Blut & Mohnmilch …die frühen Jahre
Erzählungen von Carlitos Amsel vom Holunderstrauch
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[email protected] ©2013 Karlos Hutterer. Druck und Verlag Epubli GmbH Berlin Germany. www.epubli.de
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Gewidmet, meiner kleinen Schwester und meinem Kindheits- und Jugendfreund Viktor A.
Mit Dank an die Stadt Aachen, meinen Arzt und meine Apothekerin, die mit vereinten Kräften mein Leben erhalten. Dank auch an meine Nachbarin Marion, die einige Lasten des Alltags von mir nimmt.
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Inhaltsverzeichnis
Geschlossene Abteilung………………………………………………..7 Dorothea………………………………………………………………24 Sylvia………………………………………………………………….27 D E A …………………………………………………........................34 Suchtstation…………………………………………………………...43 Die Strafzelle…………………….........................................................69 Albert………………………………………………………………….79 Der Unfall….……………………... …………………........................94 Quasimodo…………………………………………………………...101 Frei? ....................................................................................................104 Adieu………………………………………………………………...121 Mit Morphin im Paradies………........................................................133 Zurück im Paradies…………….........................................................142 Wieder ein „besonderer Fall“………………………………………..170 Früchte des Hasses…………………………………………………..177 Agent wider Willen……………………………………………….....183
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Geehrte Leserin, geehrter Leser. Der Autor dieses Buches ist gesetzlich blind und arbeitet mit technischen Hilfsmitteln. Er bittet deshalb um Verzeihung, sollten Sie Fehler in diesem Buch vorfinden…
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Blut & Mohnmilch …die frühen Jahre
Carlitos Amsel vom Holunderstrauch
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Schon als Kind überkam mich der Verdacht, es gab ein Leben vor dem Tode! Carlitos Amsel vom Holunderstrauch
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Geschlossene Abteilung Wurde man einer Straftat verdächtigt und spielte dabei in irgendeiner Weise die Verwendung illegaler psychotroper Substanzen eine Rolle, wurde man vom Gericht nur allzu gerne in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, wo überprüft werden sollte, ob man während der Tatzeit auch bei Verstand und somit strafrechtlich zurechnungsfähig gewesen sei. Ich war noch keine Zwanzig und wurde einer Reihe von Einbrüchen verdächtigt. Keine schwerkriminelle Taten, mehr so Kleinigkeiten, zu denen gesunde ungezügelte Jugend neigt. Als ich deswegen festgenommen wurde, hatte ich einige Krümel geronnener Mohnmilch in meiner Hosentasche. Trank man jeden Tag fünf Liter Bier oder einige Pullen Wein, war das in Ordnung, trinken wir doch alle ein wenig. Rauchte man Tabak, bis Krebsgeschwüre wie eitriger Blumenkohl aus allen Körperöffnungen sprossen, war man trotzdem noch ein guter Junge. Aber wehe, man paffte gelegentlich, etwa zur Entspannung des Abends, einige Hanfblüten oder etwas getrocknete Mohnmilch! Dann bestand sofort der „begründete Verdacht“, man sei nicht mehr völlig bei Verstand und müsse dringend auf seine Geistesverfassung untersucht werden. Das Konzept ist identisch mit der Behandlung politischer Dissidenten in totalitären Systemen. Passen sie nicht ins System, muss nicht etwa das System behandelt werden, sondern die Dissidenten. Nach einigen Monaten der Untersuchungshaft, wurde ich in die psychiatrische Abteilung der Justizvollzugsanstalten gebracht. Dort sollte ein für allemal geklärt werden, ob ich total verrückt, oder noch „normal“ war… Die psychiatrische Abteilung der Justizvollzugsanstalten, war (und ist vermutlich noch) ein Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses. In einer Ecke innerhalb der eigentlichen Mauer des ehemaligen Zuchthauses gab es ein weiteres Mauergeviert, nicht weniger hoch als die eigentliche Hauptmauer. Dahinter verbarg sich die psychiatrische Abteilung der Justizvollzugsanstalten. Im Inneren des Gebäudes war so gut wie alles in
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beruhigenden Farbtönen gehalten, lindgrün, milchig weiß oder beige. Es gab zwei Schlafsäle mit Krankenhausbetten. Rechts des Korridors, der in einen kleinen Garten führte, gab es mehrere Einzelzellen mit großen Türspionen in den Türen, durch die ich lugte, wann immer sich Gelegenheit bot. In jeder dieser Zellen lag ein Mensch, festgeschnallt auf seinem Bette, der nie aus dieser Zelle zu kommen schien. Wie es den Anschein hatte, durften diese Leute froh sein, ließ man sie gelegentlich aus ihren Betten. Sie schienen dazu verdammt, einen Teil ihres Lebens, wenn nicht sogar ihr ganzes Leben, festgeschnallt in einem Bett zu verbringen. Solange ich in diesem schauerlichen Hause weilte, sah ich nie einen dieser Menschen außerhalb seines Bettes, geschweige denn, außerhalb seiner Zelle oder gar im Garten. Zumindest während der Zeit meines Aufenthaltes, sah keiner von ihnen jemals das Blau des Himmels, noch fühlte er die Wärme der Sonne auf seiner Wange. Mein persönlicher Eindruck war, man missbrauchte diese Menschen, um neue pharmakologische Molekülverbindungen zu erproben… Einige Berühmtheiten ihrer Zeit, traf man in diesem grausigen Haus, wie beispielsweise Bruno, den „Vampir von Nürnberg“, wie die Medien ihn genannt hatten. Bruno mochte zwischen sechsunddreißig und zweiundvierzig Jahre alt gewesen sein. Seit seiner Geburt taubstumm und entsprechend einsam, bekam er eines Tages Bücher über Vampirismus in die Hände und kam bei ihrer Lektüre zu der Überzeugung, er habe Blut zu trinken nötig. Dazu schlich er zuerst nur in die Leichenhallen der Friedhöfe und nagte dort die aufgebahrten Toten an. Abgelagerte Tote, brachten ihm aber nicht die ersehnte Befriedigung, wie ich mir vorstellen könnte, des geronnenen Blutes wegen. Deshalb erschoss Bruno eines Nachts ein Pärchen, das in warmer Liebe umschlungen auf einer Bank gesessen hatte und trank von ihrem frischen, noch dampfenden Blut. Frischblut, war nun schon mehr nach Brunos Geschmack. Es folgte ein erschossener und leer geschlürfter Landarbeiter und bald darauf Brunos Festnahme. Seitdem saß er verdrossen in einer Zelle der psychiatrischen Abteilung der
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Justizvollzugsanstalten und dürstete nach Blut. Bruno war zwar ein wenig des Lesens fähig, nicht aber des Schreibens. Stumm und wild gestikulierend, bat er deshalb mich um Hilfe beim schreiben zahlreicher Anträge an die Justizbehörden, in denen er um wöchentliche Rationen von mindestens sieben Litern frischen Jungfrauenblutes bat. Sollte es zu problematisch sein, an Jungfrauenblut zu kommen, Bruno kannte die moralischen Niederungen seiner Zeit, so gäbe er sich, wie er die Behörden wissen ließ, notfalls auch mit sieben Litern gut gerührter Blutkonserven vom Roten Kreuz zufrieden. Erzürnt darüber, dass sein Untersuchungsrichter derlei Anträge keiner Antwort für würdig hielt, verletzte Bruno sich mit spitzen oder scharfen Gegenständen, die er Gott weiß wo und wie geklaut haben mochte und malte mit eigenem roten Blute, höllische Verwünschungen gegen seinen Untersuchungsrichter, gleich Höhlenmalereien im Stil des Hieronymus Bosch, an die weißen Wände seiner Zelle. Gönnte man uns des Abends einige Stunden Fernsehen, saß Bruno still und reglos neben mir auf seinem Stuhle und taute immer erst dann auf, sah man einen Sarg, etwa in den Nachrichten, während eines Staatsbegräbnisses. Dann grinste Bruno breit und zappelte vor Vergnügen auf seinem Stuhl. In meinen Augen war er ein hoffnungsloser Fall... Es gab „Arbeitstherapie“ in diesem Haus des Grauens. Dabei durfte man mehrere Stunden des Tages, für 15 Pfennige pro hundert Stück, Schachfiguren zusammenkleistern und zum Abschluss ein grünes Filzläppchen auf ihren Boden kleben. Einen Arzt hatte ich in den Wochen meines Aufenthaltes nur zwei Mal zu Gesicht bekommen, ein Mal am ersten Tag und ein zweites Mal drei Tage später. „Sie wirken depressiv“, fand der Arzt am ersten Tag und verordnete ein Antidepressivum. Ich erhielt es morgens und abends in Form einer halbwegs in Wasser gelösten Tablette in einem Kunststoffzahnputzbecher, der auf einem aufgeklebten Stück Heftpflaster meinen Namen trug. Eine halbe Stunde nach Einnahme sah ich aus, wie einfaches Volk sich Geistesgestörte vorstellte. Ich kam daher wie ein sabbernder Idiot. Ich konnte meinen Mund nicht mehr
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schließen, mein Unterkiefer hing herab, als gehöre er mir nicht; meine Halsmuskulatur versagte, weshalb ich meinen Kopf nicht heben konnte und ich litt an Gleichgewichtsstörungen, die mich zwangen, nur noch mit nach vorne gestreckten Armen zu laufen. Schlucken, musste ich dieses „Medikament“, denn es war immerhin, wie man mir versicherte, „ärztlich verordnet“ worden. Schluckte ich es nicht, so erklärte man mir mit heimtückischem Lächeln, bekäme ich es eben mit Gewalt injiziert. Nach drei Tagen ließ ich mich zum Arzt bringen und bat ihn, das Zeug abzusetzen. „Wie ich sehe“, fand der Arzt, „geht es ihnen schon bedeutend besser“. Die Wahrheit war freilich, ich empfand die verheerende Wirkung dieses „Antidepressivums“ als Strafe, die ich erhielt, weil ich es gewagt hatte in unserer fröhlichen Gegenwart depressiv zu wirken. Ich gab mir deshalb alle Mühe, wieder fröhlich zu scheinen. Ich wäre jedenfalls viel lieber zutiefst depressiv gewesen, als weiterhin unter dem Einfluss dieses teuflischen Zeugs zu sein. Vier Wochen war ich in dieser psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalten. Danach wurde ich zur „weiteren Beobachtung“ in das Landeskrankenhaus Vogelsang gebracht, wo ich in Haus 42, der geschlossenen und besonders gesicherten Abteilung für geisteskranke Kriminelle, auch „Die Festung“ genannt, untergebracht wurde. Das Landeskrankenhaus Vogelsang darf man sich nicht als gewöhnliches Krankenhaus vorstellen. Es war vielmehr eine Ortschaft mit über 100 Häusern. Haus 42, „Die Festung“, ein einstöckiges Gebäude mit spitzem rotem Ziegeldach, war nur eines davon… Auch in der Festung gab es im Korridor der zum Hof führte mehrere Einzelzellen mit großen Türspionen. In diesen Zellen lagen ebenfalls Menschen, die ihr Leben vorerst festgeschnallt auf einem Bett zubringen mussten. Hoch lebe die Psychiatrie und ihre heilsamen, menschenwürdigen Methoden! In meinen Augen sind Psychiater nicht mehr als politische Folterknechte die Menschen mit Qualen dazu zwingen, unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken und erwünschtes zu zeigen, und willige
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Instrumente der Pharmaindustrie, allzeit bereit, ihre Patienten als Versuchskaninchen für pharmakologische Experimente zu missbrauchen… Auch unter der Belegschaft der Festung gab es einige Berühmtheiten ihrer Zeit, wie etwa den berüchtigten „Äthermörder“, ein unscheinbarer Knilch von etwa 25 Jahren, mit roten Wangen im fröhlichen Jungengesicht. Sah man diesen Äthermörder, kam man nie auf den Gedanken, er stecke hinter den zahlreichen Frauenmorden, von denen die Medien wochenlang berichtet hatten. Mit einem Fläschchen Äther in der Tasche, war dieser „Äthermörder“ in Wälder gegangen um Frauen aufzulauern. Er überwältigte sie und trieb Gott weiß was mit ihnen. Hinterher war jedenfalls noch jede tot und aufrecht stehend an einen Baum gebunden aufgefunden worden. (...wollte der Täter sich damit vielleicht der Illusion hingeben, sie stünden aufrecht, folglich lebten sie noch?) Natürlich hatte ich diesen „Äthermörder“ einige Male eingehend befragt, was er so im Einzelnen mit den Damen getrieben hatte. „Nichts“, war seine schlichte Antwort, „Nichts“, und dabei sah er einen an als wisse er gar nicht wovon man sprach. Warum die Frauen alle tot und aufrecht stehend an einen Baum gebunden waren, fragte ich verschiedene Male. Das wisse er nicht, erklärte er aufrechten Blicks. Das, wundere ihn selbst auch. Als er sie verlassen hatte, lebten sie jedenfalls alle noch. Und was es mit dem Äther auf sich hatte, bohrte ich weiter. Dieser Frage wich er stets auffallend aus und es war darüber nichts in Erfahrung zu bringen. Da man in einem System, das Menschen nicht nur aufgrund ihrer Geistesverfassung, sondern auch aufgrund ihrer politischen Haltung einschloss, nie eindeutig wusste weshalb jemand eingeschlossen war, enthielt ich mich in diesem Falle lieber des Urteils, ob der Knilch nun tatsächlich verbrochen hatte was ihm vorgeworfen wurde… Auch den damals Schlagzeilen machenden „Kellermörder“ traf ich in der Festung. Dieser „Kellermörder“ war ein zierlicher, kultivierter und höchst sympathischer Mann mittleren Alters, mit einer schneeweißen Stirnlocke
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im ansonsten rabenschwarzen Haar. Er hatte in einem Keller den Liebhaber seiner Freundin erschossen. Das bestritt er auch nicht. Ich stellte mir vor, er hatte triftige Gründe, den Mann zu erschießen. Meiner Ansicht nach war dieser „Kellermörder“ unschuldig, auch hatte er geschossen. Am Ende war er wegen Totschlags zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ich sollte ihm einige Jahre später in der Haftanstalt L. wieder begegnen. Einen mächtigen, bärenhaften Kerl gab es auf der Festung, mit dem Verstand eines Kleinkindes und tiefen Dellen an beiden Seiten seines Kopfes. Die Dellen mochten Folge einer allzu brutalen Zangengeburt gewesen sein. Er schien harmlos und war, wie ich hörte, schon sein ganzes Leben in diesem Krankenhaus. Weshalb man ihn in der Abteilung für geisteskranke Kriminelle hielt, brachte ich nie in Erfahrung. Ich fand es jedenfalls beunruhigend, stand er schwer atmend wie ein verausgabtes Tier direkt hinter mir und keiner begriff, was in ihm vorging… Was gab es nicht alles für Käuze im Haus 42? Manche Leute kamen einem wochenlang völlig normal vor, bis sie eines Morgens mit Schaum vor dem Mund verkündeten, sie seien eine rosarote Schildkröte und vieles mehr… Kuno war schon seit Kindesjahren in einer geschlossenen Abteilung. Weshalb, begriff man wenn man ihm eine Weile lang zusah. Kuno lief brummend und die Arme nach vorne gestreckt an den Wänden entlang. (Antidepressivum??) Plötzlich änderte er seine Richtung, packte jemand der ihm am nächsten stand und versuchte seine Finger in dessen Mund zu zwängen. Gelang es ihm, versuchte er mit aller Kraft, den Mund auseinander zu reißen. Kam Kuno in meine Richtung, gab ich ihm einen wohl gezielten Fausthieb zwischen die Augen. Der drehte ihn dann auf der Ferse in eine andere Richtung, in der er seinen Unfug weiter trieb. Kuno konnte nicht sprechen. Er gab nur Grunz- und Brummlaute von sich. Er konnte auch keine gewöhnliche Kleidung tragen, weil er sie sich schon
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nach wenigen Minuten in Fetzen vom Leibe riss. Man packte ihn deshalb in einen Overall aus festem Segeltuch, einem Judoanzug ähnlich, der vorne eine Öffnung zum Pinkeln hatte und vom Po bis zum Nacken offen stand, aber am oberen Teil mit verschließbaren Steckknöpfen verschlossen war... Eines Tages kam ein Bekloppter zu mir, den ich bis dahin für weniger bekloppt gehalten hatte, und stellte die, wie ich dachte, theoretische Frage, wie beginge man Selbstmord so man über eine Injektionsspritze von 50cc Inhalt verfügte? Ich war gerade beim Kartenspiel um Zigaretten und schenkte der Frage nicht die gebührliche Aufmerksamkeit. Mehr so nebenbei antwortete ich, „Nimm drei Päckchen Schwarzer Krauser Zigarettentabak, koche ihn eine halbe Stunde in Wasser, dampfe das Wasser so weit wie möglich ein und jage dir die übrig gebliebene Plörre mit der fünfziger Pumpe in die Armvene“. Ich war noch mitten im Kartenspiel und hatte einen Stapel gewonnener Zigarettenpackungen neben mir liegen, als man den Kauz mit seiner merkwürdigen Frage, käsebleich auf einer Bahre aus dem Schlafsaal trug. Eine Stunde später war er wieder zurück, zwar noch bleich und auf zittrigen Beinen, aber ansonsten ganz fröhlich und wiederhergestellt. Gut, dass ich ihm nicht geraten hatte, einfach nur 50cc Luft zu injizieren… Leute gab es, die schon zwölf, zwanzig, ja dreißig Jahre und mehr in dieser Abteilung waren. Waren sie, wie so manche, dreißig, fünfunddreißig Jahre oder mehr dort und waren sie alt geworden, kamen sie in die Sterbestation, Haus 92 Abteilung B4, wo sie, vermutlich nicht unbedingt ohne tätige Hilfe des medizinischen Personals, einsam fernab aller Blicke dieser Welt, relativ rasch verschieden. Zwei solcher Verlegungen nach Haus 92 hatte ich miterlebt, während meines Aufenthaltes in der Festung. In beiden Fällen waren es steinalte Greise. Menschen, die den überwiegenden Teil ihres Lebens in dieser geschlossenen Abteilung für geisteskranke Kriminelle zugebracht hatten…
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Ein besonderer Fall wollte andauernd mit mir türmen. „Wir brauchen nur einen Bohrer“, wiederholte er stets. „Damit bohren wir das Schloss aus der Tür zum Hof und klettern über die Mauer“. Befragt, wie er an den Schlüssel der Korridortür kommen wollte, der nötig war um an die Tür zum Hof zu gelangen, eröffnete er seinen Plan. Er wollte nachts in das Büro des Nachtdienstes schleichen, dem Nachtdienst eine über die Rübe ziehen und seelenruhig den Schlüssel der Korridortür vom Brett nehmen. Dass er bei der Gelegenheit auch gleich den Schlüssel für die Tür zum Hof vom selben Brett nehmen konnte, entging ihm. Doch selbst musste das Schloss der Türe zum Hof aufgebohrt werden, bezweifelte ich dass der Kauz wusste, an welcher Stelle eines Schlosses ein Bohrer angesetzt werden musste um es zu öffnen. Ohne Bohrmaschine oder zumindest einer primitiven Bohrkurbel, nur so mit einem bloßen Bohrer in der Hand, ginge das ohnehin nicht. Wie stellte er sich das vor? Etwa den Bohrer ansetzen und zwischen Daumen und Zeigefinger trällern, als bohrte man sich seelenruhig damit in der Nase?! Und wie der Kerl schon aussah! Bis auf seine unentwegt sich runzelnde Stirn und seinen Lippen die sich wie unabhängig bewegten, schien sein Gesicht gelähmt zu sein. Sprach er, runzelte und glättete sich unaufhörlich, wie ein selbstständiges Lebewesen, seine Stirn und seine nach vorne drängenden Lippen agierten dazu wie ein sprechender Rüssel. Eines seiner Beine war kürzer als das andere. Dazu hatte er einen deformierten rechten Arm, dessen Hand immer krampfhaft schräg unterhalb seines Halses zu liegen kam. Um den Arm in eine günstigere Position zu bringen, fasste er die Hand dieses Armes mit seiner Linken und drehte sie unter lautem Knacken um die eigene Achse, wodurch der Arm wieder in eine natürliche Position sprang. Das Ganze mutete an wie ein makaberer Zirkusakt. Und mit dieser Attraktion sollte ich eine Flucht wagen?! Schon das Aussehen dieses Mannes verhinderte jede erfolgreiche Flucht. Wo wollte er hin, so er tatsächlich in Freiheit gelangte? Egal wo er sich zeigen würde, er fiele sofort auf. Was er zur erfolgreichen Flucht benötigte, war kein Bohrer, sondern einen neuen Körper…
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Eines Abends scholl vom hintersten Ende des Schlafsaals her mächtiger Tumult. Schreckliche Geräusche tönten aus der Ecke, in der sich das Büro des Nachtdienstes befand. Wie sich ergab, war der verwachsene Verrückte in das Büro geschlichen, hatte eine schwere elektrische Schreibmaschine vom Schreibtisch genommen und sie dem Hauptpfleger über den Schädel geschlagen. Ich bekam die Schreibmaschine zu sehen. Sie war nicht nur verbogen, sie war zerknüllt, Sie sah aus wie ein verknoteter Igel, aus dem, wie bizarre Borsten, die verbogenen Buchstabenhämmer der Maschine hervorragten. Es wunderte mich dann auch sehr, dass dieser Hauptpfleger nur zwei Wochen im Krankenstand verbrachte und danach nur mit einem Heftpflaster auf der Stirn wieder erschien... Es gab freilich nicht nur Menschen auf dieser Abteilung für geistesgestörte Kriminelle, denen eindeutig anzusehen war, dass sie anders waren als gewöhnliche Leute. Es gab auch eine Anzahl, allen voran solche, die wie ich wegen der Verwendung, dem Besitz, dem Erwerb oder dem Verkauf von verbotenen psychotropen Substanzen in dieser Abteilung gefangen gehalten wurden, denen nichts weiter fehlte als absoluter Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Nach meiner Einschätzung war mindestens ein Drittel der Belegschaft nicht verrückter als der durchschnittliche Bürger auf der Straße... Rossberger war schon seit 12 Jahren in der Abteilung für geisteskranke Kriminelle. Der wollte aber auch gar nicht weg, was mir anfangs Rätsel aufgab, bis ich dahinter kam, Stationsarzt Wladislowsky belohnte Rossberger mit Morphininjektionen für Informationen über die Vorgänge auf der Abteilung. Lief zufällig Stationsarzt Wladislowsky durch den Aufenthaltsraum, rannte flugs Rossberger hinter ihm her und flehte, “Bitte, Herr Doktor! Nur noch eine Spritze! Bitte, Herr Doktor, bitte“! Brachte man Rossberger gegen seinen Willen von der geschlossenen Abteilung in eine halboffene, fügte er sich sofort furchtbarste Verletzungen zu und zwang die Ärzteschaft damit, ihn wieder zurück in die geschlossene
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Abteilung und in Doktor Wladislowskys Nähe zu bringen. Rossberger schnitt sich mit Rasierklingen so schreckliche Wunden in die Arme, dass man erblasste, wenn man sie sah. Zentimeter breite, klaffende Schnittwunden, von der Schulter hinab bis zum Handgelenk. Oder aber, Rossberger verschluckte Gegenstände. Eines Tages verschluckte er eine stählerne Bettfeder und tags darauf ein gläsernes Fieberthermometer. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen auf den Röntgenfotos gesehen, ich hätte es nie geglaubt: Das Fieberthermometer war in Rossbergers Magen genau in die Öffnung der Bettfeder gefallen! Ging es nicht anders, wurden solche Gegenstände operativ wieder entfernt. Kreuz und quer verlaufende Narben auf Rossbergers Oberkörper, zeugten von zahlreichen Operationen in der Vergangenheit. Eines Tages klaute Rossberger aus dem Arztzimmer eine Packung Tabletten. Er kam damit zu mir gerannt und fragte, was das für Tabletten seien. Ich warf einen Blick auf die Packung, las, „Skopolamin“ und sagte, „Die sind gut. Davon kannst du getrost alle auf einmal einnehmen“. Rossberger vertilgte auf der Stelle den gesamten Packungsinhalt. Nachdem Doktor Wladislowsky den Diebstahl bemerkt hatte, ging er kurz vor der Nachtruhe im Schlafsaal seelenruhig von Bett zu Bett und sah sich jeden Patienten an. Bei Rossbergers Bett angelangt, sah er sofort, Rossberger halluzinierte. Das war aber auch nur schwer zu übersehen. Unter dem Einfluss des Skopolamins glaubte Rossberger, an seinem Blickfeldrand krabbelten Insekten. Fixierte er sie, waren sie weg und wieder am Rande seines Blickfeldes. Rossberger lag im Bett und warf seinen Kopf von einer Seite zur anderen, sah einmal hier hin, einmal dort hin, im verzweifelten Versuch, die vermaledeiten Insekten endlich in die Mitte seines Blickfeldes zu bekommen. „Soso“, sagte Wladislowsky ruhig. „Hier sind also meine Tabletten geblieben. Gegenmittel, bekommst du keines. Es geschieht dir nur recht. Und bis die Wirkung abgeklungen ist, bleibst du im Bett“. Drei Tage, lag Rossberger festgeschnallt im Bett und warf seinen Kopf hin und her im vergebenen Versuch, die Insekten am Rande seines Blickfeldes zu fixieren um sie endlich genauer zu sehen…
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Wäre Stationsarzt Wladislowsky nicht zufällig Stationsarzt dieser Abteilung gewesen, er wäre mit Sicherheit einer ihrer Insassen. Wladislowsky war an Amphetamine gewöhnt, was allen seinen Kollegen sowie allen Patienten zu entgehen schien. Ich kannte aber die Nebenwirkungen, wie beispielsweise den unnatürlichen Rededrang oder die Stimmungsschwankungen von Amphetamingewöhnten. Auch kamen mir die Flocken von Speichelschaum in Wladislowskys Mundwinkel nur allzu bekannt vor. Sie waren typische Folge des Amphetaminkonsums und entstanden durch beständiges Reden und Mahlen mit den Kiefern. Wladislowsky, verrückt wie er war, nahm sich als Maßstab geistiger Gesundheit. Wich jemandes Meinung auch nur ein Jota von der seinen ab, galt ihm das als Ausdruck einer Geisteskrankheit. War ein Patient in einer Sache anderer Meinung als Wladislowsky und ließ er sich auch durch energisches Drängen seitens Wladislowsky nicht davon abbringen, wurde er einige Wochen ans Bett gefesselt und, „bis er mehr Verstand zeigt“, mit täglichen Injektionen stärkster Psychopharmaka „behandelt“. Bei diesen Psychopharmaka handelte es sich um so genannte „Gummihämmer“ oder „Cocktails“, Gemische verschiedener industrieller Chemikalien, „Medikamente“ genannt, wie etwa Megafen, Atosil und Neurocil. Ich hatte diese Mischungen zu Versuchszwecken oral verwendet und auch die Wirkung der einzelnen Bestandteile oral erprobt. Schon oral, war die Wirkung umwerfend. Alleine Neurocil, verabreicht in einer Dosis von nur 30-40 Tropfen, warf innerhalb von 30 - 40 Minuten den stärksten Mann vom Hocker. Mit Megafen verhielt es sich ähnlich, nur benötigte man davon etwas mehr… Stationsarzt Wladislowsky war gefährlich. Er konnte einen Patienten töten ohne dafür im Geringsten belangt zu werden. Einen Mann, der unter Klaustrophobie litt, ließ er in den fünfunddreißig bis vierzig Zentimeter schmalen Spalt einer Doppeltüre schließen. Als man den Mann nach zwei Stunden wieder befreien wollte, war er inzwischen vor Angst gestorben. Kein Hahn, krähte jemals danach. Das Personal, das den Vorfall miterlebt
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hatte, wagte dem Herrn Stationsarzt nicht zu widersprechen, geschweige denn ihn anzuzeigen. Sie fürchteten um ihre erbärmliche Stellung. Schließlich sagte ich zu Wladislowsky, „Ich habe gesehen, was sie mit diesem Mann getan haben und ich werde sie dafür anzeigen“. Wladislowsky sah mich ruhig an, drehte sich um und ging wortlos davon. Er wusste, es gab ein Gesetz welches besagte, solange ich nur zur Beobachtung in seiner Abteilung war, durfte er mir gegen meinen Willen keine Medikamente verabreichen. Sollte ich aber durch ein Urteil meines bevorstehenden Gerichtsverfahrens als Patient wieder in seine Obhut zurückkehren, könnte mein großer Mund mich das Leben kosten. Ich stellte Strafantrag gegen Wladislowsky, wegen vorsätzlicher Tötung. Die Ermittlungen wurden nach kurzer Zeit wegen „Mangel an Beweisen“ eingestellt. Wladislowsky würde nie vergessen und nie verzeihen, dass ich versucht hatte, ihm so gründlich ans Bein zu pinkeln. Ich war damals noch jung und viel zu unerfahren um zu begreifen, spielte ich mit diesem Mann, spielte ich mit meinem Leben. Nur noch ein wenig Pech bei meinem Gerichtsverfahren und es konnte verspielt sein... Das am häufigsten verwendete Medikament in dieser Abteilung war ein Zeugs namens Haloperidol, heute eher als Haldol bekannt. Um dessen Nebenwirkungen zu unterdrücken, benötigte man ab einer gewissen Dosierung die zusätzliche Gabe von Akineton. Ließ man Akineton weg, stellten sich Kieferkrämpfe ein, Krämpfe im Rückgrat und Gott mag wissen was noch alles. Eines Tages war es uns Irren gelungen, aus der Medikamentenstation im Aufenthaltsraum ein Fläschchen Haloperidol Tropfen zu klauen. In einem unbeobachteten Moment schütteten wir den ganzen Inhalt der Flasche auf das Abendessen des Hauptpflegers. Haloperidol Tropfen hatten nur wenig Eigengeschmack. Der Mann aß ahnungslos seinen Teller leer und machte sich danach auf den Nachhauseweg. Weit, kam er nicht. Schon fünfzehn Minuten später war er wieder zurück, die Augen verdreht und voller Panik, sein Rücken nach hinten gebogen, er konnte kaum noch laufen, das Maul weit aufgesperrt
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und sein Unterkiefer seitlich verschoben, fast schon ausgerenkt. Gut, sah er aus, der Herr Hauptpfleger. Seine Kollegen verabreichten ihm sofort Akineton. Kurz danach war er wieder redlich in Ordnung, wennschon sichtlich noch ein wenig benommen… Die Festung hatte eine Abteilung im Erdgeschoss und eine im oberen Stockwerk. Oben waren die gefährlicheren geistesgestörten Kriminellen untergebracht, wie beispielsweise ich. Das Gebäude war von einem sechs Meter hohen Maschenzaun umgeben, der eine lang gezogene Rolle aus NATO-Stacheldraht trug. An der hinteren Breitseite des Gebäudes und innerhalb dieses Maschenzauns, war ein kleiner Hof, umgeben von einer etwa fünf Meter hohen Backsteinmauer. Auf diesem Hof durften die Patienten sich eine Stunde des Tages die Füße vertreten. Auf der Mauer des Hofes gab es ebenfalls eine lang gezogene Rolle aus NATOStacheldraht. Durch diese Rolle lief zusätzlich aber ein zweiadriges Schwachstromkabel, das alle paar Meter mit der Ober- und der Unterseite der Rolle verknüpft war. In der Mitte der Rolle waren diese Schwachstromdrähte unterbrochen, aber mit Bananensteckern wieder verbunden. Wollte man die Mauer überwinden, musste man sich notgedrungen, um auf die Mauer zu gelangen, an diese Stacheldrahtrolle hängen. Dadurch übte man Zug auf den unteren Teil der Rolle aus, wodurch die Bananenstecker in der Mitte der Rolle auseinanderglitten. Diese Unterbrechung des Stromkreises veranlasste einen starken Sender im Zimmer des Stationsarztes, per Funksignal Alarm in allen Häusern der Anstalt sowie bei der nächsten Polizeidienststelle auszulösen. Wurde dieser Alarm aktiviert, heulten im weiten Umkreis die Luftschutzsirenen. Zusätzlich trugen alle Ärzte und Krankenpfleger im Brusttäschchen ihrer weißen Kittel ein kleines Gerät von Kunststoff, etwa so groß und schwer wie eine halbierte Zigarettenpackung. Tippte man auch nur mit den Fingerspitzen auf dieses Gerät, wurde sofort derselbe Alarm ausgelöst wie durch die Unterbrechung des Stromkreises an der Hofmauer. Zu all diesen Sicherheitsvorkehrungen kamen noch bewaffnete Wachleute einer
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Bewachungsfirma. Gekleidet in schwarze Uniformen wie ehemals die SS, trugen sie geladene Trommelrevolver des Kalibers .38 an ihren Gürteln. Sie waren aber nur während der Besuchszeiten anwesend. Sie bewachten den Besuchsraum und durchsuchten die Besucher mit Metalldetektoren. Alles in allem war es nicht einfach, aus dieser geschlossenen Abteilung für geisteskranke Kriminelle zu fliehen… Eines Tages lernte ich, wie die gesamte Alarmanlage des Krankenhauses lahm gelegt werden konnte. Einer der nicht ganz so Geistesgestörten hatte einem Pfleger das Alarmkästchen aus der Brusttasche gemopst und gab damit alle paar Minuten Fehlalarme. Tippte er auf das Kästchen, heulten sofort in der gesamten Umgebung die Luftschutzsirenen los. Danach musste der Hauptpfleger der Festung über hundert Häuser einschließlich der Polizeistation telefonisch darüber informieren, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hatte. Nach einer Anzahl solcher Fehlalarme, heimlich ausgelöst durch einen Irren, schaltete man die ganze Alarmanlage einfach ab… Danach zeigte mir der Zufall auch, wie der Alarm an der Hofmauer deaktiviert werden konnte. Im Hof gab es eine Toilette, in der mein Blick an einem runden Deckel hoch oben an der Wand hängen blieb, der von derselben Farbe war wie die Wand selbst. Es war der Deckel einer Unterputzstromverteilerdose. Ich kletterte auf die Toilettenschüssel, reckte mich nach oben und öffnete die Dose. Sie enthielt zwei Schwachstromdrähte von derselben Stärke und Farbe wie die beiden Schwachstromdrähte, die draußen durch die NATO-Stacheldrahtrolle oben an der Mauer liefen. Es waren eindeutig dieselben Drähte. Man musste folglich nur die beiden Drähte in der Verteilerdose mit dem Feuerzeug abisolieren und miteinander verbinden. Dann konnte man sich getrost an die Stacheldrahtrolle der Mauer hängen und dabei auch die Bananenstecker auseinander ziehen, Alarm gäbe es dennoch keinen, weil der Stromkreis geschlossen bliebe. Man bräuchte an einem sonnigen Tage, an dem alle
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Irren ihre Wolldecken mit in den Hof nähmen um sich darauf in die Sonne zu legen, nur ebenfalls eine Wolldecke mit in den Hof bringen. Man würde die Decke an den NATO-Stacheldraht an der Mauer werfen, damit sie an den Zacken des Drahtes hängen bliebe und man könnte sich daran in die Höhe und auf die Mauer ziehen. Oben angekommen, entschärfte man die Stacheln des Drahtes indem man die Decke darüber warf und man konnte unbeschadet darüber hinweg klettern. Auf der anderen Seite spränge man einfach auf die Erde hinab. Dann stünde man nur noch vor dem hohen Maschendrahtzaun. Es wäre aber leicht dafür zu sorgen, dass jemand von außen rechtzeitig den Maschendrahtzaun durchschnitte oder an seiner Innenseite vorsorglich eine kleine Kneifzange in der Erde verscharrte. Damit wäre man im Nu durch den Zaun. Stünde ein Auto bereit, man wäre unterwegs bevor die Spinner auch nur begriffen hätten, was geschehen war. Damit zum Zeitpunkt der Flucht keine Bewaffneten anwesend wären, müsste man einen Tag wählen, an dem keine Besuche stattfanden… Die hohen und breiten Fenster des Aufenthaltsraumes waren mit Gittern aus runden Eisenstäben gesichert. Diese Gitterstäbe verliefen aber nicht einfach nur senkrecht von oben nach unten. Sie hatten vielmehr am unteren Teil eine hohe und tiefe Wölbung nach außen, die ursprünglich für die Aufnahme eines Blumenkastens vorgesehen war. Es gab aber keine Blumenkästen in dieser Abteilung. Es gab nur diese dafür vorgesehenen Ausbuchtungen an den Gittern der Fenster. Das Fenster war breit und die Ausbuchtung hoch und tief genug, dass man sich der Länge nach hinein legen und hinter sich die Fenstervorhänge schließen konnte. Damit war man vom Aufenthaltsraum aus nicht mehr zu sehen und selbst sah man alle Leute, die eventuell unten auf der Straße liefen und einem beim sägen zusehen konnten… Nahm man zwei gewöhnliche Speisemesser mit gerundeter Spitze und schlug sie mit den Schneiden aufeinander, entstanden Kerben im Stahl beider Messer. Diese Kerben wirkten auf das weiche Eisen der Gitterstäbe
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wie die Zähne einer primitiven Metallsäge. Damit konnte man an sonnigen Tagen bequem auf einer Wolldecke in der Gitterausbuchtung eines der Fenster im Aufenthaltsraum liegen, die Vorhänge hinter sich zu ziehen und unbeobachtet in aller Ruhe an den Gitterstäben sägen. Vom Fenster im oberen Stockwerk hatte man noch einige Meter hinab auf den Rasen zu überwinden. Das könnte mit Bettlaken geschehen, die einfach aus den Schlafsälen zu holen waren. Notfalls konnte man aber auch einfach hinabspringen und sich unten auf dem weichen Rasen abrollen. Unten angekommen, stünde man dann wieder vor dem hohen Maschendrahtzaun, wo dieselbe Nummer mit der Kneifzange und dem Auto herhalten musste, wie bei dem Fluchtplan über die Hofmauer… Eines Tages, ich traute meinen Augen kaum, lief eine junge Frau durch den Aufenthaltsraum. Es war Wladislowskys neue Assistenzärztin. Diese Assistenzärztin war es schließlich, die während meiner Gerichtsverhandlung das Gutachten verlas, das über mich erstellt worden war. Als sie vorlas, mein IQ betrage 156, senkten alle Anwesende betreten ihre Blicke. Sie fanden es vermutlich beschämend, aus berufenem Munde hören zu müssen, dass sie trotz ihrer protzigen Stellungen offenbar dümmer waren als ich. Am Ende kamen sie zu dem Urteil, ich hatte mich während der vielen Einbrüche unter „Drogeneinfluss“ befunden und habe folglich für die Tatzeit als unzurechnungsfähig zu gelten. Ich wurde freigesprochen und konnte auf der Stelle nachhause… Drei Wochen später, ich lag gerade bequem zuhause auf dem Sofa und hörte Radio, wurde in den Nachrichten berichtet, drei Leute seien aus Haus 42 geflohen. Sie seien durch ein Fenster, dessen Gitter sie durchgesägt hatten, ins Freie gelangt. Es war nicht auszuschließen, dass sie die Gitterstäbe entdeckt hatten, die ich vorsorglich für den Fall eines ungünstigen Verlaufs meiner Gerichtsverhandlung mit präparierten Speisenmessern teils durchgesägt, teils angesägt hatte. Damit man die Gitterstäbe nicht entdeckte, hatte ich die Schnitte mit einem gut
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durchgekneteten Gemisch aus feuchtem Toilettenpapier und Zigarettenasche zugekleistert. Hatten die Flüchtigen die bereits bearbeiteten Gitterstäbe dennoch entdeckt? Die Ausreißer waren schon nach wenigen Tagen wieder eingefangen, aber sie hatten unterdessen zwei Familien ermordet. Es ist die reine Wahrheit! Sie hatten in irgendeinem Wahn zwei komplette Familien, mit je drei Generationen, von den Großeltern bis hin zu den Enkeln ausgelöscht! Musste ich mir Vorwürfe machen? Was konnte ich dafür? War ich der Hüter aller Verrückten, aller Hasserfüllten, aller fragmentierten Geister, solitär gequält in eisigkalter Einsamkeit? Schloss man Menschen ein, musste man damit rechnen, dass welche flohen. Gelang ihnen die Flucht, war Freiheit ihr gutes Recht. So man Vorwürfe anzumelden hat, oder Beschwerden, wende man sich bitte vertrauensvoll an Doktor Wladislowsky. Immerhin lebte der davon, wurde dafür bezahlt, den Wahnsinn zu verwalten!
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Dorothea Wie bitte, hätte ich jemals wissen können, dass Dorotheas Vater ein Polizeikommissar bei der Abteilung zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität war? Sie jedenfalls, hatte es nie erwähnt. Wohl ließ sie einige Male durchschimmern, ihr Papa sei Beamter. Deshalb war ich stets der Einfachheit halber davon ausgegangen, er sei vielleicht ein hohes Tier bei der Stadtverwaltung, Oberhäuptling bei der Müllabfuhr oder so ähnlich. Hätte ich gewusst, dass er ein Polizeikommissar war und noch dazu bei der Abteilung zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität, ich hätte mich nie mit Dorothea eingelassen. Doch unwissend wie ich war, hatte ich ihr von meinem Material gegeben und das nicht zu knapp… Ich verfügte damals über eine Menge sonderbarer Heroinbase aus den Stammesgebieten der Pakistanisch-Afghanischen Grenze. Es war Heroinbase, der man offenbar nach der Fertigung getrocknetes und gepulvertes Rohopium beigemengt hatte. Dieses Rohopium ging beim Aufkochen zum Teil in Lösung über und zum Teil in seine ursprüngliche knetbare Form. Man sog die Flüssigkeit in die Pumpe, nahm sie intravenös, kratzte hinterher den klebrigen, knetbaren Opiumrückstand vom Grund des Löffels und bewahrte ihn für schlechte Zeiten. Ein zweites Mal aufgekocht, gab er noch beträchtlich her. Davon nun, hatte Dorothea in den vierzehn Tagen die ich sie kannte, gut und gerne vierzig Gramm verbraucht… Dorothea gelang es, lange Zeit immer in dieselbe Stelle ihrer Armbeuge zu injizieren. Dadurch entwickelte sie nie die für intravenöse Konsumenten so typischen Narben. Diese Narben, im Jargon „Straßen“ genannt, entstanden, sobald man Venen streckenweise verwendete, also der ganzen Länge nach und nicht punktweise, wie Dorothea es tat, möglichst immer an derselben Stelle. Ist das aufgrund individueller Venenbeschaffenheit nicht möglich, rotiert man eben zwischen zwei oder drei unterschiedlichen Einstichstellen
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hin und her. Es darf getrost gesagt werden, Dorothea war ein Flittchen. Um an Geld für ihre Medizin zu kommen, lief sie, gerade erst siebzehn geworden, den Straßenstrich an der Dachauerstraße. Morgens rannte sie in irgendeine Schule, nachmittags stand sie in der Dachauerstraße und prügelte sich dort mit den alteingesessenen Huren um die besten Standplätze. Ich gab ihr kostenlos und so ging sie fortan, anstatt zur Dachauerstraße, mit mir Tanzen. Ließen wir den Freunden des Opiats nur grundsätzlich ihre Medizin und ihre Ruhe dazu, das „Drogenproblem“ verwandelte sich vor unseren Augen in Wohlgefallen... Als ich eines Abends mit Dorothea die Leopoldstrasse entlang lief, kam plötzlich, dieser merkwürdige Mann auf uns zugerannt. Schon von weitem wild gestikulierend, riss er Dorothea von meinem Arm und brüllte, „Ich bin ihr Vater!“. Danach schlug er beide Arme um Dorothea und wollte sie, wie eine Schaufensterpuppe, zu seinem Wagen tragen. Doch diesen Plan hatte er schlecht mit seiner Tochter koordiniert. „Ich bin ihr Vater!“, rief er immer wieder erstaunten Passanten entgegen. Dorothea, das liebe Mädchen, fauchte wie eine zornige Raubkatze. Sie spukte und schlug nach Papa, kämpfte sich schließlich frei und trat ihm mit der Geschmeidigkeit eines Panthers und einer Wucht, die man dem zierlichen Geschöpf nie zugetraut hätte, punktgenau zwischen die Beine. Pfeifend, entwich Papa der Atem. Er verdrehte die Augen, krallte mit verzerrten Zügen die Hände um sein schmerzendes Gehänge, er sank durch die Knie und ging in einer halben Pirouette zu Boden. Dorothea war sofort über ihm. Sie krallte ihre Finger in seine Haare, beugte sich zu ihm hinab und biss ihn fest und ausdauernd ins Ohr. Heiß, troff der rote Saft von Papas Wange. Aber er gab nicht nach. Auf bebenden Beinen, mit zerzausten Haaren und beblutetem Gesicht, kam er wieder in die Höhe. Schließlich gelang es ihm doch, Dorothea wie ein widerborstiges Bündel, unter Stößen und Püffen, auf den Rücksitz seines Wagens zu befördern. Mit durchdrehenden Reifen und dem entnervenden
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Kreischen eines schleifenden Keilriemens, schlingerte er mit ihr davon. Ich sah dem Wagen noch hinterher, bis er in die Giselastrasse einbog, wo Dorothea mit ihren knallroten Plateauschuhen durch die Rückscheibe trat. Danach entschwand der Wagen meinen Blicken… Es fing leise an zu regnen. Die bunten Leuchtreklamen entlang den Straßen gewannen an Farbe. Ich stellte mich in einen Hauseingang und drehte eine Zigarette. Als der Regen nachließ, lief ich rüber zur Giselastrasse und trat dort die Splitter von Papas geborstener Rückscheibe von der Fahrbahn. Danach schlenderte ich zu meinem Hotel, nachdenklich und einsam wie ein Stein...
