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JOSEF PIEPER
ÜBER DIE HOFFNUNG Neuausgabe 2006. Erstmals erschienen bei Kösel, München 1962. © Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 2006.
Bemerkungen über den Begriff des Status Viatoris ...................................................................................1 Hoffnung als Tugend ...............................................................................................................................................5 Die Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung ........................................................................................................ 13 Die Vorwegnahme der Erfüllung ..................................................................................................................... 19 Das Geschenk der Furcht .................................................................................................................................... 22 Anmerkungen .......................................................................................................................................................... 27
I. BEMERKUNGEN ÜBER DEN BEGRIFF DES STATUS VIATORIS Das Wort vom Menschen als «Erdenpilger», von der «Pilgerschaft» des irdischen Lebens ist durch eine Art pastoraler Melodramatik um seinen Ernst und seinen metallisch-realistischen Kern gebracht worden und auch um seine verbindliche Kraft. Dies Wort ist nicht mehr der klare Spiegel der Wirklichkeit, die es erstlich abbilden soll. Sein ursprünglicher Sinn ist von mancherlei unverbindlich-ästhetischen Beiklängen überwuchert; er wird fast verdeckt durch einen Schleier von mißtönenden Nebenbedeutungen, deren falsche Sentimentalität dem heutigen Menschen, vor allem der jungen Generation und vielleicht just den Besten darunter, geradezu die Lust verdirbt, zu der in jenem Worte letztlich gemeinten Wirklichkeit vorzustoßen. Die aber gehört zu den Fundamenten des christlichen In-der-Welt-Seins; der Begriff des status viatoris gehört zu den Grundbegriffen aller christlichen Lebenslehre. Viator heißt: der auf dem Wege. Und status viatoris meint den Zustand des Auf-dem-WegeSeins. Der zugeordnete Gegenbegriff ist der des status comprehensoris. Wer begriffen, umfangen, erreicht hat, ist nicht mehr viator, sondern comprehensor; dies Wort hat die Theologie einem Paulusbrief entnommen: «Brüder, ich bilde mir nicht ein, das Ziel erreicht zu haben (comprehendisse)» (Phil 3,14). Auf dem Wege, viator sein, heißt: ausschreiten auf die Glückseligkeit zu; umfangen haben, (11) comprehensor sein, heißt: die Glückseligkeit besitzen.1
1 I, 15, 10. Unter den monographischen Abhandlungen, die mir zu Gesicht kamen, steht durchaus an erster Stelle der vorzügliche Kommentar zu den sechs Quästionen des Thomas von Aquin über die
2 Unter Glückseligkeit aber ist zuerst die objektiv seinsmäßige Erfüllung und erst an zweiter Stelle die subjektive Antwort auf diese Erfüllung verstanden. Und diese Erfüllung ist die beseligende Schau Gottes. Die Begriffe status viatoris und status comprehensoris bezeichnen schlechthin die UrSeinsweisen aller Kreatur, vor allem des Menschen. Mehr oder weniger ausdrücklich sind fast alle theologischen Sätze über den Menschen (und den Engel) auf je einen dieser Begriffe bezogen; und es ist erstaunlich, wie viele Grundbegriffe der Theologie einen zweifachen Sinn haben je nach ihrer Hinordnung auf den Zustand es Auf-dem-Wege-Seins oder des umfangenden Besitzes. Es ist kaum eine Aussage möglich, die tiefer in die innerste Zone geschöpflicher Existenz eindränge als die: daß der Mensch bis zu seinem Tode in statu viatoris, im Zustand des Auf-demWege-Seins, ist. Die Deutung, die dieser Satz durch die volkstümliche Frömmigkeit erfährt – daß die Menschenseele nach der Unrast des irdischen Lebens in die (12) heimatliche Ruhe des Himmels komme –, ist, obwohl der aufgeklärten Verzweiflung des Weltmenschen im fast wörtlichen Sinne himmelhoch überlegen, doch nur die bildhaft-einprägsame Abkürzungsformel für einen dem volkstümlichen Denken nur unvollkommen durchsichtigen metaphysischen Sachverhalt, dessen Aufhellung den menschlichen Geist zu den tiefsten Erkenntnissen über sein eigenes Dasein zu führen vermag. Der Zustand des Auf-dem-Wege-Seins ist nicht im nächstliegenden, äußerlichen Sinne eine Bestimmung des Ortes. Dieser Zustand bezeichnet vielmehr die innerste Seinsverfassung der Kreatur. Er ist das innere seinshafte «Noch nicht» des Geschöpfes. Das «Noch nicht» des status viatoris schließt ein Negatives und ein Positives in sich: das Nichtsein der Erfüllung und die Richtung auf die Erfüllung. Was die negative Seite des status viatoris vor allem begründet und ausmacht, das ist die daseinsmäßige Nähe des Geschöpfes zum Nichts. Diese Beziehung der Kreatur zum Nichts wurzelt in der Ur-Tatsache, daß alles Geschaffene aus dem Nichts erschaffen ist. Sie kommt zu Wort in der Kehrseite der menschlichen Freiheit, in der Möglichkeit zu sündigen; die Sünde nämlich ist nichts anderes als eine Hinwendung zum Nichts: «Der Möglichkeit zu sündigen kann die vernunftbegabte Kreatur auf natürliche Weise nicht enthoben werden; denn (13) ebendadurch, daß sie aus dem Nichts stammt, kann ihre Macht sich dem Nichtsein zukehren.»2 Die Aufhebung es status viatoris und der Eintritt in den status comprehensoris bedeutet, daß diese Macht des Geschöpfes, sich in Freiheit dem Nichts zuzuwenden, «gebunden» wird (ligatur3) durch die gnadenhafte Vereinigung mit dem schlechthin Seienden. Die Freiheit zu sündigen wird umgewandelt in die höhere Freiheit des Nichtsündigen-Könnens.4 Das Positive, das der Begriff des Auf-dem-Wege-Seins einschließt, die seinshaft innere Richtung der Kreatur auf die Erfüllung, erweist sich erstlich in der Kraft des Menschen, durch sein eigenes Tun eine Art von gerechtem «Anspruch» auf die glückhafte Beendigung seines Hoffnung (II, II, 17-22), den der Dominikaner J. Le Tilly in der französischen Ausgabe der Summa theologica geschrieben hat (Editions de la Revue des Jeunes, Paris 1929). 2 2 d. 23, 1. 3 Ebd. 4 I, 62, 8 ad 3.
3 Weges zu begründen. Diese Kraft ist nichts anderes als die Möglichkeit der «verdienstlichen» Handlung, die also den Charakter eines wirklichen «Schrittes» hat. (Dadurch ist nicht berührt, daß die «verdienstliche» Handlung etwas voraussetzt, das nicht «verdient» werden kann.) Der status comprehensoris erfüllt den «Anspruch» der «Verdienste», jene Möglichkeit verdienstlichen Tuns fällt also als Möglichkeit ebenso dahin wie die Freiheit zu sündigen. (14) Im Übergang vom Zustand des Auf-dem-Wege-Seins in den status comprehensoris wird also der status viatoris in seinem Negativen und in seinem Positiven aufgehoben: die Möglichkeit der Hinwendung zum Nichts wird aufgehoben durch Bindung, der Anspruch und die Richtung auf die Erfüllung wird aufgehoben durch die Erfüllung selbst. Der status viatoris wird beendet durch den Zeitpunkt, in dem die Widerruflichkeit an die Unwiderruflichkeit grenzt. Dieser Zeitpunkt besiegelt nicht nur die Erfüllung, sondern auch die Nicht-Erfüllung. Auch die Entscheidung für das Nichts wird in diesem Augenblick endgültig. Der Zustand des Auf-dem-Wege-Seins wird im einen wie im anderen Fall aufgehoben; auch «der Satan hat durch seine Sünde augenblicks den status viatoris verloren».5 Die Verdammung ist die unwiderrufliche Fixierung des Willens auf das Nichts; wie der status comprehensoris die comfirmatio in bono ist, die «Festmachung» des Willens auf das höchste Sein. In der Verdammung wird das Positive des status viatoris, die Richtung auf die Erfüllung, endgültig abgeschnitten und zerstört; und das Negative wird, isoliert, zu einer absoluten Größe. Das seinshafte (15) innere «Noch nicht» des Geschöpfes wird schlechthin zum seinshaft inneren «Nicht». Der «Weg» des Menschen führt in den Tod. Seit der Mensch am Anfang seiner Geschichte durch die Sünde unter das Gesetz des Todes trat, wurde sein Leben zu einem beginnenden Sterben.6 Der «Weg» des Menschen führt in den Tod als in sein Ende, nicht aber als in seinen Sinn. Der Sinn des status viatoris ist der status comprehensoris. Für den Menschen also währt der status viatoris so lange, als sein leibhaftes Dasein währt; der status viatoris endet mit dem leibhaften Dasein. Darum ist des Menschen «Weg» die «Zeitlichkeit» selbst. Zeit nämlich gibt es nur im Hinblick auf das Vergängliche des Menschen. Die Bindung des Geistes an den Leib begründet seine Bindung in die Zeit; der Geist in sich, auch des Menschen, ist «über der Zeit».7 Im Tode, da der Mensch den status viatoris verläßt, tritt er auch aus der Zeit. Was nicht heißt, daß er in den Raum der eigentlichen Ewigkeit Gottes einträte.8 Die gegenwärtige «Existenzphilosophie», die das menschliche Dasein als «Sein zum Tode» ausschließlich in seiner Zeitlichkeit in den Blick nimmt, hat so weit durchaus recht, als sie gegen eine idealistische Lehre vom Menschen steht, in welcher der (16) status viatoris seinswidrig in eine zeitlose Gottähnlichkeit verkleidet erscheint. Aber soweit diese «Existenzphilosophie» das Dasein des Menschen als wesenhaft und «im Grunde seines Seins zeitlich» (Heidegger) auffaßt, verfehlt auch sie den wahren Charakter ihres Gegenstandes. Die menschliche Existenz ist nur als status viatoris zeitlich. Wer also die Zeitlichkeit ohne Einschränkung als schlechthin notwendiges Wesensmerkmal des menschlichen Daseins zu begreifen sucht, dem bleibt nicht etwa nur das «Jenseits» der Zeit verborgen, sondern auch der Sinn des innerzeitlichen Daseins selbst. Der Mal. 16, 5. Augustinus, De peccatorum meritis et remissione 1, 16. 7 I, II, 53, 3 ad 3. 8 I, 10, 5. 5 6
