlichem und hierdurch seine weiteren Wirkungen und Folgen i m Körperlichen hat.»" M i t Fechner begann, von bemerkenswerten Schicksalsumständen begleitet, eine Epoche neuen psychologischen Fragens: die Richtung der objektiven, naturwissenschaftlich-experimentellen Psychologie, die durch W . Wundt dann allgemeine wissenschaftliche Anerkennung fand. Wer um 1890 sich dem Studium der Psychologie zuwandte, konnte dies mit dem stolzen Bewußtsein tun, an einer jungen, exakten Wissenschaft mitzuarbeiten, deren Möglichkeiten noch unübersehbar schienen. In diesem Fechnerschen Ansatz einer der Physis, d. h. der Natur und der ihr adäquaten exakten, messenden naturwissenschaftlichen Methoden verpflichteten Seelenlehre (= Psycho-Physik), sehen w i r eine «moderne» F o r m der alten naturphilosophischen, nach außen zur Natur hin orientierten Seelenlehren. Es geht primär u m die «äußere Psychophysik», d . h . um die Beziehung von physisch-sinnlichem Außenreiz auf die seelische Empfindung, weniger um die «innere Psychophysik», die Verbindung von Empfindungen und Körpergeschehen. Was i n der naturphilosophischen Seelenkunde die Mischung der Elemente oder Körpersäfte war, was die Stärke der Empfindungen und Temperamente bestimmte, ist in der naturwissenschaftlichen
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Psychophysik, einer «Außen-Psychologie», zur mathematischen Formel von der Empfindungsintensität erstarrt. Entscheidend an diesem Weg ist der Versuch, die Wissenschaft von der Seele und dem seelischen Geschehen aus den spekulativen Gefilden herauszuführen und das seelische Geschehen objektiv zu erfassen. Allerdings w i r d auf dem weiteren Weg in diese Richtung die Seele selber verlorengehen.' D e r «Gegen-Wendepunkt» i n den Entwicklungsbahnen der modernen Psychologie, mit der Jahrhundertwende bezeichnet, dem Erscheinungsjahr von Sigmund Freuds «Traumdeutung», weist in die entgegengesetzte Richtung einer inneren, subjektiven TiefenPsychologie. 2. Tiefenpsychologie
und
Verhaltenspsychologie
In dem ersten Lehrbuch der Psychologie, in der jetzt 2300 Jahre alten Schrift «Über die Seele» von Aristoteles, finden wir den folgenden Satz: «Eine zutreffende Vorstellung vom Wesen der Seele zu erlangen gehört zu den allerschwierigsten Aufgaben.» Diese Feststellung gilt heute noch unvermindert. A u c h die Geschichte der Psychologie als einer modernen Wissenschaft, die gerade 100 Jahre alt ist, hat diese Auffassung nicht widerlegen können. 1927 beschrieb Karl Bühler die «Aufbaukrise» dieser jungen Wissenschaft: «So viele Psychologien nebeneinander wie heute, so viele Ansätze auf eigene Faust, sind wohl noch nie gleichzeitig beisammen gewesen.» In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich i n der wissenschaftlichen Psychologie viel getan, ereignet und verändert. In dem Bericht «Zur Lage der Psychologie 1970» der «Deutschen Gesellschaft für Psychologie» heißt es denn: «Schulen im klassischen Sinne des Wortes sind ausgestorben; Eklektizismen beherrschen die Szene. D o c h letztlich ist keine der alten Kontroversen entschieden worden.» U n d 10 Jahre später, in dem Bericht «Zur Lage der Psychologie 1980» w i r d immer noch die «Unsicherheit in der Psychologie» registriert, deren Ursachen aber nicht aufgedeckt werden können. Theorien über Erleben und Verhalten beherrschen weitgehend das wissenschaftliche psychologische Feld. Die Psychologie wartet noch immer auf ihren Newton, wie es i m Lexikon der Psychologie von 1972 heißt. 13
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Neben der alten Kontroverse, der Polarität einer geisteswissenschafdichen und einer naturwissenschaftlichen Psychologie, gewinnt ein anderes Gegensatzpaar i n unserem Jahrhundert große Bedeutung, besonders i n den therapeutischen Anwendungsbereichen der
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Psychologie: die Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse und die Verhaltenspsychologie. Beide Richtungen sind i n ihren therapeutischen Verfahren bei seelischen Krankheiten besonders mächtig und weit verbreitet, deshalb sei unserer Betrachtung eine Beschreibung ihres Verständnisses von geistiger Gesundheit vorangestellt: «Wir wollen geistige Gesundheit als die Anpassung des Menschen an die Welt und aneinander bei einem M a x i m u m an Effektivität u n d Glück bezeichnen. N i c h t Effektivität allein oder nur Zufriedenheit, oder der Beschluß, den Spielregeln freudig z u gehorchen. Es ist alles zusammen. Es ist die Fähigkeit, ein ausgeglichenes Temperament, rege Intelligenz, sozial gebilligtes Verhalten und eine glückliche Sinnesart beibehalten z u können. Das ist, denke ich, ein gesunder Geist.» 17
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Verhaltenspsychologie:
Der Behaviorismus, die Verhaltenspsychologie, will ausschließlich das äußere Verhalten untersuchen. Selbstbeobachtung und Verstehen fremden Seelenlebens werden als Möglichkeit abgelehnt, die Seele selbst geleugnet, und der Mensch als Reflexapparat nach dem Reiz-Reaktions-Muster interpretiert. D e r Behaviorismus ist damit die moderne Fortsetzung der Reflexlehre Pawlows.' Das Ziel einer dementsprechenden Verhaltenstherapie ist die A n passung des Menschen an die Gesellschaft, verbunden mit dem Gefühl des Glücks. D i e Behandlungsmethode in ihrer orthodoxen heute so nicht mehr angewandten - F o r m ist Dressur. E i n Beispiel v o n j . B. Watson (1878-1958), dem Begründer des modernen Behaviorismus, zeigt dies deutlich: «Watson erzeugte in einem 11 Monate alten Jungen, Albert, der gerne mit weißen Ratten spielte, eine neurotische Phobie. Wenn der Junge sich z u den Ratten niederbeugte, ertönte ein Geräusch. Niederbeugen und Hören des Tones assoziieren sich zum Phänomen der Angst vor Ratten. Diese Angst setzte auch dann ein, wenn nur die Ratte erschien und kein Geräusch ertönte. Sie dehnte sich auf Kaninchen und sogar Pelzmäntel aus. Das K i n d wurde von Watson umkonditioniert, d. h. geheilt. Es wurden Ratten zunächst i n Entfernung gezeigt. Bei Wohlverhalten gegenüber den Tieren wurde Schokolade verabreicht. Albert assoziierte diesen Schokoladengenuß mit dem Erscheinen der Ratten. Die Phobie vor den Tieren verschwand.» ' Eine solche Behandlungsmethode - auch noch als Experiment an einem Jungen durchgeführt, der gar nicht krank war - offenbart 8
