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Wider den. mißverstandenen Realismus
Gespendet vom
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Vorwort
Alt ~ Rechte vorbehalten ©
Claassen Verlag GmbH., Hamburg 1958
DrId; F. L W~, Lemgo. Printed in Germany
Diese Studie ist im Herbst 1955 als Grundlage zu einem Vortrag entstanden. Der Vortrag fand zuerst in der Deutschen Akademie der Künste im Januar 1956 statt, wurde dann in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Warschau, an den Universitäten Rom, Florenz, Bologna, Turin und Mailand und schließlich in der Wiener Urania wiederholt. Die Dauer eines Vortrags gestattete nur über den erstenProblemkomplex, über die Lage des bürgerlichen Realismus in der kapitalistischen Gesellschaft, zu sprechen, obwohl der letzte Teil im Entwurf bereits fertig vorlag. Die schriftliche Ausarbeitung - »Eine Rede ist keine Schreibe« zeigte, daß viel mehr konkretes Material in die Darstellung aufge- . nommenwerden mußte, als in den Vorträgen möglich war, obwohl die essayistische Form beibehalten und keinerlei systematische oder gar stoffliche Vollständigkeit angestrebt Wurde. Für die Darstellungsweise des letZten Teils war es sehr wichtig, daß seine Ausarbeitung bereits in die Periode nach dem xx; Kongreß der KPdSU, in die Zeit der von ihm ausgelösten Diskussionen fiel. Ich betone das Wort: Darstellungsweise. penn jedem, der meine früheren Schriften kennt, muß klar sein, daß die Ausführungen diesen gegenüber sachlich nichts wesentlich Neues enthalten. Das ist, wenn von Naturalismus oder Schematismus die Rede ist, ohne weiteres einleuchtend. Verbal neu I ist meine prinzipielle Polemik gegen die sogenannte ~ Romantik. Aber nur verbal. Ich habe in der Herrsmaftszeit dieses Begrüf~;-von Über zwei Jahrzehnten den Ausdruck revolutionäre Romantik weder schriftlich noch mündlich gebraucht und. habe immer wieder konkret zu zeigen versucht, daß sämtliche Probleme der Literatur, ohne diesen Terminus anzuwenden, vollständig, weit besser gelöst werden können als mit seiner Hilfe. Eine deutlichere Opposition war zu Lebzeiten Stalins, zur Zeit der theoretischen Herrschaft Shdanows nicht möglich. Daß dieses mein Schweigen als Auflehnung gewertet wurde, zeigte sich in liter;rischen Diskussionen, in denen mir verschiedentlich mein beharrliches Nichterwähnen der revolutionären Romantik zum Vorwurf gemacht wurde. Ich benutze mit :rr'eude die erste Gelegenheit, auch in dieser Frage ganz offen, nicht 5
mehr in »Aesopischer« Sprache reden zu können. Sachlich hat, wie die Leser meiner früheren Schriften leicht kontrollieren können, mein Standpunkt keine Veränderung erfahren. Ich halte es aber für meine Pflicht, audl diese terminologische Änderung vor meinen Lesern in voller Offenheit zu behandeln. Dieses Vorwort wurde im September 1956 niedergesmrieben. Inzwismen haben sich in Ungarn und in anderen Ländern wimtige Ereignisseabgespielt, die uns zum Neudurmdenken vieler Probleme, die mit Stalins Lebenswerk zusammenhängen, zwingen. Die Reaktion auf dieses faßt sich in der bürgerlimen Welt und auch vielfam in sozialistismen Staaten zu einer Revision der Lehre von Marx und Lenin zusammen. Sicher besteht darin die gegenwärtige Hauptgefahr für den Marxismus-Leninismus. Es ist aber ebenso simer, daß wir dieser Gefahr wehrlos gegenüberstehen, wenn wir mit dem Dogmatismus Stalins und der Stalinschen Periode nicht smonungslos abrechnen; wenn wir nicht den systematischen Zusammenhang in diesen, die ihnen zugrunde liegende Methode, das aus ihnen folgende Verhalten etc. aufdecken und den hier zutage tretenden Gegensatz zum Marxismus-Leninismus herausarbeiten. Erst auf Grundlage einer solchen Kritik kann auch das Positive an Stalins Lebenswerk historisch gerecht eingeschätzt werden, so wie vor einigen Jahrzehnten eine derartige Kritik den Weg zu einer angemessenen Würdigung Rosa Luxemburgs eröffnet hat. Diese Studie behandelt bloß eine Spezialfrage, wenn auch eine wichtige, sie bedarf daher keines so weitgreifenden theoretischen Ausholens. Darum kann im sie in unver. änderter Form der öffentlimkeit übergeben. Jedoch: obwohl hier nur eine Einzelfrage unseres heutigen Literaturund Kulturlebens behandelt wird, ist die Stellungnahme zu ihr nimt unabhängig zu den. heute diskutierten allgemeinen Problemen. Wir sehen einerseits, daß in den Debatten, die auf den XX. Kongreß folgten, auch auf dem Gebiet der Literatur ein Revisionismus eintrat, der die gesamte marxistisme Kritik an der Dekadenz verwarf und sich prinzipiell gegen den soziali.stischen Realismus wandte, diesen als Hindernis einer literarischen Höher- und Weiterentwicklung bezeichnend. Andererseits haben die Dogmatiker den Versum unternommen, alles, was theoretisch und praktism in den .letzten Jahrzehnten geleistet wurde - »einzelne Fehler« ausgenommen -, en bloc zu verteidigen .. Unser Standpunkt ist auch hier ein Tertium datur. Auch hier 6
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gilt es, daß der Revisionismus - die aktuelle größte Gefahr für den Marxismus - ohne energisme prinzipielle Kritik der dogmatismen Theorie und Praxis nicht bekämpft werden kann. So deutlim aus den Werken wirklim bedeutender Smriftsteller, wie Scholomow oder Makarenko, die Umrisse des entstehenden neuen Stils ablesbar sind, so verwirrt wird das' Gesamtbild, sobald man jedes nom so durmschnittlime oder verfehlte Produkt einer sozialistischen Literatur im Namen der Verteidigung des sozialistischen Realismus um jeden Preis zu einem Meisterwerk erklären will:~er Tertium datur ist also das unbefangene, künstlerisme Verteidigen jener gewaltigen, .weltliterarisch bedeutsamen Neuerungen, die der sozialistische Realism~s in seinen Spitzenleistungen hervorgebracht hat und hervorbringt. ~ede Kritik - sei sie noch so scharf - an mißlungenen Leistungen oder-dogmatischen Theorien ist deshalb dem Wesen nam ein Smutz für das Zur-Geltung-Gelangen des wirklich Wertvollen und Neuen am sozialistischen Realismus. Budapest, April 1957
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.Einleitung Soll die1mS<~e klar beantwortet werden, so muß man '9_\~lII!B;-=y~~abrechneh. Das erste beherrscht .... '". .• . ........ '. . JGitik der unmittelbaren Gegenwart. sim kurz so zusammenfassen: Als eigentT01ge' kann nur die der sogenannten Avantman gewohnt war als Realismus zu bezeichden entscheidenden Problemen der Zeit vordiese. Seine Formen können deshalb unmöglich gerecht werden. So sagte z. B. anzuführen - Karl Korn unter anderem in der Scbriftstellerdiskussion in Vezelay, die moderne diOIisdlen Technik und der Bürokratie sei abstrakt Ideologie der »heilen Welt« sei unrealistisch, der verniedliche die Wirklichkeit usw. Auf der es nicht wenige Theoretiker des sozialistischen - mehr oder weniger klar ausgesprochen - meinen: des sozialistischen Realismus sei der kritische, der überholt; er habe keine aktuelle Hedeutung für Höherbildung des literarischen Stils der Gegenwart. in diesen extrem entgegengesetzten Anschauungen liegt daJ sie heide eine monolithische Auffassung der zeitgenössi···biirgerlicb.enLiteratur statuieren und deshalb bestimmte grundTatsachen unseres gesellschaftlichen (und darum kulturellen, Lebens vernachlässigen. sind beide Anschauungsgruppen aus der gesellschaftlichen ticihkleit unserer Zeit herausgewachsen. Ist doch - man könnte seit der Junischlacht 1848 des Pariser Proletariats - der Kampf. ioziaüsDlUS und Kapitalismus das grundlegende Problem der in der wir leben. Es ist deshalb selbstverständlich, daß auch und Literaturtheorie diese Tatsache ,widerspiegeln müssen. epochale Fundamentalität bedeutet noch lange nicht, daß ,ftwlOIlElell, ja auch nur jede Periode dieser ,Epoche unmittelwüstänctig bestimmen muß. Die Art, wie die Grundtendenz Ei*besidl durmsetzt, ist eine äußerst komplizierte; die Wirk-
lichkeit produziert massenhaft objektive und subjektive Ve~mitt lungen, deren Wirksamkeit das In-Erscheinung-Treten der Grundfrage' wesentlich modifiziert. Welthistorisch angesehen, bleibt der Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus die Grundfrage unserer Epoche als Ganzes betrachtet. Es ist aber oft irreführend, wenn man Phänomene und Tendenzen: des Tages, ja auch ganze Perioden, aus denen die Epoche besteht, direkt aus diesem fundamentalen Gegensatz zu erklären versucht. Schon vor dem zweiten Weltkrieg hat nicht dieser Gegensatz die wesentlichen Gruppierungen im sozialen und politischen Leben unmittelbar bestimmt, sondern der von Faschismus und Antifaschismus. Natürlich gab es wichtige Kräfte im kapitalistischen Lager, die die Scheidung der Fronten dem Grunclgegensatz entsprechend auszurichten bestrebt waren; so vor allem Hitler, aber auch manche andere imperialistischen Politiker. Vergebens. Der Gegensatz von Faschismus und Antifaschismus hatte damals die größere aktuell-dynamische Wucht. Er bestimmte die gesellschaftlich-geschiChtliche Gruppierung der Menschheit für eine wichgge Entwicklungsperiode. Nach der Zerschmetterung des Hitlerismus im zweiten Weltkriege sah es lange Zeit - ungefähr nach Churchills Fultoner Rede - so aus, als würde der Gegensatz Sozialismus - Kapitalismus nun doch unmittelbar das Geschick der Welt beherrschen. Die Strategie des Kalten Krieges hatte sich gerade dies zum Ziel gesetzt: die Menschheit in zwei feindliche »Welten« zu spalten und alles, was nicht sozialistisch ist, gegen den SoziaJismus zu mobilisieren. Auch diesmal vergebens. Auch dies- . mal offenbarten sich neue Kräfte und wurden immer bewußter, immer mächtiger. Sie bildeten einen Aufstand gegen die unmittelbare Zielsetzung der Strategie der »zwei Welten«: gegen die Vorbereitung des dritten Weltkrieges. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, Aufmarsch und Wachstum der Friedensbewegungen auch nur andeutend zu schildern. Für unsere Zwecke reicht die Feststellung aus, daß sie zu vielen Hunderten von Millionen erwuchsen, zu Massenbewegungen, die beispiellos in der bisherigen Weltgeschichte dastehen. Wenn wir nun diese großen, zwei Perioden unserer Geschichtsepoche determinierenden Gruppierungen etwas näher betrachten, so fällt schon beim ersten Anblick auf, daß sie eine Spaltung im Lager des' Bürgertums und bis zu einem gewissen Grad auch in dem des Prolet:riats beinhalten. Wie es vom Faschismus irregeführte Arbeiter gab, 9
so gibt es auch heute solche, die mehr oder weniger unter den Einfluß der Ideologie des Kalten Krieges geraten sind. Für unsere Betrachtungen ist es aber vielleicht noch wichtiger, daß sowohl der Antifaschismus wie - quantitativ wie qualitativ in noch höherem Aus':' maße - die Friedensbewegungen gewaltige Teile des Bürgertums, .vor allem der bürgerlichen· Intelligenz umfassen. Der Gegensatz von Kapitalismus - Sozialismus ist also auf keine dieser historischen Tendenzen unmittelbar anwendbar, sie sind im Gegenteil gerade durch das kämpferische Zusammengehen von Sozialisten und Bürgerlichen charakterisiert. Schon diese Tatsadten haben äußerst wichtige Folgen für die gegenwärtige Bildung der bürgerlichen Literatur. Diese Feststellung vertieft sich jedodt außerordentlich, wenn wir einen Blick auf die ideologisdte Eigenart der Friedensbewegungen werfen. (Das jetzt Auszuführende ist natürlidt auch in den antifaschistischen Bewegungen wirksam gewesen, nur mit geringerer Intensität,. mit schwächerer Klarsidtt.) Es ist sofort offensidttlich, daß die Friedensbewegungen typisdterweise auf Grundlage der Ausschaltung, des Ausklammerns weltanschaulicher Differenzen entstehen: Marxisten u'nd Anhänger der bürgerlichen Weltansdtauung, Atheisten und Anhänger der verschiedensten Religionen etc. nehmen an ihnen teil, und diese Differenzen haben die Intimität der Zusammenarbeit, die Konzentration der Anstrengungen auf dasselbe Ziel nicht gestört. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Lage doch als wesentlich komplizierter. Denn die Praxis der Friedensbewegungen wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, die unzweifelhaft einen gewissen Weltansdtauungsdtarakter haben und haben müssen. Es ist z. B. unmöglich, überzeugt und wirksam für die Erhaltung des Friedens tätig zu sein ohne eine feste Oberteugung, daß in dergesel1:Schä:fUiChen· Wirk~ lichkeitdie--Macht Qer Vernunft sich irgendwie durchzusetzen vermag, daß das mensdtJ.idt~ Handeln:, und zwar nicht nur das der großen Massen )sondern audt der Entschluß des Individuums den Gang der Ereignisse irgendwie beeinflussen kann usw. Und andererseits ist es ebenfalls evident, daß die Ablehnung solcher Bestrebungen, der Glaube· an die Unvermeidlichkeit des Krieges, der Vernichtung der menschlichen Kultur durdt Atom- und Wasserstoffbomben sich auf eine fatalistische Weltansdtauung zurückführen läßt. Die Trennung der Geister also, die von den Friedensbewegungen hervorgerufen 10
wird, entbehrt nicht gewisser Elemente der weltanschaulichen Stellungnahme. Nur sind diese - soweit sie als geistige Verbindungsglieder verschieden, ja entgegengesetzt denkender und doch gemeinsam handelnder Menschen fungieren -' weltanschaulich bloß in einem engbegrenzten Sinne des Wortes: sie besitzen ein Gemeinsames als unmittelbares Anschauen der Welt, als unmittelbar-praktisches Reagieren auf ihre Haupttendenzen, wobei dieses Gemeinsame philosophisch, religiös etc. Auslegungen in völlig entgegengesetzter Wesensart zuläßt. Der Fatalismus kann sowohl religiös wie pseudowissenschaftlich gedacht werden; die Macht der Vernunft in der Welt, die Verantwortlichkeit des Individuums für die Folgen seiner Entscheidung erträgt geradeso gut die Verankerung in einer Theodizee wie in einer materialistisch fundierten Gesellschaftslehre. Die Gemeinsamkeit der »Weltanschauung«, die in und infolge des Friedenskampfesentsteht, ist also, um Hegels Ausspruch zu benützen, »eine Identität der Identität und der Nichtidentität«. Dieses Prinzip der neuen Form in der Gruppierung der Menschen unserer Zeit ist gewissermaßen das Urphänomen für unsere folgenden Untersuchungen. Denn diese Art von »Weltanschauung« ist gerade für die Beziehung des Dichters zur Wirklichkeit charakteristisch: sie ist eindeutig in bezug auf Gehalt und Richtung und ist zugleich den entgegengesetztesten Formen der rein gedanklichen Auslegung und Begründung zugänglich. Für uns ist hier das Moment der Konvergenz, und zwar das einer sehr realen, das Wesentlichste treffenden Konvergenz von entscheidender Bedeutung: es zeigt uns den inneren Gehalt und die gesellsdtaftliche Grundlage von wesentlicher Verbundenheit bei allergrößten Divergenzen außerhalb dieses Zentrums, das für die Literatur aus dem tiefsten Wesen des künstlerischen Wollens emporsteigt und zugleich das historische Produkt der entscheidenden Zeitströmung der Periode, in der wir leben, ist. Unser Urphänomen ist also diese Konvergenz der beiden Kontrastpaare: Realismus und Antirealismus (Avantgardeismus, Dekadenz) einerseits und Kampf um Frieden oder Krieg andererseits. Natürlich muß diese Konvergenz mit Vorsicht, mit vielen Vorbehalten erfaßt werden. Es handelt sich immer bloß um etwas Tendenzielles, das in den Einzelfällen sehr viele Variationen, übergänge, Umschläge ins iftgegengesetzte etc. aufweist. überhaupt drückt sich der tendenZIeHe Charakter dieser KonsteHation auch darin aus, daß die hier 11
festgestellten Pole niemals starr einander gegenüberstehende Entitäten sein können, sondern Pole im wörtlichen Sinne: äußerste Zuspitzungen von Tendenzen, die im allgemeinen sehr gemischt, im steten Kampf miteinander, ineinander übergehend sich zu äußern pflegen. Und es wäre eine Vereinfachung der Sachlage, diesen Kampf der Tendenzen bloß als den von Richtungen oder Persönlichkeiten anzusehen. Nein. Diese übergänge und Widersprüche treten sehr häufig auch innerhalb einer EinzelpersÖnlichkeit auf, und zwar nicht nur als Verschiedenheiten, ihrer Entwicklungsphasen, sondern auch im selben Zeitpunkt als jene Widersprüchlichkeit eines Menschen, die seine gegenwärtige Entwicklungshöhe am besten charakterisiert. Wie stets im Laufe der Geschichts- und Gesellschaftskenntnis erhellt auch hier die Gegenwart die Vergangenheit. Heute erst sehen wir, daß das, was heute geschieht, eine Aufgipfelung längst wirksamer Kräfte ist. Nach dem großen Realismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat ein Abebben in seiner Mitte, nach der Revolution 1848, ein, insbesondere in der Periode Napoleons III., in den Anfängen der dritten Republik, in der Victorianischen Periode etc. Und wir sehen erst heute, daß die Zuspitzung der ökonomischen Entwicklung, die imperialistische Periode einen neuen Aufschwung des Realismus ergab: den der humanistischen Revolte gegen den Imperialismus. Die nationalen Wurzeln sind dabei äußerst verschiedene; die Stiltendenzen vielleicht noch mehr. Um sei auffallender erscheint - von der Warte unserer Gegenwart betrachtet - die ideelle Zusammengehörigkeit,eben das, was wir humanistische' Revolte genannt haben. Es genügt, auf Anatoie France und Romain Rolland, auf Shaw und Dreiser, auf Heinrich und Thomas Mann hinzuweisen, um das tendenziell Verwandte klar zu erblicken. Der heutige bürgerliche Realismus ist -objektiv-gesellschaftlich angesehen- eine Fortführung dieses Aufstandes, wobei einzelne der wichtigen Vertreter dieser Tendenz noch in unserer Periöde wirksam waren.
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Die weltanschaulichen Grundlagen des Avantgardeismus I"""
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Es liegt im Wesen der Sache, daß auf der Oberfläche des literarischen i Lebens auch heute die antirealistischen, avantgardeistischen Tendenzen Ldie vorhe:-rschenden zu sein scheinen. Es ist deshalb nur allzu angebracht, lrutunseren Betrachtungen hier anzuknüpfen: aus der Kritik des Avantgardeismus die Gesichtspunkte für die Möglichkeiten des bürgerlidien Realismus polemisch-dialektisch zu entwickeln. Es ist des~alb un~mgängli~, die beiden Hauptrichtungen der heutigen bürger- . hchen ~lteratur In bezug auf Fragestellungen und Lösungen in den entscheldendsten weltanschaulim-künstlerischen Problemen miteinander zu kontrastieren.
Bei einer solmen Gegenüberstellung von Tendenzen muß der Akzent auf die welt~nsmaulidlen Fragen und Antworten gelegt werden (Weltanschau~ng lm zuletzt umsdlriebenen und nicht in strikt philosophisdlem SInn genommen). Was unbedingt vermieden werden muß, ist gerade das, was in der bürgerlich-avantgardeistischen Kunsttheorie die ührende ~olle zu spie~en p~egt.: die Sdleidung der Wege im Formalen'J. vor allem In der Schrelbwelse, In der literarischen Technik in der un-i mittelbar technismen Formgebung zu suchen. Dies ergib: zwar eine! wohlfeile Klarheit in der Absonderung des »Modernen« vom »Veralteten«, vom bloßen Erbe des 19. Jahrhunderts, in Wahrheit verdunkelt es gerade die aussmlaggebenden, die wesentlimen Formprobleme, vermismt die wesentliche innere Dialektik der übergänge. Die smeinbar eindeutige Polarisation, die sich für eine soldle Betrachtungsweise ergibt, bringt ein falsmes Fixieren von übergängen als Pole hervor u~d verdunkelt jene Prinzipien, die die echten Entgegensetzungen bestlmmen. Wir versudlen die Richtigkeit dieses Gesidltspunktes an einem Beispiel zu beleuchten. Man denke an die Technik des inneren Monologes, an die Flut von freilaufenden, freigelassenen Assoziationen als Mittel der Charakteristik und der Erzählung. Wenn man nun - aussmließlim _ von diesem Standpunkt die Monologe des Herrn Bloom im Closet, der Madame Bloom im Bett am Anfang und am SmlU:ß des» Ulysses« von J~mes ~oyce einerseits und den großen Monolog des erwamenden e'oethe In Thomas Manns »Lotte in Weimar« andererseits betrachtet,
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so wird man in ihnen sehr leicht das Erscheinen derselben literarischen Tendenz wahrnehmen, was einige Bemerkungen Thomas Manns über J oyce und seine Schreibweise zu bestätigen scheinen. Vom Standpunkt des wirklichen Stils ist kein größerer Gegensatz denkbar als diese beiden Romane; auch in den von uns angeführten »ähnlichen« Szenen. Nicht der sofort auffallende geistige Niveauunterschied ist das Ausschlaggebende. Vielmehr die Tatsache, daß bei Joyce die Technik des freigelassenen Assoziationsverlaufs keine bloße Technik der Schreibweise ist, sondern zugleich die innere Form der epischen Darstellung von Situationen und Charakteren; also als ästhetisches Aufbauprinzip des »Ulysses« betrachtet etwas, künstlerisch Letztes. Bei Mann dagegen ist das freie Spiel der Assoziationen wirklich bloße Technik, die dazu benutzt wird, um etwas weit über dessen Unmittelbarkeit Hinausgehendes aufzudecken und sinnfällig zu machen: nämlich die Gestalt Goethes in seinen vielseitigen und hierarchisch gegliederten Beziehungen zu seiner sozialen und geistigen Umwelt. Dabei werden diese Beziehungen keinen Augenblick als bloß momentane oder gar statische dargestellt, sondern als die tiefsten Entwick1ungstendenzen seiner PersänlicPkeit, mit denen er sich hier in Hinsicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen hat und sich auseinandersetzt. Darum ist das freie Fluten von Assoziationen nur scheinbar, nur auf dem Niveau der bloßen Unmittelbarkeit frei: in Wahrheit ist alles aufs allerstrengste durchkomponiert, und zwar sowohl im Nacheinander,- das immer tiefer ins Wesentliche hineinführt, was zur Folge hat, daß jeder ,einzelne auftauchende und wieder untertauchende Gegenstand (Person, Begebenheit etc.) erst in diesem bewegten Zusammenhang seine Stellung und sein spezifisches Gewicht erhält, als auch demzufolge dem Umfang und der Dauer nach, so daß jede Einzelheit ausschließlich gemäß dieser ihrer subjektiven wie objektiven Wichtigkeit im Erhellen desWesentlidien ins Li-cht gerückt wird. Die Komposition ist also - ihrem wahren Gehalt und wahren Wesen nach - eine echt epische, die die dynamischen übergänge, deren Steigerungen und Retardationen ganz nach deri Gesetzen der traditionellen Epik, frei'lich in origineller Erscheinungsform, gestaltet. . Man würde den künstlerischen Absichten und der schriftstellerischen Potenz von Joyce unrecht tun, wenn man sein konsequentes Haften an der Oberfläche, am Flüchtig-Momentanen, jene Gedanken- und Ge14
, füh~sflucht, die sein Roman als Ganzes zeigt, als Versagen, als NichterreIchen des Gewollten interpretieren würde. Nein. All dies hat Joyce erstrebt und mit seinen spezifischen technischen Mitteln adäquat verwirklicht. Joyce will eben das Entgegengesetzte dessen, was Thomas ~a~n will. Episch angesehen entsteht bei Joyce aus der ruhelos os~Ilherende~ Bewegtheit aller Details, aus deren permanenter, aber ZIel- und nchtungsloser Dynamik ein Ganzes das in seiner Totalität statisch ist, das eine reine Zuständlichkeit ais Gesamtausdruck Zur Darstellung bringen will und bringt. Der .~ier. in ~rscheinung tretende Gegensatz von Entwicklung oder ZustandhchkeIt der Werke als Ganzheiten ist für die hier beabsichtigte Kontrastierung so wichtig, daß wir auf ihn noch mehrmals zurückkommen müssen. Diese einleitende Gegenüberstellung sollte nur den Tatbestand erhellen, daß gerade in dieser Frage ein In-den-Vordergrund~Rücken der rein formalen, der darstellerisch-technischen Probleme ein Vorbeigehen am Spezifischen der künstlerischen Eigenart der betreffenden Werke und Schriftsteller Il()~.~endig mit sich führt. Wovon hängt jedoch dann de(wirkliche Sgf,)1eines Werks ab? Wonach bestimmt sich seine IntentiOrrin
Gebildes auch sein mag, sein tiefstes Wesen drückt sich in der Frage aus: was ist der Mensch? Damit sind wir zum Punkte angelangt, wo die Scheidelinie deutlich sichtbar wird. Fassen wir diese Frage auf der höchsten Stufe einer vernünftigen Verallgemeinerung, also - vorläufig - noch unabhängig von allen Formfragen der Literatur, so kommen wir für die Wirklichkeit (und selbstredend auch für die Literatur) der ei~~n ~enden~ zu d~r Bestimmung von Aristoteles, die ebenfalls unabhangig von asthetischen Fragen entstanden ist: er nennt den Menschen ein ~&ov .1tOAL'tL%OV, ein gesellschaftliches Tier, und gibt damit für die .auf ih~ folgen?e Weltbetrachtung eine konkrete Richtschnur. ZugleIch beruhrt er Jedoch auch die Zentralfrage einer jeden großen realistischen Literatur. Ob Achilles oder Werther, Oedipus oder Tom Jones, Antigone oder Anna Karenina, Don Quijote oder Vautrin: das GesellschaftlichGeschichtliche mit allen Kategorien, die daraus folgen, läßt sich von ihrer Wirklichkeit, im Sinne Hegels, von ihrem Sein an si~, von ihrer ontologischen Wesensart, um einen modis,?en ~erml~us. z~ gebrauchen, nicht ablösen. Die rein menschli~e, dl: zutle~st m~lvI~ duelle und typische Eigenart dieser Gestalten, Ihre kunstlensche Slnnfälligkeit ist mit ihrem konkreten Ve:wurzelts:in in den. konkret historischen, menschlichen, gesellschafthchen BeZIehungen Ihres Daseins untrennbar verknüpft. Völlig entgegengesetzt ist die ontologische Intention, das mens~liche Wesen ihrer Gestalten zu bestimmen, bei den führenden Schriftstellern der avantgardeistischen ·Literatur. Kurz gefiJ.ßt: für sie ist "der« Mensch: das von Ewigkeit her, seinem Wesen nach einsame, ~us allen menschlichen und erst recht aus allen gesellschaftlichen Bez~e hungen herausgelöste - ontologisch. - von ihnen unabhängig existlerende Individuum. Der früh verstorbene, hochbegabte amer.ikanis~e Romancier Thomas Wolfe macht z. B. folgendes Bekenntrus: .»M:m Lebensgefühl gründet sich auf die feste überz=ug~ng,. daß dIe Emsamkeit keineswegs etwas Seltenes und Merkwur?lges .~st, .etwas nur mir und einigen anderen einsamen Menschen Eigentumh~es, sondern die unausweichliche, zentrale Tatsache des m:nschhchen Daseins.« Ein solches Individuum kann eventuell, aber Je.denf~~ls - ~n tologisch angesehen - erst nachträglich, im tiefsten Smne a?ßer~lch und zufällig mit anderen Individuen in B;ziehung .tr~en; ~lese sl~d aber ihrem Wesen nach letzthin ebenso emsam, eXIstieren ebenso In
ihrer Unabhängigkeit von menschlichen Beziehungen, rein .auf sich gestellt.. . , Man verwechsle die hier entstehende - ontologische - Einsamkeit »des;« .Mensch~n nicht mit einzelnen Einsamkeitsgestaltungen in der reahstIschen LIteratur. In dieser handelt es sich um eine .;. mehr oder v:enig~r vorübergehende, eventuell sogar ständig gewordene - SituatlOn emes Menschen, die von seinem Charakter, von den Umständen ~eines. Lebens o?er v~n der :Vechselwirkung beider konkret bedingt 1st. Eme derartIge Emsamkelt kantlt; reiri äußerlich sein wie die des auf die öde Insel LemrlOs ausgesetzten Philoktetes bei S~phokles; sie m~g der Abschluß einer innerlich notwendigen Entwicklung sein, wie beIm Flaubertschen Frederic Moreau in' ~)Education sentimentale« oder gar beim Iwan Iljitsch von Tolstoj. Sie ist aber immer: Teil, Moment, Zuspitzung, Aufgipfelung etc. im konkreten gesellschaft. lich-geschichtlichen Zusammenleben und Aufeinanderwirken konkreter Menschen. Ihre Notwendigkeit ist - höchstens - das. typische Schicksal bestimmter Typen unter ebenfalls konkret bestimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen. Neben diesen Gestalten . ' Ja um SIe, In steter Wechselbeziehung zu ihrer Einsamkeit geht das Zusammenleben, das Aufeinander-Einwirken der anderen Menschen unverändert weiter. Mit einem Wort: diese Einsamkeit ist ein besonderes gesellschaftliches Schicksal, niemals eine allgemeine':;;oder ewige »condition humaine«. . Gerade diese Auffassung ist jedoch für die;'Denker und Dichter der ~ekadenz c:harak~eristisch. Hier soll möglichst wenig von Philosophie die Rede sem, es 1St aber schwer, an dem prägnanten und pittoresken Ausdruck von Heidegger vorbeizugehen, der die menschliche Existenz als ),Geworfenheit« ins Dasein definiert und damit die beste Beschreibung dieser ontologischen Einsamkeit des menschlichen Individuums gegeben hat. Denn mit der »Geworfenheit« i~s Dasein ist nicht nur das Leben und das Wesen eines jeden einzelnen Menschen a!s einsames: als aus Zusammenhängen und Beziehungen herausgerIssenes bestImmt, sondern auch die prinzipielle Unerkennbarkeit des Woher? und des Wohin? einer jeden solchen Existenz ist aus dem Wesen einer solchen Weltauffassung prinzipiell abgeleitet. Daraus folgt vor allem die Geschichtslosigkeit eines solchen Daseins. (Daß Heidegger selbst eine »eigentliche« Geschichtlichkeit in seinem Sys~ behandelt, berührt diese Betrachtungen nicht. Der Verfasser
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dieser Zeilen hat anderswo gezeigt, daß bei Heideggerdie wirkliche Geschichtlichkeit als »vulgäre« depreziert wird, während die »eigentliche« Historizität objektiv mit der hier beschriebenen Geschichtslosigkeit identisch ist.) Diese erscheint nun für die literarische Gestaltung in doppelter Form. Erstens beginnt und endet der Ablauf, der für den Menschen jeweils in Betracht kommt, mit seiner eigenen persönlichen Existenz. Es gibt für ihn - und darum für' den ihn avantgardeistisch gestaltenden Schriftsteller - kein mit seinem Leben, mit seinem Wesen verbundenes, es modifizierendes oder von ihm modifiziertes Dasein vor oder nach seinem Auftreten. Zweitens ist aber auch dieses Dasein für sich genommen ohne innere Geschichte. Das Wesen des Menschen ist eben - sinnlos und unergründbar - in die Welt »geworfen«; es kann sich nicht in lebendiger Wechselbeziehung, in lebendigen Widersprüchen zu ihr entfalten, sie formen oder von ihr geformt werden, in ihr wachsen oder entarten. Die höchste Bewegtheit, die hier möglich ist, ist ein Enthüllen dessen, was das Wesen des Menschen an sich, von Ewigkeit her gewesen ist, also eine Bewegung des betrachtenden Subjekts, nicht der betrachteten Wirklichkeit selbst. Natürlich läßt sich ein solches Prinzip nur in der abstraktesten Philo, . sophie mit völliger Konsequenz durchführen, auch dort nur sophistisch, rabulistisch. Ist ein Schriftsteller, mit so ausgeprägten avantgardeistischen überzeugungen, künstlerisch begabt, so drückt sein Gestaltetes bis zu einem gewissen Grade stets auch ein konkretes hic et nunc aus. So wird bei ]oyce Dublin, so bei Kafka und Musil die Habsburger Monarchie als Atmosphäre des Geschehens fühlbar. Nur ist dies bei ihnen - mehr oder weniger - ein sekundäres Nebenprodukt, nicht ein integrierendes Moment des künstlerisch Wesentlichen. Eine solche Auffassung vom Wesen des Menschen muß sich auf allen Gebieten der künstlerischen Gestaltung in einer besonderen Weise durchsetzen, alle Prinzipien des literarischen Formens tiefgehend beeinflussen. Indem wir jetzt auf eine Charakteristik der wichtigsten hier zur Geltung gelangenden Eigentümlichkeiten eingehen, müssen wir unsere Betrachtungen mit einer Kategorie beginnen, die im Leben aller Menschen und darum in der literarischen Widerspiegelung ihres Lebens eine ausschlaggebende Rolle spielt: mit der Kategorie der Möglichkeit, und zwar mit deren Differenzierung in abstrakte und
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konkrete (bei Hegel reale) Möglichkeit. Zusammengehörigkeit, Unterschied und Gegensatz dieser beider Kategorien ist vor allem eine .Tatsache des Lebens selbst. Möglichkeit ist - abstfalu, bzw. subjektiv angesehen -' immer reicher als die Wirklichkeit; ~Tausende und aber Tausende Möglichkeiten scheinen für das menschliche Subjekt offenzustehen, deren verschwindend geringer Prozentsatz verwirklicht werden kann. Und der moderne Subjektivismus, der in diesem Scheinreichtum die echteFülle,der menschlichen Seele zu erblicken vermeint, empfindet ihr gegenüber eine mit Bewunderung und Sympathie gemischte Melancholie, während der Wirklichkeit, die die Erfüllung solcher Möglichkeit versagt, mit einer ebenfalls melancholischen Verachtung entgegengetreten wird., So spricht Hofmannsthais Sobeide d!Gefühl der ersten Generati~~ die von diesem Erlebnis beherrscht wird, aus: »Die Last der immer wieder durchgedachten, Verblaßten, Jetzt schon toten Möglichkeit ... «
Wieweit sind jedoch solche Möglichkeiten konkret oder real? Sie existieren ja bloß in der subjektiven Vorstellung, sei diese nun Traum, Tagtraum, Einfall, Assoziationskette etc. Faulkner, bei dem die Nivellierung der Möglichkeit ins rein Subjektive und darum Abstrakte eine sehr große Rolle spielt, hat zuweilen eine klare Einsicht in den Tatbestand, daß dadurch die Wirklichkeit völlig subjektiviert und willkürlich gemacht wird. über eine episodische Szene sagt er: »Sie redeten alle durcheinander, ereiferten, erregten, stritten sich, machten aus einer Unwirklichkeit eine Möglichkeit, dann eine Wahrscheinlichkeit, dann eine unumstößliche Tatsache, wie es die Menschen eben machen, wenn sie ihre Wünsche Wort werden lassen.« Selbstredend ist auch das für jedes Individuum mehr oder weniger charakteristisch, welche von solchen Möglichkei~en und wie, mit welcher Farbigkeit, Wiederholungskraft, Intensität etc. in ihm auftauchen. Ihre Anzahl grenzt aber, praktisch angesehen, auch in der phantasieärmsten Persönlichkeit ans Unendliche, es kann also nicht einmal diese - von ihrem realen Schicksal gar nicht zu reden - als durch~solcheMöglichkeiten konturiert gedacht werden. Ihr abstrakter Charakter äußert sich gerade darin, daß sie ohne entscheidende fonsequenzen - Stimmung, auch die tiefste und aufrichtigst ergrei19
fende, ergibt nicht reale Determinanten des Lebe~s :... für die Entfaltung der Persönlichkeit sein kann. Diese ist im allgemeinen von den angeborenen Anlagen, von ihrem Wachstum und Verkümmern im bisherigen Leben, von äußeren und inneren Schicksalen bestimmt. Das Leben kann aber neue konkrete Möglichkeiten in Wirklichkeit verwandeln~ D. h., es können Situationen entstehen, der Mensch kann vor eine Wahl gestellt werden, bei welcher seine echte Persönlichkeit in einer oft ihm selbst überraschenden Weise zum Ausdruck kommt. Die inneren Peripetien der Dichtung, vor allem der D'ramatik, haben zumeist ein solches Zur-Wirklichkeit-Durchbrechen einer realen, aber durch Umstände, durch die bisherige Entwicklung zurückgedrängten Möglichkeit zum Gegenstand. Ihr Charakter als reale Möglichkeit bewährt sich darin, daß sie nunmehr die Basis zur Existenz der 'ßetreffenden Persönlichkeit wird, auch dann, wenn diese Existenz sich auf einen tragischen Untergang konzentriert. Im voraus, rein von der Subjektivität der Persönlichkeit aus betrachtet, kann diese konkrete und reale Möglichkeit von den unzähligen abstrakten nicht unterschieden werden; ja, es gibt sogar Fälle, in denen sie so tief gelagert ist, daß sie vor der Schicksalswende nicht einmal als abstrakte Möglichkeit im SubJekt auftaucht, daß dieses selbst nach Wahl und Entscheidung keine· Bewußtheit über seine eigenen Motive besitzt. So bekennt Richard Dudgeon, der Teufelsschüler in Shaws gleichnamiger Komödie, nachdem er sich als Pastor Andersen aufgeopfert hat, nichts darüber zu wissen:. »Ich habe mich danach imm!'!r wieder selbst gefragt, und ich kann keinen rechten Grund dafür finden, daß ich gehandelt habe, wie ich es tat.« Und dennoch ist es ein Entschluß, der sein ganzes Leben auf eine völlig neue Grundlage stellt. Natürlich ist das ein extremer Fall. Aber der Sprungcharakt~r, der der Peripetie innewohnt, einSprung, durch welchen Einheit und Kontinuität der Individualität zugleich aufgehoben und aufbewahrt werden, läßt sich niemals mit Sicherheit aus dem Komplex der abstrakten Möglichkeiten eines Subjekts eindeutig herauslösen und als konkret dem anderen klar gegenüberstellen. Erst in der Entscheidung und durch sie konstituiert sich Unterschied und Gegensatz. Es ist also selbstverständlich, daß die realistische Literatur, als treue Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit, die abstrakten und konkreten Möglichkeiten der Menschen in einer solchen realen Verbundenheit und Entgegensetzung darstellt. Das InerscheinU'ngtreten 20
der konkreten Möglichkeit ~ines Menschen entlarvt die abstrakten als zwar vorhandene aber als innerlich unwahre. So schildert z. B. Alberto Moravia im Roman »Die Gleichgültigen« den jungen Sohn einer verkommenen Bourgeoisfamilie, Michel. Dieser will den Verführer seiner Schwester töten. Nach gefaßtem Vorsatz, in der Vorbereitung des Anschlags werden die abstrakten Möglichkeiten Michels in ihrer subjektiven Farbigkeit und Moralität ausführlich geschildert. Es kommt aber, zu seinem Unglück, doch zur Ausführung, und in dieser, in allen ihren erniedrigenden Details, erscheint sein Charakter als das, was er wirklich ist, als würdiges Mitglied des Milieus, dem er angehört, aus dem er sich - als einsames Subjekt - zeitweilig einbildete moralisch heraustreten zu können. Während also die abstrakte Möglichkeit sich bloß im Subjekt ausleben kann, hat die konkrete Möglichkeit dessen Wechselwirkung mit den objektiven Tatsachen und Kräften des Lebens zur Voraussetzung. Diese haben aber notwendig immer einen objektiv gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter. D. h., die literarische Darstellung der konkreten Möglichkeit setzt eine konkrete Darstellung konkreter Menschen in konkreten Beziehungen zur Außenwelt voraus. Nur in einer lebendigen und konkreten Wechselwirkung von Menschen und Umwelt kann die konkrete Möglichkeit eines Menschen aus der schlechten Unendlichkeit seiner abstrakten Möglichkeiten heraustreten und sich als die bestimmende konkrete Möglichkeit gerade dieses Mensclten auf gerade dieser Entwicklungsstufe erweisen. Das ist das alleinige Prinzip der Auswahl des Konkreten aus der Unsumme von Abstraktipnen. Die Ontologie, die der Auffassung des Menschen in der dekadenten Literatur zugrunde liegt, schließt ein solches Auswahlprinzip a limine aus. Wird das ~uf sich selbst gestellte, einsame, aus ..den gesellschaftlichen Menschenbeziehungen herausgelöste Individuum als identisch mit dem wirklichen, echten, tiefsten Wesen der Wirklichkeit gefaßt, so hört für eine solche Konzeption der Unterschied von abstrakter und konkreter Möglichkeit auf. Sie werden zu einer prinzipiellen Gleichwertigkeit verfälscht. Cesare Pavese bemerkt richtig bei Döblin und Dos Passos ein Pendeln zwischen »oberflächlichem Verismus« (Naturalismus) und »abstrakter expressionistischer Konstruktion«. Er fordert - Dos Passos gegenüber - das Schaffen von Personen, »indtm man sie auswählt, und indem man ihre Züge auswählt« ,,;..(die 21
Charakterzeichnungen von Dos Passos aber kö~nen von einer Person auf die andere übertragen werden). Ohne die Frage der abstrakten Möglichkeit hier aufzuwerfen, beschreibt Pavese sehr richtig die künstlerischen Folgen. Die ontologische Degradation der objektiven Wirklichkeit der Außenwelt des Menschen, die entsprechende Exaltation seiner Subjektivität führen notwendigerweise zu einer solchen Verzerrung auch in der dynamischen Struktur des Subjekts. Es handelt sich hier um ein Weltanschauungsproblem der avantgardeistischen Literatur im früher angegebenen Sinn; d. h. um eine fundamentale Stellungnahme zur Wirklichkeit, die jedoch - falls das Bedürfnis einer theoretischen Begründung überhaupt entsteht - mit den verschiedensten, ja entgegengesetzten Gedankengängen unterbaut werden kann und dementsprechend auch literarisch in den verschiedensten Formen zu erscheinen pflegt, ohne damit die gemeinsame »weltanschauliche« Grundlage aufzugeben. Es ist also von diese.m Standpunkt aus i1icht entscheidend, ob eine solche Auflösung der objektiven Form in Subjektivität als eine Technik des reinen Assoziationsflusses erscheint wie bei Joyce und seiJ,len Nachfolgern, ob, wie bei Musil, die »aktive Passivität«, das Existieren »ohne Eigenschaften« proklamiert wird, ob - scheinbar - ins Entgegengesetzte umschlagend den abstrakten Möglichkeiten eine Pseudorealisierung zugesprochen wird, wie in der »actIon gratuite« von Gide, etc. Wie im Leben den Menschen das charakterisiert, wohin er sich im Falle einer sein Dasein aufs Spiel setzenden Entscheidung wenden wird, welche seiner konkreten Möglichkeiten sein Wesen wirklich ausdrückt, so auch in der literarischen Widerspiegelung. Das Verlorengehen des Unterschie.ds zwischen abstrakten und konkreten Möglichkeiten, das Herunternivellieren der Innenwelt des Menschen auf eine abstrakte Subjektivität führt unter allen Umständen mit sich, daß sich die Konturen der menschlichen Persönlichkeit tief auflösen. Mit richtiger Selbsterkenntnis sagt T. S. Eliot über diese Art der menschlichen Gestalt: ,.Shape without form, shade without colour, Paralysed force, gesture without motion.«
Dieser Auflösung der Persönlichkeit entspricht die Weltlosigkeit der Literatur. In bestimmtem Sinne handelt es sich um eine einfache Kon-
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sequenz dei' eben geschilderten Konstellation, denn die Gleichsetzung von abstrakter und konkreter Möglichkeit' im Menschen setzt die Nichterklärbarkeit der objektiven Wirklichkeit der Welt des Menschen voraus. Und die theoretisch denkenden, führenden Schriftsteller der Avantgarde ziehen mit voller Bewußtheit solche Folgerungen, ja, es ist in manchen Fällen schwer zu entscheiden, ob es sich nicht hier um die primäre weltanschauliche Position handelt, der gegenüber die Auffassung der Subjektivität zu einer bloßen Folgeerscheinung wird. Die Koordination ist jedenfalls klar vorhanden. So erklärt Gottfried Benn mit großer Entschiedenheit, »daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe«; »es gibt keine Wirklichkeit, es gibt das menschliche Bewußtsein, das unaufhörlich aus seinem Schöpferischen Welten bildet, umbildet, verarbeitet, erleidet, geistig prägt«. Musil gibt, wie immer, seinen sogerichteten Gedanken eine moralische Wendung. Der Held seines großen Romans, Ulrich, antwortet auf die Frage, was er tun würde, wenn das Weltregiment in seinen Händen wäre: »Es würde mir nichts übrigbleiben, als die Wirklichkeit abzuschaffen.« Daß die abgeschaffte Wirklichkeit von der Seite der Außenwelt ein Komplement zur subjektiven Existenz »ohne Eigenschaften« ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Dieses Abschaffen der Wirklichkeit wird natürlich nicht immer so extrem theoretisch formuliert wie bei den - untereinander sehr verschiedenen - Benn oder Musil. Es bildet aber das Grtindmotiv der avantgardeistischen Darstellung. Wenn etwa Musil den Gegenstand seines großen Romans in einem Gespräch als die Zeit von 1912 bis 1914 bezeichnet, so beeilt er sich, eine derart konkrete Bestimmung s~fort zu beschränken: »Wenn ich dabei den Vorbehalt machen darf, ke i n e n historischen Roman geschrieben zu haben. Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht ... Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.« Das Wort »gespenstisch« verdient dabei hervorgehoben zu werden. Denn es bezeichnet eide der wichtigsten Richtungen, die zur mehr oder weniger vollständigen Auflösung der Wirklichkeit in den dichterisch gestalteten Wehen führt. Kafka, der in seinen Details immer außerordentlich packend real ist, konzentriert alle seine Kunstmittel darauf, seine Angstvision vom Wesen der Welt als »die« Wirklichkeit ~m Ausdruck zu bringen, also um in seiner besonderen Weise eben-
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J,
falls die Wirklichkeit aufzuheben. Dadurch verwandeln sich die realistischen Details in Elemente, in Träger einer gespenstischen Unwirklichkeit, einer Welt als Alpdruck, die eben deshalb ihren Weltcharakter verlieren muß, die nur als Medium des Angstevozierens im Subjekt eine Realität haben kann. So verwandelt sich die 'Wirklichkeit ins Traumhafte, und diese künstlerische Tendenz bleibt bestehen, auch wenn das Zerflattern, das Zerfließen der Wirklichkeit mit einer sozialkritischen Tendenz verbunden wird~ wie im »Treibhaus« von Koeppen. Eine solche Auflösung der Wirklichkeit liegt naturgemäß auch der Assoziationsflut von Joyce zugrunde. Sie erfährt eine gewaltige Steigerung; wo die monologisierenden Subjekte zu einzigen Trägern der dargestellten »Wirklichkeit« gemacht werden, insbesondere in jenen Aufgipfelungen dieser Tendenz, wo diese Subjekte als vollendete oder halbe Idioten zur Erscheinung gebracht werden, deren verschwommene, haltlose, unverbundene Vorstellungen das einzige Medium sein sollten, die dem Leser die »Welt« der Dichtung vermitteln. So im ersten Teil von Faulkners »The sound and the fury«, so konsequent zu Ende geführt in Becketts »Molloy«. Auflösung der Welt und Auflösung des Menschen gehören also zusammen, steigern, verstärken sich gegenseitig. Ihre Grundlage ist das objektive Fehlen einer Einheitlichkeit im Menschen, seine Verwandlung in ein regelloses Nacheinander von augenblicklichen Erlebnisfetzen und demzufolge seine prinzipielle Unerkennbarkeit sowohl für sich selbst wie für die anderen. In der »Cocktail Party« von Eliot drückt dieses Weltgefühl die dem Dichter nächststehende Figur so aus: »Ah, aber wir sterben füreinander jeden Tag. Was wir von anderen wissen, Ist nur unsere Erinnerung an Momente, In denen wir sie kannten. Und seitdem haben sie sich verändert. Anzunehmen, sie und wir seien dieselben, Ist eine nützliche und bequeme gesellschaftliche Konvention, Die manchmal durchbrochen werden muß. Uns sollte stets gewärtig sein, Daß wir bei jeder Begegnung einen Fremden treffen.«
Die Auflösung der Persönlichkeit, die sich im Gleichsetzen von abstrakter und konkreter Möglichkeit gewissermaßen spontan vollzogen hat, erhebt sich in . der Selbstreflexion zu einem bewußten System. Nicht umsonst nennt Benn sein theoretisches Buch »Doppel24
leben«. Er führt dort die Auflösung des Menschen zu einer schizophrenischen Spaltung, die sich von jedem neuen Aspekt aus erneut vollzieht. Es gibt im Menschen keinen Zusammenhalt, keine Synthese verschiedener Eigenschaften oder Verhaltungsweisen. Erstens ist das Tierische und >;der immer nackter sich sublimierende Gedanke« unvereinbar. Zweitens ist die Einheit von Denken und Handeln eine »hinterweltlerische Idee«. Drittens sind Denken und Sein »völlig getrennte Wesenheiten«. Viertens ist der Mensch entweder moralisches oder denkerisches Wesen, beides zusammen ist unmöglich. Folglich: von wo immer man es betrachtet: jedes Leben ist ein Doppelleben, ist in sich unaufhebbar zerspalten. Es handelt sich hier nicht um private Gedankenspielerei eines Exzentrikers. So sehr. diese Gedanken Früchte des spezifisch Bennschen Bodens sind, sind sie tief und vielfältig mit der Entwicklung der Gedankenwelt der Dekadenz verbunden. Es ist mehr als hundert Jahre her, daß Kierkegaard - einer der Stammväter und Klassiker der modernen Dekadenz - die Polemik gegen die HegeIsche Dialektik aufnahm. Und in diesem Kampf war eine der Zentralfragen Kierkegaards Protest gegen die Hegehche Auffassung, daß das Innere und das Äußere in der objektiven Wirklichkeit und darum auch im Menschen eine dialektische Einheit bilden, d. h. bei allen Differenzen, die sich bis zu einer Gegensätzlichkeit zuspitzen können, sich doch in einem unzerreißbaren Zusammenhang befinden. Kierkegaard leugnete jede solche Verbindung zwischen Äußerem und Innerem. Jeder Mensch lebt, nach seiner Theorie, in einem für andere Menschen völlig undurchdringlichen, durch keine menschliche Kraft durchschaubaren Inkognito. Diese philosophische Position ist nach dem zweiten Weltkrieg .zu einer sehr großen Popularität gelangt, als Beweis dafür, daß selbst abstrus wirkende theoretische Aufstellungen oft wichtige gesellschaftliche Realitäten ausdrücken. Nacheinander haben sich Heidegger, Jünger, C. Schmitt, Benn und andere leidenschaftlich zum »ewigen« Inkognito der menschlichen Persönlichkeit bekannt, zum schicksal- . haften Verstecktbleiben-Müssen ihrer wah~en Motive inmitten der bloß äußerlichen Taten. Die Hegebenheiten, hinter denen diese Mysterien des Inkognito brüten, konzentrierten sich verständlicherweise auf die Beteiligung der erwähnten Autoren am Hitler-Regime, auf 'fieideggers Verherrlichung Hitlers als Rektor der Freiburger Uni25
versität, auf Schmitts Rechtstheorien und Rechtspublizistik im Dienst der Hitlerschen Aggressionen usw. Die Tatsachen waren zu bekannt, um glatt verleugnet werden zu können. Wenn aber das undurchdringliche Inkognito die entscheidende »condition humaine« ist, wer kann es wissen, ob - in diesem Inkognito - Heidegger oder Schmitt nicht glühende Gegner Hitlers' waren, während sie ihn in der Welt der »Kußerlichkeit« unterstützten? Das offen zynische Bekenntnis E. von S~lomons in dem »Fragebogen« über seine prinzipienlose Anpassung an das Hitler-Regime (mit kritischen Vorbehalten unter zwei, höchstens vier Augen) gibt eine wohltuende Entlarvung der pompös-pathetischen Inkognitoideologie,vor allem der Ernst Jüngers. Dieser kurze Exkurs mußte g~acht werden, um an einem krassen Beispiel den sozialen Sinn der ontologisch-ewigen Kategorien ein wenig zu illustrieren. Für die Literatur selbst haben die Positionen des Doppellebens, des Inkognitos etc. eine ausschlaggebende Bedeutung erlangt, indem alle Fäden, die die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in Wechselwirkung mit ihren Mitmenschen, mit der Außenwelt, in der sie wirkt, von der sie beeinflußt und geformt wird, die sie zu formen hilft, zerrissen und die schon dadurch hervorgerufene Zerstörung ihres Kerns und ihrer Konturen von innen her gesteigert haben. Als Kontrast sei nur auf die Fruchtbarkeit solcher Widersprüche für die reale Entwicklung des Menschen hingewiesen. In jeder großen realistischen Dichtung vom Achilles Homers bis zu Adrian Leverkühn in Manns »Doktor Faustus«, bis zu Grigorij Meljekow in Scholochows »Stillen Don« ist das lebendige Wechselspiel von jeweiligen zentralen Widersprüchen das letzthin bestimmende Prinzip des Wesens und der Entwicklung der dichterisch gestalteten Menschen. Wir haben bereits gezeigt, wie verheerend das Annullieren des Unterschieds von abstrakter und konkreter Möglichkeit auf die Grundlagen des künstlerischen Charakterisierens eingewirkt hat. Jetzt sehen wir, daß die Lebendigkeit und die Wirkungskraft des Widerspruches in der Persönlichkeit mit dem Vernichten der Verbindung von innen und außen zerschlagen wird. Auch wenn einzelne Schriftsteller dieser Richtung zuweilen die widerspruchsvollen Elemente und Tendenzen durch Beobachtungen festzustellen imstande sind, die Prinzipien des Doppellebens, des Inkognitos wirken dahin, daß diese Widersprüche keine Sprengkraft; keine Dynamik des Vorwärtstreibens besitzen, sondern ein friedliches Dasein nebeneinander
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führen und dadurch die Auflösung der gestalteten Persönlici1keit nur noch vertiefen. ., Es ist unzweifelhaft eine positive Eigenschaft Robert Musils, daß er über die Bedingungen' und Folgen seiner schöpferischen Tätigkeit eine gewisse Bewußtheit besitzt. Er sagt z. B. über seinen Helden Ulrich einmal: »Man hat nur die Wahl, diese niederträchtige Zeit mitzumachen (mit den Wölfen zu heulen) oder Neurotiker zu werden.« Damit wird das Problem der Rolle der Pathologie in der avantgardeistischen Literatur unserer Tage ernsthafter als im allgemeinen aufgegriffen. An sich ist die Frage schon im Naturalismus aufgetaucht. Alfred Kerr schrieb vor mehr als fünfzig Jahren: »In der Krankhaftigkeit liegt die erlaubte Poesie des Naturalismus. Denn was im Alltagsleben ist poesievoll? Die Nervenabsonderlichkeit, die dem Nichtalltäglichen näher kommt. Das rückt eine Gestalt in unendlichere Luftschichten und bleibt doch real begründbar.« An dieser Feststellung scheint uns wichtig, daß die poetische Notwendigkeit des Pathologischen mit der Prosa des Lebens im kapitalistischen Alltag in Zusammenhang gebracht wird., Darin gelangt, worauf wir später noch zurückkommen werden, die Tatsache zum Ausdruck, daß es eine in ihren letzten Prinzipien kontinuierliche avantgardeistische Entwicklung in der modernen Literatur vom Naturalismus bis heute gibt. Freilich beschränkt sich diese Einheitlichkeit bloß auf die letzten weltanschaulichen Prinzipien. Was in den Anfängen nur als Keim, nur als Vorahnung von Welterschütterungen vorhanden war, entfaltete sich in der Periode der beiden Weltkriege weit über das damals bloß Ansetzende hinaus. Ohne jetzt diese Frage auch nur andeutend zu berühren, sei bloß darauf hingewiesen, daß das immer stärker In-denVordergrund-Treten des Pathologischen zu den konstant durchlaufenden Momenten dieser Kontinuität gehört. Es erhält aber in verschiedenen Etappen des Bestimmtseins durch die großen gesellschaftlich-geschichtlichen Ereignisse qualitativ verschiedene Akzente, neue Inhalte, neue kompositionelle Funktionen. Kerrs Beschreibung zeigt, daß das Bedürfnis nach Pathologie im Naturalismus und im frühen -Impressionismus vor allem ästhetischen Charakters war, ein Versuch, die öde des kapitalistischen Alltags zu verlassen. Der von uns zitierte Satz Musils zeigt, daß derselbe Kontrast - Alltag und Pathologie n:nmehr einen moralischen Akzent erhalten hat: die ästhetische Ab27
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lehnung ihrer Niederträchtigkeit, und das Pathologische hat sich aus einer poetischen Zier, aus einem belebenden Farbenfleck in diesem Grauin-Grau zu einem moralischen Protest gegen diese Niederträchtigkeit verfestigt. Bei dieser entwicklungsbestimmten Bestimmtheit bleibt also der gemeinsame soziale Grund sichtbar, und sowohl Verherrlichen wie Trennen bilden wichtige Momente der die Gestaltung determinierenden Weltanschauung. Bei Musil - und bei vielen anderen Schriftstellern der Gegenwart wird also das Pathologische zu einem Terminus ad quem der dichterischen Komposition. Diese Zielsetzung enthüllt eine doppelte Schwierigkeit, die aus der allgemeinen Weltanschauung solcher Schriftsteller entspringt:. einerseits die Unbestimry..lheit, die unaufhebbar in einer solchen Zielsetzung eingeschlossen istl Denn der Protest, den die Flucht ins Pathologische ausspricht, ist völlig abstrakt und leer, verurteilt die Wirklichkeit, aus der geflohen wird, rein summarisch und allgemei~, sagt mit dem Protest nichts konkret Kritisches über diese aus. Und die Flucht ins Pathologische selbst ist notwendig eine solche, deren Richtung ebenfalls die Leere, letzten Endes ein Nihil ist. Andererseits ist es eine Illusion der Vertreter solcher Weltanschauungen, zu glauben, ihre Protestbewegung wäre ein wirkliches bewegendes Prinzip für die literarische Gestaltun~enn gegen eine konkrete, gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit em konkreter Aufstand proklamiert wird, so ist ja auch stets diese Wirklichkeit der letzthin bewegende Faktor; der bürgerliche Aufstand gegen die feudale Gesellschaftsordnung, der proletarische gegen die bürgerliche nimmt notwendigerweise seinen Ausgangspunkt aus der Kritik der alten Formation. Er hat jedoch - aus dieser herauswachsend - einen,sehr konkreten Terminus ad quem: die neue Formation. Mögen deren Konturen, Struktur, Inhalt etc. vorerst noch so verschwommen sein, sie enthalten in sich doch implicite' eine Tendenz zur Klärung und Konkretisation. Ebenso ist die Lage bei der humanistischen Revolte gegen den Imperialismus. Ganz anders im jetzt behandelten Fall. Der Terminus a quo, die Niederträchtigkeit der Zeit, muß in diesem Fall der allein bewegende Faktor sein, da der Terminus ad quem, die Flutht in die Krankheit, ihr nichts Konkretes gegenüberzustellen vermag, da ihre Bewegung vom Daseienden weg eine Bewegung ausschließlich innerhalb des Subjekts ist. Sie hat also vom Standpunkt der dynamischen Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt weder Inhalt noch Richtung. Diese Leere 28
und Inhaltlosigkeit wird noch durch den Charakter des Terminus ad quem, das Pathologische, gesteigert. Denn dieser drückt - bloß scheinbar ins Positive und Inhaltliche gewendet - ein abstrakt-inhaltloses Wegstreben vom unaufhebbar Gegebenen aus; ein Wegstreben, das sich prinzipiell nicht in Tat umsetzen kann, dessen W~sen darin besteht, sich nie über das Niveau des Unbehagens, des Ekels, des Wunsches, der Sehnsucht etc. erheben zu können. Sein Inhalt (seine essentielle Inhaltlosigkeit) ist dadurch umschrieben, daß eine solche Weltanschauung für das normale Leben kein Wohin? und darum keine Bewegung in eine bestimmte Richtung kennen kann, Unter diesen Umständen ist es nur folgerichtig, daß der Schriftsteller die Krankhaftigkeit als gegebenen Zufluchtsort betrachtet, als einzigen festen Punkt, wo er literarisch das Poetische und das Typische seiner Stellung zu verankern imstande ist. Dieses weltanschauliche Bevorzugen des Pathologischen geht als Zeitstri:imung weit über die Literatur hinaus. In der Methodologie der in unserer Periode so einflußreichen Psychologie Freuds finden wir eine auffallend analoge Tendenz. Nur äußerlich ist die Fragestellung etwas anders geartet als in der Literatur. Freud geht zwar vom Alltag, von seinen alltäglichen Fehlleistungen, vom Traum etc. aus, aber der Weg zu ihrer Erklärung führt ihn in die Pathologie hinein. 'So sagt er z. B. in seinen Vorlesungen über Widerstand und Verdrängung: »Unser Interesse für die Psychologie der Symptombildung muß eine außerordentliche Steigerung erfahren, wenn die Aussicht besteht, durch das Studium pathologischer Verhältnisse Aufschluß über das so gut verhüllte normale seelische Geschehen zu bekommen.