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Sylvia Sylvia war eine bezaubernd aussehende junge Frau. Als ich sie zum ersten Mal traf, wollte sie wissen, was ich „so mache“. In Deutschland bedeutete diese Frage in aller Regel, „Wie kommst du an Geld“? Ich unterhielte einen Handel mit begehrten doch seltenen pharmazeutischen Produkten, erzählte ich ihr und gab die Frage an sie zurück, „Und was machst du so“? Sie sei Fotomodell, erzählte Sylvia und lächelte. Ich war schon zu lange auf der Welt um nicht zu begreifen, „Fotomodell“ bedeutete in ihrem Fall, sie arbeitete als Nutte. Ich hatte schon ausreichend mit Prostituierten zusammengelebt und fragten sie mich, „Was soll ich nur als Beruf angeben?“, so hatte ich noch stets geraten, „Sag einfach, du arbeitest als Fotomodell“… Nach einigen Tagen der Bekanntschaft lernte ich auch Sylvias „Fotostudio“ kennen. Es war ein dicht mit Bepflanzung umstandener und nachts im Schein der Straßenbeleuchtung reizend aussehender kleiner Kreisverkehr, unweit der Dachauerstraße. Dort tippelte Sylvia so gut wie jeden Abend. Mädchen wie Sylvia verdienten nicht schlecht, bräuchten sie nicht all ihr Geld zum Erwerb ihrer Medizin. Dadurch behielten sie selten genug übrig, um beispielsweise neue Schuhe zu kaufen. Sylvia und ich lebten schließlich einige Zeit zusammen… Es war die Zeit, da prominente, einflussreiche Mediziner, angeführt von einem ehemaligen SS Mann & Arzt und damaligem Deutschen Ärztepräsidenten, die Betäubungsmittelrechtssprechung im Lande so beeinflusst hatten, dass für Morphinbedürftige ein mörderisches Klima entstanden war. War man hinsichtlich seines Medikamentes in Not oder wollte man, aus welchen Gründen auch immer, davon entwöhnen, konnte man sich an keinen Arzt und keine Institution mehr wenden. Zum Entwöhnen gab es allenfalls die Klapsmühlen der Landeskrankenhäuser oder die Suchtstationen der Gefängnisse, wo man grundsätzlich nur, ohne
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jede medikamentöse Unterstützung, mit der unnötigen Qual abrupter Morphinunterbrechung von der Gewöhnung herab gefoltert wurde. Ärzte die helfen wollten, bekamen es nicht selten selbst mit der Staatsanwaltschaft zu tun und endeten im Gefängnis, oder mit Schulden und ohne Approbation in solch aussichtsloser Situation, dass sie sich das Leben nahmen. Es war eine Hölle geschaffen worden, für pflichtbewusste Ärzte wie auch für morphinbedürftige Menschen. Eine Hölle allerdings, ganz im Sinne und Geiste eines alternden SS Mannes & Arztes und seiner Gilde von prominenten, aber entgegen der Verfassung heimlich ideologiegetreu eugenisch tätigen Ärzten. Mediziner, die nicht davor zurückschreckten, für Geheimdienste als Sachverständige vor Gerichten oder internationalen Gremien aufzutreten, um Morde des Staates fachkundig in „Selbstmorde“ oder „Drogentote“ umzulügen... Unter diesen Umständen versuchte man so gut es ging zu überleben. Bald stand nur noch streng verbotenes Schwarzmarktopiat, nur noch Heroin, zur Verfügung. Die Polizei war angewiesen worden, ihre Tätigkeit überwiegend auf kleine Handelstreibende und Konsumenten zu richten. Größere Händler, die nicht selten im Dienste geheimer staatlicher Organisationen arbeiteten, blieben davon verschont. Schließlich gab es so viele „Betäubungsmitteltäter“, das neue Gefängnisse errichtet und alte erweitert werden mussten. Die Bevölkerung begriff unterdessen wenig von der brutalen Menschenhatz in ihrer Mitte. Ist es nicht wunderlich, wie Bürger mit einigem bunten Konsumflitter über die Schrecken und Grauen ihrer Zeit hinweggetäuscht, hinweg hypnotisiert werden können? Gut aussehende junge Frauen, wie beispielsweise Sylvia, blieben vorerst noch vom Terror verschont. Sie verkauften sich selbst und kamen damit eher an das nötige Geld, um Schwarzmarktmorphin zu bezahlen. Dabei verkauften sie sich aber auch notgedrungen an jene, die den Terror betrieben. Ich erinnere mich noch gut an die Wochen, die ich zusammen mit Schwabinger Dieter in einer Gefängniszelle verbracht hatte. Eines
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Tages war Dieter verstört von einem Besuch in die Zelle zurück gekehrt. Seine Freundin, mit der er vor seiner Festnahme jahrelang zusammengelebt hatte, war zu Besuch gewesen. Sie hatte berichtet, Richter Strotsky, von der Großen Strafkammer, käme neuerdings regelmäßig in ihre (und Dieters) Wohnung. Richter Strotsky war Dieters Vorsitzender Richter, der Dieter wenige Wochen später per Amtshandlung für acht Jahre aus dem Verkehr ziehen sollte. Während Dieter in seiner Zelle vor sich hin brütete, vögelte Richter Strotsky in seinem Zuhause fröhlich seine Freundin. Dieters Freundin war freilich ebenfalls heroinbedürftig. Doch das focht Leute wie Strotsky nicht an. Im Gegenteil. Als Feinschmecker wussten sie, erst handfeste Heroingewöhnung, im Hintergrunde gut unterlegt mit ständig drohenden Schmerzen, macht junge Ärsche nicht nur gefügig, sondern auch spottbillig… Sylvia und ich gehörten zu den wenigen, die schon damals den Braten rochen. Wir wussten, flohen wir nicht bald aus diesem zynisch tödlichen Spiel, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis auch wir, hilflos und entrechtet, in einem Schreckenshause dahin faulten. Wir beschlossen deshalb, das Land zu verlassen. Inzwischen ließ man überall die Läden herab und legte noch die erbärmlichsten Morphinquellen trocken. Der Feind schoss aus allen Rohren und erklärte am Ende sogar windiges Mohnstroh zu „Rauschgift“. Ärzte winkten resigniert ab, sahen sie morphinbedürftiges Volk auch nur von weitem. Sogar Frau Doktor Klasen, eine liebenswerte, schwerhörige Ärztin, die so alt war dass man meinte, sie sei aus längst vergangenen Jahrhunderten in unsere Zeit und in ihre Praxis in München Schwabing gebeamt worden, wurde vom Gesundheitsamt bedrängt, Valoronverordnungen einzustellen. Klingelte man an Frau Doktor Klasens Türe, rief sie aus der Ferne ihres Praxiszimmers, „Wir verschreiben kein Valoron mehr“! Daraufhin rief man, laut genug damit sie einen auch hörte, „Aber nein, Frau Doktor. Wo denken sie nur hin? Wir wollen doch kein Valoron“! Hatte man Glück, öffnete sie die Tür und ließ einen ein. Auf einer Kommode im Korridor ihrer Wohnung, saß eine Siamkatze,
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majestätisch schön, wie aus Porzellan gegossen. Sie wandte den Kopf und sah einem hochmütig hinterher, während man mit der kleinen alten Ärztin und ihrer nicht weniger alten Haushälterin an ihr vorüber zum Praxiszimmer lief. War man erst dort, hatte man schon halb gewonnen. „Eine Rollkur bitte, Frau Doktor, gegen diese furchtbaren Leibschmerzen“. Sah Frau Doktor kurz zur Seite, griff man rasch ihren Rezeptblock und, RATSCH, riss ein Bündel unbeschriebener Privatrezepte ab. Doch auch die Verschreibung einer Rollkur auf Privatrezept, stellte einen Gewinn dar. Frau Doktor beschrieb das Rezept nämlich immer nur auf der oberen Hälfte, wodurch auf der unteren Hälfte noch Platz blieb um mit eigener Hand dazu zu schreiben, „20ml Valoron Tropfen 3x rep.“. Schrift und Unterschrift der alten Klasen konnte ich schon im Schlaf. Ich kann sie noch heute, rund vierzig Jahre später. Eines Tages verstarb die gute alte Frau Doktor Klasen und wenige trauerten ihr so aufrecht nach wie die Morphinbedürftigen Münchens. Mit ihr war eine Ära zu Ende gegangen und eine der letzten Möglichkeiten geschwunden, doch noch auf legale Weise an redliches Morphin zu kommen… Alle Quellen wurden trockengelegt. Die letzten Oasen versiegten. Am Ende blieb nur noch Heroin vom Schwarzmarkt. So war es vermutlich auch von mächtigen eugenisch orientierten Obermedizinern beabsichtigt. Dadurch verstieß man notgedrungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und wurde straffällig. Damit verloren Menschen, die niemandem etwas angetan hatten, ihre grundsätzlichen Bürgerrechte. War man erst straffällig geworden, verurteilt, vorbestraft und entrechtet, konnte man ohne weiteres aus der Gesellschaft ausgeschlossen und den bereitstehenden Mühlen der Eugeniker entgegen getrieben werden… Man hatte es mit klugen und eiskalten Leuten zu tun. Leute, die kluge und tödliche Mechanismen erfanden. Es war derselbe Menschenschlag, der einst klug, eiskalt und in der wohligen Gewissheit etwas „Gutes“ zu tun, Kinder geschickt verdeckt mit Luminal ermordet hatte. Luminal, ein
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Schlafmittel der Barbitursäure, hat die Eigenschaft, die Atmung zu verflachen, wodurch die Lungenspitzen nicht mehr ausreichend ventiliert werden und sich entzünden. War die Entzündung schließlich auf die gesamte Lunge übergegangen, setzten diese klugen Mörder das Luminal wieder ab, damit es aus dem System verschwand und Pathologen als Todesursache nur Lungenentzündung feststellen konnten. Während also Mama am Bette ihrer Tochter stand und dankbar dachte, Onkel Doktor gibt der kleinen Babette nur ein Schlafmittel, damit das schwache Kind sich von den Strapazen überstandener epileptischer Anfälle erholt, war Onkel Doktor mit mildem Lächeln dabei, die kleine Babette in der Anwesenheit ihrer besorgten Mutter langsam und unauffällig mit Luminal zu ermorden. Das war der Menschenschlag, mit dem morphinbedürftige Menschen Anfang der 70er Jahre konfrontiert wurden. Dies war die Beschaffenheit der Obermedizinmänner, die damals aus dem Hinterhalt die Fäden zogen und man gebe Acht, sie ziehen sie noch heute! Aber sie haben dazu gelernt. Sie haben ihre Methoden noch verfeinert und den modernen Zeiten angepasst. Sie morden nicht mehr eigenhändig. Sie manipulierten von ihren einflussreichen Stellungen aus Betäubungsmittelgesetze und Betäubungsmittelrechtssprechung in einer Weise, dass Betroffene unter den mörderischen Bedingungen der Betäubungsmittelschwarzmärkte, an verschmutzten oder vergifteten Stoffen oder verheerenden Infektionskrankheiten oder am Kreislauf aus Gefängnisaufenthalten und Führungsaufsichten mit unerfüllbaren Auflagen zugrunde gehen oder sich dem Elend durch Selbstmord entziehen. Eine höllische Maschine hatten sie wieder geschaffen, die heimlichen Oberdrahtzieher, die mächtigen und einflussreichen Herren der Medizin… Während Sylvia ihre abendlichen Runden um den reizend mit Pflanzenwuchs umstandenen Kreisverkehr drehte, war ich nicht untätig. Ich hatte unterdessen die Kenntnis der Methadonsynthese erworben und versorgte bald halb Oberbayern mit Opiat. Als der Laden so richtig zu laufen begann, stellte Sylvia ihre abendlichen Runden ein. Dreißigtausend
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Mark, hatten wir uns zum Ziel gesetzt. Wäre der Stapel Banknoten in unserem Küchenkasten auf diese Summe angestiegen, wollten wir zusammen die Beine nehmen und in die weite Welt entfliehen, einem frischen, gesünderen Leben entgegen und fort, von den tödlichen, menschenverachtenden faschistoiden Spielen der Heimat. Vieles, sollte nie geschehen und geschieht vor unseren entsetzten Augen doch. Ist es nicht oft das Leben selbst, das unsere Lebenspläne über den Haufen wirft? Es sollte eine groß angelegte Aktion werden, bei der ein ganzer „Rauschgiftring“ in die Falle gehen sollte, auch bestand dieser Rauschgiftring, wie so oft, nur aus einigen, vor Entwöhnungsschmerz sich krümmenden Morphinbedürftigen. Sie warteten in einer Erdgeschosswohnung auf jemand, der sich im Anflug aus Amsterdam, Berlin oder sonst woher befand und die erlösende Medizin bringen sollte. Kommissar Majneks Leute hatten das Haus an der Giselastraße, in der sich diese Wohnung befand, bereits umstellt. Als Normalbürger vermummt, infiltrierten sie das alltägliche Straßenbild und verharrten in Hibernation, um zum rechten Zeitpunkt vom nötigen Signal geweckt zu werden… In der Erdgeschosswohnung des Hauses klingelte das Telefon. Einer der Wartenden riss den Hörer vom Apparat, lauschte und erfuhr, der Erwartete befand sich bereits am Münchner Fughafen und träfe in wenigen Minuten mit der erlösenden Medizin ein. Erregt, lauschten Kommissar Majneks Leute über eine Abhörschaltung dem Gespräch. Minuten später hielt ein Taxi vor dem Haus. Ein junger Mann sprang aus dem Wagen und betrat das Haus. Dies war das Signal für Kommissar Majneks Leute. Sie schälten sich aus ihren unscheinbaren Positionen und rannten, Pistolen in Händen, hinter dem jungen Mann her. Als sie ihn im Treppenhaus stellten, war er nur der Bruder einer jungen Frau, die im Dachgeschoss wohnte. Er wollte seine Schwester besuchen und war dabei ahnungslos in das Geschehen geraten. Vom Lärm im Treppenhaus alarmiert, rissen die Jungs in der Erdgeschosswohnung die Fenster auf, sprangen ins Freie und rannten wie
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der Wind in alle Richtungen davon. Rufe ertönten, „Stehen bleiben! Polizei“! Doch keiner dachte daran, stehen zu bleiben. Alle rannten wie Hasen, nur umso schneller weg und rein ins erstbeste schützende Loch. Erste Schüsse krachten, an diesem Septembernachmittag, in der Giselastraße, als Sylvia, zufällig und völlig unbeteiligt, mit einer großen Tüte reifer Orangen im Arm, um die Ecke kam. Wie später rekonstruiert wurde, war es ein Geschoss der Polizei, das, von einem Bordstein abgeprallt, seine Flugbahn änderte und mitten in Sylvias Stirn gedrungen war... Wie ein Pathologe des Gerichtsmedizinischen Institutes versicherte, war Sylvia tot, noch bevor sie den Boden erreichte. In der Presseerklärung des LS (Landessicherheitsdienst) wurde Sylvia zu einer der Personen gedreht, die sich an diesem Tage in der Erdgeschosswohnung des umstellten Hauses aufgehalten und auf den „Drogenlieferanten“ gewartet hatten. Es war ein Kleines, sie zu einem „Mitglied eines Rauschgiftrings“ zu machen, war sie doch aus den Polizeiakten des LS schon als „Drogensüchtige“ einschlägig bekannt… Im Zusammenhang mit Sylvias Tod hörte ich zum ersten Mal den Namen von Dorotheas Vater, Kommissar Alfred Majnek. Der Name brannte sich in mein Gedächtnis ein und ich wusste, eines Tages würden wir uns wieder begegnen… Es war gegen Mitternacht, eine sternenklare Septembernacht, als ich am kleinen, reizend mit Bepflanzung umstandenen Kreisverkehr unweit der Dachauerstraße die Hälfte unseres Geldes, rund vierzehntausend Mark, verbrannte. Tage später ließ ich die Asche in das offene Grab auf Sylvias Sarg regnen. Ich war der letzte Trauergast, der zu Sylvias Begräbnis gekommen war und ich war der erste, der stillschweigend wieder ging… *
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DEA Methadonhydrochlorid, ursprünglich eine farblose kristalline Substanz, konnte gut als Heroinhydrochlorid vermarktet werden. Man konnte ihm aber auch mit etwas braunem Lebensmittelfarbstoff das Aussehen brauner Heroinbase geben. Es dauerte nicht lange und der überwiegende Teil von Münchens Morphinbedürftigen konsumierte Methadon in der Annahme, es handele sich um Heroin. Es war freilich besonderes Heroin, zwar oftmals braun, aber dennoch nie Base, es löste sich ganz einfach ohne Zugabe von Säuren in kaltem Wasser und es wirkte ungewöhnlich lange. Es sei eben, so erklärten wir den Leuten, „reines Heroin“. Das bekäme man nur selten, weshalb die Wirkung so ungewohnt erschiene. Diesen kleinen Schwindel betrieben wir nicht etwa aus Profitgründen, sondern um zu verhindern dass zu rasch bekannt wurde, es gab plötzlich Unmengen kristallines Methadon auf den Straßen. Wir sahen uns als eine Art pharmakologischer Rebellen, die ihr Geschäft nicht primär des Geldes wegen betrieben, sondern um morphinbedürftigen Menschen an Morphin zu helfen. In dieser Branche sollte man seine Anwesenheit nicht unbedingt durch ungewöhnlichen Stoff auf den Straßen, in die Welt hinaus posaunen… Die Herstellung des Methadons dauerte in aller Regel drei Tage und weitere sechs bis vierzehn Tage, je nach Laune der Substanz, um auszukristallisieren. Ich war es, der das Produkt des ersten Ansatzes auf die Probe stellte. Ich gab etwas von der noch nicht kristallisierten, honiggelben, leicht öligen und etwas nach Walnüssen riechenden Substanz auf einen Teelöffel und brachte sie mit Wasser und etwas Ascorbinsäure in Lösung. Ich knallte das Zeug intravenös. Da ich nicht wusste was mich erwartete, drückte ich den Kolben der Spritze nur langsam nieder. Trotzdem hatte ich gerade noch Zeit um zu stöhnen, „Oh Gott, ist das gut…“. Dann knallte ich, die Nadel noch im Arm, mit der Stirn auf die Tischplatte und blieb eine halbe Stunde lang bewusstlos liegen. Und ja, das Zeug war gut. So gut sogar, dass wir es unmöglich in Reinform auf den Markt bringen konnten.
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Wir mischten es deshalb mit Traubenzucker, Medizinaldextrose aus der Apotheke, auf einen Reinheitsgehalt herab, den man durchschnittlichen Morphinbedürftigen von der Straße zumuten konnte... Es dauerte etwa ein Jahr bis im Gerichtsmedizinischen Institut aufgefallen war, die meisten festgenommenen Morphinbedürftigen hatten, anstatt wie erwartet Heroin, pulverisiertes und teils mit Lebensmittelfarbstoff gebräuntes Methadon in den Taschen. Und das brachte schließlich die Leute vom Landessicherheitsdienst, Abteilung zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität, auf den Plan... Kriminalhauptkommissar Majnek war wie geschaffen für seinen Job. Sah man ihm bei der Arbeit zu, bekam man den Eindruck, seine Sorte würde in Laboratorien, tief in den Kellern des Bundessicherheitsdienstes synthetisch hergestellt. Majneks Aussehen wirkte so durchschnittlich, man wurde nicht auf ihn aufmerksam. Stand er alleine an einer Straßenecke, glitt der Blick über ihn hinweg ohne ihn wirklich wahr zu nehmen. Stand er zusammen mit anderen Leuten, löste er sich auf, verschmolz mit seiner Umgebung und entzog sich völlig dem forschenden Blick. Man bemerkte ihn erst wieder, wenn er einem den Lauf seiner Walther PPK gegen die Schläfe drückte und sagte, „Du bist vorläufig festgenommen. Lege deine Hände mit den Handflächen nach außen auf den Rücken und mache keine Dummheiten, sonst…“. Majnek, gerade erst zweiunddreißig, war trotz seiner relativ jungen Jahre schon Kriminalhauptkommissar. Sein Kollege Kriminaloberkommissar Hans Haumann, war erst sechsundzwanzig. Kriminalkommissar Karneval sogar erst vierundzwanzig, und die allseits gern gesehene Kollegin, Kriminalkommissarin Else Kellner, von Kollegen und Kolleginnen auch „Donnerelse“ genannt, weil sie einem Verdächtigen einst während der Festnahme aus unmittelbarer Nähe durch den Kopf geschossen hatte, war ebenfalls erst sechsundzwanzig. Die „Abteilung zur Bekämpfung der
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Rauschmittelkriminalität“ bot eben ausgezeichnete Karrieremöglichkeiten. Keine andere Abteilung des LS ermöglichte es, Verdächtige täglich und in beliebiger Zahl festzunehmen und den Haftrichtern vorzuführen. Dazu brauchte man nur zur U-Bahnhaltestelle „Die Freiheit“ fahren, wo sich zu jeder Stunde des Tages Morphinbedürftige in großer Zahl aufhielten, von denen fast jeder etwas in der Tasche hatte, was eine Festnahme rechtfertigte. Abends, gegen zweiundzwanzig Uhr, verschob die Szene sich von „Der Freiheit“ hin zum Wienerwald Restaurant in der Dachauerstraße, gleich neben der Disco „Downtown“. Waren Majnek und seine Kollegen hinter jemanden her, mussten sie nur diese beiden Örtlichkeiten frequentieren. Von da an war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Gesuchter sich einfand. Schmerzhafte Entwöhnungssymptome oder ein dringendes Bedürfnis nach Gesundheit, trieben ihn notwendigerweise dorthin. Es war wie ein Leitstrahl, auf dem der Gesuchter reiste, ein Leitstrahl, gewunden aus warmem Wohlbefinden und extrem kleinen Pupillen, beständig drängend, mit zarter doch zwingender Schwingung, durchdringend unaufhörlich singend, der Leitstrahl des Opiats… Allerdings erzeugte die Zellenknappheit der Gefängnisse einen vorübergehenden Engpass. Am Ende reichte selbst das Bestücken von Einzelzellen mit Stockbetten nicht mehr und Neubauten mussten errichtet werden, um all die vielen Unschuldigen und Gequälten, all die „Rauschgifttäter“, aufzunehmen. Von nun an hielten Majnek und seine Kollegen, auf der Suche nach Informationen die zum Methadonlabor führten und zu den Leuten die es betrieben, verschärft „Die Freiheit“ und die Dachauerstraße im Auge… Ich arbeitete, wie ich meinte, sehr vorsichtig. Nie, hatte ich Ware bei mir, nie überreichte ich welche. Nie, hielt ich mich auch nur in der Nähe der beiden genannten Orte auf. Ich hatte drei zuverlässige Soldaten, die sich mit dem Vertrieb befassten und die Einnahmen kassierten…
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„Zuverlässig“ war freilich relativ in dieser Branche. Sie schienen jedenfalls zuverlässig genug, um nicht gleich los zu plaudern, nähme man sie fest. Ich hatte ihnen eingeschärft, das Material in leere Zigarettenschachteln zu stecken oder in leere, verbeulte Coladosen und unauffällig hunderte Meter von sich und dem Kunden entfernt in Papierkörbe zu stecken oder achtlos an den Straßenrand zu werfen. Der Kunde bezahlte und bekam die Instruktion, wo er seine Ware einsammeln konnte. Das Labor, inzwischen zu mehreren fünf Liter Anlagen ausgebaut, befand sich längst nicht mehr in meiner Küche. Wir hatten es, als alles zu laufen begann, in einer Garage auf dem Hinterhof eines verlassenen Anwesens im Münchener Osten verborgen. Dort blubberten die Anlagen vor sich hin und lieferten in aller Gelassenheit täglich feste Mengen… Inzwischen zog ein Heer mit Heroin bezahlter Informanten des Landessicherheitsdienstes (LS) durch die Stadt, heruntergekommene Leute meist, ständig mit dem Schmerz der Entwöhnung im Nacken. Leute wie Filter Peter, den man schließlich fand, mit einem rostigen Draht um den Hals, hängend vom Dachgebälk eines leer stehenden Hauses am Hasenberg. Oder Tinken-Inge, die irgendwann im Keller eines Abbruchhauses mit Prügeln erschlagen worden war. Um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken, beschloss man den Eindruck zu erwecken, der Mord sei aus obskuren Gründen von Angehörigen fremder ethnischer Gruppen begangen worden. Dazu wollte man die Leiche mit einer Salatgurke und einem stinkenden Fisch dekorieren. Sie schickten Frankie los, „Frankie der Philosoph“. Frankie beugte sich über die Tote und befühlte sie, um festzustellen, ob sie auch tatsächlich tot sei. Danach kratzte er sich am Ohr und rätselte, „Wie, zum Teufel, war das noch mal mit all dem Zeug hier? Sollte die Gurke nun in die Pflaume und der Fisch in den Hals, oder sollte das gerade umgekehrt…“? Trotz aller Vorsicht war ich am Ende doch in die Falle gelaufen und zwar so, wie nur die dümmsten Gimpel in Fallen liefen. Danach erinnerte ich
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mich zwar wieder, wie Australier John vor Elvira gewarnt hatte. „Sie arbeitet für den LS“, hatte er gesagt und dazu auch noch eine Geschichte erzählt, aus der dies eindeutig hervor gegangen war. Doch es war mir entfallen, einfach entfallen, als Elvira eines Abends meinen Weg kreuzte… Ich ging mit zu ihr, was sonst, ich Esel, und verbrachte die Nacht mit ihr. Wie sich hinterher ergab, wusste Kommissar Majnek zu diesem Zeitpunkt bereits, dass ich an dem gesuchten Methadonlabor beteiligt war, doch er hatte trotz seiner Schnüffler, seiner Abhörapparate und anderer Schweinereien nichts erreicht, womit er mich belangen konnte. Deshalb hatte er Elvira eingesetzt und Elvira war gut, verdammt gut sogar. So konnte sie beispielsweise, während sie einem kunstvoll an der Eichel knabberte, Fragen so geschickt platzieren, so subtil dazwischen schieben, dass man wie im Traum darauf antwortete. Sie telefonierte noch rasch, bevor wir zu Bett gingen und schleppte dazu den Telefonapparat am langen Kabel bis ins Badezimmer… Am folgenden Morgen saß ich mit Elvira am Frühstückstisch, als es an der Tür klingelte. Elvira öffnete und ließ einen kleinen, dicklichen Mann herein. Sie warf sich ihm an den Hals und stellte ihn als „Lee“, vor, „ein guter alter Freund von früher…“. Während Elvira leichtfüßig in der Küche verschwand um die Kaffeekanne zu holen, setzte Lee, Elviras guter Freund von früher, sich schwer atmend an den Tisch. Amerikanischer Soldat sei er, so erzählte Lee, und stationiert sei er in einer US Kaserne in Augsburg. Wie jeden Monat, hätten er und seine Kollegen aus der Kaserne auch diesen Monat wieder Geld zusammengelegt, um für den eigenen Bedarf Heroin zu beschaffen. Eigentlich wollte ich diesem „alten Freund“ Elviras gar keinen Gefallen tun und ich weiß bis heute noch nicht, welcher Teufel mich damals geritten hatte, als ich beschloss, Lee nicht nur den Gefallen zu erweisen, sondern ihm auch noch, anstatt hundertfünfzig Gramm meines Methadons, hundertfünfzig Gramm echtes Heroin zu beschaffen. Ich rief Achmet und seinen Bruder Mehmet an und erzählte den beiden, wie ich
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Lee kennen gelernt hatte. Am Ende fragte ich, ob sie den Handel eingehen wollten und jawohl, sie wollten es… Es war ein Freitag, als ich Elvira anrief und ihr mitteilte, Lees hundertfünfzig Gramm lägen bereit und könnten schon morgen, Samstag, erworben werden. Doch Lee hatte am Wochenende keine Zeit. Erst am Montag wieder, ließ er mich wissen. Hier hätte ich bereits alarmiert sein müssen. Polizisten arbeiten nicht gerne an Wochenenden. Doch ich nahm die Gefahr nicht wahr, war ihr gegenüber wie betäubt. Ich willigte also ein, den Handel erst am Montag durchzuführen… Montagnachmittag wies ich den Taxifahrer an, am Hause Elviras vorbei zu fahren und erst zwei Straßen dahinter zu halten. War das nicht soeben Kommissar Haumann, den ich vor Elviras Haus gesehen hatte, in spitzen braunen Discostiefelchen und rotem Lederjäckchen, oder hatte ich michgetäuscht? Auf Umwegen, schlich ich die zwei Straßen zu Elviras Haus zurück. Ich schlüpfte auf der gegenüber liegenden Straßenseite durch den Hintereingang einer Billarthalle und spähte misstrauisch durch das große Vorderfenster auf Elviras Haus. Nein, dort stand niemand… Während Mehmet in seinem Hotel blieb, sollten Lee und ich seinen Bruder in einem kleinen Park in der Innenstadt treffen. Als ich mit Lee zur Innenstadt fuhr, haftete sein Blick so beständig am Rückspiegel dass man den Eindruck gewann, der relevante Teil des Verkehrs spiele sich hinter uns ab. Als er, andauernd in seinen Rückspiegel blickend, eine rote Ampel übersah und weiter fuhr, latschte er sofort auf die Bremse als ich ihn darauf aufmerksam machte und sah wieder, und diesmal erschrocken, in den Rückspiegel. Und ich Dummkopf registrierte noch stets keine Gefahr. Lee trug sein Hemd offen, man sah bei nicht ungewöhnlich warmem Wetter seine schweißnasse Brust. Drei Mal fragte er während der Fahrt, ob ich auch ganz gewiss nicht bewaffnet sei. Dieser Mann hatte eindeutig Angst. Er befürchtete, wir könnten seine Kollegen vom LS verlieren, die in sechs
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Fahrzeugen hinter uns her fuhren und, damit es nicht auffiel, immer wieder den vordersten Wagen wechselten. Lee befürchtete, ich könnte bewaffnet sein und sein kleines Leben beenden, sobald ich dahinter kam, dass er mich in eine Falle führte… In der Innenstadt stieg Achmet zu uns. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und ich nahm den Rücksitz ein. Ich wies Lee an, aus der Innenstadt in die Außenbezirke zu fahren. Unterwegs wog ich auf einer nagelneuen batteriebetriebenen Digitalwaage, die ich extra für diese Gelegenheit gekauft hatte, Achmets Heroin. Es waren fünf Gramm mehr als gefordert worden waren. Ich hatte Lee gebeten, den Kaufbetrag von vierundzwanzigtausend Mark in großen Scheinen zu bringen. Was er mir aber reichte, war ein dickes, mit Angstschweiß durchtränktes Bündel vieler kleiner Scheine. Ich zählte das Geld gewissenhaft nach und fand den Betrag korrekt. Inzwischen befanden wir uns außerhalb der Stadt, etwas unterhalb Schwabings. Lee steuerte auf eine Tankstelle zu und hielt an einer Zapfsäule. Achmet stieg aus, er wollte mit einem Taxi zu seinem Hotel zurück fahren, und ich setzte mich wieder auf den Beifahrersitz. Plötzlich stieg auch Lee aus, den Beutel mit dem Heroin in der Hand. Ich hörte ihn noch murmeln, er wolle den Beutel in den Kofferraum legen, da warf er auch schon die Autotür ins Schloss und ich saß alleine im Wagen. Langsam wie eine jagende Viper, schlich eine dunkelblaue BMW Limousine heran und hielt an der Zapfsäule neben uns. Im nächsten Moment kamen mit kreischenden Reifen rings umher mehrere Fahrzeuge zum Stehen. Männer und Frauen mit Pistolen in Händen sprangen heraus, umringten den Wagen in dem ich saß und zielten mit ihren Pistolen durch die Scheiben des Wagens auf meinen Kopf. Mit so vielen Pistolen auf mich gerichtet, fiel mir nichts Besseres ein als die Knöpfe der Türverriegelung nieder zu drücken. Das wurde mir später, bei der Gerichtsverhandlung, als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ ausgelegt. Während Donnerelse den Lauf ihrer durchgeladenen und entsicherten Pistole kräftig in mein Ohr zwängte, schloss Kommissar Majnek
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persönlich seine Handschellen um meine Handgelenke. Zwei Fahrzeuge holten Achmet ein. Er wurde ebenfalls festgenommen… Lee war ein Agent des amerikanischen DEA, der weltweit operierenden US amerikanischen „Drogenpolizei“, die in fremden Ländern, in Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei oder auch ohne, in so genannter „Feldarbeit“ ausgebildet wurden um Konkurrenten im internationalen „Drogengeschäft“ auszuschalten. „Just workin’ in the fields my son, just workin’ in the fields…“. Lee war ein amerikanisches Schwein, das hauptberuflich die Leben anderer zerstörte damit seine Freunde die Geschäfte für sich übernehmen konnten… Während der anschließenden Vernehmung im Gebäude des LS, fand Majnek in Achmets Jackentasche die Quittung des Hotels, in dem er und sein Bruder abgestiegen waren. Dies führte noch am selben Abend zu Mehmets Festnahme. Das restliche Heroin der beiden, immerhin rund zweitausendachthundertfünfzig Gramm, wurde noch am selben Abend fieberhaft gesucht aber nie gefunden. Ich wusste, wo es verborgen lag. Vielleicht liegt es da noch heute, wer weiß, gut verborgen zwischen den leicht erhöht stehenden Dornensträuchern der kleinen Parkanlage, unmittelbar vor den Fenstern des Wienerwald Restaurants in der Dachauerstraße? Ich selbst, bin seit damals nie wieder dort gewesen. Es sollte zwei Jahre dauern, bis ich wieder Straßenpflaster unter meinen Schuhen fühlte… Während der Gerichtsverhandlung, die Monate später stattfand, war nicht mehr von hundertfünfundfünfzig Gramm Heroin die Rede, wie ich sie gewogen hatte, sondern nur noch von hundertfünfzig. Auch die Summe des Geldes war plötzlich eine andere. Anstatt von vierundzwanzigtausend Mark, war nur noch von zwanzigtausend die Rede. Fünf Gramm des Heroins fehlten und auch viertausend Mark waren irgendwie verschwunden. Wo war es hin, das fehlende Heroin, wohin das fehlende
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Geld? Da die Höhe einer Gefängnisstrafe von der Menge des Heroins abhing, die beschlagnahmt worden war, hatte niemand erwartet dass ich den Vorsitzenden Richter auf die fehlenden fünf Gramm Heroin und die fehlenden viertausend Mark aufmerksam machen würde. Ich machte ihn aber darauf aufmerksam. Man sah an seiner Reaktion, dass er längst eingeweiht war in das schmutzige Spiel. Er bestand darauf, ich hätte nicht richtig gewogen (…mit einer nagelneuen Digitalwaage…) und beim Geld hätte ich mich eben verzählt (verzählte man sich mit kleinen Scheinen um ganze viertausend Mark, muss man sich unwahrscheinlich oft verzählt haben …). Man konnte sich nicht verteidigen. Man war diesen faschistoiden Schurken auf den Leim gegangen und ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die schlichte Wahrheit war, die fehlenden fünf Gramm Heroin hatte die morphinbedürftige Elvira erhalten, als Dank für ihre effiziente Mitarbeit und die fehlenden viertausend Mark hatte Lee weggesteckt…
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Suchtstation A3, eine Abteilung der Krankenstation eines großen deutschen Untersuchungsgefängnisses, wurde auch „Die Suchtstation“ genannt, weil sich dort überwiegend substanzgewöhnte Gefangene befanden. Zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt, Anfang der siebziger Jahre, handelte es sich bei den meisten dieser Substanzgewöhnten noch um Alkoholiker. Straffällig gewordene Morphinbedürftige gab es damals noch nicht so viele. Das sollte sich aber durch eine Verschärfung und rigorosen Anwendung des Betäubungsmittelgesetzes und einer tückisch manipulierten Betäubungsmittelrechtsprechung bald drastisch ändern. Wir waren erst am Anfang einer gewaltigen Morphinistenschwemme, die in der Folgezeit in der Suchtstation eintreffen sollte. Mit einem Male waren Besitz und Erwerb auch kleinster Mengen nicht ärztlich verordneten Morphins streng verboten. Die meisten Ärzte wagten es in dieser drohenden Atmosphäre nicht mehr, Morphine zu verschreiben. Dadurch wurden XXX – Tausende, bis dahin völlig unbescholtene und harmlose Menschen, die zum gesunden Leben lediglich eines Morphins bedurften, über Nacht extrem kriminalisiert und in Gefängnisse geworfen. Im Gegensatz zu Alkoholikern, deren Entwöhnungssymptome mit dem Medikament Distraneurin und anderen Medikamenten gelindert wurden, bekamen Morphinbedürftige zur Linderung ihrer Entwöhnungssymptome allenfalls Schikanen und Prügel, aber keine hilfreichen Medikamente. Noch galt in ganz Deutschland die Abgabe von Methadon an Morphinbedürftige, und sei es nur als Hilfsmittel zur Entwöhnung durch Dosisreduktion, als „ärztlicher Kunstfehler“, der strafrechtlich geahndet wurde. Morphinbedürftige, so ging die allgemeine Auffassung, seien an ihrem Zustande selbst schuld. Somit sei es nur gerechtfertigt, wenn man sie unter ihren Entwöhnungssymptomen kräftig leiden ließe. Weshalb derselbe Grundsatz nicht auch für Alkoholiker galt, die ja wohl an ihrem Zustand auch „selbst schuld“ waren, oder für Skisportler die sich aus „eigener Schuld“ die Knochen brachen, oder für Motorradfahrer und Formel 1 Rennfahrer, die verunglückten, oder für
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Bergsteiger und Testpiloten die abstürzten, lag am kulturellen Faschismus der Zeit, propagiert und in Medizin, der Gesetzgebung und Rechtsprechung etabliert durch den damaligen Deutschen Ärztepräsidenten und ehemaligen SS-Mannes & Arztes, Vorsitzender des Ausschusses für Psycho-Hygienische Fragen der Bundesärztekammer und bis dato mächtigster und am höchsten und vielfältigsten dekorierte Arzt Europas aller Zeiten, der keinen geringen eugenischen Einfluss auf Betäubungsmittel-Gesetzgebung und Betäubungsmittel-Rechtsprechung der Bundesrepublik genommen hatte. Wie war doch noch sein Name? Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre auch noch der mächtigste Arzt der Welt aller Zeiten geworden, als er kurz davor stand, Präsident der WeltÄrztekammer zu werden, hätte nicht ein Arzt aus San Franzisco, Michael Franzblau, noch rechtzeitig seine Vergangenheit aufgedeckt. H.J.S. ist kürzlich im Alter von 94 Jahren in Dachau gestorben, womit er den Beweis erbrachte, dass man in der Bundesrepublik sogar unter dem Verdacht der Beteiligung an 900 Morden, ruhig an Altersschwäche sterben kann, sofern man nur über ausreichend einflussreiche alte Kameraden in hohen Positionen verfügt….… Die Zelle Fast am Ende eines langen, von staubigen Neonröhren trübe beleuchteten Korridors, betrat ich eine Zelle mit der Nummer 212. Zelle 212 war zwar für sechs Mann eingerichtet, momentan aber nur mit zweien belegt. Links der Tür standen zwei Stockbetten an der Wand, rechts davon eines. Der Tür gegenüber, knapp unterhalb der Decke, befanden sich zwei kleine Fenster mit dicken Gittern aus massivem Vierkanteisen. Unter den beiden Zellenfenstern hingen sechs schmale Sperrholzschränke, die wegen ihrer pastellenen Farben eher in ein Kinderzimmer gepasst hätten, als in eine Gefängniszelle. In der Ecke rechts der Tür befand sich die Toilette, von einem Verschlag aus Spanholzplatten umgeben, überzogen mit weißem Kunststoff. Daneben hingen zwei Handwaschbecken, darüber, polierte
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Blechspiegel. Ein Tisch in der Mitte des Raumes, umstanden von sechs Stühlen, vervollständigte die Einrichtung. Der Professor Am ersten Tage meines Aufenthaltes in der Suchtstation, wurde ich dem Chefarzt der Krankenstation vorgestellt. Sein Untersuchungszimmer befand sich in dem Korridor, der den Ostflügel der Krankenstation mit dem Westflügel verband. Das Untersuchungszimmer des Chefarztes sah nicht viel anders aus als andere Untersuchungszimmer auch. Von einer hohen Decke, die noch bröckelige Überreste einstiger Stuckzierde zeigte, hingen an langen Stangen zwei kugelige, milchgläserne Beleuchtungskörper herab. Links der Tür, halb hinter einem vergilbten Kunststoffvorhang verborgen, stand ein Untersuchungstisch, bespannt mit dunkelgrünem Gummi, von dem die graue Manschette eines Blutdruckmessgerätes baumelte. Darüber hing ein kleines Rotkreuzkästchen mit milchgläsernen Türen. Die Wände des Zimmers waren mit gelbgrüner, glänzender und vermutlich abwaschbarer Farbe gestrichen. Entlang der linken Wand stand ein hohes Bücherregal von Naturholz, in dem sich einige verstaubte Bücher befanden und verschiedene Arzneimittelpackungen. Ein deutlicher Geruch nach reinem Alkohol hing in der Luft. Das Untersuchungszimmer machte minder Eindruck, dominierte in der Mitte nicht ein gewaltiger Schreibtisch aus weiß lackiertem Stahlblech. Dahinter saß, die tiefe Kerbe eines alten Schmisses auf der linken Hängebacke, Nickelbrille mit Gläsern wie Fernsehapparate im alkoholgeröteten Gesicht, die imposante Gestalt des Gefängnisarztes Obermedizinalrat Professor Doktor Joachim Egelbreit. Ein Kranz weißer Haare stand von seinem Schädel ab und leuchtete, vom Lichte eines rückwärtigen Fensters durchschienen, wie eine Gloriole. Neben dieser Attraktion stand, im weißen Arztkittel und mit einer Hand leger auf die Schreibtischplatte gestützt, ein Häftling in der privilegierten Stellung eines Arzthelfers. Beide, Professor und Arzthelfer, sahen mir mit unverhohlener Neugierde entgegen, als ich an einem Fußabstreifer vorbeiging, der mitten im Raume am Boden lag, und auf die beiden zutrat.