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deutlich das dahinter verborgene Menschenbild. N o c h deutlicher w i r d es, wenn wir B. F. Skinner (Verhaltenspsychologe, geb. 1904) selber sprechen lassen, welche Bedeutung der Mensch und grundlegende menschliche Werte für ihn haben: «Leben, Freiheit und das Streben nach Glück sind grundlegende Rechte. D o c h sie sind Rechte der Einzelperson, und als solche wurden sie auch zu einer Zeit festgehalten, als es in der Literatur über die Freiheit und die Würde um die Erhöhung der Einzelperson ging. Für die Erhaltung einer Kultur haben sie nur geringe Bedeutung.... Was i m Begriff ist, abgeschafft zu werden, ist der »autonome Mensch) - der «innere Mensch>, der , der besitzergreifende Dämon, der Mensch, der von der Literatur der Freiheit und der Würde verteidigt wird. Seine A b schaffung ist seit langem überfällig. Der »autonome Menseln ist ein Mittel, dessen wir uns bei der Erklärung jener Dinge bedienen, die w i r nicht anders erklären können. E r ist ein Produkt unserer Unwissenheit, und während unser Wissen wächst, löst sich die Substanz, aus der er gemacht ist, immer mehr in Nichts auf. Die Wissenschaft entmenschlicht den Menschen nicht, sie »dehomunkulusiert> ihn, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, wenn sie der Abschaffung der menschlichen Spezies vorbeugen w i l l : wir können froh sein, wenn wir uns von diesem Menschen i m Menschen befreit haben. N u r wenn w i r ihn seiner Rechte entsetzen, können w i r uns den echten Ursachen menschlichen Verhaltens zuwenden.» Das Thema dieser «Psychologie» und «Psychotherapie» ist das äußere Verhalten eines von der Umwelt kontrollierten und konditionierten Apparates «Mensch», dessen je vorhandene Innerlichkeit abzuschaffen ist. «Wird der Mensch abgeschafft werden? E r w i r d gewiß nicht abgeschafft werden als Spezies oder als Einzelperson, die bestimmte Dinge erstrebt und vollbringt. Es ist der »autonome innere Mensch>, der abgeschafft w i r d , und das ist ein guter Schritt voran. Aber wird der Mensch dadurch nicht zum Betrogenen oder zu einem passiven Beobachter dessen, was mit ihm geschieht ? E r wird in der Tat von seiner Umwelt kontrolliert, doch dürfen wir nicht vergessen, daß dies eine U m w e l t ist, die er großenteils selber geschaffen h a t . . . Eine neue Theorie kann die Möglichkeit verändern, auf den Gegenstand (den Menschen) einzuwirken. D i e wissenschaftliche Sicht des M e n schen bietet erregende Möglichkeiten. W i r haben noch nicht erkannt, was der Mensch aus dem Menschen machen kann.» Damit ist der wissenschaftliche Reduktionismus Programm, Ziel dieser sogenannten «Therapie», ermöglicht die Kontrolle über den 20
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Menschen; der Mensch w i r d z u m seelenlosen Apparat. «Ein z y n i scher Beobachter könnte versucht sein zu sagen, daß die Psychologie, nachdem sie zuerst ihre Seele verschachert und dann den Verstand verloren hat, jetzt, da i h r ein vorzeitiges Ende droht, jegliches Bewußtsein eingebüßt zu haben scheint.» 21
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Tiefenpsychologie
D i e Gegenrichtung, die Psychoanalyse, beschreibt geistig-seelische Gesundheit folgendermaßen: «Geistig-seelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, z u lieben und schöpferisch zu sein, . . . durch ein Gefühl der Identität, aufgrund des Erlebens seiner selbst als Subjekt und Organ der Eigenkräfte, durch Erfassen der Realität in uns und u m uns, d. h. durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft.» So verschieden dieses Verständnis von geistig-seelischer Gesundheit von dem der Verhaltenspsychologie ist, so verschieden ist auch das therapeutische Vorgehen und Ziel. D o c h sind Objektivität und Vernunft als Kriterien geistig-seelischer Gesundheit fragwürdige Begriffe, wenn man den Hintergrund der Psychoanalyse mit in Betracht zieht. D i e Geburtsstunde der Psychoanalyse kann mit dem Jahr 1900,. dem Erscheinungsjahr von Freuds «Traumdeutung» angegeben werden. Sigmund Freud (1856-1939) war ein Schüler des Physiologen Ernst Brücke, der wiederum ein Schüler von Johannes Müller war. (Vgl. A n m . 1 z u den Vorträgen S.271) Freud war zeit seines Lebens dem naturwissenschaftlich-materialistisch-mechanistischen Weltbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts verpflichtet. Sein Schüler und Biograph E . Jones sagt von seinem verehrten Lehrer: «Er war der geborene Agnostiker.» Wohin der Agnostizismus führt, schilderte Rudolf Steiner 1921: «Gedanken und Vorstellungen werden durch das Erleben des Agnostizismus kraftlos gemacht. Gefühle werden stumpf gemacht, der Wille w i r d leer gemacht, und dann ist der Mensch ausgeliefert entweder irgendeiner äußerlichen A u t o r i tät, die ihm seinen Imperativ gibt, oder aber dem Animalischen, demjenigen, was als die physischen Bedürfnisse sich geltend macht, demjenigen, was aus der tiefsten unterbewußten Welt ohne alles Vorstellen, ja ohne alles Regulativ des Fühlens heraufquillt.» Diese Strömung hat in Sigmund Freud einen Vertreter. Seine vorwissenschaftlichen materialistischen Grundannahmen bestimmten sein Fragen und Forschen - und seine gefundenen Antworten: Alles seelische Geschehen beruht auf einer physisch-biologischen G r u n d 22
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läge; mithin ist alles seelische Geschehen, wie das physisch-biologische auch, determiniert, unfrei. V o m Biologischen her müssen alle seelischen Prozesse erklärt werden, und letztendlich auch durch physische Prozesse beeinflußt, reguliert, behandelt werden. N a c h dieser Ansicht ist das zukünftige, wegen mangelnder Erkenntnisse noch nicht erreichte Ziel der Psychoanalyse eine biochemisch-pharmakologische Behandlung seelischer Krankheiten. A u f der Grundlage seines biologistischen und triebbetonten M e n schenbildes lehnt Freud die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis und eines Ich-Erlebens durch konzentrierte Innenschau (Introspektion) ab. Sein Mensch besteht aus einem geschlossenen psycho-physischen Energiesystem biologisch-animalischer Triebe. Die Triebe drängen nach Befriedigung, das ist Verminderung ihrer Spannung; dabei kann es zu Konflikten kommen, die sich i m Menschen als seelische Krankheit, mit dem unglücklichen Namen «Neurose» belegt, zeigen. D i e Konflikte entstehen z . B . infolge der Diskrepanz z w i schen Triebbedürfnis und gesellschaftlichen N o n n e n . Diese N o r men oder Regeln und Gebote werden im Seelischen von einer Instanz vertreten, «Uber-Ich» genannt. Es ist ursprünglich durch Verinnerlichung der elterlichen Gebote und Verbote entstanden. Schließlich hat es die Rolle eines Richters über das «Ich». Der Gegenpol zum «Über-Ich» ist das «Es», der Trieb-Pol des Menschen, von dem alle psychische Energie abstammt und dessen Inhalte unbewußt sind. Zwischen diesen beiden Instanzen ist das «Ich», von der Energie und den Ansprüchen, den biologischen Triebbedürfnissen des «Es» ebenso abhängig wie auch von den Forderungen des «Über-Ich» und den Verhältnissen der äußeren Realität. Im neurotischen Konflikt ist das «Ich» immer besonders beteiligt, insofern es sich um die Integrität und Konstanz der Persönlichkeit und ihrer psychischen Bedürfnisse bemüht. Das «Ich» ist nur zum Teil bewußt, zu einem großen Teil ist es unbewußt. Das sind die Instanzen des «psychischen Apparates», w o z u Freud die Seele herabreduziert und mechanisiert hat. D i e «Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie» nennt Freud selbst: «Die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung der Sexualität und des Ödipuskomplexes sind die Hauptinhalte der Psychoanalyse und die Grundlage ihrer Theorie, und wer sie nicht alle gut z u heißen vermag, sollte sich nicht z u den Psychoanalytikern zählen.» D i e unbewußten psychischen Vorgänge und die biologischen Triebprozesse sind für das 24