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Frage noch um ein technisches Problem dei: Literatur. Dieser ganze Komplex ist weltanschaulich verwurzelt. Seine Grundlinien folgen notwendig aus der ontologischen Auffassung der prinzipiellen Einsamkeit des Menschen. Die Literatur, die die Aristotelische Konzeption des tÖ>ov rcoJ.1.'ttXOV zur weltanschaulichen Grundlage hat, bringt das Typenschaffen gleichzeitig mit der Verschärfung der Widersprüche in den gesellschaftlichen Bestimmunge~und mit der Widersprüchlichkeit im vollentfalteten Individuum in einen organischen, unauflösbaren Zusammenhang. Darum können in ihr gerade Gestaltungen der extremsten individuellen Leidenschaften eine gesellschaftlich normale Typik repräsentieren (Shakespeare, Balzac, Stendhal). Das Alltagsleben, der Durchschnittsmensch erscheint von dieser Warte aus als ein Abschwächen, ein Abstumpfen sowohl der objektiven wie der subjektiven Widersprüche, die Exzentrizität als eine gesellschaftlich bedingte Verzerrung. Dabei muß festgehalten werden, daß die extremen Leidenschaften großer und typischer Gestalten nichts mit Exzentrizität im engeren, im eigentlichen Sinne zu tun haben. Adrian Leverkühn ist nicht exzentrisch, wohl aber Christian Buddenbrook. Die Ontologie der »Geworfenheit« des einsamen Individuums hat für die Literatur zur Folge, daß diese beim Verschwinden des wirklich Typischen bloß den abstrakten Gegensatz, die abstrakten Extreme: Alltagsdurchschnitt und Exzentrizität kennen und darstellen kann. Die Gründe, weshalb das Extreme, das in der realistischen Literatur eine wichtige Ergänzung und Steigerung der gesellschaftlich n01'!l1alen, jedoch von gewaltigen Leidenschaften getriebenen Gestalten gebildet hat, in der Dekadenz immer stärker ins eigentlich Exzentrische, letzten Endes ins Pathologische treibt. haben wir bereits ausgeführt. Darin kommt zum Ausdruck, daß hier das Exzentrische eine - ungewollt notwendige Ergänzung, Polarität zum Durchschnittlichen bildet und in dieser Polarität sämtliche Möglichkeiten des Menschseins zu erschöpfen bestrebt ist. Das hat naturgemäß das Leugnen einer· jeden Vernünftigkeit im Dasein und in den Wechselbeziehungen der Menschen zur weltanschaulichen Voraussetzung. Wie tief diese Bewegung geht, wie innig sie mit der der Gestaltung zugrunde liegenden Weltanschauung verknüpft ist, zeigt ein interessanter Ausspruch in Musils großem Roman. Er lautet: »Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entJtehen.« Dieser Moosbrugger ist ein halbidiotischer Lustmörder.
Was bei Musil als gewissermaßen weltanscha~liche Begründung eines solchen Typenschaffens auftritt, um die Flucht in die Neurose als Protest gegen die niederträchtige Wirkliehkeit darzustellen, erscheint bei vielenavantgardeistischen Schriftstellern als die naturgegebene »condition humaine«, als vollendete, unabänderliche Tatsache, als Zentralpunkt der dichterischen Gestaltung. Der eben zitierte Ausspruch Musils verliert hier sein »Wenn« und erscheint als die selbstverständliche allein vorhandene Wirklichkeit.lDie bereits hervorgehobene Welt~ losigkeit der Darstellung erhält hier ihre extreme, aber in ihrer Grundtendenz adäquate Form, indem die Realität zum Alpdruck, womöglich im verschwommenen Bewußtsein eines Idioten, reduziert wird. Den Gipfelpunkt dieser Tendenz können wir in Becketts Roman »Molloy« sehen. Die Neuerung von Joyce, die Welt als prinzipiell ungeordnet dahinfließender Bewußtseinsstrom aufgefaßt, beginnt bereits bei Faulkner einen solchen Charakter des idiotischen Alpdrucks zu erhalten. Becketts Komposition beruht auf einer Verdoppelung und· Wiederholung dieses Weltbilds: zuerst die allertiefste pathologische Erniedrigung des Menschen im Dahinvegetieren eines Idioten, dann, als ihm - von einer unbekannt bleibenden Instanz - geholfen werden soll, versinkt der Helfer in denselben Zustand der Idiotie. Beide Parallelgeschichten werden in Form des Assoziationsstroms des vollend~ten und des werdenden Idioten erzähl~ Zu dieser einfachen' Darstellung des Pathologischen, der Perversität, des Idiotismus als typischer Form der »condition humaine« tritt ebensohäufig ihre offene Verherrlichung. So in Montherlants »Pasiphae«, wo die Perversität, die leidenschaftliche Liebe der HeIdin zu einem Stier, ihre körperlich-seelische Hingabe an ihn als »heidnisches Ideal«, als triumphierende Rückkehr zur Natur, als Durchbruch des echten verschütteten Wesens des Menschen aus der Versklavtheit in gesellschaftlichen Konventionen dargestellt· wird. Der Chor, also die Stimme des Dichters selbst, stellt die - als selbstverständlich bejahte - rhetorische Frage: »... Si l'absence de pensee et l'absence de morale ne contribuent pas beaucoup a la dignite des betes, des plantes et des eaux ... ?« Der unbewußt, ja verdrängt soziale Protestcharakter der Pathologie, ihr pervertierter Rousseauismus, ihre Antigesellschaftlichkeit kommt hier mit anderen moralischen und emotionalen Akzenten ebenso deutlich zum Ausdruck wie bei Musil. Ihre generelle, herrschende Bedeutung in'lterhalb der avantgardeistischen Literatur könnte man neben den bis31
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her angeführten mit unzähligen Beispielen erhärten: Es genügt vielleicht, ei~ kleines Gedicht Benns hierher zu setzen: ,.0 daß wir unsere U'rurahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen -Moor. Leben und Tod, Befruchten und Gebären glitte aus unseren stummen Säften vor. Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel, vom Wind geformtes und nach unten schwer. Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel wäre zu weit und litte schon zu sehr.«
Auf der Oberfläche ist hier nicht von Pathologie oder Perversität die Rede, wie bei Beckett und Montherlant, die in ihnen Urformen, Idealtypen des wesentlich Menschlichen erblicken, etwas, was ohne ihre kritische Entlarvung von der Gesellschaftlichkeit als Vorurteil verdunkelt geblieben wäre. Im Appell an solche Urformen bewegen sie sich jedoch auf derselben Linie mit Benn. Die Richtung auf ein jeder Gesellschaftlichkeit.starr gegenübergestelltes Urtümliches - man mag dabei philosophisch an den Versuch Heideggers, das soziale Leben als »Das Man« zu diffamieren, an das Ausspielen der Seele gegen den Geist bei Klages und nicht zuletzt an die Rosenbergsche Mythe~therorie denken involviert notwendig in sich eine Intention zur Verherrlichung des Abnormalen; einen Antihumanismus. Ist nun eine dichterische Welt geschaffen, deren Bewegungsspielraum durch die falschen Extreme des bürgerlichen Durchschnitts und der pathologischen Exzentrizität umschrieben ist, so entsteht daraus spontan das stilistische Bevorzugen der Verzerrung. Diese gehört dann ebenso notwendig zum echten, erschöpfenden Abbild der Wirklichkeit wie die Exzentrizität, wie auch das Pathologische. Die Dichtung muß aber eine gesellschaftlich-menschlich klare Vorstellung vom Normalen besitzen, um die Verzerrtheit .an ihre richtige Stelle, in ihren richtigen Zusammenhang etc. setzen zu können, d. h. um sie als Ver:z;errung behandeln zu können. Eine solche Auffassung ist. jedoch hier unmöglich, denn die bis jetzt geschilderte dichterische Weltanschauung schließt alles Normale aus dem Bereich der Gegenständlgkeit in Leben und Literatur aus. Der kapitalistische Alltag, der bürgerlich~ Durchschnitt wird - mit weitgehendem Recht - als Verzerrung (als Erstarrung, als 32
Zerstückelung) der menschlichen Persönlichkeit behandelt. Das Pathologische jedoch als die Flucht ins Nichts aus dieser Verzerrung ist ebenfalls eine Verzerrung, wenn auch mit entgegengesetztem Vorzeichen. In der Gestaltung muß also die eine Verzerrung an der anderen gemessen werden. Es entsteht eine Universalität des Verzerrtseins. Denn es gibt nirgends eine Kraft, eine Tendenz, die dieser Universalität entgegenwirken könnte, keinen Maßstab, der die einfach spießbürgerliche oder die exzentrisch-pathologische Verzerrtheit relativieren, an ihren richtigen sozialen Ort versetzen würde. Im Gegenteil. Die hier wirksamen Strömungen gehen alle in der Richtung zu ihrer Verabsolutierung. So erscheint dieVerzerrtheit als Normalzustand des Menschen, als formbestimmendes Prinzip, als einzig angemessener Inhalt der Kunst. Eine solche weitgehende Konkretisierung der weltanschaulichen Grundlagen der avantgardeistischen Literatur macht uns möglich, in dieser Richtung noch weiter zu gehen. Der nächste 'Schritt wäre nun, zu erkennen, daß unter den bereits angegebenen Voraussetzungen solche Schriftwerke unmöglich eine Perspektive haben können. Darin ist natürlich nichts überraschendes; gerade so bewußte und scharf denkende A vantgardeisten, wie Kafka, Benn oder Musil, würden die anmaßende Forderung, eine Perspektive zu gestalten, entrüstet oder verachtungsvoll zurückweisen. Wir werden später ausführlich auf die weltanschaulich-künstlerische Bedeutung der Perspektive zurückkommen. Hier sei vorwegnehmend nur so viel bemerkt, daß nur sie im Schriftwerk, da sie Inhalt und Form des Abschlusses unmittelbar bestimmt, da in jeder zeitlichen Kunst die Linienführung darin gipfeln muß, für das Ganze das Prinzip der letzthinnigen Auswahl zwischen wesentlich und oberflächlich, entscheidend und episodisch, wichtig und unwichtig etc. bilden muß .. Die literarisch gestalteten Menschen entwickeln sich daher in einer durch die Perspektive determinierten Richtung; jene Züge, Eigenschaften etc. werden an ihnen hervorgehoben, die diese Entwicklung entscheidend fördern oder hemmen. Je klarer eine solche Perspektive ist, desto sparsamer und doch schlagender kann die Auswahl der Details sein. (Griechen, Moliere.) Die dekadente Literatur hat dieses Auswahlprinzip verloren, subjektiv betrachtet verworfen oder, was aufs gleiche hinausläuft, durch den Ausblick auf eine »ewige«, prinzipiell unveränderliche »condition hunffine« ersetzt. (Wir erinnern an unsere früheren Ausführungen über 33
abstrakte oder konkrete Möglichkeit.) Dar~m muß die hier entstehende Stiltendenz ihrem Wesen nach eine naturalistische sein. Diese Sachlage, die, wie wir glauben, die ganze dekadente Kunst zumindest des letz. ten halben Jahrhunderts kennzeichnet, wird von der sie verherrlichenden Kritik verdeckt, indem sie stilistische, formalistische Probleme in den Mittelpunkt der Analyse rückt, die technischen Kußerlichkeiten der Schreibweise vom dichterischen Gehalt isoliert und maßlos übersmätzt, während sie sich dem sozialen ~nd künstlerischen Wesen dieses Gehalts gegenüber völlig unkritisch verhält. Dad~rch verschwindet die wirkliche Scheidelinie zwischen Realismus und Naturalismus aus solchen ästhetischen Betrachtungen: das Vorhandensein oder Fehlen einer Hierarchie in den gestalteten menschlichen Zügen und Situationen. Darin drückt sich ein grundlegendes ästhetisches Prinzip aus, das zu einer wirklichen Trennung der Wege führt. Die formalen Unterschiede der Schreibweise haben daneben eine bloß sekundäre Bedeutung. Darum kann man von einer nat~ralistischen Grundtendenz der avantgardeistischen Literatur sprechen, kann, mit Recht, darin den literarischen Ausdruck für eine Kontinuität in der weltanschaulichen Entwicklung erblicken. Und im Lichte einer solchen Gemeinsamkeit der naturalistischen Tendenz als stilistische Grundlage erscheinen die formalistisch-stilistischen Knderungen, Gegensätze, Neuerungen, Richtungskämpfe vom 'Standpunkt einer Charakteristik der ganzen Periode als unwichtig. Das schließt freilich nicht aus, daß Jede dieser Stiltendenzen eine Widerspiegelung von Knderungen in der gesellschaftlichen Struktur der Periode sei. Es liegt deshalb nichts Entscheidendes darin, ob dieses Prinzip der naturalistischen Wahllosigkeit, das Fehlen einer Hierarchie als Macht des Milieus (erster Natur~lismus), als Stimmung (später Naturalismus, Impressionismus, auch Symbolismus), als Montage von rohen Wirklichkeitsstücken (neue Sachlichkeit), als Assoziationsstrom (Surrealismus) etc. zum Ausdruck kommt. Die stilistische Einheit all dieser - letzthin naturalistischen - Richtungen tritt noch deutlicher hervor, wenn wir an die künstlerische Bedeutung der Zuständlichkeit als Darstellungsprinzip denken, deren Bedeutung wir bereits früher gestreift haben. Daß diese Frage mit der der Perspektive im engsten Zusammenhang steht, ist leicht einzusehen. Nimt umsonst wird diese Tendenz von Gottfried Renn mit scharfer Programmatik betont. Er nennt einen wichtigen Gedichtband geradezu ,.Statische Gedichte«, und er betrachtet das Leugnen jeder Entwicklung, 34
einer jeden Geschichte und damit natürlich einer jeden Perspektive geradezu als Kennzeichen der Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit. Zur noch deutlicheren Illustration möge die folgende Strophe dienen: »Entwick:lungsfremdheit ist die Tiefe des Weisen, Kinder und Kindeskinder beunruhigen ihn nicht, dringen nicht in ihn ein.«
Das Ablehnen einer dichterischen wie denkerischen Beziehung zur Zukunft bildet also für Benn das Kriterium der Weisheit. Aber auch solche Repräsentanten des Avantgardeismus, die Geschichte, Entwicklung etc. nicht mit dieser Schroffheit ablehnen, die sogar die Absicht haben, die Gegenwart oder die unmittelbare Vergangenheit literarisch zu schildern, verwandeln das gesellschaftlich-geschichtliche Geschehen in eine Art von Zuständlichkeit, machen aus seiner Bewegtheit etwas Unveränderliches, wobei es für die Literatur wenig bedeutet, ob dieses als etwas Ewiges oder als Zwischenzustand, von plötzlichen Katastrophen begrenzt, aufgefaßt wird. (Es sei hier nur beiläufig daranerinnert, daß schon der erste Naturalismus die allgemeine; Zuständlichkeit oft als von plötzlichen Katastrophen umrahmt dargestellt hat, ohne damit ihren wesentlichen Charakter zu verändern.) So sagt z. B. Musil in einem Aufsatz »Der Dichter und diese Zeit«: »Ebensowenig weiß man vom Heute. Einesteils versteht sich das von selbst wie immer, weil man der Gegenwart zu nah ist; anderenteils darf man aber in dem besonderen Fall auch sagen, daß wir in dem Heute, in das wir fast schon vor zwei Jahrzehnten hineingefallen sind, ganz besonders tief drinstecken.« Einerlei, wieweit sich Musil a~f die Philosophie Heideggers eingelassen hat, ist hier die Konzeption der »Geworfenheit« mit allen ihren Konsequenzen deutlich sichtbar. Und die weiteren Gedankengänge zeigen deutlich, wie nach Musils Auffassung in diesen unbeweglichen Dauerzustand eine plötzliche Katastrophe mit 1914 einsetzt. (»Mit einemmal war die Gewalt da ... «; die europäische Kultur »hatte plötzlich einen Riß erhalten ... « usw.) Kurz gefaßt: die Zuständlichkeit als Form der literarisch gestalteten Wirklichkeit ist nicht eine vorübergehende artistische Mode, sondern ist tief in der Welta::chauung der avantgardeistischen Schriftsteller begründet.
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Ja, wenn wir diesen grundlegenden Gegensatz zum Realismus, der von Homer bis Thomas Mann und Gorki stets in Bewegungen, Entwicklungen den ureigenen. Gegenstand der Literatur erblickt, näher begründen wollen, so müssen wir im Aufdecken der weltanschaulichen Fundamente noch tiefer graben. Dostojewskij gibt in seinen »Erinnerungen aus einem Totenhaus« eine äußerst lehrreiche Beschreibung der Sträflingsarbeit. Wir sehen die Zwangsarbeiter - trotz der brutalen Disziplin - de facto müßig herumstehen, die Arbeit zum Schein und schlecht verrichten, bis ein neuer Aufseher kommt und ihnen eine »Aufgabe« gibt, nach deren Vollendung sie nach Hause gehen können. >,Die Aufgabe war groß«, sagt Dostojewskij, »aber - Himmel! - wie sie sich jetzt an die Arbeit machten! Wo war jetzt noch Faulheit und Unwissenheit zu sehen!« Und an einer anderen Stelle faßt Dostojewskij seine hier gesammelten Erfahrungen so zusammen: »Verliert der Mensch Ziel und Hoffnung, so verwandelt er sich nicht selten vor lauter Langeweile in ein Ungeheuer ... « Man sieht: wenn wir früher das Problem der Perspektive in der Literatur' als Auswahlprinzip des Wesentlichen behandelt haben, so liegt diesem - wie stets bei entscheidenden Fragen der künstlerischen Gestaltung - ein Lebensproblem zugrunde, dessen verallgemeinerte Widerspiegelung die betreffende Kompositionsweise ist. In diesem Fall handelt es sich darum, daß jede echte Bewegtheit des Menschen zumindest die subjektive Sinnhaftigkeit seiner Aktivität voraussetzt; während das Fehlen des Sinnes, die Sinnlosigkeit als Weltanschauung jede Bewegtheit zu einem bloßen Schein herabsetzt und dem Ganzen den Stempel der reinen Zuständlichkeit aufdrückt. Da es keine Literatur ohne wenigstens einen Schein der Bewegtheit geben kann, darf diese Feststellung ebenfalls nicht metaphysisch starr aufgefaßt werden. Haben wir doch selbst die Tendenz zum Pathologischen in der avantgardeistischen Literatur als ein Wegstreben von der »niederträchtigen Zeit«, als eine Sehnsucht nach einem prinzipiell unbestimmten Wohin? charakterisiert. Das beinhaltet jedoch hier die absolute, unwiderstehliche Suprematie des Terminus a quo, des Zustands, aus welchem weggestrebt wird; die Bewegung auf den Terminus ad quem zu ist von vornherein zur Ohnmacht verurteilt. Da die Weltanschauung dieser Schriftsteller - bei allen persönlichen und zeitbedingten Verschiedenheiten - an der Unveränderbarkeit der objektiven Wirklichkeit festhält (auch wenn diese als bloßer Bewußtseins-
zustand aufgefaßt wird), muß die Handlungsmöglichkeit des Menschen apriori zur Ohnmacht verurteilt, sinnlos sein. Das so entstehende Weltgefühl hat Kafka· am konsequentesten und suggestivsten ausgedrückt. Wenn in seinem Roman »Der Proz~ß« die Hauptfigur, Josef K., zur Hinrichtung geführt wird, sagt er sehr plastisch: >,Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstreben.« Diese Stimmung der vollendeten Unfähigkeit, der Gelähmtheit durch die unübersichtliche und unüberwindliche Macht der Umstände ist das Grundmotiv seiner ganzen Produktion. Mag die Bewegung der Handlung im »Schloß« eine andere, ja unmittelbar entgegengesetzte Richtung einschlagen als im »Prozeß«, die Stimmung, ja die Weltanschauung der gefangenen, der vergebens zappelnden Fliegen geht durch sein ganzes Werk hindurch. Dieses ins Weltanschauliche gesteigerte und erhobene Ohnmachtsgefühl, das sich bei Kafka zu einer erschütternden Angstvision eines jeden Weltgeschehens und des vollständigen Ausgeliefertseins des Menschen diesen unerklärbaren, undurchdringbaren und unaufhebbaren Schrecken gegenüber steigert, macht sein Lebenswerk zu einem Symbol dieser ganzen modernen Kunst. Denn es ballen sich jene Tendenzen, . die sonst. artistisch oder denkerisch zur Form werden, hier zu einem von Panik erfüllten, elementaren platonischen Staunen über die dem Menschen ewig fremde und feindliche Wirklichkeit zusammen, und das mit einer Intensiät der Verwunderung, der Ratlosigkeit und der Ergriffenheit, die ihresgleichen in der Literatur sucht. So erscheint das Grunderlebnis Kafkas: die Angst als Konzentrat der ganzen modernen dekadenten Kunst. Daß es sich hier um ein allgemeines Grunderlebnis handelt, mag an zwei Beispielen aus der Musikkritik, die in dieser Frage zuweilen offener und prinzipieller auftritt als zumeist die Analysen der Literatur, belegt werden. Hans Eisler sagt über Schönberg: »Er hat lange vor Erfindung der Bombenflugzeuge die Gefühle der Menschen in Luftschutzbunkern ausgedrückt.« Noch charakteristischer ist, was Adorno in seinem Aufsatz »Altern der neuen Musik« über die Tendenzen des Stockens und des Niedergangs in der avantgardeistischen . Musik, natürlich vom Standpunkt der Avantgarde, sagt: »Die Klänge sind dieselben. Aber das Moment der Angst, das ihre großen Ur~ phänomene prägte, hat man verdrängt.« Und damit verliere sie die Wahrhtft, »die einzig ihr noch Daseinsrecht verlieh«. Die Musiker· 37
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waren, nach diesen Ausführungen; den Gefühlsgrundlagen ihres eigenen Avantgardeismus nicht gewachsen, darum mußte die neue Musik verfallen. Das heißt, eine Abschwächung der elementaren panischen Angst als Grunderlebnis - mag ihr Grund sein, wie Adorno meint, daß die Erlebnisfähigkeit vor der überwältigenden Macht dieser Angst versagt, oder, wie wir glauben, daß die historische Entwicklung den Gipfelpunkt einer solchen Angst selbst in der dekadenten Intelligenz objektiv überschritten hat - führt nach Adorno notwendig zum Zerfall der Gefühlsgrundlage, des zentralen Gehalts der modernen Musik und damit zum Verlust ihrer' Authentizität als avantgardeistische Kunst. Damit ist die paradoxe Lage der avantgardeistischen Kunst - gerade dort, wo ihre Vertreter echte und tiefe Erlebnisse künstlerisch zum Ausdruck bringen - prägnant umschrieben. Je echter und tiefer diese Erlebnisse sind, desto energischer zerreißen sie jene sinnlich-sinnfällige Einheit, die Voraussetzung und Fundament jedes ästhetischen Gebildes ist. Daß dieses Zerreißen der den Gegenständen, ihrer Verbindung, ihrer Bewegtheit etc. zugrunde liegenden Einheit nicht eine Mode, eine bloße Erfindung experimentierender Künstler ist, zeigt sich darin, daß die moderne Philosophie lange vor Literatur und Kunst dieses Problem ins Auge gefaßt und begrifflich formuliert hat. Es genügt, dabei auf das Problem der Zeit hinzuweisen. Der subjektive Idealismus hat längst die abstrakt aufgefaßte Zeit von der Gegenständlichkeit und von der Bewegung getrennt. Seit Bergson reicht aber dieser Riß für die ideologischen Bedürfnisse der imperialistischen Periode nicht mehr aus. Die »eigentliche«, die »authentische« Zeit wird nunmehr die rein subjektive Zeit, die Zeit der Erlebtheit, die sich damit völlig von der realen, objektiven, gegenständlichen Welt ablöst, obwohl sie auch bei Bergson (und bei allen anderen späteren Philosophen, die dieses Thema verschieden variieren) mit dem Anspruch auftritt, gerade ins Wesen der Wirklichkeit, in die echteste (in die subjektive) Wirklichkeit einzuführen; Diese Bewegung, auf deren rein philosophische Nuancen wir hier nicht eingehen können, begann sich relativ früh auch in der Literatur zu äußern. Walter Benjamin beschreibt die gestaltete Welt und die Gestaltungsweise Prousts wie folgt: »Man weiß, daß Proust nicht ein Leben, wie eS gewesen ist, in seinem Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wle der's erlebt hat, dieses Lebens erinnert. Und doch ist auch 38
das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelope-Arbeit des Eingedenkens.« Der Zusammenhang mit Bergsons Zeita~ffassung ist offenkundig. Während aber in der Abstraktion der Philosophie bei Bergson noch der - trügerische - Schein eines einheitlichen Weltbildes bewahrt bleibt, zeigt Benjamin - dem objektiven Wesen nach, nicht nach seiner subjektiven überzeugung - das Zerflattern einer jeden Objektivität infolge dieser künstlerisch radikal zu Ende geführten Zeitgestaltung: »Denn ein erlebtes Ereignis ist endlich, zumindest in der einen Sphäre des Erlebnisses beschlossen, ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schlüssel zu allem, was vor ihm, und zu allem, was nach ihm kam.« . Damit 1st sogleich der große Unterschied zwischen einem philosophischen und einem dichterischen Weltbild klargelegt. Unabhängig davon, wie die Philosophie schon lange unter dem Einfluß des Idealismus Raum und Zeit von Gegenständlichkeit und Bewegung begrifflich trennte, war deren sinnlich-sinnfällige Einheit die selbstverständliche, spontane Gestaltungsweise einer jeden" realistischen Literatur. Daß in der modernen Literatur die 'Subjektivierung der Zeit auch die Dichtung erfaßte, zeigt einerseits, daß es sich in dieser Frage um etwas handelt, das sehr tief im gesellschafHichen Sein der bürgerlichen Intelligenz der imperialistischen Periode verankert ist. Das infolge der Fremdheit dem gesellschaftlich-geschichtlichen Geschehen der Zeit gegenüber auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt kann zwar gelegentlich diesen Zustand als Selbstspiegelung, als Rausch begeistert erleben, es muß aber alsbald das Unheimliche daran, der Schrecken hervortreten: indem man das Werden der Welt nicht begreifen kann noch will, muß das allein als Substanz übriggebliebene Subjekt - bloß sich selbst gegenüberstehend, bloß sich selbst reflektierend-die schreckhaft erstarrten Züge des Unbegreifbaren zeigen. Hofmannsthai hat diese ,panische Angst sehr früh dichterisch erfaßt: -»Dies ist ein Ding, das keiner vollaussinnt, Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrini:J.t._ Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind Mir~ie ein Hund unheimlich stumm und fremd.«
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Es ist sicher kein Zufall, daß gerade die von der Gegenstandswelt be~ freite Zeit auch die innere Welt des Ich in ein unheimlich-unerkennbares, leer-abstraktes Fließen verwandelt und dadurch - so paradox dies von einem rein formellen Aspekt auch erscheinen möge - zu einer schreffienauslösenden Erstarrtheit (Zuständlichkeit) führt. Andererseits treten die auflösenden Konsequenzen einer solchen Position in der Literatur mit einer ganz anders sichtbaren Wucht hervor als in der Philosophie selbst. Sobald die literarische Gestaltung der Zeit sich von den Gegenständen und ihrer Bewegung loslöst und, als im Subjekt verlagert, sich selbständig macht, muß die gestaltete Welt in ein Gegeneinander heterogener Teilwelten auseinanderklaffen. Das, was wir früher von verschiedenen Gesichtspunkten als Zuständlichkeit (Erstarrung), als Weltlosigkeit(Verlust der Gegenständlichkeit, der Totalität) bezeichnet haben, gelangt hier - bei verschiedenen Autoren in verschiedener Weise - jedoch im Prip.zip einheitlich zur Geltung. Die Welt des Menschen - der alleinige, große Gegenstand der Dichtung - bricht augenbliffilich auseinander, sobald· auch nur eine wirkliche AufbaukompoJ1ente aus dem tragenden .Zusammenhalt ihrer Totalität herausgebrochen wird. Wir haben soeben die Rolle der isolierten, subjektiv gemachten Zeit in diesem Prozeß geschildert. Sie ist jedoch keineswegs die einzige Komponente, deren Herausfall den subjektiven Schein einer zerfallenen Welt ergibt. Es ist wieder Hofmannsthai, der die spätere Entwiffilung vorwegnimmt. Sein Lord Chandos schreibt über seinen eigenen Fall: »Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.« Was daraus entsteht, ist ein Zustand der Stumpfheit und Dumpfheit, ab und zu unterbrochen von zufälligen Ekstasen. Der spätere Weg vom Protest zur Pathologie (Perversität, Idiotie) ist hier in einer noch romantisch glanzvoll schillernden Weise vorgezeichnet. Es ist aber derselbe Zerfall. Während nun die frühere realistische Literatur, selbst wenn sie die schärfste Kritik an der von ihr dargestellten Welt ausübte, diese spontan als einheitlich und als dem Menschen notwendig zugehörig gestaltete, also als lebendige, untre,nnbare Einheit ihrer Aufbauelemente; während die bedeutenden Realisten unserer Tage die Tendenzen des Zerfalls der Elemente, etwa das Subjektiv- und »Selbständig«-Werden der Zeit, als Beitrag zu exakter Charakteristik der Gegenwart in ihre Schöpfungsmethode aufnahmen, so jedoch, daß gerade dadurch die 40
früher spontane Einheit zu einer bewußten wird (der Verfasser dieser Zeilen hat an anderer Stelle nachgewiesen, daß die Doppelzeit in Thomas Manns »Doktor Faustus« gerade zur stärkeren Betonung der konkreten Historizität verwendet wird), ist eine solche zersprengende Welt des Menschen und mit ihr des Menschen selbst gerade die tiefste weltanschaulich-künstlerische Intention des Avantgardeismus. Die Angst, die wir eben als zentrales Welterleben . geschildert haben, in welcher alle gestalterischen Fragen der »Geworfenheit« zutage treten, hat ihre auslösend-emotionelle Quelle·im Erlebnis einer zerfallenden Welt und wird zum 'künstlerischen Ausdruffi, indem sie den Zerfall der Welt des Menschen evoziert. will man nun die hier zutage tretenden Wesenszüge der avantgardeistischen Literatur zusammenfassen, so drängt sich von selbst die Betrachtung der Allegorie und des Allegorisierens auf. Denn gerade die Allegorie ist jene - an sidl freilich äußerst problematische - ästhetische Kategorie, in welcher Weltanschauungen künstlerisch zur Geltung gelangen können, die eine Zerspaltenheit der Welt infolge der Trans.zendenz ihres Wesens und letzten Grundes, infolge des Abgrunds zwischen Mensch und Wirklichkeit konstituieren. Allegorisieren ist als ästhetische Stilrichtung deshalb so tief problematisch, weil es die Diesseitigkeit als künstlerische Weltanschauung prinzipiell ablehnt, jene Immanenz des Sinnes im menschlichen Sein und in der menschlichen Tätigkeit, die - spontan, sehr of\: ohne;als solche bewußt zu werden, ja im Laufe der Geschichte sehr of\: unmittelbar an Vorstellungen einer religiösen Transzendenz gebunden, also mit einem falschen ästhetischen Bewußtsein - die Grundlage einer jeden künstlerischen Praxis war und ist. Es genügt, an die Geschichte der mittelalterlichen Kunst zu denken, um zu sehen, wie eine solche Diesseitigkeit (bei aller beibehaltenen religiösen Thematik) etwa ab Giotto das Allegorisieren der Anfangsperioden immer entschiedener überwindet. 'Selbstredend müssen bei Anwendung dieses Hinweises sogleich einige Vorbehalte auftauchen. Erstens müssen wir den Unterschied zwischen bildender Kunst und Literatur hervorheben. Denn jene kann viel leichter das Allegorisieren insofern künstlerisch überwinden, daß der weltanschaulich von der Transzendenz des Sinnes allegorisch bestimmte Gegenstand eine - allerdings bloß dekorative - ästhetische Immanenz erhalten kann, wodurch der Riß in der abzubildenden Wirklittkeit in einem bestimmten (zuweilen freilich auch begrenzten) 41
Sinn doch ästhetisch aufgehoben wird; es genagt, an viele Werke der byzantinischen Mosaikkunst zu denken, um diesen Tatbestand zu erfassen. Ein eigentliches ästhetisches Äquivalent des dekorativen Prinzips fehlt aber in der Literatur; es kann höchstens im übertragenen Sinn, als untergeordnetes Moment eine gewisse Rolle spielen. Kunstwerke von so hohem Rang wie die allegorisch-dekorativen byzantinischen Mosaiken können also in der Literatur nur Ausrtahmeerscheinungen sein. Zweitens - und dies ist hier das wichtigere Motiv - muß die Untersuchung des Allegorisierens den an sich historischen Unterschied, ob die Herrschaft der Transzendenz ein Noch-nicht den immanenten Tendenzen gegenüber bildet (Byzanz und Giotto) oder ein Schon-niCht, ein Nicht-mehr, wie in unserem Fall, zum Ausgangspunkt der ästhetischen Betrachtung und Kritik machen. Es ist ohne weiteres klar, daß das Allegorisieren in der avantgardeistischen Literatur zum Typus des Nicht-mehr, des Schon-nicht gehört, daß ihre Transzendenz, mehr oder weniger bewußt, ein Kündigen jeder möglichen Immanenz, jedes möglichen diesseitigen, der Welt selbst innewohnenden Sinnes im Leben des Menschen, in seiner Wirklichkeit beinhaltet. Die weltanschaulichen Grundlagen und einige der wichtigsten literarischen Folgen haben wir bereits ins Auge gefaßt. Wenn wir nun die Ergebnisse dieser Analyse in Richtung auf ein Feststellen des allegorischen Charakters dieser Literatur zu verallgemeinern versuchen, so sind wir in der günstigen Lage, uns auf das kritische Werk des bedeutendsten Kunstdenkers des Avantgardeismus berufen zu können. Natürlich hat Walter Benjamin seine Studie zur ästhetischen Rechtfertigung der Allegorie in unmittelbarer Bezogenheit auf das deutsche Barockdrama geschrieben. Eine nähere Betrachtung seiner Hauptthesen zeigt jedoch mit voller Deutlichkeit, daß das an sich wenig bedeutsame deutsche Barockdrama für Benjamin nur ein essayistischer Anlaß war, um die Ästhetik der Allegorie zu entwickeln; besser gesagt, um das 'Sprengen der Ästhetik durch die im Allegorisieren hervortretende Transzendenz klar zu formulieren. Diesem Essayismus entsprechend hat Benjamin die Allegorie in einem penetrant heutigen Sinn charakterisiert, und zwar nicht wegen bestimmter - an sich blasser, von der damaligen Mode außerordentlich überschätzter Analogien zwischen der behandelten Periode und unserer Zeit, sondern vor allem, weil er mit großer Kühnheit und Entschiedenheit eben bei Gelegenheit des Barockdramas ziemlich unverhüllt über die heutige 42
avantgardeistische Literatur spricht, jenem die entscheidenden Merkmale dieser geistvoll unterschiebt und damit als erster eine philosophische Begründung der ästhetischen Paradoxie des Avantgardeismus . gibt. Benjamin sagt: »... liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz - nein, in einem Totenkopfe aus. Und so wahr alle >symbolische< Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt - es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallenstenFigur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. So viel Bedeutung, so viel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.« Von seinem Standpunkt völlig konsequent kommt Benjamin immer wieder auf den Zusammenhang von Vernichtung der Geschichtlichkeit und Allegorie als Darstellungsform zurück: »Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus. Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit. Allegorien sind im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge.« Benjamin zieht hier die ästheti·schen Konsequenzen des ins Barockdrama projizierten Avantgardeismus kühner und folgerichtiger als alle seine Zeitgenossen. Er sieht klar die innere Einheit von objektiver Zeit und Historismus (Entwicklung und Fortschritt) und damit die Subjektivierung der Zeit als Bekenntnis zu Zerfall und Dekadenz. Darum kann er zu den bedeutendsten Zügen des Allegorisierens im Barockdrama - von diesem Standpunkt aus mit vollem Recht - »eine gründliche Ahnung von der Problematik der Kunst« zählen; d. h. einerseits der Kunst, die vor allem die absolute Transzendenz ausdrücken soll und deren spezifische Mittel ihr gegenüber versagen, andererseits einer auf diese gerichteten Kunst, die als getreuer Ausdruck eines Verwesungsprozesses, eines Zerfalls der Wirklichkeit gerade als Kunst zur Selbstauflösung getrieben w~den muß. Darum erscheint bei ihm im Barock eine »ungeheure
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widerkünstlerische Subjektivität«, die sich mit der »theologischen Essenz des Subjektiven« vereint. (Wir werden gleich zeigen, was wir an anderem Ort in bezug auf Heideggers Philosophie nachgewiesen haben, daß ein solcher >,religiöser Atheismus« auch in der Literatur einen theologischen Charakter erhalten muß.) Romantik und auf noch höherem Niveau Barock haben diese Problematik erkannt· und dies ihr Wissen nicht nur theoretisch, sondern auch künstlerisch (allegorisch) zur Darstellung gebracht. »Das Bild«, führt Benjamin aus, »im Feld der allegorischen Intuition ist Bruchstück, Rune. Seine symbolische Schönheit verflüchtigt sich, da das Licht der Gottesgelahrtheit drauf triffi. Der falsche Schein der Totalität geht aus. Denn das Eidos verlischt, das Gleichnis geht ein, der Kosmos darinnen vertrocknet.« All das hat für die künstlerische Gestaltung die weitestgehenden Konsequenzen. Benjamin zieht sie auch mit unerschrockener Folgerichtigkeit. »Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten. Diese Möglichkeit spricht der profanen Welt ein vernichtendes, doch gerechtes Urteil; sie wird gekennzeichnet als eine Welt, in der es aufs Detail so streng nicht ankommt.« Natürlich ist sich Benjamin darüber völlig im kl~ren, daß diese Austauschbarkeit und Nichtigkeit des Details keineswegs dessen Nichtexistenz bedeutet. Im Gegenteil. Gerade in der modernen Kunst, auf die seine Betrachtungen letzthin zielen, haben die Details sehr oft eine außerordentliCh starke suggestive sinnliche Kraft; vor allem bei Kafka. Dies schließt jedoch, wie wir es bei dem in seinen bewußten Absichten keineswegs auf Allegorie orientierten Musil zeigten, eine permanente Depreziation der Tatsachen, ihre Willkür, ihre beliebige Austauschbarkeit nicht aus. Und gerade damit meint die avantgardeistische Literatur das Wesentlichste ihres Weltbildes ausdrücken zu können. Aber durch eine solche Gestaltung der Welt wird diese, wie Benjamin sagt »so~ wohl im Rang erhoben wie entwertet«. Die Unaustauschbarkeit der Details ist im Glauben an eine letzthinnige immanente Vernünftigkeit, Sinnhaftigkeit der Welt, ihre Aufgeschlossenheit, Begreifbarkeit für den Menschen weltanschaulich begründet. Darum ist jedes Detail in der realistischen Literatur; untrennbar von seinem eInmaligen, tief persönlichen Wesen, zugleich typisch. Die moderne Allegorie und die ihr zugrunde liegende Weltanschauung hebt aber das Typische auf. Indem sie jeden immanenten Zusammenhang der Welt zerreißt, drückt sie das Detail auf das Niveau einer bloßen Partikularität herab. (Hier 44
wird wieder der Zusammenhang der avantgardeistischen Literatur mit dem Naturalismus sichtbar.) Indem jedoch das Detail- jetzt schon in seiner allegorischen Austauschbarkeit - einen direkten, wenn auch paradoxen Zusammenhang mit der Transzendenz erhält, verwandelt es sich in eine rein auf Transzendenz intendierte Abstraktion. Die Besonderheit der avantgardeistischen Literatur erscheint in diesem Aspekt als die Tendenz, das konkret Typische durch eine abstrakte Partikularität zu ersetzen. Die letzten Bemerkungen, die freilich in ihren Konsequenzen und vor allem in ihren Bewertungen bereits über Benjamin hinausweisen, verwandeln seine essayistische Paradoxie in einen direkten Ausdruck der Ästhetik und Kritik, zielen also schon ganz direkt auf den Avantgardeismus. Damit ist aber sein Gedankengang, der - aus essayistischen Umwegen mit entgegengesetzter WertskaIa - denselben Gedanken meint, keineswegs völlig verlassen. In einem anderen Zusammenhang drückt er sich über diesen Tatbestand mit derartiger Eindeutigkeit aus, daß man meint, die Maske des Barocks falle zu Boden und der Totenkopf des Avantgardeismus werde. sichtbar. Benjamin sagt: »Leer aus geht die Allegorie. -Das schlechthin Böse, das als bleibende Tiefe sie hegte, existiert nur in ihr, ist einzig und allein Allegorie, bedeutet etwas anderes, als es. ist. Und zwar bedeutet es genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt.« Die Paradoxie Benjamins, daß er die ästhetische Eigenart des barocken Trauerspiels originell und kühn entwirft und daß er - gerade dort, wo er sein Ziel erreicht - jede Ästhetik aufhebt, hat, wie gezeigt, die intimste Bezogenheii auf die avantgardeistische Literatur von heute, insbesondere auf ihre größte dichterische Gestalt, auf Franz Kafka. Wenn wir in seinen Werken einen Prototyp der allegorischen Kunst erblik~ ken, so denken wir nicht im entferntesten an die Auslegungen Max Brods, der Kafkas Werken eine direkte religiös-allegorische Bedeutung im alten, überkommenen Sinn, wenn auch mit modernen Zutaten, zuschreiben will. Solche Auslegungen scheitern schon an Kafkas Worten selbst, der eben Brod gegenüber geäußert haben soll: »Wir sind nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.« Und im weiteren lehnt Kafka eine gnostische Bedeutung dieser Anschauung, von Gott als bösem Demiurgen, ab; »unsere Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag«. Als aber Brod daraus irgendeife Hoffnung ableiten will, winkt Kafka ironisch ab: »Oh, 45
Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns.« Diese Worte; die Benjamin in seinem interessanten Essay über Kafka zitiert, beleuchten die geistige Lage, aus der seine Werke hervorgehen, sehr deutlich: »Das tiefste Erlebnis ist die vollendete, die jede Hoffnung ausschaltende Sinnlosigkeit unserer Welt, der Welt der Menschen, des bürgerlichen Menschen der Gegenwart.« Insofern ist Kafka - gleichviel, ob er es zugibt - Atheist. Freilich: modern-bürgerlicher Prägung, indem er die Entfernung Gottes aus der Welt der Menschen nicht als Befreiung auffaßt, wie Epikur oder die Atheisten des revolutionären Bürgertums, sondern als Gottverlassenheit der Welt, als Herrschaft der Trostlosigkeit des Lebens, der Sinnlosigkeit aller menschlichen Zielsetzungen in einer solchen Welt. ]ac'obsens »Niels Lyhne« war der erste Roman, der diese Lage der ,atheistischen bürgerlichen Intelligenz dichterisch gestaltet hat. Der heutige religiöse Atheismus hat seine ideologischen Wurzeln einerseits darin, daß der Unglaube sein gesellschaftliches, menschenbefreiendes Pathos verloren hat:' der leergewordene Himmel als Gegenstand der Trauer ist nur ein projiziertes Bild der jede Hoffnung auf Erneuerung verlorenen Menschenwelt. Andererseits als Folge dieser Lage darin, daß die religiöse Sehnsucht nach Trost und Erlösung in' der Weh ohne Gott unvermindert lebendig bleibt und ihre ganze Intensität in das so entstandene Nichts einströmen läßt. Kafkas Gott, die höheren Richter im »Prozeß«> die wirkliche Schloßverwaltung im »Schloß« repräsentieren die Transzendenz der Kafkaschen Allegorien: das Nichts. Alles weist auf sie, alles könnte einen Sinn nur in ihnen erhalten, jeder glaubt an ihre Existenz und Allmacht, aber niemand kennt sie, niemand ahnt auch nur den Zugang zu ihnen. Wenn hier ein Gott vorhanden ist, so ist er ein Gott des religiösen Atheismus: Atheos absconditus. Was in der gestalteten Wirklichkeit vorkommt, ist ein widerwärtiges Wimmeln~niedriger Organe: brutal, bestechlich, ungerecht, bürokratisch-pedantisch, aber zugleich unzuverlässig, unverantwortlich. Ein Bild der kapitalistischen Gesellschaft (mit etwas österreichischem Lokalkolorit). Das Allegorische besteht hier darin, daß das ganze Dasein dieser Schicht und das der von ihr Abhängigen, das ihrer wehrlosen Opfer nicht als eine konkrete Wirklichkeit gestaltet wird, sondern als zeitloser Abglanz jenes Nihil, jener Transzendenz, das - nichtseiend - ein jedes Sein bestimmen soll. So gewinnt der verborgen-nichtseiende »Gott« der KafkaschenWelt ein
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gespenstisches Kolorit daraus, daß" er alsNicht~eiender der Grund jedes Seienden ist: so wird die im Detail unheimlich echte Wirklichkeit ihrerseits gespenstisch infolge des Schattens einer solchen Abhängigkeit. Die Transzendenz - das unfaßbare »nichtende Nichts« - ist nur dazu mächtig, die gegebene Wirklichkeit als »facies hippocratica« des Zusammenlebensder Menschen zu diffamieren. Darum erreicht gerade bei Kafka die abstrakte Partikularität alles Gestalteten, über welche wir als ästhetische Folge des Allegorisierens bereits sprachen, ihren Gipfelpunkt. Kafka beobachtet glänzend, ja mehr als das: er ist von dieser Gespensterhaftigkeit der Welt so tief affiziert, daß die einfachste Alltagsszene bei ihm die Evidenz einer unheimlichen, alpdruckhaften Gegenwärtigkeit miterhält. Er ist aber zugleich ein echter Künstler, der sich mit der einfachen Evokation von empfundenen' Lebenstatsach!!n der unmittelbar gegebenen OberfläChe nicht begnügt. Er ist sich der Notwendigkeit einer künstlerischen Verallgemeinerung stets bewußt. Aber was abstrahiert er? und wie? Die von ihm selbst, von seinem Allegorisieren, von seinem transzendenten Nihil zur Nichtigkeit entwerteten Momente des Alltagslebens. Und eben wegen dieser allegorischen Transzendenz kann er nicht den Weg des Realismus einschlagen: das ihn so suggestiv affizierende Einzelne zur Besonderheit des Typischen erheben. Im Gegenteil: gerade ihre Partikularität, ihr von ihm selbst als nichtig erkanntes, partikulares hic et nune wird unmittelbar in die dünne Luft einer völlig inhaltlosen, weil vom Nichts aus determinierten Abstraktheit erhoben. Darum kann er nicht - trotz seiner großen Evokationskraft, trotz seiner hohen artistischen Bewußtheit - wie der Realismus die 'sinnvoll-sinnfällige Mitte zwischen Einzelheit und Allgemeinheit erstreben. Er muß trachten: das Partikulare in seiner momentanen Partikularität unmittelbar, rein formell (ohne Verallgemeinerung des Gehalts) zur höchsten Abstraktheit zu erhöhen. Das ist eben die von dem Gehalt bedingte künstlerische Seite der Allegorie. In dieser Hinsicht ist Kafka paradigmatisch für den ganzen - dem Wesen nach allegorischen - Avantgardeismus unserer Zeit. Es kommt dabei nicht auf die unmittelbaren Inhalte, nicht auf die spezifische artistisch-formelle Schreibweise an, sondern auf diese weltanschauliche letzte Posltion zu Form und Inhalt. Beckett oder ]oyee, Musil oder Benn zeigen - jeder in seiner Weise eine entsprechende Partikularität. Wenn -M:an nun die bisher - aus Gründen der Klarheit - getrennt
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untersuchten Momente nicht mehr vereinzelt nimmt, sondern eben als Momente einer letzten Endes einheitlichen, wenn auch vielfach variierten Tendenz, so sieht man, daß sie nicht nur, wie verschiedene Richtungen meinten, die überlieferten Formen sprengen mußten, sondern weit darüber hinaus die literarischen Formen überhaupt. Das ist nicht nur bei Joyce, beim Expressionismus, beim Surrealismus, wo diese Lage offenkundig ist, der Fall. Andre Gide will im Formellen gar nicht revolutionär sein; der Gehalt seiner Weltanschauung drängt ihn aber zum Sprengen der literarischen Formen überhaupt. Seine »Falschmünzer« sollen ein Roman sein. Er hat aber in seiner entscheidenden Anlage die avantgardeistische Doppelbodigkeit, indem der Roman vom Helden, der Schriftsteller ist, im Roman selbst geschrieben werden soll. Inhaltlich ist aber Gide hier gezwungen, schriftstellerisch zu zeigen, daß auf diesem Boden kein Roman, kein ästhetisch geformtes Schriftwerk entstehen kann. Die Selbstauflösung des ~.sthetischen, die Benjamin sehr verdienstvoll theoretisch aufzeigt, hat sich hier praktisch-literarisch verwirklicht.