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Ich stellte mich vor den Schreibtisch, grüßte und nannte meinen Namen. Schwer atmend, stützte der Professor seine Fäuste auf die Schreibtischplatte, stemmte sich aus seinem Sessel und schrie, purpurn im Gesicht, „Gehen sie sofort drei Schritte zurück“! Ratlos, sah ich zum Arzthelfer hin und bemerkte, wie er mit einer Bewegung seines Kopfes zum Fußabstreifer wies, der hinter mir am Boden lag. Darauf, musste ich mich stellen, wobei ich mit dem Drang focht, meine Fingerspitzen an die Hosennähte zu legen. Kaum stand ich auf dem Fußabstreifer, nickte der Professor zufrieden und wies seinen Helfer an, mir Blut abzunehmen. Der Arzthelfer führte mich hinter den vergilbten Kunststoffvorhang zum grün bespannten Untersuchungstisch. Als er eine Injektionsnadel in meinem Arm versenkte, gab es, gut hörbar, ein knackendes Geräusch. Wie oft hatte ich nicht schon selbst alte, unscharfe Nadeln verwendet? Es müsste Nadeln geben, so dachte ich, die immer scharf blieben und deren Spitze sich nie verböge. War nämlich diese kleine Spitze der schräg geschärften Nadel erst verbogen und krumm wie ein Haken, ging die Nadel wohl noch rein ins Gewebe, aber es knackte dabei, und wollte man sie hinterher wieder herausziehen, hakte die krumme Spitze an der Venewand fest und man zerrte die halbe Vene mit hervor… Während ich auf dem Untersuchungstisch saß und zusah, wie mein Blut in einen Zylinder floss, betrat ein etwas älterer Häftling den Raum. Er stellte sich, der kannte das schon, unaufgefordert auf den Fußabstreifer und klagte, „Ich habe seit Tagen so furchtbare Kopfschmerzen, Herr Doktor“. Der Professor wurde aufmerksam. Er nahm seine Brille ab, lehnte sich in seinem Sessel nach vorne, rieb sich die Augen und fragte betont liebenswürdig, „Kopfschmerzen, sagten sie? Aber dann kommen sie doch bitte mal näher und zeigen sie mir ganz genau, wo diese Kopfschmerzen sitzen”. Unsicheren Schritts, trat der Häftling an den Schreibtisch des Professors. Er tippte mit den Fingern vage gegen seine Stirn und murmelte, „Hier so in etwa, Herr Doktor“. Im Befehlston, wandte der Professor sich an seinen Helfer, der gerade einen Zylinder, gefüllt mit meinem Blut, ins
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Regal stellte. „Geben sie diesem Mann sofort fünf Milliliter P1 in die schmerzende Stelle und machen sie flott, der Herr hat Schmerzen“! Mit einholender Geste winkte der Arzthelfer den Kopfschmerzpatienten zu sich. Er griff nach einer bereit liegenden fünf ml Injektionsspritze. An ihrer Spitze zitterte ein irisierender Tropfen. Der Arzthelfer griff seinem Patienten mit der Linken stützend an den Hinterkopf und stieß ihm dabei mit der Rechten die dicke Nadel der Spritze mitten in die Stirn. Mit dem Sitz der Nadel zufrieden, drückte der Arzthelfer den Spritzenkolben nieder und quetschte seinem verdutzten Patienten damit fünf Milliliter Flüssigkeit direkt unter die Stirnhaut. An der Einstichstelle entstand eine Beule, groß wie ein Fasanenei. Der Arzthelfer legte die leere Spritze beiseite und reichte seinem Patienten einen Wattebausch. „Drücken sie dies noch eine Weile auf die schmerzende Stelle“, empfahl er. „Sie werden sehen, in wenigen Minuten lassen ihre Schmerzen nach“. Der Mann nahm den Wattebausch entgegen, hielt ihn sich erst unter die Nase als müsse er ihn näher untersuchen und drückte ihn schließlich gegen seine Stirn. Er murmelte ein bescheidenes, undeutliches Dankeschön und schlurfte gebeugt zur Tür hinaus. Nie würde dieser Mann erfahren, dass die Injektion, die er soeben erhalten hatte, nichts weiter als sterile Kochsalzlösung enthielt. Mit dieser Methode trachtete der Professor nämlich, Häftlinge mit vermeintlich belanglosen Beschwerden fern zu halten. Seine Einstellung war: „Was hat dieser Mensch? Kopfschmerzen?! Erst gestern, platzte einem meiner Patienten ein Blutgefäß in der Luftröhre. Das war des Hinsehens wert, das kann ich ihnen versichern! Der Mann verdrehte die Augen, glitt vom Untersuchungstisch und lag sprudelnd am Boden. Seinen überraschten Blick hätten sie sehen müssen. An Hilfe, war natürlich gar nicht mehr zu denken. Sein Röcheln verlor sich und verstummte schließlich ganz, als er in seinem eigenen Blute ersoffen war. Und da kommen manche Leute mir mit Kopfschmerzen!?“ Auf dem Weg zurück zur Suchtstation, lief ich versehentlich in die verkehrte Richtung und landete dadurch in der Krankenabteilung A2. Dort
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sah es nicht viel anders aus als auf der Suchtstation auch. Im Korridor sah man denselben knarrenden und von vielen Füßen ausgetretenen Parkettfußboden, an den Wänden denselben abblätternden, schmutziggelben Farbanstrich und an denselben dicken Zellentüren von vier Zoll Eiche dieselben Schlösser, groß wie Suppenteller. In der Station A2 lagen hauptsächlich frisch Operierte und Leute mit Schussverletzungen. Die meisten dieser Schussverletzungen waren von Polizeikugeln verursacht worden. Dabei fielen naturgemäß an, zertrümmerte Knochen, zersplitterte Rückgrate und zerfetzte Organe. In der Krankenabteilung A2 gewann man den Eindruck, von allen Menschen mit Schusswaffen, schössen und träfen ausgerechnet Polizisten am häufigsten… . Die Belegschaft der Station war gerade beim Duschen. Alle Zellentüren standen offen. Reges Treiben füllte den Gang. Männer in Rollstühlen beherrschten die Szene. „Bei mir war’s glatter Durchschuss!“, hallte es von einem Ende des Ganges, während vom anderen Ende zurückgerufen wurde, „Dafür hast du jetzt aber auch einige Wirbel im Arsch“! Ich betrat eine der offenen Zellen. Dort lag in seinem Bette, mit gestrecktem und von Galgen und Gewichten hoch gehaltenem Bein, ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren. Er hatte den Ruf, „Halt! Stehen bleiben! Polizei!“, für einen Scherz seiner Freunde gehalten, die im Stillen aber schon von der Polizei festgenommen worden waren. Er war lachend weiter gelaufen. Glatter Durchschuss. Das Geschoss war von hinten in sein Bein gedrungen und hatte den Oberschenkelknochen zertrümmert. „Um ein Haar wäre ich auf der Stelle verblutet“, berichtete der junge Mann, sichtlich noch unter dem Eindruck des Geschehens… Von Kugeln in die Beine Getroffene trugen zum Fixieren der Knochentrümmer dünne Stäbe von Chirurgenstahl quer durchs Bein, die zur Stabilisierung an den Enden mit Metallplatten verschraubt waren. Es erweckte den Eindruck, den Leuten wüchsen Fernsehantennen quer durchs Bein. Von Projektilen ins Rückgrat Getroffene saßen mehr oder weniger
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reglos in Rollstühlen oder lagen, vollständig gelähmt, apathisch auf Gipskorsetten und klimperten mit den Augen. (Die Blicke dieser Leute: Ein Hilfeschrei, lautlos und voller Entsetzen...) Viel Gips sah man auf der Station A2, viele Rollstühle, viele blutige Verbände und viele aus stinkenden, eitrigen Wunden ragende Fernsehantennen... Die Nachbarn Mamuschka, oder „Die Ärztin von Stalingrad“, wie sie auch genannt wurde, war eine stämmige Ärztin russischer Herkunft. Sie war auf der Suchtstation Professor Egelbreits Assistenzärztin. Manchen Patienten, die Nerven durch Entwöhnungssymptome roh und bloß, reichte schon Mamuschkas Anwesenheit, ihre zufällige Berührung oder auch nur ihre geile rauchige Stimme, um spontan zum Orgasmus zu kommen. War man Mamuschka unter dem Einfluss von Entwöhnungssymptomen begegnet, man vergaß sie nie. Während Mamuschka an meinem Bette stand und meinen Blutdruck maß, mopste Rudi aus der Tasche ihres Kittels eine zehn cc Injektionsspritze mit aufgesteckter Nadel der Nummer eins. Kurz danach stürzte ein Rudel tollwütiger Wachbeamter durch die Suchtstation, fieberhaft auf der Suche nach der geklauten Spritze. Wir in Zelle 212 waren guter Dinge. Die Spritze konnte nicht gefunden werden. Sie stak wohl verborgen, tief in einem der hohlen Beine des Zellentisches. Als der Spuk vorüber war, verwendeten wir das Instrument um gelöste Kodeinzubereitungen, Diazepine und eingeschmuggeltes Morphin zu injizieren. Eine echte Injektionsspritze galt in der Suchtstation als überaus wertvoller Gegenstand. Improvisierte Injektionsapparate, gab es dagegen einige. Die Jungs von nebenan in Zelle 210, hatten beispielsweise die kleine Kugel aus der Spitze einer leeren Kugelschreibermine entfernt und danach die Spitze solange auf dem Beton des Toilettenfußbodens geschliffen, bis sie in etwa die scharfe Schräge einer echten Injektionsnadel aufwies. Danach brachen sie die Mine knapp unterhalb der Verdickung ab, die unter anderen Umständen die kleine Stahlfeder im Inneren eines Kugelschreibers an ihrem Platz hielt. Das stumpfe Ende dieses
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geschliffenen und abgebrochenen Minenstücks umwickelten sie mit Zigarettenpapier, wurmten es in die Öffnung einer leeren Shampoontube von weichem Plastik und gewannen auf diese Weise eine primitive Pumpe, einen improvisierten Injektionsapparat. Damit knallten die Jungs sich die Wirkstoffe grüner, kodeinhaltiger Zäpfchen, die sie in einem Esslöffel erhitzten, bis sie sich verflüssigten und das Wachs sich von den Wirkstoffen schied. Sie ließen die Lösung erkalten, nahmen das erstarrte Wachs von der Oberfläche, sogen die übrig gebliebene Flüssigkeit in ihre Shampootube und knallten sich die Brühe intravenös in die Armvenen. Daher stammten dann auch die großen, ekelhaften Löcher in ihren Armbeugen, die sie beim Duschen so verzweifelt zu verbergen suchten... Tätowiert Eines Tages machte auf der Suchtstation das Gerücht die Runde, Professor Egelbreit plane am Rande der Stadt eine Spezialpraxis zur Entfernung von Tätowierungen. Die nötigen Fertigkeiten, wollte der Professor an den tätowierten Insassen des Gefängnisses erwerben. Es dauerte nicht lange und es erschienen Plakate an den Wänden der Zellentrakte. Bald, hörte man auch den Professor persönlich durch die Gänge tönen, fortan stünde er zur kostenlosen Entfernung von Tätowierungen zur Verfügung, „Kommt Leute! Kommt! Habt Vertrauen! Ich mache euch jede Tätowierung weg und zwar kostenlos! Greift zu, Leute! Diese Gelegenheit bietet sich so bald nicht wieder“! Moderne Methoden, wie etwa das Abschleifen der betroffenen Hautpartie, Laserbehandlung oder gar Hauttransplantation, lehnte der Professor rigoros ab. Sie waren ihm zu zeitaufwendig, zu kompliziert, zu teuer. Deshalb wählte er die denkbar einfachste Methode. Er schnitt das tätowierte Hautstück einfach heraus und zurrte die entstandene Wunde mit Katzendarm so kräftig wie möglich wieder zusammen…
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Tony, ein Hausarbeiter aus der Station A1, hatte ein tätowiertes Kettchen mit einem Kreuz daran ums Handgelenk. Als der Professor mit ihm fertig war, hatte er anstelle seines tätowierten Kettchens, eine rote breite und brutal aussehende Narbe rings ums Handgelenk. Man gewann den Eindruck, ein Verrückter habe Tonys Hand amputiert und danach mit Katzendarm wieder an den Stumpf genäht. Arthur, hatte ein tätowiertes indianisches Stirnband um den Kopf. Bald hatte er, anstelle dieses Stirnbandes, eine knallrote, hohe und breite Narbe die aussah, als trüge er einen roten, prall gefüllten Fahrradschlauch um den Schädel. In seinem Fall, erwies sich auch das Herabkämmen der Haare als sinnlos. Kein Mensch hatte so viele Haare, um darunter ein Gebilde wie diese Narbe zu verbergen. Zu allem Überfluss waren an den Stellen wo die Fäden gesessen hatten, auch noch kleine, senkrecht stehende Narben entstanden. „Jetzt musst du dir nur noch zwei Knöppe an den Hals nähen“, feixte Alfred, der schwule Arzthelfer. „Oder besser noch, du drehtest dir ’ne dicke fette Schraube durch den Hals. Dann sähest du aus wie Frankenstein und das macht bestimmt 'ne Menge her, glaube mir“. „Aber Ja“, kommentierte Walter trocken. „Die Idee ist gut. Du könntest dein Aussehen als Grundlage für eine lukrative Karriere verwenden, einen klugen Akt darauf bauen und Eintritt verlangen“. Mit der Zeit, bürgerte sich für diese Patienten des Professors die Bezeichnung „Die Frankensteine“ ein. Es dauert nicht lange und es wimmelte geradezu von „Frankensteinen“ in der Anstalt. Sie standen in Grüppchen beieinander auf dem Hof und in den Korridoren und zeigten sich gegenseitig ihre grässlichen Narben. Dabei waren manche von ihnen derart entsetzt über das Ergebnis ihrer Operation, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sahen als Lobeshymnen auf den Professor zu singen. So hörte man beispielsweise einen sagen, „Weißt du, ich bin ja so froh, endlich diese fürchterliche Tätowierung los zu sein. Und sieh dir doch nur diese Arbeit an. Schlecht, hat er das doch nicht gemacht, der gute Herr Professor, findest du nicht auch? So guck doch mal genauer hin. So übel
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sieht das doch gar nicht aus, oder? Die Narbe? Na ja, so schrecklich wirkt die Narbe dann auch wieder nicht, oder“? Stand man allerdings still genug neben einem dieser Frankensteine, hörte man wie er dachte, „Hätte ich Arschloch doch nur meine Tätowierung behalten“! Neuzugang Eines Sonntagnachts hörte ich in der Schlaflosigkeit meiner Entwöhnung das Öffnen der Nachbarzelle. Sonntagnacht, war eine ungewöhnliche Zeit, um Zellentüren zu öffnen. Nach den Geräuschen zu urteilen, handelte es sich um einen Neuzugang. Neuzugänge am Sonntag und noch dazu nachts, waren mehr als nur ungewöhnlich. Wie ich am folgenden Tag erfuhr, litt der Neue so beängstigend an Entwöhnungssymptomen, dass man ihn nicht länger in der Zelle des Polizeibüros behalten wollte. Man hatte ihn deshalb noch Sonntagnacht mit einem Streifenwagen der Polizei in die Suchtstation gebracht… Etwa eine Stunde nach Ankunft dieses Neuen, hörte man hastige Schritte und erregte Stimmen im Korridor. Am nächsten Tag erfuhr ich von Jürgen, einem der Jungs aus der Nachbarzelle, was sich nächtens zugetragen hatte. Kaum war der Neue in die Zelle getreten, hatten die Insassen stolz ihre selbst gebastelte Injektionsspritze präsentiert. Als alle wieder schliefen, fand der Neuling einen Aluminiumnapf voll Scheuerpulver hinter der Toilettenschüssel. Im Wahne seiner Entwöhnungssymptome bildete er sich ein, es sei Heroin. Er nahm einige Löffel voll, gab etwas Wasser hinzu, sog alles in die Shampootube des improvisierten Injektionsapparates und quetschte sich den sandigen Brei intravenös in die Blutbahn. Er brach sofort zusammen. „Er schlug mit dem Schädel so hart gegen die Kante des Waschbeckens“, wusste Jürgen zu berichten, „es klang wie ein Gong. Davon wurden wir wach. Wir zogen die Pumpe aus seinem Arm, nahmen sie auseinander, warfen die Teile aus dem Zellenfenster und drückten den Alarmknopf“. „Was ist aus dem Jungen geworden?“, fragte ich besorgt.
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„Keine Ahnung“, antwortete Jürgen. „Die Sanitäter hatten ihn weggetragen. Er kam nicht wieder...“ Die Technik des Professors Während der ersten beiden Wochen meiner Entwöhnung war es mir unmöglich, Gefängniskost, mehr nahrhaft als schmackhaft, zu mir zu nehmen. Die Wachbeamten sahen, dass meine Essensteller stets gefüllt wieder aus der Zelle gereicht wurden und meldeten mich beim Arzt. Dort war ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren vor mir an der Reihe. Ich setzte mich im Korridor auf eine Bank und sah durch die offen stehende Türe seiner Behandlung zu. Der Mann stellte sich vor dem Schreibtisch des Professors auf den Fußabstreifer, jedermann schien es zu kennen, und klagte über Schmerzen in der Brust. „Besonders am Abend, Herr Doktor“, erklärte er, „und ganz besonders beim Wasserlassen“. Der Professor legte eine Zeitschrift beiseite und trat interessiert an den Mann heran. „In der Brust, sagten sie? Und ganz besonders beim Wasserlassen? Machen sie bitte ihren Oberkörper frei“. Als der Patient mit nacktem Oberkörper vor ihm stand, bat der Professor, „Nun zeigen sie mir bitte ganz genau, wo diese Schmerzen sitzen“. Der Patient legte eine Hand auf seine Brust, drehte vage einige Kreise und meinte, „Hier so in etwa, Herr Doktor“. „Ich muss das schon genauer wissen“, knurrte der Professor und schob seine Zeigefinger unter die Achseln des Mannes. „Von hier bis hier so ungefähr“? Verunsichert, bejahte der Patient. „Und nach unten hin? Bis etwas unters Brustbein, nicht wahr?“, informierte der Professor und rammte, wie um seine Ansicht zu unterstreichen, seinen gestreckten Zeigefinger in die Magengrube des Patienten. Der Mann schnappte nach Luft und stöhnte, „Ja. Bis hierhin so ungefähr, Herr Doktor“. „Das hatte ich mir schon gedacht“, knurrte der Professor. Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und entnahm ein Kunststofflineal und einen Kugelschreiber. Seinem Assistenten rief er über die Schulter hinweg zu, „Bringen sie bitte sofort sechzehn fünf ml P1 und machen sie schnell. Dies ist ein besonders dringlicher Fall“! Danach trat der Professor wieder zu seinem Patienten
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und bat ihn, die Arme zu heben. Der Professor hielt das Lineal an die Schlüsselbeine des Mannes und zog mit dem Kugelschreiber eine waagrechte Linie und darunter weitere. Danach zog er mehrere senkrechte Linien. Ein Raster, mit sechzehn Kreuzpunkten, entstand auf der Brust des Patienten. Unterdessen war der Arzthelfer mit einem Tablett herangetreten. Darauf lagen, säuberlich aufgereiht, sechzehn fünf ml Injektionsspritzen. Der Professor nahm eine Spritze zwischen Daumen und Zeigefinger, zielte, und stieß sie in den ersten Kreuzpunkt auf der Brust seines Patienten. Der ersten Spritze folgten weitere fünfzehn. Als der Patient nach vollendeter Prozedur mit geschwollener Brust vor ihm stand, empfahl der Professor, „Nun legen sie sich in ihrer Zelle noch zwei Stunden auf den Bauch. Auf den Bauch, verstehen sie?! Und dass sie mir ja liegen bleiben! Halten sie sich nicht an meine Anweisungen, war die ganze aufwendige Behandlung für die Katz“! Sein Hemd in der Hand und die makabere Zeichnung des Professors auf der Brust, trat der Mann aus dem Untersuchungszimmer. Er eilte an mir vorüber und verschwand am Ende des Korridors… Ich betrat das Untersuchungszimmer und stellte mich, man kannte das inzwischen ja schon, artig auf den Fußabstreifer. „Sie verweigern seit Tagen die Nahrungsaufnahme?“, eröffnete der Professor das Gespräch. Jetzt war dieser Mann Chefarzt der Suchtstation. Folglich musste er wissen, dass ich mich seit Tagen in der Entwöhnung befand und dass viele Menschen in diesem Zustand nicht aßen. „Sehe ich das Essen“, erklärte ich dem Professor wahrheitsgemäß, „wird mir sofort speiübel“. Der Professor rieb sein Kinn und überlegte. „Dann müssen wir ihnen etwas Schmackhafteres zu essen geben“. Er wandte sich an seinen Assistenten. „Was haben wir an Diäten“? „Wie wäre es mit Diabetikerkost?“, empfahl der Assistent. „Gut“, beschloss der Professor. „Sie können jetzt wieder gehen. Ab sofort erhalten sie andere Kost“. Von diesem Tage an erhielt ich Diabetikerdiät. Nicht zu vergleichen mit der aus Eimern geschöpften Pampe gewöhnlicher Nahrung. Den Hausarbeitern bereitete es sichtlich Spaß, beim Servieren meines Essens großen Aufwand zu treiben. Mit
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blauem Spültuch gefaltet über dem Arm und ein Tablett mit meinem Essen darauf balancierend, kamen sie den Korridor entlang getänzelt und erzählten unterwegs jedem, der Mann dort hinten in Zelle 212 habe so viel Geld, er ließe sein Essen aus einem Restaurant jenseits der Gefängnismauer kommen… Schmerz und Wahnsinn einer Morphinentwöhnung wären weit besser zu ertragen, könnte man währenddessen zumindest ab und zu schlafen. Doch Schlaflosigkeit war das Symptom, das am längsten anhielt. Waren nach Wochen der Qual die meisten anderen Symptome schon in den Hintergrund getreten, plagte einen die Schlaflosigkeit noch Wochen, ja, manchmal Monate lang. Ich hatte deshalb die ganze Nacht wach gelegen, als gegen morgens endlich die Räder des Essenwagens über die losen Bretter des Parkettfußbodens im Korridor klapperten. Auf dem Korridor wiederholten sich die Worte, „Paul ist tot“. Wie ein vielstimmiges Echo klangen sie einmal näher, einmal ferner. Es war zu entnehmen, jemand namens Paul, vermutlich einer der Alkoholiker aus den Zellen im Korridor gegenüber, war tot in seinem Bett aufgefunden worden. Als die Zellentüre zur Frühstücksausgabe geöffnet wurde, lief ich zu der Zelle, vor der sich schon eine Traube Menschen versammelt hatte. Dort lag ein Mann auf seinem Bauch im Bett. Mamuschka und ihr Assistent drehten ihn gerade auf den Rücken. Sein blasses Gesicht mit den blau angelaufenen Lippen kam mir bekannt vor. Es war der Mann, der tags zuvor im Untersuchungszimmer des Professors die sechzehn Injektionen in die Brust erhalten hatte. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen diesen Injektionen und dem Tod dieses Mannes, wusste außer vielleicht einigen Mitgliedern des engeren Medizinerkreises nur ich davon... Leben auf der Suchtstation Die Zellen der Suchtstation waren überwiegend für sechs Gefangene eingerichtet, oft aber mit wenigeren belegt. So waren wir zum Beispiel schon seit vier Monaten nur zu dritt in einer solchen Sechsmannzelle und
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das war auch gut so. Wir waren Brüder im selben Verlangen, Brüder derselben Zukunft in langer Gefangenschaft. Dadurch unterschieden wir uns in mancherlei Hinsicht doch etwas von gewöhnlichen Bürgern. Das Personal achtete nicht immer darauf, Gefangene so unterzubringen, dass Konflikte vermieden wurden. Eines Nachmittags betrat ein Neuzugang unsere Zelle. Walter Rudi und ich sahen den Neuen an, wir sahen einander an und dachten dabei alle dasselbe. Oh Mist, dachten wir. Hoffentlich ist das kein Epileptiker oder sonst was Verrücktes. Doch dieser Neue, ein Junge von etwa zwanzig Jahren, klein, mager, mit pickeliger Haut und langen strähnigen Haaren, war alles andere als ein Epileptiker. Er sollte uns beibringen, dass es weit Schlimmeres gab als einen, am Ende noch höchstsympathischen Epileptiker in der Zelle zu haben. Der Neue hieß Sven und er war Finne... Trotz unserer Bedenken begrüßten wir Sven freundlich. Rudi schwang sich sogar auf den Zellentisch und befestigte das Kabel unseres selbstgebauten Tauchsieders an den Kontakten der Deckenlampe. Solche selbstgebauten Tauchsieder waren höchst effizient, aber auch lebensgefährlich. Es dauerte nur Sekunden bis das Wasser in unserer Kanne siedete und Walter Kaffee bereiten konnte. Danach saßen wir zu viert um den Zellentisch, schlürften heißen, starken Kaffee und machten uns miteinander bekannt. Sven sprach nur leidlich deutsch und so dauerte es eine Weile bis wir begriffen hatten, er saß wegen dem Diebstahl einer Hose im Gefängnis. Eine erbärmliche Hose, die zum trocknen an einer Leine gehangen hatte, konnte er nicht hängen lassen. Er nahm sie von der Leine und wollte fort damit. Anwohner die ihn beobachtet hatten, schnappten ihn, kneteten ihn ein wenig durch und riefen danach die Polizei. „Oh Gott“, stöhnte Walter und richtete den Blick zur Decke. „Eine Hose hast du geklaut? Eine gottverdammte Hose?? Mach dir deshalb bloß keine Sorgen. Dafür bekommst du allenfalls eine Backpfeife von zwei oder drei Wochen. Danach bist du wieder frei“. Kaum hatte Sven von zwei oder drei
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Wochen gehört, fing er leise an zu heulen und beteuerte unter dicken Tränen die über seine pickeligen Wangen rollten, „Zwei bis drei Wochen!? So lange?! Ein ganzer Monat? Das halte ich nicht durch. Nein. Lieber tot. Lieber sterbe ich. Lieber nehme ich mir das Leben“. Wir sahen einander an und schwiegen. Wir kannten solche Gefängniskoller junger Leute, die zum ersten Mal im Gefängnis saßen. Rudi versuchte Sven zu trösten. „Du musst deshalb nicht gleich losheulen. Dann bist du eben einige Zeit bei uns. Du wirst sehen, das ist gar nicht so schlimm und deine paar Tage werden rasch vorüber sein. Die wenigen Tage? Die sitzt du doch im stehen ab!“ Doch alle Versuche den kleinen Sven zu trösten, schlugen fehl. Den ganzen Tag und noch bis spät in die Nacht hinein lag er uns mit seinen Klagen in den Ohren. Dass er die lange Haftzeit nie überstehen könne, klagte er, und dass er sich lieber das Leben nähme als so lange hier zu sein. „Nun gut“, entschied Rudi schließlich. „Es ist hoffnungslos. Kommt, wir wollen uns schlafen legen. Vielleicht kommt er ja morgen ein wenig zu sich“. Auch Walter, der die letzten Tage still und nachdenklich war, erklärte, „Ich höre mir sein Gejammer auch nicht mehr länger an. Ich bin doch kein Spiegologe oder wie diese Typen heißen. Außerdem habe ich mit meinem eigenen Fall schon Sorgen genug“. Am nächsten Morgen begann Sven bereits beim Frühstück wieder zu klagen. Keine Ruhe ließ er uns. Andauernd lag er uns mit seinem Jammern in den Ohren. Ständig bohrte er, ob wir nicht vielleicht eine Möglichkeit wüssten durch die er schon morgen oder am besten noch heute und am liebsten gleich auf der Stelle frei käme. Vorbei war es mit unseren Schachspielen am Tage, vorbei auch die anregenden Gespräche am Abend, bei Kaffee und dem flackernden Schein selbst gebastelter Margarinekerzen. Der dritte Tag brach an und noch stets verhinderte Sven mit seinem Jammer jede erträgliche Stimmung. „Eine Hose hat er geklaut! Bei Gott! Ich erschlage ihn!“, stöhnte Walter und warf in der Geste der Verzweiflung beide Hände in die Höhe. „Er ist noch sehr jung“, versuchte Rudi ihn zu
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beschwichtigen. Doch Walter blieb unerbittlich. „Wenn er so weiter macht“, meinte er, „wird er auch nicht viel älter werden“. Als am Abend dieses dritten Tages das Licht erlosch und wir uns bereits zu Bett gelegt hatten, begann Sven erneut zu klagen. „Ich halte das nicht aus“, jammert er aus seinem Kissen hervor, die weiß blau karierte Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen. „Ich will hier raus. Ich will hier weg. Ich will nicht mehr hier sein. Lieber sterben. Lieber tot. Lieber nehme ich mir das Leben“. Walter erhob sich von seinem Bett. Er ging zum Waschbecken, nahm etwas von der Spiegelablage und schlenderte damit auf Svens Bett zu. Zwischen Daumen und Zeigefinger gebogen und wie eine Stahlfeder gespannt, hielt Walter eine Rasierklinge. „Hier“, sagte er und ließ die Klinge mit hellem Singend in Svens Bett springen. „Nimm das und rede nicht immer nur davon. Tue es endlich auch einmal“. Damit drehte Walter sich um, ging zu seinem Bett und legte sich schlafen. Mein Bett, das als Stockbett über dem Bett von Sven war, erreichte man über eine kleine Leiter. Ich kletterte diese Leiter hoch, rückte mein Kissen zurecht und kroch unter meine Decke… Während der Nacht wurde ich wach und wollte zur Toilette. Schlaftrunken, sprang ich vom Bett auf den Boden hinab. Als meine Füße den Boden berührten, glitten sie unter mir weg und ich fiel. Verärgert, stand ich wieder auf und ging weiter zur Toilette. Danach kletterte ich die kleine Leiter wieder hoch, schlüpfte unter meine Decke und schlief weiter… Im Halbschlaf erreichten mich die ersten Geräusche eines beginnenden Gefängnisalltags. Die kleinen Räder der Essenwagen rappelten über die losen Bretter des alten Parkettfußbodens. Große Pötte voll Tee wurden hin und her gezogen. Bald ging das Licht in den Zellen an und ich erwachte. Verschlafen schlug ich meine Bettdecke zur Seite und erschrak. Ich war mit einem Schlage hellwach. Meine Bettdecke, das Bettlaken und vor allem meine Füße, waren voll rostrotem Blut. Hastig, untersuchte ich
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meine Füße. Sie waren voll Blut, schienen aber unverletzt. Da erinnerte ich mich meines nächtlichen Ganges zur Toilette und sah auf den Boden hinab. Aus dem Bette unter dem meinen, hing ein bleicher, magerer Arm mit einer klaffenden Wunde an der Innenseite des Handgelenks. Am Fußboden darunter lag, rotbraun und von augenscheinlich halbsolider Konsistenz, ein faustgroßer Klumpen geronnenen Blutes. Daneben, ein zweiter. Er war breitgetreten und eine blutige Fußspur führte davon zur Toilette und wieder zurück. Nun kamen auch Walter und Rudi aus ihren Betten und blickten erschrocken auf die blutige Bescherung zu ihren Füßen. Während der Nacht hatte Sven sich mit Walters Rasierklinge tiefe Schnittwunden an beiden Handgelenken zugefügt. Aber er hatte quer über die Handgelenke geschnitten und somit vielleicht einige Schaltkabel verletzt, aber sicher keine nennenswerten Blutgefäße. Eine Menge Blut hatte er dennoch verloren. Ermattet und mit bleichem, spitzem Gesicht, lag er in seinem Kissen und sah schuldbewusst in Walters vorwurfsvolle Augen. „Bei allen Göttern!“, rief Walter und warf in der Geste der Verzweiflung die Hände in die Höhe. „Der Kerl ist zu dämlich, sich das Leben zu nehmen“! In dem Moment knallten die Riegel der Zellentür, ein Schlüssel rappelte im Schloss und die Tür schwang zur Seite. Die Frühstücksausgabe hatte begonnen. Der Essenwagen mit Teetopf und Brotschnitten kam in Sicht, geschoben von zwei Hausarbeitern. Dahinter erschien ein Wachbeamter. Er stellte sich breitbeinig neben den Essenswagen und sah mit alkoholgeröteten Augen in unsere Zelle. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, blickte angewidert auf das Blut am Boden. „Was ist hier los!?“, rief er verärgert. Walter seufzte und wies mit einer Bewegung seines Kopfes zu Sven, der auf seiner Bettkante saß und heulte. „Dieser junge Mann hier”, erklärte Walter mit theatralischer Gebärde, „wollte sich das Leben nehmen und war zu dämlich dazu“. Der Beamte, der während Walters Erklärung verärgert dreinblickte, befahl einem Hausarbeiter, einen Eimer heißes Wasser und eine Dose voll Schmierseife zu holen. Als beides vor ihm stand, schöpfte der Beamte mit großer Pranke einen Klumpen Schmierseife aus der Dose, klatschte ihn in das heiße Wasser des Eimers
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und warf einen Putzlappen hinterher. Er stellte den dampfenden Eimer vor Svens Füße und befahl, „Hier. Wische dein Blut vom Boden! Aber flott“! Sven hob seine Hände, um seine Wunden zu zeigen und klagte, „Ich kann nicht. Ich bin verletzt“. Da packte der zornige Beamte ihn bei seinen mageren Armen, zerrte ihn von der Bettkante auf den Boden und tunkte seine Arme bis weit über die verletzten Handgelenke in das heiße Schmierseifenwasser. „Und jetzt sauber machen. Aber flott“! Rudi nahm unterdessen die Frühstücksrationen entgegen. Danach wurde die Zelle wieder verschlossen. Der rabiate Auftritt des Beamten hatte Sven sichtlich eingeschüchtert. Mit gesenktem Kopf kniete er am Boden, den Putzlappen in der Hand, und versuchte vergebens, das viele eingetrocknete Blut von den Bodenbrettern zu wischen. Wir standen erst ratlos daneben und sahen zu, wie das Blutrot seiner Wunden unter der ätzenden Einwirkung des heißen Schmierseifenwassers, zum Rosarot von Kirschblüten wurde. Schließlich sagte Rudi, „Jetzt hör schon auf und setz dich“, und zu Walter sagte er, „Mache dem Esel bitte eine starke Tasse Kaffee“. Danach holte Rudi einen Schrubber aus der Toilettenecke, nahm Eimer und Putzlappen zur Hand und begann den Boden vom eingetrockneten Blut zu reinigen. Die halbe Zelle setzte er dabei unter Wasser dabei und es dauerte nicht lange, bis von all dem vielen Blut keine Spur mehr zu sehen war. Sven wurde im Laufe des Vormittags zum Arzt geholt. Wenige Minuten später war er mit dick verbundenen Handgelenken wieder zurück. „Hat man deine Wunden genäht?“, wollte Walter wissen. Nein. Man hatte Svens Wunden nicht genäht. Nur gereinigt und verbunden hatte man sie. Hässliche Narben wird er deshalb von diesem Abenteuer übrig behalten, der kleine Sven. Breite wulstige, sein Leben lang sichtbare Narben. Am Nachmittag wurde Sven in den Normalvollzug des Nordflügels gebracht. Wir sahen ihn nie wieder. Nach diesem „schrecklichen Erlebnis“, so fand das Wachpersonal, sei es angebracht, uns vorläufig in Ruhe zu lassen und keine Neuzugänge mehr in unsere Zelle zu bringen. Dieser Vorsatz, sollte aber nicht lange anhalten…
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Sterben auf der Suchtstation Walter bastelte gerade an einer neuen Tauchsiederkonstruktion, einer lebensgefährlichen Konstruktion aus blanken Stromdrähten und Rasierklingen, und ich war gerade dabei, meine erste Schachpartie gegen Rudi zu gewinnen, als Walter plötzlich ausrief, „Mensch Leute! Gerade kommt mir eine großartige Idee! Über all dem Wirbel meiner Verhaftung hatte ich völlig vergessen, dass bei mir zuhause unter dem Treppenabsatz noch ein dickes Tablettenröhrchen voll Heroin liegt. Es liegt dort genau hinter Mutters Staubsauger und wie ich Mutter kenne, sie hat die Bude seit Jahren nicht gesaugt, liegt es da noch“. Walter legte einen Zeigefinger an seinen Mund, überlegte kurz und fuhr dann fort, „Angenommen, wir schrieben meiner Mutter einen Brief und erklärten ihr darin haargenau wo das Zeug liegt und wie sie es verpacken müsste um es während ihres nächsten Besuches unauffällig in meinen Hemdkragen zu stecken, ich wette, sie würde es tun. Stellt euch nur mal vor. Dann hätten wir in wenigen Tagen mehrere Gramm Heroin in unserer Zelle! Meine Mutter ist, nennen wir es, ein wenig einfach. Wir dürften ihr deshalb nicht gleich auf die Nase binden dass es sich dabei um Heroin handelt. Am besten wir erzählten ihr, es sei ein Pulver dass ich im Gefängnis für meine Verdauung bräuchte“. Zwei Tage später schmuggelte Rudis Anwalt den Brief an Walters Mutter an der Anstaltszensur vorbei, frankierte ihn und warf ihn unterwegs in einen Postkasten. In zehn Tagen wollte Walters Mutter wieder zu Besuch kommen. Ausgerechnet in den Tagen vor Mutters Besuch, betrat ein Neuzugang unsere Zelle. Robert, hieß dieser Neue. Er war zweiundzwanzig, klein und schmächtig, trug schulterlanges, blondes Haar und ein blasses Milchbärtchen am Kinn. Er sprach ein angenehmes Deutsch und gestikulierte dabei mit feingliedriger Hand zauberhafte Arabesken vor sich hin. Robert war ein aufgeweckter und angenehmer Zeitgenosse und uns Dreien auf Anhieb sympathisch. Rudi schwang sich auf den Zellentisch und vollzog das Tauchsiederritual und verwendete dazu Walters neue
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Tauchsiederkonstruktion. Diese Konstruktion bestand aus einem langen zweiadrigen Stromkabel, an dessen Drähten zwei Rasierklingen befestigt waren, getrennt durch ein Stück Holz. Damit alles gut zusammenhielt, war das Ganze mit Bindfaden umwickelt. Rudi befestigte die blanken Drähte des anderen Kabelendes an den 240 Volt Kontakten der Deckenlampe und ließ das mit Bindfaden umwickelte Bündel von Rasierklingen und Holz in eine Kanne voll Wasser fallen. Hallo! Das fauchte aber, knatterte und zischte! Blaue Funken regneten dabei von der Deckenlampe. Nicht lange, und das Wasser siedete und wir konnten Kaffee bereiten. Danach saßen wir um den Zellentisch, schlürften unser starkes heißes Getränk und machten uns miteinander bekannt. Robert saß, wie auch wir, wegen eines Betäubungsmitteldeliktes in Untersuchungshaft. Um seinen eigenen Bedarf zu decken hatte er auf den Straßen seiner Heimatstadt kleine Portionen Heroin vertrieben und war dabei festgenommen worden. Da Robert schon am nächsten Morgen in ein anderes Gefängnis gebracht werden sollte, würde er nur eine Nacht bei uns sein. Während wir um den Zellentisch saßen und uns allerlei zu erzählen hatten, dauerte es nicht lange und Robert, mit dem feinen Instinkt des Morphinbedürftigen, hatte Witterung von der Geschichte mit Walters Mutter. „Oh Mensch“, klagte er. „Und mich wollen sie morgen schon wieder von hier wegschaffen! Gibt es denn keine Möglichkeit, um noch einige Tage hier zu bleiben?“ Wir hätten dem sympathischen Robert gerne geholfen und so steckten wir die Köpfe zusammen und überlegten was man anstellen könnte, damit er noch eine zeitlang bei uns bliebe. Der Plan Mehrere Liter Kaffee wurden über dem Problem getrunken, Optionen erwogen und wieder verworfen, bis Rudi vorschlug, „Könntest du nicht irgendwie krank werden, oder wenigstens eine Krankheit vortäuschen? Wir sind hier immerhin in einer Krankenstation“. Walter meinte dazu, „Vielleicht könntest du richtig krank werden, oder dich verletzten? Dann ließe man dich vielleicht noch so lange hier bis du wieder hergestellt bist.