4 Idealismus verkennt das Wesen menschlicher Existenz, weil er den status viatoris «ausläßt»; die «Existenzphilosophie» verfehlt das wahre Wesen der menschlichen Existenz, weil sie den «Weg»-Charakter des status viatoris, seine Richtung auf die Erfüllung jenseits der Zeit, also im Grunde gleichfalls den status viatoris selbst, leugnet. Auch die Engel, die seligen und die gefallenen, sind im strengen Sinn viatores, «auf dem Wege», gewesen. Aber ihr «Weg» war nicht die «Zeitlichkeit» (was wiederum nicht heißt, sie seien der Ewigkeit Gottes teilhaftig). Für den Engel war der status viatoris ein einziger Augenblick – («Augenblick» sagt schon wieder Zeit, es gelingt uns nicht, anders als zeithaft zu denken); es war ein Augenblick der Möglichkeit einer geistigen Entscheidung für oder gegen Gott. Vom ersten Nu seiner Existenz an stand (17) der Engel «am Ende seines Weges»9; die Spanne eines einzigen unzeitlichen Aktes der Entscheidung trennte ihn vom Ziel. Dieser Akt hat im Engel den status viatoris aufgehoben. Der heilige Thomas sagt Gott habe dem Menschen einen «längeren Weg» bestimmt als dem Engel, weil der Mensch in der Stufenordnung der Naturen weiter von Gott entfernt sei, «magis a Deo distans».10 Der Begriff des status viatoris bezeichnet in einem besonderen Sinne die innere Struktur der Geschöpflichkeit des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Menschen enthüllt sich vornehmlich in der tiefen Seinsunterschiedenheit gegen Gott, die der Grundsatz von der «Analogie des Seins» ausspricht. Diese Seinsunterschiedenheit liegt vor allem darin, daß Gott der schlechthin Seiende ist, in dessen Seinsfülle Wesen und Dasein in eins fallen; während der Mensch sein Wesen nicht schon «ist», sondern sein Wesen «wird». Dieser Werdenscharakter des Kreatürlichen aber tritt im Begriff des status viatoris besonders deutlich hervor; im «Noch nicht» des Auf-dem-Wege-Seins stellt sich die Ausgespanntheit des geschöpflichen «Werdeseins» (Przywara) zwischen den Ufern des Seins und des Nichts wie in einem Hohlspiegel dar. (18) Kreatursein heißt durchaus «Hineingehaltenheit in das Nichts» (Heidegger); noch mehr aber bedeutet Kreatursein die Gegründetheit im absoluten Sein und die existentielle Richtung auf das Sein, auf das eigene Sein und auf das göttliche Sein zugleich.11 Und es ist durchaus richtig: «Die geschaffenen Wesen könnten, wie sie aus dem Nichts stammen, auch wieder zurücksinken in das Nichts, wenn es Gott gefiele»12; aber: «Er hat alles geschaffen, damit es sei» (Weish 1,14). Unter der Unzahl von Einwänden, die der heilige Thomas in seinen Quästionen sich selbst macht, findet sich ein Satz, der Wort für Wort in den Büchern der nihilistischen «Existenzphilosophie» unserer Zeit stehen könnte: «proprius motus naturae ex nihilo existentis est ut in nihilum tendat», die Eigenbewegung eines Wesens, das aus dem Nichts ist, richtet sich auf das Nichts.13 Darauf gibt der «allgemeine Lehrer» der Kirche folgende Antwort: Die Richtung ins Nichts ist nicht die Eigenbewegung des natürlichen Seins, die immer auf ein Gut sich richtet (gut aber bedeutet: seiend); sondern die Richtung ins Nichts kommt zustande gerade durch das Versagen jener Eigenbewegung.14 Trotz aller Möglichkeit des Absturzes (19) ins Nichts: die
Quodl. 9, 8 ad 2. 2 d. 7, 1, 2; vgl. 2 d. 23, 1, 2 ad 2; 1, 62, 5 ad 1. 11 Pot. 5, 4. 12 Pot. 5, 4 ad 10. 13 Pot. 5, 1 obj. 16. 14 Pot. 5, 1 ad 16. 9
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5 Richtung des «Weges» zielt auf das Sein; so sehr, daß sogar die Entscheidung für das Nichts, um möglich zu werden, die Maske einer Entscheidung für das Sein tragen muß. Die Ausgespanntheit der kreatürlichen Existenz zwischen Sein und Nichts kann also niemals so verstanden werden, als sei die Beziehung zum Nichts der Beziehung zum Sein einfachhin gleichen Ranges zugeordnet oder gar vor- und übergeordnet. Der «Weg» des homo viator, des «Menschen auf dem Wege», ist nicht ein richtungsloses Hin und Her zwischen Sein und Nichts; er führt in die Verwirklichung und nicht in die Vernichtung, obwohl die Verwirklichung «noch nicht» erfüllt und obwohl der Abfall ins Nichts «noch nicht» unmöglich ist. Für den Menschen, der in statu viatoris seine wesenhafte Kreatürlichkeit, das «noch nicht seiende Sein» seiner eigenen Existenz, erfährt, gibt es nur eine gemäße Antwort auf diese Erfahrung. Die Antwort kann nicht die Verzweiflung sein – denn der Sinn kreatürlicher Existenz ist nicht das Nichts, sondern das Sein, das heißt: die Erfüllung. Die Antwort kann auch nicht die beruhigte Sicherheit des Habens sein – denn noch grenzt das «Werdesein» der Kreatur gefährdet an das Nichts. Beide, Verzweiflung und Besitz-Gewißheit, widerstreiten der wahren Realität. Die einzige Antwort, die der wirklichen Existenz-Situation des Menschen entspricht, ist: die Hoffnung. (20) Die Tugend der Hoffnung ist die erstlich zugeordnete Tugend des status viatoris; sie ist die eigentliche Tugend des «Noch nicht». In der Tugend der Hoffnung vor allen anderen versteht und bejaht der Mensch sich darin, Kreatur zu sein, ein Geschöpf Gottes. (21)
II. HOFFNUNG ALS TUGEND Niemals könnte ein Philosoph auf den Gedanken kommen, die Hoffnung zu einer Tugend zu erklären es sei denn, er wäre zugleich christlicher Theologe. Denn die Hoffnung ist entweder theologische Tugend, oder sie ist überhaupt nicht Tugend. Sie wird zur Tugend durch nichts anderes als wodurch sie zur theologischen Tugend wird.15 Tugend ist nicht die gezähmte «Ordentlichkeit» und «Bravheit» des Spießbürgers, sondern: seinshafte Erhöhung der menschlichen Person. Tugend ist das ultimum potentiae,16 das Äußerste dessen, was ein Mensch sein kann; sie ist die Erfüllung menschlichen Seinkönnens. Tugend ist die Vollendung des Menschen zu einem Tun, durch das er seine Glückseligkeit verwirklicht.17 Tugend bedeutet die Unbeirrbarkeit der Richtung des Menschen auf die wahrhafte Verwirklichung seines Wesen, das ist: auf das Gute. Theologische Tugend sagt eine Seinserhöhung aus, die schlechthin das übersteigt, was der Mensch aus sich selbst «sein kann». Theologische Tugend ist die unbeirrbare Richtung auf eine Erfüllung und eine Glückseligkeit, die dem natürlichen Menschen nicht «geschuldet» sind. Theologische Tugend ist das Äußerste eines übernatürlichen Seinkönnens. (25) Dieses übernatürliche Seinkönnen gründet in der realen gnadenhaften Teilhabe am göttlichen Sein, die dem Menschen durch Christus zugefallen ist (2 Petr 1,4). I, II, 62, 3 ad 2. Virt. card. 3. 17 I, II, 62, 1. 15 16
6 Jene unbeirrbare Ausgerichtetheit des Menschen auf die Erfüllung also, die wir «theologische» Tugend nennen, nimmt – erstens – ihren Ursprung aus einem eigentlich göttlichen Sein im Menschen, aus der Gnade.18 Zweitens: sie zielt unmittelbar auf die übernatürliche Glückseligkeit in dem auf übernatürliche Weise erkannten Gott. Und endlich: vom Dasein, vom Ursprung und vom Gegenstand dieser theologischen Tugend wissen wir nur durch die göttliche Offenbarung. Der Satz, die Hoffnung sei Tugend nur als theologische Tugend, besagt also dieses: Die Hoffnung ist nur dann unbeirrbare Hinwendung auf die wahre Wesenserfüllung, das ist, auf das Gute, wenn sie aus der Gnadenwirklichkeit im Menschen ihren Ursprung nimmt und sich richtet auf die übernatürliche Glückseligkeit in Gott. Die Gerechtigkeit etwa ist auch schon diesseits der übernatürlichen Ordnung wirkliche Tugend, klare Ausrichtung auf das Gute. Wenn die Gerechtigkeit aufhört, sich auf das Gute zu richten, dann hört sie auch auf, Gerechtigkeit zu sein. Die Hoffnung aber kann sich – im natürlichen Bereich – auch dem objektiv Bösen zuwenden, ohne dadurch (26) aufzuhören, wirklich Hoffnung zu sein. Der natürlichen Hoffnung fehlt, was zum Begriff der Tugend gehört: «quod ita sit principium actus boni, quod nullo modo mali», so sehr auf das Gute ausgerichtet zu sein, daß sie auf keine Weise dem Bösen sich zukehren kann.19 Diese Festigkeit der Ausrichtung auf das Gute erfährt die Hoffnung erst, das ist deutlich, als gottgewirkte Hinwendung zu Gott, das heißt: als theologische Tugend. Die Hoffnung ist, wie die Liebe, eine der ganz einfachen Ur-Gebärden des Lebendigen. In der Hoffnung reckt der Mensch sich «unruhigen Herzens» in vertrauend auslangender Erwartung empor nach dem «bonum arduum futurum», nach dem steilen «Noch nicht» der Erfüllung, der natürlichen wie der übernatürlichen. Das Auslangen der triebhaft-geistigen Hoffnung des natürlichen Menschen hat, wie schon gesagt wurde, aus sich nicht die Sicherheit der Richtung auf das wahrhaft Gute, die das begriffliche Wesen der Tugend ausmacht. Aber dieses natürliche Auslangen ist – als formbarer Stoff, als bereite materia – wesenhaft hingeordnet auf die Siegelung durch das formende Richtmaß der Tugend, damit es aus dieser Prägung auch selbst Anteil gewinne an der Ausrichtung auf das Gute. (27) Die Gebärde des sinnlich-geistigen Hoffens nun, die sich hinaufreckt zu dem «Noch nicht» der natürlichen Erfüllung des Menschen, ist, als materia, vor allem zwei Tugenden zugeordnet: der Hochgemutheit (magnanimitas) und der Demut.20 Der eigentliche Auftrieb der natürlichen Hoffnung mündet geformt in die Tugend der Hochgemutheit. Die Demut ist die wehrende Schranke und Ufermauer dieses Einmündens. Die Hochgemutheit, eine sehr vergessene Tugend, ist das Sichspannen des Geistes auf die großen Dinge, «extensio animi ad magna».21 Hochgemut ist, wer sich das Große zumutet und sich seiner wert macht. Diese Tugend wurzelt in dem tapferen Vertrauen in die hohen Möglichkeiten, welche die menschliche Natur, von Gott «wunderbar gegründet und wunderbarer Ebd. Virt. com. 2. 20 II, II, 161, 1. 21 II, II, 129, 1. 18 19
7 wiederhergestellt» (Missale Romanum), in sich schließt.22 So nimmt die Hochgemutheit den Aufschwung der natürlichen Hoffnung in sich hinein und prägt ihn gemäß der Wahrheit des menschlichen Seins. – Hochgemutheit ist, wie Thomas mit Aristoteles sagt, «das Geschmeide aller Tugenden»,23 da sie auch und gerade im Ethischen immer für die jeweils größere Möglichkeit des Seinkönnens sich entscheidet. Es ist ein (28) guter Gedanke, zu denken, daß auf diese Weise alle große Tugend getragen ist von einem Strom, der die tapfere Unruhe unseres natürlichen Hoffens in sich aufgenommen hat und bewahrt. Die Demut, die der Hochgemutheit nur scheinbar widerstreitet,24 ist eine zwar nicht vergessene, aber auf vielerlei Art mißdeutete und mißkannte Tugend. Demut ist – um das gröbste Mißverständnis vorwegzunehmen – nicht nur nicht eine äußere Haltung, sondern sie ist auch an keine äußere Haltung gebunden. Demut beruht auf einer inneren Entscheidung des Willens.25 Demut ist zweitens nicht zuerst eine Beziehungshaltung im Miteinander von Mensch zu Mensch: sie ist die Haltung des Menschen vor dem Angesicht Gottes.26 Demut ist die Erkenntnis und die bejahende Anerkennung des unaussprechbaren Abstandes zwischen Schöpfer und Geschöpf. Sie ist also in einem ganz präzisen Sinn «die dem Menschen eigentümliche Würde vor Gott» (Gertrud von le Fort). Die Würde des Menschen als eines geistbegabten Wesens liegt nämlich in nichts anderem als darin, seinsgerecht – das heißt: wahr – zu erkennen und aus freier Entscheidung wirklichkeitsgemäß zu handeln. Doch kehren wir zu unserem Gegenstand zurück: Demut und natürliche Hoffnung. Es ist das Amt der Demut, das negative Maß des triebhaft-natürlichen Hoffens zu sein. Die (29) Hochgemutheit weist dieses Hoffen in seine eigentlichen Möglichkeiten ein. Die Demut enthüllt, im Blick auf den unendlichen Abstand des Menschen von Gott, das Begrenzte dieser Möglichkeiten und bewahrt sie so gleichfalls vor Schein-Verwirklichungen und für die eigentliche Verwirklichung. Aus dem Miteinander also von Hochgemutheit und Demut wird die wesensgerechte Ordnung des natürlichen Hoffens geboren. Darin gründet die Tatsache, daß diese beiden natürlichen Tugenden, Hochgemutheit und Demut, die wesentlichsten Voraussetzungen sind für die Bewahrung und die Entfaltung der übernatürlichen Hoffnung – soweit es dabei auf den Menschen ankommt. In ihnen repräsentiert sich die äußerste Bereitetheit des natürlichen Menschen, den die Gnade «voraussetzt». Anderseits: Aus zwei Wurzeln vor allem nährt sich der schuldhafte Verlust der übernatürlichen Hoffnung: aus dem Mangel an Hochgemutheit und aus dem Mangel an Demut. Davon wird noch die Rede sein. Das übernatürliche Leben im Menschen ist dreiströmig: Im Glauben kommt die über alle natürliche Erkenntnis hinausragende Wirklichkeit Gottes vor den Blick. Die Liebe bejaht, um seiner selbst willen, das im Glauben verhüllt sichtbar gewordene (30) Höchste Gut. Die Hoffnung ist die vertrauend auslangende Erwartung der Ewigen Glückseligkeit in der schauendumfangenden Teilhabe am dreifaltigen Leben Gottes; die Hoffnung erwartet das Ewige Leben, das Gott selbst ist, aus Gottes eigener Hand, «sperat Deum a Deo».27