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Franz Kafka oder Thomas Mann? Wir mußten die Weltanschauungsgrundlage und die formal-künstlerischen Haupttendenzen der antireaiistischen Bewegung unserer Zeit so ausführlich beschreiben und analysieren, weil nur so jenes Milieu charakterisiert werden konnte, in welchem sich heute eine »literarische« Literatur der bürgerlichen Welt entwickeln kann. Es wäre natürlich - schon um ihre gesellschaftliche Basis konkreter aufzudecken - mehr als bloß nützlich, diese Untersuchung auch auf die »unliterarische« Literatur auszudehnen, denn gerade gewisse vom Sein aus bestimmte Seiten der Lebensdarstellung treten in dieser vielleicht noch prägnanter hervor als in jener. Wenn z. B. vom Kult des Abnormalen, Perversen etc. die Rede ist, so zeigen die »Comics« sehr deutlich, daß die Tendenz zu ihrer Popülarität, Zu ihrem übergewicht aus dem Leben in die Literatur eingedrungen ist und nicht umgekehrt. Noch klarer ist diese Lage in der Verwandlung der sogenannten Detektivgeschichten sichtbar. Während die alten Erzählungen dieser Art, etwa der Conan-Doyle-Zeit, von einer Sekuritätsideologie getragen waren, von einer Verherrlichung des Allwissens jener, die über die Sicherheit des bürgerlichen Lebens wachen, steht hier die Angst, die Unsicherheit des Daseins, die Möglichkeit, daß der Schrecken je~en Augenblick in dieses scheinbar abseits jeder Gefahr· dahinfließende Leben einbrechen und nur durch glückliche Zufälle abgewehrt werden kann. Natürlich wird dieser glückliche Zufall schon inübergangsprodukten zwischen Literatur und Kolportage, wie »An einem Tag wie jeder andere« von Hayes, gesellschaftlichapologetisch auf ein Happy-End zugestutzt. Die Ablehnung solcher Kompromisse ist eines der Unterscheidungszeichen zwischen echtem Avantgardeis1l1us und bloßer Unterhaltungslektüre;obwohl es natürlich auch eine Kolportage der Angst gibt; So verlockend aber eine detaillierte Ausführung des gleichen Inhalts und der verschiedenen Formen - bei Darlegung der Ursachen des Unterschieds - zwischen Avantgardeismus und modernster Kolportage wäre, müssen wir, um nicht allzuweit von unserem Thema abgetrieben zu werden, uns mit diesen wenigen Andeutungen begnügen. Sie sollen nur auf die breite gesellschaftliche Basis hinweisen, die die im Avantgardeismus zum Ausdruck kommetftlen erlebnishaften Inhalte besitzen.
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, Damit können wir zu unserem eigentlichen Gegenstand zurückkehren: zum Avantgardeismus, besser gesa'gt, zu den avantgardeistischen schriß:stellerischen Formen als wichtige Bestimmungen des literarischen Milieus von heute. Wie erinnerlich, haben wir uns bereits dagegen gewehrt, für die Trennung der Wege zwischen realistischer und antirealistischer Literatur formale ~riterien anzuerkennen. Aber auch jene weltanschaulichen Inhalte, die die literarische Formgebung in die entscheidenden Richtungen lenken, sind ebenfalls nur Tendenzen. Sie tauchen in sehr verschiedener Stärke, Entschiedenheit, Bewußtheit, Wesensart etc. nicht nur beim selben Autor, sondern oß: sogar im selben Werk auf. Dieser Charakter tritt noch stärker hervor, wenn wir nicht dem Beispiel der avantgardeistischen Kritiker folgen, die nur bei dieser Richtung Neuland für die Literatur anerkennen, vielmehr im Gegenteil dazu innerhalb 'dieses Milieus die Existenz und Bedeutung realistischer Tendenzen wahrnehmen und so das ganze literarische Leben als ein großes Kampffeld betrachten; als Kriegsschauplatz zwischen den bis jetzt analysierten antirealistischen Bestrebungen und zwischen den gegenwärtigen Vertretern jener Bewegung, die wir eingangs die Revolte des Humanismus genannt hatten. Wir haben also nicht nur Zeittendenzenals Gegenstand unserer Untersuchung (und nicht zwei in sich abgeschlossene Entitäten), sondern gerade den Widerstreit dieser beiden Tendenzen; wiederum:) sehr oß: nicht nur bei demselben Schriß:steller, sondern auch innerhalb desselben Werkes. Das hat z\lr Folge, daß die Grenzen, die beide Tendenzen voneinander trennen, nicht selten verschwimmen. Vor allem, weil ein gewisser Grad von Realismus in jedem Schriß:werk unvermeidlich ist. Die alte Wahrheit, daß der Realismus nicht ein Stii unter verschiedenen anderen, vielmehr die Grundlage einer jeden Literatur ist, daß Stile nur innerhalb seines Bereichs oder in bestimmten Beziehungen zu diesem (die feindlichen mitinbegriffen) entstehen können, bewahrheitet sich auch hier. Was seinerzeit Schopenhauer geistvoll bemerkt hat, einen wirklich konsequenten Solipsistenkönne man nur im Irrenhaus finden, könnte man auch über den konsequenten Antirealismus sagen. Diese Allgegenwart des Realismus bewährt sich natii.rlich vor allem in den Details. Es genügt,' an Kafka zu de~~e~,J?eLd~m,dailln:w:ahrschein;
lichste._da-s'1:rreeUste·wege~aer:~iugg:es,t:iyenW.il;h~h~itskraß: der,,!?~~~H,~, als real erscheint,. Und man muß sich darüber im klareü-sein;'daß die
permane~t:~'E;okation des Gespenstischi:m, herauswachsend aus un50
serem gesamten Dasein, ohne diese Evidenz der Allgegenwart des Realismus gerade in den nebensächlich scheinenden Det~!~L4en Alpdrusk zu einer PreclIgt her<;!?.4!..ilik~p.~de. Der Umschlag ins ParadoxA-bsurde ~ des Kafkaschen Werks set~so eine realistische Basis in der Einzelheitgestaltungvg!'.~!!§.,...Es handelt sich keineswegs um das'ge(ä.jIrr~fg;'Sra;:DurClisetze~~eines Antirealismus, sondern~:::,,)YQr.Elich - um ~iIl tJ!i:is~l~g~P::d~iB;~ilIffilil~.J.iilli.~~JE!~~~I~I~~g~!E:~der Realität dieser Welt, wonach das Ganze der Gestaltung, ihr Zusammenhang;11;:rA~lb'~-;:;~{i~geria;t;t"1;t-:-ÄhnIiche-I)-rI~zTpi~;'-lö;:;;:t~-;;';"
an
anderen avantgardeistlsCIien Werken ebenfalls aufzeigen, wenn auch in den meisten Fällen ohne jede Spannung, die Kafka durch das Weithinausschieben der Pole" durch deren intensive Geladenheit, durch die Vehemenz des Umschlags ins Entgegengesetzte erzielt. Obwohl man in einer mehr auf das Ganze aufgeteilten Weise, also in Einzelheiten weniger intensiv, auch bei Musil eine permanente Spann)lng, ein immerwährendes Umschlagen zwischen gesellschafl:lich-geschichtlicher Fixierung der Einzelheiten (bis zur schlüsselromanartigen Charakteristik gewisser Figuren) und zwischen einem Zeitlosmachen, einer ahistorischen Paradigmatik des Ganzen beobachten kann, wozu sich Musil selbst, wie wir gezeigt haben, bekennt. Noch wesentlicher scheint es uns, daß gerade die extremsten Darstellungsmomente der avantgardeistischen Literatur - es genügt hier auf das oß: behandelte Problem ,der Zeit hinzuweisen - nicht an sich wirklichkeitsfremde, vom Leben der Gegenwart abgerissene, einfache Produkte einer wildgewordenen Phantastik sind. Im Gegenteil: sie enthalten wichtige Elemente der Widerspiegelung heutiger Wirklichkeit, der typischen Eigenschaß:en, der Eigenart heutiger Menschen (wenigstens der einer bestimmten Schicht), ihrer Beziehung zur Wirklichkeit etc. Also auch' hier - auch bei den bewußt abstrusesten Antirealisten - sind die stilistischen Bestrebungen nicht die Tendenz, die Wirklichkeit einfach subjektivistisch zu vergewaltigen, sondern umgekehrt: dieser Stil wächst aus der Wirklichkeit der imperialistischen Periode heraus. Die avantgardeistischen Formen sind hier ebenfalls, wie jede literarische Form, Widerspiegelungen des gesellschaß:lich-geschichtlichen Seins, wenn auch freilich - wie bereits dargelegt und wie im folgenden nochmals aufgewiesen werden soll- prinzipiell verzerrende und verzerrte. Diese vielfach verschlungene Lage erklärt, daß in den öffentlichen Manifeslftionen und auch in den privaten Konfessionen führender 51
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Schriftsteller sich ebenfalls oft ein Verschwimmen der Grenzen zeigt. Es handelt sich nicht bloß um den Protest etwa gegen die Unterdrükkung der »entarteten Kunst« unter flitler. Diese Gegenbewegung hat neben der allgemeinen Stellungnahme für die Freiheit des Schrifttums auch die nicht unwesentliche Nuance einer Verteidigung der Schriftsteller, die Wirklichkeit wahrheitsgetreu und ihrem künstlerischen Gewissen entsprechend zu schildern. Da der wirkliche Widersacher des Hitlerismus das Aussprechen der Wahrheit war, mischte sich in den Protest gegen die Verfolgung der »entarteten Kunst« auch die Verteidigung des Realismus. Aber auch der Widerstand gegen die Kritik in Bausch und Bogen am »Formalismus« seitens der stalinistischen Dogmatiker ist nicht eindeutig. Neben dem Selbstschutz der Extreme des Avantgardeismus (oft: eines wirklichen Formalismus) finden wir die - vollständig oder relativ, je nachdem - berechtigte Abwehr gegen die dogmatische Tendenz, den Bereich von Inhalt und Form des Realismus auf eine ärarische Versimplifizierung, auf ein Eliminieren des Reichtums ihrer Widersprüche, auf eine happy-end-artige Verniedlichung der sozialistischen Perspektive einzuschränken. Solche Gegenstöße bringen oftPendelschwingungen ins entgegengesetzte Extrem hervor. Wenn der dogmatische Druck einen jede originelle künstlerische Regung zermalmenden Schematismus zustande bringt, wird oft'- subjektiv verständlicherweise, aber objektiv unrichtig - die »interessante« Farbigkeit der Dekadenz gegen das Grau-in-Grau einer ärarischen Pseudoliteratur ausgespielt und die Theorie des sozialistischen Realismus als Hemmung der künstlerischen Freiheit angegriffen. Damit verschwindet nicht nur der entscheidende ästhetische Gegensatz von Realismus und Antirealismus aus der Diskussion, nicht nur wird alles Berechtigte und Fortschrittliche des sozialistischen (und auch des kritischen) Realismus verkannt, sondern zugleich die von uns aufgezeigte tiefe künstlerische Problematik des Avantgardeismus ignoriert. Es sei in diesem Zusammenhang nur auf den sehr oft ins Schematische übergehenden manierierten Charakter vieler und vielgepriesener avantgardeistischer Werke hingewiesen. Die eigenwiHige und gesucht originelle Art ihrer Formgebung verdeckt für den oberflächlichen, nur das Formalistische beachtenden Blick den subjektivistischen Dogmatismus der Ausgangspunkte und das Schematische an der Ausführung. Von einer echt ästhetischen Warte betrachtet, sind etwa Jünger oder Benn, 52
Joyce oder Beckett etc. ebenso schematisch wie viele - mit Recht kritisierten - Werke des sozialistischen Realismus. Wichtiger als solche Polemiken, in denen oft mehr der Gegner als das verteidigte Objekt die Stellungnahme bestimmt, sind die persönlichen Kußerungen bedeutender Realisten unserer Zeit, die ein lebhaftes Interesse für viele Formexperimente des Avantgardeismus zeigen, in denen eine überzeugung von Verwandtschaft der Bestrebungen zu Worte kommt. Die Gründe zur Erklärung dieses Phänomens liegen nicht ferne. Wir selbst haben soeben darauf hingewiesen, daß solche Formexperimente einen Aspekt zeigen, der für jeden Künstler in seinem Ringen um das spezifisch Heutige in der Widerspiegelung der Eigenart unserer Zeit von großer Wichtigkeit sein muß. Beifall und Sympathie realistischer Schriftsteller drücken also vor allem diese ihre Angeregtheit aus: die Grenzen des Realismus auszudehnen, für die besonderen Inhalte der Gegenwart eine adäquate Form zu finden. Dies erklärt etwa die Urteile Thomas Manns über Kafka, Joyce, Gide etc. Mögen jedoch die Grenzen in noch so vielen Einzelfällen beliebig verschwimmende sein, sie sind dennoch vorhanden; und sie können - gerade in den konkreten Einzelfällen - mit größter Präzision gezogen werden, da sie ja in ihrem eigentlichen Wesen viel mehr enthalten als eine bloße Unterscheidung: nämlich eine entschiedene, ausschließende Gegensätzlichkeit. Auf einige solche schroffe Polarisationen des dichte;. rischen G,ehalts und demzufplge der wesentlichen inneren Form, trotz allen äußerlichen Berührungspunkten, haben wir bereits hingewiesen; so auf den Assoziationsstrom bei Joyce und Thomas Mann, so auf die Entgegengesetztheit in scheinbar verwandten Zeitgestaltungen. Die prinzipielle Grundlage dieser äußeren Konvergenz bei stärkster inneren Divergenz ist darauf zurückzuführen, daß der Avantgardeismus sich zu bestimmten Erscheinungsformen der modernen Welt unmittelbar-unkritisch verhält~ während die hervorragenden Realisten derselben Periode in ihrer schriftstellerischen Praxis (nicht unbedingt in ihren kritischen Kußerungen) die Unmittelbarkeit solcher Phänomene gestaltend aufheben und dadurchJähig werden, diese mit demkünstlerisch nötigen kritischen Abstand zu behandeln. Diese Kritik besteht darin, daß - wenn wir das Zeitproblem als Beispiel nehmen - Realisten wie Thomas Mann über den rein subjektiven Charakter des modernen Zeiterlebnisses keinen Augenblick Zweifel hegen, so sehr sie darüber im klaren sifd, daß diese Erlebnissefür eine bestimmte Schicht der moder-
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nen Menschen außerordentlich bezeichnend sind, daß ihre typischen Züge gerade in solchen Erlebnissen mit der größten Plastik zum Ausdruck kommen. Dagegen kommt die unkritische Unmittelbarkeit der A vantgardeisten - ebenso wie die der modernen Philosophen - darin zur Geltung, d'aß sie in diesen subjektiven Erlebnissen das Wesen der Wirklichkeit selbst erblicken. Darum wird »dieselbe« Zeit bei einigen Realisten zu einem Mittel der Charakterisierung bestimmter Figuren, während sie im Avantgardeismus zum zentralen Wirklichkeitsgehalt und damit zur wesentlichen Form der gestalteten Wirklichkeit aufgebläht werden muß. Thomas Mann zeigt immer wieder neben Menschen mit solchen Zeiterlebnissen auch Figuren, die unter denselben Bedingungen auch subjektiv ein normales, objektives Zeiterleben haben. So einerseits Hans Castorp, andererseits Joachim Ziemssen oder Hofrat Behrens im »Zauberberg«; bei Ziemssen ist sogar die Ahnung einer Bewußtheit vorhanden, daß das moderne Zeiterlebnis einfach eine Folge der abnormalen, von der Alltagspraxis hermetisch getrennten Lebens. weise des Sanatoriums ist. All das bedeutet die folgende außerordentlich wichtige Entgegengesetztheit: der Avantgardeist macht aus einer - notwendig - subjekti ,
So z. B. Joyce. Dies ist wieder eine Seite des avantgardeistischen Weltbilds, in welcher der naturalistische Grundcharakter seines Kunstwollens zum Ausdruck gelangt. Komplizierter ist diese Lage. bei Kafka. Er gehört zu den wenigen avantgardeistischen Schriftstellern, deren Detailauffassung eine auswählende, d~flfäHig betötrentfe;'
~\. wil,'Q,j~_~_ We~~~!:~JYlrlilime~,~..Ay.§Jiy.;abLlUlLl~~ Details letzthin bestimmt. Hiec' ei Kafka das Setzen einer unaufhe~~ären-"'rä:nsze~aenz _~~Lch.ill...J:!.l]_~L~amit das Zerreißen er dichteriSchen Emneltdurch A]kgorisieß;!l.si<;hilir.--------·-Aberäucll'a:lese-Frageda~T nicht formalistisch behandelt werden. Es hat immer bedeutende Realisten gegeben, die über die unmittelbar gegebene gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit hinausgingen, deren realistische Details im Hinweis auf eine »jenseitige« Welt verankert waren. Es genügt, an E. T. A. Hoffmann zu denken, bei4~m,skt:,ß&iI-lismus der Details mit der Ges'pensterhaftigkeit des Ganzen ebenfalls ,-" .• '."."-.' "---., •.",.". ...,,,,.«<,....,..... unlösbar verknüpft ist. Bei näherer Betrachtung kommt jedoCll"auCb. hier aer"G~~;;;atz der objektiv dichterischen Intentionen klar zum Vorschein: die Totalität der Hoffmannschen Welt ist - das Feenhafte, Gespenstische mitinbegriff~n - ein Abbild des Übergangs von Deutschland aus den Verzerrungen des Feudalabsolutismus in einen - ebenso, wenn auch in anderen Formen - verzerrten Kapitalismus. Das Einbe:ziehen der Jenseitigkeit ist deshalb bei Hoffmann ein künstlerischer Umweg, gerade um dieses spezifisch deutsche Diesseits in der Totalität seiner wesentlichen BestimmuIl:gen darstellen zu können, in einer Zeit, in welcher die unentwickelten und verzerrten unmittelbaren Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens noch keine direkte, zugleich getreue und typisch~bedeutsame Gestaltung zugelassen haben. Eine solche war erst im entwickelteren Frankreich für Balzac möglich, aber . auch dieser griff zuweilen - und nicht zufällig - auf eine freilkh modifiziert weitergebildete Hoffmannsche Gestaltungsweisezurück. (Mel\ moth reconcilie.) '0 Kafka ist formell weit diesseitiger als Hoffmann: das G~enstisme verharrt innerhalb der diesseitigen Fo;-.men.-d~lt.kill!galistisch-en Alltags.~ al;~~~sE~P.~!~.s_<;b}Y_~;:fi~ks.es.Alltags.selbst•...ohlUt.G.e.sp,ensJ;.e.r.,~la. ~,
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Hoffmann. Gerade dadurch wird aber die wirkliche Einheit der Welt zerfis~~~~.4.~e_:-_~.~~.~:,~e.~_ n.ach:v~~~l~~:~!~ .'yi,~OltEÜ~,)!~~~~. der obje~tiyen Wirklichkeit dargesteIIt:nle Angst, der panische Schrecken vor' d~r '~e~tfos'verdlnglfCht~~W~lt des imperialistischen Kapitalismus (mit Vorahnung seiner faschistischen Varianten) schlägt aus dem Subjekt in die Substanz um, welche aber dennoch eine hypostasierte subjektive Pseudosubstanz bleiben muß, und-da.s..Abbil.de_ll..ger Verzerrung venvandelt deshalb . ......sich __..........-..... _.. _.-_._ .._-- ._in .. __ ..ein verz..e.rrtes..Abbild. ...--_.. -_. ............,..So sehr;idi.-ars;;K;;]k';'-' in allen Darstellungsmitteln von den meisten Avantgardeisten unterscheidet, ist das wesentlichste Prinzip der Gestaltung bei ihm doch das gleiche wie bei diesen: die Welt als Allegorie eines transzendenten NiQm. Und in der NachfolgeKafkasverDfäSsen-;Ja-VersCh~n-diese Unt;;:~~~idungen, es entst.eht,ellUtnQfm?:b<,J:lihmst,ischerÄvNidüs,.in.Sicht(4r-we·-~;~t1:l:r.;H;i:~e=Gmrul":; wesen noch klarer 1~J:YQ!l:.ritt. Unser"Xblenneil'der metaphysisch starren Kontraste, die Anerkennung der oft verschwimmenden Grenzen beinhaltet also kein Abschwächen der wesentlichen Gegensätzlichkeit. Im Gegenteil: erst dadurch kann sich ein richtigerer, ein schärferer, ein wirksamerer I(ampf der Tendenzen entfalten. Und es muß als Zusammenfassung der letzten Ausführungen nochmals gesagt werden: die zuweilen weitgehende Parallelität in Technik etc .. können über die entscheidende Grundhaltung der Schriftsteller wenig Ausschlaggebendes aussagen, ebensowenig wie ein formalistisches Bejahen oder Verneinen von Schreibweisen das Wesen der Sache zu entscheiden imstande ist. Worin besteht aber dieses Wesen der Sache? Wir haben die Hauptmomente bereits behandelt, indem wir versucht haben, die - untereinander sehr verschiedenen - Richtungen der Dekadenz auf ganz allgemeine weltanschauliche Stellungnahmen zurückzuführen, die die gemeinsamen Prinzipien des Gehalts und die innere künstlerische (mehr als technische) Form bei ihnen bestimmen. . Wollen wir auf dieser Grundlage die Prinzipien der Scheidung auf- . zeigen, so muß vor allem das Problem der Perspektive nochmals kurz behandelt werden. Die für uns vorerst entscheidende Frage ist wiederum ihre Rolle als künstlerisches Auswahlprinzip, die weltanschauliche Grundlage für den Schriftsteller, jene Wahllosigkeitin der Gestaltung der Detailszu überwinden, deren Sieg im Schaffensprozeß unweigerlich -._-_.,._~-
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eine Orientation auf den Naturalismus herbeiführt. Es ist aber klar, daß diese Gefahr für jeden wirklichen Schriftsteller ununterbrochen vorhanden ist: ohne künstlerische Verliebtheit in Reichtum und Vielfalt des sinnlich erscheinenden Lebens ist eine echte literarische Begabung kaum vorstellbar. Es ist eine biographische Frage, wie weit die Eroberung einer solchen Lebensfülle mit ihrem ästhetischen Ordnen und Zähmen parallel läuft, sicher aber ist, daß diese beiden einander dialektisch entgegengesetzten, einander dialektisch ergänzenden Bewegungen zumindest eines der fundamentalen Momente der Ausbildung desjeweiligen individuellen Stils ausmachen. Hier ist die künstlerische Bedeutung der Perspektive noch deutlicher als in unseren bisherigen Andeutungen als Prinzip der Auswahl sichtbar. Max Liebermann pflegte zu sagen: Zeichnen ist Weglassen, und dieser aphoristische Ausspruch kann ruhig dahin verallgemeinert werden: Kunst ist ein Auswählen des Wichtigen und Wesentlichen, ein Weglassen des Unwichtigen und Unwesentlichen. Das ist aber eine noch viel zu allgemeine und abstrakte Bestimmung. Um sie für die Kunstbetrachtungfruchtbar zu machen, müssen sowohl die subjek~iven Prinzipien der Auswahl, welche im Schaffensprozeß vor sich geht, einigermaßen geklärt werdeit wie auch die Prinzipien einer Konvergenz (oder Divergenz), die das vom Subjekt als wichtig etc. Empfundene, Gemeinte mit der künstlerischen Objektivität verbindet. Denn es ist ohne weiteres klar, daß das letztere keineswegs direkt aus dem ersten folgen muß, daß' die Aufrichtigkeit, Intensität, Scharfsinnigkeit etc., die in der Auswahl zum Ausdruck kommen, keine Garantie, geschweige denn ein Kriterium für die Erfüllung der Objektivität bieten können. Andererseits wäre es aber falsch, die beiden Gruppen von :Prinzipien als unüQ.erbrückbar heterogene aufzufassen. Zwischen subjektivem Meinen und objektiver Vollendung ist ohne Frage ein Sprung, aber nicht ein irrationell abrupter zwischen metaphysisch voneinander getrennten Entitäten, sondern einer, der - ohne seinen Sprungcharakter zu verlieren - als Moment eines dialektischen Entfaltungsprozesses der schöpferischen Subjektivität, ihres Auftreffens auf das Wesen der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit gefaßt werden muß (oder: als Scheitern in einer solchen Abbildung und Auswahl). Wie ein Schriftsteller in dieser entscheidenden Frage seiner Praxis die Wahl trif(hängt unmittelbar -' und in einem bestimmten Sinne unauf-
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hebbar - von Art und Beschaffenheit seiner Persönlichkeit ab. Diese ist jedoch, unabhängig von der Vorstellung, die das Subjekt über sich selbst hegt, kein zeitlos und endgültig gegebenes An-sich. Anlage, Talent etc. sind zwar angeboren, wie sie jedoch sich entfalten oder verkümmern, sich ausbilden oder verzerren, hängt von den Wechselbeziehungen des Schriftstellers mit dem Leben, mit seiner Umgebung, mit seinen Mitmenschen etc. ab. Dieses Leben ist objektiv - einerlei, ob der Schriftsteller dies weiß oder nicht, einerlei, ob er ein solches Verhalten wünscht oder verwünscht - ein Teil des Lebens seiner Gegenwart; es ist deshalb - wiederum unabhängig von den Meinungen der Schriftsteller - seinem Wesen nach gesellschaftlich-geschichtlich. Daraus folgt weiter - nochmals unabhängig vom Wissen und· Wiinschen des 'Schriftstellers -, daß dieses Leben kein einfaches Sein ist, sondern ein Werden und Vergehen, ein ununterbrochener Kampf zwischen Gestern, Heute und Morgen. Eine Wirklichkeit also, die in ihrer Einheit und Fülle weder erkannt noch erlebt werden kann, ohne im Sein (in jedem einzelnen Moment des Werdens, das sich notwendig die Form des Seins gibt) dessen Woher? und Wohin? zu ~rleben und zu erkennen. Weder Gesellschaftlichkeit noch Geschichtlichkeit der Lebensmomente und deren dynamische Verknüpfungen sind bloß subjektive Aspekte, die der Schriftsteller nach Belieben, eventuell auf Grundlage einer weltanschaulichen Begründung annehmen oder ablehnen und dabei dennoch das Sein und Werden der Lebenstatsachen und -zusammenhänge in ihrer Konkretheit für das dichterische Durchleben und Gestalten bewahren könnte. Die dem Sein und Werden jedes Lebensmoments unlösbar inhärenten Kategorien: die Gegenständlichkeitsformen und -gehalte der Gegenstände der Dichtung müssen verkümmert, zerstört werden, will man diese Bestimmungen subjektiv auslöschen. Soweit, also gewissermaßen im Rahmen einer. abstrakt philosophischen Betrachtung, werden relativ viele die Richtigkeit eines solchen Gesichtspunktes zugeben. Es gehört jedoch zum objektiven Wesen eines gesellschaftlich-geschichtlichen Seins oder Werdens, nicht nur im allgemeinen sozial und historisch zu sein, vielmehr stets konkretes Mgment einer konkreten historischen EntwickG~g';':.~i!li~:~'gese[~iligtfiich geschicl;.i}I~e-Gegen~~Et':äJs'''ve~bI~d~~d~; '. M()men~ .. ~~~~:l1 __:i~.~E konkret historiSChen und.ebendarunrkonkret·sez.ialen.Yergangenheit unt[~~p.i~~:~he~w~:~g~~;~.eten.Zukuntl: Die unausweichliche und unauf58
hebbare Objektivität dieser Lage hat zur notwendigen Folge, daß alles, womit der Schriftsteller in seinem eigenen Leben zu tun hat, alles, was er als Mensch und als Dichter erlebt und durchlebt, auch in subjektiv, gedanklich wie gefühlsmäßig unvernichtbarer Weise einen solchen konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter haben muß; daß allem, was er sich als Mensch wie Dichter aneignet, dieses gesellschafl:lich-geschichtliche hic et nunc, dieses gesellschaftlich-geschichtliche Woher? und Wohin?, unaufhebbar mitangehört. Jede adäquate dichterische Widerspiegelung der Wirklichkeit begreift also eine solche konkrete Bewegtheit, die eine konkrete und bestimmte Richtung hat, in sich. Arten und Formen ergeben je nach Zeiten und Persönlichkeit eine unendliche stilistische Variabilität. Aber gerade hierin, gerade in dieser Intention der wählenden und weglassenden dichterischen Subjektivität auf das konkrete Woher? und Wohin? des selbstgelebten Lebens entsteht die tiefe Verbundenheit des dichterischen Subjekts mit der Objektivität, entsteht jener dialektische Sprung, der gerade aus der echtesten Tiefe der Innerlichkeit des subjektiven Wesens auf das objektive Wesen (auf eine seiner wesentlichen Seiten) der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit der Zeit auftrifft. Gerade hier zeigt sich die künstlerisch entscheidende Rolle der Perspektive. Um ihre Bedeutung präziser zu begreifen, muß der Unterschied zwischen der objektiven Wirklichkeit selbst und ihrer ästhetischen .~i~~l:[~.I.1!gK.j:~.n1L,ii.~j.p.,~=_Ayg~~~ifu~:}i~.r~n.-~t ein Gemeinplatz, festzustellen, daß in der Wirklichkeit die Gegenwart aus der Vergangenheit, die Zukunft aus der Gegenwart sich herausbildet. Wenn' wir hier von einer Perspektive der Entwiddung sprechen, so handelt es sich objektiv um jene Hauptrichtungen, Grundtendenzen, die im Laufe dieses historischen Ganges mehr oder weniger deutlich sichtbar werden, subjektiv (was hier noch keineswegs allein das Künstlerische bedeutet) um Unsere Fähigkeit, diese an sich vorhandenen und wirkenden Bewegungsrichtungen adäquat wahrzunehmen. Wenn jedoch die Literatur ein inhaltlich angemessenes, formell einheitliches, geschlossenes, künstlerisches Abbild dieser Wirklichkeit geben will, so muß sie - gestalterisch - vorerst die natürliche Reihenfolge umkehren: während in der Wirklichkeit das Wohin? aus dem Woher? entspringt, bestimmt in der literarischen Gestaltung das Wohin? Inhalt, Art, Auswahl, Proportion etc. dessen, was aus dem Woher? im Werk zur Geltung g~angen kann. Natürlich ist das vollendete Werk selbst ein 59
Abbild des realen Prozesses und seiner kausalen Aufeinanderfolge, damit jedoch dieses nicht in einer wahllosen Chronikenhaftigkeit steckenbleibe, ist die eben angedeutete Umkehrung im Schaffensprozeß unerläßlich. Denn es ist eben die Perspektive, das Wohin?, der Terminus ad quem, wodurch die konkrete Wichtigkeit oder Unwichtigkeit aller Momente der Darstellung von den entscheidenden Situationen und Gestalten bis zu den kleinsten Details bestimmt wird. Bei näherer Betrachtung ist es aber ersichtl,ich, daß die schöpferische Funktion der Perspektive weit über das bis jetzt Skizzierte hinausgeht und die wichtigsten Fragen des eigentlichen Schaffens aufwirft. Denn die bloße Feststellung eines Zusammenhanges, wenn auch eines noch so zwangsläufigen, zwischen Perspektive überhaupt und Gestaltungsfragen überhaupt - das zeigen schon unsere bisherigen Betrachtungen über den notwendig gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter einer jeden Perspektive - kann hier unmöglich ausreichen. Der Konkretionsgrad der Perspektive hat auch einen weithin ausgreifenden Einfluß auf die Sinn fälligkeit, auf die Lebendigkeit der literarischen Gestaltung. Und zwar vor allem darin, daß eine - freilich bei weitem nicht direkte, sondern im Gegenteil sehr weit, vielfach und kompliziert vermittelte - Beziehung besteht zwischen den bloß individuellen und den typischen Zügen in der 'Struktur je einer Gestalt und zwischen Art und Grad dessen, wie in der Totalität der betreffenden Dichtung 'die Perspektive konk'retisiert werden kann und tatsächlich konkretisiert wird. Dieser Zusammenhang ist historisch-ästhetisch noch überhaupt nicht erhellt, ja man kann sagen, daß sogar die Frage selbst noch gar nicht aufgeworfen wurde. Wir können also hier bloß einige extreme Fälle kursorisch skizzieren und dies auch nur als ein Vortasten zu unserem gegenwärtigen Problem: ,zur Bestimmung, welche Art (und welcher Konkretionsgrad) der Perspektive für die Entwicklung des kritischen Realismus in unseren Tagen günstig oder ungünstig ist. Einigermaßen fundiert erscheinen uns die folgenden Gesichtspunkte: Erstens scheint uns, daß eine allzu abstrakte, sich auf eine rein welthistorische Periode erstreckende, deren bloß allerallgemeinste Züge in sich begreifende Perspektive vor allem in überwiegend satirischen Werken das Herausarbeiten von typischen Gestalten und Situationen fördert. (Swift, Saltykow-Schtschedrin.) Und auch hier scheint es; daß dabei die Konkretion der typischen Situationen stärker zum Ausdruck gelangen kann als zugleich individualisierte und ins Typische erhobene
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Gestalten. Zweitens - um das entgegengesetzte Extrem zu nehmeif-: eine Perspektive, die ausschließlich oder überwiegend auf Tageser~ig nisse orientiert ist, fördert im allgemeinen das Hervortreten naturalistisch individueller oder bestenfalls oberfl~chlich typischer Züge. Die Dialektik der historischen Entwicklung geht über sehr wechselvolle und gerade in bezug auf die in den Tagesereignissen unmittelbar hervortretenden menschlichen Züge äußerst verschlungene, von diesem Standpunkt aus im voraus unübersehbare Wege. Erst die »prophetische«, zumeist bloß die nachträgliche Sicht und übersicht einer ganzen Etappe zeigt die historische Einheit solcher sich - unmittelbar - schroff entgegenstellenden Widersprüche zwischen einzelnen Wegstrecken. Man würde jedoch am spezifischen Wesen der für die Literatur ausschlaggebenden Perspektive achtlos vorbeigehen, wenn man das »prophetische« Erfassen des Wesentlichen in einer Entwicklungsetappe etwa mit einer richtigen politischen Voraussicht identifizieren würde. Wenn eine derartige Einsicht das Moment der Entscheidung wäre, so gäbe es in der ganzen Literatur des 19. Jahrhunderts kein echtes Typenschaffen, denn gerade bei deren größten Meistern, bei Balzac und Stendhal, bei Dikkens und Tolstoj können wir die größten Fehlurteile auf diesem Gebiet feststellen. Trotzdem ist die Entstehung bleibender Typen in ihren Werken weder Zufall noch irrationalistische Intuition. Die dichterische Ratio in der lebendigen Wechselbeziehung zwischen Perspektive und Typus beruht darauf, daß der bedeutende realistische Schriftsteller imstande ist, in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung Tendenzen und Richtungen der Wirklichkeit gemäß zu erfassen und zu gestalten; ihr Auftreffen auf die Wahrheit geschieht jedoch nicht im Gebiet des sozial-politischen Geschehens an sich, sondern dort, wo das Fixieren und die Knderung menschlicher Verhaltungsweisen, ihr Bewerten, die Veränderung vorhandener, das Entstehen neuer Typen etc. vor sich geht. Bestimmte Tatsachen ihrer Gegenwart bringen einen bestimmten Wandel unter den Menschen hervor, und zwar nicht nur in der Charakterbildung einzelner Menschen, vielmehr auch darin, daß einige Probleme ins Zentrum rücken, andere peripherisch werden, gewisse Eigenschaften und ihre schicksalhafte Entfaltung im Glanz des Tragischen erstrahlen, während andere - vielleicht auch solche, die in der Vergangenheit oder in der Gegenwart tragische waren - zu einer Komik herabgedrückt werden, etc. Solche' Verschiebungen vollziehe~ sich in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit un61
unterbrochen, sie werden aber nur von den großen realistischen Schriftstellern ihrem objektiven Wesen nach erfaßt und gestalterisch sinnfällig gemacht. Eine solche dichterische Erkenntnis des menschlich Wesentlichen im Geschichtsprozeß, das das gesellschaftlich Wesentliche implicite mitenthält, kann durchaus entstehen und sich als richtig bewähren, ohne die politisch-soziale Entwicklung gedanklich vorwegnehmen zu können~ Sie ist aber trotzdem mit der Perspektive aufs innigste verknüpft, denn der bleibende Charakter des Typenschaffens ist gerade daran gebunden, daß der Schriftsteller den zentralen oder peripheren, den tragischen oder komischen etc. Charakter einer Menschenart so widerspiegelt, daß das von ihm gestaltete Abbild von der späteren historischen Entwicklung bestätigt wird. (Dies macht das Bleibende bei Balzac oder Tolstöj, das vielfach Veraltende bei Ibsen aus.) Das zeigt vor allem, daß die von uns als so notwendig erachtete Perspektive keineswegs mit einem Voraussagen historischer Ereignisse gleichgesetzt werden darf; daß sie in diesem Sinne höchst unbestimmt sein kann, ohne die vom Standpunkt der dichterischen Auswahl unerläßliche konkrete Bestimmtheit zu verlieren. Zugleich erklärt dieser selbe Tatbestand, warum die Ausrichtung der Perspektive auf Tagesereignisse vom Standpunkt der Literatur so selten fruchtbar werden kann: sie ist dort konkret und bestimmt, wo dies vom Standpunkt der Dichtung wenig Bedeutung hat, und auf die für diese entscheidende Frage kann sie doch nicht eine ästhetisch klare Antwort geben. Wo also auf solcher Grundlage wirklich dauerhafte Typen entstehen, liegt der ausschlaggebende Grund nicht in der Orientation auf Tagesereignisse, sondern darin, daß der .betreffende Schriftsteller - mehr oder weniger unabhängig von dieser ~!~t~mi;?;;';;;\\\. jedenfalls aber dichterisch über sie hinausgreifend - eine _~olrt·;,,~ im oben geschilderten Sinn hat. ' dieses Konkretisieren der Perspektive hat für unser Problem
'i~~;~:;:~:8:,~i~~I~~~FOlgen. Es zeigt sich nämlich, daß zwischen der Möglichkeit, \~
Typen zu schaffen - und dies ist die eigentliche Grundlage literarischen Dauerwirkung -, und zwischen einem konkret-dynaalso Gesellschaft und Geschichte einbeziehenden Weltbild ein Zusammenhang besteht. Jeder Versuch, die Dynamik der Gedurch irgendeine Form von Statik zu ersetzen" führt zu einem' rfIr...,;clnpn der sinnfälligen Lebendigkeit, der Typik des Gestalteten. hier aus zeigt es sich, daß bereits im Naturalismus die Zahl der
lebendigen Figuren rapid abnimmt, daß z. B. ein so hervorragender Schriftsteller wie Zola in seinem gewaltigen Leqenswerk keine einzige wirklich bleibende Gestalt geschaffen hat. Noch auffälliger ist diese Lage in der avantgardeistischen Literatur. Die unmittelbar hervorbringendenUrsachen sind natürlich in den verschiedenen Richtungen, bei den verschiedenen Autoren verschieden. Ob es sich aber um das Verblassen der Figuren zu Schatten oder um ein Zerflatternihrer Konturen, um ihr Verflachen in eine starre Flächenhaftigkeit oder um ein Erstarren in gespenstischer, traumhafter Irrationalität etc. handelt, hat für die Zwecke dieser Betrachtung keine ausschlaggebende Bedeutung. Es gibt natürlich Theoretiker des Avantgardeismus, die nicht gewillt sind, hierin einen Nachteil der Schaffenstnethode zu erblicken, entweder indem sie den Begriff des Typischen derart enthumanisieren, daß auch die Beckettschen Figuren als Typen ausgelegt werden können, oder indem sie im ganzen Typenschaffen ein veraltetes, ein zu überwindendes Erbe des »19. Jahrhunderts« erblicken. Demgegenüber ist vielleicht nützlich, einige Urteile von Schriftstellern anzuführen, die diese Frage nicht wie wir philosophisch und kulturkritisch betrachten, sondern ausschließlich die Interessen der lebendigen schriftstellerischen Praxis im Auge haben. Schon vor vielen Jahren habe ich in anderen Zusammenhängen ein Urteil von Sinclair Lewis über Dos Passos angeführt. Er lobt dessen »natürliche« (d. h. avantgardeistische) Kompositionsweise, die die veralteten erzählerischen Konventionen weit hinter sich läßt; wenn er aber auf die Gestaltung vom Menschen zu sprechen kommt, muß er folgendes feststellen: »Gewiß hat Dos Pass os selbst keine so bleibende Gestalt geschaffen wie Pickwick, Micawber, Oliver, Nancy, David und 'seine Tante, Nicholas, Smike und mindestens vierzig andere, und es wird ihm auch wohl nie gelingen.« Noch aktueller und in vielfacher Hinsicht interessanter ist das Geständnis, das Albert Camus über Roger Martin du Gard im Vorwort zu dessen Werken ablegt. Er spricht von einer Dichtigkeit, von einer Dreidimensionalität in dessen 'Schriften, die, wie er sagt, in der Literatur der Gegenwart ein wenig ungewöhnlich geworden sind. Unsere Produktion könnte sich, soweit sie wertvoll ist, eher auf Dostojewskij als auf Tolstoj berufen. Es sind leidenschaftliche oder inspirierte Schatten, die gestikulierend eine Reflexion über das Schicksal kommentieren. Und er vergleicht1eistvoll die jungen Frauen in Dostojewskijs »Besessenen« mit 63
Tolstojs Natascha Rostowa: »Es ist derselbe Unterschied wie zwischen einer Figur im Kino und einem Helden im Theater: größere Beseeltheit und weniger Körperlichkeit.« Es erübrigt sich hier, auf die weiteren, oft sehr feinen Bemerkungen von Camus über Dostojewskij und Kafka näher einzugehen. Der Gegensatz der beiden Gestaltungsweisen ist mit einem echten Streben, gerecht zu sein, umrissen; Camus vergißt auch nicht, darauf hinzuweisen, daß Dostojewskij selbst anderes, mehr gibt als seine Nachfolger, die von ihm nur diese Schattenhaftigkeit geerbt haben. Dieses generöse Geständnis ist für uns um so wertvoller, als die Produktion von Camus selbst - freilich nicht im technischen Sinn, wohl aber dem Wesen seiner schrifl;stellerischen Gesamtkonzeption nach durchaus diesem Reich der Schatten angehört. Denn so suggestiv etwa seine Beschreibung der Pest, vor allem ihrer Atmosphäre des schick.thafI: erzwungenen Zusammenlebens von Menschen, als allegorische ""'(;estalt der »condition humaine« ist, so interessant und anregend die ,;",-)-y,.<",:~,\",
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dieser im stetigen Wechsel sich bewahrenden Zuständlichkeit her-
"~achsenden moralischen Probleme auch sind, die Menschen, die diese
bleiben, nach seiner eigenen Bestimmung, bloße Schatten, die Schicksal mehr oder weniger leidenschaftlich, mehr oder weniger resigniert kommentieren. Es ist nicht die - sehr weise und konsequent idtmhgehaltene - stilistische Sparsamkeit, die sie zu einem solchen Schattendasein verurteilt; sondern wiederum die Perspektivenlosigkeit: ',' iLr Leben kennt kein Woher? und kein Wohin?, keine innere Bewegt!aeit, keine echte menschliche Entwicklung. Die Pest - schon diese dichFragestellung ist höchst bezeichnend - ist kein zufälliges Unkeine grauenvolle Episode und eben deshalb keine Etappe in der des menschlichen Lebens. Sie setzt keine Vergangenheit und führt in keine Zukunft; sie ist die fürchterliche Realität des _:miI;nllUl~:ll Daseins überhaupt, die nur scheinbar irgendwo einsetzt ebenso scheinbar irgendwo aufhört. Die Bewunderung von Camus die typenschaffende Konkretheit Roger Martin du Gards, über er in diesem Vorwort sehr viel Interessantes schreibt, ist darum ' . bedeutsam, weil sie eine tiefe Selbstkritik des eigenen Schaffens, der Problematik ihrer Grundlagen unausgesprochen, aber fi;4eutli,ch enthält. - scheinbaren - Exkurse führen uns der Konkretisierung des , , 'Perspektivenproblems in der Literatur wesentlich näher. Wir müssen
aber in dieser Richtung noch einen weiteren Schritt, den entscheidenden, tun: für den Schriftsteller des letzten Jahrhunderts ist eine konkrete Stellungnahme zum Wohin? des menschlichen Lebens ohne eine Stellungnahme zum Sozialismus unmöglich. Das war schon bei den Schrifl:stellern der humanistischen Revolte und ihren Zeitgenossen deutlich sichtbar. 'Schon Zola sagte einmal, daß er jedesmal, wenn er eine neue Frage zu lösen in Angriff nahm, auf den Sozialismus stieß. Und in der Entwicklung Gerhart Hauptmanns ist es deutlich sichtbar, wieviel es für die Durchschlagskraft seiner bedeutendsten Frühwerke begeutet hat, daß an seinem Horizont, wenn auch noch so verschwommen, immer wieder diese Frage erschien. Und sobald dieses ferne und undeutliche Bild sich für ihn in eine Fata Morgana auflöste, begann jene tiefe Schaffenskrise, die seine begeistertsten und verständnisvollsten Verehrer mit Besorgnis und Erbitterung erfüllte. Es ist sicher nicht nötig, solche Beispiele zu häufen. Jeder weiß, was der Sozialismus für die Entwicklung von Anatole France, von Romain Rolland, von Bernard Shaw bedeutet hat. Und daß die Kritik der bürgerlichen Familie und - in ihr und durch sie - der bürgerlichen Gesellschaft im Romanzyklus Roger Martin du Gards vom Terminus ad quem, von der Auseinandersetzung Jacques Tibaults mit dem Sozialismus geistig wie gestalterisch determiniert ist, bedarf wohl keiner eingehenden Erörterung. Man könnte vielleicht im ersten' Augenblick meinen: aus solchen Ausführungen folgt letzten Endes doch die von uns bereits wiederholt abgelehnte Gegenüberstellung der sozialistischen Perspektive im sozialistischen Realismus mit der Perspektivenlosigkeit der bürgerlichen Dekadenz. Wir meinen: nein. Denn jene Trennung der Wege, deren weltanschauliche und künstlerische Voraussetzungen wir hier untersuchen, vollzieht sich innerhalb der bürgerlichen Literawr. Sie beinhaltet keine Gegenüberstellung von sozialistischem Realismus und bürgerlicher Dekadenz, im Gegenteil, bloß die vom bürgerlichen, vom kritischen Realismus und dekadenten Avantgardeismus. Dementsprechend handelt es sich nicht darum, daß der Schriftsteller, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen sozialen und ideologischen Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu finden, deren Widerspiegelung den Problemkreis der heutigen Literatur ausmacht, sich auf den Boden des Sozialismus zu stellen, den Sozialism1fs zu bejahen hat, sondern bloß darum, daß er - in seinem 65 ,