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menschliche Denken, Fühlen und Handeln weit bestimmender als bewußte seelische Prozesse. Also können menschliches Denken, können Entschlüsse und menschüches Handeln nicht frei sein. D e r Mensch ist determiniert. j . Die Folgen für das
Menschenbild
Die Psychoanalyse ist eine «spekulative Naturwissenschaft» von der subjektiven «Innenseele» des Menschen. Ihr Menschenbild ist, pointiert ausgedrückt, in der Vorstellung eines «Triebbündels» begründet; es ist bei allem Menschlich-Allzumenschlichen, das die Tiefenpsychologie zweifellos erforscht hat, doch mehr dem Tierischen als dem geistbegabten Menschen verwandt. Die Verhaltenspsychologie ist eine beobachtende Naturwissenschaft von der objektiven «Außenseele». Ihrem Menschenbild liegt das M o d e l l einer seelenlosen und bewußtlosen Reiz-Reaktions-Maschine zugrunde.. Beide weit verbreiteten Richtungen der Psychologie des 20. Jahrhunderts tragen schwer an ihrem geistigen Gepäck der vorigen Jahrhunderte: In ihrem gemeinsamen Anspruch, materialistische Naturwissenschaft z u sein, können sie zu keiner adäquaten Erkenntnis des menschlichen Wesens kommen; die Begriffe der menschlichen Freiheit und Würde bleiben ihnen fremd. D i e objektive «AußenseitenPsychologie» hat ihre Berechtigung i m Anwenden naturwissenschaftlicher Methoden, doch erfaßt sie so das Wesen der Seele nicht vollständig. D i e «Innen»- oder Tiefenpsychologie wendet sich mit Berechtigung und bewußtseinsgeschichtlicher Notwendigkeit der Innenseite des Seelenlebens zu, doch ist die agnostizistische, materialistische Weltanschauung ihr i m Wege, das Wesen des Menschen richtig deuten z u können. Beide Richtungen haben ihre Berechtigungen-und ihre Einseitigkeiten. A l s Extremerscheinungen dokumentieren sie, was der Mensch in der Entwicklung bis dahin verloren hat: seine Verbindung mit dem Geistigen. Was der Mensch aus diesem Verlust gewinnen kann, ein Bewußtsein seiner Freiheit, erfüllen diese beiden Richtungen aber gerade nicht. Sie haben keinen Begriff von der Freiheit und keinen Zugang zum Geist. Sie binden den Menschen einseitig an die Natur. D i e Mitte zwischen Natur und Geist, in der die Freiheit des Menschen sich entfalten kann, finden diese Richtungen der Psychologie nicht. «So führte man den Menschen früher i m 18. Jahrhundert auf die
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Maschine, im 19. Jahrhundert auf das Tier zurück. Das alles ist historisch gut zu begreifen. Im ganzen Fortgang derMenschheitsentwicklung hat das seinen guten Sinn, denn unter dem Einfluß dieser Unkenntnis vom Menschenwesen entstanden die neuzeitlichen Empfindungen über den Menschen. Wären die alten Ansichten geblieben von der innerlichen Physik, von der innerlichen Chemie, der vom Menschen außerhalb seiner selbst erlebten Psychologie und Pneumatologie, - so wäre zum Beispiel die Freiheitsentwicklung niemals i n der Menschheitsentwicklung erwacht. Der Mensch mußte sich als elementares Wesen verlieren, um sich als freies Wesen zu finden. Das konnte er nur, wenn er gewissermaßen eine Weile zurücktrat von sich, sich nicht mehr beachtete, sich mit dem Äußeren befaßte, und wenn er Theorien über sich wollte, das in sich hereinnahm, was nun zum Verständnis der äußeren Welt sehr gut paßte. In dieser Zwischenzeit, i n der der Mensch sich mit sich Zeit ließ, um so etwas wie Freiheitsempfindung zu entwickeln, in dieser Zwischenzeit entwickelte der Mensch die naturwissenschaftliche Vorstellung, jene Vorstellungen, die - ich möchte sagen - so robust waren, daß sie die äußere Natur begreifen können, aber zu grob sind für das Wesen des Menschen, weil sie sich nicht die Mühe machen müssen, sich so zu verfeinern, daß sie auch den Menschen mitbegreifen. U n d so entstanden die naturwissenschaftlichen Begriffe, die auf die Natur gut anwendbar sind, ihre großen Triumphe feiern, die aber unbrauchbar sind, um das Wesen des Menschen in sich aufzunehmen. Hieraus sehen Sie auch, daß ich wirklich nicht eine Kritik liefere über das Naturwissenschaftliche, sondern daß ich nur Charakteristik liefern w i l l . Gerade dadurch erlangt ja der Mensch sein ganzes Freiheitsbewußtsein, daß er nicht mehr belastet war mit alledem, wovon er eigentlich belastet sein mußte, als er so eigentlich die ganze Sache noch i n sich trug. Dieses Freiheitserlebnis für den Menschen kam, als der Mensch sich eine Wissenschaft zimmerte, die i n ihrer Robustheit nur für die äußere Natur paßte, und da sie ja doch nun eben nicht eine Totalität ist, natürlich auch wiederum Kritik erfahren kann, nicht anwendbar ist, - anwendbar ist eigentlich nur am bequemsten als Physik, in der Physiologie fängt's schon an zu hapern, die Psychologie wird eigentlich ein vollständiges Abstraktum, usw. Aber die Menschen mußten durch ein Zeitalter so in diesem Verlaufe hindurchgehen, um eben nach einer ganz anderen Seite, nach der Seite des Freiheitsbewußtseins, nach der Seite der individuellen Moralauffassung von der Welt usw. zu kommen. M a n kann die 25
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Entstehung der Naturwissenschaft im neueren Zeitalter nicht verstehen, wenn man sie nur einseitig betrachtet, wenn man sie nicht betrachtet so, daß sie eine Parallelerscheinung ist des nun in demselben Zeitalter heraufkommenden Freiheitsbewußtseins des M e n schen und alles dessen, was moralisch u n d religiös mit diesem Freiheitsbewußtsein zusammenhängt.» D i e erste Andeutung dieser «Ereiheitsempfindung» finden wir im Florenz der Renaissance-Zeit, am Beginn des naturwissenschaftlichen Zeitalters, in der Rede «Von der Würde des Menschen» von Giovanni Pico della Mirandola; «Müssen w i r darin nicht zugleich die höchste Freigiebigkeit Gott-Vaters und das höchste Glück des Menschen bewundern? Des Menschen, dem es gegeben ist, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will. Denn die Tiere, sobald sie geboren werden, tragen vom Mutterleibe an das mit sich, was sie später besitzen werden, wie Lucilius sagt. Die höchsten G e i ster aber sind von Anfang an oder bald darauf das gewesen, was sie in alle Ewigkeiten sein werden. In den Menschen aber hat der Vater gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die L e benskeime jeder A r t hineingelegt. Welche er selbst davon pflegen wird, diejenigen werden heranwachsen und werden i n ihm ihre Früchte bringen. Wenn er nur die des Wachsens pflegt, w i r d er nicht mehr denn eine Pflanze sein. Pflegt er nur die sinnlichen Keime, w i r d er gleich dem Tiere stumpf werden. Bei der Pflege der rationalen wird er als ein himmlisches Wesen hervorgehen. Bei der Pflege der intellektualen w i r d er ein Engel und Gottes Sohn sein.» Psychologie als Naturwissenschaft, seien ihre Methoden messend, beobachtend oder vorwiegend spekulativ, kann das Wesen des Menschen nicht adäquat erfassen, da der Mensch nicht nur ein N a turwesen ist. E r ist auch ein Geistwesen und insofern ist ihm Freiheit eigen, Freiheit - sich in Richtung der Natur oder zum Geist z u entwickeln. 17