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Kürzlich hatten wir einen jungen Finnen in unserer Zelle der versucht hatte, seine Pulsadern zu öffnen. Er tat es aber nicht um noch länger hier zu bleiben, sondern im Gegenteil, um rascher weg zu kommen. Er hatte es allerdings auch ungeschickt angestellt und quer über seine Handgelenke geschnitten. Damit verletzte er vielleicht einige Schaltkabel, nicht aber die tiefer liegenden Blutschläuche. Man verband ihn und schaffte ihn noch am selben Tag in den Südflügel. Öffnetest du dir jetzt aber tatsächlich eine Pulsader, ließe man dich vielleicht noch so lange hier bis alles wieder verheilt ist“. Robert blickte auf. „Du meinst, ich sollte mir eine Pulsader öffnen“? Walter nickte. „Warum nicht“? Robert überlegte. Rudi und ich sahen Walter an und schwiegen. Das Verlangen von morphinbedürftigen Menschen nach Wohlbefinden und Gesundheit, kann überwältigend sein und auf gefährliche Wege führen. Es dauerte nicht lange bis Robert sagte, „Ist gut. Ich tue es. Es ist mir diesen Versuch wert. Allerdings kann ich euch jetzt schon versichern, alleine bringe ich das nicht zustande. Dazu fehlen mir einfach die nötigen Nerven“. Nach einigen Augenblicken der Stille stellte Robert die Frage, „Kann mir nicht einer von euch helfen? Könnte nicht einer von euch eine meiner Pulsadern öffnen“? Walter sah ihn an. „Willst du es auch wirklich“? Robert nickte. „Ja. Ganz gewiss“. Er drehte eine Zigarette, steckte sie an, nahm einen tiefen Zug und blies einige Rauchringe von sich. Danach sah er uns der Reihe nach an, bis Walter erklärte, „Ist gut Robert. Sei unbesorgt. Sobald heute Abend das Licht erlischt, werde ich dir nach allen Regeln der Kunst eine Pulsader öffnen“. Mit diesen wenigen Worten war über das Leben von Robert entschieden worden. Nur wusste zu diesem Zeitpunkt noch keiner etwas davon. „Ach ja“, bemerkte Walter. „Damit du auch ordentlich blutest und nicht alles gleich wieder gerinnt, schluckst du am besten dies hier. Ich bekam sie vor einigen Tagen von einem der Alkoholiker geschenkt“. Walter reichte Robert eine Tablettenpackung. „Sie verringern die Gerinnung deines Blutes. Am besten, du schluckst gleich die ganze Packung“. Robert öffnete die Medikamentenpackung und schluckte die enthaltenen zwanzig Tabletten. Nun, da die Frage entschieden war, wandten Rudi und Robert
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sich dem Schachspiel zu, ich spielte dabei den unerwünschten Dritten und Walter kroch in seine Koje und steckte die Nase in einige zerfledderte Magazine… Die Durchführung Als gegen zweiundzwanzig Uhr das Licht erlosch und nur noch die Suchscheinwerfer von draußen an der Mauer ein fahles Streulicht durch die vergitterten Fenster warfen, ging Walter zum Waschbecken und nahm eine Rasierklinge von der Ablage. Es war eine Klinge der Marke „Rekord“, eine billige Sorte, die es in der Haftanstalt umsonst gab. „Eine Wilkinson wäre mir lieber“, brummte Walter und zog den Gürtel aus seiner Hose. Er setzte sich auf seine Bettkante, klemmte ein Ende des Gürtels fest zwischen seine Knie, nahm das andere Ende am ausgestreckten Arm fest in die Hand und zog die billige Klinge am Leder des Gürtels auf und ab. „Das müsste genügen“, entschied Walter nach einer Weile und legte den Gürtel beiseite. Mit der geschärften Klinge in der Hand, trat er auf Robert zu. „Wir machen es in der Toilette“, erklärte er. „Dort kann man es auch am eindrucksvollsten gestalten. Damit die Soße schön an den Wänden hängt, schleuderst du am besten dein blutendes Handgelenk ordentlich umher. Vergiss auch nicht, dabei auch etwas Blut ins Wasser der Toilettenschüssel laufen zu lassen. Blut mit Wasser vermengt, macht sich immer gut. Es sieht grundsätzlich nach mehr aus“. Robert stand mit der Hand gegen die Tischplatte gelehnt und hörte aufmerksam zu. „Und während du in der Toilette fleißig blutest“, fuhr Walter fort, „werde ich eine Zigarette rauchen und danach noch eine und dann noch eine. Auf diese Weise lassen wir etwa fünfundvierzig Minuten verstreichen. Danach drücke ich den Alarmknopf, die Sanitäter werden kommen und dich verarzten“. Rudi und ich saßen unterdessen auf der Kante meines Bettes und lauschten gespannt… Wie Gespenster, sahen Walter und Robert aus, als sie schließlich im fahlen Streulicht der Scheinwerfer gemeinsam an uns vorüber gingen und
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im Toilettenverschlag verschwanden. Im engen Verschlag fragte Walter, „An welchem Handgelenk wollen wir schneiden“? Robert überlegte kurz und fand, „Ich bin Rechtshänder. Nimm also mein linkes“. Walter nahm Roberts linke Hand in die seine und drehte sie mit der Handfläche nach oben. Er setzte die Rasierklinge etwa fünfzehn Zentimeter oberhalb der Daumenwurzel an und drückte dabei so kräftig auf, dass die billige Klinge sich bog. Robert wandte sein Gesicht zur Wand und hielt den Atem an. Walter wartete gerade noch die Spanne zweier Herzschläge, dann zog er die gedrückte Klinge in einem Zug bis zur Daumenwurzel hinab. Ein Geräusch entstand dabei, als öffnete jemand einen Reißverschluss. Erst, geschah einen Augenblick lang gar nichts. Doch dann pulste Blut im Rhythmus von Roberts Herzschlag aus der Wunde hervor. „Jetzt kannst du deinem eigenen Herzschlag zusehen“, feixte Walter. „Schleudere nun schön den Arm umher, wie wir es besprochen hatten und blute alles schön voll. Ich rauche unterdessen die erste Zigarette“. „Hast du es getan?“, flüsterte ich, als Walter sich neben uns auf die Bettkante setzte. Walter zündete eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und antwortete, „Ja. Es ist ein guter gerader Schnitt geworden. Aber ein merkwürdiges Geräusch hatte es dabei gegeben“. „Ja“, flüsterte Rudi, sein Gesicht grün vom Streulicht der Scheinwerfer. „Ich habe es gehört. Es klang, als öffnete jemand einen Reißverschluss“... Walter drückte seine Kippe in den Aschenbecher, stand auf und ging zur Toilette. Walters Gerinnungshemmer hatten ihre Wirkung getan. Von allen Wänden troff Blut. Blut, hing sogar in Fäden von der Decke. Die Toilettenschüssel sah aus, als habe man darüber einen Ochsen geschlachtet. Als Robert Walter eintreten sah, setzte er sich auf den Rand der Toilettenschüssel und sah erschöpft zu ihm hoch. „Etwas übertrieben sieht das ja schon aus“, bemerkte er. Walter pfiff anerkennend durch die Zähne. „Etwas übertrieben, vielleicht. Dafür aber auch äußerst eindrucksvoll. Ich rauche jetzt die nächste Zigarette. Bleib du inzwischen ruhig so sitzen“.
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Walter setzte sich wieder zu uns. „Wie sieht es aus?“, wollte Rudi wissen. Walter zündete seine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, blies einen Rauchring von sich und meinte, „Seht es euch doch selbst an“. Rudi und ich erhoben uns und gingen zur Toilette, dicht aneinander gedrängt, wie verängstigte Kinder. Wir warfen nur einen kurzen Blick in den engen Verschlag und kehrten sofort wieder zu Walter zurück. Rudi war ein wenig blass geworden und ich musste mich beim Setzen stützen, da meine Knie so sehr zitterten. „Das sieht aber böse aus“, murmelte Rudi... Das Ergebnis Wir saßen noch eine Weile, rauchten und schwiegen. Draußen im Korridor des Zellentraktes und in den umliegenden Zellen war alles mäuschenstill. Schließlich warf Walter einen Blick auf seine Armbanduhr. „Jetzt blutet er schon eine geschlagene Stunde“. Walter drückte seine Zigarette in den Aschenbecher, stand auf, ging zur Zellentür und betätigte dort den Alarmknopf. Wurde dieser Alarmknopf betätigt, brannte draußen im Korridor über der Zellentür und auf einem Schaltbrett in der Wachstube am Ende des Ganges eine Signallampe, die den Wachhabenden alarmierte und auf die Nummer der betroffenen Zelle wies. Nachdem Walter den Alarmknopf betätigt hatte, setzten wir uns um den Zellentisch und lauschten auf nahende Schritte im Korridor. Doch diese Schritte blieben aus, alles blieb still und niemand kam. In dieser Nacht, saßen die diensthabenden Beamten nämlich nicht in ihrer Wachstube und so sahen sie auch keine brennenden Signallampen. Sie saßen vielmehr zwei Stockwerke tiefer, in der Kantine. Sie waren dort versackt, spielten Skat, tranken Bier und erzählten sich Anekdötchen aus ihren langen Dienstjahren. Inzwischen hing Robert schon kraftlos und leichenblass von der Toilettenschüssel und war kaum noch ansprechbar. Er wirkte schläfrig wie ein Betrunkener und öffnete kaum noch die Augen. Als er einige kraftlose Worte flüsterte, ging Walter neben ihm in die Hocke und legte sein Ohr an
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Roberts Mund. „Was sagt er?“, drängte Rudi. „Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Walter. „Ich glaube, er sagte, ihm sei kalt“… Immer mehr Zeit verrann und noch stets reagierte niemand auf den ausgelösten Alarm. Rudi riss ein Handtuch in Streifen und improvisierte damit einen Druckverband. Walter und ich schlugen unterdessen mit aller Kraft gegen die Zellentür, riefen, und veranstalteten möglichst viel Lärm. Auf diese Weise vergingen weitere zwei Stunden. Schließlich griff Walter zur Tischplatte. Sie war ihrem Untergestell nur aufgelegt und nicht daran befestigt. Mit einer Kante dieser Tischplatte schlug Walter mit solcher Kraft auf die Zellentür ein, dass ihre vier Zoll dicken und an der Innenseite mit Eisenblech beschlagenen Eichenbohlen zerbarsten. Zwischen dem Dröhnen von Walters Schlägen hörten wir draußen im Korridor endlich die ersehnten Schritte. Sie nahten im Laufschritt… Ein Schlüssel rappelt im Schloss und die Zellentüre wurde aufgestoßen. Von der Korridorbeleuchtung beschienen, standen vier erregte Wachbeamte in der Türöffnung und richteten die Strahlen ihrer Taschenlampen ins Zelleninnere. Zu ihren Füßen lagen lange Holzsplitter, die unter der Wucht von Walters Schlägen von der Tür gesprungen waren. Während zwei Beamte die offene Tür bewachten, führte Rudi die beiden anderen zur Toilette. Dort standen sie wie erstarrt und blickten entsetzt auf Robert, der gekrümmt vor der Toilettenschüssel in einer Lache von Blut am Boden lag. Über Funkgeräte riefen die Wachbeamten Sanitäter herbei. Wenig später kamen vier Sanitäter mit einer Trage den Korridor entlang gerannt. Sie legten Robert auf die Trage und eilten im Laufschritt mit ihm davon… Robert war weg und an Schlaf war gar nicht mehr zu denken. Also setzten wir uns um den Zellentisch und warteten auf Roberts Rückkehr. Wir warteten vergebens. Robert kam nie wieder. Sein Herz versagte auf
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dem Wege zum Behandlungszimmer. Dort verstarb er unter den nervösen Händen der Sanitäter, die Nadel einer rettenden Infusion bereits im Arm… Die geborstene Zellentür wurde ausgewechselt. Einige Tage später spähte ich während des Hofganges in ein Fenster der Schreinerwerkstatt. Dort blickten die Schreiner gerade auf unsere geborstene Zellentür, schüttelten die Köpfe und rätselten, wie das wohl geschehen sein mochte…
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Die Strafzelle Wir hatten Walters Mutter zum wiederholten Male dazu bewegen können, ihrem Sohn während des Besuches eine Portion Heroin in den Hemdkragen zu stecken. An diesem Tage wollte sie wieder zu Besuch kommen. Doch ausgerechnet an diesem Morgen war ich zur Arbeit aufgefordert worden. Gab ich dieser Aufforderung nach, verlegte man mich auf der Stelle in den C-Flügel, wo die Arbeitstätigen lagen und vorbei wäre es, mit Mamas Heroin. Gab ich der Aufforderung nicht nach, so nannte man das „Arbeitsverweigerung“, wie der Wachbeamte erklärte, der in der Öffnung der Zellentür stand und bereits ungeduldig mit seinem Schlüsselbund klimperte. Arbeitsverweigerung brächte mich auf der Stelle für vierzehn Tage in die Strafzelle im Keller. Ich hatte folglich die Wahl zwischen einer Zelle im C-Flügel und der Strafzelle im Keller. Die Strafzelle im Keller war für Schmuggelware leichter zugänglich als die weit entfernten Zellen des C-Flügels. Ich musste mich entscheiden. Ich sah Walter an. Walter schwieg, schloss aber langsam die Augen, nickte leicht und öffnete sie wieder. Ich hatte verstanden. Seine Antwort war deutlich genug. Ich wies zu meinem Schrank, der mit Kaffee und Tabak gefüllt war, die Währung des Hauses, und sagte, „Nimm soviel du dazu benötigst“. Danach schlug ich dem Wachbeamten auf die Schulter und sagte, „Komm, wir gehen“. Überrumpelt von der Plötzlichkeit meines Entschlusses, fragte er überrascht, „Wohin?“ und ich antwortete, „Wohin wohl? Zur Strafzelle in den Keller natürlich…“. Doch so einfach war es auch wieder nicht, in die Strafzelle zu kommen. Erst musste man noch zum Gefängnisdirektor, der einen fragte, „Sie verweigern die Arbeit“? Ich bejahte. „Sie sind aber zur Arbeit verpflichtet“. „Ich weiß“, sagte ich. „Aber ihre Verpflichtung zur Arbeit verbirgt nur schlecht die Zwangsarbeit die dahinter steckt und Zwangsarbeit ist in unserem Lande verboten“. Dieser Gedanke war dem Direktor zu fremd und er weigerte sich, ihn auch nur in Betracht zu ziehen. Routiniert beschloss er,
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„Dann müssen sie für zwei Wochen in die Strafzelle“. Ich nickte ergeben. Erst nach diesem Ritual wurde ich in den Keller zu den Strafzellen geführt. Für einfache Geister sei erklärt, verstieß man in einem Gefängnis gegen die Vorschriften, konnte man dafür nicht ins Gefängnis geworfen werden. Dort war man immerhin schon. Für solche Fälle ward die Strafzelle erfunden… Die Grundmaße der Strafzelle waren dieselben wie die einer Einzellzelle des gewöhnlichen „modernen Strafvollzugs“. Das bedeutete, viereinhalb Schritte lang und gerade so breit, dass man mit dem Ellenbogen eines angewinkelten Armes eine Seite berührte und mit den Fingerspitzen des ausgestreckten anderen Armes die andere Seite. In der Mitte stand ein Betonklotz, etwa sechzig Zentimeter hoch, siebzig cm breit und einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter lang. Darauf lag eine alte vergilbte Matratze, gefüllt mit uralten, trockenen und knisternden Algen, Seegras, wie es auch genannt wurde. Nach Tabak schmachtende Gefangene rauchten gelegentlich davon. Auf der Matratze lag eine alte braune Wolldecke. Sie musste schon lange dort gelegen haben, denn sie trug das Abbild eines Reichsadlers, der finster blickend, einen Lorbeerkranz mit Hakenkreuz in den Klauen hielt. An der Wand stand ein kleiner grober Holztisch, darunter, ein Schemel. In der Ecke rechts der Tür, stand eine Toilettenschüssel ohne Brille und ohne sichtbaren Spülkasten. Der Spülkasten war in die Wand eingearbeitet. Eine elektrische Klingel musste betätigt werden, damit jemand kam und ihn von draußen betätigte. Neben der Toilettenschüssel hingen ein kleines Handwaschbecken und darüber ein handtellergroßer polierter Blechspiegel. An der Schmalseite des Raumes, der Tür gegenüber, befand sich anstelle eines Fensters nur eine kleine Metallklappe in der Größe einer Zigarettenpackung. Sie diente der Frischluftzufuhr… Wer glaubte, man könne sich gleich nach Betreten der Strafzelle entspannt auf der knisternden Seegrasmatratze ausstrecken, der irrte. Erst musste noch der Arzt kommen um einen zu untersuchen, ob man
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gesundheitlich auch befähigt war, zwei Wochen unter verschärften Haftbedingungen zu überstehen. Danach musste noch der Anstaltspfaffe erscheinen, der nirgendwo fehlen durfte, wo Macht zum Ausdruck kam. Den jungen Arzt ließ ich gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich wiege momentan fünfundsiebzig Kilo“, sagte ich zu ihm. „Sollte ich während meines Aufenthaltes in diesem Loch auch nur ein Pfund abnehmen, mache ich sie persönlich dafür strafrechtlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung verantwortlich“. Der Arzt erschrak. Bleich, wandte er sich an einen Wachbeamten und befahl, „Dieser Gefangene erhält täglich doppelte Rationen“. Kaum war der Arzt weg, erschien der Pfaffe. Ich kannte die Strafvollzugsordnung und wusste daher, jedem Gefangenen standen die Gegenstände zur Ausübung seiner Religion zu. „Ich bin Mohammedaner“, erklärte ich dem Pfaffen. „Ich wünsche zur Ausübung meiner Religion einen Koran in deutscher Sprache, einen Gebetsteppich und einen Kompass“. Hatte der Pfaffe schon bei den ersten beiden Artikeln die Augen verdreht, so war ihm beim letzten der Mund aufgegangen. „Einen Kompass?“, fragte er erstaunt. „Aber ja“, sagte ich. „Einen Kompass. Oder können sie mir so auf Anhieb sagen wo genau Osten und somit Mekka liegt?“ Nein, das konnte er nicht, und so machte er sich in aller Demut auf den Weg, die erwünschten Gegenstände zu besorgen... Kaum war der Pfaffe weg, musste ich aus der Zelle in den Korridor treten und alle Kleidung ablegen. Man wuschelte durch meine Haare, guckte in meinen Mund, in meine Ohren, unter die Arme, zwischen die Zehen und in den Arsch, ob ich nicht vielleicht irgendwo eine Panzerfaust verborgen hatte. „Bücken! Backen spreizen!“, befahl der Wachbeamte. Ich gehorchte. Der Wachbeamte klemmte eine kleine leuchtende Halogenstablampe zwischen seine Zähne und ging hinter mir in die Hocke. „Wenn du jetzt scharf hinsiehst“, empfahl ich, „siehst du meine Mandeln“. Danach bekam ich einen frisch gewaschenen Overall und durfte wieder in
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die Strafzelle zurück. Kaum war hinter mir die Tür verschlossen worden, sah ich mir die vergilbte Seegrasmatratze der Zelle etwas genauer an. Links, am Kopfende, war die Naht ein wenig geöffnet. Nicht viel, aber doch weit genug um einen kleinen Finger ins Matratzeninnere zu wurmen. Durch das vergilbte Matratzentuch befühlte ich die Stelle wo die Öffnung sich befand. Gut verborgen zwischen Strähnen trockenen Seegrases, fühlte ich einen kleinen länglichen Gegenstand. Ich fummelte ihn aus der Matratze und hielt einen Tropfer in der Hand, an dem mit Klebestreifen der stählerne Teil einer Injektionsnadel befestigt war. So weit hatte es also geklappt, dachte ich. Hab Dank, Walter. Was diese Aktion an Tabak und Kaffee gekostet haben mochte, wollte ich mir gar nicht erst vorstellen. Nach weiterem Tasten und Stöbern im Seegras fand ich noch etwas Tabak und ein Feuerzeug. Zigarettenblättchen allerdings, fand ich keine. Walter wird doch nicht so dämlich sein, Zigarettenblättchen zu vergessen? Vielleicht waren sie aber auch nur während des Transportes irgendwo hängen geblieben oder verloren gegangen. Kaum hatte ich die Sachen gut wieder im Seegras der Matratze verstaut, als die Kostklappe an der Zellentür geöffnet wurde und der schweißnasse Kopf des Pfaffen erschien. Sichtlich erschöpft versicherte er, alles, aber auch alles habe er versucht, um meine Wünsche zu erfüllen. Am Ende habe er aber doch nicht mehr weiter gewusst. Woher solle er auch einen Koran in Deutscher Sprache nehmen, einen Gebetsteppich und einen Kompass? Er habe aber, quasi als Ersatz, eine Bibel mitgebracht. Nicht etwa irgendeine Bibel, oh nein, weit gefehlt. Es war eine Kirchenbibel und es handelte sich sogar, wie Hochwürden mit Nachdruck versicherte, um die Kirchenbibel seiner eigenen Pfarrkirche. Es war jedenfalls eine ungeheure Bibel, die er schließlich durch eine etwas zu kleine Kostklappe würgte. Damit, so bat er, möge ich vorlieb nehmen. Die monströse Bibel war größer als ein Telefonbuch und sicher eine Handbreit dick. Sie hatte zwei barock verzierte Messingschnallen, die mit einem Schlüsselchen verschließbar waren. Dass es sich bei dem Ungetüm
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tatsächlich um die Bibel aus einer katholischen Kirche handelte, war nicht zu bezweifeln. Man roch es nur allzu deutlich. Diese Bibel befand sich noch keine fünf Minuten in meiner Strafzelle und schon roch es überall nach Weihrauch. Durch das jahrelange Liegen in einer katholischen Kirche, wo tagtäglich die kannibalistischen Riten dieser Leute praktiziert wurden, mit Blut, Menschenfleisch und Räucherwerk, war das gute Stück regelrecht mit Weihrauch imprägniert worden. Weihrauchgeruch hing in jeder Faser dieser Bibel und bald auch in jeder, aber auch jeder Ecke meiner Strafzelle… Als gegen zweiundzwanzig Uhr das Licht erlosch, wartete ich noch etwa eine Stunde um sicher zu gehen, dass man mich in Ruhe ließ. Erst dann, holte ich Tabak und Feuerzeug aus der Matratze. Für die fehlenden Zigarettenblättchen hatte ich bereits Ersatz gefunden. Gefangene in ähnlicher Situation drehten, des dünnen Papiers wegen, ihre Zigaretten oft aus Anklageschriften, Haftbefehlen oder Gerichtsschreiben. Ich dagegen drehte die meinen aus den Seiten meiner famosen Bibel. Kaum ein anderes Buch hatte so dünnes Papier wie Bibeln. Fachleute, wie etwa Buchbinder, nannten sehr dünnes Papier dann auch nicht umsonst „Bibelpapier“… Nie hätte ich gedacht dass ich jemals vor der Gewissensfrage stünde, drehte ich meine Zigaretten nun mit Papier des Alten- oder doch besser mit dem des Neuen Testaments? Diese Frage gewann an Gewicht, bedachte man, sie ermöglichte es, ein Leben lang wahrheitsgemäß darauf hinzuweisen, man habe diesen oder jenen Teil der Bibel nicht nur gelesen, man habe ihn sogar einverleibt, inhaliert, ja, regelrecht in sich aufgenommen… Als getaufter Christ entschied ich mich am Ende dann doch für das Neue Testament. Die Briefe der Apostel rauchte ich nicht. Sie schmeckten gewiss auch fade. Die abgedrehten Offenbarungen des Johannes rauchte man besser auch nicht. Gott alleine mochte wissen, in welchem Zustand
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man sich danach befand. Puritanisch, hielt ich mich schließlich streng an die Evangelien. Durch den vielen Weihrauch im Papier, gewannen meine Selbstgedrehten etwas Orientalisches. Ihr Geruch ließ an Räucherstäbchen denken, an Zimbelklänge und an rhythmisch sich windende verschleierte Weiber in verdunkelten Beduinenzelten. Bei der dritten Zigarette hatte ich den Eindruck, ich sei stoned geworden und hörte bereits Stimmen. Bei näherem Hinhören ergab sich, die Stimmen waren echt. Die Jungs aus der Zelle über der meinen riefen nach mir… Walter, so erfuhr ich von ihnen, hatte ein Päckchen abgegeben, dass sie mir zukommen lassen wollten. Dazu müsste ich nur die Lüftungsklappe der Strafzelle öffnen, hörte ich sie erklären, und den Bindfaden ergreifen, der davor hin und her schwang. Ich lugte mit einem Auge durch die geöffnete Klappe und sah den Bindfaden. Ich ergriff ihn mit Zeige- und Mittelfinger wie mit einer Pinzette und zog ihn zu mir herein. Am Ende des Bindfadens hingen fünf in Stanniol verpackten Filterzigaretten. Das konnte doch nicht alles sein, dachte ich, oder? Vorsichtig fühlte ich über die Zigaretten. Gewicht und Konsistenz von zweien schien nicht identisch mit Gewicht und Konsistenz gewöhnlicher Filterzigaretten. Sie waren härter und wogen schwerer... Im Schein des wenigen Lichts, das von den Scheinwerfern draußen an der Gefängnismauer durch die Lüftungsluke drang, breitete ich das Stanniol, in dem die Zigaretten verpackt waren, auf dem Bett aus. Ich hielt eine der auffälligen Zigaretten darüber und riss sie der Länge nach auf. Feines helles Pulver rieselte daraus hervor. Ich riss die zweite auf und auch sie barg, unter einem anfänglichen Stöpsel gewöhnlichen Tabaks, feines Pulver. Ich benetzte die Spitze meines Zeigefingers mit etwas Speichel, tupfte mit dem feuchten Finger auf das Pulver und führte ihn zum Mund. Sofort verbreitete sich in meiner Mundhöhle der bittere Geschmack von potentem Heroin. Etwa drei Gramm Heroin lagen vor mir auf dem Bett. Hab Dank, Walter. Die Jungs von oben riefen erneut und wieder schwang
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ein Bindfaden vor meiner Luke. Diesmal hingen zwei Fingerlinge voll Tabak daran, aber keine Blättchen. Was wohl in Walters Kopf vorging? Doch das mit den Fingerlingen hatte er gut bedacht. Fingerlinge waren unentbehrlich, wollte man unter meinen Umständen Waren gut und trocken verbergen. Für die Unwissenden sei erklärt, ein Fingerling ist wie ein Kondom für Finger, kleiner als ein gewöhnlicher Kondom und von dickerem Gummi. Fummelten Ärzte ihren Patienten aus medizinischen Gründen im Arsch, trugen sie dabei einen Fingerling. Fummelten sie zum reinen Vergnügen, ließen sie den Fingerling weg… Das Essbesteck in dieser Strafzelle bestand aus einem Metalllöffel mit Kunststoffgriff und Gabel und Messer aus Kunststoff. Ich hatte Glück, dass wenigstens der Löffel von Metall war. Wäre auch er von Kunststoff gewesen, müsste ich das Pulver schnupfen oder auf dem vielleicht löchrigen Stanniol von Walters Päckchen in Lösung bringen... Manche mögen schon vom Injizieren mit einem Tropfer gehört oder gelesen haben. Ich glaube Bill, der Amerikaner, schrieb darüber. Man umwickelt das stumpfe Ende der Nadel mit einem Streifen feuchten Zigarettenpapiers oder Toilettenpapiers, damit ein papierener Konus entsteht. Mit diesem Konus voran, pfropft man die Nadel in die Öffnung des Tropfers. Mit Tropfer zu injizieren ist in aller Regel einfach. Da Tropfer aber nicht viel Lösung fassen, sollte man nicht zu hoch dosiert sein. Ist man es doch, erfordert es unter Umständen mehrere aufeinander folgende Injektionen. Man benötigt ein wenig Geschick, aber man hat den Dreh rasch raus. Man hält den gefüllten Tropfer mit der Nadel nach oben und quetscht das Gummibällchen zwischen Daumen und Zeigefinger platt. Während man nach einer Vene stochert, hält man das Bällchen gedrückt. Will man prüfen ob man auf Blut gestoßen ist, verringert man den Druck auf das Bällchen ein wenig. Schießt dabei Blut in den Tropfer, ist man am Ziel. Danach drückt man das Bällchen mehrmals, bis man redlicherweise
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annehmen kann, dass sich nur noch Blut und kein Molekül Heroin mehr im Tropfer befindet... Im Dunkeln eine Vene zu finden, ist kein Problem. Man kann Venen, die man nicht sieht, ertasten. Ist es zu finster oder liegen Venen zu tief unter der Haut oder sind sie auch einfach nur zu klein um sichtbar zu sein, findet man sie durch leichten prüfenden Druck mit der Fingerspitze. Gewebe, unter dem sich eine Vene verbirgt, federt rascher wieder nach oben. Im Dunkeln eine Vene zu finden ist folglich nicht schwer. Die Kunst besteht darin, sie mit einer Nadel zu treffen. Auf Blut zu stoßen war und blieb ein magisches Erlebnis. Schön, wie rotes Blut in den Tropfer schoss, einen Augenblick lang starr und gerade blieb wie ein Faden, im nächsten Moment auseinander faserte wie Wolle, um am Ende wie eine Blüte den Tropfer zu füllen. Hinterher rauchte ich noch einige mit Bibelpapier gedrehte Zigaretten und verstaute danach alles wieder gut im Seegras der Matratze. Ein weiser Entschluss, wie sich am nächsten Morgen zeigen sollte… Am nächsten Morgen wurde ich, noch vor der Frühstücksausgabe, aus der Strafzelle geholt. Im Korridor musste ich meinen Overall ausziehen und wurde erneut untersucht. „Bücken! Backen spreizen“! Diesmal erzählte ich dem Wachbeamten, der mit seiner brennenden Stablampe zwischen den Zähnen hinter mir kauerte, „Heute hat mein Arschloch etwas Spirituelles. Siehst du es lange genug an, erkennst du dich selbst“. Unterdessen durchsuchten drei Wachbeamte die Strafzelle und fanden nichts. Heroin und Tropfer trug ich, im Fingerling wasserdicht verpackt, tief im Arsch. Tabak und Feuerzeug waren so gut im Seegras der Matratze verborgen, man müsste die ganze Matratze der Länge nach aufschlitzten, wollte man es finden… Als ich hinterher die Strafzelle wieder betrat und die Tür hinter mir verschlossen worden war, fand ich einige Glasscherben auf dem kleinen
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Sims unter der Lüftungsluke, die vor der Durchsuchung der Strafzelle mit Sicherheit noch nicht dort gelegen hatten. Offenbar spielten die uniformierten Schelme der Wachmannschaft ein Spiel mit meinem Leben. Vermutlich hatten sie schon untereinander Wetten abgeschlossen, ob ich im Laufe der zwei Wochen in diesem Loch Selbstmord beginge und wie lange es bis dahin dauerte…. Zwei Tage später war erneut Zellenkontrolle. Als ich diesmal die Zelle wieder betrat, machte mich einer der Wachbeamten auf ein gewinkeltes Rohrstück aufmerksam, dass knapp unter der Decke aus einer Wand kam und nach einem Bogen von neunzig Grad in der anderen wieder verschwand. „Nimmt man seinen Overall als Strick“, erklärte der Wachbeamte und wies mit dem Finger zum Rohrstück hoch, „kann man sich daran gut erhängen“. Es war ein Spiel dieser Leute. Sie langweilten sich und wünschten ein wenig mehr Pfeffer in ihr fades Leben, selbst sei es auf Kosten des Lebens anderer Leute. Es waren eben einfache Geister, die in solchen Gefängnissen Dienst taten… Als ich wenige Tage später, nach einer erneuten Zellenkontrolle und Leibesvisitation im Gang, wieder in die Strafzelle kam, lag dort, wo zuvor die Glasscherben gelegen hatten, eine brandneue Rasierklinge. Sie gaben offenbar nicht so rasch auf, die Jungs vom Amt… Als die zwei Wochen vorüber waren, gab ich dem Pfaffen die dünner gewordene Bibel zurück. Der Arzt kam und fand, ich hatte während der beiden Wochen sechs Pfund zugenommen. Als ich die Strafzelle verlassen sollte, blieb ich störrisch auf die Seegrasmatratze sitzen, schüttelte entschlossen den Kopf und sagte„Ich gehe hier nicht raus“. Die Wachbeamten sahen einander an. Einer brummte, „Wie, du gehst nicht raus“? „Wozu soll ich raus gehen?“, fragte ich. „Ihr belästigt mich doch nur wieder mit Arbeit und da ich sie wieder verweigern würde, steckt ihr mich doch wieder vierzehn Tage in diese Strafzelle. Deshalb bleibe ich
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doch besser gleich hier“. „SOFORT RAUS!“ brüllten die Wachbeamten im Chor. Sie stürzten in die Strafzelle und warfen sich auf mich. Ich widersetzte mich so gut ich konnte. Ich strampelte, schrie, biss und spukte und schlug um mich, aber es half nichts. Zu viert zerrten sie mich schließlich an Haaren, Armen und Beinen aus der Zelle in den Gang hinaus. Kurz danach war ich wieder bei Walter in der Gemeinschaftszelle. Wieder unter Menschen, erfuhr ich, der Chef der Wachabteilung der Strafzellen im Keller, der Mann also, dessen Untergebene so eifrig meinen Selbstmord herbei gesehnt hatten, war tot. Er hatte Selbstmord begangen. In den Zeitungen hatte zwar gestanden, er habe sich beim Rasieren tödlich verletzt, aber wie alle seine Kollegen zu berichten wussten, hatte er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Ich fragte mich, wäre der Mann noch am Leben, wenn ihm und seinen Untergebenen gelungen wäre, mich in den Selbstmord zu treiben? Hätte mein Tod genügt, seinem Leben wieder soviel Auftrieb zu geben, um es noch eine Weile zu ertragen? Die Sklaventreiber kamen nicht schon am nächsten Morgen wieder, um mich mit Arbeit zu belästigen. Drei Tage lang sah und hörte ich nichts von ihnen. Doch dann wurde ich morgens gegen sechs Uhr aus der Zelle geholt und mit einem Einzeltransport im Streifenwagen der Polizei in ein anderes Gefängnis gebracht. Dort hoffte man, mit den richtigen Methoden doch noch einen gehorsamen Bürger, einen willigen Fließbandsklaven, aus mir zu machen…
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Albert Kriton, mein Freund, sind nicht letztlich wir selbst es, die am Besten wissen, was gut für uns ist? Sokrates
Wir hatten auf den Simsen der beiden Zellenfenster, jenseits des Gitters und auf der „freien Seite“, Schlingen aus Bindfäden ausgelegt, einige Brotkrümel dazu gestreut und gehofft, Tauben damit zu fangen. Eine geschlagene Stunde hatten wir schon mit hochgelegten Beinen um den Zellentischgesessen, schweigend geraucht und immer wieder zu den Zellenfenstern hoch geschielt, ob sich dort nicht bald etwas finge... Plötzlich unterbrach Manfred die Stille indem er rief, „Leute, könnt ihr euch Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße vorstellen? Ich versichere euch, kein Mensch bei seinem vollen Verstande fräße freiwillig Gehirn mit Rührei Kümmel und Tomatensoße“. Jochen und ich sahen einander verwundert an, bis ich schließlich fragte, „Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße?! Wovon, in Teufelsnamen, sprichst du nur?“ „Na ja“, erwiderte Manfred, „Von Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße eben“! Manfred steckte eine krumme Selbstgedrehte in seinen Mund und fügte hinzu während er erregt darauf kaute, „Das hatten sie uns damals, drüben im Osten, immer zu fressen gegeben“. Manfred kramte eine zerknüllte Streichholzschachtel aus seiner Hosentasche, zündete seine Zigarette an und fuhr fort, „Und ich sage euch, Leute, keiner von uns fraß das Zeug jemals freiwillig. Man konnte es im Grunde genommen gar nicht zu den Nahrungsmitteln zählen. Stellt euch doch nur vor wie das aussieht, schwabbelige Stücke grau zerkochten Schweinegehirns, dampfend noch und nach Tod stinkend, mit fahlgelbem, halbgeronnenem Hühnerei verrührt, blutrote Tomatensoße darüber gegossen, und, als reichte das alles noch nicht, zu allem Überfluss auch
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noch mit Kümmel überstreut, wie mit winzigen Stücken Kacke“! Jochen und ich sahen uns an und versuchten, es uns vorzustellen. Bilder aus Manfreds Erzählungen, von seiner Zeit, „drüben“, wo er acht Jahre wegen versuchter Republikflucht gesessen hatte, stiegen in mir empor… Plötzlich ertönte vom Zellenfenster her das Geräusch wild schlagender Flügel. Erschrocken, sahen wir alle gleichzeitig zu den Zellenfenstern hoch. Eine Taube, groß wie ein Suppenhuhn und weiß wie Schnee, hatte sich dort in unseren Schlingen verfangen. Mit heftigen Flügelschlägen versuchte der Vogel, sich wieder daraus zu befreien. Seine Federn, stiebten dabei in die Runde, während Manfred erblasste. Wie in Trance, sank er von seinem Stuhl auf die Knie und stammelte, „Es ist so weit, Leute. Seht, es ist endlich so weit“. Mit verdrehten Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war, wies er auf die Taube am Fenstersims und Speichel troff von seinem Kinn als er verkündete, „Die weiße Taube, so seht doch hin, sie ist Jesus Christus der gekommen ist, um uns alle zu befreien“! Manfred war in der Haftanstalt schon wegen seiner religiösen Ausbrüche bekannt. Nicht umsonst nannte jeder ihn den Heiligen Manni. Mit klappernden Kiefern und Schaumbällchen in den Mundwinkeln, sprang der Heilige Manni vom Boden hoch. Wirren Blicks, stürzte er sich auf Jochen, packte ihn beim Kragen, beutelte ihn wild hin und her und schrie ihm dabei ins Gesicht, „Der Pfaffe! Wir müssen sofort den Anstaltspfaffen herbeirufen. Der muss sich das ansehen. Der muss mit Jesus sprechen! Der muss ihn bitten, uns sofort hier raus zu lassen! Das ist seine Pflicht! Sein Job! Dafür wird er bezahlt! Oh Gott, wird der sich freuen! Kommt, lasset uns gemeinsam beten“! In diesem Moment erlosch das Licht in der Zelle und wir waren mit einem Schlage in Dunkel getaucht. Es war zweiundzwanzig Uhr geworden. Die Nachtruhe hatte begonnen… Die Taube, inzwischen mit ihrem Los als Gefangene versöhnt, saß ruhig auf dem Fenstersims, pickte verdrossen nach einigen Brotkrumen und sah gelegentlich mit einer Mischung aus Neugier und, wie mir schien, einer
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gehörigen Portion Abscheu zu uns herein. Mit dem Versprechen beruhigt, wir würden gleich am nächsten Morgen den Anstaltspfaffen herbeirufen, ließ Der Heilige Manni sich problemlos zu Bett legen. Es dauerte nicht lange und auch Jochen und ich legten uns nieder. Bald danach schnarchten Jochen und Der Heilige Manni und nur ich lag noch mit beunruhigenden Gedanken an morgen wach. Morgen, sollte nämlich meine Gerichtsverhandlung stattfinden und die Höchststrafe, die auf meinem Delikte stand, belief sich immerhin auf fünfzehn Jahre. Kommissare der Partei behaupteten, nicht nur hätte ich hochpotente Arzneimittel hergestellt und vertrieben und damit das Monopol mächtiger Gruppen gebrochen, ich hätte auch, und das wöge am schwersten, einem weltumspannenden Netz mächtiger Leute zuwidergehandelt, die beabsichtigten, den Fortbestand ihrer Art durch die Beeinflussung des humangenetischen Pools und der Vernichtung anderer Menschenarten zu fördern. Keine geringen Vorwürfe, bedachte man, dass ich erst fünfundzwanzig war und mit fünfundzwanzig dauerten fünfzehn Jahre immerhin länger als ein halbes Leben. Ob Manfreds Jesus so lange meine Hand hielte und mir die Zeit vertriebe? In der Asservatenkammer, im Keller des vierstöckigen Zellenbaus, legte ich die Gefängniskleidung ab und schlüpfte in meine bürgerlichen Klamotten. Wie eng sie doch geworden waren, nach all den Monaten Untätigkeit und Gefängniskost und wie muffig sie rochen, durch die Atmosphäre dieser Asservatenkammer, in der schon seit über zweihundertfünfzig Jahren Kleidung und Gegenstände von Gefangenen aufbewahrt wurden… Im Gefängnishof stand ein vergitterter Kleinbus bereit, der mich zum Inquisitionspalast bringen sollte. Fahrer und Beifahrer, beide mit goldenem Parteiabzeichen, trugen ihre Pistolentaschen geöffnet. „Wenn du zu fliehen versuchst“, sagte einer der beiden und ließ dabei das Magazin seiner Pistole spielerisch ein- und aus schnappen, „dann schieße ich dir in den Rücken, vergiss das nicht...“. Tot, oder den Rest meines Lebens
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querschnittsgelähmt im Rollstuhl, dachte ich, und sah dem Kerl in die Augen. Nichts, aber auch gar nichts, blickte daraus zurück. Der Kopf hinter diesen Augen schien leer wie ein durchgepustetes Hühnerei. Von allen Hornochsen, die man zu praktischen Zwecken mit Schusswaffen ausstattete, waren gerade solche leeren Eierköpfe am gefährlichsten, dachten sie doch weder vor noch nach ihrer Tat über die Folgen nach und versuchten höchstens noch, sich ihrer zu rühmen… Wie seltsam doch, selbst nach nur wenigen Monaten der Gefangenschaft, freie Menschen auf freien Straßen zu sehen, Verkehrsampeln und Autoverkehr. Menschen auf Bürgersteigen oder im Begriffe, Straßen zu überqueren. Teils stille, in sich gekehrte, graue und gebeugte, teils fröhliche, lärmende und bunte Menschen. Graue und Bunte, Junge und Alte, aber alle frei, frei zu gehen wohin sie wollen, ohne Mauern, ohne verschlossene Türen und vor allem ohne bewaffnete Parteifunktionäre die auf sie schössen, wollten sie woanders hin… Während ich rauchend die Aussicht genas, fuhr der Bus zügig durch die Innenstadt und bald erschien in der Ferne auch schon die drohende Silhouette des Inquisitionspalastes. Es war ein großflächiger Bau aus nacktem Beton, an dem auch nicht ein Pinselstrich Farbe verwendet worden war. Fenster, waren auf Anhieb keine zu sehen, dafür aber schmale Schlitze, die sich in jedem Stockwerk wie Schießscharten um das gesamte Gebäude zogen. Die kleinen schillernden Flächen darin, die man nur bei genauerem Hinsehen erkannte, waren die eigentlichen Fenster. Dieses Gebäude sah wie ein Luftschutzbunker aus und es bestand kein Zweifel dass jene, die es erbauten, sich vor irgendetwas fürchteten. Wie oft hatte ich nicht schon Leuten zugehört, die sich abfällig über die „megalomanische Architektur des III Reiches“ ausließen? Alles schön und gut, Leute. Alles schön und gut. Aber hier versuchte man bereits wieder, die Bevölkerung mit Droharchitektur einzuschüchtern und kein Hahn kräht danach!