II, II, 129, 3 ad 4. II, II, 129, 4 ad 3. 24 II, II, 129, 3 ad 4. 25 II, II, 161, 1 ad 2. 26 II, II, 161, 1 ad 5. 27 Cajetan, Kommentar zu II, II, 17, 5 (n. 7). 22 23
8 Das existentielle Zueinander dieser drei – Glaube, Hoffnung, Liebe – läßt sich zusammengefaßt in drei Sätzen aussprechen: Der erste Satz lautet: Glaube, Hoffnung und Liebe werden der menschlichen Natur als übernatürliche Seinsneigungen (habitus) alle drei zugleich eingesenkt; zugleich mit der Gnadenwirklichkeit, dem alleinigen Seinsgrund alles übernatürlichen Lebens. Der zweite Satz: In der Ordnung der akthaften Entfaltung dieser übernatürlichen Seinshaltungen ist der Glaube früher als Hoffnung und Liebe, und die Hoffnung ist früher als die Liebe.28 Und umgekehrt: in der schuldhaften Unordnung der Auflösung geht zuerst die Liebe verloren, dann die Hoffnung, der Glaube zuletzt.29 Und drittens: In der Rangordnung der Vollkommenheit hat die Liebe den ersten Platz, der Glaube den letzten, die Hoffnung steht zwischen beiden.30 (31) Es ist notwendig, das Verhältnis von Hoffnung und Liebe noch durch eine Unterscheidung aufzuhellen, durch die Unterscheidung nämlich zwischen vollkommener Freundschafts-Liebe (amor amicitae) und unvollkommener, «begehrender» Liebe (amor concupiscentiae), das heißt: zwischen einer Liebe, die den Geliebten um seinetwillen liebt, und einer, die ihn um des Liebenden willen liebt. Die Tugend der Hoffnung ist erstlich mit der unvollkommenen Gottesliebe verbunden, die das Höchste Gut um des Liebenden willen begehrt. Hoffen kann einer nämlich nur für sich selbst (und für den Menschen, den er liebt, für das «andere Selbst»), das gehört zum Begriff und Wesen der Hoffnung.31 Diese unvollkommene Liebe der Hoffnung aber – amour d‘espérance, sagt Franz von Sales – ist der natürliche, nicht zu entwertende Vor-Raum der vollkommenen Freundschaftsliebe (caritas), durch die Gott um seiner selbst willen bejaht wird. Und die vollkommene Gottesliebe, welche theologische Tugend ist und zugleich die Mutter und Wurzel aller christlichen Tugend, durchformt und erhöht rückflutend wiederum die Hoffnung.32 (32) «So strömen die theologischen Tugenden in heiligem Ring in sich zurück: wer durch die Hoffnung hineingeführt wurde in die Liebe, hat von nun an eine vollkommenere Hoffnung auch, wie er jetzt gleichfalls kraftvoller glaubt als zuvor.»33 Es gehört zu den, wie es scheint, unausweichlichen Versuchungen zum Hochmut, durch die gerade die starken Geister gefährdet werden: zu meinen, das erwartungsvoll auf sich selbst bezogene Auslangen der «begehrenden» Gottesliebe – und damit die Hoffnung selbst – entwerten zu dürfen zu einer des wahrhaft vollkommenen Christen unwürdigen, «interessierten» «Tagelöhnerliebe» (als ob ein Mensch überhaupt «uninteressiert» sein könnte an seiner eigenen Wesenserfüllung in Gott – nichts anderes aber ist «der Himmel»). Das Konzil von Trient hat in dieser Sache entschieden: «Wer sagt die Gerechten sollten nicht […] von Gott um seiner Barmherzigkeit und um des Verdienstes Jesu Christi willen den Ewigen Lohn erwarten und erhoffen […]: der sei im Bann.»34 Zwei Jahrhunderte zuvor hatte Bonaventura in
I, II, 62, 4. Spe 3 ad 11. 30 Virt. card 3. 31 Spe 3. 32 I, II, 62, 4. 33 Spe 3 ad 1. 34 Sessio VI, cap. 16, can. 26. 28 29
9 seinem Sentenzenkommentar geschrieben «Viele gibt es, die schauen aus nach der Glückseligkeit und kümmern sich doch wenig um sich selbst und viel um Gott.»35 (33) Es ist sehr schwer, die im Grunde unbegreifliche Tatsache im Blick zu behalten, daß die Hoffnung als Tugend etwas schlechthin Übernatürliches ist. Wohl hat die eigenmenschliche Kraft ihren Anteil an der Erringung des Erhofften, der Ewigen Glückseligkeit. «Aber: die seinshafte Fähigkeit, zu hoffen, selbst (ipse habitus spei), kraft deren einer die Glückseligkeit erwartet, stammt nicht aus Verdienst, sondern einzig aus der Gnade.»36 Paschasius Radbert, ein großer fränkischer Theologe der Karolingerzeit, hat diesen Sachverhalt in seinem schönen Buche über die theologischen Tugenden folgendermaßen ausgedrückt: «Durch die Hand der Hoffnung wird Christus gehalten. Wir halten ihn und werden gehalten. Aber es ist etwas Größeres, daß wir von Christus gehalten werden, als daß wir halten. Denn wir können ihn nur solange halten, als wir von ihm gehalten werden.»37 Aus dem übernatürlichen Charakter der Hoffnung ergibt sich übrigens, daß man über diese «eingegossene» Tugend anders sprechen und schreiben muß als etwa über die Tapferkeit oder über die Gerechtigkeit. Was von einer Darstellung der «erworbenen» und also auch zu erwerbenden Tugenden mit Fug erwartet werden mag, daß sie nämlich (34) zugleich ein Ansporn sei, kann eine Schrift über die Hoffnung nur sehr mittelbar zuwegebringen wollen. Die Verkörperung des übernatürlichen Lebens im Menschen ist, als Symbol und Ursprung zugleich, der Mensch Christus, «in dem die Fülle der Gottheit wohnt». Er ist auch Verkörperung unserer Hoffnung: «Christus in euch: die Hoffnung auf die Herrlichkeit» (Kol 1,27). Christus ist die reale Begründung der Hoffnung. – In einem abgründigen Satz des Hebräerbriefes wird gesprochen von der «Hoffnung, die wir besitzen wie einen sicheren und starken Anker der Seele und die in das Innerste des verhüllten Heiligtums dringt, in das Christus uns voraus eingetreten ist» (6,19). Thomas von Aquin sagt hierzu: «Christus ist für uns in das Innere des Zeltes eingetreten und hat dort unsere Hoffnung festgemacht (fixit).»38 Christus ist zugleich auch die reale Erfüllung unserer Hoffnung. – Diese Tatsache findet sich in großartiger Klarheit ausgesprochen in den Sätzen, durch die Augustinus das Schrift-Wort «spe salvi facti sumus» – «auf Hoffnung hin sind wir gerettet» (Röm 8,24) – zu deuten unternimmt: «Paulus hat also nicht gesagt ‹wir werden gerettet werden›, sondern ‹wir sind schon jetzt gerettet›; jedoch noch (35) nicht in der Wirklichkeit (re), sondern in der Hoffnung; er sagt: ‹auf Hoffnung hin sind wir gerettet›. Die Hoffnung ist uns in Christus, denn in ihm ist schon erfüllt, was wir als Verheißung erhoffen.»39 «Noch sehen wir nicht, was wir hoffen. Aber wir sind der Leib jenes Hauptes, in dem schon vollendet ist, was wir hoffen.»40 Diese seinsmäßige Gebundenheit unserer Hoffnung an Christus ist so sehr entscheidend, daß keine Hoffnung hat, wer nicht in Christus ist (1 Thess 4,13). Das Kompendium der Theologie, das Thomas nur zu einem Drittel vollendet zurückgelassen hat, sollte die gesamte Heilslehre in drei nach den theologischen Tugenden benannten Teilen 3 d. 26, 1, 1 ad 5. II, II, 17, 1 ad 2. 37 De fide, spe et caritate 2, 1. 38 In Hebr. 6, 4. 39 Contra Faustum 11, 7. 40 Sermones 157, 3. 35 36
10 darstellen. Der zweite, nur noch mit wenigen Kapiteln begonnene Teil Über die Hoffnung sollte eine Erklärung des Vaterunser sein. «Wie uns unser Erlöser den Glauben gewirkt und vollendet hat, so war es heilsam, daß er uns auch in die lebendige Hoffnung einführte, indem er uns das Gebet lehrte, durch das unsere Hoffnung am meisten zu Gott hin aufgerichtet wird.»41 Gebet und Hoffnung sind einander wesenhaft zugeordnet. Das Gebet ist die Äußerung und Kundgabe (36) der Hoffnung; es ist interpretativa spei,42 in ihm spricht die Hoffnung sich selbst aus. Und die Gebete der Kirche, in ihrem Hoffen «kühner als alle Gebirge der Denker», schließen insgesamt: per Christum Dominum nostrum, durch Christus unsern Herrn. – Damit knüpft dieser Gedanke sich an den vorigen. Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf aufmerksam zu machen, daß die drei vorangehenden Abschnitte durchaus die Mitte dieses Buches darstellen. Sie enthalten den Kern der theologischen Lehre über die Tugend der Hoffnung. Dieser Kern ist die Aussage, daß es Hoffnung als währende Seinserhöhung des Menschen nicht gibt, es sei denn: aus, durch und in Christus. Die Gewißheit, die der Hoffnung zukommt, ist, was Bonaventura im Sentenzenkommentar mit einigem Nachdruck vermerkt, «schwer zu bestimmen».43 Einerseits nimmt die Hoffnung teil an der unbedingten Gewißheit des Glaubens,44 auf den sie sich stützt: die Hoffnung gründet sich vor allem auf die göttliche Barmherzigkeit und Allmacht, «durch die, auch wer die Gnade nicht hat, ihrer teilhaft werden kann, damit er so zum Ewigen Leben gelange; Gewißheit über die Allmacht und (37) Barmherzigkeit Gottes aber hat ein jeder, der den Glauben hat».45 Von hier aus, das ist: vom eigentlich gnadenhaften Seinskern der übernatürlichen Hoffnung her gesehen, ergibt sich ihre unfehlbare Gewißheit. Ungewiß aber ist, ob der Mensch von sich aus «in der Hoffnung bleibt». Der Mensch, auch der «vollkommene Christ», kann, solange er im status viatoris ist, freien Willens durch die Hinwendung zum Nichts das übernatürliche Leben in sich zerstören und damit auch die darin wurzelnde Hoffnung auf das Ewige Leben. «Das sagt nichts gegen die Gewißheit der Hoffnung»;46 sehr viel aber sagt es gegen die Möglichkeit subjektiver Heilsgewißheit. «Wenngleich alle auf die Hilfe Gottes die festeste Hoffnung setzen müssen, soll niemand sich etwas absolut Sicheres versprechen. Denn Gott vollendet zwar das gute Werk, wie er es begonnen hat, indem er das Wollen und das Vollbringen wirkt, wenn nur sie selbst, die Menschen, sich nicht seiner Gnade entziehen. Und doch sollen, die zu stehen glauben, zusehen, daß sie nicht fallen, und ihr Heil mit Furcht und Zittern wirken […] Sie müssen nämlich in Furcht sein, wissend, daß sie in die Hoffnung (38) der Herrlichkeit, aber noch nicht in die Herrlichkeit wiedergeboren sind.»47