eigenen menschlichen und künstlerischen Interesse- den Sozialismus nicI:t a limine ablehne, nicht unbedingt gegen ihn Stellung nehme. Denn damlt würde er - und das ist das Wesentliche dieser Betrachtung - den eigenen Ausblick auf die Zukunft versperren, seine Fähigkeit, die Gegenwart so, wie sie ist, zu sehen, verwirr·en, sich der Möglichkeit berauben, beweete und n. icht st.atische Werke, Werke, die eine künstlerische fruchtb bare Perspektive besitzen, zu schaffen. Diese Frage steht seit einem Jahrhundert ideologisch im Zentrum der Problematik der bürgerlichen Literatur, und zwar, wie im folgenden zu zeigen sein wird, mit einer naturgemäß steigenden Intensität,. jedoch so, daß das Problem selbst im Wandel der Zeiten sich ununterbrochen qualitativ und strukturell wandelt. Werfen wir einen ~lick auf die ersten Erscheinungsweisen dieser Frage. Ungefähr vor emem Jahrhundert schreibt Heinrich Heine sein Vorwort zu: französischen Ausgabe der »Lutezia«. Er sagt dort, daß der Kommumsmus, vor dem er eine schreckliche Angst habe, der, wie er meint, seinen Interessen und Neigungen feindlich sei, auf ihn doch eine Anziehungskraft ~us~be, . gegen welche er sich nicht wehren könne. Der erste Grund schemt lhm der der Logik und der der Gerechtigkeit zu sein: diese Gesellschaft der Ungerechtigkeit sei zum Tode verurteilt und möge untergehen - auch. wenn man, wie er befürchtet, in der neuen Gesellschaft aus dem »Buch der Lieder« Packpapier für den Kaffee machen würde, den eine ar~e alte, in der heutigen Gesellschaft benachteiligte Frau kauft. I?er zW~lte Grund sei noch mächtiger und infernalischer: die Kommulllsten selen die einzigen mächtigen Feinde seiner Feinde, der deutschen Reaktion, des deutschen Chauvinismus, gegen welche er sein ganzes Leben lang kämpfte. Mit alledem ist Heine kein Sozialist geworden. Er hat nur dem Sozialismus gegenüber eine Position bezogen, von der aus er .unvoreingenommen alle Probleme der bürgerlichen Gesellschaft. ~emer Zeit, .den Weg von der Vergangenheit in die Zukunft zu überblicken, sie rücksichtslos zu Ende zu denken instand gesetzt wurde. Hier ist bereits deutlich sichtbar, welche qualitative und strukturelle Veränderungen das Problem der Perspektive im .Denken ~nd E~!eb~n der bürgerlichen Schriftsteller im Laufe de: Geschl~te ~:leldet. Fur d.le R.ealisten vor der Französischen RevolutiOn lag hler uberhaupt kem Problem vor. Ihre Perspektive konzentrierte sich auf die überwindung der feudal-absolutistischen Gesellschaft. Wie die auf dere~ T:ümmern entstehende bürgerliche Gesellschaft aussehen würde, worm lhre Pro-
blematik bestünde, war - vom Standpunkt der dichterischen, gestaltenden Perspektive - durchaus sekundär, völlig vernachlässigbar. Ganz anders wurde die Lage nach der Französischen Revolution. Es ist auffallend, daß bei Goethe und Balzac, bei Stendhal und Tolstoj die Perspektive immer mehr oder weniger mit utopischen Elementen durchtränkt ist. Darin äußert sich eine merkwürdige Doppelheit in ihrer Stellungnahme zur bürgerlichen Gesellschaft: einerseits. das Festhalten an einer progressiv-bürgerlichen (bei Tolstoj: einer bäuerlich-plebejischen) Perspektive; was soviel bedeutet, daß auch diese in fundamentalen Fragen nicht über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist. Andererseits die tiefempfundene Notwendigkeit, das Bejahen des eigenen gesellschaftlichen Daseins mit Seinsmomenten zu begründen, die in der Gesellschaft ihrer Tage nicht zu finden waren, die man als kommende zu denken gezwungen war. Die so geartete utopische Perspektive hat also hier die Funktion, die Gegenwart in ihrer echtesten Realität zu erfassen und kompromißlos darzustellen, ohne bei einem solchen rücksichtslosen Zuendegehen der Verzweiflung anheimzufallen . Eine spätere Etappe des kritischen Realismus - Flaubert mag dabei als Paradigma dienen - gibt mit asketischem Trotz jede utopische Hoffnung in bezug auf die bürgerliche Gesellschaft auf. Soweit in dieser Welt noch Utopien entstehen, nehmen sie die Form einer Flucht ins räumlich und zeitlich Ferne, ins Exotische auf. Die doppelte Selbstkritik Flauberts - sein Selbstironisieren der eigenen, unausrottbaren romantischen Exotik und das Verwerfen der Nichtigkeit der bürgerlichen Welt, gemessen an den apriori unerfüllbaren romantischen Träumen - macht es für ihn möglich, ohne Hoffnung, ohne Illusion, aber auch ohne Furcht auf seine Gegenwart zu blicken. In seinem Werk also, ein seltsamer Grenzfall im bürgerlichen Realismus, muß das Bild der Gegenwart weder zerfließen noch erstarren, sondern kann, wenn auch ~bgeschwächt, den alten Reichtum der Wirklichkeit, die Entschiedenheit und Wahrheitstreue ihrer Wiedergabe bewahren, wenn freilich auch die spätere Diskrepanz des Inhalts hier sich bereits zu äußern beginnt. Die auf Flaubert folgende Zeit wirft qualitativ neue Probleme auf. Um aber dies exakt behandeln zu können, scheint es uns vorteilhaft, früher das entgegengesetzte Extrem kurz zu beleuchten. Ungefähr gleichzeitig mit dem späten Heine, etwa ein Jahrzehnt nach seiner an&iührten Konfession, nimmt ein anderer großer Schriftsteller ebenfalls bekenntnisartig Stellung zum selben Problem, nämlich Dosto67
jewskij in seiner wichtigen Erzählung »Aus dem Dunkel der Großstadt«. Sie ist eine der ersten Darstellungen des dekadent einsamen Individuums. Dostojewskij ist vor allem in dieser allgemein~n ideellthematischen Hinsicht-das ist allerdings nicht wenig-mit dem späteren Avantgardeismus verbunden. Bei ihm erscheint aber dieser Individualismus noch als eine gesellschaftliche Wechselbeziehung konkreter Menschen in einer konkreten Gesellschaft. Er gibt darüber demgemäß das Bild einer kläglichen Sackgasse, ohne die Tatsachen irgendwie zu idealisieren. Gerade darum sind bei ihm die sozialen Gründe und Folgen dieser Position noch ganz klar sichtbar, während sie im Avantgardeismus immer mehr oder weniger mystifiziert werden. Der Held der Dostojewskijschen Erzählung leidet vor allem an der Unmenschlichkeit des beginnenden Kapitalismus, unmittelbar an jener, die dieser allen Beziehungen der Menschen zueinander aufprägt. Inmitten einer solchen Welt, gegen welche er mit allen Fasern seines Daseins rebelliert, lehnt er zugleich, zumindest ebenso leidenschaftlich, die Perspektive einer sozialistischen Lösung ab. (Kristallpalast, Ameisenhaufenetc.) Damit schlägt schon hier der Protest gegen die Unmenschlichkeit des -Kapitalismus in eine gleichmacherisch-sophistische, romantisch-antikapitalistische Kritik von Sozialismus und Demokratie um. Die Angstvor dem Sozialismus verwandelt die Stellung des Menschen im Kapitalismus in eine Verlorenheit, die freilich bei Dostojewskij selbst, infolge seiner Anlehnung an eine pravoslawische Kirchlichkeit und Mystik, - teilweise und weitgehend nur scheinbar - verhüllt bleibt. Natürlich kann diese Entwicklung nicht auf der Dostojewskijschen Anfangsstufe bleiben. Nietzsche, bei dem die Kritik der Unmenschlichkeit des Kapitalismus durch die der kapitalistischen Unkultur ersetzt wird, systematisiert weltanschaulich die Lebensattitüde des »Kellerlochs« von Dostojewskij. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, zu %eigen, ~ie dieses Identifizieren von Kapitalismus und Sozialismus, die ~~~~j~Ü!li.:-;-:,:·" .; 'Panik vor der »Vermassung« im »technischen Zeitalter«, diese Abf,~(N~!~f4~r;,' . Idmung von Fortschritt und Demokratie allmählich in die Hitlersche ~e Demagogie hinüberwächst, um so weniger, als dies bereits in ;1'~'f''!{!'Y'' . -~ Buch »Zerstörung der Vernunft« detailliert dargelegt wurde. wurde ebenfalls gezeigt, daß diese Tendenz auch nach der Nieder~ des Hitlerismus unter veränderten Formen lebendig bleibt. Die iYehaung des Sozialismus steigert sich bis zur Ideologie des Kreuz~ und obwohl Rettung und Bewahrung _der Demokratie zu einer r_
-pon
z~ntralen Parole wird, entsteht eine imm~r stärkere Angst davor, daß dI: Herrschaft der »Elite« durch die »Vermassung« steigend gefährdet wIrd. Und all dies geschieht in der Atmosphäre des Atomzeitalters seiner Weltuntergangstimmung, wobei die wachsende innere Panik oft in ein Dulden oder Fördern des kalten Krieges umschlägt. Diese Linie mußte zu Ende geführt werden, um die letzten Konsequenzen gedanklich deutlich hervortrefen zu lassen, nicht um die führenden Schriftsteller der Dekadenz mit einer solchen Politik - sei diese die Hitlers oder die des kalten Krieges - unmittelbar in Verbindung zu bringen. Jeder weiß, daß Joyce und Kafka viel früher ihre ausschlaggebenden Werke gesch~ffen haben, daß Musil persönlich Antifaschist war etc. Es handelt sich aber hier nicht um eine unmittelbar politische Stellungnahme, so~dern un.!.. die HersteI1~!'~ltan s~YJ.UlgsatmQS.phäre,."a.ls"~iFl!es..aUgemeil'lel'l~~fl&.~.4ie..di~_ rische Widerspiegelung der Wirklichkeit, natürlich vor allem..die..d.er Gegen~~!__!E:_y'~lch5!J:".qk~_\LKQmP..Qn~m~!L..d~La~!r.l!fInl!!!S und Bewertung der Welt ei!l~.4Q.~i~!"~ggLR,Q.lle__ m~len. Ob d~-;;;~~die SCIiriffsteller praktisch-politische Folgerungen zieh~~-und welche, ist augenblicklich für uns eine sekundäre Frage. Es kommt darauf an, ob im gestalteten Weltbild als Ausdruck der objektiven Wirklichkeit das Chaos, als der ihm adäquaten, subjektiven Verhaltungsweise Verlorenheit, Verzweiflung und Angst die vorherrschenden Momente werden, eben jene gedanklichen und emotionalen Elemente der menschlichen Innerlichkeit, auf deren Vorherrschen sowohl der Faschismus wie der kalte Krieg seine Propagandawirkungen basiert. Das Weltbild in dieser Allgemeinheit (mit naturgemäß sehr verschwommenen Konturen) hängt nun aufs engste mit der prinzipiell~n Ablehnung des Sozialismus als Perspektive zusammen. Es handelt sich hier nicht um eine akademische Diskussion über Richtigkeit oder Falschheit sozialistischer Theorien, um ihre Widerlegung etc.; das könnte an sich für die Art, wie ein Schriftsteller seine Gegenwart erfaßt und ausdrückt, gleichgültig sein. Unsere Betrachtungen gehen immer vom Leben aus. Für den Heine der Matratzengruft war diese Frage ebenso die der endgültigen Orientierung im Dickicht der eigenen Lebensprobleme wie für den sich selbst zerfleischenden »Helden« in Dostojewskijs »Kellerloch«. Und noch mehr für die Dichter von heute und für ihre Gestalten. Sie leben ja-gerade in der Unmittelbarkeit i.hres Lebens und ihres L!f>ensbildes -als einsame Individuen, verlassen und auf sich
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selbst gestellt, auf sich selbst zurückgeworfen, inmitten einer alle Lebensprobleme verabstrahierenden »Vermassung«, einer universellen und uniformisierenden Technifizierung. Diese scheinen vorerst nur die Möglichkeit einer individuellen wie gesellschaftlichen Kultur zu gefährden, später mußte man die Grundlagen der eigenen geistigen und moralischen, ja physischen Existenz durch die entfesselten Kräfte einer aus dieser Gesellsmaft herauswachsenden »Unterwelt« als bedroht fühlen, endlich erwuchs - in dem sogenannten Atomzeitalter - die Perspektive eines Untergangs der ganzen Menschheit. Zu diesem Weltbild mußte der Schriftsteller - einerlei, 'ob er ihre gesellschaftlich-geschichtlichen Wurzeln erkannte oder auch nur erkennen wollte - irgendwie Stellung nehmen. Unmittelbar scheinen die meisten so entstehenden Antworten bloß Ausdrücke der Persönlichkeit, der individuellen Haltung der betreffenden 'Schriftsteller zu sein. Unmittelbar betrachtet, ist dies auch richtig, und in diesem Sinne, aber nur iadiesem, steckt in jeder solchen Verhaltungsweise etwas Unaufheb~ die Unmöglichkeit eines jeden Menschen, über seinen Schatten tU springen. Die dichterische Aussage hat jedoch, auch wenn sie vom Geiste des abstraktesten, exklusivsten Individualismus diktiert wird, iöcb zum Objekt: die Beziehung dieses Individuums zur Welt und - in Leiden folgenden Fällen unabhängig davon, was der Betreffende subjektiv meint - beinhaltet die Aussage einerseits die Beziehung, zumindest seine eigene zur Außenwelt, zur Gesellschaft seiner Gegenwart, andererseits entsteht in jeder dichterischen Äußerung unvermeidlich eine gewisse Verallgemeinerung sowohl des Subjekts wie des Objekts: ob er es will oder nicht, spricht jeder Dichter über das Schicksal der Menschheit. Darum ist das gesellschaftliche Wohin? der Menschheit im Werk des Dichters objektiv die Grundlage für jedes noch so abstrakte, nodt so individuelle Wohin? Und weil in der Petiodedes Imperialismus, der Weltkriege, der Weltreaktionen und Weltrevolutionen jede Ant'WOtt auf die Perspektive eine Stellungnahme zum Sozialismus impli:Den, haben wir das Recht, hinter einem noch so individualistischen Zynismus und Nihilismus, hinter einer noch so mystifizierten VerzweifImlgund Angst nach seiner Verneinung als letztem Qrund zu fahnden. 1kuachten wir konkrete Einzelfälle, so wird das, was ganz allgemein ~en vielleicht paradox klingt, zuweilen ga,nz überraschend Har.W"tr sind hier z.B. wiederholt mit der »Statik« Benns, mit seinem .Doppelleben« in Berührung gekommen. In einem Aufsatz, betitelt
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»Können Dichter die Welt ändern?«, nimmt er ohne jede Mystifikation, ganz unavantgardeistisch flach, ja philisterhaft klar zu diesem Problem Stellung. Er sagt: »Nein, mir kommt der Gedanke, ob es nicht weit radikaler, weit revolutionärer und weit mehr die Kraft eines harten und fiten Mannes erfordernder ist, die Menschheit zu lehren: so bist du, und du wirst nie anders sein, so lebst du, so hast· du gelebt, und so wirst du immer leben. Wer Geld hat, wird gesund; wer Macht hat, schwört richtig, wer Gewalt hat, schaff!: das Recht. Das ist die Geschichte! Ecce historia! Hier ist das Heute, nimm seinen Leib und iß und stirb,« Der spießbürgerlich banale, aus flachsten Broschüren längst bekannte Inhalt und seine auf Paradoxie zugespitzte »verkündigende« Form geben den Schlüssel zum Dechiffrieren anderer stark mystifizierter Außerungen; geben vor allem eine Erklärung für den Zynismus, mit dem Benn sich in jeder beliebigen kapitalistischen Wirklichkeit - und sei diese eine Hitlersche - mit möglichstem Komfort einrichtet, mit dem er das Unehrenhafteste als für sich erlaubt, ja als moralisch vorbildlich anerkennt. Ist die gesellschaftliche Welt prinzipiell unveränderbar, ist man einsichtsvoll genug, um diese ihre Beschaffenheit begreifen zu können, was kann man anderes tun, als - in einer behördlich gestatteten Oppositionshaltung - mit den Wölfen zu heulen? Daß aus alledem auch seine dichterische »Statik« verständlicher wird, ist unschwer einzusehen. Diese Zusammenhänge sind aber oft auch dann völlig klar, wenn die Ausdrucksweise ganz in Mystik getaucht erscheint. So leitet - sicher nicht ohne Berechtigung - Alfred Andersch die Entstehung der abstrakten Kunst aus der »instinktiven oder bewußten Reaktion der Kunst auf die Entartung der Idee zur Ideologie« ab. Ihre heutige Geltung beruht darauf: »Da die Gefahr des Rückfalls in ein totalitäres Gesellschaftssystem heute unverändert weiterbesteht, bleibt auch die Kunst der Abstraktion weiter aktuell.« Was bedeutet aber die hier ins Zentrum gerückte Verwandlung der Idee in Ideologie? Vor allem die Notwendigkeit, auf die Weltanschauung des Sozialismus unbedingt ablehnend zu reagieren. Der Sozialismus hat das längst nicht mehr revolutionär gewordene Bürgertum wieder gezwungen, sich auf die gesellschaftlichen Grundlagen und Folgen der »Ideen« zu besinnen. Die geistige Kultur der »machtgeschützten Innerlichkeit« bestand vor allem darin, daß die Ideen für das praktische Zusammenleben der Menschen oder gar für die Pofftik keinerlei Konsequenzen zu haben schienen und nach der 71
herrschenden Auffassung auch keine haben konnten und sollten. Freilich erkannten Genies wie Heine und Dostojewskij - jeder auf seine eigene Weise -, daß mit dem Sozialismus eine neue Epoche für die Beziehung der Idee zur Wirklichkeit beginnt. Man könnte auch sagen: auf höherem Niveau wiederkehrt, denn für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts war es selbstverständlich, daß Ideen von Hobbes oder Milton, von Diderot oder Rousseau in innigster Verbundenheit mit den gesellsdlaftlichen Mächten der Zeit auf die Entscheidungen der Menschen wirksam waren. Erst die übergangszeit der »Sekurität«, die Periode des gesicherten Sieges der Bourgeoisie, der vorläufigen sozialen und ideologischen Schwäche des Proletariats schuf eine zeitweilige, von Andersdt zum zeitlosen Idealzustand stilisierte Lage. GeseJJscb2fllich also, vom Standpunkt des Lebens angesehen, bedeutet diese »Entartung« der Ideen zur Ideologie ein Doppeltes: erstens den seiMmißigen Zusammenhang einer jeden Idee mit der Klasse, deren Werden und Streben sie auszusprechen berufen ist; zweitens, daß der''Kampf der Ideen sich -letzten Endes - im Kampf der Klassen, in der Entwidclung der Gesellschaft, in der Wandlung, in der Revolutio'~ des Seins entscheidet. Für die bürgerliche Intelligenz war diese ,.~ Weltlage, die neue Aktualität einer unausweichlichen Verbunden1ieit 'Von Idee und Praxis bis zum ersten Weltkrieg weitgehend verdeda:. Erst als die mit 1917 einsetzende Revolutionsperiode die objektiv längst existierende Lage offenkundig machte, mußte jeder Bürger so oder so zu ihr Stellung nehmen. Da jedoch die bürgerliche Ideologie dem Sozialismus nichts ideell Gleichwertiges entgegenzusetzen imstande war, sind zu ihrer Selbstverteidigung jene »Ideologien« im pejorativen Sinne entstanden wie die des Hitlerismus oder später die des Atomkrieges, deren zynische Methodologie Burnham am klarsten ausgesprodten hat. Es ist aus der Selbstverteidigung notwendig entsprungen, daß der Sozialismus - erst recht in einem pejorativen Sinn-zur »Ideologie« erklärt wurde. Für die entwickelte, kritische bürgerliche Intelligenz, also auch für die Schriftsteller, ergab sich daraus die Notwendigkeit, wenigstens emotional, gestalterisch zur neuen Weltsituation Stellung zu nehmen. Es ist: jedoch - trotz Not und Bedürfnis - kein neues Ideensystem erwachsen, das man mit dem Pathos einer tiefen inneren überzeugtheitdem des Sozialismus hätte entgegenstellen können. Darum mußte die typische Reaktion entweder eine zynische sein, wie wir sie eben bei Gott-
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fried Benn festgestellt haben, oder eine elementare Panik der Ohnmacht, eine unüberwindliche Angst vor dem Nichts, in dessen mystifizierter Gestalt das apriorische Verwerfen des Neuen bei instinktiver Ablehnung des Alten sowie der neuen Machtrnethoden zu dessen Verteidigung sich zusammenballen mußte. Andersch hat also insofern recht, daß die abstrakte' Kunst nicht schlechthin inhaltlos sei, sondern den Aufstand gegen jene Inhalte, die er als zur Ideologie degradiert nennt, repräsentiere. Wir haben hier jedoch einerseits gezeigt, was dieser von Andersch beschriebene, aber nicht begriffene Prozeß in Wahrheit bedeutet, andererseits tritt aus dem Erhellen dieser Zusammenhänge klar hervor, daß der »Inhalt« dieses Sich-Entziehens, dieser Flucht vor der Wirklichkeit der Gegenwart eben ein Mythos des Nichts ist; das Sich-Entziehen dem gesellschaftlichen Inhalt der Zeit involviert notwendig eine - mythisch verhüllte, zum Mythos aufgebauschte - Vernichtung eines jeden menschlichen Inhalts. Maurice Nadeau gibt in einem Essay über Beckett einen präzisen Kommentar zu diesen Aufstellungen von Andersch. Er sagt, daß das Werk Becketts eine Bahn beschreibt, }>die rasch die geläufigen Bereiche der Literatur hinter sich ließ und immer tiefer in die Zone des Dunkeln, Indifferenzierten, Unausdrückbaren eindrang; in den Grenzbezirk, wo die Sprache zerfällt, Tod und Leben ununterscheidbar werden, Sein und Bewußtsein ins Nichts gleiten und die Bahn sich im Vorraum des Schweigens, d. h. der reinen Realität verliert«. Auch er spricht von einem Protest, dieser wird aber »von niemandem getragen, er hat kein Ziel und keinen Grund«. Darum stellt er über Inhalt und schriftstellerisches Wesen von Becketts Werk folgendes fest; über den Inhalt: }>Eingesenkt in eine Ewigkeit des Nichts, sind wir nichts als Blasen, die eine nach der anderen auf der Oberfläche eines sumpfigen Tümpels platzen, mit einem weichen Geräusch, das wir Existenz nennen.« Und zusammenfassend über das Werk: »Mit Samuel Beckett setzt sich die triumphierende Verneinung im Inneren des Werkes selbst fest und löst es, im gleichen Maße, wie es geschaffen wird, in einen Nebel von Bedeutungslosigkeit auf, so daß am Ende der Autor nicht nur nichts hat sagen wollen, sondern tatsächlich nichts gesagt hat. Der Klang seiner Stimme in unserem Ohr ist unsere Stimme, die endlich gefundene.« Damit ist der Endpunkt jener Bewegung gezeichnet, deren Ausgangspunkt Andersch ~ mit halber Bewußtheit - aufzuzeigen unternahm. Natürtfth gibt es auch heute bürgerliche 'Schriftsteller, denen das Wesen
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dieses Prozesses viel klarer vor Augen steht als jenen, die seinen Ausgangspunkt insofern apologetisieren, als sie im dort erreichten Nichts einen Aufenthaltsort voller geistigen Komforts einrichten wollen. 'Bromfield unternahm es, den Typus Babitt »Vingt ans apre:s« im Roman »Mr. Smith« darzustellen. Dieses künstlerisch keineswegs hervorragende Buch bietet für das uns hier interessierende Zeitbild einzelne Züge nicht ohne Belang. Vor allem betont er, mit Recht, daß die dazwischenliegenden zwanzig Jahre die gesellschaftliche Stellung dieses Typus qualitativ verändert haben: »Alle seine Eigenschaften und sein eigentliches Problem sind gewissermaßen von Krankheit und Verwirrung verdrängt worden, ohne daß die Opfer es wissen ... Babitt wäre auf seine Weise zwar roh, aber gesund gewesen.« (Das stimmt freilich nicht ganz. Sinc1air Lewis hat sehr fein die damals noch unterirdische Morbidität dieses Typus aufgedeckt.) Jetzt verbreitet sich nach Bromfield die Krankheit und erfaßt immer mehr das ganze gesellschaftliche Leben der USA. Er sagt darüber: »Meines Erachtens besteht die Erkrankung unserer Gesellschaft darin, daß es eine Gesellschaft von dummen oder von feigen, extrovertierten Einzelwesen ist, die Clubs, Spielhäuser, Bordelle, Nachtlokale oder Bars aus reiner Angst besuchen. Sie überlassen sich dem Kino, dem Radio, der Television, dem Kabarett, dem Sport, weil sie unausrottbare instinktive Angst haben. Wovor?« Der ganze Roman, der Untergang von Mr. Smith, soll die Antwort auf diese Frage geben. Wir finden tatsächlich bei Bromfield einige interessante Hinweise, die auf den Zusammenhang eines solchen menschlichen Verhaltens mit der avantgardeistischen Kunst belehrende Lichter werfen. So beschreibt er die Erinnerung seines Helden an eine Exkursion (Trinken, Hurerei etc. als Flucht vor der öde des Familienlebens): »Wenn ich an diese Reise zurückdenke, kommt es mir immer vor, daß der ganze Eindruck wie eins jener surrealistischen Gemälde ist, auf denen der ganze Ort ein Gewirr von engen Straßen bildet, mit blendenden Neonlichtern, die >Zum Frohsinn< und >Zum wilden Mann< herausschreien, ein Gewirr von Armen und Händen, die mit nichts zusammenhängen, lauter Phantome, die aus engen Gassen und Eingäng<;n herausgreifen, um den Menschen: auf Seitenwege zu ziehen. Sicher hat es diesen Anschein, wenn man viel getrunken hat.« So untersucht er, warum für Mr.Smith in der Krise seiner bürgerlichen Existenz Proust zum wichtigsten Autor wurde: er war nämlich der einzige, »der Langeweile und Faszination
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gleichzeitig in Schwebe halten kann«. Sein Gefallen an Proust ist letzten Endes ganz unliterarisch: »Es enthüllte sich mir ein Leben, das, wie dekadent es auch sein mochte, mir so reich und spannend schien, wie mein eigenes Alltagsleben von dem Tage an, als ich mich im Spiegel gewahrte, mechanisch, unfruchtbar und leer war.« In dieser letzten Bemerkung wird richtig auf die - relative - Massenbasis des Avantgardeismus hingewiesen. Dieser zeigt nämlich das, was im Alltag der Intellektuellen, die die Gegenwart mit einer sa'lchen Weltanschauung ohne jede Perspektive erleben, alpdruckhaft und öde ist, im Lichte einer verfeinerten Artistik. Während der alte kritische Realismus das - positiv oder negativ - Bedeutende des bürgerlichen Lebens auf die Höhe der Typik erhob und damit dessen Lebensbedeutung sinnfällig und verständlich machte, soll hier gerade die Niedrigkeit und Nichtigkeit des Lebens durch eine rein artistische Interessantheit verklärt werden. Diese Entwicklung fängt schon im Naturalismus an und steigert sich ununterbrochen sowohl in dem immer entleerteren, immer nichtiger gewordenen Inhalt wie im wachsenden Raffinement der Formexperimente. Bromfleld berührt also hier eine wiChtige künstlerische Frage der gesellschaftlichen Entwicklung in det: bürgerlichen Ideologie: die des Zusammenh~~i:t-eines..-Minimp'~~nvollem
Lebe?q~.,J.~~)}~ der bürgerlichen Ges~llschafLmitdem.,Re.alism~,cinerscit§und die d~s'Versd1wmaens soldter Perspektiven mit dem A vantgard;i;;~~-~'i14ir..~i~~!ii:::EIaii'j;ert hat iiiäef'Komp6srfölt'aer'->;Kdücailoii'se;;:;I~~~tale« diesen Prozeß prophetisch vorausgefühlt und gestaltet. Der eigentliche, der realistische Roman endet in der Barrikadennacht, in welcher Frederic Moreau Dussardier mit dem Aufruf »Es lebe die Republik« fallen sieht und im Polizeiagenten seinen früheren »radikalen« Kampfgenossen Senecal erkennt. Der realistische Roman ist zu Ende. Es beginnt für' Frederic Moreau »la recherche du temps perdu«. Der schluß von Bromfields Roman weist w~eder auf Sinc1air Lewis zurück. Diesmal nicht auf »Babitt«, sondern'auf »Arrowsmith«. Bekanntlich wird in diesem Roman das Schicksal der' Wissenschaftler im amerikanischen Kapitalismus dargestellt und die Lösung, die Sinc1air Lewis findet, besteht darin, daß die' wenigen, die sich weder direkt noch indirekt korrumpieren lassen wollen, in die Waldeinsamkeit . flüchte!\-, um dort unabgelenkt und unverdorben der reinen Wisserschaft
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leben zu können. Auch Bromfields Held' flüchtet a~s der Gesellschaft, aus deren für ihn unlösbaren Problemen in die Einsamkeit: auf eine kleine Insel als amerikanische Besatzung im zweiten Weltkrieg, wo er elend zugrunde geht. Der inhaltliche Unterschied der beiden Schidl:sale drüdl:t präzis die soziale Wandlung jener zwanzig Jahre aus, über welche Bromfield spraCh. Der Form nach haben wir es bei Sinclair Lewis mit einer an sich falschen, jedenfalls nicht typischen Perspektive zu tun, die aber, wie sogleich zu zeigen sein wird, ein wahrheitsgetreues Bild der vorangegangenen gesellschaftlichen Zusammenhänge gestattet, ja fördert. Bei Bromfield wird »dasselbe« zum Symbol eines notwendigen und totalen Bankrotts. Dieser negative Hintergrund muß, wenigstens in seinen entscheidenden Zügen, klar vor uns stehen, wenn wir unseren früher skizzierten historischen überblick der Perspektivenprobleme im bürgerlichen Realismus bis zur Gegenwart weiterführen wollen. Bedeutende Schriftstell~r ~er übergangszeit versuchten das hier entstehende Neue auch begnfflich zu erfassen. Schon Ibsen sagte: Fragen ist mein Amt, nicht aber Antworten zu geben. Und Tschechow hat dieses Problem dahin konkretisiert: nur die Frage des Dichters muß eine vernünftige sein; die Antworten sogar eines Tolstojs seien in vielen Fällen unvernünftige; das muß aber die Gestaltung, die sich auf eine vernünftige Frage aufbaut, nicht zerstören, ja nicht einmal wesentlich stören. Die früher gestre!ften Beispiele aus der Praxis von Sincliir Lewis illustrie~en deutl~ch diese Lage. Wir haben bereits auf die Falschheit der Antwort 1m »Airowsmith « hingewiesen; die Perspektive des »Babitt«, daß die . Söhne die für die Väter unlösbaren Fragen richtig beantworten werden, ist von einer geradezu törichten Naivität. Trotzdem - und dies bestätigt die treffsichere Richtigkeit des 'Standpunkts von Ibsen u.nd Tschechow - beinhaltet eine Ablehnung des Gehalts der PerspektIve· in bei den Romanen Sinclair Lewis' keine Kritik dessen, was in den Werken selbst gestaltet vorliegt. Da also Ibsen und Tschechow recht zu haben scheinen - worin besteht in ihrem Sinn die Vernünftigkeit einer Frage? In ihrer allgemeinsten Form ist die Beantwortung ziemlich einfach. Eine vernünftige Frage ist die; welche einen archimedischen Punkt zur übersicht der Problematik der Gegenwart bietet, welche dem Autor die Fähigkeit und den Mut dazu verleiht, das Aufdedl:en dieser .Problematik in ihrer wahren, konkreten und unverzerrten Gestalt radikal zu Ende zu führen, a:lle 76
ihre Möglichkeiten, Bestimmungen, Verzweigungen, typischen und exzentrischen Erscheinungsweisen reich zu entfalten. Subjektiv angesehen, ist das Kriterium eines solchen archimedischen Punktes heute die überwindung der Angst vor der Wirklichkeit. Das Korrelat von der Seite des Subjekts ist: die Wirklichkeit nicht mehr als Chaos zu betrachten, sondern ihre Gesetzmäßigkeiten, ihre Entwicklungsrichtungen, die Rolle des Menschen in ihnen zu erkennen. Hier hängt die Tschechowsche vernünftige Frage mit unserer früheren Feststellung vom apriorischen Verneinen des Sozialismus als Hindernis einer realistischen Darstellung der Wirklichkeit zusammen. Denn .die Gestaltung von Chaos und Angst setzt notwendig, wie wir wiederholt feststellen konnten, ein Verschwindenlassen der konkreten gesellschaftlichen Kategorien aus der Umwelt des Menschen, aus dessen Verhalten zur Wirklichkeit voraus. Hier ist also deutlich sichtbar, was wir aus verschiedenen theoretischen Kußerungen und Gestaltungsweisen des Avantgardeismus bereits entnehmen konnten, daß die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit in der Richtung eines Dehistorisierens, eines Desozialisierens subjektiviert wird. Chaos'·un4-.Ang,st sind des):I;J,U.),.in..ihrer.. küns.tle.r.i$IDJ"n~!l~mig,~IJ.?~E~~}t!?~E,!~~!~h",!lQ,t wendige Fotg~?.-~i1J.es,..sokhen.Subjektivierens. Ihre spezifischen' InhaIti;crie'spezifische Art ihres Stimmungs gehalts, ihrer weltanschaulichen Basis entstammen jedoch aus der sehr konkreten gesellschaftlichen Lage der Intelligenz auf der heutigen Stufe der imperialistischen Entwicklung: daß sie nämlich eine sozialistische Perspektive leidenschaftlich oder zynisch ablehnt, ihr aber keine bürgerliche entgegenzustellen vermag, da sie alle Versuche der apologetischen Ideologen des Imperialismus, theoretisch eine neue Perspektive der kapitalistischen Entwicklung aufzustellen - wenigstens im dichterischen Schaffen -, ebenfalls verneint, Sogar ein so leidenschaftlicher Gegner des Sozialismus wie der Apostat Koestler bekennt nach seiner Abkehr 'vom Kommunismus, daß Gottes Thron leersteht. Diese schroffe Diszwischen der offiziellen Ideologie des gegenwärtigen Imperia(soziale Demagogie Hitlers, Revolution der Manager bei OUIJLlll'Ull. demokratischer Kapitalismus heute etc.) und zwischen der der führenden Literatur zum Ausdruck gelangenden Weltanschauist eine wichtige Besonderheit der gegenwärtigen Entwicklungsdarum gewinnt unsere »magere« und »abstrakte« Bestimmung 77
vom Ni~...er.nci.nen....des.S02iali.illl.1!?Jlls_~~tanschauliche Grundlage . eine:.!.~alistischen. Literatur··· unserer. Zeit,.,. k~nkretlsierC"aurCh- die Tschechowsche vernünftige Frage, eine sehr große Bedeutung. Um sie aber richtig anwenden zu können, darf der historische Charakter dieses Kriteriums für keinen Augenblick vergessen werden. Auch hier handelt es sich um eine sich in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit konkret entfaltende Tendenz und nie um eine starre Scheidung zwischen zwei metaphysischen Entitäten. Unser Kriterium setzt sich in der Gegenwart immer stärker, immer entschiedener durch. Die Entwicklung der einzelnen Kulturen ist aber eine außerordentlich ungleich-' mäßige. Es gibt z. B. Länder, in denen die überreste des Feudalismus noch eine derart drückende, ganze Lebenskreise beherrschende Macht ausüben, daß der literarische Kampf gegen sie noch ganz unproblematisch im Zeichen einer Perspektive der Umwandlung ins Bürgerliche sich abspielen kann. Man denke hur an ein so bedeutendes realistisches Drama wie »Bernarda Albas Haus« von Garcia Lorca, das geistig wie stilistisch vieles mit den Dramen von Ostrowski (»Gewitter«) gemein hat, obwohl es dichterisch-organisch und spontan aus der spanischen Gesellschaft unserer Tage herausgewachsen ist. Solche Erscheinungen werden naturgemäß in der heutigen europäischen Literatur nur sporadisch zu finden sein. Um so größere Wichtigkeit können sie bei den sich befreienden, bisher zurückgebliebenen Völkern erlangen. Freilich darf auch eine solche Aussage nicht schematisch verallgemeinert werden: Entwicklungen wie z. ß; die indische schlagen zur Erlangung einer modernen Zivilisation, zur Liquidierung der Reste ihres eigenen Mittelalters Wege ein, in denen der Sozialismus zumindest als eines der Elemente bereits figuriert. Die Eigenart solcher gesellschaftlichen Umwälzungen·wird höchstwahrscheinlich auch eigenartige, in abstrakte Schemata nicht hineinpassende literarische Widerspiegelungen erhalten. Jedoch auch innerhalb des entwickelten Kapitalismus muß die historische Tendenzhaftigkeit unserer These als Anleitung: immer konkret zu bleiben, berücksichtigt werden. Wir haben uns früher auf Sinclair Lewis berufen. Ohne Frage ist seine Perspektive'stets eine rein bürgerliche. Ihr liegen Illusionen in bezug auf eine Fähigkeit zur inneren Erneuerung des Bürgertums als solches zugrunde. Wo dies zum Hauptinhalt der Gestaltung wird (»Das kann bei uns nicht gesmehen«), entsteht ein mittelmäßiges Werk, wo es nur als - zumeist sehr ab-
- Perspektive erscheint, bewahrheitet sich die Tschechowsme rernu:nttw·~e Frage, hier jedoch letzten Endes in unserem Sinne, weil stark illusionäre Sicherheit von Sinclair Lewis ein feindseliges des Sozialismus, sogar der Kommunisten ausschließt und über gelegentliche ironische Kritiken ihrer Äußerungsweise hinist die Lage bei Joseph Conrad. Dieser ist persönlim dem Sozialismus entsmieden feindlich gesinnt, und seine Einstellung äußert sich - manme Verzerrung verursachend einigen seiner Werke (»Der Nigger von Narzissus«, »Mit westlichen « etc.). In seinen wirklichen Meisterwerken geht jedoch eine tn,"rI< UTj' Verschiebung vor sich: es entstehen dichterische Fragestellungen, in denen sein unerschütterlicher Glaube an den Kapitalismus eine solche Gestalt annimmt, daß im konkreten Geschehen des Werks dessen gesellschaftliche Problematik nicht einmal am Horizont wahrnehmbar werden kann. Die Helden werden in rein individuellmoralische Konflikte hineingestellt, .die ihr individuelles Sich-Bewähren oder Versagen zeigen. Verallgemeinert könnten natürlich solche Konflikte auch eine gener~lle gesellschaftliche Bedeutung erlangen; eine ,Verallgemeinerung in dieser Richtung liegt aber außerhalb des unmittelbar-dichterischen Rahmens der Gestaltung. Dadurch wird einerseits eine immanente Vollendung möglim, andererseits schließt Conrad gerade dadurch die Gestaltung der intensiven Totalität des Lebens aus, beengt also die Form aufs Novellistische im Gegensatz zum Roman. Man denke etwa an »Taifun«, an die »Schattenlinie«; trotz seines Umfangs hat auch »Lord Jim« in seiner wesentlichen innerlichen Geformheit einen novellistischen Charakter. Die »vernünftige Frage« Conrads, die in diesem Fall ein Ausschließen der großen gesellschaftlichen Probleme der Zeit, sogar vom Horizont des Gestaltens beinhaltet, bringt hier einen »Sieg des Realismus« hervor, indem alle jene weltanschaulichen Momente des Autors aus dem Werk verschwinden, die eine wahrheitsgemäße Darstellung des betreffenden beschränkten Ausschnitts aus dem Leben der Gegenwart hemmen oder gar verkümmern könnten. ' Die Methode einer solchen Analyse beruht auf der Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Weltanschauung und Gestaltung. Die Weltanschauung hat hier eine doppelte Bedeutung: erstens, wie der Schrifts~ler für sich und für andel'e"seine Stellung zu den Lebens79
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problemen unmittelbar und, zugleich alles Weitere vermittelnd, zu denen seiner Zeit bewußt formuliert; zweitens, wie er instinktiv und mit künstlerischer Bewußtheit diese Erscheinungen erfaßt undgestaltet. Schon Engels hat gezeigt, daß zwischen beiden tiefgreifende Widersprüche obwalten können. (Vergleiche meine Analysen von Balzac und Tolstoj.) Diese Widersprüche treten in verschiedenen Perioden verschieden auf; auch in derselben Periode erscheinen· sie, je nach der Persönlichkeit des Schriftstellers, je nach der Art seines Verhaltens zum Leben außerord.entlich variiert. Nur die heute modische Entgegensetzung von Erkenntnis und Emotion muß abgelehnt werden. Sie kann natürlich in gewissen Persönlichkeiten auftauchen, wird jedoch für das Werk unfruchtbar sein. Bei produktiven Widersprüchen stehen an beiden Seiten Erkenntnis eng verbunden mit Emotion, Emotion gewordene Erkenntnis etc. (man denke an den Widerspruch bei Heine). Mit einer solchen Methode müßte man auch die Werke von Hemingway, Steinbeck, Thomas Wolfe etc. analysieren - natürlich bei jedem gesondert, die für ihn spezifischen Momente berücksichtigen, denn unsere Analyse Conrads soll nur einen Einzelfall charakterisieren, kein Vorbild, kein Schema sein -, und die historisch-tendenzielle Wahrheit unserer These würde sich in jedem Fall in besonderer Form bewahrheiten. Die historische Wesensart dieser Wahrheit läßt sich auch an Thomas Manns Entwicklung erweisen. Die »Buddenbrooks« gehören noch in dieser Hinsicht der früheren Entwicklungsetappe an. Erst unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg und während seiner Dauer taucht die Stellungnahme zum Sozialismus als konkretes, die gestaltete Welt und die W eltgestaltu~g bestimmendes Problem bei ihm auf und beherrscht seit dem »Zauberberg« geistig wie kompositionell sein ganzes Lebenswerk. So gewinnt die negativ formulierte vernünftige Frage für die realistische Literatur der Gegenwart (keine Ablehnung apriori des Sozialismus) ihre dichterisch-weltanschauliche Erfüllung in einer ergänzenden Negativität: in der überwindung von Angst und Chaos. Daß in diesen der zentrale, formbestimmende subjektive und objektive Gehalt der avantgardeistischen Literatur konzentriert vorliegt, ist bereits verschiedentlich dargelegt worden. Es ist auch unschwer einzusehen, daß die prinzipiell chaotische Weh als Gehalt letzten Endes - freilich durch viele und verwickelte Vermittlungen - auf das Fehlen 80
gesellschaftlichen, also gesamtmenschlichen Perspektive zurüCkgeht. Selbsttäuschung des Avantgardeismus und seiner Theoretiker bein dieser Hinsicht auf einem eigenartigen und innerlich widerspruchsvollen Dogmatismus: sie, die in ihrer Mehrzahl Verkünder des äußersten Subjektivismus sind, betrachten die Unbeweglichkeit des Wesens der Wirklichkeit oder wenigstens die Richtungslosigkeit, .Sinnlosigkeit ihrer oberflächlichen Oszillationen als eine absolut evi·.dente, keines Beweises bedürftige Wahrheit. Natürlich spielt sich jede Bewegung in der Außenwelt, jede Gesetzlichkeit in ihr unabhängig von unserem Bewußtsein ab. Ob wir jedoch bestimmte Phänomene, ihre notwendige Verknüpfung etc. wahrnehmen oder erkennen, darin spielt schon das menschliche Subjekt eine unvermeidliche Rolle. Hegel sagt mit Recht: »Wer die Wcelt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an; beides ist in Wechselbestimmung.« Es ist demnach nicht das dogmatisch angenommene Chaos der Welt der wirkliche Grund der Angst als herrschenden Affekts, sondern umgekehrt: die Unfähigkeit, Richtung und Gesetzlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu erblicken, bringt ein Verhalten zur Wirklichkeit hervor, dessen emotioneller Ausdruck die Angst ist. Selbstverständlich nährt sich die Angst nunmehr von Welterlebnissen, diese sind jedoch in ihrem· Wesen zugleich Selbsterlebnisse, deren auslösender Anlaß jeweilig eine in obigem Sinne interpretierte Wirklichkeit ist. Kierkegaard, der in mancher Hinsicht ein »prophetischer« Vorläufer solcher heutigen Erlebnistendenzen und jedenfalls ein kundiger Experte für das Gebiet der Angst ist, sagt über diese: »... daß das Nichts, welches der Gegenstand der Angst ist, gleichsam mehr und mehr ein Etwas wird ... Das Nichts der Angst ist also hier ein Komplex von Ahnungen, die sich in sich selbst reflektieren, dem Individuum näher und näher treten ... « Es handelt sich also, im Gegensatz zu den eigenen dogmatischen Theorien des Avantgardeismus, um die ideologische Priorität der Angst vor dem Chaos im Weltbild. Dieses ist die ideologische Folge jener, wobei natürlich klar sein muß, daß die Angst, als apriori der Weltbetrachtung, als das Subjekt beherrschender Grundaffekt, selbst das Produkt einer gesellschaftlichen Entwicklung ist: der Wirkung der im Imperialismus zustande gekommenen sozialen Struktur auf eine bestimmte Schicht der bürgerlichen Intelligenz. Die ausgesprochene oder als selbstverständlich angenommene Ablehnung des S