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Die Einfahrt für Angeklagte befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Lautlos, glitt ein grau gestrichenes, elektronisch gesteuertes Stahltor zur Seite und ließ uns auf einen schattigen Hof. Dort wurden wir von drei uniformierten Sicherheitsfunktionären empfangen. Maschinenpistolen, die an Ledergurten von ihren Schulten hingen, baumelten leger vor ihren Bäuchen. Meine Begleiter übergaben ihnen die Überstellungspapiere. Einer der Drei nahm sie entgegen und blätterte darin. Ein Zweiter trat von hinten an ihn heran, las über die Schulter seines Kollegen mit und strich dabei fast zärtlich mit dem Daumen über den Sicherungshebel seiner Maschinenpistole… Unterdessen betrachtete ich den Hof. Dunkelgrüne Moospolster und graugrüne Flechten wuchsen an vereinzelten Stellen der roten Backsteinmauer die den Hof umgab. Gelbe Strähnen verdorrten Grases hingen aus einigen Fugen und an einer Stelle reckte gar ein Löwenzahn, seine Wurzeln hartnäckig im Mauerwerk verankert, seine goldgelbe Blüte geil dem Sonnenlicht entgegen. In vereinzelten Bäumen jenseits der Mauer, sangen die Vögel. Aus den hohen Ecken der Hofmauer blickten bläulich schillernde Kameralinsen stoisch auf mich herab. Irgendwo im Keller dieses Inquisitionspalastes, so stellte ich mir vor, saß in diesen Augenblicken ein unterbezahlter, schlecht ernährter, pickeliger junger Funktionär mit schlechten Zähnen und frühzeitiger Glatzenbildung. Während er auf einem seiner Monitore meine Bewegungen studierte, tickte er nervös mit dem zerkauten Ende eines billigen Kugelschreibers auf seine Tastatur und ärgerte sich dabei über ein Haar, das ihm währenddessen vom Kopfe fiel und spöttisch auf seine Arbeitsfläche niedersank. Fiele in diesen Augenblicken ein Haar von meinem Kopf, der junge Funktionär versähe es in Windeseile mit einer Kennziffer, katalogisierte es anhand Farbe und Struktur, analysierte seine Bestandteile, prüfte sie auf Rückstände verbotener Substanzen, extrahierte meinen genetischen Code und stellte
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die gewonnenen Erkenntnisse mit dem Druck einer Taste für immer und ewig dem weltumspannenden Datennetz der „WAG“ zur Verfügung. (WAG = Wir sind Alle so schrecklich Glücklich. Eine Partei die stets mehr Lebensbelange der Bürger unter ihre Kontrolle brachte.) Unterdessen erschnüffelten kunstfertig in die Mauer eingelassene Sensoren meinen Atem, analysierten ihn, zerlegten ihn in seine Bestandteile und schlossen daraus, noch bevor ich Gelegenheit hatte schützend den harmlosen Idioten einzublenden, nicht nur auf meinen gegenwärtigen Gemütszustand, sondern sogar auf den Grad meines Widerstandes gegen die Partei. Danach glitten die gewonnenen Erkenntnisse unauslöschlich und für jeden Parteifunktionär jederzeit abrufbar, ebenfalls in die Datenspeicher der „WAG“. Eine feuerfeste Stahltür führte in ein kühles, von verstaubten Neonröhren trübe beleuchtetes Wirrwarr von Korridoren. Die bewaffneten Funktionäre hatte ich im Hof zurückgelassen. Zurückgelassen hatte ich aber auch den begierig vom Sonnenlichte trinkenden Löwenzahn und die singenden Vögel in den Bäumen jenseits der Mauer. Wo ich mich jetzt befand, umgaben mich Zwielicht und Unsicherheit und bedrängten mich, wie schlechter Atem... Holzpritschen hingen entlang den Wänden der Wartezelle, eines kleinen, fensterlosen Raumes, tief in den Kellern des Inquisitionspalastes. Auf den Pritschen saßen Beschuldigte, rauchten, schwiegen und blickten stoisch auf ihre Schuhspitzen. Einige standen, einige liefen schweigend auf und ab. Kaum jemand sprach und die, welche sprachen, flüsterten. Zu sagen, gab es hier nicht mehr viel. Alles, was gesagt werden konnte, war in zahlreicher Variation so oft schon gesagt worden. An den Wänden der Wartezelle sah man Inschriften. Mit Schreibstiften hin gekritzelte, mit spitzen Gegenständen eingeritzte oder mit rußender Feuerzeugflamme hin geschwärzte Botschaften: „Hatte bereits zwölf Jahre. Bekam heute 14
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Jahre Nachschlag. Gehe mich anschließend erhängen. Tschüss. Kalle aus Augsburg“. Oder: „Wegen BtmG* zu 14 Jahren verurteilt. Wir sehen uns 2022 wieder. Tschüss. Atze“. Auch an zornigen Inschriften fehlte es nicht: „Wenn ich das dreckige Richterschwein zu packen kriege, reiße ich ihm die Eier vom Bauch und stopfe sie in sein stinkendes Maul“! Auch den Spruch, den man an solchen Orten immer wieder fand, stand auf diesen Wänden: „Ob sie uns lieben oder hassen, einmal müssen sie uns doch entlassen“. Wie man sich hierin täuschen konnte, stand gleich darunter: „Zweimal lebenslang mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sandra, sehe ich nie wieder. Tschüss ihr Arschlöcher. Schwabinger Dieter...“ . Ich war noch in die Inschriften vertieft, als hinter mir die Zellentüre geöffnet wurde und ein weiterer Beschuldigter eintrat. Erst war er unter den schlechten Lichtverhältnissen nicht zu erkennen. Als er aber näher trat erkannte ich, es war Albert, ein Kollege aus lange vergangenen Zeiten. Albert und ich hatten einst die Ärzte des Landes nach Betäubungsmittelrezepten abgegrast. Mit der „Roten Liste“, dem Arzneimittelindex der Republik unterm Arm, Landkarten, Stadtpläne und Adressenlisten niedergelassener Ärzte in den Rucksäcken, waren wir ausgezogen, weitgehend unwissend noch über die Schrecken des heraufdämmernden Terrors moderner Betäubungsmittelpolitik. Die Erfindung des gesellschaftlichen Phänomens einer „Drogensucht“, stand noch in den Kinderschuhen. Schweißnass und mit dem reißenden Hunger nach Opiat in den Eingeweiden, schmerzhaft nagend in jeder Zelle, fielen wir ein, entschlossen wie ausgehungerte Wölfe, in die Praxen niedergelassener Rezeptschmierer:.. „Bin auf der Durchreise, Herr Doktor. Handelsreisender, verstehen Sie? Staubsauger, müssen Sie wissen. Also, benötigten Sie jemals einen Staubsauger, Herr Doktor, ich könnte Ihnen Prozente geben, das glauben Sie nicht! Aber zur Sache. Ich kann nicht mehr arbeiten, Herr Doktor. Diese Rückenschmerzen sind nicht mehr zu ertragen. Eine alte Geschichte
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aus meiner Kindheit. Chronifiziert, verstehen Sie? Allgemeines Schmerzsyndrom. Hatte damals, ist ja schon so lange her, diesen furchtbaren Unfall auf dem Kinderkarussell. Seitdem habe ich, wie mein Orthopäde das so hübsch ausdrückt, „einige Wirbel im Arsch“. Ein sehr lustiger Mann, mein Orthopäde. Er sagt oft die komischsten Dinge. Doktor Seidel. Friedrich Seidl, aus Naumburg. Sie kennen ihn? Nein? Ein fabelhafter Mann. Allerdings auch nicht mehr der Jüngste. Nicht mehr zu operieren, Herr Doktor! Die gesamte Chirurgie des Landes hat mir bereits abgewunken. Selbst Professor Krokowski. Jawohl! Sogar der! Sie haben sicher schon von ihm gehört? Professor Krokowski? Deutschlands Chirurgenwunder Numero uno? Sogar der bedauerte zutiefst und empfahl, notfalls nach gut verträglichen Schmerzmitteln zu greifen. Und nun stellen Sie sich vor, Herr Doktor, hatte ich doch glatt mein Morphin im Hotel Zum Kühnen Knappen in Freiburg zurück gelassen und ich kann es auch nicht mehr holen gehen, verstehen Sie, weil ich laut Reiseplan schon heute Abend in Hannover sein muss. Die Fahrkarten sind seit Wochen bezahlt, das Hotel reserviert. Und gerade im Zug, Herr Doktor, wenn das dann so rüttelt, verstehen Sie, wenn das dann so wiegt und schaukelt! Dabei kriecht der Schmerz vom Arsch die Wirbelsäule hoch und über den Nacken direkt ins Gehirn. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Man kann nicht mehr stehen, nicht mehr sitzen, nicht mehr liegen, man möchte eigentlich nur noch sterben. Jawohl Herr Doktor, Morphinhydrochlorid Injektionslösung. Und, Herr Doktor, ich bin ein viel beschäftigter Mann, verstehen Sie? Ich kann nicht jeden Tag beim Arzt sitzen. Damit das Zeugs endlich auch einige Zeit vorhält, verschreiben Sie mir bitte gleich die große Familienpackung oder besser noch die Klinikpackung ...“. Zeigte ein Arzt beim Nennen des Wortes „Morphin“ auch nur die leisesten Anzeichen von Unruhe, man bekam mit der Zeit Gespür dafür, lenkten wir sofort ein: „Und all das wäre ja noch zu ertragen, Herr Doktor, gäbe es da nicht auch noch diesen furchtbaren Husten. Er beginnt immer erst gegen Abend, müssen Sie wissen. Tief in der Brust erst und flüssig,
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verstehen Sie, so richtiggehend brodelig, um dann immer trockener zu werden, bis es einem durch den ganzen Leib raspelt. Und das die ganze Nacht, bis in die frühen Morgenstunden! Kein Auge, kann man mehr zutun, verstehen Sie? Kein Auge! Und dabei muss ich doch morgens gleich wieder raus und ran an die Staubsauger! Die verkaufen sich nicht von alleine! Den Husten? Auch schon seit Jahren, Herr Doktor. Paracodin, Herr Doktor. Dehydrokodein*. Sie wissen, das einzig Wahre gegen Husten. Und, Herr Doktor, ich bin ein viel beschäftigter Mann und kann nicht jeden Tag beim Arzt sitzen, verstehen Sie? Verschreiben Sie mir deshalb gleich eine Familienpackung oder besser noch, die große Klinikpackung“… *Paracodin oder Dehydrocodein, wegen seiner geringen Potenz für die meisten Morphinbedürftigen ein fauler Kompromiss, aber besser noch als gar nichts und Entwöhnungssymptome in den Eingeweiden. Nicht selten verließen wir nach solchen Auftritten die Praxis mit Rezepten für beides, Morphinhydrochlorid Injektionslösung und Dehydrocodeintropfen...
Besuch bei bösartigen Ärzten: Man setzt sich vor den Schreibtisch des Arztes, legt die Hände in den Schoß und beginnt zu erzählen: „Ich fühle mich seit Tagen nicht mehr so richtig wohl, Herr Doktor. Ich habe ständig Fieber, meine Muskeln schmerzen, ich verspüre Übelkeit und dazu diese hämmernden Kopfschmerzen. Ich komme gerade aus Afrika, müssen Sie wissen. Namibia, um genau zu sein. Musste dort einige Kotproben dieser Elefantenherde untersuchen. Der lieben Statistik willen, Sie verstehen? Die Riesenhaufen, die diese Biester legen, können Sie sich gar nicht vorstellen! Dabei kam unser Trupp durch ein Dorf in dem diese furchtbare Krankheit wütete. Ich werde mich doch nicht mit dieser furchtbaren Krankheit angesteckt haben, Herr Doktor? Welche Krankheit ich meine? Ja, wie hieß sie doch gleich wieder? Etwas mit E. E..., E..., Ebi...? Ebi..., Ein merkwürdiges Wort, klingt fast wie ein Musikinstrument. Ach ja. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. EBOLA hieß diese furchtbare Krankheit“! An dieser Stelle hustet man dem Arzt ein halb zerkautes Stück roher, blutiger Kalbsleber auf den Schreibtisch. „Oh, das tut mir aber leid. Gott, wie
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peinlich! Bitte, gestatten Sie dass ich...“. Man beugt sich nach vorne, pflückt mit spitzen Fingern das blutige Stück Kalbsleber vom Schreibtisch, wischt mit dem Hemdsärmel ungeschickt über die verbliebenen Blutreste auf der Schreibtischplatte und bringt dabei sein Gesicht ganz nahe an das des Arztes heran. Man hustet dem Arzt ein wenig ins Gesicht und fragt besorgt, „Es wird doch nichts Ernstes sein, Herr Doktor, oder? - und weiter, in flehendem Ton, „Oder etwa doch, Herr Doktor“? Es war schon mehrere Jahre her, da Albert und ich uns das letzte Mal gesehen hatten. Albert begann sogleich zu erzählen. Die düsterere Beleuchtung der Wartezelle, ihre beschmierten Wände und die fatalistische, stille Ergebenheit der Anwesenden, gaben dazu die passende Kulisse. „Lang ist’s her“, begann Albert, „da wir das Land gemeinsam nach Rezepten abgeklappert hatten. Erinnerst du dich?“ Schon nach diesen wenigen Worten wurde mir deutlich, dieser Albert der hier vor mir stand, war nicht mehr der Albert den ich früher gekannt hatte. Er war stiller geworden, nachdenklicher, er sprach leiser, monotoner. Ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, fuhr Albert fort. „Kurz nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten, wurde ich wegen einer Dosis Heroin in meiner Hosentasche festgenommen und zu zwei Jahren verurteilt. Als ich wieder frei kam, hatte ich kein Dach über dem Kopf und kaum Geld in der Tasche. Du kennst das ja alles selbst. Die erste Nacht verbrachte ich in einer Absteige in der Schillerstraße, die Nacht darauf in einer Bar in der Dachauerstraße. Dort saß ich und sann nach, wie ich mit dem wenigen Geld dass ich hatte durch die Nacht kommen würde. Es war bereits November und schon bitterkalt. Da setzte ein Fremder sich neben mich. Er kenne mich, behauptete er nach einer Weile. Er sei zur selben Zeit im Knast von K. gesessen wie ich. Ich meinerseits, konnte mich allerdings absolut nicht an den Kerl erinnern. Aber ich sah auch keinen Anlass, ihm nicht zu glauben. Aus seinen Erzählungen ging jedenfalls hervor, dass er den Knast von K. kannte. So erwähnte er zum Beispiel Rudi, den Hundehausel und Ottoman, den Beamten der Schneiderei. Ihm ginge es
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wie mir, erzählte dieser Fremde. Auch er, sei erst kürzlich entlassen worden und auch er, habe kaum Geld in der Tasche. Vorläufig wohne er zwar noch bei einer Freundin, erzählte er, aber lange ginge das auch nicht mehr. Er lud mich zu einem Bier ein und während wir tranken, erwähnte er, er wisse einige Leute, die an einem Kauf von 1500 Gramm Heroin interessiert seien aber nicht wüssten, wie sie an solche Mengen kämen. Ich hatte noch die Telefonnummer von Karl im Gedächtnis. Du erinnerst dich an Karl? Dieser verrückte Österreicher mit dem dünnen Schnurrbärtchen und seiner Freundin, die er immer verprügelte sobald er geschäftliche Fehler machte und damit den Eindruck erweckte, sie sei an allem schuld? Ich rief also bei Karl an. Ich hatte Geld nötig, verstehst du? Karl war zuhause, aber er hatte gerade keine Ware zur Verfügung. Er versprach aber, noch im Laufe des kommenden Tages welche zu besorgen. Als der Handel am Abend des folgenden Tages stattfand, entpuppte sich mein angeblicher Knastkollege aus K. als Kommissar der Polizei und Karl und ich wurden festgenommen. Karl hatte die Schnauze gehalten und so erfuhren sie nie, von wem der Stoff eigentlich stammte. Am nächsten Morgen standen wir als geschnappte „Heroingroßhändler“ in allen Zeitungen und ich sogar als „Unverbesserlicher Rauschgiftgroßhändler“, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden war. Hätte es aber diesen schmierigen Kommissar nicht gegeben, hätte auch dieser Handel nie stattgefunden. So läuft das inzwischen schon landesweit. Ein beträchtlicher Teil der größeren Geschäfte, wird inzwischen von der Polizei selbst getätigt. Nur stellt man die nicht vor Gericht. Die werden höchstens befördert. So kam es also, dass ich am dritten Tage nach meiner Freilassung schon wieder in Untersuchungshaft saß. Und deshalb bin ich heute hier, mit dir, in dieser Wartezelle, und erwarte meinen nächsten Prozess. Damals, als wir die Tour mit den Ärzten abgezogen hatten, war ich auch gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, erinnerst du dich? Solange ich denken kann, gehe ich schon in Gefängnissen ein und aus. Dabei habe ich noch nie etwas verbrochen, noch nie jemandem etwas getan. Es ist immer nur, weil ich
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ohne Opiate nicht zu leben weiß...“. Hier endete Albert mit seiner Geschichte... Wie oft hatte ich nicht schon solche Geschichten gehört? War nicht auch ich schon in ähnlicher Weise in die Falle gegangen? Wie oft hatte ich mich nicht schon gefragt, wirkt sich unsere Drogenpolitik und das Betäubungsmittelgesetz samt der Betäubungsmittelrechtsprechung nicht weit verheerender auf unsere Gesellschaft aus als alle Betäubungsmittel zusammengenommen? In wie vielen Fällen reichte nicht schon der Besitz einiger harmloser Krümel getrockneter Hanfblüten, um die Zerstörung einer sozialen Existenz wenn nicht gar eines ganzen Lebens zu rechtfertigen? Wurden wir nicht so lange gezielt mit Schauergeschichten über „Drogen“ und „Drogensüchtige“ eingedeckt bis gerechtfertigt werden konnte, unangefochten in krimineller Weise gegen unbequeme Mitbürger vorzugehen? Aber wo kommen wir hin wenn wir zulassen dass unsere Gesetzeshüter Verbrechen begehen die sie eigentlich verhüten sollten und ihre schmutzigen Praktiken im Nachhinein auch noch schamlos als Grundlage kriminalistischer Erfolge präsentieren? Zu warten, bis die Polizei freiwillig von solchen kriminellen Praktiken absieht, ist freilich vergebens, schaffen sie doch Beförderungen, gute Gehälter, gesicherte Altersversorgung und schimmernde Auszeichnungen auf die geblähte Brust. Während ich noch darüber nachsann, schwang die Tür der Wartezelle auf und Alberts Name und der meine wurden aufgerufen. Wie es schien, fand Alberts Verhandlung etwa zum selben Zeitpunkt statt wie die meine… Vor der Tür der Wartezelle, im kühlen, schlecht beleuchteten Korridor, klemmten zwei Funktionäre Zangen an unsere Handgelenke. Eine Zange, für jene die es noch nicht wissen, ist ein stählernes Instrument in der Form einer Acht. Ein Ring dieser Acht lässt sich öffnen und wird um das Handgelenk eines Gefangenen geschlossen, während der andere Ring wie ein Griff fest in der Hand eines Funktionärs liegt, der mit einer kräftigen
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Drehung dieser Zange den kräftigsten Gefangenen vor Schmerz in die Knie zwingen, oder auch sein Handgelenk brechen kann... Mein Begleiter, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, war offenbar Rechtshänder. Er trug seine geöffnete Pistolentasche, bestückt mit einer Walther PPK, an seiner rechten Seite. Die Zange die mein linkes Handgelenk umschloss, hielt er fest in seiner Rechten. Alberts Begleiter war älter. Er mochte um die Achtundvierzig gewesen sein. Er war von schwerer Statur und offenbar Linkshänder, denn er trug seine geöffnete Pistolentasche an seiner linken Seite. Die Zange, die Alberts Rechte umschloss, hielt er in seiner Linken. Die Konstellation erinnerte mich daran, dass auch Albert Linkshänder war... Unter dem Hallen unserer Schritte, bogen wir in den schlecht beleuchteten Korridor ein, an dessen Ende sich die Aufzüge befanden, die zu den Sitzungssälen in den oberen Stockwerken führten. Albert sah mich an, kurz nur, aber eindringlich. Was folgte, geschah so rasch, dass man es kaum mit den Augen verfolgen konnte. Mit einer flinken Bewegung seiner Linken ergriff Albert die Pistole seines Begleiters, riss sie aus dem Futteral und zog mit einer einzigen fließenden Bewegung an seiner Hüfte den Schlitten der Pistole zurück und lud damit die Waffe durch. Eine Patrone sprang aus der Patronenkammer der Pistole. Sie funkelte kurz im Neonlicht und fiel danach mit dumpfem Geräusch zu Boden. Albert hob die durchgeladene Pistole an den Kopf seines Begleiters und drückte ab. Schreien, sollten wir alle! Lauthals kollektiv schreien, bis die willkürliche Kontrolle notwendiger Arzneien ein Ende nimmt! Der Schuss hallte gewaltig, in dieser viereckigen Röhre von Beton. Alberts Begleiter, von der Wucht des Einschlags einige Zentimeter vom Boden gehoben, schlug mit dem Kopf gegen die Wand und blieb dort einen Augenblick lang wie festgeklebt hängen. Dann rutschte er langsam, wie in Zeitlupe, zu Boden, zuckte, als wolle er sich nochmals erheben und
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blieb schließlich, die Beine gespreizt und die gebrochenen Augen zur Decke gerichtet, leblos liegen. Um seinen Kopf bildete sich eine stetig zunehmende schwarze Lache… Nachdem das Projektil den Schädel des Funktionärs durchschlagen hatte, war es mit nahezu unverminderter Wucht gegen die Wand des Korridors geprallt, wo es ein handtellergroßes Stück Beton heraus gefetzt hatte. Eine breiige, gelbgraue Masse hing an dieser Stelle, die von roten Schlieren durchzogen und mit kleinen, dunkelbraunen Flecken besprenkelt war. Träge, geriet die Masse in Bewegung. Sie glitt die Wand hinab, wurde zunehmend schneller und fiel schließlich mit einem schmatzenden Geräusch zu Boden. Der Anblick erinnerte mich plötzlich an Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße, wie Der Heiligen Mannie es beschrieben hatte. Und Teufel! Hatte er nicht Recht wenn er sagte, man könne es keinem Menschen zumuten...? Am Ende des Korridors kam, vom Lärm des Schusses alarmiert, ein junger Held in der Uniform niederrangiger Funktionäre um die Ecke gesprungen. Seine Pistole fest in beiden Händen, ließ er sich auf die Knie fallen und feuerte drei Mal in unsere Richtung. Erschrocken, griff ich meinen Begleiter bei den Haaren, ließ mich fallen und riss ihn mit zu Boden. Während wir am Boden lagen, unsere Arme ängstlich über unsere Köpfe gelegt, wurde Albert zwei Mal in die Brust getroffen. Von der Kraft der Einschläge nach hinten geworfen, taumelte er rückwärts, stürzte und blieb mit seinem Gesicht direkt vor dem meinen liegen. Erschüttert, blickte ich in seine Augen. ...lauthals kollektiv schreien, bis der Medikamententerror ein Ende nimmt…! - Albert wollte sprechen, doch anstatt Worte, kam nur ein Schwall Blut aus seinem Mund. Kurz darauf brachen seine Augen und er sprach nie wieder... Mein Prozess fand trotz dieses Vorfalles statt. Wie mein Anwalt mir noch vor Beginn der Veranstaltung zuflüsterte, sei das Gericht bereit,
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meinen Fall mit drei Jahren Haft milde zu beurteilen, vorausgesetzt ich erklärte mich bereit, nach meiner Haftentlassung im Untergrund deutscher Städte für die WAG zu operieren. Ich willigte ein, teils der drei Jahre wegen, teils aus Neugierde, teils aus Abenteuerlust. Da das Urteil bereits vor der Verhandlung feststand, verlief der Prozess wie ein Theater. Es wurde nur noch so in etwa der Strafprozessordnung genüge getan und ich bekam mein Urteil serviert. Im Namen des Volkes fielen, wie die Asche von einer Zigarre, drei Jahre von meinem Leben ab. Vor dieser heiligen Kuh muss man sich nicht mehr beugen. Dazu ist sie nicht mehr ehrbar genug. Sie ist zu korrupt geworden und betreibt zu viel des Viehhandels… In der hintersten Zuschauerreihe des Gerichtssaals, dort wo während der kalten Wintertage die Stadtstreicher saßen, die sich solche öffentlichen Veranstaltungen nicht entgehen ließen um sich kostenlos ein wenig zu wärmen, saß Kommissar Majnek. Er, der sich so viel Mühe gegeben hatte, mich zu überlisten. Er mied meinen Blick. Blass, sah er aus. Während der Urteilsverkündung hatte er ruckartig zu seinem Herzschrittmacher gegriffen. „Drei Jahre nur?!“, mochte er gedacht haben. „Nur drei Jahre!? Hängen, sollte man das Schwein...“! Blass und in sich gesunken, die Hand am schmerzenden Herzen, wurde ihm gerade bewusst, er war soeben dazu verurteilt worden, in absehbarer Zeit mit mir zusammenzuarbeiten… Zurück in der Haftanstalt erzählte ich den Jungs was vorgefallen war und ich versicherte dem Heiligen Manni das er Recht hatte wenn er sagte, Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße, kann man keinem Menschen zumuten…
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Der Unfall Mit zwei Kriminalbeamten auf den Fersen, war ich schon durch die gesamte Innenstadt gerannt, doch die beiden gaben nicht auf. Schließlich rannte ich in einen Fußgängertunnel des Ostbahnhofs und sprang eine Treppe hoch, die zu den Bahnsteigen führte. Dort stand ein Zug abfahrbereit. Kaum war ich eingestiegen, setzte er sich auch schon in Bewegung. Ich habe sie abgehängt, dachte ich erleichtert, als ich die beiden durch die gläserne Füllung der Abteiltür auf mich zukommen sah. Verließe ich diesen Zug nicht auf der Stelle, ich säße in der Falle! Ich rannte zum Ende des Wagons und riss die Wagontüre auf. (Damals konnte man die Wagontüren fahrender Züge noch öffnen…) Ernüchtert, sah ich auf die Erde hinab, die unter mir dahin raste. Noch hatte der Zug seine Endgeschwindigkeit nicht erreicht, noch befand er sich in der Anfahrt. Ich sah keine andere Wahl. Jetzt oder nie, dachte ich, und trat entschlossen ins Freie. Anstatt mich am Wagon festzuhalten und eine Strecke weit mit dem fahrenden Zug mit zu laufen, war ich ausgestiegen als stünde der Zug still an einem Bahnsteig. Gemäß den Gesetzen der Physik hatte ich dabei dieselbe Geschwindigkeit wie der Zug. Meine Füße berührten die Erde, konnten aber nicht so rasch laufen wie ich mich nach vorne bewog und so stürzte ich nach vorne. Ich krümmte meinen Körper zum Ball und rollte auf den harten, scharfkantigen Granitbrocken des Gleisbettes dahin, bis ich von einem Stahlmast abrupt gebremst wurde… Ein Schädelbruch und eine ausgerenkte linke Schulter, waren das Resultat dieses Abenteuers. (...vom Triangelriss in meiner teuren Lederjacke ganz zu schweigen...) Aber sie hatten mich nicht zu fassen bekommen, die beiden Häscher eines faschistoiden Staates. Der Schädelbruch sollte rasch wieder geheilt sein und weiter keine Probleme mehr bereiten. Die ausgerenkte und bald wieder eingerenkte linke Schulter aber, sollte mich den Rest meines Lebens quälen. Von diesem Tag an sprang mein linker Oberarm nämlich schon bei geringen Anlässen aus dem
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Schultergelenk. Die aus alldem gewonnene Erkenntnis? Man steige nicht aus fahrenden Zügen... Jahre später befand ich mich in einer Gefängniszelle, die ursprünglich nur für eine Person gedacht, aber aus Platzmangel kurzerhand mit einem Stockbett zur Zweimannzelle umfunktioniert worden war. In dieser Zelle war es so eng, dass sich immer einer aufs Bett legen musste um den anderen vorbei zu lassen wenn der zur Toilette wollte. Die Toilette stand als nackte Schüssel ohne Brille und ohne Umwandung gleich neben der Zellentür. (Absatz1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt) Mieseste Zustände herrschten in den Gefängniszellen des „modernen deutschen Strafvollzugs“… Aus Langeweile balgten wir uns wie Katzen. Mit nassen Handtüchern bewaffnet, harte Knoten an den Enden, prügelten wir aufeinander ein. Wer die meisten Schläge landete, hatte gewonnen. Ich erfasste mit der Linken das Handtuch meines Gegners und der versuchte, es mir mit einem kräftigen Ruck wieder zu entreißen. Ich hielt aber fest und so riss sein Ruck nicht sein Handtuch aus meiner Hand, sondern meinen linken Arm aus dem Schultergelenk. Der plötzliche Schmerz war so heftig, dass ich für einige Sekunden in Schock geriet. Mir wurde schneeweiß vor Augen und mein Atem blieb weg. Um meinen Blutkreislauf zu stabilisieren, ging ich rasch in die Hocke und riss mein Maul auf um Luft zu bekommen, so weit es nur irgendwie auf wollte. Die Gelenkkugel meines Armes hing halb dort, wo eigentlich meine Achsel sein sollte und halb, wo meine Brust begann. Mein Zellenkollege drückte den Knopf des Zellenalarms. Kurz darauf erschien ein dicker Wachbeamter. „Den Arm ausgerenkt?“, murmelte er und trat auf mich zu. „Den renke ich dir gleich wieder ein“. “Noch einen Schritt weiter“, warnte ich, „und ich reiße dir die Eier vom Bauch“! Er begriff, ich war nicht in der Stimmung, an mir pfuschen zu lassen. Er beschloss, ich müsse ins Behandlungszimmer der Krankenstation gebracht
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werden. Das Behandlungszimmer befand sich aber im gegenüber liegenden Gebäudeflügel jenseits des Hofes. Liefe man durch den Gebäudekomplex, wäre es ein weiter Weg. Man beschloss deshalb, über den Hof zu laufen. Es war Winter und im Hof lag knietief der Schnee. Begleitet von drei Wachbeamten, barfuß und bekleidet nur mit einer blauen Arbeiterhose, stapfte ich durch den tiefen Schnee. Wir überquerten den geschichtsträchtigen Gefängnishof, in dem 1934 der Röhm Putsch, die „Nacht der langen Messer“, mit der Exekution der SA Führer und einiger Regimegegner sein Ende nahm. Da mein ausgerenkter Arm den aufrechten Gang verhinderte, lief ich gebeugt, wie der Glöckner von Notre Dame. Ein Wachbeamter fasste von hinten meinen Hosenbund. „Damit du nicht stürzt, falls du ohnmächtig wirst“. Im Behandlungszimmer wurden wir bereits vom Orthopäden der Anstalt und einigen Arzthelfern erwartet. Ich quälte mich auf den Behandlungstisch. Um die Muskulatur zu entspannen, wollte man mir eine Diazepaminjektion verabreichen. Man fand aber keine geeignete Vene. „Gib her das Ding“, sagte ich schließlich, nachdem ich schon mehrere stümperhafte Injektionsversuche zugelassen hatte. Ich fand die Vene, klein zwar, aber vorhanden, auf Anhieb. Danach murksten sie abwechselnd und gelegentlich sogar zu zweit oder zu dreien, um meinen Arm wieder an seine Stelle zu drehen. Sie zerrten, zogen, drehten und bogen, sie folterten mich geradezu, aber es wollte nicht gelingen, den vermaledeiten Arm wieder an seine Stelle zu renken. Unterdessen platzten vor lauter Schmerz schon bunte Sterne vor meinen Augen. Am Ende beschlossen sie, die Behandlung müsse unter Narkose in einem Krankenhaus geschehen… Nackt bis auf meine blaue Arbeiterhose, krumm wie ein Fragezeichen und benommen von Schmerz und Diazepam, fuhren sie mich, begleitet von zwei bewaffneten Wachbeamten, in einem vergitterten Kleinbus zum Krankenhaus. Trotz meines Zustandes, die krumme Haltung, die Benommenheit und der Schmerz, hatten sie auf Handschellen bestanden. Als ich zusammen mit meinen bewaffneten Begleitern das hell erleuchtete
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Krankenhaus betrat, schob man eine Frau auf einer Trage an uns vorüber. Gnädige Frau hatte sich das Handgelenkchen ausgerenkt. Jetzt war sie zwar wieder hergestellt, aber um ihren zarten Leib zu schonen ließ man sie nicht laufen, man rollte sie liegend zum bereitstehenden Fahrzeug. Hier wirst du wie ein Mensch behandelt, dachte ich erfreut, und nicht wie ein gefangenes Raubtier. Ich sah meiner Behandlung mit freudiger Erwartung entgegen... Krumm, halbnackt, blaugefroren, in Handschellen und kaum noch bei Bewusstsein, scheuchten meine beiden Musketiere mich durch die Krankenhauskorridore. In einem hell erleuchteten Raum wurden wir von vier Ärzten erwartet. Einer der Ärzte forderte, „Nehmen sie dem Mann die Handschellen ab“. Die Schergen jammerten, „Das dürfen wir nicht. Es verstößt gegen die Vorschriften“. „Nun“, beschloss der Arzt, „dann nehmen sie ihn wieder mit. In Handschellen, behandele ich meine Patienten nicht“. Gib’s ihnen, Doktor, dachte ich, gib es ihnen, diesen neuronalen Einzellern! Unter der Last des Dilemmas schwitzten die Musketiere ihre Uniformen voll. Sollten sie gegen die Vorschriften verstoßen und meine Handschellen abnehmen, oder sollten sie mich in Handschellen und unbehandelt wieder ins Gefängnis zurück bringen? Sie wagten keinen eigenen Entschluss zu fassen. Sie riefen im Gefängnis an und ließen sich die entsprechende Erlaubnis erteilen. Wieder quälte ich mich auf einen Behandlungstisch. Dabei musste ich sichtlich in Schmerzen gewesen sein, denn einer der Ärzte bat einen Kollegen, „Holen sie bitte fünfzig mg Morphin“. Doch das trieb die Musketiere wieder zum Einsatz. „Diesem Mann dürfen sie kein Morphin geben“, protestierten sie im Chor. Der Arzt sah die beiden an als betrachte er vergangene Meeresfrüchte. „Wieso darf ich das nicht“? Einer der beiden zweifelsohne Rückständigen nahm all seinen Mut zusammen und erklärte tapfer, „Dieser Mann ist rauschgiftsüchtig“. Interessiert, blickte der Arzt zu mir. Danach wandte er sich wieder an die beiden Schergen. „Überlassen sie das gefälligst mir. Wer glauben sie eigentlich, wer sie sind, mir in medizinischen
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Angelegenheiten Vorschriften zu machen“? Gib’s ihnen, Doc, dachte ich erfreut. Zeige den beiden neuronalen Versagern, wohin sie gehörten! Der Arzt trat zu mir. „Sie verwendeten früher Heroin“? Ich nickte. „In welchen Mengen?“, wollte der Arzt nun wissen. Aus dieser Frage schloss ich, je mehr ich angab, desto mehr würde er mir verabreichen, und so erklärte ich gelassen, „Zwischen fünfzehn und achtzehn Gramm pro Tag“. Der Arzt pfiff anerkennend durch seine Vorderzähne und sandte seinen Kollegen, der inzwischen schon mit einer Morphinspritze zurückgekehrt war, erneut los um mehr zu holen. Klasse, dachte ich, während ich auf meine Morphininjektion wartete. Jetzt ziehst du wenigstens noch etwas Vorteil aus diesem elenden Schlamassel... „Wir geben ihm am besten eine Kurznarkose“, hörte ich einen Arzt sagen. Ich vernahm etwas von „Brombarbital“ oder so ähnlich und sah, wie der Arzt eine Injektionsspritze füllte. Jetzt kam auch der Arzt mit der größeren Morphinladung wieder, in seiner Hand eine Spritze von viel versprechendem Format. Um endlich die ersehnte Injektion zu empfangen, breitete ich ergeben wie Jesus am Kreuz beide Arme aus. Der Arzt mit der Morphinspritze machte sich an meinem linken Arm zu schaffen, der mit der Narkosespritze an meinem rechten. Doch keiner der beiden fand eine brauchbare Vene. Nach mehreren ergebnislosen Injektionsversuchen resignierte der Arzt mit der Narkosespritze. „Mir reicht es“, verkündete er entschieden und erklärte, „Ich gehe in die Leistenvene“. Unterdessen befummelte der Arzt mit der Morphinspritze interessiert mein Handgelenk. Lieber Gott, betete ich insgeheim, lass den Mann bloß eine Vene finden. Ich werde danach auch immer ganz brav sein. „Hier haben wir ja eine“, rief der Arzt mit der Morphinspritze plötzlich und befingerte zärtlich meine Pulsschlagader. „Das ist aber die Pulsschlagader“, versuchte ich ihn zu warnen. „Und Pulsschlagadern sind bekanntlich Arterien und keine Venen“. Unterdessen versenkte der andere Arzt die überlange Nadel seiner Narkosespritze in meiner Leistengegend. „Aha!“, hörte ich ihn rufen. „Hier
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haben wir sie ja schon“! Er drückte den Kolben der Narkosespritze nieder und ich verlor mit einem Schlag das Bewusstsein... Als ich wieder zu mir kam, verspürte ich in meiner linken Hand starke brennende Schmerzen. Sie brannte als läge sie in glühenden Kohlen. Ich drehte meinen Kopf zur Seite um hinzusehen. Meine Hand war knallrot und um ein Vielfaches ihrer eigentlichen Größe angeschwollen. Sie sah aus wie ein roter, prall aufgepusteter Gummihandschuh! Sichtlich verzweifelt und mit beiden Händen, massierte der Arzt, der sich kurz zuvor mit der Morphinspritze abgemüht hatte, das geschwollene Ungetüm. „Sie haben das gute Morphin in die Pulsschlagader injiziert“, murmelte ich enttäuscht. „Dabei hatte ich sie extra noch gewarnt, dass sie an einer Arterie beschäftigt waren“, fügte ich vorwurfsvoll hinzu. „Oh!“, rief der Arzt daraufhin verwundert. „Und dabei geschieht dann dies? Das tut mir aber leid. Das wusste ich nicht. Ich bin nämlich nur Chirurg, müssen sie wissen. Sie wissen, was ein Chirurg ist? Ich schneide die Leute auf“, erläuterte der Versager allen Ernstes. „Vom Injizieren habe ich deshalb keine Ahnung, verstehen sie“? Genau das waren seine Worte. Erzähle ich diese Geschichte bei Gelegenheit, bemerke ich stets, man glaubt mir nicht. Und doch war es genau so geschehen, wie ich es hier beschrieben habe... Bevor ich vom Behandlungstisch steigen durfte, musste ich wieder in Handschellen gelegt werden. Niemand rollte mich auf einer Trage durch die Krankenhauskorridore zum wartenden Fahrzeug. Benommen von all dem Diazepam, der Barbitalnarkose, der versauten Morphininjektion, den Schmerzen und all den durchlittenen Strapazen, trieben sie mich durch die Gänge und hinaus in den tiefen Schnee und zum vergitterten Kleinbus. Als ich unterwegs im Schnee ausglitt und beinah stürzte, griffen meine geistig begabten Begleiter sofort zu ihren Schusswaffen. Sie dachten tatsächlich, ich sei noch in der Lage zu fliehen. Dabei war ich froh, gerade noch am Leben zu sein...
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Drei Wochen dauerte es, bis die Schwellung meiner Hand wieder so weit abgeklungen war, dass man sie wieder als eine halbwegs normale Hand bezeichnen konnte. Hätte ich den Pinsel verklagen sollen? Wollte man jedes Arschloch verklagen, das einem Schaden zufügt in seiner Dummheit, man verkehrte bis ins siebte Glied nur noch in Gerichtssälen. Mein Rat? Man sei auf der Hut vor Chirurgen!
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Quasimodo Quasimodo sah erbarmungswürdig aus. Eines seiner Beine war kürzer als das andere, wodurch er beim Gehen stets den Eindruck erweckte, er stiege mit jedem Schritt über ein Hindernis hinweg. Überdies hatte er einen Buckel von famosem Format. Als reichte das alles nicht, sah auch noch jedes seiner weit auseinander stehenden Augen zum äußersten Rand des breiten Gesichtes hin… Quasimodo galt in der Haftanstalt als das Ausstellungsstück des Wachbeamten Hofer. „Hier, seht ihn euch an!“, rief Hofer in den Arbeitssaal hinein, wenn er uns Quasimodo wieder als abschreckendes Beispiel vor Augen führte. „Ja! Seht nur hin! Das kommt von all dem Haschrauchen. So seht ihr auch bald aus, wenn ihr nicht aufhört mit dem Zeug“! Und Quasimodo stand daneben und lächelte, krumm wie ein Haken, schief auf sein längeres Bein gestützt, schwieg und glotzte umher mit seinen verqueren Augen wie ein katatonischer Frosch … Neuerdings rollte man im Arbeitssaal, in Akkordarbeit und für einige Pfennige pro hundert Stück, Kunststoffessbestecke in Papierservietten und schob sie in Pappkartonhüllen. Sie waren zur Mahlzeit während der Reise für Fluggäste der Lufthansa bestimmt. Quasimodo kam schließlich auf die Idee. Kaum vorgetragen, führte er sie auch schon aus. Er schnitt aus alten Zeitschriften bunte Buchstaben, nahm Kleister zur Hand und klebte auf eine der Papierservietten den bunten Schriftzug, „Achtung! Es befindet sich eine Bombe an Bord! Geraten Sie nicht in Panik. Bewahren Sie Ruhe und verständigen sie sofort den Flugkapitän“. Die beschriftete Serviette wickelte Quasimodo seelenruhig um einen Satz Kunststoffessbesteck, schob ihn in eine Pappkartonhülle und legte das Ganze in den Karton zu den fertigen Produkten…
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Quasimodo sah es als Scherz und wir auch. Die Piloten des Fluges Lufthansa 264 dagegen, sahen das etwas anders. Sie nahmen die Sache bitter ernst. Sie befanden sich gerade im Anflug auf Miami Florida, als eine völlig aufgelöste Stewardess in das Cockpit stürzte und dem Flugkapitän Quasimodos Botschaft überreichte... Der Flugkapitän zauderte keine Minute. Er informierte sofort den Tower des Flughafens Havanna Kuba, er brächte dort in weniger als acht Minuten eine Passagiermaschine mit zweihundertsechsunddreißig Passagieren und einer Bombe an Bord zur Notlandung. Man möge, so bat er, eine abseits gelegene Landebahn bereitstellen und mit allen Sicherheitsvorkehrungen versehen. Danach ließ überschüssigen Treibstoff aus den Tanks… Löschfahrzeuge und Sanitätsfahrzeuge fuhren mit kreischenden Reifen und heulenden Sirenen über den Asphalt des Flughafens Havanna und hin zur Landebahn D8, die man für alle Fälle mit einer Meter dicken Schaumschicht bedeckte… Während Wachbeamte Hofer wieder einen seiner abschreckenden Vorträge hielt, Quasimodo neben sich als abschreckendes Beispiel, kam über Havanna Kuba Lufthansa Flug 264 herbei getorkelt. Halb Havanna war in Alarmbereitschaft versetzt worden. Nach vollendeter Landung verließen alle Passagiere die Maschine über Notrutschen. Von Kopf bis Fuß mit Schaum bedeckt, wurden sie zu den bereitstehenden Ambulanzfahrzeugen geleitet, unter Sirenengeheul in umliegende Krankenhäuser gebracht und dort mit massiven Dosen von Diazepam ruhig gestellt. Am nächsten Morgen brachte man sie auf Kosten der Fluggesellschaft zwei Tage lang in einigen Nobelhotels der Insel unter… Unterdessen hatte man auf der Maschine, Lufthansa Flug 264, fieberhaft nach der verborgenen Bombe durchsucht und nichts gefunden. Am Ende ging der ganze Scherz mit einem Betrag von achtzigtausend Mark zu
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Lasten der Lufthansa. Dort wollte man die Angelegenheit nicht so ohne weiteres auf sich beruhen lassen. Man informierte die Kriminalpolizei und erstattete Anzeige gegen Unbekannt wegen groben Unfugs und Gefährdung des Flugverkehrs… Zwei Wochen dauerte es, bis die Polizei schließlich im Arbeitssaal eintraf. Wer diese Serviette gefertigt hatte, wollten sie wissen und legten eine bunt mit Buchstaben beklebte Papierserviette auf den Arbeitstisch. Quasimodo saß unterdessen mucksmäuschenstill und blass wie Weißbrot in der hintersten Ecke des Arbeitssaales, zog den Kopf zwischen die Schultern und guckte verquer. Wir wussten alle, wer diese Serviette gefertigt hatte, aber keiner sprach darüber. Ihre Herkunft blieb ein Rätsel. Die Lufthansa zog ihren Arbeitsauftrag zurück und bald steckten wir, anstatt Kunststoffbesteck in Pappkartonrollen, in Akkordarbeit und ebenfalls nur für wenige Pfennige pro hundert Stück, Playmobil Figuren zusammen. Quasimodo mochte krumm gewesen sein wie ein Haken, aber jeder mochte ihn, denn er war unerschöpflich in seinen Streichen…
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Frei? Ich ging auf das letzte Jahr meiner dreijährigen Gefängnisstrafe zu, als mir eröffnete wurde, dies letzte Jahr könne auf Bewährung ausgesetzt werden, so ich mich entschlösse, „freiwillig“* eine „Drogentherapie“ anzutreten. Mir schien es aber vernünftiger, meine Haftstrafe gänzlich abzusitzen. Doch es herrschte Zellenknappheit in unseren Gefängnissen, zuviel gab es von meiner Sorte. Deshalb begann man hinter meinem Rücken zu Klüngeln, an Rädchen zu drehen und an Hebeln zu ziehen, um mich dennoch irgendwie frühzeitig zu entlassen. Am Ende hatten sie mich regelrecht aus dem Gefängnis geworfen. Zuvor hatten die Füchse mir mit der Androhung langer Führungsaufsicht mit unerfüllbaren Auflagen aber doch noch das Versprechen abgerungen, mich direkt vom Gefängnistor direkt zu einer Therapiestätte nach Tiefstadt zu begeben… *Auf diese Weise förderte die Justiz unsinnige Einrichtungen. Man zwang hilflos und wehrlos gemachte Leute, sich "freiwillig" dafür zu entscheiden... Ich hielt nicht viel, um nicht zu sagen nichts, von „Drogentherapien“. In meinen Augen waren sie das selbst geschaffene Arbeitsfeld junger, arbeitsloser akademischer Taugenichtse, Psychologen, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt in Scharen aus unseren Hochschulen quollen. Abertausend Überhebliche mit schillernden Wahnvorstellungen von Weltverbesserung, drängten mit vereinten Kräften an den allgemeinen Schweinetrog und fanden zu ihrem Entsetzen, als ihnen dämmerte, sie müssten für ihren Lebensunterhalt sogar arbeiten, nichts als Wackersteine darin. In dieser Not erfanden sie sich den „Behandlungsbedürftigen Drogenabhängigen“ und begannen sofort, entweder an völlig verblödeten oder weitgehend hilflos gemachten jungen Menschen zweifelhafteste und unverantwortlichste soziale, pädagogische und psychologische Experimente durchzuführen. Dass sich daraus eine Erfolgsquote von fast 0% ergab, verstand sich von selbst. Doch das focht diese Leute nicht an. Sie hatten Blut geleckt und einfachen Broterwerb
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gewittert. Vor Volk und Behörden rechtfertigten sie ihr Versagen einfach mit der „mangelnden Motivation“ und der „schlechten Mitarbeit“ der Klientel. Ihr konnte leicht die Schuld zugeschoben werden, wehrlos wie sie bereits durch betäubungsmittelrechtliche Bedingungen gemacht worden war... Mein Aktenkoffer, gefüllt mit allem was sich zum Zeitpunkt meiner Festnahme darin befunden hatte, sterile und blutige Einmalspritzen, jede Menge bunter Tabletten, Barbiturate, Benzodiazepine, Methaqualon, eine schussbereite Gaspistole und zwei mittelalterliche Dolche zum rituellen Ermorden von Christenmenschen, war mir bei der Haftentlassung ausgehändigt worden. Diesen Koffer hatte ich bei mir, als ich am späten Nachmittag in der „Drogentherapiestätte“ Tiefstadt eintraf. Als ich ihn öffnete, sah das Personal die vielen bunten Tabletten und wollte sofort wissen, wie viele davon ich schon eingenommen hatte. „Oh“, antwortete ich gelassen. „Viele Tausende schon“! Aber das war es nicht, was man wissen wollte. Wie viele davon ich während meiner Reise vom Gefängnis zu dieser Therapiestätte eingenommen hatte, war gemeint. „Nicht eine“, erklärte ich wahrheitsgemäß. Aber man glaubte mir nicht, denn in den Lehrbüchern dieser Leute stand, „Drogenabhängige“, konnten Tabletten nicht widerstehen. Sie fraßen sie sozusagen zwanghaft. Sie lasen dumme Bücher, diese Leute, in die ich nicht passte. Was konnte ich dafür? Sie hatten ihr Wissen rund um den „Drogenkonsum“ nicht etwa, wie vernünftige Leute, vom „Drogenkonsum“, sondern feige aus ideologisch gefärbten Büchern, die geschrieben worden waren von albernen Menschen, die ihr Wissen ebenfalls aus solchen Büchern hatten, die wiederum geschrieben worden waren von Menschen die ihr Wissen ebenfalls aus dummen Büchern hatten usw. usw. Am Ende dieser Reihe saß dann vermutlich ein karrieresüchtiger Kokainist aus Wien, der sich den ganzen Unsinn aus purer Langeweile und Spaß an der Freud aus der pulververkrusteten Nase gezogen hatte...