Comp. theol. 2, 3. II, II, 17, 4. 43 3 d. 26, 1, 5. 44 II, II, 18, 4. 45 II, II, 18, 4 ad 2. 46 II, II, 18, 4 ad 3. 47 Konzil von Trient, Sessio VI, cap. 13. 41 42
11 Nie könnte der natürliche Mensch, und wäre er noch so hochgemut, das Ewige Leben der beseligenden Gottesschau erhoffen, ohne damit dem Hochmut zu verfallen (und also auch aufzuhören, hochgemut zu sein). Und dennoch ist diese übernatürliche Wesenserfüllung, auf die sich die theologische Tugend der Hoffnung richtet, in aller natürlichen Hoffnung verborgen gemeint. Alle unsere natürlichen Hoffnungen spannen sich auf Erfüllungen, die wie undeutliche Spiegelungen und Vor-Schatten, wie unbewußte Vorübungen des Ewigen Lebens sind. Die Tugend der Hoffnung bringt, in einem bestimmten Sinne, rückwirkend Ordnung und Richtung auch in das natürliche Hoffen des Menschen, das durch sie erst an ihr eigentliches und letztes «Noch nicht» gebunden wird: «in der Hinordnung auf das Ewige Leben erhoffen wir von Gott die Hilfe nicht nur geistiger, sondern auch leiblicher Wohltaten».48 Auf dem ahnbaren Grunde dieses Satzes des heiligen Thomas (in dem ja nicht weniger gesagt ist als: daß wir auch die natürlichen Güter des Lebens mit übernatürlicher, das heißt, unmittelbar gottgewirkter Hoffnung zu umfangen (39) vermögen) zeichnen sich – schattenhaft zwar, aber dem ehrfürchtigen Auge doch deutlich sichtbar – einige der tragenden Strukturen ab, nach denen die übernatürliche Welt gebaut ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der eine sicher aus dem Glauben lebende Zeit die natürliche Hoffnung mit der übernatürlichen verknüpfte, ist uns heute fast unzugänglich geworden. Es fällt uns sehr schwer zu begreifen, mit welcher Unbefangenheit etwa Dante im Paradiso, im fünfundzwanzigsten Gesang (dieser Gesang der Göttlichen Komödie entfaltet im Zwiegespräch mit dem Apostel der Hoffnung, Jakobus, dem «Baron» des Himmelreiches, eine ganze Theologie der übernatürlichen Hoffnung) – mit welcher Unbefangenheit, sagte ich, Dante entrückt in die Sphären des «Fixsternhimmels», auch seiner irdischen Hoffnung auf eine ruhmvolle Rückkehr nach Florenz freien Ausdruck gibt: «Sollt je dem heiligen Lied es widerfahren, Den Haß zu tilgen, der mir wehrt, zu liegen Im schönen Pferche, drin ich schlief, ein Lämmlein: Mit andrer Stimme dann, mit andrem Haare Käm ich als Dichter heim, daß sich am Borne, Wo ich getauft, die Stirn dem Lorbeer paare.»49 (40) Die übernatürliche Hoffnung also, die nicht nur das erwartende Auslangen selbst, sondern auch die lebendige Kraftquelle dieses Auslangens in sich schließt, vermag auch die natürlichen Hoffnungskräfte in einem neuen Aufschwung zu verjüngen. «Verjüngung» ist hier genau das richtige Wort. Jugendlichkeit und Hoffnung sind einander in mehrfachem Sinne zugeordnet. Beide gehören, im natürlichen wie im übernatürlichen Bereich, zusammen. Die Gestalt des Jünglings ist der ewige Symbolträger der Hoffnung, wie sie auch der Symbolträger der Hochgemutheit ist. Die natürliche Hoffnung entspringt der jugendlichen Kraft des Menschen und versiegt mit ihr. «Jungsein ist die Ursache der Hoffnung. Die Jugend nämlich hat viel Zukunft und wenig Vergangenheit.»50 So wird anderseits mit dem sinkenden Leben vor allem die Hoffnung müde; das «Noch nicht» verkehrt sich in das Gewesene, und das Alter wendet sich, statt dem «Noch nicht», erinnernd dem «Nicht mehr» zu. Spe 1. Paradiso 25, 1 – 9. 50 I, II, 40, 6. 48 49
12 Für die übernatürliche Hoffnung aber gilt das Umgekehrte: sie ist nicht nur nicht gebunden an das natürliche Jungsein, sondern sie begründet gerade eine viel wesenhaftere Jugendlichkeit. Sie schenkt dem Menschen ein «Noch nicht», das dem Sinken der natürlichen Hoffnungskräfte schlechthin (41) überlegen und entrückt ist. Sie gibt dem Menschen so «viel Zukunft», daß die Vergangenheit eines noch so langen und reichen Lebens dagegen als «wenig Vergangenheit» erscheint. Die theologische Tugend der Hoffnung ist die Kraft des Auslangens nach einem «Noch nicht», das um so unausmeßbarer sich weitet, je näher wir ihm sind. Und die übernatürliche Spannkraft der Hoffnung strömt über und strahlt aus auch in die Kräfte der natürlichen Hoffnung. Aus unzähligen Heiligenleben leuchtet dieser wahrhaft erstaunliche Sachverhalt hervor. Verwunderlich ist nur, wie selten man die hinreißende Jugendlichkeit unserer großen Heiligen, vor allem der in der Welt wirkenden, bauenden und «gründenden» Heiligen, zu bemerken scheint. Kaum etwas anderes denn gerade diese Jugendlichkeit der Heiligen spricht so aufrufend für die Tatsache, die doch den heutigen Menschen besonders betroffen machen müßte: daß, im wörtlichsten Sinn der Worte, nichts so sehr «ewige Jugend» verbürgt und begründet wie die theologische Tugend der Hoffnung. Sie allein vermag dem Menschen zu unverlierbarem Besitz jenes Sichspannen mitzuteilen, das gelöst ist und straff zugleich, jene Elastizität und Leichtigkeit, jene starkherzige Frische, jene federnde Freudigkeit, jene gelassene Tapferkeit des Vertrauens, die den jugendlichen Menschen unterscheidend auszeichnen und so liebenswert machen. (42) Man denke nicht, hier sei nur dem «Zeitgeist» ein fatales Zugeständnis gemacht. Es gibt ein Augustinus-Wort: «Gott ist jünger als alle.»51 Das Jungsein, das die übernatürliche Hoffnung dem Menschen gibt, prägt das menschliche Wesen in einer viel tieferen Schicht als das natürliche Jungsein. Die übernatürlich begründete, aber doch sehr sichtbar in das Natürliche sich auswirkende Jugendlichkeit des hoffenden Christen lebt aus einer Wurzel, die in eine Zone des menschlichen Seins hinabdringt, welche die natürlichen Hoffnungskräfte nicht erreichen. Die übernatürliche Jugendlichkeit nämlich strömt aus der Teilhabe am Leben Gottes, der uns innerlicher und näher ist als wir selbst. Darum ist die Jugendlichkeit des auf das Ewige Leben sich spannenden Menschen wesentlich unzerstörbar. Sie ist dem Altern wie der Enttäuschung unerreichbar; sie bewährt sich gerade im Vergehen der natürlichen Jugend und in den Versuchungen zur Verzweiflung. Paulus sagt: «Wenn auch unser äußerer Mensch vergeht, der innere verjüngt sich von Tag zu Tag» (2 Kor 4,16). Kein Wort aber gibt es in der Heiligen Schrift und in der Menschensprache überhaupt, das die aller Vernichtung standhaltende Jugend des hoffenden Menschen, durch einen Vorhang von Tränen hindurch, so (43) triumphal laut werden läßt wie der Satz des Dulders Hiob: «Wenn Er mich auch tötet, ich werde auf Ihn hoffen» (13,15).52 Diesem Satz ist dies ganze Buch über die Hoffnung deshalb unterstellt worden, weil es, wie ich glaube, notwendig ist, daß eine Zeit, deren forcierter und sehr äußerlicher Jungendlichkeitskult wahrscheinlich aus ihrer Verzweiflung entspringt, den äußersten Gipfel in den Blick bekommt, bis zu dem hin das hoffende Jungsein des gotthingegebenen Menschen sich aufzuschwingen vermag. Zugleich entzieht jenes Wort aus dem Buch Hiob einem Mißverständnis den Boden, das in einer katastrophischen Zeit buchstäblich lebensgefährlich ist. Es ist das Mißverständnis, als könnte die Durchformbarkeit der natürlichen Hoffnung durch die 51 52
De genesi ad litteram VIII, 26, 48. Dieser Text entspricht der lateinischen Vulgata, aber nicht dem hebräischen Urtext.
13 übernatürliche auch von unten her (statt von oben) verstanden werden; mit anderen Worten, als müsse die Erfüllung der übernatürlichen Hoffnung ihren Weg nehmen über die Erfüllung der natürlichen Hoffnungen. Und es mag gut sein, wenn eine Christenheit, die in einer Epoche der Versuchungen zur Verzweiflung die Feldzeichen der Hoffnung auf das Ewige Leben hochzuhalten sich müht, ihrer «jungen Generation» den Satz des Hiob früh genug zu lesen und, vor allem, zu verstehen gibt. (44) Den Schluß dieses Kapitels jedoch sollen die Verse bilden, die ihrerseits im Buche Jesaias, dem Hoffnungs- und Trostbuche Israels, das ruhmreiche Kapitel von der Heilsbotschaft, das vierzigste, beschließen (das mit dem adventlichen Consolamini beginnt: «O tröstet, tröstet doch mein Volk»). Diese Verse aber – die deutschen Mystiker würden sie eine «jubilus» genannt haben – lauten folgendermaßen: «Die auf den Herrn hoffen, werden eine neue Tapferkeit gewinnen. Es werden ihnen Schwingen wachsen gleich den Adlern. Sie werden laufen: unangestrengt. Sie werden wandern: unermüdbar» (Jes 40,31). (45)
III. DIE VORWEGNAHME DER NICHT-ERFÜLLUNG Es gibt zwei Formen der Hoffnungslosigkeit. Die eine ist Verzweiflung, die andere die praesumptio. Praesumptio wird gewöhnlich durch «Vermessenheit» übersetzt, obwohl die Verdeutschung durch «Vorwegnahme» nicht nur wortgemäßer ist, sondern auch den Sinn sehr genau trifft. Die praesumptio ist die seinswidrige Vorwegnahme der Erfüllung. Auch die Verzweiflung ist Vorwegnahme. Sie ist die seinswidrige Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung: «Verzweifeln heißt in die Hölle hinabsteigen.»53 Die Benennung der Verzweiflung und der Vermessenheit als «Vorwegnahme» offenbart den Sachverhalt, daß beide den Weg-Charakter des menschlichen Daseins im status viatoris zerstören. Beide heben das echte Werden auf. Das «Noch nicht» wird wirklichkeitswidrig umgedeutet entweder in das «Nicht» oder in das «Schon» der Erfüllung. In der Verzweiflung wie in der Vermessenheit erstarrt und gefriert das eigentlich Menschliche, das die Hoffnung allein in strömender Gelöstheit zu bewahren vermag. Beide Formen der Hoffnungslosigkeit sind im eigentlichen Sinne unmenschlich und tödlich. «Diese beiden Dinge töten die Seele: die Verzweiflung und die verkehrte Hoffnung», sagt Augustinus.54 Und Ambrosius: (49) «Der scheint überhaupt kein Mensch zu sein, der nicht auf Gott hofft.»55 Wenn wir heute Verzweiflung sagen, dann denken wir meist an einen seelischen Zustand, in den man, fast wider den eigenen Willen, «gerät». Hier aber ist unter Verzweiflung eine willentliche Entscheidung verstanden. Nicht eine Stimmung, sondern ein geistiger Akt. Also nicht etwas, in das man gerät, sondern etwas, das man setzt. Die Verzweiflung, von der hier gesprochen werden soll, ist Sünde. Und zwar eine Sünde, die durch das Merkmal einer besonderen Nachdrücklichkeit und einer gesteigerten Aktivität im Bösen ausgezeichnet ist.