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schlagenen Tür, eines fallenden Vorhangs vor jeder Zukunft, wodurch für dieses Subjekt derWeltzustand von Angst und Chaos etwas Perennierendes, von Ewigkeit her Vorherbestimmtes wird. So werden die gesellschaftlichen Bestimmungen der Welt und des Menschen ausgelöscht. Es scheint uns überflüssig, den so entstandenen Ideologiekomplex nochmals eingehend zu zerlegen: wir haben ja eingangs die beiden Ontologien - die des Aristoteles und die des Existentialismus - miteinander kontrastiert. Jetzt sehen wir bloß den dort festgestellten Tatbestand in einem umfassenderen Zusammenhang. Von hier aus ist die das gestaltete Menschen- und Weltbild verarmende, verkümmernde und verzerrende Wirkung der Angst als Dominante noch deutlicher sichtbar. Sie schließt mit einer apriorischen Selbstverständlichkeit alles aus, was nicht unmittelbar auf sie bezogen werden kann, vor allem, was aus ihrer sozialen Genesis naturgemäß folgt, alles, was· dem· Menschen und seiner Umwelt eine gesellschaftliche Physiognomie .geben würde. Diese Entwicklung geht durch die ganze imperialistische Periode durch. Sie ist latent bereits im Naturalismus vorhanden und gipfelt im Stil des späten Strindberg. Früher hatte sie schon in der Dramatik des jungen Maeterlinck eine selbständige künstlerische Gestalt angenommen. Die Angst, die als bange Erwartung, gegenstandslose Sehnsucht schon den Gehalt vieler naturalistischer Werke gebildet hat, wird hier zum ausschließlichen, zum alleinigen Gegenstand, dessen Allmacht sämtliche Bestrebungen der Menschen verdrängt und a)s Warten überhaupt, als Angst überhaupt sich zu einer ~bsoluten Alleinherrschaft erhebt. Bei allen Verschiedenheiten der Schreibweise, der konkret erweckten Stimmung beherrscht diese Thematik und ihr Stil. auch z. B. das bekannte Drama Becketts »Warten auf Godot«. Das Neue in den entfalteten Stadien dieser Tendenz besteht in der wachsenden Ausschließlichkeit, im Radikalismus, ja oft in der Brutalität, mit welcher das Eliminieren der konkret gesellschaftlichen Bestimmungen sich durchsetzt. So z. B. in der Reduktion der Erotik auf das Phallische bei D. H. Lawrence, die in unseren Tagen eine unwahrscheinliche Steigerung in den Werken von Jienry Miller erhält. Der deutsche Kritiker Helmuth Uhlig beschreibt dessen Zentralproblem mit folgenden Worten: »Verachtung der Arbeit, Alkohol als Betäubungsmittel oder Stimulans, Koitus als Lebensinhalt und Lebensstil, abwechslungsvoll, reizergeben, virulent.« Und er führt als Ergänzung 82
die 'Selbstcharakteristik Millers an: »Die ganze Welt schien wie ein pornographischer Film abzurollen, dessen tragisches Thema Impotenz heißt.« Uhlig bemerkt dazu, daß ähnliche Probleme auch bei Broch, Kafka, Musil und anderen auftauchen, und weist mit Recht darauf hin, daß es sich in den wenigsten Fällen um körperliche Impotenz handelt, vielmehr um »eine seelische, ein Versagen des Mannes im Umgang mit der Frau, ein Verrat an der Frau eigentlich, die sich - wie hier bei Miller - zum Objekt erniedrigt sieht, dessen außerfleischliche Qualitäten nicht mehr geachtet werden«. Hier ist der von uns geschilderte Prozeß, in der Aussage eines der sozialistischen Voreingenommenheit unverdächtigen Zeugen, deutlich sichtbar. Natürlich ist diese Tendenz bei Persönlichkeiten, die geistig und künstlerisch ein ganz anderes Gewicht haben als Miller, weit komplizierter und vermittelter; in den Grundzügen bleibt aber das Wesentliche unverändert. Dabei muß es sich, wie das frühere Beispiel Becketts zeigt, in einer solchen Reduktion, die letzten Endes auf die Angst zurückgeführt werden kann, keineswegs unbedingt um erotisch sexuelle Probleme handeln. Dadurch ist jedoch - in letzter Instanz - der Stil bestimmt. Wir haben früher in anderen Zusammenhängen die Aufmerksamkeit auf das Problem der Details, ihrer Beziehung zum Wesen der gestalteten Welt gelenkt und haben darauf hingewiesen, daß das weltanschauliche Entfernen der Prinzipien der Auswahl den Stil des Avantgardeismus auch dann in die Richtung eines Naturalismus treibt, wenn dessen äußere, formale Kennzeichen diesem unmittelbar völlig widersprechend zu sein scheinen. Jetzt können wir diese vorläufige Formulierung weiter konkretisieren und damit dialektisch berichtigen: das Prinzip der Wahl, das aus dem jetzt erfaßten Wesen des avantgardeistischen Weltbilds sich herauszubilden den Anschein hat, ist nur roh inhaltlich und zugleich abstrakt-formalistisch das einer die gestaltete Welt wirklich ordnenden Wahl. Während in der echten Wahl das gesellschaftlich und menschlich Unwesentliche ausgeschieden wird, um simultan damit das Bedeutungsvolle hervorzuheben;. bedeutet hier der formelle Akt der Wahl ein Verstümmeln und Zerstückeln des wirklichen Wesens des Menschen (bei Miller wird alles weggeschnitten, was über die bloße Sexualität hinausgeht). Diese Pseudowahl bedeutet also ein Herunternivellieren des Menschen, ein Ausmerzen des menschlich Wesentlichen. weisen die Probleme der Details, des Naturalismus über sich tttinaus. Wenn, wie wir gez~igt --, haben, die Gesellschaftlichkeit 83
vom Wesen des Menschen prinzipiell unabtreimbar ist, so erhält jedes bedeutsame Detail diese seine Wesensart gerade daher, daß es zugleich die widerspruchsvolle Einheit und die dialektische Spannung zwischen . dem Menschen als Individuum und als Gesellschaftswesen in ein sinnf"allig-evokatives Phänomen vereinigt. Diese Spannung von Einheit und Widersprüchlichkeit im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinem Mitmenschen, zur Gesellschaft, die mit der Entwicklung des Kapitalismus objektiv immer stärker wird und immer kompliziertere, weitervermittelte Beziehungen schaff\;, bestimmt die großen Aufgaben einer echt realistischen Kunst unserer Tage: nämlich in diesen verwickelten Entwicklungstendenzen Knotenpunkte zu finden, die deren Wesen ohne schablonisierende Vereinfachung sinnfällig zu machen imstande sind. Die echt realistischen Details enthalten also, sehr oft ganz unausgesprochen, auch das Werturteil darüber, was eine solche Verflechtung für das Schicksal des Menschen als Individuum wie als Gesellschaftswesen zu bedeuten hat. Das Problem von normal und verzerrt ist darin ebenfalls mitenthaIten. Da beide Kategorien Bestimmungen gerade dieses Verhältnisses zwischen den Menschen als Einzel- und Gesellschaftswesen sind, können sie nur in einer Gestaltungsweise zur Geltung kommen, die beide Momente der menschlichen Existenz in gleicher Weise, in der dialektisch richtigen Proportionalität berücksichtigt. Darum ist jeder echte Realismus, mag er formell betrachtet noch so reich an Details sein, himmelweit vom Naturalismus entfernt, während jedes Wegabstrahieren von der dialektischen Totalität der gesellschaftlich-individuellen Beschaffenheit des Menschen eine sich dem Naturalismus nähernde Wahllosigkeit und ein Nivellieren hervorbringt, sich außerstande setzt, die Verzerrungen des menschlichen Wesens, seiner Beziehungen zu seinen Mitmenschen objektiv, d. h. als Verzerrungen, zu spiegeln und zu gestalten. Wir sind mit alledem auf das bereits behandelte tief unkünstlerische, ja antikünstlerische Wesen des Avantgardeismus zurückgekommen. Die historische Legitimität seiner Existenz beruht darauf, daß die Verzerrung des Menschen, das Antikünstlerischwerden der menschlichen Beziehungen ein notwendiges Produkt der kapitalistischen Gesellschaft ist. Indem jedoch der Avantgardeismus alldies in, seiner verzerrten Unmittelbarkeit widerspiegelt, indem er Formen ersinnt, die diese Tendenzen als alleinherrschende Mächte des Lebens zum Ausdruck 84
bnng,en. verzerrt er die Verzerrtheit über deren Phänomenalität in der objektiven Wirklichkeit hinaus, läßt alle Gegenkräfte und Gegentendenzen, die in ihr real wirksam sind, als unbeträchtliche, als ontolo.gisch nicht relevante verschwinden . ~s ~st selbstredend volJauf verständlich, daß das Erlebnis der kapita. listIschen Gesellschaft der Gegenwart, besonders bei den Intellektuellen,die Affekte der Angst, der Abscheu, der Verlorenheit; des Mißtrauens sich selbst und den anderen gegenüber, der Verachtung und Selbstverachtung, der Verzweiflung etc. auslöst. Ja, eine Darstellung der Wirklichkeit, ohne auch solche Emotionen hervorzurufen, ohne eine Gestaltung ihrer selbst, müßte jede Widerspiegelung der Welt von heute unwahr, schönfärberisch werden. Es fragt sich also nicht: ist dies alles in der Wirklichkeit wirklich vorhanden? Es fragt sich bloß: ist dies die ganze Wirklichkeit? Es fragt sich nicht: soll all dies nicht dargestellt werden? Es fragt sich bloß: soll dabei stehengeblieben werden? . Damit münden unsere ästhetischen Analysen nochmals in Weltanschauungsfragen: das Stehenbleiben bei der panischen Angst als Urerlebnis des Menschen der Gegenwart beinhaltet - einerlei ob es als solches bewußt wird - ein unmittelbar-unkritisches Verhalten des Schriftstellers zum Leben seiner Zeit. Unmittelbarkeit muß hier - wie ich vor beinahe zwei Jahrzehnten in meinem Briefwechsel mit Anna Seghers auseinandergesetzt habe - objektiv, philosophisch verstanden werden, als ein Verhalten, das die unmittelbar vorhandenen Oberflächenerscheinungen: des ökonomischen und sozialen Lebens ohne jede Kritik, so wie sie eben für den ersten Blick, für das erste Erlebnis gegeben sind, einfach hinnimmt. Ein solches Verhalten, wie ich damals ausführte; kann sogar mit einer weitausgreifenden wissenschaftlichen Arbeit vereinbar sein, deren Fundamente jedoch eben, weil kritisch nicht untersucht, in diesem Sinne bloß unmittelbare sein müssen. Noch leichter ist eine formell bedeutsame künstlerische Leistung denkbar, die in diesem Sinne die' eigenen Seinsgrundlage~ völlig ununtersucht läßt. Die komplizierte Wechselwirkung, wie die Sucht zur Unmittelbarkeit spontan aus der Lage des Künstlers im Kapitalismus erwächst, wie eine solche Unmittelbarkeit spontan und bewußt gehätschelt und groß gezüchtet wird, um von einer Kritik der Seinsbasis abzulenken, etc., können wir hier nicht ausführlich behandeln. Es kam nur darauf an, den Gegensatz voa'-unmittelbar und kritisch auch in diesem Sinne festzustellen, 85
nachdem diese Frage von der künstlerischen Seite bereits behandelt wurde; vor allem um die Gesamtlage auch philosophisch zu klären. Es geschah aber auch, um die von uns anfangs aufgezeigte Konvergenz zwischen echtem Realismus,4~xJqitisch".zu",~~i!l:~m Lebensmilieu steht und 'dam1t--dessen'U~;itt~ibarkeitkündigt,. undz;isdje-ri~:~eiii"Kamp1
ufltden'F~ied~t:i;"d~; ~b~~f~ii~ei~~";öiJ;~;~it~~;ch~~iich~ W-;;~d~ng gegen'-die'Unffiitfelbarkeii' .d~~ 'fitaleP:''i{ileg~::~~ilgr~-R{e~:I[~~~'~~~9~-
mals iris'Ged~cli.tnis zu rufen; zugleich um den Kontrast mit der weltansCliäUll:c1lill'iKritisdie-n, In dlesero;~i~~~lb'arkei~~~~~~~l~ib~den W e;~~;~~tdesAvantgarifelsmü's"n:öCh~~r~"i;~-ÜCht'zü-rüCken-:------~ Franz - Kifkil' isiifer'Krässlkerd:i'eses'Stehenbleibensoetaerolinden und panischen Angst :v__~2:~i....\y'~r}'lkh~_Seine einzigartige Stellung in der heutigen Literatur beruht darauf, daß ~_dieses Lebensgefühl direktund.einJach zum Ausdruck bringt; esfeIllen bei ihm die formalistischen, techni~i~tlsdien~'manienertenDarStellungsformen des Grundgehalts. Diesersel~st iQ seil1eruschUsht.en,Unmitt-€~eit bestimmt sein
~~g~~;SF~~~~:d:~eb~d~~~:~~!Sr~k~~~'~f::;:&:~~·ü!iäiii'·~~~ _ subjektiv angesenen:: ii:l"nodl'noherem'14ä'ße--rn'Cllese!lamilie, denn es gibt wenige Schriftsteller, bei-denen",die TIrsprÜnglichkeit...ul:l(LElementarität im Erfassen und in der Wiedergabe der.~~I~l,d,~~.~E,::l~?:~~ vöf"i1irer Nodihiedäg~W\~~iiilie.iLSC;:gew-a:kig:=ausgebildet..YLäx~_:wj~Lip-,:, ihm/Gerade-1reute;-;enn die experimentierende oder schablonisierende ROUtlne die Mehrzahl sowohl der Schreibenden wie der Lesenden beherrscht, muß dieser vehemente Impetus einen gewaltigen Eindruck machen. Die Intensität einer solchen Dichtung wird noch dadurch gesteigert, daß nimt.1ll1.Ldas...darstellerische.GefiihLv..on.eiueI.1leute_s,Qnst. selten vorhandenen schlichten,_.A-ufrichtigkeit-istr-sondem.._alldL.die.,. gestalt~te Weh eine dies~_g,c:f~~Lent~.P!~9?:e!lß~,~i.~f.~~h~i,t ... l}J1d Selb;tverständlidikeit ..erhiit. Darin liegt die tiefste Originalität Kafkas.Kierkegaard sagt einmal: »Je originaler ein Mensch ist, desto tiefer ist die Angst in ihm.« K;I,.fkag.estalt.et. nnn diese AngstJmAA~, was sie mit unwiderstehlicher Zwangsläufig!ei.ta.~slöstJ4i~~,:::_~~eb lieh - ihr' ent;p~~thel1de;sie'a~~l~se~4"ej,tr),lkt:1,lr"und.Gegenstintligkeit der .. objektiven Wirklichkeit .miteiner"sel-chen~--echtel:l .. QJjgill~fuät. Nicht das Erfinden bis dahin noch nicht vorhan,dener formaler Ausdrucksmittel ist die künstlerische Grundlage der Einzigartig~~~_~~ kas , sondern die zugleich .s\lggestiY-e,und.E-mpfrrung'her'yorrufende """ ...,,---86
.~y,i4e.11~seiner_gege.t?::!~~~S.~~!L1:!,g4",.~l!(i'.,Reaktion seiner Gestalten auf diese. »Nicht daSUngeheuerliche schockiert~;, sa:gi'aaruoer"Aaor-fio »sondern'aesseICSeIJ)stverstänclriChkelt:'~~''''---'--''-''''"-''''" ,-""'--,---.".~,-"'~
Die-.-welfaesneuirger;K~pit;Ü~~~~';Js Hölle und die Ohnmacht alles MenscEIicnel11t~~r . M.;[grrdteseilliiter;;~it~g~g~lib,;'~~;iib!:'d~;'G;h~lt def Ka!~~~§~~.!?i~!.t!.~g. Die Schlichtheit und Aufrichtigkeit s~f~~ AmaruCKs ist - wie immer in der Kumt - ein Ergebnis komplizierter, sich kreuzender, widerspruchsvoller Tendenzen. Wir heben hier nur ein Momeninervor:'-Xatki'schrieb-iu-eTiier Zeit, in welcher der objektive gesellschaftliche Gegenstal1cl~~~l1e,t:,.!\'!1g~.t.hisroris.ch_n.o.m_ weit von einer konkreten Voll entfaltung ~~.r. Er schildert und erheb';-f~s Teuftisch:e'als'ö"rud1t-aIe'1{onl~~et'-~;;d tatsächlich teuflische Weh des ...............,. "., . ·. 'a'-_...,_.. " " ..- ".- ....... _.. _ ... " ..-, '.. _ .. -., ,--.... ,'., ......., ...- .. ,-.... , .... ,.. ".,,,.----,,..Faschl~mus, son ern(lle.aJ~e.Habsburgex..Monal:.!:hie.,~r.hält im Licht der KatkasChen >~prophetischen« A?~~!.5!~~~~,g(!~p.e.,P:~ü~,ffi~j~~g~n,~~Kn:. digkeit;'Die-Unaetinierbarkert~'der Angst erhält damit ein künstlerisch a-däqilaies Objekt gerade in' dieser fast in Prager Lokalkolorit eingetauchten .geistig~seelischen, überhistorisch-zeitlos.en. Unbestimmtheit. Kafki" profiti~~1: --~'[;~--;~~'-;i~~~-'g~~d;idtcli~~~' Lage -i~ d~ppeit;r 'Weise: einerseits erhalten die konkreten Einzelheiten infolge ihrer unmittelbaren Verwurzeltheit im Altösterreichischen ein sinnliches hie et nune, den Anschein eines gesellschaftlichen Daseins; andererseits ist die Unbestimmtheit-der-.lewhinnigea ..Qhjektivität ... mit.der__ echte.n Naiv~tät des bloßen Ahnens, des tatsächlichen Nichtwissens gestaltet; sie kan'n--därumorgari1sClierln"ern~'~~ewrge~;-';;'coiiaition"humäine'<;1iin~ .' überwachsen als später entstandene Widersplege[üngen'-aer teuflischen, angstauslösendeICg~§dfS:Ch~iid;~~-=wl~kllchk~i:~~äw.=;-eI~er befei~skoiikret'vorhan:dene gesellschaftliche Bestimmungen. kii;~iicl1 ~-'j'r"
eliminiert,'aürCIl-förmaliS'!is(he"Ai:lsclruCksm'itter-iäHiiiiert·"veraeckt
werden ffiiißten;"'ürrf'elfie·sölche'zeitlösi:'SctiiCksalhäfl:igkeiritef"mens'clt-"" lichen E:idstenz- überhaupt darstelletl zu können. Das hat eine ungewöhnlich st~!~~~~Jnte..mit.ät..,de.r unmittelbaren Wirkung, der ,Suggestionskraft zur Folge, kann aber den -letzten Endes,,=..allego,r.ischen Charäkteraüdi-aeS"K'äfkas'cti'eiinic'-et"n;:;:;;:;;·'-;;i~~-~ufheben. Denn die grOßartIg -äUsdRiCksvollen·-i5et~Ü~---b~if~h~~'--"S1Ch~
eine-Thm-=--iegeniioor::tr~nsiernfeiiie-::---wfrkiidlkeri;:.äUr:CIäS-:::aIiniiilgiYQJl
»Wesen« der.
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eigenen Daseins, .sondern_. ::-.}e~,~t~11:.~!l.~~~. . ::-,~I~~~."g,h.iffJ::~~f)ichelle,jpes u.pfaßbaren]ensß'lis.Jeevidenter al$o ihre unmittelbar evokative K~~fr :;i~d, desto tiefer .",!iq:Qie~er.AbgnlIl.g,gi!§i9:Y:Qig:fiijgtti$.e'Ldie al1egörisClietYis~~~R,~~~~:z;",!~~,e.!l.?~~..~~~L~!Rn. Däs echte'Gegenhild zu diesem faszinierenden Irrlicht auf dem Wege einer Literatur, die das Spezifische unserer Zeit vom bürgerlichen Standpunkt ausdrücken will, ist Thomas Mann. Der Verfasser dieser Zeilen hat in anderen Zusammenhängen das Werk Thomas Manns so eingehend analysiert, daß er sich hier detaillierte Ausführungen ersparen kann. Es kommt jetzt ausschließlich auf das Gegenbeispiel an. Beginnen wir mit den Darstellungsfragen. DeJTI,hic ..eLnunc Tbomas Manns fehlt jedwede. Tendenz zum Transzendiere~:_~e.in Ort und seine Zeit . ~itäI1eniliren-t5etaas';-könzem.rlereiLm,J)ich.:.immet:..~ gesellschaftlich-geschichiIiJ;:-We;~ntl~~::.~~!!:~~J~.~~.r~t~g"g~.!'~U~.chaft- _ lich-gesdii.C1itliC1ieii'Sitiiiiti(jii~TIioiIlas Mann ist immer diesseitig - auch in bezugäUraIe·bijrgerlicl;.-~-Gesellschaft. Er setzt mit ruhiger Klarheit die Perspektive des Sozialismus, ohne deshalb auch nur in einem Hinüberschwanken den Stand,punkt des seiner selbst bewußten Bürgers aufzugeben~ ohne sich als Dichter den leisesten Versuch zu erlauben, etwas von jener Welt oder auch nur von den Bestrebungen, die ihr entgegeneilen, als literarische Gestalt in sein Werk aufzunehmen. (Diese seine resignierende Vollendung ist inne~halb des Realism~s ein wichtiger Gegenpol zum heroischen ScheItern Roger Martm du Gards.) Diese sparsame Negativität der Perspektive hat aber eine entscheidende Funktion in seinem Lebenswerk: auf ihr beruht die richtige Proportionalität eines jeden Seins und Werdens. Jedeskonkrete Stück der gestalteten Gegenwart bewegt sich einem konkreten Etwas zu, und der menschliche Sinn einer jeden Bewegung, ihre Bedeutung vom Standpunkt des Fortschritts der Menschheit, tritt immer eindeuti? he:vor. Es ist unsere Wirklichkeit, von der wir geformt werden, dIe WIr formen, die wir, bei all ihrer Problematik, bei allen Aufständen der Unterwelt in ihr, doch als unsere Heimat, als unser Vaterland, als »den Kreis der meine'Wirksamkeit erfüllt«, zu empfinden lernen. Je komplett:r und komplizierter das Besondere unserer Gegenwart bei Thomas Mann erscheint, je lebendiger, in je ausgiebigerer Fülle, desto entschiedener erscheint sie als ein Stück im Lebensprozeß der Menschheit mit seinem stets deutlich erkennbaren Woher? und Wohin? 88
Darum kennt dieses Werk aqchbei der liebevoll-ausführlichsten Detailschilderei keine naturalistische Zuständlichkeit. Darum mag T~omas Mann noch so tief in die Unterwelt unserer Tage eintauchen, dIe Verzerrungen unseres Lebens erhalten bei ihm ihre Gestalt als deutlich konkretisierte, auf ihre Wurzeln zurückgeführte Verzerrungen. Andre Gide schreibt in seiner Dostojewskij-Studie: »Mit schönem Gefühl macht man schlechte Literatur«, und: »Kein Kunstwerk entsteht ohne die Mithilfe des Teufels.« 'Solche Anschauungen sind auch ein. zeInen Mannschen Gestaltungen· nicht fremd; man kann Parallelen . schon im frühen »Tonio Kröger« finden. Hier ist aber zugleich der Gegensatz handgreiflich faßbar da. Der gemeinsame Tatbestand entstammt dem Leben der· Gegenwart. Thomas Mann untersucht und gestaltet ihn jedoch, indem er unermüdlich jene Stelle sucht, die diesem teuflischen Prinzip, der Mobilisierung der seelischen Unterwelt, in der Struktur und Entwicklung der heutigen Gesellschaft zukommt. Schon sehr früh wird ihm klar, daß gerade die künstlerische Produktion eines der wichtigsten Zentren s~lcher Lebensgefühle ist. Darauf folgt für ihn eine steigend schärfere und gesellschaftlich konkretere Kritik der hier entstehenden Typen. Der Weg führt vom »Tonio Kröger« zum »Doktor Faustus«.Adrian Leverkühns Schicksal konzentriert die Kritik auf die Gegenwart, macht sie aber zugleich vollends historisch: der Teufel selbst muß bekennen, daß zur Produktion Goethes seine Hilfe noch überflüssig war, nur die gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungs bedingungen Adrian Leverkühns führen diesen zwangsläufig in den Dienst der Unterwelt, der Hölle. Aber gerade der Schlußmonolog Adrian Leverkühns weist auf eine andere Gesellschaft, auf den Sozialismus, wo die Notwendigkeit solcher Versklavung aufhört, ja sogar der Kampf um eine so geartete Neuordnung der mensch.:. lichen Beziehungen bricht die Macht der Unterwelt. Andre Gides Stellung zu diesem Problem, die die angeführten Sätze zeigen, ist eine unmittelbare, 'unkritische. Er akzeptiert widerstandslos, ja voll geistiger Neugier, voll innerer Spannung, voll Verachtung für das banal Spießerische im bürgerlichen Leben eine solche Herrschaft der Unterwelt. Es handelt sich nicht bloß um das angeführte ästhetische Bekenntnis; "die »action gratuite« repräsentiert dieselbe Konfession im Ksthetischen>.ebenso wie die ganze damit eng zusammengel1&ndene Moral der Gideschen »Aufrichtigkeit«. Was also bei 89
Mann ein berechtigtes zeitgenössisches Thema war - berechtigt a1+ch dort, wo es die Zentralstelle einnahm -, wird bei Gide zur bindenden Maxime für Kunst und Leben, zum Prinzip des Zersetzens und Verzerrens beider. Hier kann man deutlich den Punkt sehen, wo die Wege sich scheiden, wo der bürgerliche, der kritische Realismus unserer Tage sich von jedem Avantgardeismus, von jeder Dekadenz lossagt, wo er in klarer Entsf.hlossJ:nhe.it.S.t.e!lung gegen sie nimm&.._ -:;. ZwiSc1lei.1diesen Polen, die wir mit den künstlerisch hervorragendsten Vertretern der bei den Richtungen bezeichnen können, zwischen den Polen Franz Kafka und Thomas Mann liegt die reale Entscheidung der bürgerlichen Schriftsteller unserer Tage. Niemand muß mit den eigenen, angeborenen oder erworbenen bürgerlichen Lebensformen brechen, um ,di~§e Wahl zwischen sozialer ~esundheit und Krankheit zUd!"~if~l1-,--E.1!! sich der zeitgemäßen ErE~~~~4~!""gE2ß~lli9.L~sh~itt lichen TraditiOnenTm Geg~gg!iJ:.!,U!~!1,jru:ma1is,1;iliID,~!l_,.~.1.~.menten zuzuweiia--en.T:t)äß;;" im;'~r wieder Schriftsteller geben wird, die ihr p~rsfuiliChes, von der Zeit aufgedrungenes Dilemma so lösen, daß sie den Sozialismus zum eigenen Weg erwählen, versteht sich von selbst. Was hier geleugnet wird, ist bloß, daß darin die einzig mögliche Wahl inmitten der Konflikte unserer Zeit vorliegt.) Ausschlaggebend ist die menschliche Entscheidung. Die Vernünftigkeit der Fragestellung im Sinne Tschechows involviert auch - sogar vor allem - eine bestimmte Richtung. Und die Bestimmung der Richtungen, wenn sie in uns,:~E_.~tl.tl_eine",:wjrkljcbe.~f~..!?are En~ scheidungnervoITüTen soll, ist: zur Angst oder~_~g""Y2!!:",~~~ Arlg"S't"verewigt'-üder'i.ioerWtiffd'en"weraenf"Sol1" sie. .wie.d.e.r,:?'!!",.4::~E.~ Affektirtder 'Reiheder"außerordemrn:lr"Vlelen, die zusammel1_,~
K~fbau~·d~s.:.menSCh1lclieh
od;-;~ll sieweiter··akdie entsdwidende,Determin:lnte der »c~ndition humaine« auftre~ep..j;iÜrJeri?I>i~se Fragen richten sichnai:iirtlCh Priffiar kel.!1es\Vegs a~f Thematik oder Form der Literatur, sondern auf das Verhalten des Menschen zum 'Leben, dessen Ausdruck eben die Dichtung ist. Und es ist aus allem bisher Ausgeführten klar, daß das Entscheidende in diesem Verhalten darin liegt, ob. es §lEb..y~sellschaft lichen ,Sein vom geschichtlichen Geschehen der Gegenwart ins leer
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wendet, um darin das konkret Feindliche zu bekämpfen und das als günstig-Beurte11te ~!l._~t4~~~des trrttaus ci'Iesem'KömpTexeoen-;;:'" fal1s-ktar-hervor~ daß in einer solchen Entscheidung für oder gegen eine von diesen Verhaltungsweisen wiederum eine zu beantwortende Frage steckt: ob der Mensch sich als w~Q.~s:.s....op.f€l'-tr-an-szeruleß-tei', unerkennbarer oder unüberwindbarer Mächte)'luffaßt.odeLaluktives
Mitg1::
ei~e ~ewisse größere oder ~~:~~:!.:..:d~~~p.J~!kgQ~r,"Jj,ir~.4~!.:~p._Q~~ck mltbestifi'imerule-Rö11eZiikommt. SolChe"Fi'ägen,"'s'oTclie'Uilemmen ließen sich bis in alle Lebensäußerungen und deren literarische Widerspiegelungen hinein verfolgen, erweitern und verallgemeinern. Wir glauben' jedoch, daß dies nach allem, was bisher ausgeführt wurde, nicht mehr vonnöten ist. Die Entscheidung in der..Qrundf~_(t~,LGegenw.art.:...zllr..Angs.t..o.der...:w~_.Y.!ll!..illr? ent1i~lt implicite in sich die Möglichkeit einer allseitigen Anwendung. Schon darum, weil sie ja eine weltanschaulich-künstlerische Zusammenfassung zentral wichtiger Zeitfragen ist. Man mag dieses zeitbedingte, auf aktuelle Geschichte bezogene Wesen noch so leidenschaftlich-sophistisch verschleiern, aus der Angst eine zeitlos-ontologische Entität machen wollen, in jeder Dichtung, die nur entfernt diesen Namen verdient, ist die objektive Intention doch auf den Hitlerismus, auf den Atomkrieg etc. gerichtet. Gerade darin äußert sich das gesellschafl:lich-geschichtliche Wesen der wahren Literatur, daß sie auch dann Zeitereignisse, Zeitwenden spiegelt, wenn ihre subjektive, bewußte Intention aufs Entgegengesetzte gerichtet zu sein scheint. (Dieser Gegensatz des subjektiv Gemeinten und objektiv Zwangsläufigen liegt eben der Problematik des Avantgardeismus zugrunde: er will eine Revolte gegen das Antiästhetische des Kapitalismus und befindet sich im Aufstand gegen das Wesen der Kunst.) Wir haben früher den Ausspruch Adornos, daß die moderne Musik die ursprüngliche Authentizität der Angst verloren hat, angeführt. Würde man diese Feststellung - und manche ähnliche aus den letzten Jahren - dechiffrieren, so käme man notwendig auf die Niederlage der Atompläne, auf die Rückzugsgefechte des kalten Krieges, auf das Erscheinen von Friedensperspektiven am Horizont zu sprechen. Die künstlerisch auf Gegenstandslosigkeit, auf das Nichts orientierte avantgardeistische Kunst ist"clamit im Begriff, jener Suggestionskraft ver. ~ werden, die - unterirdisch - aus der Gegenstandslosigkeit,
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aus dem Nichts eine erlebbare Gegenständlichkeit zu zaubern schien. Mag dieser Erlebnisstoff in seiner Transposition ins Dichterische noch so wirklichkeitsverzerrend gewesen sein, als subjektives Erlebnis konnte es dennoch eine gewisse Authentizität besitzen. Die unwiderstehlich fortschreitende Weltgeschichte beraubt sie jedoch von Tag zu Tag immer stärker auch dieser subjektiven Echtheit. Durch diese Wendung wird die innere Krise des Avantgardeismus immer vertiefter, . und es entsteht simultan damit ein immer weiterer Spielraum für einen zeitgemäßen kritischen Realismus. Man kann nicht energisch genug betonen, daß die sich hier vollziehende Wendung primär eine des menschlichen Verhaltens, der Weltanschauung ist, und sie kann nur durch diese Vermittlung für die Literatur wirklich fruchtbar werden. Ergänzend scheint es aber notwendig, an jene Konzeption der Weltanschauung zu erinnern, die wir eingangs im Zusammenhang mit dem eigenartigen Charakter der Friedensbewegungen geschildert haben: wir sprachen über weltanschauliche Stellungnahmen, die in den philosophisch ausschlaggebenden Motiven (Materialismus-Idealismus etc.) die größte Variierbarkeit, ja Gegensätzlichkeit zulassen und doch in bezug auf das Verhalten der Menschen zu sich selbst, zur Gesellschaft, zur Welt stark konvergierende Tendenzen zeigen. Die später behandelte Tschechowsche vernünftige Frage als Grundlage einer realistischen Literatur ist eine theoretische Vermittlung zwischen der so aufgefaßten Weltanschauung und dem schöpferischen Prozeß selbst. . Es ist darum einleuchtend, daß solche Wandlungen sich gerade weltanschaulich äußerst widerspruchsvoll abspielen: einerseits als langsame Positionswechsel im entscheidenden Verhalten des ganzen Menschen zur gesellschaftlich-geschiditlichen Wirklichkeit (Thomas Mann während und nach dem ersten Weltkrieg), andererseits beinhaltet auch ihr Vollzug nicht unbedingt ein bewußtes. Umwerten sämtlicher früherer Anschauungen und überzeugungen, auch wenn diese in engstem geistigem Zusammenhang mit der überwundenen früheren Verhaltungsweise stehen (Thomas Manns Beziehung zu SchopenI1auer und Nietzsche). Ist das Terrain der Wendung das des theoretischen Denkens, so entstehen notwendig Risse in der philosophisch formulierten Weltanschauung, so bei Sartre, dessen politische Schlußfolgerungen keineswegs immer gedanklich zwingend aus seinen noch nicht revidierten existentialistischen Voraussetzungen folgen. Der Schriftsteller kann
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aber auch in einer solchen Lage seine neue F~age an das. Leben dichterisch richtig, »vernünftig« stellen, denn die subjektiv-denkerisch ungelöst gebliebenen Fragen können sichitn Werk als Widersprüche des Lebens selbst in einem organischen, auf Einheit tendierenden künstlerisch homogenen; die Formung realistisch bestimmenden G:halt verwandeln; so in der Produktion von Sartre selbst. Daraus folgt, daß so entstehende Schwankungen in der künstlerisch releva~ten Weltanschauung eines Schriftstellers niemals dogmatisch beurteIlt werden dürfen. Das einzige, worauf es hier ankommt _ das ist aber nicht wenig -, ist: QQ_.~~e._~inwirku~..sokhen......Welt ans~auung auf das schöpferische Verhalten es gestattet, ja fordert, daß die . g..... ' eseIIsdtaftfidien ··ErenScTitften."-S-r~r.;äI"-----"'--·"r'~. .. .... .... ......K ... ~ .... ?:_._~I1•.." .Y'~l~g ...~" BestlmmtneIteil;"ßezie.hlJngen_et.c,..g~r . . MC?g~~e.? ..i~}ht:.eE: .. !:'i~.!~E.gl~.~ß.iK:d~~rmliueJ'J;~J} B:~e.g_~h~nL!niLiIH:~m..1!Zoher,~.-uru;l,"-Wehin?-di:chteI'iJl~ßt lllld :w~en werden. oder ob sie zur Perspekt.iyenlo~igk~i.t..Y..llg...mit
lor ~:tl!.z.:g.sjÄn.dliGhk.~i.h~.l!.1!!._~Ile.goris~~n ,ets.._!E~U~!d]J._tLgllelLY.Qn unsr~usführlich geschilde~ten nihilistisch-z~is~_e.~!i.!l~~q!-!!~. Es kommt also auf OIe von uns festgesteIIte Grundfrage der Richtungen: zur Angst oder weg von ihr? mit allen Folgen, die aus beiden abgeleitet werden können, an. Die Beurteilung der verschiedenen Erscheinungsformen muß diesem fundamentalen Dilemma untergeordnet werden. Noch entschiedener muß eine solche Hierarchie auf dem Gebiet der Stilprobleme zur Geltung gelangen. Wir haben bereits früher, als nur noch von der historisch-ästhetischen Einschätzung bedeutender Erscheinungen die Rede war, eine formalistisch starre Scheidelinie zwischen bürger,lkbJ!mJtEli~~s und .4~~adentem Antirealismus ~tschie den....ß~~~.!:......!n einer übergangsperiode, in der das Suchen de~"" Neuen, die Abkehr vom Alten vermutlich eine noch größere Rolle spielen wird, erlangt dieses negative Kriterium der Beurteilung ein steigendes Gewicht. Entscheidend wird immer die eingeschlagene Richtung, nicht die augenblickliche Fixierung bestimmter Formprobleme sein. Daraus folgt keineswegs ihre Unterschätzung. Im Gegenteil. Uns scheint, je konkreter vom wesentlichen Gehalt aus die Frage nach der spezifischen Form dieses spezifischen Inhalts gestellt wird, desto tiefergreifend kann die FOrfuanalyse sein. In diesem Fall handelt es sich im Gehalt selbst"'die Bewegung Zur Angst oder von ihr weg, zur ab~ahierenden. AQkehLy_o_n._.4~LW:irklichkeit. .oderJn,die-B.ich::. . . 93
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tung auf Zuwendung zu ihr etc. wahrzunehmen, wodurch das Wesen des Gehalts natürlich konkreter erscheint als in einer isoliert-statischen Betrachtung. Darum müssen heute die künstlerischen Spiegelungen eines beginnenden Kampfes mit eingewurzelten Vorurteilen, tastende Schritte zu einer Verwirklichung mit großer Aufmerksamkeit, mit echtem Feingefühl und ohne formalistisdle Befangenheit eingeschätzt werden. Ich nehme nur ein Beispiel: es ist im allgemeinen richtig, daß der Naturalismus einen Abfall von der realistischen Erfassung der Wirklichkeit vorstellt. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Lage ist aber unzweifelhaft der Naturalismus etwa in Mailers »Die Nackten und die Toten« ein Schritt vorwärts aus der weglosen Wüste der Abstraktionen in der Richtung auf die konkreten Leiden konkreter Menschen im zweiten Weltkrieg. Mag die Beschreibung noch so voll von Zuständlichkeiten sein, mag die daraus folgende Entwicklung des Autors vorerst als Rückschritt erscheinen, auch eine solche zögernd einsetzende Tendenz soll festgestellt und anerkannt werden. Auch dort, wo zuweilen der unmittelbare Anschein eine größe Entfernung zu verkünden scheint. Man nehme ein Werk wie die »Kimmerische Fahrt« Warsinskys. Stilistisch eine virtuose Etüde aus der Kafka-SdlUle, im einzelnen mit Joyce~Beckettschen Elementen. Jedoch die dehumanisierende Finsternis, die Mächte, die den Menschen erniedrigen, seine Kapitulation vor ihnen bilden nur formell eine avantgardeistisch dargestellt~ »condition humaine«. Der wirkliche Kern des Buches ist nicht nur ein typisches Schicksal aus der Zeit des Zusammenbruchs des Hitlerismus, sondern erhebt sich im Geschick des Helden zu einem typischen Schid{sal einer Generation, ja eines Teiles der deutschen Nation in einem gegebenen konkreten Moment. Darum ist der Nebel, die Finsternis des angstvollen, vor sich selbst und vor der Begegnung mit der Welt flüchtenden Bewußtseins in der Zentralfigur doch mehr Gegenstand als Ausdrucksmittel (obwohl vom formalistischen Standpunkt die Lage umgekehrt zu sein scheint); darum kann dieser Nebel von menschlicher Außerung echter Humanität - freilich nur episodisch - gelichtet werden, und im aufsteigenden Nebel werden wir wirklicher, realistisch gestalteter Menschen gewahr. Dieses Bucli. ist also ein wirkliches Werk des Untergangs. Ahnlich steht ,es um den traumhaften Nebel, der Koeppens »Treibhaus« bedeckt, wobei diese Traumhaftigkeit nicht nur ein -konkretes hic et nunc zum Ausdruck bringt, 94
sondern sogar ein ablehnendes historisch~politisches Urteil über diesen traumhaften Ne~el ~er Bonner.R:stauration. Und in »Tod in Rom« geht er sogar noch weIter In der realIstIschen Konkretisierung der Situationen, Menschen und Schicksale. Die Beispiele ließen sich vermehren. Hier . aber soll auch eine annähernde Vollständigkeit nicht einmal angestrebt werden; es kommt allein auf das Aufsteigen von übergangstendenzen und auf die Methodologie ihrer Behandlung an. Der Vollzug der hier analysierten gesellschaftlich-menschlichen Wandlung im Verhalten zu sich selbst, zu den Mitmenschen zur Welt ist sicher eine schwere, komplizierte, jedoch - gerade in un~eren Tagen _ durchaus verwirklichbare Aufgabe. Die menschlichen, die intellektuellen und moralischen Voraussetzungen dazu sind allerdings keine geri~ge. Denn es ist eine Tatsache, daß Nihilismus und Zynismus, VerzweIflung, Angst und Mißtrauen, Veramtung und Selbstverachtung und andere, ähnliche Affekte mit einer gewissen Spontaneität aus der . Lage weiter Schichten der Intelligenz im gegenwärtigen Kapitalismus herauswachsen. Viele einflußreiche Tendenzen der durch Schule und Leben, wirken ebenfalls in dieser Richtung; so z. B., daß der Pessimismus geistesaristokratischer, der Elite sei als jedweder Glaube an den Fortschritt der Menschheit der einzelne Mensm - gerade in dieser seiner Zugehörigkeit zu; - machtlos der Fatalität des sinnlosen Geschehens ohne Richtung sei, daß die Stimme der Massen - die »Vermassung« _ übles verkünden könne etc. etc. Auch verbreitet die vulgäre wie »hig brow«-Presse in ihrer Mehrheit - als Ergänzung zur Weiterdes kalten Krieges -. Vorurteile in der Richtung, als ob es denkenden Intellektuellen unserer Zeit unwürdig wäre, anders zynisch-mystisch, als avantgardeistisch in der Welt, in Denken und Stellung zu nehmen. Eine Wendung zum Realismus in der zur nüchternen Betrachtung der Möglichkeiten einer Koexiim Leben der Völker, um von einer Gerechtigkeit dem Kommugegenüber (was keineswegs einen Anschluß an ihn beinhaltet) nicht zu sprechen, kann einen Schriftsteller sehr leicht zum »outim Milieu seiner Zunftgenossen und derer, die über sein materieIGeschick entscheiden, machen. Wenn schon bei einem Sartre ähnStimmen laut wur&n, ~ie große Gefahren bedrohen jüngere, vom Weltruhm b~chützte Schriftsteller. tftll-d noch mehr ist Tatsache. Man vergesse aber nicht, daß gerade 95
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heute die Gegentendenzen nicht nur vorhanden, sondern im Wachsen begriffen sind. Der Schriftsteller also, der in dieser Hinsicht sich auf seine wahren Interessen, die mit denen seines Volks, mit denen der Menschheit konvergieren; besinnt, der deshalb seinen Kurs gegen den im Kapitalismus herrschenden Strom einschlägt, steht nicht mehr allein, muß wenigstens nicht mehr allein stehen. Je weiter er kommt, je entschiedener er seine Wendung vollzieht, desto weniger, denn desto leichter findet er Kontakt mit den, Anschluß an die entscheidenden Teridenzen der Zeit, die früher oder später auch die herrschenden sein werden. Die Periode der Vorbereitung des Faschismus, die seiner Herrschaft und auch die des kalten Krieges waren für die Entfaltung des kritischen Realismus ungünstig. Trotzdem war er auch damals vorhanden, war er weder durch physischen Terror noch durch intellektuellen Druck totzumachen. Es gab immer wieder, seitens des kritischen Realismus, einen Widerstand gegen den Krieg, gegen den kalten und heißen, gegen die Vernichtung der Kultur. Und es gab auch bedeutende künstlerische Erfolge in diesem Kampf. Heute' erweitert der beginnende Zusammenbruch des kalten Krieges, die Perspektive auf friedliches Nebeneinander-, Miteinanderleben der Völker, sehr wesentlich diesen realen 'Spielraum für eine hochstehende, echt kritische, realistische ,bürgerliche Literatur. Gerade weil das aktuelle Dilemma. des Tages nicht die Wahl zwischen Kapitalismus oder Sozialismus ist, sondern die zwischen Krieg oder Frieden; weil die unmittelbare ideologische Aufgabe der bürgerlichen..lntelligenzdie-UbeJ:w:LI141illZ-.del'-pem1anenten, universell gew~rde1!en .Allg~~,.&esJatalistischen.-Schr.eGkem-ist; der ~ichteine. akt~~l1(! y erVJ:irhlicl1ungdes--Se'L-i{l-lismuS-;-'ssthilfe, der" Menschheit. gegenübersteht" ,. g~l:''l:g.~ ,.4~.rnm..kanD-..der bürgerliche S~Iifl:~t~lkr.s..eill __ j!i.g~I1~.L12ilemma,: Franz Kafka oder ThomasMann? a~ti~Jis.clLjnteressant.e.. Dekadenz oder Jeb~rer kritischer Realismus? heute leichter positiv beantworten, als es ihm noch gestern'mogTIdi-war:--
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kritische Realismus in der sozialistischen Gesellschaft Analyse der gegenwärtigen Möglichkeiten für den kritischen wäre unvollständig, wenn diese nur im Kampf mit den anti~""'UO'UO'Wl<"l Tendenzen in der bürgerlichen Literatur bestimmt wären, ihre Beziehung zum sozialistischen Realismus gänzlich unerörtert Es ist aber klar, daß eine solche Untersuchung - ohne die Prodieser Abhandlung vollständig zu sprengen - unmöglich nur die wesentlichsten Probleme des sozialistischen Realismus auch diese in einer sehr skizzenhaften Form) behandeln kann. Der Weg, der hier für uns offensteht, ist der, uns auf ihre gegenBeziehungen zu beschränken, d. h. die Probleme des sozialiRealismus nur insofern und soweit aufzuwerfen, als sie die des kritischen Realismus in unserer Zeit oder indirekt berühren. Wir müssen dabei in Kauf nehmen, daß Darlegungen notwendig fragmentarisch und einseitig sein werman sich mit einem Schlag ins Zentrum dieses Problemkomplexes , , so scheint es am vorteilhaftesten, ebenso wie in der Gegenüberstellung von bürgerlichem Realismus und Antirealismus, auch hier der Analyse der Perspektive im kritischen und sozialistischen Realismus anzufangen. Daß für diesen der Kampf um den Sozialismus und um seine Verwirklichung im Mittelpunkt aller Probleme der Perspektive steht, versteht sich von selbst; auch daß diese je nach Entstehungszeit und nach Thematik sehr starken Variationen im Inhalt wie in der Form unterworfen ist. Das Gemeinsame und dem kritischen Realismus gegenüber Neue besteht nicht in der einfachen Bejahung der sozialistischen Gesellschaft. Eine solche ist auch im kritischen Realismus möglich, 'Diese ist aber einerseits nicht zentral charakteristisch für den ' ganzen bürgeriichen Realismus unserer Zeit, wir haben ja gerade zu zeigen daß ein negatives Verhalten: die sozialistische Perspektive a limine, nicht feindlich abzulehnen, ausreicht, um zu einer inneren zu gel?-ngen. Andererseits wird aber auch eine solche _JW"W •• ,.., stets eine abstrakte bleiben; wenn auch versucht wird, die zu konkretisieren, geschieht dies notwendigerweise von Mcht von innen.