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I I I . Voraussetzungen einer anthroposophischspirituellen Psychologie «Die erste Wissenschaft, in der es der Geist mit sich selbst zu tun hat, ist die Psychologie. Der Geist steht sich betrachtend selbst gegenüber ... Selbsterfassung ist also hier die Methode.»* 9
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Selbsterfassung des denkenden Menschengeistes ist Selbsterkenntnis des Menschen. Eine «Sache» dem geistigen Wesen nach erkennen ist intuitive Erkenntnis. «Was sonst Intuition ist, wird hier Selbstbetrachtung.» ' Damit zentriert sich die älteste und höchste, vornehmste und schwierigste Aufgabe des Menschen, sich selbst zu erkennen, zum Ausgangs- und Mittelpunkt unserer Betrachtung einer spirituellen Psychologie. D e m ratsuchenden Pilger, der sich in vorchristlicher Zeit dem Apollon-Heiligtum in Delphi mit einer Frage an das Orakel näherte, stand in dem vorgelagerten Raum des Tempels, der Reinigung und Besinnung dienend, der mahnende Spruch entgegen: «Erkenne dich selbst - folge dem Gott.» N o c h bevor der Ratsuchende seine Frage vorbringen und eine mehrdeutige Antwort des Orakels erhalten konnte, wurde ihm vor Augen gehalten, unter welcher Voraussetzung allein seine Reise z u der Orakelstätte erfolgreich sein würde: N u r wenn er sich u m Selbsterkenntnis bemüht, ist er in der Lage, die angemessene Frage zu stellen und die empfangene Antwort des O r a kels richtig zu deuten, die ihm den Weg des Gottes weist. «Erkenne dich selbst - folge dem Gott», dem Weithergereisten in steinerner Inschrift vor Augen gehalten, hieß schon damals nicht nur: «Schau i n dich», sondern vielmehr: «Schau in dich, bedenke deinen Standort und deinen Weg in der Welt, den der Gott dich weist und folge ihm.» Die Reise des Pilgers durch die zauberhafte Landschaft vor Delphi, die Ölbaum-bewachsene heilige Ebene von Ithea, vom Meer langsam bergan steigend, die Schicksalsfrage i m Herzen, auf Lösung hoffend, ist ein Sinnbild für die Reise des Menschen ins eigene Innere, jene Seelenreise zur Selbsterkenntnis, die nur zu oft wegen ungenügender Ausrüstung das Ziel verfehlt und irgendwo im D u n k e l oder in Illusion endet. 2
i. Rüstzeug
der
Selbsterkenntnis
A n den beiden oben besprochenen Hauptströmungen der Psychologie in unserem Jahrhundert läßt sich zunächst das Unzureichende zeigen: D i e Verhaltenspsychologie (Behaviorismus), deren M e thode und Z i e l i n der Beobachtung des äußeren Verhaltens und dessen beliebiger Konditionierung liegt, hätte, wenn sie sich überhaupt für eine Selbsterkenntnis interessierte, nur die Beobachtung des äußerlich sichtbaren Verhaltens zur Verfügung. Eine innere Instanz, ein Selbst, ein innerliches Seelenleben lehnt diese Psychologie ohne Seele vollkommen ab.
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Anders sieht es bei der Psychoanalyse aus, die sich heute selbst als eine Wissenschaft der Introspektion (Innenschau) versteht: Ihre Methode ist die freie Assoziation z u Träumen, Bildern, spontanen Einfällen, Fantasien. Es ist i m Grunde ein intimes, aber ungeordnetes, «freies», unkontrolliertes, ungesteuertes Erinnern. Das oberste Prinzip dieses Vorgehens ist die Aufdeckung des Unbewußten. Der psychoanalytische Weg der introspektiven Selbstanalyse geschieht i n dem wechselseitigen Kontakt eines Gesprächs zwischen Analytiker und Analysant. D i e Selbsterkenntnis w i r d vermittelt durch ein Gegenüber, das gelegentlich fragt, deutet, erklärt. Unter diesem Gesichtspunkt ist für uns die Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie eine «erklärende Psychologie». Das Seelenleben wird nach psychoanalytischen Regeln gedeutet (vgl. S.293 A n m . 24). Im U n terschied dazu sind z . B . die Seelenlehren der vorsokratischen griechischen Naturphilosophen «erlebende Psychologien». — D i e «erlebende Psychologie» ist eine Psychologie aus der Empfindungsseele. D i e «erklärende Psychologie» ist eine Psychologie aus der Verstandesseele. Eine Psychologie aus der Bewußtseinsseele kann eine «erkennende Psychologie» sein. «Die Psychologie muß aus der Bewußtseinsseele heraus neu begründet werden» (vgl. A n m . 1 z u m Vorwort S. 7). D i e Bewußtseinsseele baut i m Menschen auf den beiden vorhergehenden Seelengliedern, der Verstandesseele und der Empfindungsseele auf. Ohne diese Grundlage kann sie nicht entwickelt werden. D i e E m p findungsseele lebt ganz, wie ihr Name besagt, in der Empfindung, auch in Erinnerungen. D i e Lebensfrage der Empfindungsseele lautet: «Wie erlebe ich die Welt und an der Welt mich selbst?» D i e Erlebnisrichtung geht nach außen - auch um sich selbst zu erleben. Aus diesem Erleben der Welt entstanden z. B. die Seelenlehren der vorsokratischen Naturphilosophen, deren Seelenerleben in der N a tur-Außenwelt war, während unsere heutige äußere Naturwissenschaft damals innerlich erlebt wurde (vgl. A n m . 27). In der daran sich anschließenden philosophischen Epoche entwickelte sich die Verstandes-Gemüts-Seele, einhergehend mit einer Distanzierung von allem weltzugewandten Empfindungsmäßigen. Im Mittelpunkt der Verstandes-Gemüts-Seele entwickelte sich das Denken, insbesondere das Nachdenken. Die Seelenrichtung geht nach außen oder nach innen. Gesetzmäßigkeiten werden gesucht und erkannt. Naturgesetze, logische Gesetze, seelische Gesetzmäßigkeiten. 30