Isidor von Sevilla, De summo bono 2, 14; zitiert in II, II, 20, 3. Sermones 87, 8. 55 De Isaac et anima 1, 1. 53 54
14 Die Hoffnung sagt: es wird gut ausgehen; näherhin und eigentlicher: es wird gut ausgehen mit dem Menschen; noch eigentlicher: es wird gut ausgehen mit uns selbst und mit mir selbst. Diesen Eigentlichkeitsgraden der Hoffnung entsprechen die der Verzweiflung. Die eigentlichste Form der Verzweiflung besagt: es wird schlecht enden mit uns und mit mir selbst. Dabei ist es wesentlich für die Hoffnung wie für die Verzweiflung, daß jene Sätze nicht nur «theologisch» gemeint werden. Der Hoffende wie der Verzweifelnde steht mit seinem Wollen zu ihnen, und er läßt sie sein Tun bestimmen. (50) Hoffnung und Verzweiflung können je verschiedene Grade des Tiefgangs besitzen. Oberhalb einer Hoffnung, die in der innersten Seinstiefe der Seele wurzelt, kann es, näher der Oberfläche sozusagen, mancherlei Verzweiflungen geben. Aber sie berühren die tiefere Hoffnung nicht, und sie haben keine endgültige Bedeutung. Anderseits: ein im letzten Grunde verzweifelter Mensch kann in den vorletzten Seinsbereichen etwa des Natürlich-Kulturellen durchaus als «Optimist» erscheinen – anderen und sich selbst –, falls er nur die innerste Kammer der Verzweiflung radikal abzudichten versteht, so daß kein Schmerzenslaut nach außen dringen kann. Und es spricht vieles dafür, daß der zeitgenössische Weltmensch es darin zu einer wahrhaften Virtuosität gebracht hat. Die tiefste und eigentliche Tiefe der Hoffnung aber ist dem Menschen erschlossen worden durch das Ur-Geschehnis der Erlösung. Und auch die Möglichkeit der Verzweiflung ist durch dieses Geschehnis noch um einen Abgrund dunkler geworden. Niemals kann der natürliche Mensch mit solcher Sieghaftigkeit wie der Christ sagen: es wird gut enden mit mir selbst. Und nie kann die Hoffnung des natürlichen Menschen ein solches «Ende» erhoffen wie die des Christen. Niemals aber auch konnte ein Heide zu so tiefer Verzweiflung versucht werden wie der Christ und, so scheint es, gerade die großen Christen und die Heiligen. Denn (51) der gleiche Blitz, der uns die übernatürliche Gnadenwirklichkeit sichtbar macht, erhellt auch den Abgrund geschöpflicher Gottesferne und Schuld. Es macht also einen großen Unterschied, ob es ein Christ ist oder ein Heide, der da sagt: es wird schlecht enden mit dem Menschen, mit uns, mit mir selbst. Der Christ, der am Ewigen Leben verzweifelt, hebt nicht nur den Weg-Charakter seiner natürlichen Existenz auf, sondern er verneint den in personhafter Gestalt erschienenen, realen «Weg» zur Ewigen Glückseligkeit und Erfüllung: Christus selbst. «Der Verzweiflung fehlt der Fuß, auszuschreiten auf dem Wege, welcher Christus ist», heißt es bei Paschasius Radbert.56 (Wie wenig hat doch die Primitivität der zugrundeliegenden Worterklärung – spes-Hoffnung hänge zusammen mit pes-Fuß – diese großartige Formulierung der Wahrheit verhindern oder beinträchtigen können!) Die Verzweiflung also des Christen ist eine Entscheidung gegen Christus. Sie ist eine Negation der Erlösung. In der Verzweiflung tritt in besonderer Offenkundigkeit das Wesen der Sünde überhaupt hervor: der Wirklichkeit zu widersprechen. Die Verzweiflung ist ja die Leugnung des Weges zur Erfüllung (52) – im Angesichte dessen, der gerade schlechthin «der Weg» zum Ewigen Leben ist. Es scheint mir nicht zufällig zu sein, daß Thomas von Aquin gerade in dem Artikel «Ob die Verzweiflung eine Sünde sei» jene allgemeine Charakteristik der Sünde (daß sie der Realität widerstreitet) ausdrücklich als Fundament der Darlegung an den Anfang setzt: «Jede 56
De fide, spe et caritate 2, 4.
15 Willensbewegung, die einer wahren Einsicht gemäß ist, ist in sich gut; jede Willensbewegung aber, die einem falschen Urteil entspricht, ist in sich böse und Sünde.»57 Und anderswo heißt es: «Wenn wirklich die Sünde nicht könnte vergeben werden, dann wäre es keine Sünde, an der Sündenvergebung zu verzweifeln.»58 Die Verzweiflung ist die eigentliche Seinsverfassung der Verdammten. Und die Verzweiflung des Menschen im status viatoris ist, wie schon gesagt wurde, eine Art Vorwegnahme der Verdammung. Der Schmerz der Verzweiflung liegt darin, daß sie den Weg zu einer Erfüllung verneint, auf welche die Natur des Verzweifelnden dennoch angelegt bleibt. Die Verzweiflung setzt, nicht anders als die Hoffnung, eine Sehnsucht voraus. «Wonach wir keine Sehnsucht haben, das kann weder Gegenstand (53) unserer Hoffnung sein noch unserer Verzweiflung.»59 Verzweiflung ist Selbstwiderspruch, Selbstzerreißung (das «zwei» in dem Wort hat seinen Sinn). In der Verzweiflung verneint der Mensch im Grunde seine eigene Sehnsucht, die unzerstörbar ist wie er selbst. Die Verzweiflung ist nicht die objektiv schwerste Sünde. Aber sie ist die gefährlichste von allen.60 Sie bedroht die sittliche Existenz des Menschen; denn die Selbstverwirklichung des Menschen ist gebunden an die Hoffnung. «Nicht so sehr die Sünde stürzt uns ins Unheil als vielmehr die Verzweiflung», sagt Chrysostomus in seinem Kommentar zum MatthäusEvangelium.61 Seit dem Meister der Sentenzen, Petrus Lombardus, zählt die Theologie der Kirche die Verzweiflung zu den Sünden wider den Heiligen Geist. Dadurch rückt die Verzweiflung in die Nähe des dunklen Geheimnisses, das in dem Worte des Herrn ausgesprochen ist: «Wer wider den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt» (Mt 12,32). Ich sagte mit Überlegung nicht mehr, als daß die Verzweiflung in die Nähe dieses Geheimnisses rückt. Der heilige Thomas bezieht jenes (54) Herren-Wort einzig auf den beharrlichen, blasphemischen Widerstand gegen die Gnade, während er von der Verzweiflung nur sagt: es sei schwer, daß sie Vergebung finde.62 Schwer aber ist es deswegen, weil die Verzweiflung gerade die Verneinung des Weges zur Sündenvergebung in sich schließt, weil sie «eine Tür zuschlägt» (so wiederum die bildkräftige Franken-Sprache des Paschasius Radbert63). «Es ist die Regel, daß man im Guten wie im Bösen vom Unvollkommenen zum Vollkommenen voranschreitet.»64 Eine so «vollkommene» Sünde wie die Verzweiflung ist normalerweise nicht als Erstes und nicht auf ein Mal da. Der Anfang und die Wurzel der Verzweiflung aber ist die acedia, die «Trägheit».
II, II, 20, 1. Mal. 3, 15. 59 I, II, 40, 4 ad 3. 60 II, II, 20, 3. 61 86, 4. 62 Mal. 3, 15. 63 De fide, spe et caritate 2, 6. 64 II, II, 14, 4 ad 1. 57 58
16 Es gibt kaum einen ethischen Begriff, der im Bewußtsein des Durchschnitts-Christen so aufweisbar «verbürgerlicht» worden wäre wie der Begriff der acedia. Einen Teil der Schuld trägt allerdings die Verdeutschung durch «Trägheit», die zwar dem unmittelbaren Wortsinn des griechischen akedia einigermaßen entspricht, aber den eigentlichen begrifflichen Inhalt nur unvollkommen und unvollständig darstellt. Die landläufig gewordenen Vorstellung von der «Haupt-Sünde» der Trägheit kreist um das Sprichwort (55) «Müßigang ist aller Laster Anfang». Trägheit ist nach dieser Meinung das Gegenteil von Fleiß und Arbeitsamkeit; sie gilt fast als Synonym für Faulheit und Unfleiß. Auf diese Weise ist die acedia nahezu ein Begriff des bürgerlichen Erwerbslebens geworden. Die Tatsache, daß sie zu den sieben «Haupt-Sünden» gezählt wird, erscheint dabei sozusagen als religiöse Sanktion und Bestätigung für die Mußelosigkeit der modernen Arbeitsgesellschaft. Das ist nun nicht bloß eine Verflachung und Entleerung des ursprünglichen moraltheologischen Begriffes der Sünde acedia, sondern geradezu seine Umkehrung. Nach der klassischen Theologie der Kirche ist die acedia eine Art von Traurigkeit (species tristitiae65), und zwar eine Traurigkeit angesichts des göttlichen Gutes im Menschen. Dies Traurigsein wegen der gottgewirkten Erhöhung des menschlichen Seins lähmt, beschwert, entmutigt; das Moment der eigentlichen «Trägheit» ist also erst etwas Zweites. Den Gegensatz zur acedia bilden nicht Arbeitsamkeit und Fleiß, sondern die Hochgemutheit und jene Freude, die eine Frucht der übernatürlichen Gottesliebe ist. Acedia und bürgerlicher Fleiß können nicht nur sehr gut miteinander bestehen, (56) sondern: das sinnwidrig übersteigerte Arbeitspathos unserer Zeit ist geradezu zurückführbar auf die acedia, die ein Grundzug im geistigen Gesicht eben dieser Zeit ist. (Die unsinnige Parole «Arbeiten und nicht verzweifeln» enthält einige Aufschlüsse über diesen Zusammenhang.) Die Trägheit, die der Begriff der acedia meint, widerspricht so wenig dem «Arbeiten» im bürgerlichen Sinne, daß Thomas sagen kann, die acedia sei just eine Sünde gegen das dritte der Zehn Gebote, in welchem dem Menschen die «Ruhe des Geistes in Gott» aufgetragen sei.66 Echte Ruhe und Muße ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß der Mensch seinem eigentlichen und wahren Sein zustimmt. Die klassische Theologie der Kirche versteht unter acedia die «tristitia saeculi»,67 jene «Traurigkeit der Welt», von der Paulus im zweiten Korintherbrief (7,10) sagt, daß sie «den Tod wirkt». Diese Traurigkeit ist ein Mangel an Hochgemutheit; sie will sich das Große nicht zumuten, das der Natur des Christen gemäß ist. Sie ist eine Art von angsthaftem Schwindelgefühl, das den Menschen befällt, wenn er der Höhe inne wird, zu der ihn Gott erhoben hat. Der in der acedia befangene Mensch hat weder den Mut noch den Willen, so groß zu sein, wie er wirklich ist. Er möchte lieber (57) weniger groß sein, um sich so der Verpflichtung der Größe zu entziehen. Die acedia ist eine pervertierte Demut; sie will die übernatürlichen Güter nicht annehmen, weil sie ihrem Wesen nach verbunden sind mit einem Anspruch an den Empfänger. – In der vitalseelischen Sphäre von Gesund und Krank gibt es etwas Ähnliches. Die Psychiatrie macht häufig die Erfahrung, daß ein Neurotiker zwar in einem oberflächlichen Sinne den Willen hat, gesund zu werden, daß er aber in Wahrheit nichts mehr fürchtet als den Anspruch, der natürlicherweise an einen gesunden Menschen gestellt wird. I, II, 35, 8; II, II, 35; Mal. 11; Ver. 26, 4 ad 6. II, II, 35, 3 ad 1; Mal. 11, 3 ad 2. 67 Mal. 11, 3. 65 66
17 Die acedia ist, je mehr sie aus dem Bezirk des Affekts in den der geistigen Entscheidung sich hebt, eine bewußte Abkehr, eine eigentliche Flucht vor Gott. Der Mensch flieht vor Gott, weil Er den Menschen zu einem höheren, göttlichen Sein emporgestaltet und ihn also an einen höheren Maßstab des Sollens gebunden hat. Die acedia ist schließlich geradezu eine «detestatio boni divini»,68 was die Ungeheuerlichkeit bedeutet, daß der Mensch überlegt und ausdrücklich den Wunsch hat, Gott möchte ihn nicht erhöht, sondern «in Ruhe gelassen» haben.69 Die Trägheit als Haupt-Sünde ist der freudlose und verdrießliche, borniert selbstsüchtige Verzicht (58) des Menschen auf den verpflichtenden Adel der Gotteskindschaft. Diese Gotteskindschaft ist aber – als reale Möglichkeit und Notwendigkeit – wiederum eine unwiderrufliche Tatsache, an der niemand etwas ändern kann. Und da diese unwiderrufliche Tatsache, die ja nicht verglichen werden kann mit dem von außen kommenden Angebot irgendeines Geschenkes, nichts anderes ist als die in den innersten Seinskern des Menschen eingreifende Neugestaltung seines ganzen Wesens – darum besagt die acedia letztlich: daß der Mensch nicht das sein will, als was Gott ihn will, und das heißt: daß er nicht sein will, was er wirklich ist. Die acedia ist das, was Kierkegaard in seinem Buche über die Verzweiflung (Die Krankheit zum Tode) die «Verzweiflung der Schwachheit» genannt hat, die eine Vorstufe der eigentlichen Verzweiflung sei und die darin bestehe, daß einer «verzweifelt nicht er selbst sein will». Die Verzweiflung ist nicht die einzige, wenn auch die legitimste Tochter der acedia. Thomas hat die filiae acediae, die Gefährten und Mitgeborenen der Verzweiflung, wie zu einem dämonischen Sternbild zusammengefaßt.70 Es lohnt sich, einen Augenblick die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Denn, da ja dieser Zusammenhang nicht zufällig, sondern in der Tatsache des gemeinsamen Ursprungs (59) begründet ist, fällt von der Erkenntnis jener Versippung her auch ein klärendes Licht auf die Wesensart der Verzweiflung. Außer der Verzweiflung gebiert die acedia erstlich die schweifende Unruhe des Geistes, die evagatio mentis: «Kein Mensch vermag in der Traurigkeit zu bleiben»;71 da es aber just sein selbsteigenes Sein ist, was den der acedia verfallenen Menschen traurig macht, so kommt es, daß dieser Mensch aus der Ruhe der eigenen Wesensmitte auszubrechen sich müht. Die evagatio mentis hinwiederum tut sich kund im Wortreichtum des Geredes (verbositas), in der Unersättlichkeit der Neugier (curiositas), in der ehrfurchtslosen Unbändigkeit, «sich aus der Burg des Geistes heraus in das Vielerlei zu ergießen» (importunitas), in der innersten Rastlosigkeit (inquietudo), in der Unstetheit des Ortes wie des Entschlusses (instabilitas loci vel propositi).72 – Eine Zwischenbemerkung: Alle diese der «schweifenden Unruhe des Geistes» zugeordneten Begriffe kehren wieder in der Heideggerschen, freilich nicht zur religiösen Bedeutung der acedia hinabdringenden Analyse des «alltäglichen Daseins»: «Flucht des Daseins vor ihm selbst», «Gerede», «Neugier» als Besorgtheit um die «Möglichkeiten des Sichüberlassens an die Welt», «Unverweilen», «Zerstreuung», «Aufenthaltslosigkeit». Der evagatio mentis und der Verzweiflung folgt die dritte Tochter der acedia, die stumpfe Gleichgültigkeit (torpor) gegen das, was zum Heile des Menschen in Wahrheit notwendig ist; sie Mal. 8, 1. II, II, 35, 3. 70 Mal. 11, 4; II, II, 35, 4 ad 2. 71 Mal. 11, 4. 72 II, I, 35, 4 ad 3. 68 69