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Das Aufnahmegespräch in der „Therapiestätte“ zu Tiefstadt war ein Fiasko. Eigentlich hätte man mich aufgrund dieses Aufnahmegesprächs gar nicht erst aufnehmen dürfen. So tat ich dabei beispielsweise unverhohlen meine Auffassung kund, Menschen die in Drogentherapien arbeiteten gehörten alle wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen vor Gericht. Man wollte sich aber gegenüber den Justizbehörden keine Blöße geben indem man mich wieder ins Gefängnis zurück sandte, hoffte man in Zukunft doch auf weitere lukrative Klienten aus Justizvollzugsanstalten. Deshalb war meine Aufnahme schon Tage vor meiner Ankunft und unabhängig vom Verlauf dieses albernen Aufnahmegespräches fest beschlossen worden…... Im Laufe des Tages lernte ich die anderen zwölf zu therapierenden „Drogenabhängigen“ kennen. Sie waren alle ebenfalls erst an diesem Tage eingetroffen. Zusammen bildeten wir, wie das genannt wurde, „eine Gruppe“. Wie mir schien, hatte keiner meiner „Mitpatienten“ einen IQ über 40. Auch hatte keiner von ihnen jemals Heroin verwendet und die Frage stand im Raum, ob sie das Wort überhaupt buchstabieren konnten. Sie alle waren aus obskursten Gründen zu „Drogenabhängigen“ erklärt worden. Vermutlich hatten einige die Initiative ergriffen und sich selbst dazu erklärt. Manche hatten Hanfprodukte geraucht und wähnten sich nun, ohne Hilfe von „Fachleuten“, auf immer und ewig dem Teufel „Rauschgift“ verfallen. (...die Früchte verblödender Staatspropaganda...) Andere hatten Apothekenstoff genascht, wie etwa Mutters Schlaf- und Beruhigungspillen aus dem kleinen Rotkreuzkästchen im Badezimmer. Oder sie hatten der halb bewusstlosen, an Krebs leidenden Großmutter die Opioidzäpfchen aus dem Arsch gestohlen und der alten Dame stattdessen listig aus Kernseife geschnitzte Zäpfchen untergejubelt… Schon während der ersten Stunden dämmerte mir, in diesem Verein bliebe ich gewiss nicht lange. In den Schlafräumen standen Betten, wie man sie in Krankenhäusern antraf. Sie sollten helfen die Lüge zu
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untermauern, wir seien alle krank weil wir staatlich verbotene Stoffe zu uns nahmen. Wie in anderen totalitären Staaten galt man auch hier als krank, hörte man nicht absolut auf die Diktate der Regierung. Nachdem ich zwei Jahre auf einer harten Gefängnispritsche geschlafen hatte, lag ich also nun in einem Hightech Krankenhausbett mit Rädern und Handgriffen, mit Haken für Pissflaschen und Kotzschüsseln und Hebel, die entweder nur das Kopf- oder Fußteil, oder das ganze Bett hoben oder senkten… Wir waren alle um einige Tische versammelt, als die Therapeuten erklärten, jeden Morgen müsse ein anderer von uns um sechs Uhr aufstehen um die Tische zu decken und das Frühstück aus der Küche zu holen. Die Faulpelze, von denen natürlich keiner früh aufstehen wollte, begannen sofort zu murren. Es schien genau die Reaktion zu sein, die von den Therapeuten mit Freude erwartet worden war. Doch ich warf einen Schraubenschlüssel in ihr gut geschmiertes Getriebe indem ich erklärte, ich übernähme diesen Frühstücksdienst freiwillig jeden Morgen. Ich kam immerhin aus einem Gefängnis und war früh aufstehen gewohnt. Nun zogen aber die Therapeuten lange Gesichter, hatten sie sich doch schon so darauf gefreut, die infantile Meute mit ihrem Frühstücksdienst zu terrorisieren und ihn dabei mit kluger Mine als „therapeutisch wertvoll“ zu verkaufen. Aber es half nichts. Ich erklärte die Angelegenheit zur beschlossenen Sache und fertig... Am ersten Abend meines Aufenthaltes saß ich zusammen mit den „Drogenabhängigen“ vor dem gemeinsamen Fernsehgerät und guckte Nachrichten. Man berichtete, jemand habe auf den Papst geschossen. Ein Attentat auf den Papst fand ich bemerkenswert. Ich sah mich nach der Reaktion meiner Kolleginnen und Kollegen um. Da ich an ihnen keine Reaktion feststellen konnte, rief ich in den Raum hinein, „Es wurde auf den Papst geschossen“! Erst entstand Stille. Dann fragte eine weibliche Stimme zaghaft, „Papst? Was ist das denn“?
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Nun behaupten „Therapeuten“ und andere Leute die von diesem Schwindel profitierten, „Drogen“ hätten diese Kinder so verblödet. Ich bezweifelte das sehr. Wäre dem so, wäre ich der Dümmste von allen. Ich vertrete eher die Auffassung, man hatte diesen Kindern mit Politik und stupider Schulbildung so sehr den Kopf vernebelt, dass sie sich am Rande des Schwachsinns befanden. Nein, nicht „Drogen“ hatten sie so verblödet, sondern die nie endenden Versuche, schon von Kindesbeinen an brauchbare und gehorsame Staats- und Industriesklaven aus ihnen zu machen. Dazu hinderte man sie in ungesunder Weise an ihrer freien, natürlichen Entfaltung, manipulierte sie weg vom gesunden Spiel und hin zur ungesunden Arbeit. Vielleicht sollten diese Kinder mehr „Drogen“ verwenden? Sie expandieren zumindest die Erfahrung und das Bewusstsein und zeigen solchen von Schulen und Staatspropaganda geistig abgewürgten Kindern, dass es noch mehr gibt, als ihre Welt in der Größe einer Erdnuss… Unserem Aufenthaltsraum gegenüber Im Gang, stand ein Coca-Cola Automat. Daraus durften wir aber nicht etwa Coca Cola ziehen, wie ein Therapeut mit mildem Lächeln und warnend erhobenem Zeigefinger erklärte. Es bestünde nämlich die Gefahr, wir „verlagerten“ unsere „Sucht“ und stiegen dadurch quasi von Heroin auf Coca Cola um. So stand es nun mal in den Lehrbüchern dieser Leute und sie glaubten solchen Quatsch. Sie waren nicht geboren, eigenständig zu denken, diese „Therapeuten“. Ihnen musste im Gewande einer Lehre befohlen werden, was sie zu tun und wie sie zu denken hatten. War ich mir bisher noch nicht so ganz im Klaren darüber, wo ich mich befand, so dämmerte es mir zunehmend deutlicher. Ich war in einer Klapsmühle gelandet, wo der Chefarzt aus experimentellen Gründen beschlossen hatte, die Rollen zu vertauschen. Er hatte gewöhnliche Leute, (genormte Dummköpfe aus der Bevölkerung) nicht ganz zu Unrecht, zu Irren erklärt und die komplett Irren zu Therapeuten...
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Seitdem ich aus dem Gefängnis war, gefiel es mir, gleich morgens, nach den Frühstücksaufgaben, ein wenig zu laufen. Ich rannte vom Gelände der Therapiestätte und über die Felder und Wiesen der Umgebung. Wieder zurück, weckte ich die Murmeltiere und der Tag begann. Als die Therapeuten davon erfuhren, guckten sie wie Schafe und steckten die Köpfe zusammen um eine Erklärung dafür zu finden. Es passte nämlich wieder nicht in das Schema vom „Drogenabhängigen“, wie sie es aus ihren klugen Büchern kannten. Dort stand nämlich, „Drogenabhängige“ seien faule, unsportliche Tiere. Am Ende retteten sie sich, indem sie hinter meinem Frühsport einen Ausdruck meiner „Sucht“ wähnten… Im Gefängnis hatte ich aus Langeweile und weil ich schlichtweg Spaß daran hatte, Goethes Faust der Tragödie erster Teil gelesen und auswendig gelernt. (Es braust das Meer in weiten Flüssen, vom tiefen Grund der Felsen auf, und Fels und Meer wird fortgerissen, im ewig schnellen Sphärenlauf…) Weil ich es nicht so rasch wieder vergessen wollte, saß ich manchmal nachmittags auf einer Bank im Garten und sprach das Werk leise vor mich hin. Auch davon erfuhren die Therapeuten. Anstatt sich nun zu freuen, dass sie einen intelligenten jungen Mann mit einem guten Gedächtnis und Gefallen an Deutschen Klassikern in ihrer Mitte hatten, wähnten sie auch hinter meiner Leidenschaft für Deutsche Klassiker und meiner Freude am Auswendiglernen einen Ausdruck meiner krankhaften „Sucht“… Während meiner Haftzeit hatte ich in der Anstaltsbuchbinderei gearbeitet und dort wertvolle alte Bände restauriert. Von den sechzig Mark im Monat, die ich damit verdiente, gab ich etwa zwei Drittel für Bücher aus. Ich las sie und band sie hinterher in Naturleder. Als ich das Gefängnis verließ hatte ich gebeten, man möge meine Bücherkiste in die Therapiestätte senden. Am dritten Tag meines Aufenthaltes traf diese Bücherkiste ein. Sie wurde sofort von den Therapeuten umringt und beschlagnahmt. Sie wüssten noch nicht, erklärten sie, welche dieser Bücher ich ihrer Ansicht
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nach haben durfte. Für mich kam allerdings gar nicht erst in Frage, dass mir Bücher vorenthalten wurden. Schließlich wollte ich nicht so enden wie der Rest meiner „Gruppe“. Da verfielen die Füchse auf eine List. Sie beschlossen, die „Gruppe“, also die geistig umnebelten Legastheniker, sollten darüber entscheiden, welche Bücher ich haben durfte. Es wurde beschlossen, noch an diesem Nachmittag sollte die lobotomierte Meute über meine Bücherkiste herfallen. Während meiner letzten Monate im Gefängnis war ich zu dem Schluss gelangt, ich rauchte zu viel. Ich hatte deshalb meinen Tabakkonsum von einem Päckchen Tabak pro Tag auf nur drei Zigaretten pro Tag reduziert. Diese drei Zigaretten rauchte ich aber alle schon gleich nach dem Frühstück. Eines Morgens, ich rauchte gerade die dritte und letzte Zigarette des Tages, schlenderte einer dieser Therapeuten mit brennender Zigarette auf mich zu und erklärte, „Du rauchst zu viel“. Sie fanden kein schlechtes Haar an mir, waren aber entschlossen, eines zu finden, selbst mussten sie es zuvor selbst fabrizieren. Immerhin mussten sie mich irgendwie in Einklang bringen mit dem Unsinn, der in ihren Lehrbüchern stand. Er rauche zwar auch nicht wenig, gab diese „Therapeut“ zu, aber im Gegensatz zu mir dürfe er das, denn er sei nicht „süchtig“, wie ich es sei. Der arme Mann hatte noch nicht begriffen, „Sucht“ und „süchtig“ waren keine medizinischen Begriffe oder gar Diagnosen. Es waren politische Schandwörter, Stigmata im medizinischen Mäntelchen, die dazu dienten, Verhalten zu verurteilen dass man nicht verstand oder missbilligte und um Menschen zu steuern und zu kontrollieren, die dem Staate nicht gehorchten… Zur Zensur meiner Bücher durch staatlich lobotomierte Kinder, ließ ich es an diesem Nachmittag gar nicht erst kommen. Ich versah meine Bücherkiste mit der Adresse einer Freundin in München, hinterließ etwas Geld für Porto und verabschiedete mich. Auf dem Wege zur Tür standen sie Spalier, die propagandistisch Verdummten und die therapeutisch
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Verdummenden. Ich richtete das Wort an die armen Teufel und sagte, „Euer Aufenthalt in dieser Therapiestätte wird euch nichts nützen. Er wird euch im Gegenteil noch schaden. Eure Verwirrung, eure Konzentrationsunfähigkeit und eure Orientierungslosigkeit, die verhindert dass ihr in der Schule lernt oder auch nur im Leben zurechtkommt, werden durch die Techniken dieser „Therapie“ nur noch zunehmen. Das Beste wäre, ihr verlasst diesen Laden gleich jetzt auf der Stelle zusammen mit mir“. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich sprach. Warum? Weil ich ein mitfühlender Esel war der die Wahrheit sprach und sich das Schicksal völlig fremder Lobotomierter zu Herzen nahm. Ein empfindsamer mitfühlender Dummkopf, der nicht schmerzfrei mit ansehen konnte, wie dumme hilfsbedürftige junge Menschen brutal belogen und missbraucht wurden. Drei der „Patienten“ fassten sich schließlich ein Herz und verließen zusammen mit mir diesen Affenstall. Ich trampte nach München und traf dort Vorkehrungen, die trotz meines „Therapieabbruches“ eine erneute Inhaftierung verhinderten. Das Fazit meiner Erfahrung mit der Therapiestätte? „Drogentherapien“ sind nichts weiter als politische Umerziehungslager für Unbequeme, eine repressive Maßnahme wie es sie auch in anderen faschistischen Staaten gibt. Nur funktioniert es in unserem kapitalistischen faschistoiden Lande etwas raffinierter. Man hat nämlich Dummköpfe gefunden, die für den Unsinn sogar bezahlen, indem man dafür die Rentenkassen plündert… Der Bewährungshelfer Man hatte mir zwar Bewährung gegeben und obendrein noch Führungsaufsicht, aber man hatte in der Hast mich loszuwerden versäumt, auch einen Bewährungshelfer zu benennen. Um meinen „Therapieabbruch“ in den Augen der Behörden glatt zu bügeln, suchte ich schließlich selbst nach einem. In der Goethestraße, unweit des Münchener Hauptbahnhofs, gab es ein Gebäude von dem ich wusste, es war vom Keller bis unters Dachgebälk angefüllt mit Büros von Bewährungshelfern. Dort ging ich hin. Irgendwo in den unteren Stockwerken öffnete ich eine
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Tür. In einem karg eingerichteten Büro saß an einem Schreibtisch, halb von einem Stapel Aktenordner verborgen, eine junge Frau. Sie blickte auf als ich eintrat und sah mir interessiert mit großen grünen Augen entgegen. „Guten Tag”, sagte ich. „Sie sind Bewährungshelferin“? Sie nickte. „Das trifft sich gut“, erklärte ich. „Ich bin nämlich ihr neuester Trabant“. „Proband“, korrigierte sie mich mit reizendem Lächeln. Hypnotisiert dachte ich, hier bist du richtig. Ich setzte mich und begann zu erzählen, „Mein Name ist K.“. Ich war schon mitten in meiner Geschichte, als sie mich unterbrach. „So funktioniert das leider nicht“, sagte sie. „Hier geht es nämlich nach Alphabet und die Namen meiner Probanden beginnen bei A und enden bei F. Ihr Name beginnt aber mit einem K“. „Tatsächlich?“, murmelte ich und riss meinen Blick von ihren langen übergeschlagenen Beinen los. „Schade. Das wäre sicher sehr reizend geworden“. „Die Büros meiner Kolleginnen und Kollegen die Buchstaben F bis K bearbeiten“, erklärte die junge Frau freundlich, „befinden sich im Stockwerk über uns…“. An den Wänden des schlecht beleuchteten Korridors hingen mit Reißnägel oder Klebestreifen befestigte Plakate. „Drogen? Nein danke!“, stand auf einem zu lesen. Ein anderes zeigte einen grün illuminierten Totenkopf, der zwischen langen gelben Zähnen eine trompetenförmige Zigarette hielt. „Du machst dich kaputt“ stand darunter, „Und der Dealer macht Kasse“. Ob es wohl vor der Tabakindustrie und ihren Produkten warnte? Es waren die typischen hetzerischen Propagandaplakate der siebziger Jahre, mit denen Leuten vorgelogen wurde, Cannabisprodukte seien tödlich und Leute, die unten an der Straßenecke mikroskopische Mengen davon verkauften, wurden unermesslich reich dadurch. Es war der alte primitive Neidfaktor, der hier Verwendung fand. Benötigte man verärgerte und entrüstete Bürger, stachelte man ihren Neid an und quälte sie mit dem Gedanken, der Nachbar arbeite zwar weniger als sie, habe aber trotzdem mehr Geld zur Verfügung. Plakate, auf dem sportliche, durchtrainierte und schwer bewaffnete Polizisten rücksichtslos ersichtlich
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kranke junge Menschen zu Tode hetzten, sah man keine, in diesem Korridor... Ich öffnete die Tür zu einem weiteren Büro, ein karg eingerichteter Raum mit Stuhl, Schreibtisch, grauem Aktenschrank von Blech und Hutständer. Über dem Schreibtisch hing ein Poster von Lech Walesa, schnurrbärtig und zuversichtlich in die Zukunft blickend. Daneben hing eine Antikernkraftreklame mit grün fluoreszierenden Skeletten. Man bekam es mit der Angst zu tun, vergegenwärtigte man sich, welcher Grad an Intelligenz die Designer solcher Plakate dem Betrachter unterstellten. Ein junger Mann sprang hinter seinem Schreibtisch auf, als er mich eintreten sah. Dabei blieb er an einem Kabel hängen und riss eine Kaffeemaschine zu Boden, die hinter ihm auf einem Fensterbrett gestanden hatte. Heißer Kaffee floss über den Schreibtisch und sickerte in einige Aktenordner. Die Kaffeekanne zerschellte klirrend am Boden. Hier bist du auch nicht verkehrt, dachte ich und blickte auf das Chaos. Ich grüßte, fegte mit dem Handrücken einige Kaffeespritzer von einem Stuhl, setzte mich und begann erneut mit meiner Geschichte. Ich schloss mit den Worten, „…Und sie sind ab jetzt also mein neuer Bewährungshelfer“. Nach einer Pause fügte ich hinzu, „Ich sähe es allerdings gerne, wenn sie nicht so steif dasäßen und sich grundsätzlich etwas lockerer gäben“. Ich blickte auf die Scherben der zerbrochenen Kaffeekanne am Boden. „Und springen Sie vor allem nicht gleich so unkontrolliert auf, sobald ich ihr Büro betrete“. Herbert Streitfuss, hieß mein frisch gebackener Bewährungshelfer. Herbert war neu in der Bewährungshelferbranche. Ich war sein erster Proband. „Das trifft sich ausgezeichnet“, erklärte ich, als ich das erfuhr. „Verlassen sie sich ganz auf mich. Ich habe jede Menge Erfahrung mit Kriminellen und werde Sie schon einarbeiten, in das Bewährungshelferfach“. Herbert freute es ungemein, als ersten Probanden gleich einen erfahrenen Mann zu bekommen. Er war der Meinung, wir beide bildeten ein gutes Team. „Aber sicher doch“, stimmte ich ihm bei. „Davon bin ich überzeugt.
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Seien Sie unbesorgt und überlassen Sie alles nur getrost mir, dann kann gar nichts schief gehen“. Herbert rief bei meinem Richter an und meldete, er sei ab sofort mein Bewährungshelfer. „Herr K.“, so hörte ich Herbert sagen, „macht einen sehr vernünftigen Eindruck. Er scheint stark motiviert zu sein, ein neues Leben zu beginnen“. Ich hatte mich bereits wieder verabschiedet und war fast schon zur Tür hinaus, als Herbert noch hinter mir her rief, „Und einmal die Woche bei mir melden“! „Aber ja doch“, rief ich zurück und war zur Tür hinaus... Die Pension Ein Verein der Haftentlassenenhilfe erklärte sich bereit, für zwei Wochen die Kosten einer Pension zu tragen. Danach, so ließ man mich wissen, sei ich auf mich alleine gestellt. Suchte man nach einer klassischen schäbigen Absteige als Kulisse für einen mittelmäßigen Gangsterfilm, böte die Pension Enzian in der Lessingstraße sich an. Eine knarrende Holztreppe, zusammengehalten überwiegend von Staub und Bohnerwachs, wandte sich vom Empfangstresen im Erdgeschoss zu den Zimmern in den oberen Stockwerken. Hinter dem Empfangstresen stand eine hochschwangere junge Frau, die einen steten Geruch nach sauren Gurken verströmte. Sie schrieb meinen Namen in das Gästebuch. „Polizeiliche Vorschrift“, erklärte sie, als sie bemerkte, dass ich beim Nennen meines Namens zögerte. „Sie machen hier auch Ausweiskontrollen“, fügte sie hinzu. „Meist morgens gegen sechs oder sieben“. Ein kleiner Junge schlich herbei und krallte sich in ihre Hosenbeine. Er sah zu mir auf, rülpste, und ein Geruch nach Hühnersuppe aus der Tüte machte sich breit. Moderne Speise der Armen. Ein Ventilator auf dem Empfangstresen verrührte derweil unter rhythmischem Klappern, stoisch die Gerüche im Raum. Die losgelösten Ecken einer verblichenen Blümchentapete, schwangen träge in seiner Brise hin und her… Im Zimmer Nr. 23 roch es nach Katzenpisse und frischem Bohnerwachs. Am Fenster sah man an verschlissenen Vorhängen vorbei auf einen
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schattigen Hinterhof, wo zerzauste Ratten auf überfüllten Abfalltonnen turnten. Kakerlaken, groß wie Hirschhornkäfer und überwiegend nur aus den Augenwinkeln wahrnehmbar, huschten entlang den Wänden und über das Bett. In der Schublade des Nachtkästchens fanden sich anstatt einer Gideon-Bibel, ein verrußter Teelöffel und drei Kondome, zwar noch verpackt, aber mit einer krumm gebogenen, blutverkrusteten Injektionsnadel durchstochen. An einem Haken im Kleiderschrank hing, als hinterlassenes Requisit früherer Gäste oder als Aufmerksamkeit des Hauses, eine schlaff aufgeblasene Sexpuppe mit rund aufgesperrtem, knallrot umrandetem Maul. Auf ihrer Pobacke klebte ein schwarzes vulkanisiertes Gummiläppchen mit orangeroten Rändern, wie man es zum Flicken von Fahrradschläuchen verwendete. Berührte man die Puppe, entwichen diesem Gummiläppchen, sanft puffend, zarte Luftstöße. Ein honiggelber Fliegenfänger, mit ausgetrockneten Fliegenleichen paniert und umschwärmt von einem Heer blau schillernder Schmeißfliegen, kräuselte sich von der Decke… Im Zimmer nebenan wohnte Rosi, eine Prostituierte in den Sechzigern. Rosis Gesicht schien als sei es mit krümeliger Farbe auf ein Stück zerknülltes und hartgetrocknetes Schweinsleder gemalt. Wie sie trotz ihres dramatischen Aussehens Kunden fand, blieb mir schleierhaft. Doch dass sie welche fand und das auch noch mehrmals die Nacht, konnte ich durch die dünne Bretterwand, die Rosis Zimmer von dem meinen trennte, deutlich hören. Lag ich nachts im Bett, hörte ich nebenan Rosis Freier stöhnen, “Aaaahh!”, während Rosi heiser dazwischen schrie, „Tiefer, tiefer! Fester, fester“! Männerstimmen grölten, „Du Schlampe! Du Nutte! Du Sau! Dir werd’ ich’s zeigen!“ und Rosi kreischte beglückt dazwischen, „Jaaah! Zeig’ mir’s! Du Bock! Du Eber! Du Bär“! An Schlaf war bei dem Getöse von nebenan freilich kaum zu denken …
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Die Urinkontrolle Auf dem Viktualienmarkt, gleich um die Ecke vom Münchener Marienplatz, gab es getrocknete Samenkapseln des Schlafmohns zu kaufen. Es handelte sich dabei um Importe aus Opiumproduzierenden Ländern, versehen mit den Schnitten der Opiumernte, die deutlich sichtbar von schwarzen eingetrockneten Opiumresten umgeben waren. Beladen mit drei großen Kartons voll Schlafmohnkapseln, begab ich mich wieder auf den Nachhauseweg. Unterwegs kaufte ich noch rasch einen Kochtopf und einen kleinen Campingkocher. Zuhause angekommen, zerkrümelte ich einige Schlafmohnkapseln und kochte sie auf dem Campingkocher zu redlich brauchbarem Opiumtee... Einige Tage später ging ich zu meinem frischgebackenen Bewährungshelfer, Herbert Streitfuß, um mich zu melden. „Alles läuft ausgezeichnet“, verkündigte ich und wischte mit dem Handrücken über meine schweißnasse Stirn. Warum brauchbare Opiate auch immer so schweißtreibend wirkten? „Die Welt kann nicht besser beschaffen sein!“, erzählte ich schweißtriefend. Nur der Arbeitsmarkt ließe leider sehr zu wünschen übrig. Dort sei für einen jungen Mann meiner Qualitäten leider nichts, aber auch gar nichts zu finden. Herbert wrang die Hände vor Begeisterung. „Es freut mich ungemein, dass alles so ausgezeichnet läuft!“, rief er und schob dabei, wie nebensächlich, einige Papiere über seinen Schreibtisch auf mich zu. „Dies ist eine Anordnung deines Richters“, erklärte er. „Er wünscht dass du dich sofort und auf dem kürzesten Wege von meinem Büro zum Gerichtsmedizinischen Institut begibst. Dort wirst du Urin abgeben, den man auf Spuren illegaler Substanzen untersuchen wird. Und hier ist noch etwas“. Die Schrecken nahmen kein Ende. „Auf diesem Papier trage ich den Zeitpunkt ein, an dem du mein Büro verlässt. Du nimmst es mit und gibst es dem Arzt des Instituts. Der trägt deine Ankunftszeit ein und schickt es an deinen Richter der daran ersehen kann, ob du dich auch tatsächlich sofort und auf kürzestem Wege zum Institut begeben hattest. Es ist jetzt dreizehn Uhr. Du könntest den Weg zum
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Institut in zwanzig Minuten schaffen, aber ich denke wir wären auch alle zufrieden, wenn du ihn in dreißig Minuten zurücklegtest“. Oh Gott! – schoss es mir durch den Kopf. Der viele Tee und all die Opiumrückstände in meinem Urin! Nicht einmal mehr Tee konnte man in Ruhe trinken in diesem unserem Lande! Ich nahm die Papiere vom Schreibtisch und schob sie in die Hosentasche. „Ich werde mich sofort und auf kürzestem Wege zum Institut begeben!“, rief ich und war zur Tür hinaus... Als erstes eilte ich zum nächsten Supermarkt und erwarb ein großes Glas saurer Gurken und eine gelbe Gummizitrone, gefüllt mit Zitronensaft. Wieder auf der Straße, goss ich die Gurken und den Zitronensaft in einen Straßenabfluss und eilte weiter. Mein nächstes Ziel war der Hauptbahnhof, wo erfahrungsgemäß Alkoholiker saßen. Auf einer kleinen Mauer neben dem Haupteingang saßen einige Männer beieinander und ließen eine dickbauchige Rotweinflasche zwischen sich kreisen. Ich ging auf sie zu und sagte zu einem von ihnen, „Komm mal bitte mit um die Ecke“. Dort hielt ich ihm einen zehn Mark Schein und mein leeres Gurkenglas unter die Nase und erklärte, „Wenn du dieses Glas voll pisst, gebe ich dir diese zehn Mark dafür“. Er sah mich zwar an als sei ich ein Perverser der anderer Leute Urin trank, aber die zehn Mark gaben dann doch den Ausschlag. Mürrisch nahm er das Glas und ging damit, leise vor sich hin fluchend, zur Bahnhofstoilette. Als er einige Minuten später wiederkam, war das Gurkenglas bis an den Rand mit Urin gefüllt. Ich nahm es, füllte vor den Augen des verblüfften Trinkers etwas davon in meine Gummizitrone und goss ihm den Rest vor die Füße. „Danke, aber so viel brauche ich nicht“. Mit der gefüllten Gummizitrone und dem leeren Gurkenglas raste ich zur Bahnhofstoilette. Dort füllte ich das Gurkenglas mit warmem Wasser und legte die uringefüllte Gummizitrone hinein. Auf dem Wege zum Institut rannte ich rasch noch in ein Laborbedarfsgeschäft und erwarb einen Meter Gummischlauch und einen darauf passenden Kunststoffhahn. Mit dem ganzen Krempel unter der Jacke, eilte ich schließlich zum Gerichtsmedizinischen Institut…
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Das Institut Halb verborgen hinter dunklen Tannen, erhob sich die finstere Silhouette des Institutsgebäudes. Eine Seite des roten, im neoklassizistischen Stil errichteten Backsteinbaus, grenzte an einen Friedhof. Ein grün gestrichener, schmiedeeiserner Zaun umgab bezeichnenderweise beide, Friedhof und Institutskomplex. Einigen ausgehobenen Gräbern entstieg der Geruch nach frisch aufgeworfener Erde. Krähen flogen vom Dach des Institutsgebäudes, umkreisten krächzend einige Tannenwipfel und landeten mit klatschenden Flügelschlägen auf dunkelgrün bemoosten Grabsteinen. Dies war ein Ort für Christopher Lee, Bela Lugosi, Boris Karloff und einige Deutsche Mediziner, nicht aber für mich... In der Abgeschiedenheit des Friedhofs und vor spähenden Blicken aus den Fenstern des Instituts wohl verborgen hinter den ausgebreiteten Flügeln eines marmornen Grabsteinengels, stöpselte ich die uringefüllte Gummizitrone auf ein Ende meines Schlauchs und den Hahn auf das andere Ende. Diese Konstruktion stopfte ich unter meine Kleidung, klemmte dabei die Gummizitrone unter meine linke Achsel, fummelte den Schlauch in meine Hose hinab und platzierte den Hahn hinter meinem Hosenreißverschluss. Derart ausgerüstet, betrat ich das schauerliche Gebäude des Gerichtsmedizinischen Instituts... In der hohen Empfangshalle roch es nach feuchten Wänden und Schimmel, ein rechter Treffpunkt für frustrierte alte Medizinmänner. Mit hallenden Tritten und wehendem weißen Kittel, kam ein Onkel Doktor den Gang entlang auf mich zu gerannt. Ich grüßte und reichte ihm meine Unterlagen. Er riss sie an sich, warf einen Blick darauf, warf einen verächtlichen Blick auf mich, sah auf seine Armbanduhr, zückte einen Kugelschreiber und trug meine Ankunftszeit ein. Danach forderte er mich mit einer Geste seines Kopfes auf, ihm zu folgen. Wir liefen an einer Rezeption vorbei und betraten am Ende eines Korridors eine Herrentoilette. Dort ging es zur eigentlichen Tauglichkeitsprüfung meiner Konstruktion.
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Schweigend, reichte Onkel Doktor mir ein Laborglas, einen so genannten Becher. Danach stellte er sich direkt neben mich an das Pissbecken und gab gut Acht, dass ich auch ja nicht mit dem Urin schummelte. Wo käme man hin, gäbe jemand den Urin anderer Leute als den eigenen aus? Die gesamte deutsche Nation könnte gefährdet sein! Routiniert öffnete ich meine Hose und friemelte, anstelle meiner Nudel, den Kunststoffhahn hervor. Ich bedeckte ihn keusch mit einer Hand, öffnete ihn geschickt mit der anderen und sah dabei Onkel Doktor schnurgerade ins Gesicht. So genau, wollte der das dann auch wieder nicht wissen. Er blickte zur Seite, nahm die Brille vom Gesicht und polierte ihre Gläser mit einem Stück Toilettenpapier. (Jede Wette, ein verkappter Homosexueller. ...) Ich drückte mit dem Oberarm auf die verborgene Gummizitrone und es funktionierte. Die Sache lief warm aus der Gummizitrone, durch den Schlauch, aus dem Hahn und plätscherte, geräuschvoll wie es sich für einen gesunden jungen Mann gehörte, ins Glas. Stolz, überreichte ich Onkel Doktor mein Produkt. Der hielt das gefüllte Glas misstrauisch gegen das Licht der Deckenlampe um zu sehen, ob es auch beschlug. Es soll nämlich tatsächlich Schlingel geben, die fremden Urin mitbrachten und ihn als den eigenen ausgaben. Das bemerkte Onkel Doktor aber dann, der Fuchs, weil nämlich durch die zu geringe Temperatur mitgebrachten Urins das Glas nicht beschlug. Aus diesem Grunde hatte ich meine uringefüllte Gummizitrone auch sorgfältig in warmem Wasser transportiert. Folglich beschlug das Glas, dass Onkel Doktor so misstrauisch gegen das Licht hielt. Onkel Doktor war zufrieden. Ich auch. Zufrieden verließ ich diese düstere Stätte, in der man so weit gesunken war, für einen korrupten Staat schamlos im Urin anderer Leute zu schnüffeln. Befreit trat ich hinaus an die frische Luft... Trinke du nur tapfer weiter deinen Mohntee, dachte ich bei mir, während ich nachhause eilte. Er tut dir gut, er hält dich gesund und er hält dich von den Drogenszenen fern, wo Pharmabullen sorgfältig wie Gärtner ihre
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„Dealer“ zogen, um sie im Bedarfsfalle als Fahndungserfolge zu ernten. Aber was, wenn Herbert noch öfters mit solchen Schweinereien kam? Was, wenn eines Tages auffiele, dass ich mit dem Urin schummelte? Aber was, zum Teufel, hatten diese Pinsel auch in meinem Urin zu schnüffeln? Schnüffelte ich etwa in dem ihren? Hatte ich nicht genauso gut das Recht, beispielsweise einen Blick in die Unterwäsche dieser Leute zu tun um zu sehen, ob sie darin nicht vielleicht Anrüchiges verbargen? Bremsspuren etwa, oder die Spermaflecken fremder Leute, oder gar vor der Steuer verborgene Diamanten? Wer weiß, verbargen Onkel Doktor, mein Richter und der Staatanwalt die ihren sogar in gerüschter, reinseidener Damenunterwäsche...?