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D i e Bewußtseinsseele, durch unbewußte Arbeit des Ich am physischen Leib entwickelt (wie die beiden anderen Seelenglieder durch die Arbeit an Ätherleib und Astralleib), faßt die Errungenschaften ihrer beiden Vorstufen zusammen: «Im Zentrum der Bewußtseinsseele w i r d die Welt erkannt, das eigene Bewußtsein erwacht am Wesen der Welt und findet so zur Selbsterkenntnis. N i c h t indem das Ich wieder in die Seelenperipherie eintaucht, wird die neue Weltbeziehung geknüpft, sondern indem es, aus dem Zentrum der Seele dem höheren Ich folgend, durchstößt z u einer neuen geistigen Weltverbindung. Damit ist das Gemeinsame, worin Weltund Selbsterkenntnis sich finden, offenbar: es ist die Welt des G e i stes, die in der irdischen Welt wie im Menschen lebt. Der Mensch kann sich selbst nun als bewußtes Glied dieser geistigen Welt erkennen und dadurch zugleich die neue Welterkenntnis gewinnen.» Eine spirituelle psychologische Selbsterkenntnis, aus der entwikkelten Bewußtseinsseele heraus geübt, kann sich also sicher nicht in jener Introspektion heutiger Tiefenpsychologie erschöpfen, jenem Nur-ins-eigene-Innere-Schauen, das bei dem vielen Uber-sich-Reden allzuleicht z u einem Nach-innen-Starren wird. 32
2. Goethe über die
Selbsterkenntnis
Schon Goethe, der bedeutendste Autobiograph der deutschen Literatur, war ein dezidierter Gegner der reinen, allein dem eigenen Ich zugewandten Introspektion. In dem kleinen Aufsatz «Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort», mit dem Goethe dem Inhaber des ersten Psychiatrielehrstuhls, Johann Christian Friedrich August Heinroth (1773-1843) für dessen Charakteristik des Goetheschen Denkens als eines «gegenständlichen Denkens» danken wollte, äußert sich Goethe 74Jährig mit aller Deutlichkeit z u jenem «Erkenne dich selbst», wie es z u seiner Zeit verstanden wurde: «Hierbei bekenne ich, daß mir von jeher die große und so bedeutende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollen. D e r Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur i n sich und sich in ihr gewahr wird.» A u c h in den Maximen und Reflexionen» («Sprüche i n Prosa») hat sich Goethe z u dem «Erkenne dich selbst» geäußert: «Nehmen w i r so33
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dann das bedeutende Wort vor: , so müssen wir es nicht i m asketischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen damit gemeint, sondern es heißt ganz einfach: gib einigermaßen acht auf dich selbst, nimm N o t i z von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. H i e r z u bedarf es keiner psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum größten Vorteil gedeiht.» H i e r und in der folgenden Reflexion rückt Goethe, aus einer Bewußtseinsseelenhaltung sprechend, ein introvertiertes, selbstbezogenenes Mißverständnis der Selbsterkenntnisforderung zurecht: «Wie kann man sich selbst kennenlernen? D u r c h Betrachten niemals, w o h l aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist.» In «Wilhelm Meisters Lehrjahre» heißt es: «Da lernt er erst sich selbst kennen; denn das Handeln vergleicht uns mit andern.» In Goethes Beurteilung der unfruchtbaren reinen Innenschau und der Betonung einer wechselseitig sich bedingenden und fördernden Welt- und Selbsterkenntnis sehen w i r sowohl das Prinzip einer Seelenhygiene als auch ein methodisches Prinzip zur Gewinnung richtiger Erkenntnisse. «Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur i n sich und sich i n ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, w o h l beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.» Damit ist ein echter und bedeutungsvoller anthropologischer Entwicklungsgedanke mit der Erkenntnistheorie verknüpft: «Da i m Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innere, dieser das Außere fehlt, so müssen w i r uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine A r t von Ganzheit erwarten. U n d zwar haben wir diese nicht i m Allgemeinen, i m Überschwenglichen zu suchen, sondern, wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz i n jedem einzelnen Behandelten erweisen. U m aber einer solchen F o r derung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen . . . » Jede wissenschaftliche Erkenntnis fordert den ganzen Menschen, alle «menschlichen Kräfte» i n ihm, und fördert ihn dadurch, neue Erkenntnisorgane i n i h m ausbildend, bis der ganze Mensch sich zum Erkenntnis34
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organ umbildet. So w i r d Erkenntnis z u Bildung, i m doppelten realen Sinn des Wortes, Wissenschaft wird z u Kunst, Menschenerkenntnis zu Menschenbildung. j . Vom «Ich-Wahn»
zur
Selbstwahrnehmung
N i c h t das Anhängen dem «irdischen Ich-Wahn» heutiger Selbsterfahrungs-Fanatiker mit dem starken Hang, «viel von sich zu sprechen, viel über sich nachzudenken» , ist eine ernst zu nehmende Möglichkeit der Selbsterkenntnis. «Denn dieses Viel-über-sichSprechen, dieses Viel-über-sich-Nachdenken ist wirklich der schlechteste Weg zur Selbsterkenntnis. Wenn man den Hang hat, viel über sich zu sprechen, alle Dinge so zu beurteilen, daß man vor allen Dingen darauf bedacht ist, wie man sich selbst hineinstellt in die Welt, was man der Welt bedeutet: wenn man diesen Hang hat, so ist man schlecht geeignet, sich in der geistigen Welt zurecht zu finden oder irgend etwas von der geistigen Welt zum Ausdruck z u bringen. In spirituellem Sinne beschäftigt man sich am allermeisten mit sich, wenn man i m irdischen Sinne am wenigsten sich mit sich selbst beschäftigt, im irdischen Sinne am wenigsten an sich denkt; denn das, was uns i m irdischen Sinne am interessantesten ist - der Zusammenhang der Welt mit unserer eigenen Person - das ist für die geistige Welt das Allerbedeutungsloseste, das Allerunbedeutendste.» Z u einer spirituellen Selbsterkenntnis bedarf es einer geschulten Selbstwahrnehmung. Im Wahrnehmen wie i m Erkennen bin ich immer selbst beteiligt. In der Selbstwahrnehmung wie in der Selbsterkenntnis bin ich also Tätiger und Erleidender zugleich, Subjekt und Objekt der Wahrnehmung bzw. Erkenntnis. A u c h wenn das philosophisch uns schwierig klingt, so ist Selbstwahrnehmung doch auch eine alltägliche Erfahrung, die es bei unserem Anliegen einer spirituellen Selbsterkenntnis zu üben und z u vertiefen gilt. Eine Selbstwahrnehmung habe ich scheinbar äußerlich tagtäglich in der Wahrnehmung meines Körpers, meiner Gestalt, in Ruhe und besonders in der Bewegung meiner Gliedmaßen. Diese Wahrnehmung von mir selbst bleibt mir normalerweise so flüchtig und unbedeutend, daß ich kaum eine Erkenntnis damit verbinde. Das muß aber nicht so sein. - Eine zweite Wahrnehmung von mir selbst, ebenso alltäglich, habe ich, wenn ich spreche und mich sprechen höre. Ich nehme dabei scheinbar Äußerliches, meine Stimme, meine Sprache wahr, sowie eindeutig Innerliches, Seelisch-Geistiges: meine Gedanken, die ich i n Worten ausdrücke. - Eine dritte Selbstwahrneh35