18 ist einer inneren Notwendigkeit zufolge an die traurig-träge Verneinung des «höheren Selbst» gebunden. Die vierte Tochter: die Kleinmütigkeit (pusillanimitas) im Angesicht vor allem der mystischen Möglichkeiten des Menschen. Fünftens: die gereizte Auflehnung (rancor) gegen alle, deren Amt es ist, dafür zu sorgen, daß das wahre Selbst des Menschen nicht der Vergessenheit, der «Selbst-Vergessenheit», verfällt. Und endlich: die eigentliche, aus dem Haß gegen das Göttliche im Menschen geborene Bosheit (malitia), die bewußte innere Wahl-Entscheidung für das Böse als Böses.73 Wir sagten, die träge Traurigkeit der acedia sei einer der bestimmenden Züge im geheimen Gesicht unserer Zeit, derselben Zeit, die das Richtbild der «totalen Arbeitswelt» proklamiert hat. Diese Trägheit bestimmt – als Sichtmal der Säkularisation – das Gesicht einer jeden Zeit, in der die Berufung zu den eigentlich christlichen Aufgaben die öffentliche Verbindlichkeit zu verlieren beginnt. Die acedia ist die Signatur einer jeden Zeit, die (61) verzweifelt den verpflichtenden Seins-Adel der Christlichkeit abzuschütteln und also verzweifelt ihr wahres Selbst zu verleugnen sucht. Ist nicht schon jene bloße Aufzählung der «Töchter der Trägheit», der Geschwister und Mitgeborenen der Verzweiflung, eine geradezu erstaunliche Bestätigung dieser Diagnose? Liest man sie nicht wie mit der beschämten Ärgerlichkeit eines Menschen, der auf ungeraden Wegen überrascht wird? Sieht nicht diese unsere Zeit alle jene Früchte der verzweifelnden Traurigkeit reif werden? Diese Dinge sind hier nicht gesagt um des müßigen und übrigens sehr billig gewordenen Vergnügens willen, den Schwächen unserer Zeit auf die Spur zu kommen. Sondern: Die Versuchungen zur acedia und zur Verzweiflung gehören nicht zu jenen anderen, die man abgewandten Auges flieht, damit sie ihre Macht verlieren. Die Versuchung zur acedia und zur Verzweiflung wird überwunden einzig durch den wachen Widerstand des aufmerksam eindringenden Blickes.74 Nicht durch «Arbeiten» vernichtet man die Verzweiflung (höchstens das Bewußtsein von ihr), sondern allein durch die klarsichtige Hochgemutheit, die sich das Große des selbsteigenen Daseins zutraut und zumutet, und (62) durch den begnadeten Aufschwung der Hoffnung auf das Ewige Leben. Die Wurzel und der Anfang der Verzweiflung ist die träge Traurigkeit der acedia. Ihre «Vollendung» aber ist begleitet vom Hochmut. Die Theologie hat oft genug diese Beziehung zwischen Hochmut und Verzweiflung aufgewiesen. Kommt der anfänglich «aus Schwachheit» verzweifelnde Mensch «zum Bewußtsein dessen, weshalb er nicht er selbst sein will, dann schlägt es um, dann ist der Trotz da».75 Der Hochmut aber ist der geheime Kanal, der die beiden einander dialektisch entgegengesetzten Formen der Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung mit der Vermessenheit, verbindet. Auf der Scheitelhöhe der Verzweiflung grenzt die selbstzerstörerische und seinswidrige Verneinung der Erfüllung an die äußerste Verwirklichung des nicht minder zerstörerischen Wahns der Vermessenheit, die Nicht-Erfüllung zu bejahen, als wäre sie die Erfüllung. (63)
Mal. 3, 14 ad 8. II, II, 35, 1 ad 4. 75 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Hamburg 1962, S. 62 (Übers. L. Richter, Kierkegaard, Werke IV). 73 74
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IV. DIE VORWEGNAHME DER ERFÜLLUNG Indem die übernatürliche Hoffnung dem Menschen die neue «Zukunft» eines schlechthin unaufzehrbaren «Noch nicht» einpflanzt, begründet sie eine neue Jugendlichkeit, die nur zugleich mit der Hoffnung selbst zerstört werden kann. In den beiden Formen der Hoffnungslosigkeit, in der Verzweiflung wie in der Vermessenheit, wird diese Jugendlichkeit des hoffenden Menschen gleichermaßen zunichte, aber auf verschiedene Weise: in der Verzweiflung auf die Weise der Vergreisung, in der Vermessenheit auf die Weise der Infantilität. Die «Infantilität» der Vermessenheit liegt darin, daß die Erfüllung seinswidrig vorweggenommen wird. Das hoffende Sich-Spannen löst und entläßt sich, noch mitten auf dem «Wege», in die ruhende Sicherheit des Habens, weil das in Wirklichkeit noch zukünftige und «steile» Ziel dem Menschen als schon erreicht erscheint. Die Vermessenheit ist im übrigen der Hoffnung in geringerem Maße entgegen als die Verzweiflung. Diese ist das eigentliche Gegenbild der Hoffnung, jene ist ihre falsa similitudo,76 ihre unechte Nachbildung. Ebenso hat ja auch die Infantilität eine falsche, «imitierende» Ähnlichkeit mit echtem Jungsein, während die Vergreisung sein eigentliches Gegenteil ist. (67) Die Vermessenheit, die der theologischen Tugend der Hoffnung entgegengesetzt ist, ist eine verkehrte Haltung des Menschen gegenüber der Tatsache, daß das Ewige Leben das Sinn-Ziel unseres irdischen «Weges» ist. Nicht also ist hier von jener anderen Vermessenheit die Rede, die sich im Bereich der natürlichen Kräfte und Ziele übernimmt. Thomas hat auch ihr in seiner Summa – über hundert Quästionen entfernt von der Stelle, an der wir uns jetzt befinden – zwei Artikel gewidmet.77 Die Vermessenheit ist jene Geisteshaltung, die der Realität der Zukünftigkeit und «Steilheit» des Ewigen Lebens widerstreitet. Diese beiden Merkmale – Zukünftigkeit und «Steilheit» – konstituieren, zugleich mit dem Merkmal der Realisierbarkeit, das formale Wesen des Erhofften als Erhofften.78 Wenn eines dieser Merkmale nicht gesehen wird oder verschwindet, dann ist auch Hoffnung nicht mehr möglich. Die Vermessenheit also entwirklicht die übernatürliche Hoffnung, indem sie verkennt und nicht anerkennt, daß das irdische Dasein des status viatoris im präzisen und eigentlichen Sinn der «Weg» zur endgültigen Erfüllung ist; indem sie das Ewige Leben als etwas «im Grunde» (68) schon Erreichtes, als etwas «im Prinzip» bereits Gegebenes ansieht. Das Wirklichkeitswidrige dieser Vorwegnahme bringen die deutschen Worte «Vermessenheit», «sich ver-messen» besonders klar zum Ausdruck. Der Mitklang des «Titanischen» und des «Himmelstürmenden» aber, der in diesen Worten mitschwingt, kann anderseits leicht die Sicht auf den wahren Seinskern der Vermessenheit, als einer Sünde wider die Hoffnung, verbauen und zudecken.
II, II, 21, 3. II, II, 130. 78 I, II, 40, 1. 76 77
20 Kern und Wesen der Vermessenheit nämlich ist, wie Augustinus sagt, die perversa securitas,79 die Selbsttäuschung seinswidriger Sicherheit. In dem scheinbar «Übermenschlichen» der Vorwegnahme der Erfüllung ist also letztlich nichts anderes wirksam als das Nachgeben an die nicht gerade «heroische», wenn auch keineswegs verächtliche, Schwerkraft des menschlichen Sicherheitsbedürfnisses. In der Sünde der Vermessenheit überschlägt sich der kreatürliche Sicherungswille, indem er die Grenze des Wirklichkeitsgemäßen überschreitet. Es ist wichtig, dies Eigentliche der Vermessenheit im Blick zu behalten. In doppelter Grundgestalt kann Vermessenheit sich verwirklichen, je nach den beiden einander entgegengesetzten Scheingründen, aus denen sie ihre ungemäße Selbstberuhigung herleitet.80 (69) Die erste Form, von der Theologie «pelagianische» Vermessenheit genannt, ist bezeichnet durch die mehr oder weniger ausdrückliche These: es genüge die Eigenkraft der menschlichen Natur, das Ewige Leben und die Vergebung der Sünden zu erringen. Ihr zugeordnet ist der dem eigentlich Dogmatischen ebenso wie der sakramentlichen Wirklichkeit der Kirche verständnislos abgeneigte, typisch liberal-bürgerliche Moralismus: ein «anständiger» und «ordentlicher» Mensch, der «seine Pflicht tue», werde – einzig auf Grund seiner persönlichen sittlichen «Leistung» – auch «vor Gott bestehen». Zwischen dieser ersten Grundform der Vermessenheit und der zweiten liegt jene pseudoreligiöse Geschäftigkeit, die aus tausend «Übungen» sich einen absolut gültigen, sozusagen gegen Gott selbst vertretbaren Rechtsanspruch auf das Himmelreich konstruieren zu können meint. Die zweite Form der Vermessenheit, bei welcher jedoch der Grundcharakter der vorwegnehmenden Sicherung nicht so am Tage liegt, gründet in der Häresie von der Alleinwirksamkeit des erlösenden und begnadenden Gottes. Durch die Lehre von der einzig auf das Verdienst Christi schauenden, absoluten Heilsgewißheit zerstört diese Häresie den echten Wegcharakter der christlichen Existenz, indem sie den einzelnen Christen der Tatsache des «eigentlich» schon erreichten Zieles (70) für sich selbst ebenso unbedingt gewiß sein läßt wie der Offenbarungstatsache der Erlösung insgesamt. Es ist schon oft bemerkt worden, wie nah – logisch und psychologisch – diese zweite Grundform der Vermessenheit an die Verzweiflung grenzt und anderseits an die moralische Hemmungslosigkeit jenes «vermessentlichen Vertrauens auf Gottes Barmherzigkeit», das die Theologie zugleich mit der Verzweiflung zu den «Sünden wider den Heiligen Geist» zählt. Die Vermessenheit wurzelt in einer falschen, vom eigenen Willen bejahten Selbsteinschätzung des Menschen: sie besteht in dem Willen zu einer Sicherheit, die notwendig unecht ist, weil es für sie in Wirklichkeit keinen gültigen Grund gibt. Diese falsche Selbsteinschätzung ist näherhin: Mangel an Demut, Verneinung der realen Geschöpflichkeit und seinswidrige Beanspruchung der Gottähnlichkeit.81 Hoffnung setzt nicht nur Hochgemutheit voraus, sondern auch Demut. Augustinus sagt in seinem Psalmen-Kommentar: nur den Demütigen sei es gegeben, zu hoffen.82
Sermones 87, 8. II, II, 21, 4. 81 II, II, 21, 4; Mal. 8, 2. 82 Enarratio in Psalmis 118, 15, 2. 79 80
21 Verzweiflung und Vermessenheit versperren den Zugang zum echten Gebet. Das Gebet nämlich ist – in seiner Ur-Form des Bittgebets – nichts anderes als das Sprechen eines Hoffenden. (71) Der Verzweifelnde bittet nicht, weil er die Nicht-Erfüllung vorwegnimmt. Der Vermessene bittet, weil er die Erfüllung vorwegnimmt, nur scheinbar. Von hier aus fällt ein neues Licht auf den Satz der Heiligen Schrift, «daß man allzeit beten müsse, ohne nachzulassen» (Lk 18,1): ausgesprochen ist in ihm die immerwährende Notwendigkeit der Hoffnung, die demütig genug ist, wirklich zu bitten, und zugleich hochgemut genug, die Erfüllung mitwirkend zu erwarten. Die «Antithese» von göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Barmherzigkeit ist in der theologischen Hoffnung sozusagen «aufgehoben», nicht so sehr «theoretisch» als vielmehr existentiell: die übernatürliche Hoffnung ist die gemäße existentielle Antwort des Menschen auf die Tatsache der Identität dieser, geschöpflich betrachtet, gegensätzlichen «Eigenschaften» Gottes. Wer nur die Gerechtigkeit Gottes im Blick hat, vermag so wenig zu hoffen wie wer einzig seine Barmherzigkeit sieht: beide verfallen der Hoffnungslosigkeit, der eine der Verzweiflung, der andere der Vermessenheit. Die Hoffnung allein wird der alle Gegensätze übergreifenden Wirklichkeit Gottes gerecht, dessen Barmherzigkeit seine Gerechtigkeit und dessen Gerechtigkeit seine Barmherzigkeit ist. Die Vermessenheit aber ist die geringere Sünde, die Verzweiflung die größere: «Wegen seiner unendlichen (72) Gutheit ist es Gott eher eigen, zu schonen und sich zu erbarmen, als zu strafen. Denn jenes kommt ihm zu kraft seines eigenen Wesens, dieses aber erst unserer Sünden wegen.»83 Mit andern Worten: Die Vorwegnahme der Erfüllung widerspricht der wirklichen Existenz-Situation des Menschen nicht so radikal wie die Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung. Die unechte Sicherheit der Vermessenheit ist weniger seinswidrig als die Verzweiflung. Gleichwohl bleibt bestehen: die Vermessenheit ist Sünde im eigentlichen und strengen Sinn; ja, sie ist, in ihrer äußersten Verwirklichung, Sünde wider den Heiligen Geist. Jene letzte Existenz-Unsicherheit, deren Wurzel die im status viatoris nicht aufhebbare Möglichkeit des willentlichen Abfalls ist, begleitet unausweichlich das Dasein auch des Heiligen. Sie gehört zum Begriff des Auf-dem-Wege-Seins dazu. Es ist dem «Menschen auf dem Wege» schlechthin unmöglich – und darum ist es auch kein echtes menschliches Ziel –, dieser Unsicherheit zu entgehen in eine absolute Sicherheit. Absolute Sicherheit ist dem homo viator nicht erreichbar, auch nicht «im Prinzip». Worauf es ankommt, ist: daß der Mensch sich in der ihm wesenhaft zukommenden existentiellen Unsicherheit als endliches, nicht aus (73) sich selbst seiendes und also nicht sich selbst besitzendes Wesen – das heißt: als Kreatur – versteht und sich in die barmherzige Verfügungsgewalt Gottes begibt. Die Unsicherheit der menschlichen Existenz kann nicht restlos aufgehoben werden. Aber sie kann «überwunden» werden: durch die Hoffnung und nur durch sie. Die Ungesichertheit des «noch nicht seienden» kreatürlichen Daseins erfährt Antwort darin, daß die Hoffnung untrennbar verschwistert lebt mit der Furcht. Dieses Ineinander von Hoffnung und Furcht gilt nicht nur im Bezirk des Natürlichen, sondern auch – ein geheimnisreicher, schwer zugänglicher Sachverhalt – für das Übernatürliche. Die theologische Hoffnung ist 83
II, II 21, 2.