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Adieu Ich hatte mein Wort gegeben, für die WAG* zu arbeiten. Brach ich es, fänden die Ratten mich auf einem der weiten Gelände im Westen der Stadt, wo man Landsenken mit Müll auffüllte. * WAG = „Wir sind Alle so schrecklich Glücklich“. Eine Partei, deren Organe immer mehr um sich griffen und stets mehr Aspekte des Lebens der Bürger unter ihre Kontrolle brachten. Ich rief aus der Absteige Enzian bei der Zentrale des Sicherheitsdienstes an und ließ mich mit Kommissar Majnek verbinden. „Ach, du bist schon wieder frei?!“, rief der Kommissar erstaunt. „Yes“, antwortete ich. „Time flies like an arrow and fruit flies like a banana“. „Wo bist du im Augenblick?“, wollte Majnek wissen. „In der Pension Enzian, Lessingstraße“, sagte ich. „Bleibe dort“, erwiderte der Kommissar. „Ich bin gleich bei dir“. Keine zehn Minuten später hörte ich die Bremsen von Majneks rotem Sportwagen unten auf der Straße kreischen und gleich danach seine hastigen Schritte, erst unten beim Empfang, dann auf der hölzernen Treppe und schließlich vor meiner Tür… Der Kommissar setzte sich und schaltete mein Radio aus. „Du arbeitest also ab sofort für uns?“, fragte er, während er nervös über seine Nase strich. „Habe ich eine Wahl?“, fragte ich. Majnek sah auf seine polierten Fingernägel. „Eine kleine Wahl hättest du schon“. „Oh ja?“, rief ich. „Und wie sähe die aus“? „Du könntest das Weite suchen und das Land verlassen“. „Um mich danach für die nächsten zwanzig Jahre kreuz und quer über den Planeten jagen zu lassen“? „Es gibt Wege“, sagte der Kommissar, „und du kennst sie“. „Ja“, gab ich zu, „Ich kenne sie. Vergiss es und lass uns zur Sache kommen“. Majnek zündete eine Zigarette an und blies verspielt einige Rauchringe in den Raum. „Das Spiel ist einfach“, begann er. „Es heißt, nun siehst du mich, jetzt siehst du mich nicht. Und dass man dich einmal sieht und ein anderes Mal wieder nicht, dafür wirst
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du sorgen. Du gehst in den Untergrund, dein Milieu, und gibst dich als Käufer verbotener Medikamente aus. Beißt einer an und will verkaufen, informierst du uns. Wir geben dir die nötige Kaufsumme, umstellen den Ort und schlagen im geeigneten Moment zu“. „Klingt einfach genug“, gab ich zu. „Ihr lasst mich also am Leben, das ist das eine. Aber habe ich auch die nötigen Mittel um am Leben zu bleiben“? „Wir zahlen dir den Schwarzmarktpreis für jede Menge illegalen Arzneistoffes den wir mit deiner Hilfe aus dem Verkehr ziehen“. Ich überlegte. Der gegenwärtige Schwarzmarktpreis von Diacethylmorphin lag bei 150 Mark pro Gramm. Lieferte ich auch nur 500 Gramm, reichte der Ertrag um mich heimlich zu verabschieden. Ich willigte ein, wenn schon nicht ganz freiwillig, so doch zuversichtlich und mit dem Kopf voll eigener Pläne... Majnek hinterließ die Nummer seines Direktanschlusses und ging. Nun war die Zeit gekommen, den Freund Elviras von der Straße zu fegen. Ihn hatte ich am Tage vor meiner Festnahme noch getroffen. Ihm hatte ich erzählt, ich ließe mich im Kreise Elviras auf ein Geschäft ein. Das Geschäft war mithilfe Elviras vom Landessicherheitsdienst gesteuert worden. Es hatte zu meiner Festnahme geführt. Es hatte Jahre meines Lebens gekostet und es hatte mich in die gegenwärtige Lage gebracht. Norbert wusste von Elviras Agententätigkeit. Er hätte mich warnen können, aber er hatte mich nicht gewarnt… Ich traf Norbert im „Kinky“, ein Laden in dem überwiegend Leute verkehrten die davon lebten so zu tun als besäßen sie Geld obwohl sie keines hatten. Ich kaufte ein Päckchen von Norberts verschnittenem Heroin und fragte beiläufig, ob er außer kleinen Päckchen auch mehr liefern könne. Und ja. Er konnte. Und wie viel? Einhundert Gramm, hundertfünfzig, zweihundert? Nein. Soviel dann auch wieder nicht. Aber achtzig wären wohl möglich. Im Geiste sah ich Norbert schon wie er in seiner Küche stand und einige Krümel Heroin mit Milchzucker auf achtzig Gramm hochstreckte. Aber das konnte mir egal sein. Die Regeln der WAG
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besagten, jede Menge einer Substanz, in der sich auch nur ein Krümel illegalen Arzneistoffes befand, galt insgesamt als illegaler Arzneistoff. Mochte Norbert mir neunundsiebzig Gramm Milchzucker andrehen, mit nur einem Gramm Heroin darin, man verurteilte ihn dennoch für den Verkauf von achtzig Gramm Heroin und bezahlte mir dennoch achtzig Mal hundertfünfzig Mark. Wir verabredeten uns für den Nachmittag des nächsten Tages, gegen fünfzehn Uhr, im Restaurant „Zum Roten Ochsen“…. Am nächsten Vormittag rief ich Majnek an und erzählte ihm von der bevorstehenden Transaktion. Kurz darauf erschien er in meiner Absteige und legte zwölftausend Mark auf den Tisch. Es waren unterschiedlich große Banknoten, zusammen gehalten mit einem gewöhnlichen Gummiband. Als Majnek bemerkte, dass ich nachdenklich auf das Geld blickte, warnte er, „Du denkst doch nicht etwa, du könntest dich mit unserem Geld aus dem Staub machen? Solange du unser Geld in deiner Tasche hast, lassen wir dich selbstverständlich keinen Augenblick aus den Augen“. Ich war beeindruckt. Seine Berufsnase ließ den Mann nicht im Stich. „Wir machen es folgendermaßen“, erklärte Majnek. „Sobald das Geschäft gelaufen ist und Ware und Geld den Besitzer gewechselt haben, gibst du uns ein Zeichen. Lass dir eines einfallen“. „Ich nehme meine Sonnenbrille ab“, sagte ich. „Ausgezeichnet. Nach diesem Zeichen schlagen meine Leute zu. Du entkommst dabei. Laufe einfach weg und rufe eine Stunde später in meinem Büro an…“. Um vierzehn Uhr dreißig saß ich im „Roten Ochsen“. Entgegen aller Gewohnheit, war das Restaurant an diesem Tage nahezu leer. Es befanden sich nur wenige Gäste in dem weiten Raum. In der hintersten Ecke saß ein junges Pärchen. Sie waren vollauf miteinander beschäftigt, scherzten und lachten. Am Tisch daneben saß ein beleibter älterer Herr mit dicken Brillengläsern und las in einer Zeitung. Am nächsten Tisch saßen zwei Arbeiter in verschmutzten blauen Arbeitsanzügen. Um vierzehn Uhr
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fünfzig erschien Norbert und setzte sich zu mir. „Hast du es bei dir?“, fragte ich. „Ja“, antwortete Norbert. „Lass mich erst bestellen“. Er bestellte ein Glas Bier. Als das Bier auf dem Tisch stand, nahm Norbert einen kräftigen Schluck. Dann schob er eine Kunststofftüte über den Tisch. Sie enthielt braunes Pulver. Ich stak einen feuchten Finger hinein und führte ihn zum Mund. Auf meiner Zunge verbreiteten sich sofort der Geschmack von Heroin und der leicht süße, fast neutrale Geschmack von Milchzucker. „Okay“, sagte ich. „Hier hast du’s“. Ich schob Majneks Banknotenbündel über den Tisch auf Norbert zu und nahm zugleich meine Sonnenbrille ab. Was dann geschah, war überwältigend. Jeder Gast im Restaurant sprang plötzlich von seinem Stuhl und kam mit einer Pistole in der Hand auf uns zugerannt. Ich stand auf, stieß einen Agenten beiseite und rannte ins Freie. Dort hielten gerade mehrere Streifenwagen der Polizei. Ich rannte an ihnen vorüber und in einen Fußgängertunnel. Hinter mir hörte ich Rufe, „Halt! Polizei! Stehen bleiben oder ich schieße“! Die Jungs spielten das verteufelt echt, fand ich. Ein Schuss knallte und fast zeitgleich, zog ein bösartiges Brummen an meinem Ohr vorbei. Es klang wie eine dicke fette Hummel im Überschallflug, es klang wie ein zur Murmel komprimierter Wirbelsturm, es klang wie ein gottverdammtes 9mm Pistolenprojektil! Ich blieb stehen, steif wie ein Brett und fand, so echt, musste es dann auch wieder nicht sein. Zwei Polizisten kamen in den Tunnel gerannt. Einer hielt eine rauchende Pistole in seiner Hand. Sie warfen mich zu Boden, bogen meine Hände auf meinen Rücken und fesselten mich mit Handschellen. Danach führten sie mich aus dem Tunnel und zu einem Streifenwagen. Kommissar Majnek trat aus dem Restaurant. Er sah mich in Handschellen und fragte, „Warum habt ihr ihn festgenommen? Er gehört doch zu uns“. Aber davon, hatten die einfachen Jungs in Uniform nichts gewusst. Sie waren nicht darüber informiert worden, dass ich Teil des Spiels war. Sie hatten gedacht, ich wolle tatsächlich fliehen und hatten hinter mir her geschossen. Nur dem Umstand, dass sie schlechte Schützen waren, verdankte ich mein Leben. Die Partei ging offenbar sehr leichtfertig mit dem Leben inoffizieller Mitarbeiter um. Hätte der Schuss getroffen, es
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stünde in der Zeitung, bei der Festnahme eines „Rauschgiftringes“ sei einer der Täter auf der Flucht erschossen worden. Kaum hatten sie mir die Handschellen abgenommen, holte ich aus und schlug dem Polizisten, der hinter mir her geschossen hatte, krachend ins Gesicht. „Du bist wohl nicht mehr ganz bei Verstand“, rief ich, zornig wie eine Viper. „Du schießt wegen eines lächerlichen Häufchens Pulver auf Menschen? Man sollte dich erschießen, du Narr“! Ich schimpfte noch, als Kommissar Majnek mich zurück zum Hotel brachte. „Komme gegen siebzehn Uhr zum Dienstgebäude“, sagte er, „und bringe deinen Ausweis mit. Zeige ihn dem Pförtner und frage, ob etwas für dich bereit liegt“… Gegen sechzehn Uhr dreißig war ich auf dem Wege zum Dienstgebäude. Dabei staunte ich nicht wenig über die Anordnung der Kameras, die einen schon drei Straßen davor erfassten und ohne Unterbrechung bis in den Vorraum zum Tresen des Pförtners verfolgten. Ich reichte dem Pförtner meinen Ausweis und fragte, ob etwas für mich bereit läge. Der Mann legte meinen Ausweis mit der Innenseite nach unten auf einen Scanner und reichte ihn mir zurück. Er drehte mir den Rücken und öffnete eine Schublade die länger war als jede Schublade, die ich bis dahin gesehen hatte. Sie war gewiss einen Meter lang und lückenlos mit identischen, hellgrünen Briefumschlägen gefüllt. Mit geübten Fingern ging der Pförtner durch die Reihe der Umschläge. Er zog einen hervor und reichte ihn mir. Ich unterschrieb eine Empfangsquittung und ging. Draußen, auf den Weiten des Marienplatzes, riss ich den Umschlag auf. Er enthielt, ohne jeglichen Kommentar, zwölftausend Mark. Sollten die vielen Umschläge in dieser langen Schublade des Pförtners ebenfalls Zahlungen an inoffizielle Mitarbeiter der Partei enthalten? Das hieße, die Partei verfügte über eine unwahrscheinlich große Zahl von inoffiziellen Mitarbeitern…. Eine Woche nach der Festnahme Norberts präsentierte ich Majnek einen fingierten Fall. Ich rief an und erzählte, am folgenden Tage träfe ich mich mit einem „Unbekannten“, der zweihundertfünfzig Gramm verkaufen
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wolle. Der Treffpunkt sei vor dem Eingang eines Restaurants im Osten der Stadt. Dieser Mann, und das sei besonders wichtig, bestünde darauf, dass die Summe ausschließlich aus fünfhundert Mark Scheinen bestünde. Als Majnek die Kaufsumme brachte, sah ich zu meiner Zufriedenheit, sie bestand tatsächlich nur aus fünfhundert Mark Scheinen und umwickelt war sie wieder nur mit einem gewöhnlichen Gummiband … Mit der Kaufsumme in einem Aktenkoffer, stand ich vor dem Restaurant im Osten der Stadt und wartete auf einen Verkäufer der nie kommen würde. Ich studierte die Umgebung. Das Restaurant befand sich an einer kleinen, kaum befahrenen Seitenstraße. Am Straßenrand, direkt vor dem Restaurant, hatte jemand Motorpech. Dort hantierte ein Mann mit hoch gekrempelten Ärmeln und ölverschmierten Armen unter der geöffneten Motorhaube eines VW Golfs. Jenseits der Straße erstreckte sich ein kleiner Park, den ich von meiner Position aus fast völlig einsehen konnte. Links standen einige Parkbänke, rechts gab es eine Wiese, die etwa die Hälfte des Parks einnahm. Auf einer Bank des Parks räkelte sich ein junges Pärchen. Im Grase der Wiese spielte ein älterer Herr mit einem Hündchen. An einem der alten Bäume die an der Wiese standen, lehnte ein Mann und las gelassen die Zeitung. Wo wohl Majneks Leute staken, fragte ich mich…? Ich stand etwa eine halbe Stunde an meinem Platz und wartete. Schließlich schlich Majnek von der Seite an mich heran. „Er kommt wohl nicht?“, murmelte er. „Nein“, antwortete ich, „Offenbar nicht“. „Macht nichts“, fand Majnek. „Das kommt gelegentlich vor“. Majnek nahm ein kleines Sprechfunkgerät aus seiner Jackentasche, drückte auf eine Taste und sprach hinein, „Kommt Leute, wir gehen“. In nächsten Moment klappte der Mann am Straßenrand seine Motorhaube zu, fuhr mit seinem Wagen an eine Seite des Parks und nahm den Herrn mit dem Hündchen auf. Der Kerl, der an einem Baum gelehnt stand und die Zeitung las, löste sich vom Baum. Er warf seine Zeitung in einen Papierkorb, ging zu dem Pärchen, das auf der Parkbank saß und sie verschwanden miteinander. Die
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gesamte Straßenszene löste sich vor meinen Augen auf. Alle, die in meinem Blickfeld gestanden hatten und vermutlich noch einige die ich nicht gesehen hatte, arbeiteten für Majnek und den Sicherheitsdienst. Ich lief einige Straßen weit und traf schließlich auf Majnek. Ich öffnete den Aktenkoffer und reichte ihm die Kaufsumme. „Pech“, sagte ich. „Egal“, sagte Majnek, während er das Geldbündel in seine Jackentasche stopfte. „Das nächste Mal klappt es wieder besser“, rief er noch über seine Schulter hinweg, bevor er, schäbig und krumm wie ein enttäuschter kranker Morphinbedürftiger, zum Ende der Straße lief, in sein Auto stieg und verschwand… Huey, ein Chinese mit einer selbst gebastelten Beinprothese aus Kompositkunststoffen, war ein hochbegabter Künstler. Es gab kein bedrucktes Papier, das Huey nicht überzeugend nachahmen konnte. Huey saß an seinem Arbeitstisch und beachtete mich nicht. In seinem Auge klemmte eine schwarze Diamantlupe. In einer Hand hielt er eine Pinzette. Zwischen ihren stahlblauen Spitzen funkelte ein Edelstein. „Zu viel Perfektion“, murmelte Huey und drehte den Edelstein vor seinem Auge hin und her. „Zu viel Perfektion“, fügte er nach einer Weile hinzu, „verdirbt die beste Fälschung. Nimm zum Beispiel diesen wunderschönen einkarätigen Brillanten“. Huey ließ den funkelnden Klunker auf ein Brettchen fallen, das mit schwarzem Samt bespannt war. „Dieser Stein ist perfekt. Er ist ohne Einschlüsse und seine Kristallstruktur ist makellos wie mit dem Lineal gezogen. Er stammt aus Russland. Oh ja, es ist ein echter Diamant, kein Zweifel. Aber es ist kein natürlicher Diamant. Dieser Stein ist nicht tief in der Erde unter Druck und höllischer Glut entstanden. Er wurde künstlich in einem Labor oder einer Fabrik geschaffen. Seine Perfektion verrät ihn. Mit bedrucktem Papier verhält es sich übrigens ebenso. Kein echtes Dokument ist jemals perfekt. Sie alle zeigen kleine Imperfektionen, die auf ihrer Herstellungstechnik beruhen. Damit ein Produkt nicht allzu perfekt wirkt, ahmt ein guter Fälscher solche Fehler nach“. Huey nahm die Lupe aus seinem Auge und sah mich an. „Was kann
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ich für dich tun, mein Freund“? „Ich brauche dringend Geld“, erklärte ich. Hueys Gesicht verfinsterte sich. „Kein echtes Geld, Huey“, fügte ich rasch hinzu. Hueys Gesicht erhellte sich wieder, aber nur um eine Nuance. „Es ist für einen guten Zweck, Huey“, versuchte ich ihn zu erweichen. „Ehrenwort. Es wird niemand dabei zu Schaden kommen. Was ich brauche sind vierzig Scheine zu je eintausend Mark und achtzig zu je fünfhundert Mark“. Insgeheim wusste ich, Huey würde mir diese Bitte nicht versagen. Er konnte nicht ablehnen. Er fühlte sich in meiner Schuld, weil ich einige Jahre zuvor mitgeholfen hatte, seine Schwester aus einem Bordell in Marseille zu befreien. „Ich müsste erst Papier besorgen“, sagte Huey und kratzte die Stelle an seinem Bein, wo die Prothese begann. „Tue das Huey“, sagte ich voller Zuversicht. „Noch hat es keine Eile, aber lasse mich nicht allzu lange warten“… Menheer Van Veen, der im Diamantgeschäft nicht nur ergraut, sondern auch schon zwei Mal komplett bankrott gegangen war, stand bei allen Mitgliedern der Antwerpener Diamantbörse hoch im Ansehen. Menheer Van Veen fertigte nämlich Koffer, in denen sicher achtzig Prozent aller Anlagebrillanten der Börse, an den Zöllen der Welt vorbei und in die Wohnzimmer der Kunden geschmuggelt wurden. Man brachte Menheer Van Veen einen gewöhnlichen Aktenkoffer und hinterließ eintausend Mark. Holte man den Koffer eine Woche später wieder ab, enthielt er ein Geheimfach, so raffiniert verborgen dass ich es nicht fand, obwohl Menheer es zur Demonstration mehrere Male direkt vor meinen Augen öffnete und wieder schloss… „Bester Menheer Van Veen“, sagte ich. „Was ich benötige, ist nicht nur einen ihrer Koffer mit Geheimfach. Ich benötige vielmehr einen Zauberkoffer, wie Zauberer ihn auf der Bühne haben. Er muss von beiden Seiten zu öffnen sein, ohne dass es auffiele, dass er an beiden Seiten Deckel hat. Im Inneren müsste ein Scheinboden eingearbeitet sein, der bei geöffnetem Deckel von beiden Seiten wie der eigentliche Kofferboden
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erscheint. Können sie einen solchen Koffer fertigen“? Menheer Van Veen überlegte nur kurz, dann sagte er, „Eintausendfünfhundert Mark“. „Ist gut“, erwiderte ich. „Aber ich brauche ihn noch vor Ablauf dieses Monats“. „Zweitausend“, knurrte Van Veen kalt. „Ist gut“, sagte ich und legte tausend Mark Vorschuss auf den Tisch. Danach verließ ich Menheer Van Veen und sah mich vor der Heimreise noch ein wenig nach Neuigkeiten an der Börse um… Zwei Wochen später rief Huey an. Er hatte zwar das richtige Papier zum Fertigen falscher Banknoten nicht bekommen, dafür hatte er es aber verstanden, qualitativ minderwertigem Papier durch eine Behandelung mit Kartoffelstärke und einigen anderen Zutaten die Huey nicht verriet, zumindest für einige Zeit die Steifheit und das Knistern echter Banknoten zu verleihen. Befingerte man Hueys falsche Scheine, fühlten sie sich völlig echt an. Ihr Aussehen war, wie immer bei Hueys Arbeit, tadellos. Huey hatte sich sogar die Mühe gemacht, jeder Banknote eine individuelle Nummer aufzuprägen... „Kommen sie näher“, sagte Menheer Van Veen und schleuderte mit einem Elan, den man dem alten Herrn nicht zugetraut hätte, einen kleinen braunen, unscheinbaren Aktenkoffer auf den Tisch. „Sehen sie“, erklärte Menheer mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme, „Der Koffer hat trotz seiner zwei Deckel nicht vier Verschlüsse, sondern nur zwei. Es kommt darauf an, wie sie die Verschlüsse handhaben“. Menheer erklärte den Mechanismus. Die Verschlüsse hatten in ihrer Mitte ein unsichtbar verarbeitetes Scharnier, durch das man entweder das untere Ende, oder das obere Ende des Verschlusshebels eindrücken konnte. Je nach dem, welches Ende gedrückt wurde, öffnete sich entweder der obere oder der untere Deckel. Der doppelte Boden im Innern des Koffers war so gearbeitet, dass er an den Rändern durch Ziehharmonikafalten aus feinem Leder am Koffergehäuse befestigt war. Legte man den Koffer hin und öffnete ihn, wurde dieser doppelte Boden alleine durch die Schwerkraft nach unten
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gezogen und erweckte so den Eindruck, man blickte auf den Grund eines leeren Koffers. Wie Huey, war auch Menheer Van Veen ein Genie auf seinem Gebiet… „Er will achtzigtausend Mark für drei Kilogramm und er will das Geld in vierzig Scheinen zu je tausend und achtzig zu je fünfhundert“, log ich Kommissar Majnek vor. „Und er scherzt nicht. Ich habe die Ware gesehen und getestet. Es handelt sich um feinstes weißes Heroinhydrochlorid von geradezu pharmazeutischer Reinheit. Es ist lange her, dass ich solcher Qualität begegnet bin“. Ich fühlte förmlich, wie Majnek anbiss. Egal, ob es sich um Kommissare der Polizei handelte, um Apotheker oder um Gemüsekrämer, spiegelte man ihnen die direkt bevorstehende Erfüllung eines großen, lange gehegten Wunsches in einem Ausmaß vor, wie sie es bisher nur aus ihren Träumen kannten, sie schleuderten sofort alle Realität beiseite und entsagten aller Vernunft. Das Spiel des Betrügers war so alt wie die Menschheit selbst… Die Erregung in der Stimme des Kommissars war unüberhörbar. „Wo wollt ihr euch treffen“? Ich genas das Spiel und erklärte, „Wir treffen uns um siebzehn Uhr auf dem freien Platz im Winkel des Sheraton Hotels und dem Barbarellahaus. Der Platz ist klug gewählt. Er ist gut einsehbar und hat nur wenige Zugänge. Wer sich dort aufhält, kommt nicht ungesehen wieder weg“. Majnek rieb sich die Hände. Er witterte Blut und hatte sichtlich Freude an seinem Beruf. Ich hatte schon alles geregelt was zu regeln war. Ein Flugticket und einen gültigen Reisepass hatte ich in der Tasche und meine gepackte Reisetasche stand in einem Schließfach des Flughafens bereit. Nun hing alles nur noch an einem ganz gewöhnlichen Gummiband. Sollte Majnek die Kaufsumme, immerhin 120 Scheine, wieder wie bisher nur in einem Bündel bringen, umfasst von einem gewöhnlichen Gummiband? So nicht, müsste ich in gefährlicher Weise improvisieren und könnte dabei gesehen werden. „Um 17 Uhr sagtest du“?
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„Ja“, bestätigte ich, „Um 17 Uhr auf dem Platz im Winkel des Sheraton Hotels und dem Barbarellahaus“… Die Wärme eines wolkenlosen Hochsommertages staute sich auf dem freien Platz, im Winkel des Sheraton Hotels und dem Barbarellahaus. Ich saß auf einem der vielen kleinen Betonpfeiler die den Platz aufteilten und Kraftfahrzeuge an der Zufahrt hindern sollten. Menheer Van Veens Zauberkoffer hatte ich auf meinem Schoss. Darin befanden sich auf der einen Seite Majneks achtzigtausend echte Mark, säuberlich in ein Bündel gepackt und umfasst von einem gewöhnlichen Gummiband und auf der anderen Seite Hueys falsche achtzigtausend Mark, ebenfalls in einem Bündel und von einem gewöhnlichen Gummiband umfasst. Schweiß, rann mir vom Kragen den Rücken hinab. Ein Scheitern meines Vorhabens zog ich gar nicht erst in Betracht. Man dachte in solchen Augenblicken besser nicht an ein Scheitern, sondern nur an ein Gelingen. Dreißig Minuten saß ich schon auf dem kleinen Betonpfeiler und wartete auf jemand, der nie kommen würde weil es ihn nicht gab. Schließlich wurde es siebzehn Uhr fünfundvierzig und ich hatte nur noch vierzig Minuten Zeit. Wenn Majnek nicht bald käme um die Sache abzublasen, versäumte ich am Ende noch meinen Flug.... Aber ich hatte diesen Platz im Winkel des Sheraton Hotels und dem Barbarellahaus nicht umsonst gewählt. Von hier waren es nur fünf Minuten bis zum Flughafen. Majnek kam von hinten an mich herangeschlichen. „Er kommt wohl nicht“, hörte ich ihn sagen. „Nein“, sagte ich. „Offenbar nicht“. „Macht nichts“, erwiderte Majnek und fügte hinzu, „Das kommt vor. Wir treffen uns in zehn Minuten auf der anderen Seite des Gebäudes“. Majnek bat um Feuer für seine Zigarette, was wohl Teil seiner Tarnung sein soll, für den Fall dass uns jemand beobachtete. Ich gab ihm Feuer, er dankte und ging. Zehn Minuten später trafen wir uns auf der anderen Seite des Barbarellahauses. Dort, im Schatten einer Einfahrt, öffnete ich Menheer Van Veens Zauberkoffer und reichte Majnek Hueys falsche
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achtzigtausend Mark. „Ruf mich bitte morgen im Büro an“, bat Majnek, während wir zusammen auf seinen roten Sportwagen zuspazierten. „Es kann sein, dass du in Frankfurt eingesetzt wirst“. „Ist gut“, antwortete ich. „Ich rufe dich morgen gegen fünfzehn Uhr an“. Ich sah seinem roten Schlitten noch eine Weile hinterher, bis er aus meiner Sicht verschwunden war. Danach winkte ich ein Taxi herbei und bat den Taxifahrer, „Zum Flughafen bitte. Und bitte, fahren sie etwas flott. Ich bin ein wenig verspätet“. Eine halbe Stunde später bestieg ich eine knallrote Boing 707 der russischen Aeroflot. Nach einem Flug von zwölf Stunden schwang die Tür der Maschine zur Seite und die feuchte Tropenluft Sri Lankas schlug wie ein nasses Handtuch in mein Gesicht...
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Mit Morphin im Paradies Dem jungen Mann des Münchner Reisebüros war mein Anliegen merkwürdig erschienen. Ich wollte ein Flugticket nach Sri Lanka, aber keines zurück. „Es kann geschehen“, erklärte er, „dass sie bei der Einreise im Flughafen ein Rückflugticket oder zumindest eine Hotelreservierung vorweisen müssen. Verfügen sie über keines von beiden, lässt man sie möglicherweise nicht ins Land“. Man konnte, wie es schien, nicht mal mehr fliegen wie man wollte, selbst verfügte man über genügend Geld. Überall entstanden kleine Regeln und kleine miese Vorschriften, die einen zunehmend einengten. Ich sah den Tag kommen, an dem wir alle an kleinen miesen Regeln und Vorschriften ersticken werden… „Ich schreibe ihnen eine unechte Hotelreservierung aus“, beschloss der junge Mann des Reisebüros. „Es ist keine echte Reservierung. Sie dient nur zum Vorzeigen bei der Einreise“. Als ich das Reisebüro verließ, hatte ich ein Einwegticket nach Sri Lanka in der Tasche und eine falsche Hotelreservierung der Hotelkette „Global Travel“. Am Ende zeigte sich allerdings, ich benötigte weder ein Rückflugticket, noch die falsche Reservierung. Ich hatte den Rat eines Bekannten befolgt und massenweise bunte Kugelschreiber und Wegwerffeuerzeuge mitgenommen. Ein roter Kugelschreiber und ein blaues Wegwerffeuerzeug öffneten mir schließlich die Pforten zur Insel. Bei der Passkontrolle hatte ich beides neben meinen Pass gelegt und artig geguckt. Dafür bekam ich einen roten Einreisestempel in meinen Pass und ein breites Lächeln des Imigrationsbeamten… Als ich die weite Flughafenhalle betrat, fiel mein Blick auf drei junge europäische Frauen, die in einer Ecke beieinander standen und abwechselnd mit einem Schild in der Hand auf und ab sprangen. „Hotel Global Travel“, stand darauf zu lesen. Ich zeigte den Dreien meine falsche Hotelreservierung. „Kommen sie“, sagte die junge Frau. „Unser Bus steht
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auf dem Parkplatz vor dem Flughafen und im Hotel wartet bereits das Essen auf sie“. Ich ließ mich ins Hotel Global Travel bringen. Was hätte ich auch anderes tun können? Es war schon später Nachmittag, fast schon Abend und ich befand mich ohne Kontakte in einem Land, in dem ich noch nie zuvor gewesen bin… Am nächsten Morgen saß ich mit einem Deutschen Ehepaar im Garten des Hotels Global Travel und nuckelte vergnügt an einem Kokosnusscocktail. Herr Schwertfeger war Mercedeshändler aus Hannover. „Und Sie“, fragte er neugierig. „Ich arbeite für einen Schweizer Pharmakonzern und bin auf der Suche nach neuen Rohstoffquellen“, erklärte ich ihm. Schwertfegers Gattin hustete und hörte nicht wieder auf damit. „Sie husten trotz dieses heißen Klimas?“, fragte ich. Danach konnte ich mir eine ellenlange Geschichte über ihren chronischen Husten anhören, unterbrochen von furchtbaren Hustenanfällen. Als es mir zu viel geworden war, griff ich zu einem Kugelschreiber und schrieb auf eine Papierserviette des Hotels, „100 codeinum phosphoricum comp. a’ 20mg“, und unterschrieb forsch mit „Dr. med. phil. hc. Karlos“. Ich winkte einen Lakaien des Hotels herbei, drückte ihm die beschriebene Serviette und einige speckige Rupiescheine in die Hand und schickte ihn zur Apotheke. Eigentlich hatte ich es mehr getan um Madam endlich zum Schweigen zu bringen. Meine Überraschung war dann auch groß, als der Lakai wenige Minuten später mit einem Silbertablett neben mir stand. Darauf lagen, ordentlich aufgereiht und mit blütenweißer Linnenserviette unterlegt, fünf Packungen mit jeweils zwanzig Kodeintabletten zu je zwanzig Milligramm. Sieh an, dachte ich, du giltst als Arzt in diesem Lande und kannst dir zur Not vielleicht sogar Morphinampullen selbst verordnen… Am nächsten Morgen lief ich zur Hauptstraße und erwarb in einem Trödelladen einen kleinen Schreibblock und einen chinesischen Tintenfüller, der nach wenigem Gebrauch das Papier mehr zerriss als darauf zu schreiben. Zurück im Hotel, schrieb ich auf die erste Seite
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meines Blocks, „10 x 1ml amp. Inj. Morphinhydrochloricum a' 20 mg“, und unterschrieb wie gehabt mit „Dr. med. phil. hc. Karlos“. Damit rannte ich zur nächsten Apotheke. Wer Doktor Karlos sei, wollte dort die zierliche, rehäugige Apothekerin wissen. Ich hätte antworten müssen, „Sie kennen Doktor Karlos nicht? Den berühmten Deutschen Nobelpreisträger? Er sitzt gerade drüben im Garten des Deutschen Hotels in seinem Rollstuhl und wartet auf sein Schmerzmittel“. Überheblich geworden durch meinen Erfolg vom Tage zuvor, antwortete ich Esel stattdessen, „Doktor Karlos? Das bin ich selbst“. „Es tut mir leid“, meinte daraufhin die zierliche rehäugige Apothekerin. „Solche Rezepte akzeptieren wir grundsätzlich nur von Ärzten, die wir schon länger persönlich kennen“. Klar. Die Sache hatte ja auch einen gewaltigen Haken. Wäre ich nämlich tatsächlich Arzt, stellte ich kein Rezept aus, sondern ginge in eine Apotheke, wiese mich irgendwie als Arzt aus und forderte Morphin. Aber ich war eben noch neu in der Branche, musste noch eine Mange lernen und mich einleben in meinen neuen Beruf… Vielleicht wäre es grundsätzlich vernünftiger, überlegte ich, man besuchte nicht die Apotheken der Hauptstadt, sondern welche in abgelegenen Nestern, irgendwo auf dem Lande, fernab großer Städte und weit weg von aller Rauschgifthysterie? Also mietete ich ein Motorrad und tuckerte damit einige Stunden immer die Küstenstraße entlang Richtung Süden. In einem Fischerort namens Hikkadua machte ich schließlich Halt. Ich nahm ein Zimmer im „Sea side Hotel“, gleich am Ortseingang. Am nächsten Morgen saß ich im Sande des hoteleigenen kleinen Strandes und schrieb mein nächstes Rezept… Merkwürdige Krebse gab es an diesem Strand. Sie wühlten sich neben einem unverhofft aus dem Sand, rannten eine Strecke weit als würden sie verfolgt und vergruben sich rasch wieder. Der Direktor des Hotels warnte vor dem Schwimmen an seinem Strandabschnitt. Gerade an dieser Stelle, so erzählte er, sichte man öfters Haie. Ich lachte die Besorgnis des
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Direktors beiseite und planschte fröhlich im warmen transparenten Wasser der Arabischen See. Als ich hinterher am Strand lag und in der tropischen Sonne trocknete, fiel mein Blick auf eine Flosse, die einen knappen halben Meter aus den Wellen ragte und pfeilschnell in zornigem Zickzack hin und her pflügte, um im nächsten Moment wieder in den Weiten des Meeres zu verschwinden. Von der Tropensonne getrocknet, setzte ich mich auf die Hotelterrasse und bestellte ein Glas eisgekühlte Coca Cola. Über mir; im offenen Dachgebälk, sprangen Geckos umher, kleine eidechsenartige Scharlatane auf der Jagd nach Insekten. Der Hoteldirektor lachte schallend, als ich mein Bedenken hinsichtlich der unmittelbaren Nähe solcher Tiere äußerte. Er lachte noch stets, als einer der Geckos einem vorüber fliegenden fetten Käfer hinterher sprang, im Jagdfieber die Orientierung verlor und samt dem fetten Käfer im Maul, in meine Cola platschte. Mit meiner eisgekühlten Coca Cola zum Teufel, machte ich mich auf die Suche nach einer Apotheke… Als der Apotheker mein Rezept sah, lachte er laut. Er zerriss es in tausend kleine Fetzen und ließ sie genüsslich in einen Papierkorb regnen. Danach sah er mir lächelnd ins Gesicht und fragte, „Nur zehn Ampullen? Darf es nicht auch ein wenig mehr sein“? Er öffnete eine Schublade und mein Blick fiel auf hunderte glitzernder, sanft hin und her rollender Morphinampullen. Ich erwarb auf der Stelle fünfzig Stück. Der Apotheker steckte die sie fein säuberlich, eine nach der anderen, in ein Papiertütchen und reichte es mir. Danach nahm er eine frische Einmalspritze und einen Abbindgurt aus einem Regal und bat mich, ihm zu folgen. Er führte mich in sein Wohnzimmer, bot mir den besten Sessel an und schaltete das Radio ein, ein altes Röhrengerät mit Elfenbeintasten, Stoffbespannung und grünem, magischem Auge. Zu entspannender Musik, legte der Apotheker die Spritze und den Abbindgurt an meine Seite und forderte mich mit leiser Stimme auf, „Bitte, Sir, nehmen Sie sich alle Zeit der Welt“. Damit verließ er den Raum und schloss von außen sachte die Tür. Hier bist du zuhause, dachte ich erfreut und schnürte den Abbindgurt um meinen Oberarm. Und
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während Morphin wonnewarm durch meinen Körper floss, dachte ich, von hier gehst du nie wieder weg. Nach Bedarf Morphin HCL Ampullen, ein wolkenloser Himmel, weiße Strände und dazu das warme, transparente Wasser der Arabischen See vor dem Haus? Ich war wie ein sorglos dahin stolpernder Dummkopf, mitten ins Paradies gefallen! Morphin HCL in die Vene geknallt, steht der Wirkung von iv. injiziertem Heroin nur in wenig nach. Es erzeugt nahezu das gleiche sanft aufwallende Gefühl von Wärme in der Magengrube, als bekäme man einen warmen Ball komprimierter Watte auf den Bauch geworfen, es erzeugt dasselbe Gefühl von, Lege du dich zurück, mein Sohn, und lasse die wonnigen Wogen über dich hinweg rollen. Im Grunde verläuft alles nur ein wenig langsamer und zahmer als bei Heroin, doch im Endeffekt ist die Wirkung, vor allem die stabilisierende Wirkung auf die Psyche, sehr ähnlich. Morphin HCL verursacht zweifelsohne auch wie Heroin dieselbe hartnäckige Verstopfung. Vernachlässigt man als Morphin HCL Gewöhnter seine Einnahme, treten Entwöhnungssymptome allerdings etwas rascher auf als bei Heroin der Fall. Es scheint, als flösse Morphin HCL mit weniger Widerstand durch den Körper… Durch die regelmäßige Einnahme von Morphin blühte ich auf wie eine Frühlingswiese. Mein Appetit wuchs, ich nahm zu, nicht jedoch in ungesunder Weise, ich wurde nicht etwa übergewichtig dabei, sondern nur gesund und kräftig. Mein blonder Haarschopf leuchtete und meine Haut schimmerte wie Perlmutt. So war es mir mit Morphinen schon immer ergangen. Ich erblühte unter ihrer Wirkung, und keineswegs nur einige Zeit mit folgendem verheerendem Verfall, wie Staat und Medizin den Leuten gerne vorlogen, sondern dauerhaft, auch über Jahre hinweg. Verfügte ich über ausreichend geeignetes Morphin, kam bald der Tag an dem ich neue Kleidung kaufen musste, weil die alte zu eng geworden war. Die destruktive Drogenpolitik dieser Welt zielt darauf ab, Menschen wirksame, verträgliche und aufgrund ihres natürlichen Ursprunges nicht patentierbare
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Arzneistoffe vorzuenthalten, um ihnen stattdessen die überwiegend verheerenden industriellen Chemikalien des internationalen petrochemischen – pharmazeutischen Verbrecherkartells notfalls mit Gewalt in den Leib zu würgen... Selbst das so verteufelte Heroin ist in Wahrheit nur ein relativ harmloses, gut wirkendes und gut verträgliches Arzneimittel. Man darf eben nur nicht leichtfertig damit umgehen und mehr davon zu sich nehmen, als man nötig hat und gewöhnt ist. Dazu muss der Umgang mit Morphin erlernt sein. Um aber den Umgang mit Morphin zu lernen, müsste man erst ausreichend darüber verfügen. Gerade das verhindert das BtmG. Welcher einfache Mensch, in beispielsweise Mitteleuropa, verfügte schon über ausreichende Mengen Morphin? Deshalb ergeht es vielen wie Halbverhungerten, die ständig über zu wenig Nahrung verfügen. Sitzen sie plötzlich vor üppig gedeckten Tafeln, fressen sie sich zu Tode… Während in Europa, den USA, in GB und anderswo, Kontrollwütige an den Schaltstellen der Macht heftig die Lüge propagierten, Morphine seien schädlich und ihre Verwendung führe über kurz oder lang zu Siechtum und Tod, bewies ich, fröhlich und gesund am Strande der Insel liegend zum wiederholten Male, sie logen! Morphine sind keine „Rauschgifte“. Morphine sind außerordentlich wertvolle, vielfältig anwendbare Medikamente, die allen die sie nötig haben, Fröhlichkeit, Gesundheit und langes Leben bescheren. Potente Morphine aber als schnöde „Freizeitdroge“ zu verwenden, wie vielfach in westlichen Ländern der Fall, ist ein Frevel, der die Bestrafung in sich trägt… Drei Apotheken gab es am Ort und alle verkauften sie problemlos Morphinampullen. Aber nicht lange. Schon nach wenigen Wochen waren in der ersten Apotheke alle Ampullen ausverkauft. Der Apotheker musste in die Hauptstadt reisen, um Nachschub zu beschaffen. Bald reisten, während ich unbekümmert am Strand lag, alle drei Apotheker durchs Land
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um Morphinampullen aufzutreiben. Es dauerte insgesamt etwa fünf Monate, bis alle drei resignierend die Schultern hoben und versicherten, es stünde auf der ganzen Insel kein Morphin mehr zur Verfügung. Nachschub vom indischen Festland, war erst in sechs Monaten zu erwarten. Wie es schien war es mir gelungen, in nur wenigen Monaten den gesamten verfügbaren Morphin HCL Vorrat eines Landes der Größe von Bayern zu verbrauchen. Mein Gewissen drückte, dachte ich an die vielen Menschen der Insel, die jetzt trotz quälender Schmerzen und wuchernder Krebsgeschwüre, anstelle von Morphin nur Paracetamol erhielten. Doch wie ich erfuhr, gab es in Krankenhäusern und Arztpraxen mit festem Patientenstamm noch ausreichend Morphine die nicht auf den freien Markt gerieten, weil sie ausschließlich für Notfälle und eigenem Patientenstamm verwendet wurden … Wie schnell doch Paradiese ihren Reiz verloren, fehlte es in ihnen an brauchbarem Morphin. Pethidin, ein kurz wirkendes synthetisches Morphin, war dagegen noch reichlich vorhanden und so wich ich notgedrungen auf Pethidin aus. Pethidin eignete sich aber nicht zur dauerhaften Verwendung. Zum einen war es nur etwa drei Stunden wirksam, zum anderen erzeugte es sehr rasch tückische Nebenwirkungen. Angstzustände traten auf und Panikattacken raubten einem den Atem. So wurde ich beispielsweise mitten in der Nacht wach in der festen Überzeugung, jeden Moment raffte mich ein kardialer Arrest dahin. Ich weckte meine Vermieterin und fragte, ob sie Valium im Hause habe, woraufhin sie mich prompt für „drogensüchtig“ hielt. Auch am Tage, zum Beispiel während des Schwimmens, hunderte Meter weit draußen im Meer, bei haushohen Wellen, aus heiterem Himmel, Panikattacke! Für die gesunde, dauerhafte Behandlung einer Morphinbedürftigkeit, erwies Pethidin sich als völlig ungeeignet. Ähnliches berichtete übrigens auch W. S. Burroughs, der allerdings Pethidin in der deutschen Übersetzung seiner Werke noch „Eukodal“ nennt…
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In dieser Not erfuhr ich, dass jeder Apotheker des Landes ein Mal im Jahr eine feste Ration Rohopium zugeteilt bekam. Wie sich zeigte, besaßen meine Apotheker ihre Rationen noch. Doch es dauerte nicht lange und sie durchreisten wieder die Insel, diesmal um die vorhandenen Rohopiumrationen ihrer Kollegen aufzukaufen. Das Zeug schmeckte zwar abscheulich, aber man konnte damit leben... Von einigen Jugendlichen des Ortes erfuhr ich, sie importierten Opium von der Südspitze Indiens. Sie verkauften es in zehn Gramm Stücken von etwa der Größe einer Streichholzschachtel. Diese Opiumstücke waren in violettes japanisches Seidenpapier eingeschlagen, kreuzweise mit einer feinen hellblauen Kordel verschnürt und am Kreuzpunkt der Kordel mit einem blutroten Klecks Siegelwachs versiegelt, auf dem im Relief eine auffliegende Schwalbe zu sehen war. Kein propagandistisch verseuchter Deutscher Tourist hätte in dieser hübschen Verpackung jemals „Rauschgift“ vermutet. Und korrekt. Sie enthielt ja auch kein „Rauschgift“. Sie enthielt feines, wertvolles Opium von der Südspitze Indiens… Die kommenden Wochen lag ich am Strand und nuckelte verdrossen auf bitterem, teerschwarzem Opium. Eines Tages wunderte ich mich darüber, dass oben an der Hauptstraße, trotz strahlenden Sonnenscheins, jeder mit einem Regenschirm unterm Arm einher zu laufen schien. Bei näherer Betrachtung ergab sich, es waren keine Regenschirme, es waren Gewehre. Während ich sorglos mit Opium in der Backe am Strand gelegen hatte, war stillschweigend um mich her der Bürgerkrieg ausgebrochen! Zur Zeit der Kolonialisation wollten die Engländer die einheimischen Singhalesen auf Teeplantagen zur Zwangsarbeit treiben. Aber die Singhalesen waren kluge Leute. Sie stellten sich bei der Arbeit so dämlich an dass die Engländer den Eindruck gewannen, sie taugten nicht zur Arbeit. (Gut gemacht, Singhi!!) Deshalb schafften sie Tamilen von der Südspitze des Indischen Festlandes herbei, die klüger und arbeitsfähiger schienen als
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die ursprüngliche Bevölkerung. Inzwischen verweilten die Tamilen aber schon so lange auf der Insel und empfanden sich von den einheimischen Singhalesen derart unterdrückt, dass sie ihren eigenen Teil der Insel forderten. Das war, in einer Nussschale, der Kern dieses Bürgerkrieges. Als ich nach Einbruch der Dunkelheit auf ein Fischrestaurant zulief um dort das Abendbrot einzunehmen, traf ich auf eine johlende Menge, im Begriff, das Restaurant abzufackeln. Am nächsten Morgen flog die Polizeistation in die Luft. Es schien dringend an der Zeit dieses Paradies zu verlassen, wandelte es sich doch vor meinen Augen in eine echte Hölle. Ich ließ mich zum Flughafen bringen, erstand ein Ticket nach Peshāwar und verließ die Insel noch in derselben Nacht. Nicht dass es zu der Zeit in Peshāwar wesentlich friedlicher zugegangen wäre. Im Gegenteil. Gleich nebenan, in Afghanistan, kämpfte die Rote Armee gegen Afghanische Freiheitskämpfer. Dafür floss aber Heroin in den Straßen Peshāwars reichhaltiger und billiger als anderswo...
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Zurück im Paradies Zwei Jahre waren vergangen, seitdem ich die Insel verlassen hatte und noch stets wütete der Bürgerkrieg im Paradies. Aber wie man mir versicherte, fänden die Kampfhandlungen mehr im Norden des Landes statt. Im Süden der Insel sei man verhältnismäßig sicher. Also mietete ich, wie schon Jahre zuvor, ein Motorrad und knatterte damit die Küstenstraße Galle Road entlang in Richtung Süden. Während der Fahrt hatte man Meer, weiße Strände, Steilküsten und Kokospalmen auf der einen Seite und Dschungel, kleine Dörfer und rauchende Kohlenmeiler auf der anderen. Kleine, vom Rauch geschwärzte Teufel sprangen auf den Kohlenmeilern umher und öffneten oder schlossen hier und da, um die Luftzufuhr zu regeln, eine Öffnung nach der anderen. Viele eigensinnige Verkehrsteilnehmer gab es auf dieser Strecke. Je größer ihr Fahrzeug, desto dreister ihr Fahrstil. Viele extrem gammelige und Wolken stinkenden Dieselrauchs speiende Lastautos traf man unterwegs. Und dazu noch Linksverkehr, wie in England! Kleine Ortschaften und einzelne Häuser standen so nahe an der Straße, dass die Fußabstreifer vor den Türen auf der Fahrbahn lagen! Tropennächte fallen so rasch wie Vorhänge. Gerade eben war es noch taghell, PATSCH, im nächsten Moment ist es stockfinster. Straßenbeleuchtung, kannte man keine in diesem Land und die Lampe meines Motorrads funktionierte nicht. Fuhr ich über eine holprige Stelle, flackerte sie kurz auf und erlosch danach gleich wieder. Damit taugte sie allenfalls als zweifelhafte Positionslampe. Kahl geschorene Mönche mit Regenschirm, in orangene Gewänder gekleidet und aus alten Autoreifen geschnittene Sandalen an den Füßen, genasen den Schutz Buddhas und der Bevölkerung, mit dem sie bei Tage und bei rabenschwarzer Tropennacht ohne Licht oder sonstigem Signal völlig sorglos mitten auf der Fahrbahn liefen. Wehe, man fuhr einen dieser selig Verrückten über den Haufen! Die aufgebrachte Bevölkerung risse einen in Stücke! Und dazu noch Elefanten!