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Damit sind wir bei einem der wichtigsten Unterscheidungsmomente auf diesem Gebiet angelangt: bei der prinzipiellen Konkretheit der sozialistischen Perspektive und bei dem Postulat, diese und die Kräfte, die ihre Verwirklichung förderri, von innen und nicht von außen zu betrachten. Konkretheit bedeutet hier, daß die sozialistische Gesellschaft in ihrem Für-sich-Sein genommen wird, nicht bloß als das andere des Kapitalismus, als Ausweg aus dessen Widersprüch1ichkeit, wie dies notwendig selbst bei jenen kritischen Realisten der Fall ist,die am stärksten mit dem Sozialismus sympathisieren. Noch wichtiger ist das Problem der den Sozialismus herbeiführenden und weiterentwickelnden Kraft. Wiesich utopischer und wissenschaftlicher Sozialismus darin scheiden, daß nur dieser in der Entwicklung der Gesellschaft selbst jene Tendenzen entdeckt, die objektiv den Sozialismus zu begründen fähig sind so betrachtet der sozialistische Realismus die menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten etc. daraufhin, inwiefern in ih~en .Wil1~ und Eignung zum Schaffen einer solchen positiven neuen Wlrkhchkelt vorhanden ist. Der Protest gegen das Alte, gegen den Kapitalismus - die Hauptverbindung des kritischen Realismus mi; der sozialistischen Perspektive - wird hier zu einem der Hauptnchtung untergeordneten Moment dieser umfassenden Positivität. Da, wie wir gesehen haben, die Perspektive eines der wichtigsten ordnenden Prinzip~en der Schriftwerke ist, da der hierarchische Aufbau der Begebenhel.ten, ~ersonen, Situationen etc. weitgehend von ihr abhängt, haben die belden eben angegebenen Momente außerordentliche, tiefgreifende Folgen für den Stil des sozialistischen Realismus. . .. . Vor allem müssen wir den Begriff des Gestaltens von mnen und mcht bloß von außen etwas näher betrachten. Vorerst sei es betont: es handelt sich dabei keineswegs um den Gegensatz des tieferen oder oberflächlicheren Erfassens der typischen Züge. Große Satiriker vom Schlage Swifts oder Saltykow-Schtschedrins haben ihre Gestalten und. deren Schicksale stets von außen betrachtet, und man könnte sag:n:. gerade dieser haßerfüllte Blick des Nicht-Eingehenwollens auf die mneren subjektiven Probleme der geschilderte~ Welt.is: d~s künst1e~sche Fundamentder Großartigkeit und TreffSicherheit ~n Ihrer Typik. Es handelt sich vielmehr darum, ob das Aufreißen der typischen Züge vor allem bei den Gestalten, aber auch bei den Situati0l1:en, Schick~alen d~n Ausgangspunkt zur Einheit des Individuelle~. u~d des Typ~schen Iffi' Individuum selbst sucht und von dessen personhchen Konflikten aus 98
den Weg zu deren gesellschaftlicher Bedeutsamkeit bahnt oder in Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche jenen archimedischen findet, von wo aus diese Einheit dichterisch gestaltet werden folgt unmittelbar, daß bei vielen realistischen Schriftstellern Charakterisieren von innen oder von außen auch in denselben Werken nebeneinander bestehen kann. Am deutlichsten ist dies bei .. sichtbar, der zumeist seine plebejischen Figuren von innen, die tisch-bourgeoisen von außen zur Darstellung bringt. Schon dieser extreme Fall ist geeignet, die gesellschaftlich-geschichtliche Basis Entgegenstellung näher zu beleuchten: in der Hauptlinie wird sich zeigen, daß die realistischen Schriftsteller jene Klasse, jene Geyon deren Gesichtsp\1nkt aus sie ein totales Bild der entwerfen, vorwiegend von innen zu gestalten pflegen. Wenn im Gegensatz dazu bei den anderen Klassen und Schichten das Von-~lUi:\en im Vordergrund steht, so ist dazu einerseits zu bemerken, auch hier bloß von einer Te1}denz die Rede ist; Tolstojs Welt ist vom Standpunkt der ausgebeuteten Bauern aus gesehen, wird der Landadel und sogar ein Teil der Aristokratie ebenvon innen gestaltet. lnclerl~rsl~its wäre es ein vulgarisierender Soziologismus, die Klassen Gesellschaft in einem statischen Nebeneinander zu betrachten; sie . zugleich, und zwar gerade in ihrem tiefsten Wesen Ver"Ö';UU<;;U, Gegenwart und Zukunft ihrer Gesellschaft. Und man kann allgemeine Tendenz, freilich auch hier nur als Tendenz, aussprechen, die meisten Schriftsteller dazu neigen, die Welt ihres eigenen getll
gleichgesetzt werden. Umgekehrt lehnt BaJzac Typen wie Mucingen oder Gobsek entschieden ab, gestaltet sie aber dennoch von innen. Alle diese hier angedeuteten (ui1d auch nicht annähernd aufzählbaren) Vorbehalte eingerechnet, die bloße Tendenzartigkeit all dieser Zusammenhänge nie vergessend, kann doch gesagt werden: eine von außen betrachtete gesellschaftlich-geschichtliche Vergangenheit kann durchaus auf der höchsten Höhe der Lebenswahrheit stehen. Auch in der Dichtung gilt, daß die Wahrheit, die richtige dichterische Erkenntnis der Gegenwart »index sui et falsi« ist, d. h. daß die realistisch kritische Betrachtung der Gegenwart zugleich die Wahrheit über jene Formation und ihre überreste ausspred1en kann, auf deren Trümmern, durch deren Vernichtung sie zur historischen Gegenwart der Menschheit geworden ist. Anders steht es um die Zukunft. Wir haben im letz. ten Abschnitt ausführlich über die Ji.nderung in Inhalt und Struktur der Perspektive im Laufe der Entwicklung des kritischen Realismus gesprochen. Daraus ist ersichtlich., daß die Zukunft für ihn immer stärker von der Perspektive des Sozialismus beschattet ist. 'So sehr nun die besten Vertreter des kritischen Realismus aus einer solchen Perspektive Prinzipien zum künstlerischen Bewältigen des Lebensstoffes schöpfen können, so sehr macht es diese Konstellation für sie unmöglich, den Menschen der Zukunft von innen zu gestalten. Diese Schranke wird nun im sozialistischen Realismus aufgehoben. Da seine weltanschauliche Basis gerade im Wissen um diese Zukunfl: besteht, da diese Perspektive das Schaffen in seinem Bereich reguliert, ist es nur natürlich, daß das Gestalten von innen gerade bei den Menschen am offenkundigsten zum Ausdruck kommt, deren Leben auf die Verwirklichung dies~r Zukunft gerichtet ist. !!ie!_~~~_~!(!!E~_4a_se!~t.€:g~11: nende Moment zwischen kritischem und_~Q.,:z;i~lj~~is.w.§mß(!alis.J:nus sichtbarge-;-;;~d~':-di~F~higk~T~,-di~M~~schen, die die Ztlku_nft atlf?~uen, -d~~~~p;~ch~logie und Moral die Zukunff- von innen zu ~estJ;;~~-~V;;~ Z~i~;-Etie'~ne-tantler" .. zu Roger' . . . . . . . . .- Jacqu~-Tibault sind die besten Vertreter des kritischen Realismus an dieser Schranke gestalterisch gescheitert. Die Physiognomie Jacques Tibaults als Kind und Jüngling ist meisterhaft durchgeführt; auch vieles Menschliche in seiner sozialistischen EntwIcklungsstufe, so die Liebesszenen in den Pariser Augusttagen 1914. Nur vor dem Problem seiner neuen, sozialistisch gewordenen Innerlichkeit muß Roger Martin du Gard versagen.
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Grenzscheide hängt aufs' engste mit dem konkreten Charakter Perspektive im sozialistischen Realismus zusammen. Die Konkretselbst bedarf freilich abermals einer kurzen Erklärung, um so mehr, wir auf bestimmte problematische Momente in der Praxis ihrer W 1I.All.UHUl!,:. noch zurückkommen müssen. Das Konkrete bedeutet allem Bewußtheit über die Totalität der Gesellschaft in ihrer Be. deren Richtung und wichtige Etappen mitinbegriffen. Natürschaffen auch die hervorragenden kritischen Realisten totale und Bilder des sozialen Lebens. Man vergesse aber nicht, daß es bedeutende Periode des kritischen Realismus gab (die Zeit vor Scott), in der die Schriftsteller des historischen Charakters der ihnen gestalteten Welt kaum oder überhaupt nicht künstlerisch waren. Aber auch die im 19. Jahrhundert sich entfaltende und der imperialistischen Periode sich oft TÜckbildende gesellschaftlichBewußtheit ist ihrem theoretischen Wesen nach tief prolt:ll:laj;lMJ:l. Gerade in der Verkörperung des umfassendsten und tiefRealismus, bei Balzac oder Tolstoj, erweist sich am krassesten diese ~~~12§_tt~Ü:~ls!;;h.e:s_.Ele:\'lz:ut)_ts.(~·!1.~~l~k!m_lj.r(d unzertrenJ:llichd~v:on _ _ .•.. _...... _.
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GeseHschaftswesen, als.in.seiner,eigentlichsten .. ulld.
1'_"'. ~Ulll1U1> ""'11 .Charakterisfikhistorischer . Erscheinung. Diese Widervertieft sich noch - mit dem Verfall des bürgerlichen - in der imperialistischen Periode, wodurch große reali~ stische Leistungen, es genügt, auf Thomas Mann hinzuweisen, zwar noch immer möglich, jedoch in ihrer Beziehung zu den eigenen weltanschaulichen Fundamenten noch paradoxer werden. Die sozialistische Perspektive schaff\; auch für die Literatur die Möglichkeit, das gesellschaftlich-geschichtliche Leben mit einem richtigen Bewußtsein zu betrachten. Damit- ist ein derartiges Erhöhen der Warte, des überblicks entstanden, daß seine Folgen eine qualitative Neuheit auch der literarischen Betrachtungsweise hervorbringen. Will man diese Lage richtig überblicken, so müssen zwei Bemerkungen vorausgesch:ickt werden. Erstens handelt es sich um eine bloße Möglich. die in sehr komplizierter Weise realisiert werden muß, um in der literarischen Produktion effektiv wirksam zu werden. Eine bloße Aneignung.des Marxismus (gar nicht zu sprechen von einer bloßen Teilnahme an der sozialistischen Bewegung, von einer bloßen Parteizu~örigkeit) zählt allein, für sich genommen, so gut wie nichts. Für 101
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die Persönlichkeit des Schriftstellers können die auf solchen Wegen erworbenen Lebenserfahrungen, die durch sie erweckten intellektuellen, moralischen etc. Fähigkeiten sehr 'wertvoll werden, dazu beitragen, diese Möglichkeit in eine Wirklichkeit zu verwandeln. ~r man ist in einem verhängnisvollen Irrtum, wenn man meint, der Prozeß der Umsetzung' eines richtigen Bewußtseins in eine richtige, realistische, künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit sei prinzipiell direkter und einfacher als der eines falschen Bewußtseins. j Zweitens - und nicht ohne Zusammenhang niit dem soeben Ausgeführ:' ten - konvergieren zwar in mancher Hinsicht richtige theoretische und richtige künstlerische Verallgemeinerung (Drang zum Typischen), aber ihre Methode und ihre Endergebnisse sind doch nicht identisch. Die Konvergenz ist dadurch bestimmt, daß beide dieselbe Wirklichkeit widerspiegeln. Die Tatsame, daß diese Konvergenz immer bloß eine ,Tendenz, eine Annäherung bleibt und prinzipiell nicht zur Identität werden kann, folgt aus der Verschiedenheit der theoretischen und ästhetischen Widerspiegelung de~ Wirklichkeit. Die gesellschaftlichgeschichtliche Richtigkeit der künstlerischen Gestaltung ist einerseits Voraussetzung ihres echt realistischen Charakters, andererseits eine besondere, unersetzliche Komponente ihrer adäquaten Wirkung. Beides setzt voraus, daß jedwede theoretische Erkenntnis über Welt, Mensch etc. - sei sie objektiv theoretisch richtig oder unrichtig -:- nur dann das Schöpferische beflügelt, wenn sie restlos in die ästhetischen Kategorien des Gestalteten aufgeht, wenn sie restlos in diesem aufgehoben wird. Wir sagten: sei sie objektiv richtig oder unrichtig, weil jede Theorie, jede Erkenntnis für den Dichter nur eine Anleitung zur weiteren, künstlerisch tieferen Widerspiegelung der Wirklichkeit sein kann, weil infolge dieses indirekten, dialektischen Verhältnisses, bei der allein entscheidenden Bedeutung der Richtigkeit der künstlerischen Widerspiegelung auch eine an sich unvollständige, ja falsche Theorie eine fruchtbare Anleitung geben kann. Ein so strenger Marxist wie Lenin hat dies in einem Brief an Gorki ausdrücklich anerkannt: »Außerdem bin ich der Ansicht, daß ein Künstler aus jeder Philosophie viel Nützliches für sich schöpfen kann.« Und er fügt, ger.ade auf Gorki zugespitzt, hinzu: »auch wenn diese Philosophie eine idealistische ist«. Dies ist darum möglich, weil theoretische wie künstlerische Widerspiegelung dieselbe extensiv wie intensiv unendliche Wirklichkeit zu ergründen und das Erforschte klar herauszustellen bestrebt sind: dabei kön102
'nen die verschiedensten 'Gesichtspunkte hier wie dort au.fIdirend, Unbekanntes, Vernachlässigtes erhellend, Dienste leisten. Insbesondere, wenn die Grundtatsache der künstlerischen Widerspiegelung, die:Bestimmtheit ihrer Form vom Inhalt - wir sagten bereits: künstlerische Form ist die besondere Form eines besonderen Inhalts -, hinreichend berücksichtigt wird. Die extensive wie intensive Unendlichkeit der Weltinhalte ist dazu noch keine statische, in bezug auf welche nur das immervertieftere Eindringen des Subjekts in einen an sich gleichbleibenden 'Stoff eine Steigerung, eine Annäherung herbeiführen würde. Nein, dieser Stoff selbst ist in einer ununterbrochenen Bewegung begriffen, und zwar in einer, die eine bestimmte, wenn auch nicht geradlinige Richtung hat. Die Bewegung bringt auf der einen Seite völlig neue Inhalte hervor und läßt altehrwürdige, längst gewohnte allmählich oder rapid verschwinden, auf der anderen Seite befähigt die dadurch zustande gebrachte Wechselwirkung mit dem Subjekt dieses, auch längst vorhandene Inh~lte oder Tendenze~ zur Kristallisierung einer Inhaltlichkeit klar zu erkennen, die in früheren Perioden unsichtbar geblieben sind. Wachstum, Verbreitung und Vertiefung der literarischen Form hängt aber - letzten Endes - von diesem objektiv wie subjektiv Reicherwerden der Weltinhalte ab. Gerade in dieser' Hinsicht gibt es eine Entwicklung, eine Geschichte auch der künstlerischen Formen, obwohl die vollendeten Gestaltungen, auf welcher Stufe immer sie erscheinen mögen, einander ästhetisch gleichwertig bleiben. Diesen Tatbestand hat bereits Schiller" erkannt, indem er in seinem Aufsatz »über naive und fentimentalische Dichtung« die vom Leben hervorgebrachte größere Breite und Tiefe in der Darstellung der Weiblichkeit bei modernen Dichtern - etwa bei, Shakespeare und Fielding - der Antike gegenüber feststellte, selbstredend ohne auch diese hohen Vollendungen ästhetisch über Homer oder Sophokles zu stellen. So kann eine' adäquatere und konkretere Erkenntnis des Entwick.>'lungskampfs der Menschheit, ihrer Gesetzmäßigkeit, ihrer Richtung und Perspektive zur weltanschaulichen Grundlage eines neuen Stils werden, der in diesem Sinn, aber nur in diesem, eine höhere Stufe in der Entwicklung der Kunst vorstellt. In diesem Sinne kann mit Recht davon gesprochen werden, daß die richtig ins künstlerische Sehen und Gestalten aufgehobene sozialistische Perspektive eine totalere, r~ere und konkretere literarische Darstellung der gesellschaft103
lich-geschichtlichen Wirklichkeit möglich macht als jede vorangegangene Betrachtungsweise, die des kritischen Realismus natürlich mitinbegriffen. Will man die Berührungspunkte und den Gegensatz beider richtig und gerecht darstellen, so muß verständlicherweise alles berücksichtigt werden, was in den früheren Abschnitten über Stand und Problematik' der bürgerlichen Literatur unserer Periode auseinandergesetzt wurde. Wir wollen dabei jetzt den Gegensatz zur Dekadenz unerörtert lassen, da der ausschließende Kontrast zum sozialistischen Realismus hier von selbst evident ist. Jedoch auch bei den hervorragenden Leistungen des kritischen Realismus haben wir eine Problematik gestreift, die hier etwas näher ausgeführt werden muß, um dessen Beziehung zum sozialistischen klar hervortreten lassen zu können. Wir meinen die Stelle, die die revolutionäre Arbeiterbewegung in der Totalität der Gesellschaft einnimmt, an der, wenn von ihrer literarischen Widerspiegelung die Rede ist, man unmöglich stillschweigend vorbeigehen kann. Dabei haben wir bereits jene sehr wichtige Problematik aufgezeigt, daß der kritische Realismus diesen Stoffkreis nicht von innen darstellen kann, und zugleich darauf hingewiesen, daß diese Unfähigkeit für die inhaltlich-formelle Vollendung eines 'Schriftwerks etwas ganz anderes bedeutet als eine ähnliche Stellung zur Vergangenheit, zu den die Vergangenheit repräsentierenden Klassen und Schichten, sei nun die 'Ablehnung einer Gestaltung von innen eine freiwillige oder zwangsläufige. Kurz gefaßt: es sind drei Möglichkeiten vorhanden. Erstens ein Scheitern am entscheidenden Punkt, beim Versuch einer direkten Gestaltung der neuen Thematik (Roger Martin du Gard, schon viel früher Zola); zweitens Sonderfälle, in denen man diesen Komplex gestalterisch umgehen, umschiffen kann (Joseph Conrad, Sinc1air Lewis), wobei die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß die günstigen Bedingungen für derartige spezielle Lösungen historisch im Abnehmen begriffen sind (Kolonialzustand zur Zeit Conrads und heute; Bromfield über Babitt); drittens Versuche, eine Totalität der Probleme unserer Zeit im Rahmen der eigenen Dialektik des Bürgertums darzustellen, und zwar so, daß die ganze Problematik des bürgerlichen Lebens, die im Klassenkampf mit dem Proletariat direkt und adäquat zum Ausdruck gelangt, ohne dessen Darstellung, also rein indirekt, durch ein richtiges Aufzeigen der geistigen, seelischen und moralischen Folgen künstlerisch 104
evident werde. Wir haben gesehen, daß Thomas Mann der unübertroffene Meister derartiger Lebensbilder geworden ist. Es ist aber klar - und niemand war darüber bewußter als Thomas Mann selbst _ daß ~uf d~esem Weg eine Kunst der Abendröte entstehen muß, die un~ög hch dIe Lebensnähe und Lebensfülle eines Fielding oder Keller besitzen kann; daß sch;vere Arbeit, tiefes Denken, großer Erfindungs- und E~pfindungsreichtum, kühne Formungsphantasie nötig sind, um dem semem Ursprung nach Indirekten eine neue Unmittelbarkeit zu verleihen, um dem widerstrebenden, ja weichenden Stoff eine Totalität von Menschen und ihrer Lebensobjekte abzuringen. ~! sozialistische Realismus besitzt gesellschaftlich und weltanschaulich 9ielVrugliChkeit, die Totalität der Gesellscha.ft in konkreter lJIlmitte!:. b~lrkleit, auf Grundlage der Gesetze ihrer eigenen Bewegung kÜhstledarzustellen. Natürlich ist hier ebensowenig - wie in der klassiZeit des bürgerlichen Realismus - davon die Rede, diese Totaliin ihrem extensiven Sosein abzubilden. Sogar Balzac, dessen in diese Richtung ging, erstrebte dies nur in bezug auf das der »Menschlichen Komödie«. Jedes ihrer Stücke ist ein Roman eine Novelle, in welchen nur ein relativ kleiner Ausschnitt ins fn".~nc;·,·", abgerundet wurde. Die Größe der Gesamtkonzeption zeigt darin, daß diese immer lebendig erleb bar wird, sinnfällig und .ep".f'n",,~ . bleibt: da~~~!!eff$PE!~..~~Uck ist ein organischer Teil dieses Ganzen, d. h. in Voraussetz~ng~ii'~';;l'F~I~-;~-fn'Vei~ ., . '. '. "''''W:i~~F ':':trotz'kiiiistlerisclier Ab~'~~.:1!.?_~Er. J:.ln,~ell;.t.u..I·C1l_~_e..::::A~.~llli1g~l:)ende, umspllIe:nde, einwirkende .' . der Gesellschaft in Erscheinung treten. Diese Gest~itungs der Totalität, die wir - mutatis mutandis - bei den meisten großen der klassischen Periode wiederfinden, wird als Erbe auch sozialistischen Realismus angetreten. In Gorkis »Mutter« fehlt, " ___ ;~ •. _lL bet..rachtet, die kapitalistische Welt; Man würde jedoch Eigenart solcher Werke übersehen, wenn deshalb diese Komposimit dem »Fehlen« des Proletariats in »Doktor Faustus« verwürde. Denn hier handelt es sich, wie wir gesehen haben, in Tat um indirekte, 'seelisch:-moralische Reflexe der sozialen Exides Proletariats inden tragischen Schicksalen der bürgerlichen . 'während- dort der Klassenkampf selbst, auch bei darstelleAbwesenheit der Bourgeoisie, konkret und unmittelbar in tritt. Der sozialistische Realismus, obwohl er als Kind 105
seiner Zeit verpflichtet ist, von allen ihren Problemen - auch von den künstlerischen - Kenntnis zu nehmen und zu ihnen Stellung zu nehmen, hat so im wesentlichen Stil seiner Darstellungsart eine stärkere Affinität zum kritischen Realismus der klassischen Zeit, da dieser noch nicht zu einer Thomas-Mannschen Indirektheit gedrängt war, als Zu der unserer Gegenwart. Nicht nur Gorki selbst, auch Scholochow und andere geben ein deutliches Zeugnis dieser Lage. Das bedeutet nicht - schon das angeführte Beispiel der »Mutter« erweist das Gegenteil -, daß die Totalitätsforderung und -möglichkeit des sozialistischen Realismus zum schlechthin entscheidenden Kennzeichen seines Stiles geworden wäre. So war es auch nicht im kritischen Realismus; sogar bei Balzac haben wir auf den Unterschied von Gesamtkonzeption und Einzelausführung hingewiesen. Allerdings haben schon unsere bisherigen einseitigen und kursorischen Bemerkungen gezeigt, daß das hier zugrunde liegende richtige Bewußtsein eine stärkere Intention auf Totalität beinhaltet als die, die dem kritischen Realismus zu eigen sein konnte. Der reale Zusammenhang, der Weg zur künstlerischen, echten Verwirklichung ist aber viel komplizierter. Es ist ja auffallend, daß auch im kritischen Realismus das Auftreten eines Ideals der monographischen Komplettheit; etwa bei Zola, ein Zeichen der inneren Problematik war, und wir werden später zu zeigen versuch~n, daß das Eindringen solcher Bestrebungen für den sozialistischen Realismus noch problematischer geworden ist. Der Gesichtspunkt der Totalität ist hier, wo genuin künstlerische Tendenzen wirken, immer mehr eine Anleitung zum Gestalten eines konkreten Lebensmoments, in welchem jedoch seine entscheidenden Bestimmungen, möglichst einer intensiven Totalität angenähert, zur Geltung gebracht werden. Lenin hat eine solche dialektische Auffassung der Totalität sogar für die Wissenschaft gefordert: »Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und >Vermittlungen< erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren.« Es ist nur natürlich, daß in der literarischen Gestaltung, in der die intensive Totalität eine selbstverständliche Suprematie vor der extensiven haben muß, diese Forderung noch stärker zu Recht besteht. Es könnte scheinen,· als ob dadurch kritischer und sozialistischer Realismus einander bis zur Ununterscheidbarkeit nahegerückt wären. In-
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dessen muß bedacht werden, daß gerade auf dem Boden eine; solchen ~acI:barschaft die enge Verbindung von konkreter Perspektive und n~tIgem Bewußtsein doch die qualitativen Differenzen herausarbeitet. DI.e ~adurch möglich gewordene größere Angemessenheit und Klar~eIt m der Gestaltung der Einheit der individuellen und gesellschaftbchen ~ome~te im Menschen, in seiner Entwicklung, in seinen Lebens· lage~, I~ Semem Geschick ergibt bereits die Möglichkeit für einen · quahtatrv:en Spr~ng. Wenn wir noch hinzufügen, daß das richtige Bewußtsem zugleIch das Verhältnis von Theorie und Praxis in eine · völlig neue Beleuchtung rückt, daß damit eine neue Form des Selbstbewußtseins entsteht, die Möglichkeit der Gestaltung eines seiner . selbst, als Mitgliedes dieser Gemeinschaft, bewußten Menschen so ist ' dieses qualitativ Neue noch klarer sichtbar. Auch hier gilt es vor allem, das Neue am Gehalt herauszuarbeiten' die neue Form Jst, bei wirklichen Schriftstellern, auch hier die notwe:dige des I~ Leben entstandenen, vom Menschen immer adäquater Bewußtsem gehobenen Neuen. Man muß nur an ein Werk wie das ~Päd:go~ische Poem« Makarenkos denken, um die schrankenlose MöglichkeIt emer aus den neuen Lebensinhalten organisch herauswachsenden neuen Form wahrzunehnien. Khnliche Vergleichsmöglichkeit könhen auch die Kriegsromane bieten. Von »Im Westen nichts Neues« bis zu »Die Nackiten und die Toten« sind nicht wenige in den Details wahre, in derschöpferischen Gesinnung höchst anständige Werke entstanden. Es gehört aber die konkrete Perspektive der Entwicklung, die konkrete und adäquate Erkenntnis der treibenden Kräfte dazu um ?ieses Thema in der Totalität der Bestimmungen zu erfassen, wi; dies Arnold Zweigs »Erziehung vor Verdun« oder A. Becks »Die Wolokolamsker Chaussee« geschieht. Dazu muß noch, um früher bloß allgemein Ausgesprochenes zu konkretisieren, bemerkt werden, daß die letztgenannten Werke am weitesten von einem monograp ...'o .... ,""u Abbilden der Totalität stehen, sie erheben am energischsten persönlichen Schicksale durch eine individuelle Handlung ins .I'·vnl
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Notwendigkeit namgewiesen ist. Die unmittelbarste theoretische Grundlage eines solmen Bündnisses liegt im elementaren und unaufhaltbaren Interesse der sozialistismen Bewegung an der Erkenntnis der Wahrheit. Nicht umsonst ist es gerade der Marxismus, der die Widerspiegelung der objektiven Wirklimkeit so entsmieden und vollständig wie nie vorher in den Mittelpunkt seiner Asthetik stellt. Diese Position ist aber mit entsmeidenden Momenten der marxistismen Weltansmauung aufs engste verknüpft. Der Weg zum Sozialismus ist in den Augen eines Marxisten der Gang der gesellsmafHichen Wirklichkeit selbst; jedes typisme Phänomen, sei es objektiven oder subjektiven Charakters, ist in diesem Konnex als förderndes oder hemmendes, retardierendes, Umwege verursachendes .etc. Moment von Bedeutung; die rimtige Einsmätzung solcher Phänomene ist eine Lebensfrage für einen jeden denkenden Sozialisten. Die Darstellung eines emten Wirklimkeitsbildes ist also - einerlei, ob dies vom Autor beabsimtigt ist - eine reale Unterstützung der marxistischen Kritik der Welt des Kapitalismus, des sozialistismen Äufbaus. Auf solcher Grundlage ist ein Bündnis von Sozialismus und jedem Realismus in der Kunst im Wesen der revolutionären Arbeiterbewegung selbst fundiert, wogegen - wie das die Zeiten Mussolinis und Hitlers oder die des MacCarthysmus zeigen - jedes Regime, das auf Krieg, auf Unterdrückung und Irreführung der Massen ausgeht, notwendig auch gegen den kürtstlerismen Realismus Stellung nehmen muß. Das Bündnis des kritischen und sozialistiscb:en Realismus ist aber auch in den Prinzipien des Künstlerismen selbst fundiert. Es ist unmöglich, den sozialistismen Realismus wirkungsvoll aUs- und weiterzubilden, ohne den prinzipiellen Gegensatz von Realismus und Antirealismus theoretism zu Ende zu führen. Das wissen die Theoretiker des sozia:listischen Realismus in bezug auf die Vergangenheit, auf das Erbe schon längst; so werden die alten großen Vertreter des kritismen Realismus stets· als Verbündete im Kampf um die Suprematie des Realismus in der Asthetik betrachtet. Und dies nimt bloß rein theoretisch-ästhetism:, denn das, was ihre Werke vom Gesmichtsablauf enthüllen und wie sie dies künstlerisch tun, ist' unabtrennbar von jeder richtigen Kenntnis des Weges, der zur Gegenwart und über diese hinaus in die Zukunft führt; unabtrennbar von der Einsicht inden Kampf des Fortschritts mit der Reaktion, des Lebens mit dem Tod, der Verwesung. Wer auf dieses Arsenal verzichtet, entblößt sich der wichtig-
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Waffen, mit denen der Antirealismus praktism besiegt werden kann. Eine solche Rolle als Verbündete sozialistismen Realismus haben aber auch, und zwar bewußtereinige zeitgenössisme kritische Realisten gespielt; es genügt, Romain Rolland hinzuweisen. ist dieses Bündnis praktisch bereits anerkannt. Es gilt bloß, seine lU.G,tJ""Ut;ll Fundamente aufzudecken, zu zeigen, daß die Verbundendes sozialistischen Realismus etwa mit Thomas Mann ebensoeine »Taktik« ist wie die Berufung auf Goethe oder Tolstoj. es gibt natürlich legitime und wichtige Fälle einer rein taktischen die ihrem Wesen nach unabhängig von den hier .... llU""C"'ll literarismen Gruppierungen ist; so war es im Kampfe den Faschismus, so ist es in dem für die Erhaltung des Friedens. C:~\.IlUl"'ll Fällen wäre es eine sektiererische Beschränktheit, die Frage Realismus auch nur aufzuwerfen. Freilim ist eine reinlime Smeiin der Praxis nimt leimt durchführbar und ist auch oft nicht worden. Man denke an die Zeit zwisch,en beiden Welt..... lIo!o;"'JL1, an die kurze Periode der Linkssympathien von Malraux und Diese Annäherungen hatten· keinerlei echte weltanschaulich~u.,~.,,,.· Fundamente; so mußten sie notwendig für beide Teile 1JY'~U\""'ll bleiben .. Die gegenwärtige Praxis der Weltfriedensbewegung daß es an sich durmaus möglich ist, die Bewertung der politisch·;)V,<'.",'"u Stellungnahme eines Künstlers von der des realistischen Charakters seiner Kunst reinlich zu smeiden. Und im Interesse einer theo:retismen wie künstlerismen Klarheit ist dies unbedingt erstrebenswert. es in den Polemiken oft zu übertreibungen kam - z. B. zum Absehen von den antirealistismen Tendenzen Gides zur Zeit seiner .Annäherung, zur Unterschätzung seiner Bedeutung in der Literatur der Gegenwart nach seinem Abfall -, ändert nichts an der prinzipieLlen Lösbarkeit dieser Frage. Das Bündnis von kritismem und 'sozialistismem Realismus hat aber tiefere ideologische Grundlagen. Darunter ist vielleicht die wichtigste der nationale Chara~ter einer jeden sozialistischen Kultur. Natürlich entstand dieses nationale Wesen nicht aus irgendeinem mystischen Volksgeist, nom weniger aus angeblimen überhistorischen, »ewigen« Rasseeigensmaften. Es ist das Produkt der ursprünglich von den Umständen bedingten Eigenart der gesellschaAlich-gesmichtlimenEntwicr1ung je eines Volks. 'Smon die Auflösungsformen des Urkommu109
nisn\us sind nicht überall die gleichen; jedes europäische Volk anders in den Feudalismus ein, baute ihn anders auf, und sein aus diesem, die Formen der kapitalistischen Entwicklung, die Art der Arbeiterbewegung etc. ist - bei allen gemeinsamen Zügen der bestimmten Formationen - bei jedem Volk eine verschiedene. Indem nun jedes Volk die besonderen objektiven Grundlagen seiner nationalen Existenz, innerhalb der Geltung der allgemeinen Gesetze, niederlegt, baut es sich diesen entsprechend, bildet es sich und bildet sie immer wieder um zu einer bestimmten nationalen Physiognomie. In diese spezifizierte Gemeinschaft wird jeder Angehörige einer Nation hineingeboren; unter ihrem Einfluß, von ihr geleitet wird er zum denkenden und schaffenden Menschen. Es muß aber jedem klar sein, daß gerade die großen Werke des Realismus mit in erster Reihe jenes geistige Milieu schaffen, in welchem, durch welches die Ausbildung einer jeden Persönlichkeit national geprägt wird. Diese Werke übermitteln dem Menschen in gestalteter, sinnfälliger Direktheit die eigenartigen Bestimmungen seiner nationalen. Existenz; durch ihre Formen, in ihren Formtraditionen tritt an). deutlichsten hervor, wie die Eigenart des nationalen Seins eigenartige nationale Bewußtseinsformen hervorgebracht hat und hervorbringt. Je tiefer und inniger die Verbindungen eines Schriftstellers mit dieser wechselvollen, nicht selten Risse, Sprünge und Krisen aufzeigenden Kulturkontinuitätsind, desto reicher und origineller kann sein Werk werden, auch in dem Falle, wenn er zu seiner Gegenwart in heftiger Opposition steht und in den Kämpfen, die daraus folgen, an die Hilfe fremder Kulturen appellieren muß (Lessing und Shakespeare; ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, wie der Einfluß Tolstojs etwa bei Thomas Mann, Romain Rolland und Bernard Shaw gerade das deutsche, bzw. das französische und englische Wesen zu vertiefen geeignet war). Diese allgemeine Lage der nationalen Kulturentwicklung hat zur notwendigen Folge, daß der entstehende sozialistische Realismus, wenn er kein künstliches Laboratoriumsprodukt eines lebensfremden Sektierertums sein soll (Proletkult), tief in die Kontinuität der nationalen Gehalt- und Formenwelt eingebettet sein muß,. daß das höhere Niveau seiner Betrachtungsweise, seiner Perspektive etc. - unbeschadet seiner Originalität, ja gerade diese verstärkend und konkretisierend - aus der Problematik des zeitgenössischen kritischen Realismus, aus der sozialen Wirklichkeit, die diese künstlerisch widerspiegelt, heraus110
ge~ü?t, an die Beziehung Anderson Nexöszu Pontoppidan
dIe Jener selbst,anerkannt hat, oder an die Fäden, die die des jungen Gorki mit Tolstoj, Tschechow, Korolenko etc. Auch hier ist, wie imnier, die Literatur, auch das Schicksal und der Autoren ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entselbst. nur kurz erwähnt, daß in solchen Perioden kritischer und I!;tl~d,pr Realismus zumeist einen gemeinsamen Kampf gegen die und kulturelle Reaktion führen. Lenin hat immer wieder daß keine Chinesische Mauer die bürgerlich-demokratische Revon· der proletarischen trennt. Im Mitleben der Menschen, kannes natürlich noch weniger eine solche Chinesische geben. Beobachtet man etwa Gorkis Entwicklung, so sind es oft merkliche, kaum faßbare übergänge, die den· qualitativen Sprung der plebejischen Demokratie zum Sozialismus vorbereiten und solche übergänge kann man in derartigen Zeiten auch bei bürSchriftstellern, man denke an den späten Tschechow, immer beobachten, auch wenn sie nie -den Rubikon überschreiten. ThoMann hat über diese übergangsformen des Bewußtseins zwischen lichkeit, ihrer Selbstkritik und Sozialismus am Horizont eine deutliche Vorstellung gehabt. Schon in der Mitte der zwanziger schreibt er in seiner »Pariser Rechenschaft«: »Auch ich bin >Bür... Aber das Wissen selbst, wie es um das Bürgerliche heute gesteht, bedeutet schon ein Heraustreten aus dieser Lebensform, Neben-Blick auf Neues. Man unterschätzt die Selbsterkenntnis, man sie für müßig, für quietistisch-pietistisch hält. Niemand ganz, der er ist, indem er sich erkennt.« Natürlich heben noch so Momente der Transition das Qualitative des Sprungs nicht Ihr Vorhandensein jedoch, ihre Bedeutung für jede echte Verwirk•...,...... _- des sozialistischen Realismus in.solchen übergangszeiten zeigt deutlich, wie sehr es sich hier um ein tieffundiertes, solides Bündnis zwischen kritischem und sozialistischem Realismus handelt. Selbstredend gehören zu dem nationalen Gesamtbild der Entstehung des sozialistischen Realismus noch zur Zeit der Herrschaft des Kapita. lismus auch jene reaktionären oder dekadenten Strömungen im gesellschaftlichen Leben, in der Kultur und in der Literatur die auf seiIie anfänglichen Inhalte und Formen einen Einfluß ausüben. So ist der Weg Bechett oder Brechts zur sozialistischen Dichtung ohne den deutschen 111
Expressionismus, ohne die ebenfalls deutsche »Neue 0aUlllUJ.J.\.t:.IL"" ist der Weg von Aragon und Eluard ohne den französischen mus etc. nicht verständlich zu machen. Jedoch darf man dabei stehenbleiben. Keiner von ihnen ist aus solchen Anfängen »von »rein organisch« zum sozialistischen Picht er geworden konnte er schon in dieser Periode gewesen sein -, ohne eine innere bilisierung von Gegenkräften. Diese sind naturgemäß vor allem des Lebens selbst und können sehr wohl von außerhalb der lichen Kultur herstammen; man denke an die ungeheure ~t:LI1Ul~l~''''' Wirkung der Revolution von 1917 und später des sozialistischen in der UdSSR. All dies schafft jedoch die Tatsache nicht aus der daß zur ebengenannten Mobilisierung auch literarische Kräfte der tionalen Vergangenheit und der Gegenwart gehören; wir hier keine Literaturgeschichte, es genügt daher, auf die Rolle und Hölderlins in der Entwicklung Bechers zum sozialistischen hinzuweisen. Tradition und Gegenwart des großen Realismus Bürgerzeit spielt also auch hier die Rolle eines Verbündeten. Feststellungen dieser Art werden wohl kaum auf einen Widerstand' stoßen - wie steht es aber um die Bez;iehung kritischem und sozialistischem Realismus in der Peri(Joe nach der rung der Staatsmacht durch: das Proletariat? Vor allem darf man sehr triviale Tatsache nicht vergessen, daß diese Machtergreifung zwar einen ungeheuren Sprung vorstellt, daß aber die Menschen in Mehrheit, also auch die Künstler, dadurch allein noch keine wesentliche Umwandlung durchmachen. Lenin spricht demgemäß auch mich J davon, daß der Aufbau des Sozialismus eben mit den Menschen geführt werden muß, die der Kapitalism,us geformt und hinterlassen' hat. Auch hier gilt der Satz, daß der Mensch sich dadurch verändert, dadurch zu einem neuen Menschen wird, daß er an der Veränderung der Wirklichkeit aktiv tätig ist. Es ist also von vornherein und absolut unmöglich, daß auch die progressiven, realistischen (nicht die dekadenten) bürgerlichen Schriftsteller vom Moment der Ausrufung der Diktatur des Proletariats sich auf den Standpunkt des Sozialismus stellen. Gar nicht zu reden davon, daß gerade ~iese äußerste Zuspitzung der Klassenkämpfe zuweilen auch fortschrittliche Intellektuelle, sogar ' solche, die später Sozialisten werden; zeitweilig il.?-s Lager der Gegen, revolution treiben kann; die Erschütterung dieses plötzlichen übergangs kann auch bei solchen ernsthafte Schwankungen hervorrufen, die 1\.
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vorher Anhänger des Sozialismus waren. (Es genügt, an Gorkis in der Zeit der akutesten Klassenkämpfe zu Gruppierungen auf einem so rein ideologischen Gebiet wie sind zumeist noch komplizierter als unter Menschen, die Tätigkeit unmittelbar in der Produktion, im politischen LeSo kann die Sensationslüsternheit, die Sehnsucht nach dem um des Neuen willen, der abstrakt-romantische Antikapitalisr.....,t..p~p,. der extremen Dekadenz zeitweilig dem Sozialismus näin ihnen die Einbildung erwecken: ihre »Revolution der Form« der sozialistischen Revolution identisch, deren allein angemessedec,lolri·sch,er Ausdruck. Ebenso entsteht in der sektiererisch-kommu,e1J,l~t:IlL; der Traum einer »rein proletarischen« Kultur, OrStelJlung:. man könne eine »radikal neue« sozialistische Kunst Unabhängigkeit von jeder früheren gewissermaßen in der züchten (Proletkult). Solche Tendenzen spielen in den AnIJl;Slam:en der proletarischen Diktatur notwendig eine große Rolle; überwindung -obwohl die theoretisch klar denkenden Kommuvor allem Lenin, ihre Nichtigkeit, ihre innere, objektive BezieIl~SlOSlg:Jl~elt zum Sozialismus von Anfang an durchschauen - kann stattfinden, wenn die Erfahrungen des neuen Gesellschaftsim Bewußtsein breiter Massen tief eingewurzelt sind, wenn viele Künstler aus eigener Erfahrung gelernt haben, wirklich Neue am neuen gesellschaftlichen Sein auch künstlerisch .begreifen. ist darum sicherlich kein Zufall, daß der Ausdruck »sozialistischer ,........ l',l11U'" erst seit dem 1. Kongreß des Sowjetischen Schriftstellerveralso 17 Jahre nach der Machtergreifung des Proletariats, eine Verbreitung fand. Di y vorangegangenen ideologischen können hier nicht geschildert werden. Wir müssen nur festdaß die Bestimmung des sozialistischen Realismus durch den ."'T'"'''''' vor allem durch das Referat Gorkis das Ergebnis jahrelanger '''''.US:HUllt:lI und Richtungskämpfe war. Für unser Problem ist dabei Bewertung der sogenannten Weggenossen das wichtigste. Denn vor- vom inhaltlichen Standpunkt - sind die Weggenossen bürgerSchriftsteller, kritische Realisten, die aber mit der sozialistischen 'l"'JL>CI.LUll~ der Diktatur des Proletariats sympathisieren oder zumin_ch mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung abfinden. Der 113
(J Ausdruck Weggenosse zeigt an, daß von seiten-kompetenter Instanzen eine Neigung vorhanden war, sie als Verbündete im Aufbau einer sozialistischen Kultur zu betrachten. Dieser Gesichtspunkt konnte sich aber nur nach schweren Richtungskämpfen durchsetzen. Nachdem der Beschluß des ZKs vom Jahre 1925 sich für die Anerkennung dieses Bündnisses aussprach, lief die Praxis der bald nachher zur Herrschaft gelangten Rapp bereits in der Richtung ihrer Unterdrückung, ja es entstand die Tendenz, nur den »bewußtesten« Teil der sich offen zum Sozialismus bekennenden Schriftsteller als wirklich »proletarisch« anzuerkennen. (Angriffe in dieser Richtung sogar gegen Gorki und Scholochow.) Erst die Auflösung der Rapp (1932) lenkt wieder in die Richtung des Bündnisses zurück, aber bis in die letzte Zeit werden, wenn auch sporadisch, Erneuerungsversuche der Rapp-Ideologie konstatiert und kritisiert. Diese Richtungskämpfe in der SU haben unsere Frage wesentlich konkretisiert. Es wäre aber eine Illusion, anzunehmen, daß Länder, die viel später den sozialistischen Weg betreten haben, nun an solche in schweren ideologischen Auseinandersetzungen errungene Resultate ohne weiteres anknüpfen könnten. Lenin kritisiert immer wieder den sektiererischen Standpunkt, als ob das, was für eine Avantgarde bereits bewußt geworden ist; von den Massen einfach übernommen werden könnte; er betont dagegen, daß die Massen ·von einer neuen Wahrheit nur durch ihre eigenen Erfahrungen überzeugt werden können. Es ist nun klar, daß die Schriftsteller in mancher Hinsicht ebenfalls zu den Massen gehören, auch wenn sie das meistens nicht zugeben würden; aber darüber hinaus ist gerade die Literatur ein Metier, in welchem die eigenen Erfahrungen absolut unentbehrlich, niemals auch durch noch so wohlgemeinte und überzeugte Entschlüsse zu überspringen sind. Die Erfahrungen der SU können also unter Umständen solche Prozesse verkürzen oder beschleunigen, den Weg durch die eigenen Erfahrungen der Schriftsteller können sie jedoch nie überflüssig machen. Um so mehr als - init Ausnahme Chinas und Jugoslawiens - die neuen sozialistischen Staaten nirgends durch' einen Bürgerkrieg entstanden sind. Das hat sicher in einigen Beziehungen seine Vorteile, aber nicp.t immer nur Vorteile. Denn jene Erschütterungen, jene Zwangslagen der Wahl, die in vielen Menschen, auch in Schriftstellern, eine Umkehr, eine Peripetie erzeugen, treten in solchen Entwicklungsprozessen wie dieser abgeschwächt nicht in einer lebensmäßigen Schärfe und Tiefe hervor. Die Umwandlung, 114
sich hier vollzieht, setzt deshalb ideologisch nicht weniger, sondern voraus. Wir haben in diesen Zeilen bei weitem nicht aen Umkreis wirklichen vorwärtstreibenden und retardierenden Motive umrisjedoch schon diese wenigen kursorischen überlegungen zeigen die Unvermeidlichkeit dessen, daß große Teile der begabten bürgerSchriftsteller, auch wenn sie politisch mit der Verwirklichung des , .......