22 wesenhaft gebunden an die Furcht, die unter den Sieben Gaben des Heiligen Geistes aufgezählt wird: an die «Furcht des Herrn».84 Diese Furcht ist es, die durch die unechte Sicherheit der vermessenen Vorwegnahme ausgeschlossen wird.85 Und: weil die Vermessenheit die Furcht ausschließt, darum hebt sie auch die Tugend der Hoffnung auf, welche darauf beruht, daß die Erfüllung «noch nicht» verwirklicht und die Nicht-Erfüllung «noch nicht» ausgeschlossen ist. (74)
V. DAS GESCHENK DER FURCHT Einer von den kaum kontrollierten Sätzen, aus denen das menschliche Richtbild unserer Zeit gefügt ist, besagt: daß es dem Menschen nicht anstehe, sich zu fürchten. In dieser Haltung mischen sich die Wasser zweier Quellen. Die eine ist der aufklärerische Liberalismus, der die Furchtbarkeit in den Bereich des Uneigentlichen verweist und in dessen Weltbild also der Furcht nur in einem uneigentlichen Sinne Raum und Ort zugewiesen ist. Die andere Quelle ist ein unchristlicher, der Vermessenheit wie der Verzweiflung unterirdisch verbundener Stoizismus, der sich den Furchtbarkeiten des Daseins, die durchaus klar gesehen sind, in trotziger Unrührbarkeit entgegenstellt, ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung. Die klassische Theologie der Kirche ist gleich weit entfernt von der Harmlosigkeit des Liberalismus wie von der krampfhaften Trotzhaltung des Stoizismus. Nichts ist für sie selbstverständlicher, als daß das Furchtbare eine Realität der menschlichen Existenz ist. Und ebenso selbstverständlich dünkt es sie, daß der Mensch auf die objektive Furchtbarkeit mit Furcht antwortet. Gefragt wird in der klassischen Theologie etwas ganz anderes und von einem ganz anderen Blickpunkt her. Es wird gefragt nach dem ordo timoris,86 (79) nach der Ordnung der Furcht, das heißt: nach dem je verschiedenen (negativen) Seinsrang des Furchtbaren. Nicht die Furcht an sich selbst wird getadelt oder gelobt, sondern die Ordnung oder die Unordnung in ihr. «Die Furcht verwirklicht, sofern sie gegen die Ordnung der Vernunft ist, den Begriff der Sünde»,87 das heißt: sofern sie, die Furcht, der objektiven Wahrheit der Realität widerstreitet. Das gilt aber nicht bloß für die Furcht, sondern auch für die Furchtlosigkeit. Unter den Sünden, die der Tugend der Tapferkeit (man kann das nicht zu deutlich sagen: der Tapferkeit!) entgegengesetzt sind, zählt der heilige Thomas nicht nur die ungeordnete Furchtsamkeit auf, sondern auch die seinswidrige Furchtlosigkeit (intimiditas).88 Es gibt also für das Menschenbild der klassischen Theologie eine Furchtlosigkeit, die einen Mangel an Tapferkeit einschließt. Und es gibt ein Sichfürchten, das nicht nur nicht «unwürdig», sondern gerade ethisch gesollt, also dem Wesen der Realität und der geistigen Würde des Mensch gemäß ist. Von dieser Theologie her also muß man vermuten, daß etwas in Unordnung geraten ist, wenn ein Mensch sich vor nichts fürchtet; und daß dem Richtbild der «stoischen»
II, II, 19, 9 ad 1. II, II, 21, 3 ad 3. 86 II, II, 125, 1 ad 1. 87 II, II, 125, 4. 88 II, II, 126. 84 85
23 Unrührbarkeit und Furchtlosigkeit eine falsche Vorstellung vom Menschen (80) und von der Wirklichkeit überhaupt zugrunde liegt. Thomas von Aquin deutet vor allem drei Sätze der Heiligen Schrift, die übrigens der heutigen Christenheit kaum noch bekannt sind, als Argumente dafür, daß Furchtlosigkeit nicht minder ungeordnet sein kann als Furchtsamkeit, ja daß totale Furchtlosigkeit als grundsätzliche Haltung, die zudem wohl nur als Selbsttäuschung «gelingt», schlechthin seinswidrig ist. Der erste Satz (aus dem Buche Hiob 41,25) meint, wie Thomas sagt,89 die aus der vermessenen Hybris des Geistes geborene Furchtlosigkeit: «Er ist dahin gekommen, nichts mehr zu fürchten.» Das zweite Schrift-Wort (Sir 1,28): «Wer ohne Furcht ist, kann nicht gerechtfertigt werden.»90 Und drittens ein Spruch aus dem Buch der Sprüche (14,16): «Der Weise fürchtet sich und läßt vom Bösen ab.»91 In diesen Äußerungen ist im allgemeinen von der Furcht nur die Rede, «sofern wir durch sie irgendwie zu Gott hingewendet werden»,92 das heißt: von der «Furcht des Herrn». Auf sie werden auch die folgenden Bemerkungen sich beschränken. In dieser Furcht aber steckt, wenn man die Sache weniger psychologisch als metaphysisch betrachtet, (81) die – oft bis zur Unkenntlichkeit vermummte – «Teil-Wahrheit», die alle anderen Ängste des Menschen verborgen durchwirkt. Der Zugang zum Verständnis dessen, was die Begriffe der «Furcht des Herrn» und der «Gottesfurcht» eigentlich meinen, ist für den heutigen Menschen nicht leicht zu gewinnen; im Wege stehen sowohl liberale wie stoizistische Hemmungen. Von Anfang an muß man zunächst im Blick halten, daß die Furcht des Herrn in einem durchaus unabgeschwächten und präzisen Sinne «Furcht» ist. Die Furcht des Herrn ist nicht dasselbe wie «Respekt» vor Gott. Diese landläufige Mißdeutung und Verharmlosung läßt nur wenig übrig von dem ursprünglichen Begriff. Auch die Übertragung durch «Ehrfurcht» ist ungenau und legt ein ähnliches Mißverständnis nahe. Wie sehr diese Abschwächungen den Sinn des Begriffes «Furcht des Herrn» verfehlen zeigt sich unter anderm darin, daß die klassische Theologie ausdrücklich sagt, die Furcht des Herrn sei, obwohl durchaus auf Gott bezogen, doch – selbstverständlich – nicht in gleichem Sinne Furcht «vor» Gott, in dem etwa von der Furcht «vor» einem Unglück gesprochen werden könne.93 Diese Unterscheidung hätte nämlich gar keinen Sinn, wenn unter Furcht des Herrn dasselbe wie «Ehrfurcht» oder «Respekt» verstanden (82) würde; denn die Akte der Ehrfurcht und des Respekts richten sich – formal gesehen – in dem gleichen unmittelbaren Sinn auf Gott, wie die Furcht sich auf das Übel richtet. Es ist also die Frage: was das ist, «wovor» die Furcht des Herrn sich fürchtet. Heute wird oft – und nicht immer ohne Selbstgefälligkeit – von der Gefährdung und Bedrohtheit des menschlichen Daseins gesprochen. Selten aber ist dabei die äußerste und letzte Existenzgefährdung gemeint, angesichts welcher alle Bedrohung durch Katastrophen und Zerstörungen selbst planetarischen Ausmaßes und alle Gefahr des Daseinskampfes nur den Charakter des Vorletzten und fast des Uneigentlichen hat. Diese äußerste Bedrohtheit, die in das innerste Gehäuse der menschlichen Existenz die reale Möglichkeit der Seinsminderung und des II, II, 126, 1. II, II, 126, 1 ad 1. 91 II, II, 126, 1 ad 2. 92 II, II, 19, 2. 93 II, II, 19, 1. 89 90
24 Verfalls hineinträgt, ist nichts anderes als das posse peccare, das Schuldig-werden-Können. – Es ist freilich sehr vonnöten, diese Aussage aus ihrer moralistischen Umklammerung zu befreien und sie wieder an ihren ursprünglichen und tieferen, auf das Sein selbst gewendeten Sinn zu binden. Es ist die Furchtbarkeit der aus dem Grunde des geschöpflichen Seins stets neu aufsteigenden Möglichkeit der Trennung vom letzten Seinsgrund durch die Schuld, worauf die Furcht des Herrn als wahrhaftes Sich-Fürchten die gemäße Antwort gibt. (83) Diese Furcht ist durch keinen «Heroismus» überwindbar. Ihr Wovor ist unabtrennbar verknüpft mit der Existenzweise des «Menschen auf dem Wege». Der Mensch kann, vielleicht, den Blick von dem diese Furcht begründenden Sachverhalt abwenden; er kann, vielleicht, die Furcht des Herrn sozusagen vergessen. Aber es ist dann wie ein Vergessen seiner selbst und wie ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit seines eigenen Daseins. Auf zweierlei Weise kann der Mensch die Möglichkeit des eigenen Schuldigwerdens fürchten: um der Schuld selbst willen und um der Strafe willen. Das eigentlichere ist die Furcht vor der Schuld als Schuld. Weil aber die Strafe nicht durch eine «willkürliche Setzung» Gottes, sozusagen erst nachträglich, an die Schuld gebunden ist, sondern weil sie wesenhaft und unmittelbar durch die Schuld selbst gewirkt ist und aus ihr hervorwächst, darum kann auch die zunächst durch die Strafe begründete Furcht doch in bestimmtem Sinne Furcht vor der Schuld sein. Die eigentliche Furcht vor der Schuld selbst nennt die Theologie timor filialis oder timor castus, «der Sohnschaft gemäße» oder «keusche» Furcht (die letzte Bezeichnung ist eine aus der Väterzeit stammende, unserem Verständnis nicht mehr ganz erschließbare Wortverbindung). Die andere Weise der Furcht wird timor servilis genannt, «der Knechtschaft gemäße» Furcht. (84) Die «der Knechtschaft gemäße» Furcht ist eine unvollkommene Weise der Furcht des Herrn. Sie gründet, weil «alle Furcht aus der Liebe geboren wird»,94 und weil Furcht immer «fliehende Liebe» ist,95 in einer unvollkommenen Weise der «begehrenden» Liebe zu Gott. Der timor servilis fürchtet vor allem den Verlust der selbsteigenen Erfüllung des Menschen im Ewigen Leben, das heißt: die Ewige Verdammnis. Darin liegt das Wesen der «knechtlichen» Furcht.96 Diese Substanz der «knechtlichen» Furcht, die Angst vor der Ewigen Strafe, ist wenngleich etwas Unvollkommenes, dennoch «gut»;97 ja, sie ist «vom Heiligen Geiste».98 Sie kann wie eine Einführung sein in die eigentliche Gottesliebe (caritas);99 und sie ist der «Anfang der Weisheit (Ps 110,10), indem sie den Geist für die Weisheit bereit macht.100 Das sind Sätze, die wir heute kaum ohne inneren Widerstand zur Kenntnis zu nehmen vermögen. Daran ist vielerlei schuld. Zu den allgemeinen, schon mehrfach genannten liberalen und stoizistischen Hemmungen kommt noch einiges Besondere hinzu. Vor allem: daß die «letzten Dinge», Himmel (85) und Hölle im öffentlichen Bewußtsein, auch der Christenheit, mit den Attributen des im Grunde Unernsthaften ausgestattet worden sind. Man hat den Himmel zu einer Spielwiese und die Engel II, II, 126, 1. Augustinus, De civitate Dei 14, 7. 96 II, II, 19, 4 ad 3. 97 II, II, 19, 4. 98 II, II, 19, 9. 99 II, II, 19, 8 ad 1. 100 II, II, 19, 7. 94 95