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mung führt uns in einen Innenraum: unsere Erinnerungen an unsere eigene Lebensgeschichte. «Wer sich klarmacht, daß die menschliche Entwicklung nicht bloß Entwicklung, sondern Geschichte ist, der kann i n ähnlicher Weise sich klar sein über die Methode der Selbstbeobachtung, wie derjenige, welcher sich klar gemacht hat, was mathematische Wahrheiten sind.» Haben w i r z u Beginn unserer Betrachtung die drei Entwicklungsschritte i m Kleinkindesalter erwähnt: Erlernen und Beherrschen der Körperbewegung; Erlernen und Beherrschen der Sprache und E r lernen der Erinnerungsfähigkeit, so begegnen uns hier die gleichen Fähigkeiten auf unserem Wege zu einer Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis wieder. «Man muß nur die Selbsterkenntnis i m wirklichen Sinne, nicht in dem eines bloßen Hineinstarrens in das üben.» Das heißt, es kann sich nicht darum handeln, eine Selbsterkenntnis i n dem üblichen Sinne einer psychologischen Persönlichkeitsbeschreibung anzustreben. A u c h innerhalb einer anthroposophischen Psychologie sind mehrere gleichberechtigte Wege einer Selbsterkenntnis möglich. Denkbar ist z . B . das in dem Vortrag «Der menschliche Charakter» geschilderte Vorgehen einer Beobachtung der Gestik, um zu einer Menschen- und Selbsterkenntnis zu gelangen. W i r kommen weiter unten darauf zurück. Eine weitere, sehr praktische Methode ist dem Leser dieser Vorträge bekannt geworden in dem Vortrag «Vom Wesen des Bewußtseins» aus der Reihe der «Psychosophie»-Vorträge (4.11.1910). Darin schilderte Rudolf Steiner ein Schema des Seelenlebens, von dem er dann selber ausspricht: «Nun kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß sich Ihnen unzählige Rätsel der Seele lösen werden, wenn Sie dieses Schema zugrunde legen.» Darin liegt eine konkrete Aufgabe und eine nicht zu überschätzende Möglichkeit einer anthroposophischen Psychologie, der nachzukommen den Raum eines Nachwortes übersteigt. 37
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4. Methodische
Vorbemerkung
Anthroposophisch-spirituelle Erkenntnis setzt an zwei «Eckpfeilern des wissenschaftlichen Lebens» an: «Der eine Eckpfeiler sind die Grenzen der Naturerkenntnis.» H i e r setzt der eine Teil anthroposophisch-spiritueller Methodik an: w i r führen mit aller Kraft unseren Willen i n unser Vorstellen, in den Intellekt, i n unser Gedankenleben e i n . N i c h t i n ungeordnetem, «freiem» willenlosem Vor39
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Stellungsleben, wie es das freie Assoziieren der psychoanalytischen Methode ist, sondern i n dem genau umgekehrten Bemühen, das Vorstellungs- und Gedankenleben willentlich und bewußt zu führen, hegt die Erkenntnismöglichkeit, durch Konzentration und M e ditation an den Grenzen der äußeren Naturerkenntnis nicht in Spekulation oder M y s t i k abzuschweifen, sondern seelisch darüber hinaus zu kommen: «Dann spekuliert man nicht mehr und philosophiert nicht mehr an diesen Grenzen des Naturerkennens, sondern man erlebt etwas an gewissen Begriffen. Es geht etwas in der Seele vor, das Erlebnisse umfaßt gegenüber diesen Begriffen, wie wir sie meinetwillen nur erleben, wenn wir äußerlich lieben oder wenn w i r sonst i m Kampf des äußeren Lebens drinnenstehen. Darauf kommt es an, daß wir, indem w i r von aller äußeren Welt absehen, i n unserem Innern etwas durchmachen, das uns also in eine Realität führt, die ebenso intensiv für unser Bewußtsein sich darlebt, wie sonst nur die äußere Realität, die wir mit unseren Händen und Füßen berechtigt berühren und bearbeiten. Wenn wir uns in dieser Weise durch Konzentration, durch Meditation durchgearbeitet haben zu einem Bewußtsein, das innerlich i m Intellekt willentlich erstarkt ist, dann tritt endlich das ein, was man so kennzeichnen kann: wie man sonst das R o t durch äußere Beobachtung erkennt als Farbe, wie man das Blau erkennt, wie man das Cis oder das C hört, so erkennt man, wenn man sich in dieser Weise durchgearbeitet hat, so daß man erlebt in jenem Seelischen, das sich nun nicht mehr des Körperlichen, nicht mehr des Nervensystems oder dergleichen als eines Werkzeuges bedient, im unmittelbaren Bewußtsein, daß es ein Seelisches an sich gibt.»
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Der zweite «Eckpfeiler», an dem anthroposophisch-geisteswissenschaftliche Methode ansetzt, ist nun die Grenze der Selbsterkenntnis: «Der zweite wichtige Teil anthroposophischer Methodik besteht nun darin, daß man in einer anderen Weise, als das gewöhnlich der Fall ist, an das eigene Selbst des Menschen heranrückt... Wer sich wirklich bemüht, i n strengerer Psychologie, als heute gewöhnlich üblich ist, i n solcher A r t das menschliche Innere zu erforschen, der weiß, wie die menschliche Selbsterkenntnis Täuschungen ausgesetzt ist und wie dasjenige, was die Mystiker aller Zeiten glaubten aus ihrem Innern hervorzuholen als irgendeine Kraft, nichts anderes ist als die umgestaltete, vielleicht nebulos gewordene, jedenfalls aber metamorphosierte Erfahrung früheren Lebensalters. Wie man, um ohne Täuschung an die Grenze der Naturerkenntnis
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heranzurücken, solches durchmachen muß, wie ich es jetzt geschildert habe, so muß man sich nicht i m gewöhnlichen Sinn nebuloser Mystik hingeben, sondern man muß wiederum an einer anderen A r t Eckpfeiler menschlichen Erkennens i n systematischer Weise die Seele schulen. U n d das kann man nur, wenn man an etwas herantritt, auf das man eigentlich sonst i m Leben wenig achtet.» Dieser Weg der Selbsterziehung und Lebensgestaltung ist nun der umgekehrte wie der beim Überschreiten der Grenzen der Naturerkenntnis: in den Willen, i n mein Willensleben, i n meine willentlichen Lebenshandlungen trage ich meine Vorstellungen hinein, mache ich meine Begriffe und Ideen z u Führern, w o ich mich sonst oft genug nur passiv hingebe und treiben lasse. Erübe ich es auf diese Weise, mein Leben in die H a n d zu nehmen, und vergegenwärtige ich mir immer wieder, z. B. durch Rückschau-Übungen, wieweit ich mein Leben wirklich willentlich gestaltet habe, so wird mit der Zeit mein W i l lensleben für mich beobachtbar, weil es sich i n meinen Lebenshandlungen zeigt. Ich bin auf dieser Stufe Handelnder und Beobachter zugleich. Damit habe ich den Zustand möglicher Selbsterkenntnis erreicht. U n d jetzt tritt eine neue Veränderung in meinem Seelenleben ein: Meine Erinnerungsbilder werden lebendig, die Vergangenheit w i r d seelisch gegenwärtiger; es ist, als ob die Zeit zum Raum würde. M e i n Erinnerungsleben ist heller geworden. «Dadurch, daß man in solcher Weise behandelt die beiden Eckpfeiler der menschlichen Erkenntnis, die Naturerkenntnis auf der einen Seite, die Selbsterkenntnis auf der anderen Seite, - dadurch, daß man hinausgelangt auf der einen Seite über die Grenzen des Naturerkennens, aber nicht durch Spekulieren, sondern durch unmittelbares Erleben; daß man hineingelangt auf der anderen Seite in das eigene Element seines W i l lens, indem man nicht Mystik treibt, sondern in strenger Selbstzucht und Methode das Erinnerungsvermögen in sich heranbildet, - dadurch weckt man in der Tat im Innern des Menschen dasjenige auf, was dieses Menschen Unsterbliches ist.» ° 40