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sein Bestreben von innen zu gestalten etwas Jenseitiges hat. Und dadurch, daß der Sozialismus für ihn nicht mehr bloße Perspektive, sondern ein Sein, ja das seinsmäßige Fundament einer eigenen Existenz geworden ist, verengt sich jener Spielraum des Ausweichens vor der direkten Gestaltung dieses Lebenskreises im Vergleich zu der Lage, in welcher sich etwa Thomas Mann als Schriftsteller im Kapitalismus befand. Gibt es unter solchen Umständen für den kritischen Realismus überhaupt noch reale, konkrete Gegenstände, Anhaltspunkte der Gestaltung? Wohl doch. Vor allem darf nicht vergessenwerden, daß die alten Seinsund vor allem Bewußtseinsformen noch eine Zeitlang einen Teil anfangs einen beträchtlichen - des Lebensstoffes ausmachen. Freilich und dies ist entscheidend wichtig - nicht mehr in der alten Weise. Wir wissen: jedes Sein erhält sein eigentliches Sosein durch seine Bewegungsrichtung. Mit ihr verwandeln sich unmittelbar nicht nur viele Inhalte und Formen dieses Sei~s, sondern auch jene, die relativ remanent bleiben, erhalten qualitativ neue Funktionen. Dieser Lebensstoff mag also· dem bürgerlichen Schriftsteller aus früheren Erfahrungen noch so wohlbekannt sein, er steht ihm doch jedesmal als ein qualitativ Neues gegenüber. Und zwar nicht nur so, wie er die historischen Wandlungen auch im Kapitalismus neu erleben, neu erforschen muß, um ihre Wirklichkeit adäquat gestalten zu können; das Problem des Neuen hat hier vielmehr ein neues Gesicht: sein abstraktes, bloß nicht ablehnendes Verhalten zu sozialistischen Perspektiven muß sich ständig konkreti'sieren, um die neuen Momente als neue, nicht nur als Auflösung, Zersetzung etc. aufnehmen und gestalten zu können. Dieser Prozeß kann sich - bis zu einer gewissen Grenze - noch innerhalb des bürgerlichen Bewußtseins abspielen, er kann aber zugleich auch eine innere Annäherung an den sozialistischen Standpunkt erhalten. Jedenfalls entstehen auf diese Weise äußerst mannigfaltige übergänge zwischen kritischem und sozialistischem Realismus, auf welche wir noch zurückkommen 'werden. Es ist aber ebenfalls notwendig, den Eigenwertsolcher Schöpfungen des kritischen Realismus anzuerkennen. Denn es gehört ebenfalls Zur sektiererisch-bürokratischen Verengung der Stalinschen Periode, daß in der Frage der Darstellung der sozialistischen Wirklichkeit die Forderung der kommunistischen Bewußtheit permanent überspannt, ja zuweilen nur dieser das Recht zugesprochen wurde, Schwierigkeiten oder
tl'unge:n überhaupt zur Sprache zubringen. Selbstredend in der daß diese Schwierigkeiten im Werk sofort gelöst werden etc. Frage zeigt sich auch darin eine sektiererisch-bürokratische EntAuf dem Gebiet des ökonomischen und politischen Lebens verz. B. Lenin immer wieder den Standpunkt, daß die Rechte der oft auch gegen ihre eigenen Behörden geschützt werden deren Bürokratismus kann sehr leicht solche Konflikte Derartige Lebenstatsachen zeigen den realen Spielraum l\.LJLC1>Ult:ll Realismus in der sich entwickelnden sozialistischen Geselles ist eine Welt in Transformation, deren einzelne Schritte 'lal~rS·D··le!leln sich in den verschiedenen Klassen und Schichten (oder in überresten) außerordentlich verschieden. Auch bei Bejahung der um","".",",';;H'" der Entwiddung kann dieses Urteil in bezug auf diese außerordentlich verschieden ausfallen, je nach deren Richtigoder (eventuell partiellen) Fehlerhaftigkeit, je nach dem Verständnis der betreffenden Schichten für das Wesentliche am Gelingen Mißlingen. D:~mit sind natürlich nur gewisse allerallgemeinste Umrisse einer sozial berechtigten Gestaltung für den kritischen Realismus in dieser übergangszeit aufgezeichnet. Da der echte, nicht bürokratisch-subjektivistisch entstellte Marxismus auf immer vertiefterer Erforschung der objektiven Wirklichkeit basiert, muß er, auch auf dem Gebiet der Literatur,einen solchen kritischen Realismus als Verbündeten betrachten. Daß ein so differenzierter Inhalt sehr verschiedene Formungen hervorbringen kann, versteht sich von selbst. Die sektiererisch-bürokratische Verengung zeigt sich vor allem darin, daß sie einerseits von jeder Kritik die sofortige Korrektur der Fehler, andererseits ihre Beurteilung ausschließlich vo.m Standpunkt der kommunistischen Avantgarde fordert, was darüber hinausgeht, wird als Stimme des Feindes gebrandmarkt. Damit wird der objektiv vorhandene, von der gesellschaftlichen Entwicklung selbst produzierte Spielraum für den kritischen Realismus ·eingeengt, ja in vielen Fällen geradezu annulliert. Denn ihre Bedeutung besteht gerade darin, die Spiegelungen der Entwicklung zum Sozialismus im nicht sozialistischen Bewußtsein aufzuzeigen und damit den Reichtum des neuen Lebens, seine umwandelnde Kraft, die Verschlungenheit des eingeschlagenen Weges in seinen subjektiven wie objektiven Auswirkungen zur Sprache zu bringen. (Da der ausgesprochen feindlithe Standpunkt keine Verw:irklichung des kritischen Realismus
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gestattet, haben wir bereits die Lage des Kapitalismus analysierend dargelegt; im Sozialismus wird dies natürlich noch gesteigert.) So aber kann der kritische Realismus eine große Bedeutung erlangen und sowohl gesellschaftlich wie künstlerisch Zu einem wichtigen Verbündeten des entstehenden Sozialismus werden. Urisere bisherigen Betrachtungen bezogen sich auf die Gegenwart als Stoff der Literatur. Natürlich erleiden für den Schriftsteller auch alle Themen, die aus der unmittelbaren oder weitabliegenden Vergangenheit genommen sind, ebenfalls wichtige Veränderungen, da die Verwirklichung des Sozialismus vieles in der Vergangenheit wesentlich neu erhellt, indem das Wohin? ihrer Bewegung erst jetzt deutlich zu werden vermag. Und auch hier handelt es sich nicht einfach darum, daß »dieselben« Menschen, Beziehungen, Begebenheiten etc. in eine neue Beleuchtung rücken, vielmehr müssen Inhalte, Beziehungen, Strukturen wesentlich neu gesehen und bewertet werden, weil das sich konkretisierende Wohin? manches, was bis dahin wichtig schien, zur Unwesentlichkeit degradiert und manches Vergessene und Vernachlässigte in den Vordergrund schiebt. All dies schließt aber eine fruchtbare Beziehung des noch immer bürgerlich gebliebenen Schriftstellers zu solchen Themenkreisen keineswegs aus. Vor allem dann nicht, wenn er schon früher einen plebejischen Standpunkt einnahm. Denn das Erhellen des Wohin? der Vergangenheit im sozialistischen Sein hebt zwar ihre Sicht auf ein qualitativ höheres Niveau, muß aber keinen vollständigen Bruch mit den plebejisch-revolutionären Perspektiven zur Folge haben. Eine An~ näherung, ein Mitgehen, ja ein übertreffen bisheriger Tendenzen ist also für den kritischen Realisten hier durchaus gegeben. Dazu kommt das uns von Heine her bekannte Motiv: der Sozialismus ist der entschlossenste, erfolgreichste Feind jener Mächte, gegen welche die besten bürgerlichen Schriftsteller ständig im Kampf standen. Zu Heines Zeiten war dieser Feind der deutsche Chauvinismus, in einer späteren Zeit der aggressive und kulturfeindliche Imperialismus, später die verschiedenen Abarten des Faschismus, heute die Ideologie des kalten, die der Vorbereitung eines wirklichen Krieges. Alle diese Motive, die Gründe zu festen politischen Bündnissen in, der Gegenwart werden konnten, schaffen zugleich für den kritischen Realismus weitere Möglichkeiten, das sozialistische Wohin? der Geschichte ,zur Weiterbildung seiner eigenen Perspektiven zu verwerten, ohne deren weltanschauliche Grundlagen aufgeben zu müssen. Je weniger die zum Stoff der 118
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gewordene Vergangenheit direkt mit der Entstehung des
"V"''''UO,HH~' zusammenhängt, desto größer wird dieser Spielraum. Er
jedoch auch bei einer intimeren Verschlungenheit dem kritischen nicht fremd bleiben. Es sei hier nur an das Problem des nationalen Charakters einer jeden sozialistischen Entwicklung erinnert. bedeutet, daß zwischen echtem Nationwerden eines Volkes und zwischen seinen entscheidenden Klassenkämpfen eine innige Wechselbeziehung besteht, die nicht nur das nationale Schicksal bestimmt, sondern auch sowohl den vorproletarischen Revolutionskämpfen wie der Arbeiterbewegung selbst einen nationalen Stempel aufdrückt. 'Natürlich ist die Erforschung und Bewertung der hier durch den Sozialismus neu beleuchteten Z~sammenhänge in erster Linie die Aufgabe der marxistischen Geschichtsforschung. Jedoch die Literatur kann dabei durchaus, eine selbständige Pionierrolle spielen. Hier tritt nun der Bündnischarakter zwischen kritischem und sozialistischemRealismus mit voller Deutlichkeit hervor. In wie hohem Ausmaße die plebejischen Bewegungen und später der Klassenkampf des Proletariats die wahren nationalen Interessen, den wahren Weg zum Nationwerden gegen die herrschenden Klassen vertreten haben (deutscher und ungarischer Bauernkrieg im 16. Jahrhundert, französische Revolution etc.), ist nicht nur objektiv historisch nicht immer genügend erforscht, es ist aber zugleich noch lange nicht zum festen Bestandteil des sozialistischen Bewußtseins geworden. Es mag sein, daß bei bürgerlichen, plebejischen Schriftstellern das soziale Motiv gegenüber dem nationalen mitunter zu kurz kommt: jedes Aufhellen dieser Zusammenhänge 'ist trotzdem ein bedeutsamer Schritt vorwärts in der Entstehung eines vielseitigen und echten, den nationalen Charakter hinreichend berücksichtigenden sozialistischen Bewußtseins. Dazu ist noch zu bemerken, daß es gerade bei Vertretern des sozialistischen Realismus vorkommt, daß neben der Allgemeinheit der sozialistischen Inhalte des Klassenkampfes die Besonderheit ihres nationalen Charakters verschwindet oder verblaßt. Indem der kritische Realismus diese Seiten des sehr komplizierten Komplexes - wenn auch ebenfalls mit einer gewissen Einseitigkeit - in den Vordergrund stellt, bewährt er sich als Verbündeter; er bringt Neues und Wichtiges und korrigiert, auch mit seinen Einseitigkeiten, andere Einseitigkeiten; Es sei hier bloß auf die bedeutende »D6zsa-Tragödie« Gyula Illyes' aus der ungarischen BauernrevdKltion von 1514 hingewiesen. .ß.t::au·~m
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Die bis jetzt geschilderten Tendenzen verstärken sich noch von der jektiven Seite. Dabei sei nochmals betont: ein Stillstand ist subjektiv nicht möglich, de facto verwandelt er sich in eine Rückwärtsbewegung, besonders in stürmischen Zeitwenden. Wir haben bereits auf die dialektische Widersprüchlichkeit im Reagieren der bürgerlichen Intelligenz auf Entstehung und Entwicklung des Sozialismus hingewiesen. Jetzt sei noch vom Standpunkt der Schriftstellerexistenz hinzugefügt, daß eine rein negative Reaktion auf geschichtliche Tatsachen für den Schriftsteller von der Gefahr begleitet werden kann, daß er den Kontakt mit der Wirklichkeit verliert, daß seine Perspektive, die nunmehr in einer Mitvergangenheit und nicht in der Gegenwart verankert ist, sich zur leeren Abstraktion verdünnt, und er damit außerstande gesetzt wird, seinen eigenen ge~ellschaftlich-menschlichen Lebensstoffdichterisch zu ordnen. Je breiter und tiefer dieser Riß wird, desto entwurzelter kann die für seine Gestaltung zugängliche Welt werden, die so entstehende Entfremdung erfaßt dann auch jene Umkreise des Lebens, die ihm an sich tief vertraut sein mögen. Das ist im wesentlichen das Schidtsal der Emigrationsschriftsteller. Die sogenannte innere Emigration unterscheidet sich von der äußeren - zu ihrer Ungunst - darin, daß zu der seelischen Entfremdung sehr oft eine äußere Anpassung hinzutritt, deren immanente Widersprüchlichkeit zumeist durch Hypokrisie oder Zynismus ausgeglichen wird: wir haben in der bürgerlichen Literaturentwicklung solche Züge bei Benn, Jünger oder Salomon aufgezeigt. (Daß die Fehler, ja Verbrechen des Stalinschen Regimes manche Tatsachen in der inneren wie äußeren Emigrationsliteratur als bestätigt erscheinen lassen, ändert an der allgemeinen Lage solcher Schriftsteller in der historischen Entwicklung, in der. Perspektive ihrer Produktion so gut wie nichts.) . Diese allgemeine, sozusagen soziologisch verallgemeinerte Lage mußte darum skizziert werden, weil erst von einer solchen Basis aUs die wesentlichen Unterschiede, ja Gegensätze der Entwicklung aufgezeigt werden können. Es ist nämlich außerordentlich abstrakt, das Nein, das ein Schriftsteller einer gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber ausspricht, als in jedem Fall gleich aufzufassen. Die Ablehnung kann nämlich abstrakt oder konkret sein; sie kann sowohl aus der Unfähigkeit, eine neue Etappe der menschlichen Entwicklung zu verstehen, als auch aus der richtigen Einsicht in einen ihrer reaktionären Rückf~lle entspringen. Die beiden Gegensatzpaare sind nicht einfach 120
. Zwar fallen oft Abstraktheit des Nein und Unfähigkeit, zu verstehen, konkrete Ablehnung und Einsicht ins Reakzusammen, es wäre aber eine vulgarisierende Vereinfachung, Zusammenfallen als begrifflich notwendig aufzufassen. Man etwa an die schöne Novelle von Vercors "Das Schweigen des aus der Zeit der Hitlerbesetzung Frankreichs; das Nein ist aber die historische Perspektive ist auf wirkliche Tatsachen, die wirkliche Entwicklung fundiert. Khnliche Beispiele könnte man alle Kombinationen anführen. Klärung der Frage ist vielmehr notwendig, den Gegensatz von und Reaktion, von Kritik eines Systems von links oder rechts einzuschalten. Dann zeigt es sich, daß die äußere wie die Emigration-einer sozialistischen Entwicklung gegenüber dazu ist, den Kontakt mit der historischen Realität zu verlieren deshalb ideologisch wie künstlerisch zu verdorren, während die Emigration gerade aus ihrem Gegnertum Gesichtsfür eine tiefere Beurteilung der Wirklichkeit schöpfen konnte, sie es oft vor der Emigration besaß; die Beispiele von Arnold Zweig Feuchtwanger sprech~n hier eine beredte Sprache, um von Heinrich und Tl10mas Mann gar nicht zu sprechen. Man sieht: an Konflikten mangelt es hier nicht; nirgends sind aber diese von vornherein unlösbare. Im Gegenteil. Diese Konflikte haben nur allzuoft eine große Fruchtbarkeit. Allein schon dadurch, daß sie selbst - ganz allgemein gesprochen: die Beziehung des bürgerlichen Schriftstellers zur sozialistischen Wirklichkeit - zu einem der großen Themen der übergangszeit werden können. Es ist auffallend, daß sowohl die bürgerliche wie die sozialistische Literatur als wesentliches Kennzeiche~ ein Bevorzugen des oft autobiographischen Erziehungsromans zeigt. Das ist keine zufällige Parallelität. Denn beide Gesellschaften sind, im Vergleich zum Früheren, in einer ständigen, dynamischen Entwicklung begriffen; so daß es für das heranwachsende Individuumdutchaus nicht selbstverständlich ist, ein solches Verhalten zum Leben in sich auszubilden, wodurch es geeignet wird, in der Gesellschaft eine ihm angemessene Stelle einzunehmen. Eine andere Seite derselben Lage ist, worauf schon der junge Marx hingewiesen hat, daß der Kapitalismus für jedes Individuum eine gewisse Zufälligkeit in seiner Klassenzugehörigkeit produziert. Er ist nicht mehr mit einer angebore~n Selbstverständlichkeit Bourgeois oder Proletarier, sondern er 121
wird es im Laufe seiner persönlichen Entwicklung; in schroffem Gegensatz zu den ständischen Gesellschaften, wo dies - als Regel - ohne Wahl, unaufhebbar, »naturhaft« gegeben ist. Es bedarf keiner ausführlichen Darlegung, daß die eben betonte Zufälligkeit im Soziali~mus, in diesem Schmelztiegel der Klassen, wo einzelne endgültig untergehen, andere, bevor sie in die klassenlose Gesellschaft aufgehen, ein wesentlich neues Antlitz erhalten, gesteigert besteht. Hier ist die definitive Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe in weitaus stärkerem Maße die freie Tat des Individuums, als es im Kapitalismus war: Freiheit, natürlich als erkannte, als nicht mehr blinde Notwendigkeit verstanden, als Notwendigkeit, die ohne Zufälligkeiten in sich aufzuheben gar nicht wirksam sein könnte. Es scheint uns aber noch wichtiger, die Unterschiede, als, die Khnlichkeiten hervorzuheben. Es ist aus dem bisher Dargelegten verständlich, warum der Erziehungsroman, in offener oder indirekter Form, eine so große Rolle in beiden Literaturen spielt. Jedoch schon Hege1 hat - mit seinem an Ricardo gemahnenden »Zynismus« - den sozialen Sinn einer solchen Erziehung für den Kapitalismus ausgesprochen: »Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.« In einem bestimmten Sinn widersprechen' viele der besten bürgerlichen Romane dieser Feststellung Hegels, in einem anderen, ebenso bestimmten Sinn bestätigen sie wiederum seine Aussage. Sie widersprechen, indem der Abschluß der von ihnen gestalteten Erziehung keineswegs immer eine derartige Anerkennung der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet. Der Kampf um eine den Jugendträumen und überzeugungen entsprechende Wirklichkeit wird von der gesellschaftlichen Gewalt abgebrochen, die Rebellen oft auf die Knie, oft zur Flucht in die Einsamkeit etc. gezwungen, aber die Hegelsche Versöhnung wird doch nicht von ihnen erpreßt. Allerdings, indem der Kampf mit Resignation endet, kommt sein Ergebnis dem Hegeischen doch'nahe. Denn einerseits siegt die objektive soziale Realität ,dann doch über das bloß Subjektive. der individuellen Bestrebungen, andererseits ist die von Hegel proklamierte Versöhnung schon bei diesem einer Resignation keineswegs völlig fremd~ Ganz anders ist die Lage in der sozialistischen Gesellschaft. Nur in ab122
Scheinbarkeit ließe sich, das oben angegebene Schema auf den rzlehl111~~sr'Dm,an dieser Welt anwenden. Es handelt sich vielmehr dar-
daß der bürgerliche Individualismus, der nur unbewußt und undas Gesellschaftliche in sich aufnimmt, vom Leben selbst zu bewußten Gesellschaftlichkeit umerzogen wird. Darum ist sein keineswegs eine Resignation; im Gegenteil: der Weg geht einem allgemein auf Resignation intentionierten Verhalten zu dem der menschlichen Basis einer gesellschaftlichen AktiEr ist also kein Weg in die Einsamkeit, wie in den meisten späteren bedeutenden Romanen des kritischen Realismus, sondern im Gegenteil einer, der aus der Einsamkeit in die beginnende Verwachsenheit mit den gesellschaftlichen Kräften, mit den gleichstrebenden Mitmenschen führt;. der Weg zu einer neuen, höheren Form der Persönlichkeit. Es wird deshalb wohl kein Zufall sein, daß viele der wichtigen Werke dieser Art, im Gegensatz zu den typischen bürgerlichen Erziehungsromanen, die von der Kindheit bis zu den Krisen der Mannbarkeit führen, die soziaiistischen, oft init jener Krise von erwachsenen 'Menschen einsetzen, die die Entstehung des Sozialismus in der bürgerlichen Intelligenz hervorruft. Darin liegt, in beiden Fällen, ein gesellschaftlich bedingtes autobiographisches Element. Im Kapitalismus jenes Moment der von Marx erkannten Zufälligkeit der gesellschaftlichen Existenz überhaupt, im Sozialismus eine Widerspiegelung jener Krise, die die sozialistische Revolution in der bürgerlichen Intelligenz ausgelöst hat. So konvergiert, besonders in der Anfangsperiode des Sozialismus, das zentrale; objektive Thema der bürgerlichen Intelligenz: die innere Entscheidung, die Stellungnahme pro oder contra mit einer dichterisch naheliege'nden Autobiographie. Diese Konvergenz ist so stark, daß das menschlich-gesellschaftliche und das dichterische Verhalten einander gegenseitig verstärken: das persönlich Vitale der sozialen Auseinandersetzung beflügelt und erfüllt die dichterische, deren Gestaltung, deren schriftstellerische Anordnung und Abrundung erzwingt klarere Antworten in den Lebensfragen. Natürlich handelt es sich hier nur um eine gesteigerte MÖglichkeit solcher gegenseitiger Beförderung der menschlichen und dichterischen Entwicklung; sie kann eintreten, muß aber nicht. Es ist aber doch auffallend, eine wie große Rolle derartige Werke der selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen - bürgeilichen - B~ußtsein inmitten der Anfangsstadien des sozialistischen Seins 123
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spielten. Es ist auch auffallend - und keineswegs zufällig -, daß , manche Schriftsteller gerade diese Auseinandersetzungen den Weg zum sozialistischen Bewußtsein, vom kritischen Realismus zum 'U'~!"'JL!'L! schen eröffnet haben. Das größte Beispiel bleibt wohl Alexej gewaltige Trilogie »Golgatha«, deren erster Teil noch im freiwillig ge- " wählten Exil entstanden ist, während der Abschluß bereits das Er- ' oberthaben des sozialistischen Bewußtseins spiegelt. i\hnliches kann " man bei ,Fedin, Schaginjan und anderen Schriftstellern finden. Schon diese Tatsachen zeigen, was jedoch auch in unseren früheren Darlegungen implicite enthalten war, daß man die Grenze zwischen kritischem und sozialistischem Realismus in der Periode des übergangs einer Welt zum Sozialismus nie metaphysisch erstarren lassen darf; daß, obwohl die beiden Stile - ästhetisch-begrifflich gefaßt - sich scharf" voneinander abheben, in der Wirklichkeit bei demselben Schriftsteller, ja selbst in demselben Werk unmerkliche übergänge vom kritischen Realismus zum sozialistischen sein können. (Natürlich kann es auch rückläufige Bewegungen geben.) Nach dem bisher Ausgeführten ist dari~ nichts überraschendes enthalten. Wenn schon für den kritischen Realismus der kapitalistischen Welt das nicht a limine Ablehnen der sozialistischen Perspektive zu einem Kriterium der weiteren Fruchtbarkeit geworden ist, ist es klar, daß dieses Eindringen sozialistischer Gesichtspunkte auf dem Boden eines sozialistischen - auch: sich in der Richtung auf den Sozialismus umwandelnden - Seins gesteigert erscheinen muß und die im bürgerlichen Milieu schon schärfer trennenden Differenzen sich im zunehmenden Maße verwischen, fließende übergänge schaffen müssen. Diese Entwicklung ist ja nur eine Widerspiegelung des Seins. Die Errichtung, der Diktatur des Proletariats kann ja nur auf bestimmten Gebieten sofort ausgesprochen sozialistische Seinsformen schaffen; und auch auf solchen Gebieten bleibt das Bewußtsein jedoch lange Zeit dahinter zurück, d. h. staatliche, gesellschaftliche sozialistische Existenzweisen funktionieren für beträchtlicheStrekken ~o, daß die Menschen, die in ihnen leben, ihre Gebote durchführen, all dies noch weitgehend mit einem vielfach remanenten bürgerlichen Bewußtsein tun. In anderen sehr wichtigen Lebensgebieten, z. B. in der Landwirtschaft, ist dieser übergang noch langsamer. Nicht nur bürgerliche Formen des gesellschaftlichen Seins bleiben noch lange bestehen, sondern auch die sie allmählich überwindenden sind, besonders im Anfang, keineswegs konsequent sozialistischen Charakters. 124
U1:,er:gaIlgsf01:mlen zwischen kritischem und sozialistischem Realishaben also ein solides Fundament in der notwendigen Entwicklung Sozialismus selbst. Indem die kritischen Realisten, darin ihren Traditionen folgend, die Widersprüche im allmählich sich aufsich langsam der neuen Welt zuwendenden Alten aufdecken schriftstellerisch in typischen Gestalten und typischen Lebenslagen Darstellung bringen, verstärken sie nicht bloß in sich selbst diese "COll';"'J,Il';'UILllm'ULt:, auch wenn der Akzent ihren natürlichen überentsprechend stärker auf den Widersprüchen selbst als auf konkreten Formen ihrer Aufhebung liegt. Zugleich jedoch wird Erhelle1,l sonst verborgen oder unbeachtet gebliebener Widerdiese auf ihre besonderen Erscheinungsformen gerichtete Auf(lt:rKS,tmlll..t!l objektiv das eben dargelegte Bündnis zwischen kritischem sozialistischem Realismus verstärken. Je mehr der behandelte Stoff gemeinsamer ist, je mehr die Schriftsteller von verschiedenen Seiten dieselben' Entwicklüngsbedingungen und -richtungen derselben Wirklichkeit erforschen, je stärker sich diese, mit allen geschilderten Trennungen, in eine überwiegend oder rein sozialistische verwandelt, desto näher muß der kritische Realismus dem sozialistischen kommen, desto mehr niuß sich seine negative (bloß: nicht ableh~ende) Perspektive, durch viele übergänge, in eine positive (bejahende), in eine sozialistische verwandeln. Es handelt sich also, kurz gefaßt, darum, daß mit der Volleritwicklung des Sozialismus der kritische Sozialismus in seinem Bereich als besonderer literarischer Stil allmählich abstirbt. Wir haben auf eine Reihe . von nat'ürlichenSchranken, auf einen Komplex der notwendigen Problematik hingewiesen, die auf dem Boden des Sozialismus notwendig entstehen muß; all dies wird - als Tendenz betrachtet - den Spielraum des kritischen Realismus im historischen Ausmaße immer mehr verengen, indem eine gesellschaftliche Welt entsteht, deren adäquate Darstellbarkeit für den kritischen Realismus immer unzugänglicher wird. Gleichzeitig entstehen, wie wir ebenfalls zu zeigen versucht haben, im kritischen Realismus immer stärker übergangsformen, die zu den Gesichtspunkten des sozialistischen Realismus hinüberleiten. Die ununterbrochene, wenn auch keineswegs geradlinige, rückfallslose Verstärkung beider Tendenzen führt allmählich zu dem, was wir eben das Absterben des kritischen Realismus genannt haben. Der Ausdruck Absterben sei strifi wörtlich verstanden. Es ist unvermeidlich, daß ein Gesellschafts'
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zustand entsteht, der adäquat nur vom sozialistischen Realismus dar': gestellt werden kann. Und wenn es auch ein langer Prozeß ist, der dahin führt - ein viel längerer, als ihn ungeduldige Sektierer wünschen und zu proklamieren pflegen -, ein solcher Abschluß ist unvermeidlich. Diese Unausweichlichkeit ist jedoch eine organische, eine aus den wesentlichen Momenten des Schöpferis
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Geschichte eine Art von übergangsproblematik zustande kommt: der entsteht ein Zurückschrecken davor, auch formell alle Kon.. -.-------- der neuen Inhaltlichkeit zu ziehen, d. h. ein ängstliches Sichan das Alte, eine Scheu davor, die Geleise des Gewohnten zu oder es wird das abstrakte Wesen des neuen Gehalts - alles sagt Hegel, tritt in der Geschichte zuerst abstrakt auf - allzu zum Ausdruck gebracht. Dadurch wird gerade die Abstraktüberspannt, und die konkreten Seiten des Gehalts, die Möglichdurch die neue Einstellung konkretes Neuland Zu erobern, sich oder schwächen sich wenigstens ab. In der EntwicklungseSChIchte del," bürgerlichen Literatur verkörpern etwa die Tragödien 'den etSten Typus dieser Gefahr, die Dramen Lillos oder .., .... <;lUL~ die zWl;ite. Gefahren war und ist auch der sozialistische Realismus ausUnd auch bei ihm liegt der Hauptherd der Gefahren gerade wo dir Quelle .seiner überlegenheit zu finden ist: in der neuen, qualitativ höheren, konkreteren und umfassenderen Erscheinungsweise " Perspektive. Es liegt im Wesen der Sache, daß der Mangel an . Kühnheit in dieser Frage die praktisch seltener auftretende, theoretisch . weitaus einfachere Gefahr ist. Selbstverständlich wird es immer wieder Schriftsteller geben, die vor den letzten Konsequenzen ihres Themas, vor dessen wirklichen Perspektiven zurückschrecken, die deshalb auf sozial und historisch niedrigeres Niveau im Auffinden des Gehalts und dessen Formen zurückfallen. Es entsteht dabei eine ungesunde und minderwertige Variante des bürgerlichen Realismus oder wenigstens eine äußerst problematische Annäherung an seine Ausdrucksmittel wobei naturgemäß gerade dessen größte Tugenden fehlen müssen. Die: um so mehr, als naturgemäß der gehaltmäßige und formelle Anschluß eher an die äußerst problematischen Tendenzen der spätbürgerlichen Literatur als an die der klassischen Periode des kritischen Realismus zu erfolgen pflegt (Zolaismus, »Neue Sachlichkeit«, Reportage- oder Montagestil etc.). Es wäre ein grober Irrtum, solche Produkte mit den früher angedeuteten kritisch realistischen Werken, die im übergang zum sozialistischen Realismus begriffen sind, unter einen Hut bringen zu wollen. Denn wie wir es bei der Beziehung von Avantgardeismus und kritischem Realismus unserer Tage aufgezeigt haben, entscheidet in solchen Fällen - auch künstlerisch - nicht der jeweilig statisch angesehendAStandort, sondern die Richtung, die Bewegung, deren Moment
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dieser ist. Und hier ergibt sich weit öfter eine Bewegung nach als nach vorwärts, was sich z. B. im Vorherrschen der L,UISl:;;mlLUlI!K1 deutlich zeigt. Zudem bietet diese Seite der Frage für das, was uns interessiert; für das Verhältnis von kritischem und ,..JL. ••"' . .,".,,"'..... 'Realismus, wenig Interesse. Uni so wichtiger scheint uns die andere Gefahr, die überspannung Perspektive, zu sein. In meiner Rede auf dem IV. deutschen stellerkongreß habe ich einige der hervorstechendsten Züge der so stehenden Problematik kurz skizziert, Im Zentrum stand damals Recht - die Frage, daß der Wirklichkeitscharakter der Perspektive kannt wird; d. h. daß viele Schriftsteller das, was zwar als eine in . ' Zukunft weisende Tendenz, aber nur als eine solche vorhanden ist, die eben darum, richtig aufgefaßt, den entscheidenden Standpunkt zur Bewertuno- der gegenwärtigen Etappe ergeben könnte, einfach mit der Wirkli~eit selbst identifizieren, die oft nur im Keime vorhandenen Ansätze als vollentfaltete Realitäten darstellen, mit einem Wort, daß sie Perspektive und Wirklichkeit einander mechanisch gl~ichsetzen. In dieser Rede habe ich mich mit den unmittelbaren künstlerISchen Folgen . dieses Kurzschlusses beschäftigt. Es ist auch jetzt notwendig, auf diese konkret hinzuweisen; es kommt jedoch darüber hinaus vor allem darauf an die ideologischen Grundlagen dieser künstlerischen Abirrung aufzudecken da die Ergebnisse des XX. Kongresses und die Diskussionen die sie ~usgelöst haben, auf die vorangegangene Periode politisch und ideologisch ein klareres Licht zu werfen beginnen, als es bisher möglich war, ohne daß freilich auf dem Gebiet der Literatur alle Konse;.. quenzen aus dieser neuen Einsicht gezogen worden wären. . Ich beginne damit, was ich als Zentralfrage betrachte. In sel~em letzten Werk über ökonomie hat Stalin den. sogenannten ökonomlschen Subjektivismus, die Mißachtung der fundamentalen Ta.tsache, daß auch die sozialistische Gesellschaft von objektiven ökonomIschen Gesetzen beherrscht wird, scharf kritisiert. Ein Beherrschen des ökonomischen Lebens ebenso wie das Beherrschen der Natur, könne also nur durch die richtige Erkenntnis dieser objektiven Gesetze erfolgen. Der ökonomische Subjektivismus will dagegen mensc1).liche Absichten. und Zielsetzungen direkt, unbekümmert um die objektiven Gesetzlichkeiten, diese mißachtend, durchsetzen. Wie nicht selten in seinem Leben, hat Stalin hier Wahrheiten, die die Klassiker des Marxismus längst ausgesprochen haben, in seiner Art richtig formuliert. Auch seine Stellung128
gegen den ökonomischen Subjektivismus, das Signalisieren der die dieser für die sozialistische Theorie und Praxis bedeutet, Das Widerspruchsvolle, ja Tragische an seiner Lage war daß gerade seine eigene Praxis und viele seiner früheren theoreAussprüche den ökonomischen Subjektivismus im Leben der SU haben, daß das, was die Kritik an Stalin als »Personenbezeichnet hat, im wesentlichen nichts anders war als ein »sie sie jubeo«, allen Tatsachen, allen Gesetzen gegenüber ausgeist hier von der Methode die Rede. Es kann deshalb nicht unsere sein,' auf die nicht seltenen Fälle hinzuweisen, wo der Inhalt Uk~se sachlich richtig war. Es kam nur darauf an, zu zeigen, .daß der ökollumische Subjektivismus nicht eine zufällige, zeitweilige Abirrung anderer war, die Stalin nachträglich korrigierte und kritisierte, sondern eine notwendige ideologische Folge seines »Personenkultes«. In; der ökonomie stößt der menschliche Wille auf harte Tatsachen. Die Ideologie scheint ein Gebiet zu sein, wo man es mit einem weicheren, des Widerstandes unfähigeren Material zu tun hat. Und in der Tat leisten die Ideologien einen scheinbar weit weniger hartnäckigen Widerstand. Nicht nur das Papier ist geduldig, sondern in dieser Hinsicht auch der Stein: er läßt sich etwas plastisch Falsches ebenso gefallen wie das künstlerisch Meisterhafteste. Natürlich ist diese Nachgiebigkeit letzten Endes doch nur eine scheinbare. Denn die Formgesetze der Kunst, in allen ihren komplizierten Wechselbeziehungen von Inhalt und Form, "on Weltanschauung und ästhetischem Wesen etc., sind ebenfalls von <;>bjektiver Wesensart. Ihre Verletzung hat zwar keine derart unmittelbaren praktischen Konsequenzen wie das Mißachten der Gesetze der ökonomie, sie bringt aber ebenso zwangsläufig problematische, ja einfach ~ißlungene, minderwertige Werke hervor. So konnte sich die Stalinsche Methode in der Ideologie viel reibungsloser durchsetzen akih der ökonomie, W'O er dementsprechend - als kluger Mann, der er war - der widerstrebenden Materie d'Och oft nachgeben mußte. Es ist eine verständliche Folge dieser Lage, daß die Naturwissenschaft, vor all~mdie Technik, aber auch manche der theoretischen Disziplinen einer solchen Anwendung der Prinzipien des ökonomischen Subjektivismus, des Personenkultes und seiner methodologisch-voluntaristischen Folgen weniger ausgesetzt waren als die Gesellschaftswissenschaften 'Oder gat"aie Literatur. Es entstand in dieser eine neue Form des ,EUlLrj1;ilUI::
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Sektantentums, das; obwohl es dessen wesentliche Züge an sich trug, doch von früheren Richtungen ähnlicher Art qualitativ verschieden war. So, um bei unserem Thema, bei der Literatur, zu bleiben, darf man seine Quelle nicht einfach im Proletkult etc. suchen, es handelt sich hier um ein Sektantentum sui generis. Worin besteht nun sein Wesen? Wir haben bereits auf die -Aquivalenz mit dem ökonomischen Subjektivismus hingewiesen. Damit ist der für die Methodologie ausschlaggebende Tatbestand noch nicht vollständig umschrieben, es muß noch hinzugefügt werden, daß mit praktischem Aufgeben des Marx-Leninschen Objektivismus - was ein verbales, eventuell subjektiv aufrichtiges Bekenntnis dazu nicht ausschließt - die dialektische, widerspruchsvoll-einheitliche Verbundenheit von Theorie und Praxis, von Freiheit und Notwendigkeit etc.aufgehoben, zumin": dest höchst gefährlich gelockert wird. Uns interessiert i~ diesem Zusammenhang hauptsächlich die Frage, daß die in der Wirklichkeit und dementsprechend in der Lehre der Klassiker des Marxismus sehr kompliziert vermittelte Verbindung der großen Prinzipienfragen, der welthistorischen Perspektiven mit den praktischen Fragen des Alltagslebens, mit den augenblicklichen, oft durchaus transitorischen Bedürfnissen des momentanen politischen Handeins gedanklich in eine direkte, unvermittelte Beziehung verwandelt wird. Das Zerreißen der dialektischen Vermittlungen bringt dadurch sowohl in der Theorie wie in der Praxis eine falsche Polarisation hervor: auf dem einen Pole erstarrt das Prinzip aus einer »Anleitung zur Praxis« zu einem Dogma, auf dem anderen verschwindet das Moment der Widersprüchlichkeit (oft auch das der Zufälligkeit) aus den einzelnen Lebenstatsachen. Allgemein gesprochen: es entstehen die zusammengehörenden falschen Pole von Dogmatismus und Praktizismus. über den ersten ist am xx. 'Kongreß und in den Diskussionen, die auf ihn folgten, viel gesprochen worden, der zweite wurde bis jetzt wenig behandelt. Seine theoretische und praktische Bedeutung ist jedoch sehr groß. Denn es ist klar, daß der Marxismus nur dann eine wirkliche dialektische, wahrhaft wissenschaftliche Anleitung zum Handeln sein kann, wenn die in der Realität vorhandene"verschlungene und oft weit vermittelte Beziehung zwischen Prinzip (welthistorische Perspektive etc.) und Tatsache ohne Simplifikation, ohne Vulgarisierung aufgefaßt und angewendet wird. Das Ausschalten der real vorhandenen Vermittlungen muß zur Folge haben, daß der einzelne Tatbestand die Form
rein unmittelbaren Begebenheit als factum brutum bewahrt. Seine Subsumtion unter ganz allgemeinen und darum ihrerseits zur erstarrten Prinzipien kann diesen Charakter nicht aufDie allzu direkte Subsumtion kann nur eine Scheinverbindung Prinzip und Praktizität bewerkstelligen. Soweit also die Tatnicht vergewaltigt, sondern berücksichtigt werden - und ohne gewisses Respektieren der Tatsachen ist kein Handeln möglich dies bloß in einer empiristischen, praktizistischen, letzten Ende: >:Sttbj(~ktiivi!iti Weise erfolgen. Auch hi~r müssen wir uns, der eigenen Zielsetzung gemäß, mit dieser allgemeInen Feststellung begnügen: unsere Aufmerksamkeit ist ja darauf gerichtet, die literarischen Folgen dieser theoretischen Konstellation aufzuhellen. Nuri ist es klar, daß in der literarischen Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit die richtige, nicht simplifizierte Erfassung und Reproduktion der real wirksamen Vermittlungen eine zumindest ebenso große Bedeutung hat wie in der theoretischen. Ist doch in der Literatur das Aufheben der Unmittelbarkeit der bloßen Faktizität nur die Voraussetzung dazu, um eine neue künstlerische Unmittelbarkeit hervorzubringen, in welcher die Prinzipien und Perspektiven der bewegten Wirklichkeit mit den einmaligen individuellen Tatsachen zu einer unzertrennbaren sinnfälligen Einheit verschmolzen erscheinen. Die oben geschilderte weltanschauliche, falsche Polarisation bedeutet deshalb für die Literatur die Unmöglichkeit, die naturalistischen Tendenzen in der Darstellung zu überwinden. Es gab im Laufe der Literaturgeschichte eine gr?ße :Variabilität der naturalistischen Reproduktionen der Wirklichkeit Sie haben aber alle den gemeinsamen Zug, daß diese konkretsinnfällige Vermittlung zwischen Einzeltatsachen und weltanschaulichen Prinzipien sich in ihnen abschwächt oder vollständig vetlorengeht. In diesem Sinne kann gesagt werden, daß der Praktizismus, der Empirismus in der Weltanschauung eine sehr starke Affinität zum literarischen Naturalismus besitzt. Im sozialistischen Realismus unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats erhalten verständlicherweise solche Tendenzen zum NaturaEsmus eine ganz,eigenartige Physiognomie. Während in der bürgerlichen Welt der Naturalismus zumeist eine Verlorenheit in der Wirklichkeit, eine Unfähigkeit oder einen skeptischen Unwillen, sich über die bloße Faktizität der Einzelerscheinung zu erheben, zum Ausdruck briatt, ist hier die obengeschilderte Polarität von Dogmatismus und 131
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Praktizismus die entscheidende weltanschauliche Dominante. (Es sei hier nur beiläufig bemerkt, daß auch in der bürgerlichen Literatur Fälle vorkommen, in denen die naturalistisch dargestellten nackten Tatsachen vermittlungs los an abstrakte Allgemeinheiten geknüpft werden; Zola ist das bedeutendste Beispiel eines solchen Naturalismus, aber auch viel kleinere wie Upton Sinclair, wie viele Vertreter der »neuen Sachlichkeit« gegen diesen Weg.) Beide falschen Pole sowie ihr gegenseitiger Abstand vom Standpunkt der Kunst werden dadurch gesteigert, daß das allgemeine Prinzip, das hier mit den Tatsachen in unmittelbare Verbindung gebracht wird, nicht einfach ein allgemeines Prinzip des Marxismus ist, sondern, wie oben gezeigt, dessen unmittelbare Verknüpfung mit einer Tagesfrage. Mag diese - gedanklich-politisch - dem Prinzip gegenüber etwas Besonderes oder Einzelnes sein, als formheischender Ideengehalt der Literatur steht sie den Einzelheiten des Lebens als abstrakte Allgemeinheit gegenüber. Natürlich wächst jede Tagesfrage, jede auf eine solche gegebene taktische Antwort aus dem Leben heraus. Es ist also an sich durchaus möglich, diese lebendige Genesis der Frage, diese lebensmäßige Bewährung (oder ein entsprechendes Versagen) der taktischen Entscheidung literarisch darzustellen. Das reale Problem wird jedoch in der Stalinschen Periode sehr oft nicht aufgeworfen, sondern - gemäß dem ökonomischen Subjektivismus - wird ein faktenmäßiger Beweis für die Richtigkeit der betreffenden Tagesentscheidung dogmatisch gefordert und aufgestellt. Die literarische Lösung wächst also nicht aus der widerspruchsvollen Dynamik des gesellschaftlichen Lebens heraus, sie soll vielmehr ~ur Illustration einer im Vergleich zu ihr abstrakten Wahrheit dienen. Die künstlerischen Folgen einer solchen Fragestellung sind offenkundig: selbst in dem Fall, wenn die zu illustrierende Wahrheit tatsächlich eine Wahrheit und nicht, was in solchen Fällen durchaus geschehen kann, ein Irrtum oder eine unvollständige Annäherung an das Richtige ist, die im politischen Leben selbst natürlich korrigiert werden kann, kann das Prinzip des literarischen Illustrierens eine ganze Reihe von Schriftwerken ruinieren oder aufs ernsthafteste schädigen. Dieser illustrative Charakter der Literatur ,zeigt wiederum eine auffallende Parallelität zu einer theoretischen Grundtendenz der Periode Stalins. Diese bildet nämlich - in ihrer Art höcltst konsequent - eine Umkehr des Verhältnisses von Forschung, Propaganda und Agitation aus. Statt die richtige Propaganda auf der Basis einer tiefschürfenden, 132
Neues aufdeckenden Forschung zu entwickeln und aus der so bereicherten Propaganda eine prinzipiell klare und inhaltsvolle Agitation aus~ zUbilden, wird - wieder infolge der direkten Verknüpfung von Prinzip und Einzelfall - die Agitation die Urform, das Vorbild für die . Propaganda und Forschung, die dadurch erstarren, einschrumpfen, praktizistisch~schematisch werden. Auch für die Literatur wird die Agitation zur regulierenden Idee. Natürlich gab es immer eine Literatur, die sich leidenschaftlich in die Tageskämpfe stürzte, aus ihnen ihren Gehalt und ihr Pathos schöpfte. Es wird, so hoffen wir, eine solche immer geben, und sie konnte und kann die höchsten Gipfel der dichterischen Vollendung erklimmen. Jedoch erstens läßt sich die ganze Literatur, ohne Schaden zu nehmen, nicht auf-·.diesen Typus reduzieren, und zweitens muß auch hier die Literatur mit den ihr eigenen Mitteln, auf Grund der ihr eigenen Eragestellungen den Weg zur Konvergenz mit der Tagespolitik suchen, wie dies z. B. Petöfi oder Majakowski taten. Das hier behandelte Problem der illustrierenden Literatur, mit der Agitation als allein wegweisendem Urbild, ist aber von diesen großen Beispielen radikal verschieden. Ich versuche die Frage an einem prinzipiell wichtigen Fall etwas zu klären. Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen den früheren Klassengesellschaften, vor allem dem Kapitalismus und dem Sozialismus gehört, den antagonistischen Charakter der Widersprüchlichkeit überhaupt in der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuheben. Daraus ergibtcsich für die Literatur eine ungeheure und ungeheuer fruchtbare Aufgabe, nämlich diesen Prozeß in seiner ungleichmäßigen Allmählichkeit a~fzudecken, die sich daraus ergebenden neuen seelischen und moralischen Probleme zu erfassen, das Verschwinden einzelner alter Probleme, den Funktionswandel anderer in ihrer Neuartigkeit zu be- . leuchten. (In verschiedenen Studien, besonders in der über Makarenko habe ich einige dieser Probleme konkret zu behandeln versucht.) Wird aber die Aufhebung des antagonistischen Charakters der Widersprüche nicht als Prozeß, sondern als alles gleichmäßig beherrschender, verabsohitierter Zustand behandelt, so verschwindet aus dem dargestellten Leben nicht nur der Antago~'lismus, sondern auch der Motor alles Lebens, aller Bewegung: der Widerspruch. Daß die hier von uns theoretisch nachgezeichnete Entwicklungsrichtung weitgehend den Tatsa~n entspricht, zeigt, daß die Sowjetkritik vor einigen Jahren gegen 133
die weitverbreitete Theorie und Praxis vom »konfliktlosen Drama« Stellung nehmen mußte. Natürlich sind nicht nur Dramen, sondern auch Romane, Erzählungen und Gedichte konfliktlos geworden. Das ist natürlich keineswegs der einzige Fall, in welchem die extremen Konsequenzen der aus dem dogmatischen Sektierertum entstehenden Lage scharf kritisiert wurden; Stalins Kritik des ökonomischen Subjektivismus haben wir bereits behandelt. Es fragt sich nur, ob solche Verurteilungen der äußersten Folgen bis zu den Wurzeln der Problematik vordrangen und diese zu eliminieren imstande waren. Wir glauben: nein. Denn wenn auch die radikale Konfliktslosigkeit in den Hintergrund gedrängt wurde, so ist die unmittelbare Verknüpfung von Prinzip und Tatsache, das verpflichtende Vorbild des Agitators für die Literatur in Kraft geblieben. Nun ist die Lage im Leben so, daß der gute Agitator jede an ihn gerichtete Frage sofort Zu beantworten hat; ist er besonnen, so wird er freilich unter Umständen in seiner Antwort auch darauf hinweisen, daß die reale Lösung mancher Frage sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird, sich nur nach Oberwindung vieler Hindernisse und Widerstände, auf Grund der Aufhebung bestimmter Widersprüche durchsetzen kann. Einer beträchtlichen Zahl der Schriftsteller fehlt jedoch diese Besonnenheit unseres Agitators. Und ein großer Teil der Kritik fordert vor ariem gerade eine solche Unbesonnenheit. Die Schriftsteller zeigen freilich - und oft nicht einmal unrichtig -, bestimmte Konflikte im sozialistischen Leben der Gegenwart auf. Diese Konflikte müssen aber stets sofort, wenigstens im Rahmen des gegebenen Schriftwerks, vollständig zur Lösung gelangen. Es gibt z. B. im Dorf einen Spekulanten. Dieser muß entweder bekehrt oder abgestraft werden usw. Daß es in der Entstehung sozialistischer Gesellschaften auch noch antagonistische Widersprüche gibt, daß der nicht antagonistische Charakter der Widersprüchlichkeit sich nur allmählich durchsetzt, daß auch in einer Gesellschaft, die von nicht antagonistischen Widersprüchen beherrscht wird, für einzelne Individuen noch ' immer auswegslose Lagen möglich sind, daß ein konsequentes Mißachten von vorhandenen - ihrer Natur nach nicht antagonistischen Widersprüchen seitens des ökonomisch-politischen Subjektivismus, des Personenkults einer ganzen Schicht diese in antagonistische rückverwandeln kann usw., das alles wird in einer solchen Betrachtungsweise prinzipiell nicht zur Kenntnis genommen. Das Verkennen dieser Problematik ist viel mehr als eine bloße Verarmung einer neuen Struktur 134