25 zu Spielgenossen des Kleinkindes verniedlicht – während etwa für Thomas von Aquin die Erscheinung des Engels durchaus den Charakter des elementar Erschreckenden und Verwirrenden hat; deshalb sei stets das erste Wort der Engel an den Menschen: Fürchte dich nicht.101 Anderseits sind die Hölle und die gefallenen Engel dadurch entwirklicht worden, daß man sie ihres Seinsranges als geistiger Wirklichkeit und damit ihrer letzten Furchtbarkeit entkleidet hat. Die Furcht vor der Ewigen Verdammnis ist, als Beweggrund der Hinwendung zu Gott, gewiß einer unvollkommenen Stufe der Gottesliebe zugeordnet. Aber auf dieser Stufe des inneren Lebens ist sie die alleinige Möglichkeit einer gemäßen Existenz-Antwort auf eine der fundamentalen Realitäten des menschlichen Daseins. Es ist – wiederum: auf dieser Stufe der Liebe – unmöglich, die Angst vor der Ewigen Strafe zu «überwinden»; weder «Haltung» noch Gleichmut noch Optimismus reicht dazu aus. Die einzige echte und seinsgerechte Überwindung der Furcht vor der Ewigen Verdammnis ist: das Voranschreiten in der Liebe. (86) Durch die wahre Gottesfreundschaft, die das Höchste Gut um seiner selbst willen bejaht, wird die «knechtliche» Furcht umgeformt und hinaufgestaltet in die «der Sohnschaft gemäße», in die «keusche» Furcht. Wiederum ist zu sagen: auch die «der Sohnschaft gemäße» Furcht ist wirkliche Furcht. Sie verwirklicht den Begriff der Furcht sogar auf eigentlichere Weise als die «knechtliche» Furcht. Die «der Sohnschaft gemäße» Furcht blickt hin auf die Schuld als Schuld; die Schuld aber ist in schlechthin höherem Maße «böse» als die Strafe.102 Die Furcht vor der Schuld also antwortet auf eine tiefere Gefährdung des menschlichen Daseins als die Furcht vor der Ewigen Strafe. Sie ist auch dem innersten Entscheidungskern der geistig-sittlichen Existenz des Menschen näher; während die Furcht vor der Ewigen Strafe eher den vital-seelischen Bezirken zugeordnet zu sein scheint. Die «der Knechtschaft gemäße» Furcht vor der Verdammnis nimmt ab, je tiefer die Freundschaft mit Gott das Menschenwesen durchwirkt,103 das heißt: je näher der Mensch seinem Ewigen Seinsgrund verbunden ist. Die «der Sohnschaft gemäße» Furcht dagegen wächst – als wirkliches Sich-Fürchten – in dem gleichen Maße, in dem die Gottesfreundschaft sich verwirklicht. Darin (87) liegt etwas zunächst Überraschendes, das sich aber dem tiefer eindringenden Blick als innere Notwendigkeit enthüllt: Einerseits ist auch auf den höchsten Stufen der Gottesliebe die reale Möglichkeit der Schuld für den «Menschen auf dem Wege» nicht ausschließbar; solange der Mensch den status comprehensoris «noch nicht» erreicht hat, bleibt der willentliche Abfall von Gott «ganz und gar möglich» (omnino possibilis).104 Anderseits: der auf das Nichts und die Ver-nichtung bezogene Sinn der Sünde wird, in seiner eigentlichen Negativität, erst dem Blick des «Gottesfreundes» sichtbar; erst die übernatürliche Liebe zu Gott setzt – Furcht ist «fliehende Liebe» – den Menschen in den Stand und nötigt ihn zugleich, die Möglichkeit der Schuld so sehr zu fürchten, wie es ihrer realen Furchtbarkeit entspricht. Die «keusche» Furcht vor der schuldhaften Trennung von Gott ist in einem anderen Sinne «Anfang der Weisheit» als die «knechtliche» Furcht vor der Ewigen Verdammnis: diese macht den Geist für die Weisheit bereit, jene aber ist die Erstlingsfrucht der Weisheit selbst.105
III, 30, 3 ad 3. Mal. 1, 5. 103 II, II, 19, 10. 104 II, II, 19, 11. 105 II, II, 19, 7. 101 102
26 Die «der Sohnschaft gemäße» Furcht, welche der vollkommenen Gottesliebe zugeordnet ist, gehört zu den Sieben Gaben des Heiligen Geistes. Sie ist ein «Geschenk», das die Möglichkeiten des natürlichen Menschen übersteigt.106 Das sittlich Gute ist nichts anderes als die Weiterführung und Vollendung der naturhaften Ausrichtungen unseres Wesens:107 es ist die naturhafte Angst des Menschen vor der Seinsminderung und der Vernichtung, welche sich «vollendet» in der Furcht des Herrn. Von diesem Satze her öffnet sich ein Durchblick in sehr merkwürdige Zusammenhänge. Wenn die auf das Nichts blickende naturhafte Angst des Menschen nicht vollendet wird durch die Furcht des Herrn, dann dringt diese Angst «unvollendet» und zerstörend in den Raum der geistig-seelischen Existenz. Die Herrschaft der «unvollendeten», zerstörerischen Angst ist ein Zeichen dafür, daß ein Mensch die Furcht des Herrn willentlich verneint und von sich tut. Die Furcht des Herrn aber ist jedem guten Tun des Menschen eigentümlich und innewohnend; und sie wird anderseits durch jede Sünde irgendwie ausgeschlossen und aufgehoben.108 Die «unvollendete» Angst ist die Begleitung der (objektiven) Sünde, das heißt: jeden wirklichkeitswidrigen Tuns. – An diesem Punkte begegnet die Theologie wiederum den Erfahrungen der modernen Psychiatrie. (89) Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, daß die naturhafte Angst vor dem Nichts, ohne zugleich zu zerstören, in den Bezirk der geistig-seelischen Existenz hinaufdringt. Diese einzige Möglichkeit ist die Vollendung der naturhaften Angst durch die Furcht des Herrn. Die Furcht des Herrn allein begreift in sich den Grund aller «Gesundheit»: sie ist der Wirklichkeit gemäß. Die theologische Tugend der Hoffnung und die Furcht des Herrn sind einander wesenhaft zugeordnet, sie antworten einander.109 – Das Zögern, mit dem wir diese Zuordnung aufnehmen, scheint eine Art von bestätigender Entsprechung darin zu finden, daß auch Thomas, der nur in sehr wenigen Lehrstücken seine Meinung gewechselt hat, erst im zweiten Teil des zweiten Hauptteils der Summa – anders als in dessen erstem Teil, und anders als in seinem frühen Sentenzenkommentar – das Zueinander von Hoffnung und Furcht des Herrn klar ausspricht. Das Bindeglied zwischen Hoffnung und Furcht ist die «begehrende» Liebe, die Gott erstlich um des Liebenden willen sucht. Diese Liebe ist, wie schon gesagt wurde, das Fundament der Hoffnung, und die Furcht ist ihr «Negativ». Hoffen und fürchten kann einer nur für sich selbst (und für den Menschen, den er liebt). (90) Die «knechtliche» Furcht entspricht jener Stufe der Hoffnung, die noch nicht durchformt ist von der caritas, von der eigentlichen Freundschaftsliebe zu Gott. Die «keusche», «der Sohnschaft gemäße» Furcht ist das «Negativ» der in die Gottesfreundschaft hinaufgehobenen «Hoffnungsliebe». Die Furcht des Herrn verbürgt die Echtheit der Hoffnung. Sie schließt die Gefahr aus, daß die Hoffnung sich verkehre in ihre falsa similitudo, in ihre unechte Nachbildung: in die vermessene Vorwegnahme der Erfüllung. Die Furcht des Herrn hält dem hoffenden Menschen die Tatsache gegenwärtig, daß die Erfüllung «noch nicht» wirklich ist. Die Furcht des Herrn hält die Erinnerung daran wach, daß die menschliche Existenz, obwohl angelegt und ausgerichtet auf II, II, 19, 9. II, II, 108, 2. 108 Mal. 8, 2 ad 5. 109 II, II, 141, 1 ad 3. 106 107
27 die Erfüllung durch das Höchste Sein, dennoch, im status viatoris, ständig gefährdet ist durch die Nähe zum Nichts. Mit bewunderungswürdiger Treffsicherheit sagt Paschasius Radbert: «Die heilige Furcht bewacht die Gipfelhöhe der Hoffnung.»110 Und in der Heiligen Schrift (Ps 113,22) heißt es: «Es hoffen auf den Herrn, die ihn fürchten.» (91)
ANMERKUNGEN Die zahlreichen auf den Text bezüglichen Verweisungen, vornehmlich auf die Summa theologica und die Quaestiones disputatae des heiligen Thomas, sind keineswegs «historisch» gemeint. Es geht nicht darum, die Gedankenwelt des «größten hochmittelalterlichen Systematikers» in ihrer geschichtlichen Gestalt herauszustellen. Es geht darum, eine Brücke zu bauen zu dem Werk des «allgemeinen Lehrers» der Kirche, sofern es teilhat an der übergeschichtlichen Gegenwärtigkeit des Lehramtes der Kirche selbst. Bei den sehr häufigen Zitaten aus der Summa theologica sind nur die Ziffern angegeben; die Bezeichnung «II, II, 19, 9 ad I» beispielsweise bedeutet also genau: Summa theologica, II. Teil des II. Hauptteils, Quaestio 19, Artikel 9, Antwort auf den 1. Einwand. – Auch für die Zitate aus des Thomas Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus sind nur die Ziffern genannt, deren Schriftbild jedoch charakteristisch von dem der Summa-Zitate sich unterscheidet; die Bezeichnung «3, d. 26, 1, 5» beispielsweise bedeutet genau: Commentum in IV libros sententiarum, 3. Buch, Distinctio 26, Quaestio 1, Artikel 5. – Die Titel der übrigen, in den folgenden Anmerkungen aufgeführten Werke des heiligen Thomas lauten [mit den angewandten Abkürzungen] folgendermaßen: Compendium theologiae [Comp.], Declaratio quorumdam articulorum contra Graecos [Contra Graecos], Expositio super S. Pauli epistolam ad Hebraeos [Hebr.], Quaestiones disputatae de malo [Mal.], Quaestiones disputatue de potentia Dei [Pot.], Quaestiones disputata de spe [De spe], Quaestiones disputata de virtutibus cardinalibus [Virt. card.], Quaestiones disputata de virtutibus in communi [Virt. comm.], Quaestiones disputatae de veritate [Ver.]. (95)
110
De fide, spe et caritate 2, 7.