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j. Die Schritte
der
Selbst-Erkenntnis
i . Das Erinnerungsleben hatten w i r bereits erwähnt bei den Elementen der Selbstwahrnehmung. D i e Erinnerung ist der erste Schritt auf unserem Weg der Selbsterkenntnis, die Erinnerung ist sozusagen das Selbstverständlichste. «Bei einer solchen wirklichen Selbst-Erkenntnis findet man zunächst, was in der Erinnerung lebt.» ' Habe ich mein Erinnerungsleben auf dem oben geschilder4
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ten Weg, der Schulung des Willens, aktiviert, so bleiben meine E r i n nerungsbilder nicht mehr schattenhaft, sie werden lebendig, hell, leuchtend. «Durch die Erinnerung sieht man auf das Geistige der eigenen Seele.» Unserer seelischen Wesenheit nach sind wir in Gewohnheiten und Eigenschaften das, was unsere Erlebnisse, «die in der Erinnerung ihre Schatten werfen», aus uns gemacht haben. In den lebendigen Erinnerungsbildern drückt sich unser Atherleib aus. - Denken wir an dieser Stelle einen Moment zurück an die Erinnerungsmethode der Psychoanalyse, das «freie Assoziieren», so sehen wir darin tatsächlich einen Schattenwurf wirklicher Selbsterkenntnis, i m «Souterrain» der menschlichen Seele . 2. Z u m nächsten Schritt der Selbsterkenntnis gehört die Selbstwahrnehmung der Sprache. «Man nähere sich nun in derselben A r t , wie wenn man so an die Erinnerung herangetreten ist, der Sprache. Sie quillt aus dem Innern des Menschen hervor wie die Erinnerung. In ihr verbindet sich der Mensch mit einem Sein, wie er sich in der Erinnerung mit seinen eigenen Erlebnissen verbindet.» ' In der Sprache drücke ich mich aus. Ich offenbare ein Innerlicheres als in der Erinnerung, insofern sich durch die Sprache mehr ausdrückt als nur Erinnerung: eine innere Bewegung - bei äußerer Ruhe - , die, wie jeder aus alltäglicher Erfahrung weiß, mehr ausdrückt als nur das Aus-Gesprochene. In seiner Sprache drückt sich der Sprecher aus. Sprache ist mehr als nur Verständigungsmittel; sie enthält mehr als begriffliche Mitteilungen. Im Klang der Sprache schwingt das Seelenleben des Sprechers mit, in der Artikulation, der Aussprache erscheint die Geistesgegenwart des Sprechenden im Physischen. Klang und Artikulation, Deutlichkeit, werden i m Sprechen repräsentiert durch Vokale und Konsonanten, die Grundelemente der Sprache. «Wenn man von Konsonantischem spricht, hat man eigentlich im Gefühl immer etwas, was an Musikinstrumente erinnert. U n d die Gesamtheit, die Harmonie alles Konsonantischen stellt eigentlich die Plastik des menschlichen Organismus dar. U n d das V o kalische - das ist die Seele, die auf diesem Musikinstrument spielt. D i e gibt das Vokalische. So daß Sie eigentlich, wenn Sie in der Sprache das Konsonantische und das Vokalische verfolgen, i n jeder sprachlichen und tonlichen Äußerung eine Selbstäußerung des M e n schen haben. Die Seele des Menschen spielt vokalisch auf dem K o n sonantismus des menschlichen Körperinstruments.» «Indem der Mensch sich sprachlich äußert, indem der Mensch sich gesanglich äußert, drückt er ja als eine Offenbarung seinen ganzen Organismus 41
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nach Leib, Seele und Geist nach außen hin und nach sich selbst zu, nach innen h i n , aus. Der Mensch ist gewissermaßen in dem, was er lautlich und tonlich offenbart, ganz darinnen enthalten.» Insofern der Mensch als Sprechender sein eigener Zuhörer sein kann, liegt hier ein zweiter Schritt der Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis vor. In der Sprache, im Sprechen, drückt sich unsere Seele, unser Astralleib aus. 3. In einem dritten Schritt ist Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis möglich, wenn w i r unsere Aufmerksamkeit richten auf unser Äußerstes, die Bewegung unserer Gliedmaßengestalt. «Man kann weitergehen. A n dem Sprechen ist der Mensch mit einem Teil seines Wesens beteiligt. E r bringt i m Sprechen sein Inneres i n Bewegung . . . Aber der ganze Mensch kommt i n Bewegung, wenn er i n Regsamkeit bringt, was gliedmaßenartig an ihm ist. In dieser Bewegung ist der Mensch nicht minder ausdrucksvoll als in der Erinnerung und in der Sprache. D i e Erinnerung drückt die Erlebnisse aus; die Sprache hat ihr Wesen eben darinnen, daß sie Ausdruck von etwas ist. So auch drückt der in seinem ganzen Wesen bewegte Mensch ein «Etwas» aus.» In der Körperhaltung und -bewegung, in M i m i k , Gestik, Gebärde drückt sich nicht nur äußerlich der ganze Mensch aus, sondern sein innerstes, gestaltbildendes und bewegendes Selbst, sein Charakter (vgl. hier den Vortrag «Der menschliche Charakter»), offenbart sich i n der Bewegung. Das Zentrum erscheint an der Peripherie, w i r d hier sinnlich wahrnehmbar und selbstwahrnehmbar für das bewegende Ich. H i e r erst erfüllt sich die Identität von Umkreis und Mitte, Peripherie und Zentrum, wie sie nur dem Ich eigen ist. Die letzte Stufe der Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis haben wir hier erreicht, mit der «Introspektion» von innen nach außen. «Die leib-verkörperte Seele fühlt sich als Selbst, weil sie i m Leibe sich befindet. D i e Seele im Leibe sagt zu ihrem Leibe » . 43
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Z u den geschilderten drei Stufen der Selbsterkenntnis: der Erinnerung, der Sprache und der Bewegung, gibt es aus der anthroposophischen Geisteswissenschaft psycho-hygienische und therapeutische Übungen, z. B. die Rückschau, Erinnerungs- und Aufmerksamkeitsübungen, die Sprachgestaltung und die Eurythmie und H e i l eurythmie. Der Mensch steht als Selbst in der Welt, hat mit ihr zu tun, lebt und handelt in ihr. N u r in diesem Bezugsrahmen von Selbst und Welt ist eine Selbsterkenntnis spirituell, ist eine so geübte Psycholo-
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gie eine «spirituelle Betätigung.» «So kann wirkliche Selbst-Erkenntnis des Menschenwesens geübt werden. Aber der Mensch erfaßt dabei nicht das eigene Selbst allein. Stufenweise erfaßt er seine Glieder: den physischen Leib, den Atherleib, den Astralleib, das Selbst. Aber indem er diese erfaßt, kommt er auch stufenweise an höhere Welten heran, die wie die drei Naturreiche, das tierische, das pflanzliche, das mineralische, als drei geistige Reiche zu der Gesamtwelt gehören, in der sich sein Wesen entfaltet.» ' D i e Seele des Menschen entfaltet sich zwischen Leib und Geist. Der Leib gehört den Naturreichen, der menschliche Geist den geistigen Reichen an. D u r c h die Seele inkarniert sich ein Menschengeist in einem Leib für ein individuelles Leben. Im Leib wirkt das Naturgesetz der Vererbung. Der Geist folgt dem Gesetz der Wiederverkörperung, den wiederholten Erdenleben. D i e Seele lebt nach dem selbstgeschaffenen Schicksal, ihrem Karma; sie vermittelt den Z u sammenhang zwischen Leib und Geist durch die Tätigkeit des Ich, deren sich der Mensch durch Selbsterkenntnis vergewissern und bewußt werden k a n n . A u s diesem Grunde bildet die Selbsterkenntnis das anthroposophische Prinzip einer spirituellen Psychologie, die das Wesen der menschlichen Seele erfassen w i l l . 4