der Wirklichkeit, die das allmähliche Herrschendwerden der nicht antagonistischen Widersprüche mit sich führt. Indem die spezifische und neue Dialektik der nicht antagonistischen Widersprüche verkannt wird, wird die Widerspiegelung der neuen Wirklichkeit vollständig verzerrt: an Stelle einer neuen Dialektik steht eine schematische Statik vor uns. Auch hier zeigt sich das weltanschauliche Verwurzeltsein des neuen Naturalismus in der Ideologie der Stalinschen Periode; Daß auch dieses verzerrte Abbild mit dem »verschönernden« Stempel der revolutionären Romantik versehen wird, versteht sich von selbst.. Damit ist das Problem der Verwandlung des berechtigten, für die Kunst außerordentlich fruchtbaren weltgeschichtlichen Optimismus in einen bloß ärarischen Optimismus und so das Entstehen von einer Abart des Happy-End aufgeworfen. In meiner Studie über Scholochows »Neuland unterm Pflug« habe ich mich ausführlich mit dieser Frage befaßt und einerseits gezeigt, daß die Vorwürfe vieler bürgerlicher Kritiker gegen den Optimismus der sozialistischen Literatur aus ihrer Unfähigk~it stammen, das Wesen der neuen gesellschaftlichen Entwicklung zu begreifen. Ich habe andererseits zu beweisen versucht, daß auch in den Fällen, in denen gewisse derartige Vorwürfe ulfmittelbar eine Berechtigung haben, es sich doch um etwas qualitativ anderes handelt, als beim Happy-End der bürgerlichen Literatur. Als Grundlage wies ich schon dort auf den Schematismus der Darstellungsweise hin und betonte dabei die trotzdem vorliegende Gegensätzlichkeit zwischen Formen des Happy-Ends: »In solchen Fällen handelt es sich nicht um eine bewußte Verfälschung der gesellschaftlichen Phänomene und ihre Verkehrung ins Gegenteil, sondern nur um eine unzulässige Vereinfachung ihrer Ursachen und ihres Ablaufs ... Der welthistorische Optimismus dem Gesamtprozeß gegenüber, der sich bei wirklichen Schriftstellern in der konkreten Gestaltung einer gegebenen Etappe je nach ihre~ besonderen Charakter literarisch außerordentlich verschieden äußert, wird zu einem ärarischen Optimismus erniedrigt. Hier kann ein dem Happy-End ähnliches Gefühl der Schalheit bei den Lesern entstehen, obwohl, wie wir gezeigt haben, solche schematisierenden Tendenzen an sich:'nid.1ts mit dem bürgerlichen Happy-End zu tun haben.« Ich habe zu diesen Bemerkungen nichts Wesentliches hinzuzufügen. Denn daß das Schematisieren aus einem solchen Verhalten zum Gegenstand der Kunst notwendig entspringt und das, solange es, wie in der StI1linschen Periode, das gesellschaftliche Leben beherrscht, durch 135
keinerlei ästhetische Kritik an Einzelheiten, an der es nie gefehlt hat und die in sehr vielen Fällen die Symptome richtig traf, zu eliminieren ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Immerhin scheint es uns wichtig, die Notwendigkeit dieser Zusammenhänge an einigen entscheidenden Fragen der Gestaltung kurz zu demonstrieren. Fadejew hat wiederholt und, wie wir glauben, mit Recht darauf hingewiesen, daß es in manchen Sowjetromanen eine Reihe von überflüssigen Figuren gibt. Die Feststellung der Tatsache stimmt -: wo ist aber die 1,Jrsache zu suchen? Wir glauben: gerade in jener politischästhetischen Konstellation, die wir aus den theoretischen Wesenszügen der Stalinschen Periode abzuleiten bestrebt waren. Wenn der Schriftsteller sich verpflichtet fühlt, wie ein Agitator, systematisch auf simtliche gedankliche, politische Verzweigungen eines aktuellen Problemkomplexes sofortige, abschließende, beruhigende Antworten zu erteilen, so muß diese seine Absicht die Grundlinie seiner Komposition bestimmen. D. h., er kann nicht von konkreten Menschenschicksalen ausgehen, diese zur Höhe der Typik erheben, wodurch sie geeignet werden, die wesentlichen Probleme einer ganzen Epoche zu beleuchten _ man denke an Balzac oder Tolstoj -, deren ausgeprägt individuelle, vielfach und unaufhebbar zufällige Verkettung muß jedoch gerade die hier geforderte direkte Beziehung zur Aktualität im Tagessinn und die Systematik hinsichtlich der unmittelbaren Verbindung des Prinzips mit einer konkreten Frage notwendig verschwinden lassen. Er muß das »Problem« gedanklich zergliedern und für jede seiner Rubriken und Unterrubriken illustrierende Menschen und Schicksale ausklügeln. Der unaufhebbare Widerspruch, der hier entsteht, daß eine solche Systematik nur mühsam und künstlich durch eine handlungsmäßige Verkettung der' in Bewegung gesetzten illustrativen Figuren verdeckt wird, daß aber mit dem Moment der Entstehung einer solchen sekundären Komposition, die nur ein pseudokünstlerischer Oberbau der primären gedanklich-politischen ist, an sie spontan, unwillkürlich die Anforderungen, die Maßstäbe einer genuin-künstlerischen Komposition herantreten: nämlich die Beziehung konkreter Menschen und Schicksale vermittels einer individuellen Handlung so Zu verwirren und entwirren, daß jede Figur zur maximalen Konkretheit ihrer persönlichen Existenz und simultan damit zu der ihr zukommenden, ihr inhärenten Typik entwickelt werde. Solchen Forderungen kann eine im obigen Sinn entworfene Komposition unmöglich genügen. Darin hat Fadejew voll-
ständig r:cht. Künstlerisch betrachtet »hängen« viele solche Figureri in ~er Luft, Irren planlos in der Komposition, in der Fabel herum, obwohl SIe gedan.kli~-politisch integrierende Bestandteile der ursprünglichen Systematlk smd. Der Grund liegt aber nicht unbedingt in einem Mangel an Begabung oder in einer Nachlässigkeit der schriftstellerischen Arb~it - manche solche Werke sind von talentierten und gewissenhaften ~chnftstel~er~ ~erfaßt -, sondern in der hier angegebenen Diskrepanz m den PrmzIplen der ganzen Konzeption. Wir haben hier bereits das Problem des Typischen gestreift. Worin beste~t das »Gehei~nis« der .großen Typengestalten? Jeder weiß: die typIsche Gestalt 1St keine durchschnittliche (oder nur in vereinzelten extremeii: Fällen), sie ist aber nicht exzentrisch (obwohl sie zumeist wei; ~ber die.C:;renz~n des Alltags hinausgreift). Sie wird typisch, weil das mnerste Wesen Ihrer Persönlichkeit von solchen Bestimmungen bewegt u.nd umrissen. wird, die objektiv einer bedeutsamen Entwicklungstendenz der ,Gesellschaft angehören. Nur dadurch, daß eine höchst allgemefne soziale Objektivität aus den echtesten Tiefen einer Persönlichkeit herauswächst, kann ein wirklicher Typus dichterisch entstehen. Das hat aber zugleich zur Folge, daß solche....: äußerlich betrachtet extremen, ja exzentrischen - Typen, wie etwa Vautrin oder Julien Sorel, in der Atmosphäre ihrer Erscheinung, ihrer Handlungsweise Art und Grad, be.sonder~ Bes~affenheit ihrer Typik sinnfällig verraten; sie konzentneren dIe BestImmungen einer wirklichen historischen Tendenz in ihrem; Dasein, sie ~in~ aber niemals deren Verkörperung oder gar IllustllatlOn. Indem WIr SIe als echte Typen wahrnehmen wird uns darin zugleich die Dialektik des einzelnen mit all seiner individuellen Zufälligkeit und des Typischen unmittelbar evident. Wir erleben etwa Konstantin Lewin als adligen Grundbesitzer in einer übergangszeit, in w~lcher »alles umgekrempelt wird«, wir sehen seine persönlichen EigenheIten und meinen zuweilen - nicht ganz zu Unrecht - in ihm einen Einzelgänger und Sonderling zu. erblicken, als uns plötzlich klar wird, d~ß er gerade durch solche Skurrilitätendie wichtigsten Bestimmungen dIeses übergangs zum Ausdruck bringt. Piese Atmosphäre, diese Aura muß den Gestalten jener schematisierend~n Ri~tung, die wir beschreiben, notwendig fehlen. Ihre Typik hängt mcht mIt großen lebendigen Tendenzen einer Periode zusammen sondern ist zumeist an ein vorübergehend aktuelles Moment gebu~den. UIfd zwar so, daß ihre typischen Eigenschaften gewissermaßen von der 137
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politischen Zielsetzung'aus im positiven wie im negativ~n Sinne genau vorgeschrieben sind~ DazlJ ist zu bemerken, daß es bel echten Typen sehr schwer fällt, überhaupt von typischen Eigenschaften z~ spreche~. Sie sind infolge der Gesamtstruktur ihrerPersänlichkeit geel~net, .tYPIsche Reaktionen auf eine Periode in typischen) oft extremen SltuatlOnen sinnfällig zu machen. Sie sind also gewissermaß~n mit H~~: und Haaren typisch, es ist nicht möglich, einzelnes aus dIeser Totahtat herauszu<>reifen. Und wo der sozialistische Realismus echte Typen geschaff:n hat wie im Levinson Fadejews, im Grigori Meljekow Scholochows finden wir dieselbe organische Unzertrennbarkeit des zutiefst Individ~ellen mit der ebenso tiefen und allgemeinen Typik. Die Gestalten des Schematismus bewegen sich dagegen zugleich oberhalb und unterhalb der Typik. Ihre einmalig-individuellen Eigenschaften reichen nicht zur Typik hinauf - so wie sogar die »lustigen,Schritte« Natascha Rostowas und die Balltoilette Anna Kareninas typisch sind -.und jene ihrer Eigenschaften, durch welche sie als typisch dargestellt wer~en, sind oft nicht notwendig ·zentrale, wenn man sie als Gesamtpersö~hch keiten betrachtet. In alledem äußern sich die allgemein problematIschen Züge eines jeden NaturalismiIs; man kann sehr ähnliche Feststellungen bei·den Typen Zolas machen. . Natürlich bringen die besonderen Umstände der Entstehung n~turah stischer Strömungen im Sozialismus auch besondere. Er~0e~nungs weisen hervor. Insbesondere eine - nur allzuoft subjektIvIstIsche D~klaratio~ darüber, was an den gesellschaftlichen Erscheinungen als typisch zu betrachten ist, ja zuweilen, was als typisch betr~chtet ;:rerden darf. Abgesehen von den gedanklichen Verzerrungen, dIe der okonomische Subjektivismus, der sektiererische Dogmatismus, der ~erson~n kult an der sozial-gedanklichen FasslJng des Typischen vol~zleht, WIrd dabei auch oft die politisch-begriffliche Konzeption des TYPIsche.n, ohne Vermittlung, mechanisch auf die Literatur angewen~et. Nu~ 1st dort das Typische der Gegensatz sowohl zur Ausnahme ;VIe zum ~mz:lnen; für einen Erscheinungskomplex innerhalb einer bestImmten ~lstonschen Etappe gibt es oft nur einen entscheid.enden Typ.us (od~r. eme sehr beschränkte Anzahl von Typen); die wlssenscha~hch-pohtlsche Cha:akteristik einer solchen Etappe besteht gerade darin, daß das TypIsche von der Vielfalt der untypischen Ereignisse etc. klar llnterschieden wird. So hat Lenin im ersten Weltkrieg außerordentlich scharf die typisct:en Erscheinungen von den untypischen unterschieden, vor allem den Kneg 138
seIbst als typische Erscheinung des Imperialismus, als ausschließenden Gegensatz Zu den bloß einzelnen oder besonderen Phänomenen der Zeit, von den Ausnahmen. Wenn er sich nun im selben .Zusammenhang gegen jene wendet, die nationale Kriege im Zeitalter des Imperialismus für unmöglich halten, so betont er, daß ein »Zeitalter die Summe verschiedener Erscheinungen ist, in welcher außer dem Typischen immer auch anderes enthalten ist«. Für Literatur und Kunst ist dagegen die Vielfalt des Typischen bezeichnend: Nebentendenzen, episodische Strömungen eines Entwicklungsabschnitts können künstlerisch typische Verkörperungen erhalten, ja müssen es, soli die Gestaltung im bleibenden Sinne ästhetisch wertvoll werden. Während also in der Wissenschaft (und in der Politik) das Typische dem Untypischen schroff gegenübergestellt wird, gibt es keine echte Gestalt in der Literatur, die nicht in ihrer Art typisch wäre: auch Tendenzen, die wissenschaftlich betrachtet bl~ß Einzelheiten, Besonderheiten untypischen Charakters sind, er1;talten literarisch geformt ein typisches Wesen, und die ästhetische Hierarchie der Komposition hat dafür zu sorgen, daß auf diesem neuen Wege eine andere, ebenfalls wahre Widerspiegelung derselben objektiven Wirklichkeit entsteht wie in der Wissenschaft. Die dogmatischmechanische Anwendung des Typusbegriffs der wissenschaftlichen Politik auf die Kunst kann für diese verhängnisvoll verengend und verzerrend werden. Besonders, wenn der politische Dogmatismus - wie in der Stalinschen Periode - die Wirklichkeit subjektivistisch entstellt und nunmehr von der Kunst fordert, die von ihr-oft willkürlich-statuierte Typik als die künstlerisch einzig berechtigte aufzufassen und anzuwenden. Es versteht sich von selbst" daß die Vorherrschaft einer solchen Typik die spezifische Starrheit und Leblosigkeii: eines »sozialistischen« Naturalismus nur noch verschärft. Unsere· bisherigen Betrachtungen haben mit einer gewissen Einseitigkeit die problematischen Momente dieser naturalistischen Tendenzen betont. Jedoch bereits in seiner Kritik des deutschen Naturalismus hat Franz Mehring scharfsinnig und feinfühlend auf die romantischen Elemente hingewiesen, die aus dessen Mängeln, gewissermaßen sie erg~niend, herausgewachsen sind. Und il,1 der Tat: die Romantik - allerdings nicht, wie sie am Anfang des 19. Jahrhunderts als genuine Literaturrichtung aus der Reaktion auf die Französische Revolution entstanden ist, sondern jene verschwommene Verallgemeinerung, die ihr~egriff in späteren Zeiten erhielt - kann vielleicht am besten das 139
verkörperte schlechte Gewissen des Naturalismus genannt werden. Das ist natürlich bloß die gefühlsmäßige und zugleich artistische Seite der Frage. Sie ist sehr wichtig, weil die Verbreitung und die Popularität dieses Schlagworts in verschiedenen Perioden und unter äußerst verschiedenen Bedingungen dadurch verständlich wird. Sie reicht aber nicht. egen aus, um die gesellschaftliche Genesis dieser Strömung ganz k.larzul . Wir müssen also an diese herantreten, allerdings wohl WIssend, daß das eben erwähnte Motiv stets viel zur Ausbreitung dieser' romantischen Tendenzen beigetragen hat. Es ist allgemein bekannt, daß seit mehr als zwei Jahrzehnten die revolutionäre Romantik als bestimmendes Kennzeichen des sozialistischen Realismus betrachtet wird .. Woher kommt plötzlich eine mit einem noch so bestechend klingenden Adjektiv verzierte Romantik in die Theorie der marxistischen Asthetik hinein, nachdem Marx und Lenin dieses Wort nie ohne spöttische Ablehnung aussprachen? Wir glauben, daß der Grund eben dort gesucht werden muß, wo wir die Ursachen der naturalistischen Tendenzen gefunden haben: im ökonomischen Subjektivismus, in jenem Voluntarismus, der aus. dem Personenkult a~s gesellschaftlich wirksamem Faktor entstand. WIr glauben also, daß d:e revolutionäre Romantik eben ein ästhetisches Aquivalent des ökonomIschen Subjektivismus ist. . Die Gründe sind unschwer einzusehen: der ökonomische Subjektivismus verwischt die Grenzen zwischen subjektiver Wünschbarkeit und objektiver Realität. Damit wird, wie wir gesehen haben, die Perspektive auf das Niveau der normalen Existenz gebracht. Dieses Nivellieren entpoetisiert die Wirklichkeit - darum:. Naturalismu~ als Darstell~ngs weise _, denn deren immanente PoeSIe entstammt Ja gerade aus Ihrer gesetzmäßigen Selbstbewegung, daraus, daß sie einerseits die wichtigen Bestimmungen, die entscheidenden Entwicklungstendenzen der Menschheit in den Lebensäußerungen der Menschen selbst, in ihrem Wachstum, in den allmählichen Verschiebungen ihrer Beziehung deutlich zum Ausdruck bringt, andererseits daß darin, wie Lenin zu sagen pflegte, die »Schlauheit« der Wirklichkeit sich offenbart, nämlich daß die Gesetze des Daseins nicht nur an sich immer komplizierter sind; als selbst das beste Denken sie widerzuspiegeln vermag, sondern daß im Leben zugleich so verschlungene Wege ihrer Verwirklichung eingeschlagen werden, die jede allgemein vorausblickende Vorstellung ü~ertreffen und gerade dadurch unser Bewußtsein erweitern und bereIchern. Darauf beruht
je~e ti~fe ~chtung vor der unverfälscht wahrgenommenen WirklichkeIt, dIe dIe großen Geister - sei es Leonardo da Vinci oder L . GhdTI' enln, .oet e 0 er .0 stoJ - zu erfüllen ~fleg~. Darauf beruht der unvergänglI~e Zauber Jener. Kunstwerke, die dIese dynamische Unerschöpflichk~lt de~ Welt wemgstens annähernd zu erfassen und adäquat zu evoZIeren Imstande sind. Jed~r Naturalismus, selbstredend auch der unter sozialistischen Lebens~edm~ungen ents~an~ene, depoetisiert die Wirklichkeit, verwandelt ihr lIteransches In eine platte Prosa gerade dadurch d ß . ch . .. AbbIld d " a .seme s ematlSleren e Betrachtungsweise blind an diesem »schlauen« Reichtu~ und an ?esse~ Schönheit vorbeigeht und sogar, im Dienst vorubergehend~r ~gltat~nscher Interessen, ihre besonderen Züge, in denen tiefe und" ~elmhch WIrkende Gesetzlichkeiten sichtbar werden können, beschneIdet, entfernt, zur Trivialität nivelliert. Die Tatsache eines solchen V~rsehwinde~s der Poesie des Lebens aus der naturalistischen Literatur wl~d allgemem empfunden - auch von solchen, die an dieser Abkehr von d~r Poesie aktiv mitschuldig sind. überhaupt ist es bezeichnend, da~ d.le .Wendung zum Naturalismus in der öffentlichen Meinung der sozlahstlschen Gesell~chaft niemals jene Selbstgefälligkeit, jenes eitle Avanxgardebewußtsem ausgelöst hat, die wir im Bürgertum unserer Tage feststellen konnten. Eine Kritik solcher Prosa war immer vorhanden. Da jedoch die ~talinscI:e ~eriode gerade in den hier ausschlaggebenden P~nkten dIe marxlStlsche Theorie verdunkelt und entstellt hat, kam es 1m allgemeinen an Stelle von einer wirklichen weltanschaulich-ä$thetischen Lösung vielfach zum Ausklügeln eines Poesie~Ersatzes: eben der revolutionären Romantik. I?ie f~lsch~ Auffas~un~ der ~erspektive, ihre Verwandlung in WirklIchkelt. S~lelt dabeI w~e~er eme entscheidende Rolle. Hatte diese die ~at~rahstls~e EntpoetlSlerung der Wirklichkeit mitverschuldet, so soll sle:JetZt WIeder die Prosa in Poesie rückverwandeln. Um dies theo~etls~ zu begründen, mußte der Marxismus nochmals voluntaristisch ~m ~m~e des ökonomischen Subjektivismus, entstellt werden. Denn e~ lS~ rIchtlg, daß nach ~arx die sozialistische Revolution ihre Poesie nicht aus der VergangenheIt schöpfen kann wie die bürgerliche, sondern »nur aus d:r Z~kunft«. Da:aus folgt aber, daß im Gegensatz. zu den zwar welthlS:0nsch berechtIgten, aber objektiv falschen Illusionen in der I?eologle der bürgerlichen Revolutionen die proletarische RevolutlOnth beständig sich selbst kritisieren, und zwar, wie Marx detail-
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liert dargelegt hat, mit der größten Gründlichkeit, bis zur Grausamkeit. Und zur Zeit der Pariser Kommune faßt Marx die Aufgaben der revolutionären Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution so zusammen: »Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.« Die aus der Zukunft in die Gegenwart hereinstrahlende Poesie, der Glanz der sozialistischen Perspektive, bedeutet also für Marx das Gebot einer gesteigerten, einer nüchternen und unerbittlichen Kritik aller Schritte, die in Wahrheit (und nicht in der Einbildung) zum Sozialismus führen, ihn zu verwirklichen helfen. Die Poesie der Zukunft ist eines der Mittel, um das Wesen (und damit die Poesie) der Gegenwart in der bewegten Totalität ihrer realen Bestimmungen und Gesetzlichkeiten zu suchen und zu finden. Die Ablehnung einer jeden Romantik ist in diese Konzeption so tief eingegraben, daß ihr Verneinen nur anspielungsweise anklingen muß. Es ist also kein Zufall, daß Marx, auch als Kritiker der Literatur, jede Romantik ablehnt und in den weltumfassenden, grausam kritischen objektiven Realisten, vor allem in Shakespeare und Balzac, die großen Vollender der neuzeitlichen Literatur erblickt. Die Theorie der revolutionären Romantik pflegt sich oft auf die schö.., nen Ausführungen Lenins in seinem großartigen Jugendwerk "Was tun?« über die Notwendigkeit des Revolutionärs, zu träumen, zu berufen. Zu Unrecht. Denn gerade hier trennt Lenin mit größter Schärfe Perspektive und Realität, gerade indem er ihreUnzertrennlichkeit klar beweist. Er verhöhnt jene Empiristen, die in der - ebenfalls falsch, praktizistisch, aufgefaßten - Tagesarbeit steckenbleiben, die, mit Bernstein, die »Bewegung« gegen das »Endziel« theoretisch und praktisch ausspielen. Lenins »Träumen« ist nichts weiter als eine leidenschaftliche und klare Sicht dessen, was sich aus den nüchtern-realistischen revolutionären Maßnahmen, nach ihrer vollständigen Verwirklichung, entwickeln kann, ja, wenn sie richtig entworfen und durchgeführt werden, entwickeln· muß. Dieses» Träumen«, diese Perspektive erhellt die realen Schritte, auch die bescheidensten, gibt i,hnen Schwung und Pathos. Jedoch nur dann, wenn solche Maßnahmen aus der richtigen Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit entsprungen sind, wenn ihre Durchführung deren ganze Kompliziertheit und »Schlauheit« möglichst richtig berücksichtigt. Im Zitat aus Pissarew über ein gesundes und Leben er142
höhendes Träumen, das Lenin zur Verhöhnung seiner Widersacher anführt, steht gerade als Kriterium der Gesundheit: wenn ,.die träumende Persönlichkeit ... aufmerksam das Leben betrachtet, ihre Beobachtungen mit ihren Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Verwirklichung ihrer Phantasie arbeitet«. Es ist also ebenso wie bei Marx kein Zufall, daß Lenin in Tolstojs Realismus - bei allen seinen klar erkannten ideologischen Schwächen - das große wegweisende Erbe für die Literatur erblickt hat. Das» Träumen« der revolutionären Romantik ist das strikte Gegenteil dessen, was Lenin meint. Niemand wird leugnen, daß in der Poesie ein subjektiY,es Vorwegnehmen der Zukunft vollauf berechtigt ist. Und ·dies ist keineswegs bloß ein Privileg der Lyrik, in welcher, gerade bei revolutionärim Dichtern, dieses antizipierende Träumen seit jeher eine gewaltige Rolle spielt. Es ist aber ebenso legitim, wenn einzelne Gestalten eines epischen oder dramatischen Werks derartig träumen. Man denke an den Traum des jungen Nikolaj Bolkonskijs, der Tolstojs »Krieg und Frieden« abschließt; darin erscheint die Perspektive des Dekabristen~ Aufstands, und dieser führt das ganze Werk in die fortschrittliche Kontinuität der russischen Geschichtsentwicklung ein. Aber auch hier sind Perspektive und Wirklichkeit genau geschieden. Der Traum des Jünglings kann nur darum die Zukunft mit dichterischer Evidenz im voraus beleuchten, weil ~ir vorher - in Pierre Besuchows Petersburger Tätigkeit, in d~r Art, wie seine Freunde darauf reagieren - in der Wirklichkeit ~elbst· jene Lebenstendenzen wahrgenommen haben, die in ihre Richtung tteiben, bzw. ihnen entgegenwirken. Und man vergesse nicht, daß eine solche Gedoppeltheit von Wirklichkeit und Perspektive auch für die Lyrik gilt. Auch sie kann nie von unbeschränkt maßloser Subjektivität sein; auch sie muß einen Punkt des Absprungs in der Wirklichkeit selbst besitzen; demgegenüber dieselben Forderungen für die richtige Widerspiegelung gelten wie für Epik oder Dramatik. Wo dies nicht der Fall ist, löst sich das »Träumen« in ungestaltbare Lebensfetzen auf, wie dies so oft im deutschen Expressionismus geschah, während die großartige Haßvision des jungen Brecht vom toten Soldaten gerade aus diese~ richtigen Verhältnis von Wirklichkeit und Perspektive ihre zwingende Evidenz schöpft. Wir haben die doppelt verhängnisvolle Funktion des ökonomischen Subjektivismus für die Literatur hervorgehoben: er erniedrigte die e~e Wiedergabe der Wirklichkeit zu einem Naturalismus, und dort, 143
wo die echte Poesie zur Prosa verdorrte, half er mit, der revolutionären Romantik einen Poesieersatz zu schaffen. (Es gehört nicht unmittelbar zu unserem Thema, muß aber in diesem Zusammenhang wenigstens erwähnt werden, daß diese Tendenzen auch zu einer subjektivistischen Entstellung der Leninschen Konzeption der Parteilichkeit geführt haben. Während Lenin den Struveschen Objektivismus so bekämpft, daß er nachweist, der Marxismus vereinige eine vertieftere und bereicherte richtige Objektivität mit einer bewußten subjektiven Parteinahme, wird in der Stalinschen Periode die Objektivität als »Objektivismus« diffamiert, von der völlig subjektivierten Parteilichkeit verdrängt:' der Zusammenhang mit dem ökonomischen Subjektivismus ist offenkundig. Zugleich ist auch sichtbar, daß damit ein trennender Abgrund zwischen kritischem und sozialistischem Realismus errichtet werden muß.) Diese in ihrer Allgemeinheit festgestellte Wirkung wird noch durch die Inhalte der Perspektive verstärkt. Stalin sprach zwei ,"'- an sich falsche und einander ausschließend gegenüberstehende ~ Perspektiven aus. Die eine ist die von der ununterbrochenen Verstärkung der Klassengegensätze, die bereits am XX. Kongreß energisch richtiggestellt wurde. Die andere ist die von der fast unmittelbaren Nähe der Gegenwart zur zweiten Phase des Sozialismus, zum Kommunismus. Den Widerspruch zwischen beiden Perspektiven versuchte Stalin durch die Korrektur der marxistischen Theorie vom Absterben des Staats aufzuheben: der Kommunismus könne sich noch in der Periode der kapitalistischen Umkreisung des einzigen sozialistischen Staates verwirklichen; dann hätte man den Zustand: »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« , aber selbst~edend mit Staat, mit politischer Polizei und allen' ihrenKonsequenzen..., Die von der Literatur gestaltete Welt ist konkret und kann darum etwas innerlich derart Heterogenes und Divergierendes unmöglich als Perspektive gebrauchen. Darum haben die beiden Komponenten zumeist gesondert gewirkt, nicht zum Vorteil der dichterischen Einheitlichkeit der Werke. Die dogmatische Theorie von der permanenten Versch~rf1ing des Klassenkampfes führte im öffentlichen Leben der Stalinschen Periode dahin, die real vorhandenen Widersprüche der Entwicklung und die aus ihnen entspringenden politisch-sozialen Gegensätze als Verschwörungen von Feinden aufzufassen. Im Leben erreichte diese Tendenz ihren Gipfelpunkt in den Moskauer Monstreprozessen, ,
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in denen die ideologisch-politischen Differenzen der Sowjetentwicklung in Tätigkeiten von Spionen und Diversanten verwandelt wurden. Das Grauen der hier begangenen fürchterlichen Ungerechtigkeiten und Ungesetzlichkeit erhält darin eine skurrile Vulgarisation: alle Konflikte und Schwierigkeiten des Aufbaus wären nämlich, nach dieser Konzeption, vermeidbar gewesen, wenn die Sicherheitsorgane besser gearbeitet und Bucharin,Sinowjev etc. schon 1917 unschädlich gemacht hätten. Wenn man nun diese Auffassung ins Literarische umsetzt, verliert die Vulgarisatiön ihre im Leben vorhandene einzige Poesie, das skurrile Grauen, und verwandelt sich in eine langweilige Schematik: wo immer in einer solchen Literatur eine Schwierigkeit des sozialistischen Aufbaus behandelt wird, wird sie auf die unterirdische Tätigkeit der Agenten des Feindes zurückgeführt, und deren Entlarvung ist nicht bloß die »dichterische« Lösung des Konflikts, sondern auch das entsprechende Erhellen seiner Ursachen: vor dem Auftreten des Agenten und nach ihrer Entlarvung ist alles konfliktlos. Es wird natürlich niemand leugnen, daß, solange die »_zwei Welten« bestehen, es auch Spione, Diversanten etc. geben wird. Diese können aber in der Regel bloß bereits unabhängig von ihrer Tätigkeit vorhandene Schwierigkeiten, Widersprüche, Fehler etc. für ihre verbrecherischen Ziele ausnützen. Aber die von Stalin aufgestellte Perspektive hatte zur Folge, daß solche Feinde von vielen Schriftstellern unmittelbar zur Herstellung der Schwächen eingesetzt wurden, also nicht als Nutznießer, sondern als Hervorbringer von Schwierigkeiten. Daß die Lösung in solchen Fällen nur eine als deus ex machina erscheinende höhere Instanz bringen konnte, entsprach der Theorie des Personenkults. Dadurch sind Werke entstanden, in denen die wahre poetische Spannung des wirklichen Kampfes um den Sozialismus dl,lrch die falsche und äußerliche Spannung einer Detektivgeschichte ersetzt wurde;" durch das Erwecken der Neugier, wer der heimliche Verbrecher sei, wie er entlarvt würde, von wem etc. Da solche Kompositionen auf rein äußerliche Spannungen ausgingen, konnten sie nicht auf echten und poetischen Wirklichkeitserfassungen beruhen, mußten vielmehr sogar oft den Boden einer normalen Wahrscheinlichkeit verlassen. Die so entstehenden Extremitäten, dargestellt mit einer flach naturalistischen Psychologie, konnten eine »poetische« Ausschmükkung und eine theoretische Rechtfertigung nur durch die revolutionäre Romantik erhalten. DM- Perspektive des rapid 'nahenden Kommunismus bringt eine dop-
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pelte - »revolutionär romantische« - Verzerrung in Psychologie, Moral, Typik vieler Werke hinein. Einerseits müssen Geschehnisse, die unter den gegenwärtigen Bedingungen des sozialistischen Aufbaus nur Ausnahmeerscheinungen sein können, als typische, ja fast als durch-. Schnittliche dargestellt werden. So findet man in sonst interessanten, von Begabung zeugenden Werken Szenen wie, daß eine Kolchosbäuerin die Prämiierung· durch das Geschenk eines von ihr selbst aufgezogenen Lammes mit der Begründung ablehnt, daß das Gemeineigentum ihrem Herzen näher stehe als der eigene private Besitz. So will eine Komsomolbrigade bei der Ernte den Wettbewerb gewinnen, sie tut es, indem sie die Mittagspause durcharbeitet, auf das Mittagessen verzichte und kann nur durch einen strikten Befehl des Vorsitzenden zum Essen und zum Ausruhen gezwungen werden. Und dieser Vorsitzende selbst sieht in solchen Tatsachen bereits heute vorhandene Verwirklichungen des nahen Kommunismus. Dabei handelt es sich ausgesprochenerweise um einen zurückgebliebenen Kolchos in einem zurückgebliebenen Bezirk. Bei der Kritik solcher Erscheinungsweisen der revolutionären Romantik kommt es nicht darauf an, ob die geschilderten Tatsachen stimmen, sondern darauf, wie weit sie als typisch zu betrachten sind. Sie sind es nicht im dichterischen Sinn, denn dann müßte ihre Atmosphäre die der typischen Ausnahmefälle sein. Sie werden aber im Gegenteil als normal typische geschildert. Sie sind es auch nicht im wissenschaftlich-politischen Sinne des Wortes. Sie sind Verkörperungen, Illustrationen eines abstrakten Sollens, das der ökonomische Subjektivismus, die falsche Theorie, daß der übergang in den Kommunismus die unmittelbare Perspektive unseres Alltags ist, der Wirklichkeit aufzwingen will. Darum ist dieses Sollen abstrakt, und darum.müssen Gestalten und Situationen, die von diesem Sollen und nicht von der Wirklichkeit aus gestaltet werden, ebenfalls einen abstrakten, blutleeren Charakter, verschwommene Konturen erhalten. Die Theorie der revolutionären Romantik dient dazu, solchen unwahren, untypischen Widerspiegelungen der Wirklichkeit die Weihe einer höheren, echteren Realität zu verleihen. Die brüchige Theorie kann aber nur künstlerisch Vorbeigelungenes kritisch apologetisieren, nicht ihm eine künstlerische Oberieugungskraft einhauchen. Lenin hat, und nach ihm nicht selten auch Stalin, es als eine zentrale Aufgabe des übergangs betrachtet, die persönliche Interessiertheit der Werktätigen an ihrer Arbeit (durch Lohnskala, Prämien etc.) zu er146
wecken und zu befestigen. Und in der Kritik des XX. Kongresses an der Vergangenheit spielt es mit Recht eine große Rolle, daß dieses so wichtige Prinzip der allmählichen, sukzessiven Erziehung des Menschen zum Sozialismus in der Praxis viel zu kurz gekommen ist. Die typische Lage ist also, daß die Werktätigen zum Sozialismus erzogen werden sollen. In Werken dagegen, die wir eben kritisierten, erscheinen bereits die Beispiele einer menschlichen Vorwegnahme des Kommunismus als die typischen, die sozialistische Verhaltungsweise der Menschen ist bereits allgemein selbstverständlich geworden, sie ist nur ein Absprung für die kommunistische. Nun wird natürlich niemand bestreiten, daß solche Fälle vorkommen können. Nicht einmal, daß sie mitunter sogar eine gewisse sYIJlptömatisch-typische Bedeutung erlangen können. Die einzelnen Perioden der Menschheitsentwicklung sind ja nicht metaphysisch starr voneinander getrennt, und zur Vorbereitung des Kommunismus gehört nicht nur eine derartige Erhöhung der Produktion, daß jeder nach seinen Bedürfnissen konsumieren könne (und nicht seiner Arbeitsleistung entsp~echend, wie im Sozialismus), sondern auch jene Ethik, nach- welcher, wie Marx sagt, die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern »selbst das erste Lebensbedürfnis geworden« ist. Selbstredend muß auch diese neue Einstellung zur Arbeit, ebenso wie die Entwicklung der Produktivkräfte, schon während des Sozialismus zu entstehen anfangen und allmählich in die höhere Phase, in deri Kommunismus hinüberwachsen. Das Auftreten derartiger, die Zukunft vorbereitender Eigenschaften und Taten kann also an sich sehr wohl zum Gegenstand eines heutigen Schriftwerks werden und kann in diesem, in einer bestimmten Weise; sogar mit dem Akzent des Typischen versehen erscheinen. Dazu gehört jedoch, worüber wir in der Kritik des Naturalismus bereits sprachen, die Gestaltung der besonderen Atmosphäre eines jeden typischen P}länomens .. Gerade für das hier behandelte ProJ51em scheint uns die Gestaltungsweise in Tschernischewskis »Was tun?« sehr lehrreich. Tschernischewski will darin das Wesen des neuen Menschen literarisch deutlich machen. Er gestaltet auf der einen Seite die normalen, nath seinem Ausdruck, durchschnittlichen Vertreter dieser neuen Erscheinung, die Lopuchow, Kirsanow, Vera, die auf der Grundlage der Ethik des vernünftigen Egoismus die Widersprüche der alten Gesellschaft überwinden. Auf der anderen Seite steht die heroische Figur Rachmetows, des Helden der revolutionären Arbeit am Umsturz de~ozial überlebten. Beide sind typisch gestaltet. Aber in beiden Fäl-
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len wird es aus der Persönlichkeit und dem Schicksal der Gestalten sofort klar, in welcher Hinsicht sie typisch sind, welche Stellung ihre Typik in der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung einnimmt.Der Naturalismus verzichtet, wie wir gesehen haben, auf diese soziale Atmosphäre der Typik, auf eine sozial wahrheitsgemäße Hierarchie der Typen. Die revolutionäre Romantik ist auch insofern keine Poesie des Lebens, sondern ein Poesieersatz, indem sie diese schematisch-starre Unhistorizität, Luftlosigkeit der Typik nicht aufhebt, vielmehr noch weiter erstarren läßt, sie nur mit den pseudopoetischen Zutaten einer angeblichen - sachlich unwahren - Vorwegnahme der Zukunft als gegen. wärtige Realität umgibt. Andererseits muß hervorgehoben werden, daß bei der Parole von der persönlichen Interessiertheit der Menschen an ihrer Arbeit, wie bei allen wichtigen Losungen des Weges zum Sozialismus, es sich keineswegs um eine bloße taktische Maßnahme handeit, mag ihre taktisch-praktische Bedeutung im übergang eine noch so ausschlaggebende sein. Es drückt sich in ihr zugleich der anti asketische Charakter der Weltanschauung des wissenschaftlichen Sozialismus im Gegensatz zur Asketik seiner primitiven Anfänge, seiner späteren sektiererischen Abirrungen aus. Der junge Engels hat die Bedeutung dieser Frage schon in den 40er Jahren erkannt und in einem Brief an Marx über das gerade erschienene Buch Stirners »Der Einzige und sein Eigentum« ausgesprochen. Hier interessiert uns nicht seine schroffe und scharfsinnige Widerlegung Stirners, sondern die ebenso scharfe Polemik gegen Moses Heß, der - asketisch-idealistisch -das egoistische Moment in der gesellschaftlichen Entwicklung und eben· deshalb auch in der Theorie des Sozialismus bagatellisiert. Darin sieht Engels das einzige - relativ":' berechtigte Moment bei Stirn er. Wir können hier nut die entscheidenden Pointen seiner Ausführungen zitieren: »Und wahr ist daran allerdings das, daß wir eine Sache zu unserer eigenen, egoistischen Sache machen müssen, ehe wir etwas dafür tun können - daß wir also in diesem Sinne, auch abgesehen von etwaigen materiellen Hoffnungen, auch aus Egoismus Kommunisten sind, aus Egoismus Menschen sein wollen, nicht bloße Individuen ... Wenn aber das leibhaftige Individuum die wahre Basis, der wahre Ausgangspunkt ist für unseren >Menschen<, so ist auch selbstredend der Egoismus - natürlich nicht der Stirnersche Verstandes-Egoismus allein, sondern auch der Egoismus des Herzens - Ausgangspunkt für unsere Menschenliebe, sonst schwebt sie in der Luft.~ 148
Ein solcher Asketismus taucht - in jeder Phase in anderer Form - im Laufe der Entwicklung Zum Sozialismus immer wieder auf. Er ist ein sehr widerspruchsvolles Phänomen, denn er kann nicht nur aus den subjektiv edelsten Motiven entstehen, sondern kann, besonders in revolutionär gespannten Lagen, positiv, ja vorbildlich wirken, obwohl er seinem Wesen nach, in Beziehung zur wirklichen Umgestaltung des Menschen durch den Sozialismus auch reaktionäre Tendenzen in sich birgt. Darum wird er auch im Laufe des konkreten Weges zum Sozialismus von der Bewegung, von ihrem bewußtesten Teil ununterbrochen korrigiert l,md kritisiert. So gibt die Sowjetliteratur eine Kritik der Gestalt Nagulnows in Scholochows »Neuland unter Pflug«, die Lewins in Platonows. Novelle »Die Unsterblichen« usw. (Beide Werke habe ich gerade in bezug auf dieses Problem in meinem Buch »Der russische Realismus in der Weltliteratur« analysiert.) So steht beispielgebend und wirklrch in die Zukunft weisend die bedeutende Persönlichkeit Julius Fuciks vor uns, der in seinen hinterlassenen Schriften gerade d~s Bildnis eines antiasketischen Heroismus, einer antiasketischen Opferbereit,schaft gab; und die Mehrzahl der unlängst veröffentlichten Briefe . von hingerichteten Märtyrern des Faschismus zeigen ähnliche Züge. Die Richtigstellung des Problems der Asketik gewinnt eine besondere Bedeutung in den letzten Jahrzehnten. Denn der Bürokratismus, der als Folge des Stalinschen Personenkults hochgezüchtet worden ist, hat eine besondere Nuance des Asketismus entwickelt: die Forderung eines asketischen Verhaltens der Massen seitens von Bürokraten, die diese Forderung keineswegs auf sich selbst beziehen. Kritik und Abbau des Personenkults, Entfaltung der sozialistischen Demokratie werden ohne Frage auch diese Entstellung liquidieren. Sie mußte aber hier kurz gestreift werden, um die Tragweite unseres Problems klarzulegen. Man sieht also, daß die persönliche - »egoistische« - Interessiertheit des Menschen an seiner Arbeit einen großen weltanschaulichen Hintergrund hat, der aufs engste mit so entscheidenden Fragen wie die Entstehung der vielseitigen Persönlichkeit zusammenhängt und ein praktisch unentbehrliches Moment seiner dereinstigen Verwirklichung ist, ein Leninsches Kettenglied dazu. Indem die revolutionäre Romantik die entscheidenden Bestimmungen »von oben« ebenso mißachtet, wie der sie ergänzende Naturalismus sie. »von unten« ignoriert hat, indem sie die notwendigen Etappen in dieser Entwicklung überspringt, Seiendes und K!-mmendes durcheinanderwirf\:, die Typik der Entstehungsphasen 149
'( ihres spezifischen Charakters entblößt etc., vollendet sie jenes Schematisieren und Vulgarisieren der großartigen, sich vor unseren Augen entfaltenden sozialistischen Wirklichkeit, die der Naturalismus so »erfolgreiche in Angriff nahm. WIr wiederholen: unsere Kritik bezieht sich selbstredend nicht auf das Ganze der sozialistischen Literatur, jeder weiß, daß Gorkis »Klim Samgin«, Scholochow, Makarenko, AlexejTolstoj, Trenow, Fedin, Anna Seghers, Tibor Dery und viele andere mit diesen Tendenzen nichts Gemeinsames haben. Wir wiederholen ebenfalls: der ästhetische Wert, die geschichtliche Höhe einer Kunst wurde und wird stets - und mit Recht - nach ihren Spitzenleistungen bestimmt, und das Durchschnittliche versinkt nach einer gewissen Zeit in die wohlverdiente Vergessenheit. Wenn wir von der elisabethanischen Dramatik sprechen, so meinen wir Shakespeare, höchstens einige seiner bedeutendsten Zeitgenossen, und nicht Middleton oder Tourneur; wenn wir den Realismus am Anfang des 19. Jahrhunderts bewerten, so fassen wir Balzac und Stendhal ins Auge und nicht die unzähligen Romanschreiber, die ihre Zeitgenossen eventuell ebenfalls, manchmal sogar mehr als diese, bewundert haben. Nur so kann das Epochemachende des sozialistischen Realismus richtig eingeschätzt werden. Eine solche richtige Einschätzung muß auch international erkämpft werden. Die wahre Koexistenz auf dem Gebiet der Kultur, ein wirklicher Dialog zwischen Vertretern verschiedener Kulturen kann nur auf der Basis des gegenseitigen Verständnisses zustande kommen; auch bei diametral entgegengesetzten Ansichten muß zumindest über dasselbe gesprochen werden. Diese Grundlage ist, wenn von der Literatur des sozialistischen Realismus die Rede ist, heute äußerst unsicher. Daran sind in erster Reihe die Ideologen des kalten Krieges schuld, die alles Sozialistische verleumden, sowie die Propagandisten des Avantgardeismus, in deren Augen kein Schriftwerk als echte Kunst gilt, das von den Merkmalen des dekadenten Formalismus frei ist. Es darf aber nicht vergessen werden, daß man Verleumdungen und Entstellungen nur in der Rüstung der integren Wahrheit wirksam entgegentreten kann. Und zu der vollen Wahrheit über den sozialistischen Realismus gehört, daß seine Inhalte und Formen in der Stalinschen Periode infolge deren schwerer Fehler vielfach ernste Deformationen Zu erleiden hatten, zumindest in einem Teil der Literatur. Es gilt nicht nur, diese ästhetischen Mängel und ihre weltanschaulichen Gründe aufzudecken, sondern -
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und vor allem - die echtgeborenen Werke des sozialistischen Realismus von den auf solche Weise verzerrten scharf zu unterscheiden. Es ist eine Verleumdung, daß die sozialistische Demokratie, der sozialistische Charakter des wirtschaftlichen Aufbaus etc. in der StalinsdIen Periode untergegangen war; ihre unverfälschte Physiognomie kann jedoch nur dann richtig und überzeugend gezeichnet werden, wenn die entgegenwirkenden Kräfte der letzten Jahrzehnte aus der Gegenwart . entfernt und in der Vergangenheit entsprechend kritisiert werden. Die vorangegangenen Darlegungen hatten dieses Ziel. Wer eine von möglichst geringen Hemmungen gestörte Wirkung der wahrhaft bedeutenden uncfallein repräsentativen Werke des sozialistischen Realismus wünscht, muß bestrebt sein, auch auf diesem Gebiet eine reinliche Trennung des künstlerisch Echten und wahrhaft Neuen vom ganz oder teilweise Peformierten zu erlangen. Man wird vielleidIt fragen: was haben diese ausführlichen Auseinander§etzungen über bestimmte Tendenzen zur Fehlentwicklung des sozialistismenRealismus mit der Beziehung des kritischen Realismus zu -ihm in der Periode des Sozialismus zu tun? Wir glauben sehr viel. Denn wir haben beobachten können, diaßdie von uns analysierten naturalistisch-romantischen Tendenzen gerade die kritisdIe Grundlage es sozialistischen Ja zur eigenen Entwicklung untergruben. Gerade ihre widerspruchsvolle »Schlauheit«, ihr kampfvoller Triumph über wirkliche äußere wie innere Widerstände, die Realität ihrer einzelnen Schritte dem Ziele zu, werden hier in den substanzlosen Dunst eines flach~n und schematischen Subjektivismus aufgelöst. Aber gerade im Aufdecken solcher Widerstände, inder Schilderung der versdIlungenen Wege liegt die größte Stärke der wirklich bedeutenden kritischen Realisten. Darum können sie im Prozeß der Heilung dieser Wunden die besten Verbündeten des sozialistischen Realismus werden. Es vi-äte ungerecht und falsch, unerwähnt zu lassen, daß ein deutliches Gefühl dieser Lage in der sozialistischen Literatur und Kritik immer wieder aufgetaucht ist. Es gab ununterbrochen Stimmen, die das ästhetisch Unzulängliche vieler Produkte des sozialistischen Realismus erkan~ten und dagegen auf die literarische »Meisterschaft« der großen Realisten der Vergangenheit und der Gegenwart hinwiesen, das Lernen von ihnen als Heilmittel gegen die künstlerischen SchwädIen vieler Werke empfahlen. Wenn wir hierin nur ein berechtigtes Gefühl und nicht eine ri
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tens in den meisten Fällen nur die letzten, offenkundigsten Ergebnisse. einer soldren ..Meisterschaft« apperzipiert und nicht deren Gründe aufgedeckt wurden; nur die Kunst des suggestiven Schreibens, isoliert betra
Wesentlich anders steht die Frage in den jüngeren sozialistischen Gesellschaften. Dort leben und wirken noch bedeutende Vertreter des kritischen Realismus. Und im Interesse der Wahrheit - und Aufrichtigkeit ist die Grundlage eines jeden fruchtbaren Bündnisses - muß ausgesprochen werden, daß der sektiererische Schematismus der Stalinschen Periode auch starke Entfremdungen zwischen kritischen und sozialistischen Realisten hervorgebracht hat. In einem Teil von diesen entstand ein - von Lenin oft gegeißelter - »kommunistischer Hochmut«, eine Selbstgefälligkeit, die ihre angebliche Berechtigung gerade in der sektiererischen, weltanschaulichen und künstlerischen Engstirnigkeit der Stalinsclien Periode suchte und fand. Und manche kritischen Realisten verstummten in dieser Atmosphäre oder machten oberflächliche Kompromisse ohne jede innere überzeugung. Es gibt sicher auch Fälle, wo sie sich der sozialistischen Wirklichkeit, dem Gang der Gesellschaft zum Sozialismus entfremdeten und dadurch in den Fundamenten ihrer schrift~telletischen Existenz ernsten Schaden erlitten. DIe Diskussionen,. die der xx. Kongreß der KPdSU entfachte, die "'Ergebnisse, die diese gebracht haben und vor allem noch bringen werden, können viel dazu beitragen, das Erstarrte abzutragen, das Krankhafte zu heilen, zwischen kritischen und sozialistischen Realisten ein zeitgemäßes solides Bündnis zu stiften. Je echter der Demokratismus sich entfaltet, je echter und ursprünglicher ein jedes Volk den seiner nationalen Eigenart angemessenen Weg zum Sozialismus sucht und findet, desto tiefer wird dieses Bündnis sein. Die lebendigen Traditionen des kritischen Realismus können in der Entdeckung und Aufdeckung der Verschlungenheit der Wege zum Sozialismus noch eine große Pionierarbeit leisten.
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Vorwort •
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Einleitung
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Die weltanschaulichen Grundlagen des Avantgardeismus Franz Kafka oder Thomas Mann? . . . . . . . . . Der kritische Realismus in der sozialistischen Gesellschaft