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Markus
Treichler
Anmerkungen
1 Rudolf Steiner: «Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung» (1922/23), G A 326
2 Rudolf von Delius: «Schöpfertum» (1922); zit. nach C h . Bühler: «Das Seelenleben des Jugendlichen» (1975), S.85 3 Rudolf Steiner: «Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung» (1921), G A 302 4 Adalbert Stifter in seinem autobiographischen Fragment; zit. nach: «Stifter» von Urban Rödel (1982) 5 Rudolf Steiner, Vortrag vom 7.4.1921, in G A 76; vgl. auch: Rudolf Steiner, Themen aus dem Gesamtwerk, Band 2: Sprechen und Sprache (1980) 6 Piaton: «Phaidros», 25 7 Piaton: «Der Staat»
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Aristoteles: «Über die Seele» Rudolf Steiner: «Rätsel der Philosophie» (1914), G A 18, i . B d . Augustinus: «Confessiones» (Bekenntnisse), X , 3 Ebd.,X, 8 Augustinus, zit. nach L . J . Pongratz: «Problemgeschichte der Psychologie» (1967) Gustav Theodor Fechner: «Über die Seelenfrage» K a r l Bühler: «Die Krise der Psychologie» (1927; 1978) C . F. Graumann: «Zur Lage der Psychologie 1 9 7 0 » , Bericht über den 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1970 in K i e l (vgl. Vorwort, A n m . 4) E . R o t h : «Zur Lage der Psychologie 1980, Bericht über den 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1980 in Zürich (vgl. Vorwort, A n m . 4) P. Hofstätter: «Fischers Lexikon der Psychologie» (1972) C . F. Redlich: «Der Gesundheitsbegriff in der Psychiatrie»; i n : «Der Kranke in der modernen Gesellschaft» (1967), hrsg. von A . Mitscherlich Vgl. A n m . 11 zu den Vorträgen (S. 271 f) zitiert nach W. Schulz: «Philosophie in der veränderten Welt» (1974)
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B . F . S k i n n e r : «JenseitsvonFreiheitundWürde»(i973);zitiert nach H . Balmer: «Objektive Psychologie - verstehende Psychologie»; in: «Die Psychologie im 20. Jahrhundert» (1979) Sir C y r i l Burt; zitiert nach A . Köstler: «Die A r m u t der Psychologie» (1980) Vgl. A n m . 17 Rudolf Steiner: «Anthroposophie - ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte» (1921), G A 78 S. Freud: Gesammelte Werke, Band X I I I D i e Vorstellung geht zurück auf Rene Descartes. Die philosophischen, physiologisch-medizinischen und psychologischen Konsequenzen seiner Auffassung werden z . B . in der «objektiven» und Verhaltenspsychologie manifest. Z . B. ist die messende Naturwissenschaft nicht anwendbar auf die Seele, was die beiden oben charakterisierten psychologischen Richtungen tun. Rudolf Steiner: «Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung» ( 9 3)> G A 3 2 6 :
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28 Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), Humanist und Philosoph, Urheber der modernen philosophischen Anthropologie durch Betonung der Freiheit des Menschen, worin seine Würde urständet. 29 Rudolf Steiner: «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» (1886), G A 2, Kap. 18 30 G . Benedetti: «Vom Wesen der Psychoanalyse als einer Wissenschaft der Introspektion»; in: «Sich selbst erkennen» (1982) 31 Rudolf Treichler: «Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf» (1981)
32 Rudolf Treichler: a. a. O . 33 J . W. Goethe: «Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort», Hamburger Ausgabe, B d . X I I I 34 J . W . Goethe, zitiert nach W. Blankenburg: «Was heißt anthropologische Psychiatrie?»; i n : «Leib, Geist, Geschichte», hrsg. v. A . Kraus, (1978) 35 Rudolf Steiner: «Wege der geistigen Erkenntnis und der E r neuerung künstlerischer Weltanschauung» (1915), G A 161 36 Rudolf Steiner, a. a. O . 37 Rudolf Steiner, vgl. 2. Vortrag S. 33 in diesem Band, entnommen aus G A 52 38 Rudolf Steiner: «Anthroposophische Leitsätze-Der Erkenntnisweg der Antroposophie - Das Michaelmysterium» (1924/ 2 ),GA26 5
39 Rudolf Steiner, vgl. den Vortrag «Geist, Seele und Leib des Menschen» vom 28.2.1918, 3. Vortrag i n diesem Band 40 Rudolf Steiner: «Anthroposophie, ihr Wesen und ihre philosophischen Grundlagen» Vortrag vom 8.7.1920 41 Rudolf Steiner: «Anthroposophische Leitsätze» (1924/25), GA26
42 Vgl. Binswanger: «Erinnerungen an S. Freud»; zitiert nach W. Blankenburg, a. a. O . 43 Rudolf Steiner: «Das Wesen des Musikalischen und das TonErlebnis im Menschen», Vortrag vom 2.12.1922, G A 283; enthalten auch i n : Rudolf Steiner, Themen aus dem Gesamtwerk B d . 2, «Sprechen und Sprache» (1980) 44 R u d o l f Steiner: «Ursprung und Ziel des Menschen» (1904/ 05), G A 5 3 45 Vgl. A n m . 41, a. a. O .
46 R u d o l f Steiner: «Theosophie» (1904), G A 9
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Quellennachweis Vorträge nach der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe im Rudolf-Steiner-Verlag, Domach/Schweiz.
(GA),
erschienen
Anthroposophie und Psychologie, W i e n , 2. Juni 1922; in: Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, G A 83. Theosophische Seelenlehre, Berlin, 16.März 1904; i n : Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung, G A 52. Geist, Seele und Leib des Menschen, Berlin, 28. Februar 1918; i n : Das Ewige i n der Menschenseele, G A 67. Die vorgeburtliche und nachtodliche Wurzel des Seelischen in Bild und K e i m , Stuttgart, 22. August 1919; i n : Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, G A 293. Die Dreigliederung der Seele, Dornach, 30. Oktober 1921; i n : A n throposophie als Kosmosophie (II), G A 208. D i e leibliche, seelische und geistige Seite des Seelenlebens, Berlin, 1. November 1910; i n : Anthroposophie - Psychosophie - Pneumatosophie, G A 115. Seelenkräfte zwischen Vorstellen und Begehren, Berlin, 3. N o v e m ber 1910; G A 115. Vom Wesen des Bewußtseins. Das Entstehen des Urteils und der Ich-Vorstellung, Berlin, 4. November 1910; G A 115. Der menschliche Charakter, München, 14. März 1910; i n : Metamorphosen des Seelenlebens (I), als G A 58 vorgesehen für N e u auflage 1984. Denken - Fühlen - Wollen, Dornach, 15. Juli 1921; i n : Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist (I), G A 205. Grundlinien einer okkulten Psychologie, Dornach, 30. September 1921; i n : Anthroposophie als Kosmosophie (I), G A 207.
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