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Große, breitärschige Ungeheuer, die Tag und Nacht, träge die Rüssel schwenkend, seelenruhig mitten auf der Straße schlenderten. Man rase doch einem dieser Kolosse auf einer 750er Suzuki mit hundertfünfzig km/h von hinten zwischen die Beine...! Nach vier Stunden sehr aufmerksamer Fahrt, kam ich wieder in dem kleinen, malerischen Fischerort Hikkadua an. Die erste Nacht verbrachte ich, wie schon während meines ersten Aufenthaltes, im Sea Side Hotel. Tags darauf ging ich los um eine billigere Bleibe zu finden. Ich sprach eine junge Frau an, die am Rande der Hauptstraße einen Bananenstand unterhielt. Sie erzählte aufgeweckt von gleich mehreren Gästezimmern. „Ein Stück hinter dem Dorf im Wald wohnte zum Beispiel ein pensionierter Schuldirektor“, erzählte sie. „Der hat in seinem großen Haus immer Gästezimmer frei. Der Weg dorthin führt über die alte Bahnstrecke durch den Dschungel. Gehe immer nur gerade aus, folge einfach dem Pfad und du stößt von ganz alleine auf sein Haus…” Es war ein schmaler Pfad der sich streckenweise durch überhängende Vegetation in einen grünlich schimmernden Tunnel verwandelte. Links des Wegs wurden zwei schiefe, augenscheinlich baufällige Häuser sichtbar. Davor planschten einige nackte Kinder in einem Wasserlauf voll grüner Entengrütze. Auf einer Lichtung den Häusern gegenüber, sägten zwei Männer Bretter aus einem mächtigen Baumstamm. Dazu lag der Stamm auf einem hölzernen Gerüst, unter dem eine Grube ausgehoben worden war. Einer der Männer stand oben auf dem Gerüst auf dem Stamm und der andere darunter in der Grube. Beide hielten das Ende einer ungewöhnlich langen Säge in den Händen. Ihre nackten braunen Oberkörper glänzten von Schweiß, während einer die Säge zu sich hinab in die Grube zog und der andere sie wieder zu sich nach oben auf das Gerüst zerrte. Auf diese Weise fraßen sich die Zähne der Säge langsam aber beständig durch das frische Holz des mächtigen Baumstammes…
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Der Pfad weitete sich und eine Gabelung wurde sichtbar. Immer nur geradeaus, hatte die Bananenfrau gesagt. Immer nur geradeaus. Eine Gabelung, hatte sie nicht erwähnt. Der linke Pfad der Gabelung schien schmäler als der rechte und war weniger ausgetreten. Ich entschied mich deshalb für den rechten. Hoch über mir zog ein Schwarm Fledermäuse dahin, ihre Zahl so groß, dass sie für einige Augenblicke die Sonne verdunkelten. Beiderseits des Pfades stand, in allen Schattierungen von Grün schillernd und dabei abweisend wie eine Wand, die undurchdringlich dichte Vegetation des Urwaldes. Dort standen Bäume, dick wie Arme oder Beine erwachsener Menschen, keine zehn Zentimeter voneinander entfernt. Wollte man mit einem Hackmesser hindurch, man hätte keine Chance. Man bräuchte Dynamit. Auf einer Lichtung erglänzte im Sonnenschein ein weißes, im englischen Kolonialstil erbautes Haus. Es war das Haus des pensionierten Schuldirektors… Der pensionierte Schuldirektor, ein kleiner, auffallend magerer Mann mit einigen schlohweißen Haaren auf seiner ansonsten kahlen und braun gebrannten Kopfhaut, hieß Hakadiwala. Tropenkleidung hing an dem mageren Mann wie an einem drahtenen Kleiderbügel. Sein Gesicht war faltig und ledern und erinnerte stark an Dörrobst. Ich erschrak, als ich ihm die Hand gab. Wie ein Kondom voller Vogelgerippe, so fühlte die seine sich an. Man befürchtete, sie fiele schon unter geringem Druck zu Staub… Hakadiwala schien wie ein Geist, der sich immer nur dann materialisierte, wenn er lächelte. Lächelte Hakadiwala, blitzten einhundert falsche schneeweiße Zähne in seinem dunklen, vertrockneten Altmännergesicht. Dadurch erst, wurde man auf ihn aufmerksam. Lächelte er nicht, schwebte er dahin, unscheinbar wie eine Nebelsträhne… Hakadiwala führte mich durchs Haus und zeigte mir die Räumlichkeiten. Das Gästezimmer mit einem Boden aus gestampfter Erde, lag in einem Nebenflügel. An den Wänden hingen pastellfarbene Tücher mit indischen
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Mandala Motiven. In der Mitte des Raumes, etwa einen Meter voneinander, standen zwei einfache Betten und jeweils daneben ein altertümliches Nachtkästchen aus grobem Holz, doch mit grüner Marmoroberfläche. Durch eine schmale Flügeltür gelangten wir in einen Garten voll Kokospalmen. Hakadiwala winkte einen Diener herbei, ein kleiner, drahtiger Mann, barfuß und in Lendenschurz. Auf einen Wink Hakadiwalas, klemmte der Diener ein Hackmesser zwischen seine Zähne, krallte die nackten Füße um den Stamm einer Kokospalme und kletterte geschwind wie ein Äffchen daran empor. Oben angekommen, nahm er das Hackmesser aus seinem Mund und schlug damit eine goldgelbe Kokosnuss aus der Palmenkrone, groß wie ein chinesischer Lampion. Mit dumpfem Schlage, fiel die Nuss direkt neben mir zu Boden. Geschwinder noch als er empor geklommen, sauste der Akrobat wieder von der Palme herab. Er nahm die Kokosnuss vom Boden, schlug mit wohl gezieltem Hieb seines Hackmessers ihren oberen Teil hinweg und reichte mir die geöffnete Frucht zum Getränk. „King Coconut“, erklärte er nicht ohne Stolz. „King Kokonut“, und seine Augen blitzten vom heimlichen Wissen um die fabelhaften Qualitäten dieser Frucht. Die Kokosmilch schmeckte wie die Essenz aller Kokosnüsse der Welt. Man müsste Heroin in Kokosmilch lösen und intravenös injizieren. Dabei schmeckte man das Kokosaroma noch in den Bronchien. Das fühlte sich gewiss gut an und wäre sicher auch gesund. Der Diener Hakadiwalas nahm die leer getrunkene Nuss aus meinen Händen, hieb mit dem Hackmesser ein ovales Scheibchen von ihrer äußeren Schale, reichte mir die Nuss zurück und bedeutete mir, das ovale Scheibchen als Löffel zu verwenden um damit das Fruchtfleisch aus der Kokosnuss zu essen. Das Kokosfleisch war weich und zart und es schmeckte so süß und so intensiv nach Kokos dass man vor Scham verging, dachte man an die ausgetrockneten, braunen und haarigen „Elefanteneier“, die einem in europäischen Geschäften als Kokosnüsse angedreht wurden... Vier Rupies pro Nacht, rund 25 Pfennige, kostete Hakadiwalas Gästezimmer. Gegen Abend spazierte ich noch einmal ins Dorf zurück. Doch bevor ich aufbrach, fragte ich meinen Gastherrn, ob man sich im
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Urwald vor Skorpionen in Acht nehmen müsse. Hakadiwalas Gesicht legte sich in tausend einzige Lachfalten, als er aufrecht versicherte, über fünfzig Jahre lebte er nun schon in diesem Hause mitten im Urwald und während all dieser Jahre habe er noch nie auch nur den kleinsten Skorpion zu Gesicht bekommen. (Diese europäischen Touristen aber auch immer, mit ihren irrationalen Ängsten...!) Keine Skorpione also. In dieser Hinsicht beruhigt, machte ich mich auf den Weg ins Dorf... Als ich bei den schiefen baufälligen Häusern vorüber kam, vor denen nackte kleine Kinder planschten, kroch links des Weges ein kohlrabenschwarzer Skorpion von gewiss fünfunddreißig Zentimetern aus dem Dickicht. Schwergewichtig torkelnd wie ein Betrunkener, kroch er direkt vor meinen Füßen über den Pfad. Dabei zog er im trocknen Laube raschelnd seinen Schwanz hinter sich her, bestückt mit einem Giftstachel, lang wie ein Streichholz, der auf einer Giftblase saß, groß wie ein Fasanenei. Jetzt sahen ihn auch die Kinder aus dem grünlichen Wasserlauf. Kreischend vor Vergnügen, kamen sie herbei gerannt und trampelten mit ihren bloßen nackten Kinderfüßen das Scheusal zu Tode. Hinterher rissen sie dem breitgetretenen Scheusal den Giftstachel samt Giftblase vom Schwanz und stritten sich lautstark darüber, wer die Trophäe behalten durfte. Als sie lärmend wieder abgezogen waren, blickte ich verstört auf das plattgetretene und verstümmelte Ungeheuer zu meinen Füßen. Damit dem armen alten Hakadiwala wenigstens ein Mal im Leben gegönnt sei, einen Skorpion zu sehen, fühlte ich mich einige Augenblicke lang versucht das platt getretene Scheusal mitzunehmen um es ihm in den Schoss zu werfen oder an seine Haustür zu nageln. Nur der beunruhigende Gedanke, dazu müsse ich diesen Albtraum vom Boden schälen und einsacken, ließ mich davon absehen… Ich verbrachte noch eine Stunde am Strand und besuchte danach die drei Apotheken des Ortes. Ich lief von einer zur anderen und überall war es dasselbe. Keiner an diesem Orte hatte mich nach den Jahren meiner
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Abwesenheit wieder erkannt. Meine Apotheker dagegen, sprangen sofort von ihren Stühlen, als sie mich eintreten sahen. Vermutlich hatten sie die vergangenen Jahre kniend vor ihren kleinen Buddhaschreinen verbracht, Räucherstäbchen verbrannt und gebetet, Buddha möge mich wieder zu ihnen senden. Jetzt, da ich wieder hier war und wieder Morphinampullen kaufte, konnten die Kinder endlich wieder zur Schule geschickt werden, das lecke Dach konnte man reparieren lassen und vielleicht reichte es am Ende sogar noch für Opas falsche Zähne, damit man ihm nicht immer alles vorkauen musste. Ob ich Morphin wolle, fragten sie, die Schelme und ich rief, „Jajaja“! Um allen eine Freude zu bereiten, kaufte ich gleich von jedem fünfzig Ampullen. Als es spät geworden war, ging ich zum Sea Side Hotel um meine Sachen zu holen. Das Motorrad ließ ich vorerst gut und sicher in einer kleinen Garage neben dem Auto des Hotelbesitzers… Die Nacht war kohlrabenschwarz, als ich den schmalen Urwaldpfad betrat, der zu Hakadiwalas Haus führte. Ich sah buchstäblich die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht. Nur dort, wo der Mond ein wenig durchs Blätterwerk schimmerte, erkannte man den Weg. Gerade dachte ich, jetzt fehlte nur noch, dass mir vom Blätterdach her einer dieser Riesenskorpione in den Kragen fiele, als ich über einen harten runden Gegenstand stolperte. Erst dachte ich, es sei vielleicht ein besonders harter und schwerer Fußball. Doch dann bewegte dieser Fußball sich und ich erkannte, dass es sich um eine Schildkröte handelte! Ich nahm das Tier auf um es sicher im Schutze der Vegetation auf der anderen Seite des Pfades wieder abzusetzen. Doch als ich das Tier anhob, begann es plötzlich so bösartig zu fauchen und stank auf einmal so entsetzlich, dass ich es erschrocken wieder fallen ließ. Hatten Schildkröten Stinkdrüsen oder litt dieses Exemplar an einer besonders furchtbaren Krankheit? Und, seit wann fauchten Schildkröten eigentlich? Während ich noch über die Biologie von Schildkröten nachgrübelte, kam ich an eine Stelle an der das Mondlicht durchs Blätterwerk fiel. Plötzlich
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schien mir, als bewege sich der Pfad vor meinen Füßen. Ich sah genauer hin und prallte zurück. Eine Schlange, dick wie ich selbst und sicher doppelt so lang, kroch träge über den Weg. Wo Mondlicht auf den sich windenden Schlangenleib fiel, irisierten seine Schuppen in metallischen Regenbogenfarben. Wollte ich weitergehen, musste ich über diesen Lindwurm hinweg steigen. Doch das wagte ich nicht. Stattdessen wartete ich eine kleine Ewigkeit, bis das Ende des monströsen Wurms in Sicht kam und bald darauf im Unterholz auf der anderen Seite des Weges verschwand. Endlich kamen die Lichter von Hakadiwalas Haus in Sicht. Ich eilte erleichtert darauf zu… Insekten, groß wie Hühnereier, umkreisten lärmend die elektrische Beleuchtung über dem Hauseingang. Hakadiwalas Diener öffnete die Tür. Im Empfangsraum des Hauses sprangen Geckos durchs Dachgebälk, kleine eidechsenartige Akrobaten mit scheinbar klebrigen Füssen, die problemlos und ohne zu fallen an den Wänden hoch und sogar entlang der Decke liefen. Sie sprangen blitzschnell aus den Winkeln des Gebälks und schnappten mörderisch nach Insekten, doppelt so groß wie sie selbst. Ich grüßte den Hausherrn und wollte mich sogleich in mein Zimmer begeben. Doch der alte lederne Hakadiwala heftete sich hartnäckig an meine Fersen. Er folgte mir bis ins Gästezimmer. Er ließ selbst dann nicht von mir ab, als ich schon im Bett lag und gerne noch in Ruhe eine Gutenachtinjektion bereitet hätte. Hakadiwala stellte sich neben mein Bett und begann Schauergeschichten von Dieben zu erzählen, von bösen Buben aus den umliegenden Dörfern, die vor nichts zurückschreckten und bei Nacht mucksmäuschenstill mit langen Stangen, Haken an den Enden, das Gepäck ahnungslos schlafender Touristen durch geöffnete Fenster angelten. Hakadiwalas Diebesgeschichten nahmen kein Ende. Sie wurden immer ausgebreiteter, wurden zunehmend dreister, waghalsiger. Schließlich wurde es mir zu viel. Hakadiwalas Schauergeschichten kombiniert mit seinem Aussehen und dem Gedanken, die ganze Nacht mit ihm in einem Haus mitten im Urwald zu verbringen, erschien mir schließlich
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unerträglich. Auch gewann ich zunehmend den Eindruck, der alte gewitzte Hakadiwala erzählte mir all diese Diebesgeschichten nur um mich darauf vorzubereiten, dass am nächsten Morgen mein Gepäck verschwunden sein würde. Tatsächlich würde aber er, der alte gewiefte Hakadiwala, es selber geklaut haben! Ich stand schließlich auf, drängte das leichtgewichtig ausgetrocknete Gestell Hakadiwalas zur Tür hinaus und verabreichte mir rasch eine Morphininjektion. Danach nahm ich meine beiden Reisetaschen, packte alles von Wert, wie Papiere, Geld, Fotoapparatur, Medizin und Zubehör, in eine Tasche, während ich die andere mit zerknülltem Zeitungspapier vollstopfte und als Indikator für Hakadiwalas Charakter eine Brieftasche mit zwei zehn US$ Scheinen dazwischen schob. Danach suchte ich Hakadiwala auf und erklärte ihm, ich hätte im Sea Side Hotel etwas sehr Wichtiges liegen lassen. Etwas, das keinen Aufschub duldete. Etwas, das ich noch diese Nacht und zwar gleich auf der Stelle holen musste. Hakadiwala legte einen Zeigefinger an sein Kinn und überlegte. Schließlich meinte er, „Sicher sehr wichtige Medizin“? „Ja“, bestätigte ich. „Verteufelt wichtige Medizin sogar“. Ich drückte Hakadiwala die Reisetasche voll zerknülltem Zeitungspapier in die Hand und sagte, „In dieser Tasche befinden sich alle meine Wertsachen. Ich vertraue sie ihnen an. Geben sie gut darauf Acht. Ich bin nicht lange weg und gleich wieder zurück“. Danach klemmte ich die Reisetasche mit meiner eigentlichen Habe unter den Arm und verließ Hakadiwalas Haus. Ich tastete mich mit den Füßen durchs Dunkel den Pfad entlang zurück zum Dorf und übernachtete im Sea Side Hotel. Am nächsten Morgen ging ich zu Hakadiwalas Haus zurück, um meine Tasche zu holen. Die zwei zehn US$ Scheine, die ich in die Reisetasche gegeben hatte, waren weg. Hakadiwala, der alte lederne Schurke, mochte das Geld behalten. Zwanzig US$ waren ein geringer Preis für das Ergründen seines Charakters…
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Ich besuchte die junge Bananenverkäuferin an ihrem Stand an der Hauptstraße und erzählte, in Hakadiwalas Haus gäbe es zu viele Skorpione. Ich fragte, ob sie nicht noch eine andere Bleibe wisse? „Aber ja“, antwortete sie aufgeweckt. „Eine Beamtenwitwe. Selber Pfad wie zu Hakadiwalas Haus, aber dann an der Gabelung nicht rechts, sondern links entlang“. Merkwürdige Frau, diese Bananenverkäuferin. Diesmal erinnerte sie sich doch prompt an die Gabelung im Wege… Das Haus der Beamtenwitwe war ebenfalls ein weißes, im englischen Kolonialstil erbautes Haus. Anstatt aber nur Garten hinten, wie bei Hakadiwala, gab es hier auch einen Garten vor dem Haus. Der vordere Garten mit sattgrünen englischen Rasen, war von einem Lattenzaun umgeben, der erst kürzlich mit grell-weißer Farbe gestrichen worden war. Als ich durch das Gartentürchen trat, fiel mein Blick auf ein Grab. Ein Grab im Garten? Und wie es aussah! So sahen Gräber für gewöhnlich ja nicht aus. Es war ringsum mit denselben weißen Fliesen gekachelt wie bei uns zuhause die Badezimmer. In diesem gekachelten Grabe lag, wie ich erfuhr, der Witwe verblichener Gatte. Er hatte auf dem Nachhauseweg den herannahenden Zug am unbeschrankten Bahnübergang übersehen. Ob davon noch etwas im Grab lag, überlegte ich? Und so ja, was und wie viel davon? Und wie übersah man eigentlich einen alten, in Schrittgeschwindigkeit fahrenden Zug? Die Beamtenwitwe war die weibliche Ausgabe Hakadiwalas. Sie war ebenso alt, ebenso mager, ebenso braun und ebenso ledern. Der gibst du besser nicht die Hand, dachte ich weise und gab ihr zum Gruß nur den kleinen Finger. Die Frau war Mutter dreier Kinder, die alle bei ihr im Hause wohnten. Das älteste Kind war eine Tochter von einundzwanzig Jahren. Sie hieß Amely. Als ich Amely zum ersten Mal sah, zogen sich meine Hoden zusammen. Das sollte danach nie wieder geschehen. Amely studierte Altgriechisch, Hebräisch und Latein in der nahegelegenen Stadt Galle. Sehr klug sah sie aus, mit ihrer randlosen Brille auf der feinen
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spitzen Nase. Es dauerte nicht lange und ich wagte in Amelys Anwesenheit keinen Laut mehr von mir zu geben. Kaum machte ich den Mund auf, schon lächelte Amely und sah mich an als wolle sie sagen, „Meine Güte! Was bist du doch dämlich! Und wie du schon sprichst! Wie ein Tier. Typisch Mann. Zu viel Hoden, kein Gehirn“! Die beiden anderen Kinder, zwei sympathische Jungs, einer siebzehn, der andere achtzehn, betrieben an Galle Road eine Snackbar, in der ich mir einige Tage später meine erste wirklich gefährliche Lebensmittelvergiftung holen sollte. (Der Milkshake…) Das Gästezimmer der Witwe kostete fünf Rupies. Im Zimmer nebenan war ein junges Paar aus England eingezogen. Er hieß Ralf, sie Linda. Ralf litt an Gelbsucht höchster Qualität. Er war gelb wie eine Zitrone. Woher die Gelbsucht? „Vom elenden Wasser aus dem Brunnen im Garten hinter dem Haus“, greinte Ralf, so man ihn fragte. „Gehe hin, schöpfe ein Glas voll Wasser aus dem Brunnen und sehe selbst. Es wimmelt darin nur so von Keimen“. Der alte Ziehbrunnen hinter dem Haus sah aus wie die Abbildung eines Brunnens aus einem Märchenbuch. Er war rund und aus roten, grün bemoosten Backsteinen gemauert, mit einem Blecheimer daneben. mit einem Tau daran. Ich ließ den Eimer in die schattige, hallende Brunnenröhre scheppern und zog ihn mit Wasser wohl gefüllt wieder hervor. Ich füllte etwas Wasser in ein Glas und hielt es gegen das Sonnenlicht. Ralf hatte Recht. In diesem Glas befand sich fast schon mehr Leben als Wasser. Darin schwamm gewiss auch Ralfs Gelbsucht. Ich nahm mir vor, nur noch gut abgekochtes Wasser zu trinken… Die Toilette der Familie befand sich im hinteren Garten unweit des Brunnens. Es war ein leidlich aus Brettern zusammen genagelter Verschlag von etwa der Größe einer Telefonzelle. Eine Toilettenschüssel im eigentlichen Sinne gab es darin keine. Wollte man seine Angelegenheiten verrichten, musste man sich breitbeinig über ein Keramikteil stellen, das ebenerdig im Boden eingelassen war. Wie man mir erzählte, handelte es
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sich dabei um eine französische Kreation. War die Sache glücklich ins Keramikteil gezielt, lief man mit einem Blecheimer zum Brunnen um Wasser zu schöpfen. Damit eilte man zurück zur Toilette und schwemmte mit schwunghaft ausgeführtem Gusse die Sache aus dem Keramikteil in die Kanalisation. So zumindest die Theorie. In der Praxis erwies das Objekt sich gelegentlich als zu groß und zu schwer und blieb trotz kunstvoll ausgeführter Wassergüsse störrisch im Keramikteil liegen. Einen Eimer Wasser nach dem anderen hatte ich schon herbei geschleppt und mit kraftvollem Schwung in das Keramikteil gegossen. Vergebens. Das Objekt blieb unbewegt im Keramikteil liegen. Schließlich versuchte ich es mit einem Stock. Doch wie ich auch manövrierte, der Mist wollte nicht durch die zu enge Röhre. Entweder waren die Toilettenröhren in diesem Lande grundsätzlich zu eng bemessen, oder Europäer schissen einfach gewaltiger. Sicher zehn Mal, war ich schon mit dem Blecheimer von der Toilette zum Brunnen und wieder zurück gerannt. Alles umsonst. Inzwischen hatten sich die gesamte Familie und einige Nachbarn im Garten eingefunden. Sie standen in respektvoller Entfernung beieinander und sahen meinen Bemühungen mit großem Interesse zu. Sie steckten die Köpfe zusammen und schnatterten in ihrer merkwürdigen Sprache, als erläuterten sie einander die Fehler meiner Strategie. Schließlich wurde es mir zu viel. Ich trat wütend gegen die Toilettentür dass sie in den Scharnieren krachte, warf den Blecheimer scheppernd in den Toilettenverschlag und stapfte verdrossen ins Haus zurück. Die Versammlung im Garten sah verängstigt hinter mir drein. Eine halbe Stunde später wurde ich neugierig. Ich ging zur Toilette um nachzusehen was aus der Geschichte geworden war und fand, das Keramikteil im Toilettenverschlag war leer. Ich kratzte mich am Hinterkopf und überlegte, was wohl geschehen war und kam zu dem Schluss, sie hatten meine schwere Geburt sicher voller Bewunderung aus dem Keramikteil gehoben und unter ehrfürchtig gemurmelten Bannsprüchen irgendwo tief im Garten vergraben...
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Eines Tages ergriff die Witwe meine Hand, schnatterte wild erregt in ihrer Sprache, gestikulierte zur Rückseite des Hauses hin und zerrte mich am Ärmel in den Garten. Dort angekommen, entstand wildes Geschrei in den Kronen der Palmen und Obstbäumen. Äste, Früchte und Kokosnüsse prasselten herab. Eine Affenherde floh kreischend aus dem Garten und verschwand zeternd und schimpfend im dichten Urwald. Hinterher erklärte ein Sohn der Witwe, die Affen hatten noch nie einen hellhäutigen Europäer zu Gesicht bekommen. Als sie mich sahen, flohen sie vor Schreck in den Urwald zurück… Eines Abends lief ich mit offenem Hemd durch den Garten. Ein kleines Christenkreuz von Gold, hing gut sichtbar an einem Kettchen um meinen Hals. Das Kreuzchen erregte die Aufmerksamkeit der Witwe. Mit ausgestreckten Armen, die Finger streckend und krümmend wie Krallen, kam sie auf mich zugeeilt. Obwohl ich erschrocken zurück wich, kam sie unbeirrt weiter auf mich zu, die Arme ausgestreckt, die Hände wie Klauen öffnend und schließend. Schließlich erschien ihr Sohn, hielt sie zurück, beruhigte sie und führte sie, tief betrübt und mit gesenktem Haupt, ins Haus zurück. Hinterher erklärte er, seine Mutter wollte mein goldenes Kreuzchen. Nicht etwa des Goldes wegen, sondern als eine Art zusätzlicher Versicherung im Falle ihres Ablebens. Auch war man noch so buddhistisch, konnte es nicht schaden, holte man sich anderweitig ein wenig Rückversicherung. Beim Begleichen der nächsten wöchentlichen Rechnung legte ich das Halskettchen samt goldenem Kreuz als Geschenk oben auf die speckigen Rupies… Mike war Amerikaner aus der Motorstadt Detroit. Wir lernten uns am Strand kennen. Er hatte Burma durchreist und von diesem Abenteuer einige Kilogramm Heroin mitgebracht. Da er es billiger verkaufte als meine Apotheker ihr Morphin oder die jugendlichen Importeure ihr Opium, vernachlässigte ich von da an beide und verwendete nur noch Mikes Heroin. Bis Mike eines Tages verschwunden war. Über Umwege erfuhr ich,
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die Polizei des Ortes hatte sein Heroin geraubt (…solchen Raub nennt man weltweit Beschlagnahmung…) und ihn mit dem nächsten Flugzeug außer Landes geschafft. Wenige Tage nach Mikes Verschwinden fragte ein dickbäuchiger Einheimischer, ob ich am Kauf von Heroin interessiert sei. Er beschrieb sein Haus und lud mich ein, ihn dort aufzusuchen. Erkundigungen ergaben, dass es sich bei diesem Mann um einen Polizisten des Ortes handelte. Gegen Abend besuchte ich den Kerl… Der Dorfpolizist saß mit einem etwas geistig behinderten Kollegen in einer dunklen, rauchigen Stube. Auf dem Tisch brannte eine rußende Petroleumlampe, deren Schein über die Gesichter der Anwesenden flackerte. „Lass sehen was du anzubieten hast“, sagte ich. Der Dorfpolizist verschwand in einem Nebenzimmer und kam wenige Augenblicke später mit einer Papiertüte wieder. Ich besah mir das Zeug. Es war Heroinbase und zwar genau dieselbe Heroinbase, die ich noch vor einigen Tagen von Mike gekauft hatte. Sieh an, dachte ich, hatten die Strolche doch glatt Mikes Heroin beschlagnahmt um es selbst unter die Leute zu bringen. Der Dorfpolizist besaß keine Waage. „Ich kenne mich aus mit den Mengen“, sagte ich und holte ein leeres, gläsernes Tablettenröhrchen aus der Hosentasche. Ich malte mit Filzstift einen Strich darauf und erklärte, „Füllst du dieses Röhrchen bis zu diesem Strich, sind es genau zwei Gramm“. Tatsächlich waren es eher fünf Gramm, aber der Dorfschupo ließ sich darauf ein. Von diesem Tage an kaufte ich vom Dorfpolizisten fünf Gramm Heroinbase für den Preis von zweien und weil er auch hinsichtlich der gängigen Preise im Dunkeln tappte, erwarb ich fortan rund fünf Gramm für nur fünf US$... Wie der Zufall es wollte, sollte ich Mike wenige Wochen später in Malaysien wieder begegnen. Dabei würde ich erfahren, auf der Insel hatte man ihm nur dreihundert Gramm abgenommen. Er war gerissen genug gewesen, sich mit seinem restlichen Heroin im Gepäck, fast zwei Kilogramm, abschieben zu lassen. Dass er damit in Malaysien einreiste, in
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ein Land, in dem auf den Besitz von nur wenigen Gramm Heroin die Todesstrafe durch Erhängen stand, zeugte von Mikes verwegenem Unternehmungsgeist... Das Land unter der Tropensonne war ungewöhnlich fruchtbar. Spukte man auf den Boden, man konnte daneben stehen und zusehen, wie sich gleich darauf Keime aus der Erde drehten. Alles, gedieh im Klima dieses Landes gut. Leider auch Infektionskrankheiten. Ralf war noch stets gelb wie eine Grapefruit und damit sei gemeint, so richtig GELB! „Lass uns doch in die Hauptstadt fahren“, nervte seine Freundin Linda ununterbrochen. „Dort gibt es europäische Ärzte mit moderner Medizin, die dir sicher helfen“. Doch von europäischen Ärzten und moderner Medizin wollte Ralf nichts wissen. Der hatte nämlich in der benachbarten Stadt Galle schon einen einheimischen Medizinmann aufgestöbert, dem er all sein Vertrauen schenkte. Sechs große bauchige Flaschen gefüllt mit Kräuterextrakten, wovon einer übler stank als der andere, hatte Ralf von seinem Medizinmann empfangen. Unter Lindas abwertenden Blicken, sie hielt nichts von einheimischer Medizin, hielt Ralf sich strikt an die empfangene Vorschrift und nahm das Zeug regelmäßig in vorgeschriebener Menge ein. Während Linda noch über die farbigen Kräuterextrakte lästerte, wandelte Ralfs Gesicht sich zunehmend von Gelb zu einem frischen Rosa. Keine sechs Wochen später hatte Ralf seine Gelbsucht mithilfe der natürlichen Arzneien seines einheimischen Medizinmannes überwunden… Kaum war Ralf wieder frisch und gesund genug, fuhren wir gemeinsam in die Hauptstadt zum Duty free Shop, dem steuerfreien Laden des Landes. Einheimischen war der steuerfreie Einkauf in diesem Laden untersagt. Das war nur Ausländern gestattet, die ihre erworbenen Waren aber auch außer Landes bringen mussten. Erwarb ein Ausländer im Duty free Shop beispielsweise eine Waschmaschine oder einen Farbfernseher, drückte der Verkäufer ihm einen entsprechenden Stempel in den Reisepass. Dadurch
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konnte bei der Ausreise geprüft werden, was alles steuerfrei erworben worden war. Hatte man die erworbenen Artikel bei der Ausreise nicht bei sich und hatte auch keinen Nachweis für ihre Ausfuhr, musste man sie nachträglich versteuern. Aus diesem System zogen Ausländer wie auch Einheimische Vorteile. Vor dem Geschäft standen dann auch täglich ganze Scharen Einheimischer und versuchten, Ausländer zum Kauf begehrter Waren zu überreden. Nicht wenige ließen sich gegen redliche Bezahlung darauf ein. In einem Lande, in dem Strom nur zwischen zwanzig Uhr und ein Uhr Nachts zur Verfügung stand und kein Fernsehsender existierte, der auch nur ein schwarzweißes Testbild ausstrahlte, von Farbfernsehprogrammen ganz zu schweigen, schleppten Ralf und ich zahlreiche Farbfernsehgeräte und auch Waschmaschinen aus dem Laden, aber auch Sinnvolleres, wie etwa Stromaggregate, und überreichten sie den strahlenden neuen Besitzern. Schließlich kam es so weit, dass die Verkäufer des Duty free Shops unsere Gesichter kannten und sich erinnerten, was wir schon alles gekauft hatten, was unmöglich für uns selbst gewesen sein konnte. Am Ende weigerten sie sich, uns auch nur einen Lolly zu verkaufen. Doch die Tour hatte sich bereits gelohnt. Schmutzige Dollar- und Rupiescheine quollen aus unseren Hosentaschen. Dafür hatte aber auch jeder von uns die Seitenränder seines Reisepasses voller Stempel vom Duty free Shop. Dagegen hatten wir allerdings ein Mittel... Wieder zurück im Fischerdorf, saßen wir unter dem Geschrei von allerlei Affen und tropischer Vögel auf der Veranda der Witwe und entfernten die Duty free Shop Stempel aus unseren Reisepässen. Wir nahmen feine dünne Pinsel zur Hand, tauchten sie in Bremsflüssigkeit, wie man sie in Bremsen von Kraftfahrzeugen fand, und fuhren damit vorsichtig entlang den Konturen der Stempel. Dadurch verschwanden die Stempel, wurden vor unseren Augen unsichtbar, wie von Feenhauch hinweg gefegt. Man durfte nur nicht zu viel Bremsflüssigkeit auftragen, sonst verblich auch die Farbe des Papiers unter den Stempeln. Während wir im Mondenschein und beim
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Lichte zischender Benzinlampen saßen und derart künstlerisch tätig waren, kam uns eine Idee… Wir vereinbarten dass ich es zuerst versuchen würde. Klappte es bei mir, wollte auch Ralf es probieren. Ich fuhr in die Hauptstadt und erwarb versicherte Reiseschecks im Wert von zwölftausend US$. Da Banken einen am laufenden Band betrogen und obendrein von ihrem Betrug gut existierten, hatte ich keinerlei Bedenken, sie zu betrügen. Aber zuerst betrogen sie nochmals mich. Um meine Deutschen Mark in US$ Reiseschecks zu wechseln, musste ich erst Rupies kaufen und die dann wieder in US$ wechseln. Bei den gängigen Wechselkursen verlor ich dabei nicht wenig. Doch das sollte sich wieder ausgleichen, sobald mein Plan verwirklicht war. Was ich vorhatte, nannte man Scheckbetrug. Dafür wurde man von der Polizei gesucht. Da die Polizei aber ohnehin schon hinter mir her war, und das bislang ergebnislos, machte ich mir darüber keine Sorgen… Im Nachhinein wusste ich, es war unklug in diesem Restaurant Fisch zu essen. Während des Essens hatte ich auch noch der Hauskatze ein Stück des Fisches hingeworfen. Sie roch kurz daran, wandte sich ab und ließ es liegen. Sie war klüger als ich. Tags darauf hatte ich die erste ernsthafte Fischvergiftung meines Lebens. Die nächsten drei Tage verbrachte ich mit Fieberhalluzinationen wie im Traum. Als ich schließlich wieder halbwegs hergestellt war, konfrontierte ich die vier Brüder die das Restaurant betrieben. Ich warf ihnen vor, verdorbenen Fisch zu servieren. Wie erwartet, stritten sie alles ab. Sie hatten noch nie vergammelten Fisch angeboten, beteuerten sie und mehr noch, ich sei sogar schon seit Wochen nicht mehr in ihrem Restaurant gewesen. Weil sie so unkooperativ waren und so unverschämt logen, beschloss ich, sie zum Bestandteil meines Planes zu machen. Sie durften mir dabei helfen, ihn zu verwirklichen…
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Einige Tage danach betrat ich das Restaurant der vier Brüder. Ich setzte mich an einen leeren Tisch und bestellte Früchtesalat und ein Glas Kokosnusscocktail. Das Restaurant war gut besucht an diesem Abend. An nahezu allen Tischen saßen Touristen aus aller Welt. Sie schnatterten erregt miteinander, aßen und tranken und riskierten dabei ohne es zu ahnen den Tod durch Fischvergiftung. Nach einer Weile ging ich zur Außentoilette, ein überdachter, übel riechender Verschlag voll winziger, russschwarzer Ameisen, die angriffen, sobald man die Hose herab gelassen hatte. Ihre Bisse waren so schmerzhaft, brannten so höllisch, dass man geschwinde wieder in die Hosen kam und das Weite suchte. Von der Toilette zurückgekehrt, stand ich erst, für jedermann gut sichtbar, ratlos an meinem Tisch und eilte danach, sichtlich erschrocken, erneut zur Toilette. Anstatt aber zur Toilette zu gehen, verschwand ich durch eine offene Seitenwand und ging zum Strand… Der samtschwarze Sternenhimmel sah so bezaubernd aus dass er einem den Atem nahm. Einzelne Sterne wirkten wie zum greifen nahe. Das Kreuz des Südens funkelte in all seiner Pracht. Ich setzte mich in den warmen Sand, nahm einen Beutel voll Marihuana aus meiner Tasche und drehte eine Zigarette. Während ich saß und rauchte, bemerkte ich eine große runde Gestalt, die in einiger Entfernung aus dem Meer zu kommen schien. Gleich daneben erschien eine weitere und danach noch eine und noch eine. Bald fand ich mich geradezu t von großen runden Gestaltenumring. Plötzlich kam eine direkt vor mir aus dem Meer und torkelte geradewegs auf mich zu. Es waren Meeresschildkröten, Kolosse der Weltmeere, die diesen Strand schon seit Urzeiten zum Ablegen ihrer Eier aufsuchen mochten. Die Schildkröte arbeitete sich durch den Sand, sichtlich nicht ihr Element, und schob dabei ihren schweren Leib so nahe an mir vorüber, dass ich sie berühren konnte. Sie verströmte den salzigen, organischen Geruch des Meeres. Meine Anwesenheit schien sie in keiner Weise zu beunruhigen. Sie beachtete mich nicht. Gleichgültig, schob sie ihren schweren Körper an mir vorbei den Strand hoch, als wollte sie mir zu
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verstehen geben, „Du magst sein wer du willst, aber du wirst mir verzeihen müssen wenn ich dir keine Beachtung schenke. Ich muss hier nämlich Eier legen“. Ich folgte der Schildkröte einige Meter den Strand hoch und sah zu wie sie mit den Hinterbeinen Sand beiseite warf und eine Grube aushob. Danach manövrierte sie ihren Hinterleib darüber und deponierte in aller Seelenruhe ihre Eier. Während sie legte, setzte ich mich neben sie in den Sand und sah zu. Ich sah in ihr Gesicht und erschrak. Die Augen dieser Schildkröte, ihr Kopf feucht noch vom Meere und glänzend im Mondenschein, sahen mit solcher Ruhe in meine, ihr Blick gefüllt mit der Weisheit von Jahrmillionen, dass mir die Tränen kamen. Am Ende dachte ich, diese Tiere bereisten schon seit Jahrmillionen die Weltmeere und brauchten dazu keine Banken, keine Reiseschecks und keine Betrügereien. Gestärkt vom uralten Geiste des Meeres fand ich mich wieder in der Gegenwart. Ich erhob mich, lief zur Hauptstraße und spazierte zur Polizeistation. Sollte mein Plan gelingen, musste ich dort den Verlust meiner Reiseschecks und meines Reisepasses anzeigen... Verlor man versicherte Reiseschecks oder wurden sie gestohlen, stellte man Verlustanzeige bei der Polizei. Mit der Durchschrift dieser Verlustanzeige ging man zur Bank und erhielt innerhalb von vierundzwanzig Stunden neue Schecks. Hatte man in Wirklichkeit die angeblich verloren gegangenen Schecks noch, sollte man sich klugerweise auch einen neuen Reisepass besorgen, den man zum Einlösen der Schecks benötigt. Danach löste man die neuen Schecks mit dem neuen Reisepass ein und die alten Schecks mit dem alten Reisepass. Damit hatte man seinen Einsatz verdoppelt. Man musste nur darauf achten, nie aus Versehen die alten Schecks mit dem neuen, oder umgekehrt, die neuen Schecks mit dem alten Reisepass einzulösen. In dem Falle ginge in der Zentrale, wo die Schecks abgerechnet wurden, der Hut hoch und jeder bekäme das darunter verborgene Kaninchen zu Gesicht… Der Polizeichef saß zusammengesunken in einem altertümlichen
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Ohrensessel und hielt die Augen geschlossen. Über ihm klapperte ein rostiger Deckenventilator. Einige Gefangene kauerten im Halbdunkel eines groben, vergitterten Loches in der Wand. Daneben hingen an rostigen Eisenhaken Handschellen, Ledergurte verschiedener Länge und andere, unbekannte Folterwerkzeuge. „Ich möchte eine Verlustanzeige aufgeben“, sagte ich bescheiden und lächelte artig. Der Polizeichef öffnete ein Auge und sah mich glasig damit an. „Ich war im Restaurant Zum quirligen Kraken“, fuhr ich fort, „und hatte meine Tasche entweder kurz unbeaufsichtigt im Restaurant liegen lassen, oder auf der Toilette vergessen. Jedenfalls war sie plötzlich weg“. Der Polizeichef atmete tief durch. Er hob seinen Kopf. Sein Gesicht schwoll an und wurde purpurn. Die Haut seines Halses stülpte sich über seinen speckigen Hemdkragen. Er stützte sich mit den Fäusten auf seinen Schreibtisch, wuchtete sich aus dem Ohrensessel und röhrte, dass es sicher bis weit über die Hauptstraße und bis zum Strand zu hören war, „Das Restaurant der vier Brüder?! Diese Bastarde?! Aber diesmal bekommen sie was sie verdienen“! Nach dieser anstrengenden Einleitung ließ der Polizeichef sich schwer atmend und sichtlich erschöpft wieder in seinen Ohrensessel fallen. „Was haben diese Bastarde diesmal gestohlen?“, keuchte er. „Nun“, antwortete ich, „In meiner Tasche befanden sich mein Reisepass, Zigaretten, ein Feuerzeug, meine Taschentücher, eine Taschenlampe und Reiseschecks im Wert von ungefähr zwölftausend US$“. Ein Polizist, der Kragen und die Ärmelmanschetten seines Uniformhemdes ausgefranst, schrieb eifrig mit. Als der Polizeichef die Summe von zwölftausend US$ vernahm, drohte er erneut aus seinem Ohrensessel zu kommen, hielte ein fürsorglicher Untergebener ihn nicht mit sanftem Druck und beschwichtigenden Worten davon ab. „Gehen sie bitte sofort zu diesen vier Bastarden“, stöhnte der Polizeichef, „und sagen sie ihnen, ich will sie morgen früh um acht Uhr hier in meinem Büro sehen, und sie, Sir, sie kommen dann bitte auch“. Ich sagte, „Ist gut, Chef. Ich werde es ausrichten. Sie können sich auf mich verlassen. Ich wünsche ihnen noch einen angenehmen Abend“. Mit diesen Worten war ich wieder zur Tür hinaus. Aufatmend stand ich im Hof der
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Polizeistation unter dem Sternenzelt und schmeckte auf meiner Zunge das Salz der erfrischenden Brise, die sanft vom entfernt rauschenden Meer herüber wehte… Gelassen schlenderte ich die Hauptstraße wieder hoch und ging zum Restaurant „Zum quirligen Kraken“. Ich hatte Glück. Die vier Brüder standen gerade beieinander. „Guten Abend“, begrüßte ich sie. „Ich soll vom Polizeichef ausrichten, er will euch alle vier morgen früh um acht Uhr in seinem Büro sehen“. Ihre Gesichter verfinsterten sich. Es begann beim Jüngsten und arbeitete sich hoch bis zum Ältesten. Am Ende standen sie vor Zorn fast schwarz geworden vor mir. Komisch war, es kam ihnen gar nicht in den Sinn zu fragen, weshalb der Polizeichef sie sehen wollte. „Wir gehen nicht hin“, erklärte der Älteste trotzig. Zwischen diesen vier Brüdern und dem Polizeichef schien es eine alte Feindschaft zu geben, deren Ursache mir unbekannt war. Sicher schien, sie mochten einander nicht. In ruhigem Ton sagte ich, „Ich habe euch ausgerichtet was der Polizeichef mir aufgetragen hatte. Alles weitere geht mich nichts an. Gute Nacht“. Ich verließ das Restaurant durch den Hinterausgang und begab mich zum Strand um nachzusehen, ob die Schildkröten sichtbare Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen hatten. Ja, das hatten sie. Im Sand sah man deutlich, vom Meeressaum den Strand hoch und wieder zurück, die Spuren ihrer schweren Leiber. Ich fürchtete, diese Spuren führten Eierräuber zu den Gelegen. Ich zerstörte die Spuren so gut es ging und lief danach eine Strecke weit am Saum des Meeres entlang, bis ich an die Stelle kam, an der ein Pfad zum Haus der Witwe führte… Am nächsten Morgen verschlief ich den Termin mit dem Polizeichef. Ich erwachte erst gegen zehn Uhr. Ich schlüpfte rasch in eine Badehose, schob eine Sonnenbrille auf meine Nase und warf das gemietete Motorrad an. Im Hof der Polizeistation standen die vier Brüder wie Zinnsoldaten aufgereiht in der prallen Sonne. Sie waren pünktlich um acht Uhr erschienen. Da ich noch nicht anwesend war, hatte der Polizeichef sie solange auf dem Hof in
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die Sonne gestellt. Sie hatten sich fein gemacht zu diesem Anlass, die vier Brüder. Schick, sahen sie aus in ihren schwarzen Anzügen, ihren weißen, gesteiften Hemden, dem bis oben hin zugeknöpften Krägen und den diszipliniert geknüpften Krawatten. Unter den Achseln und auf den Rücken ihrer Anzüge sah man vom Kragen abwärts bis zur Gürtellinie große dunkle Schweißflecken. Sie waren vom langen Stehen in der prallen Tropensonne regelrecht aufgeweicht. Jetzt, da ich eingetroffen war, durften sie ins Büro kommen. Wie geprügelte Hunde schlichen sie herbei, die Helden vom Abend zuvor. „Soll ich sie verprügeln lassen?“, rief der Polizeichef. Die Hoffnung in seiner Stimme war unüberhörbar. Er blickte drohend auf die Vier und wies mit einer Geste zur Wand, wo die Handschellen, die langen Ledergurte und andere Folterinstrumente hingen. „Warte Chef“, sagte ich, „Wir wissen doch gar nicht, ob sie es tatsächlich gewesen sind. Vielleicht hatte ein Gast meine Tasche mitgenommen“. Davon wollte der Polizeichef nichts wissen. „Sie waren es, diese elenden Bastarde!“, rief er. „Ich kenne sie schon seit Jahren und weiß, sie haben die Tasche gestohlen“! Während der Polizeichef sprach, drangen aus dem vergitterten Loch in der Wand unterdrückte Schmerzesschreie. Die vier Brüder zogen ängstliche Gesichter. „Soll ich sie auch ganz gewiss nicht verprügeln lassen“, drängte der Polizeichef. Doch zu seiner Enttäuschung lehnte ich wieder ab. „Nein Chef“, sagte ich. „Wir wollen es diesmal dabei belassen. Sollten sie allerdings in ähnlicher Situation wieder vor dir stehen, dann Chef, walke sie ordentlich durch und gib ihnen bei der Gelegenheit gleich auch einige Hiebe in meinem Namen mit“. Der Polizeichef gab sich zufrieden. Er reichte mir ein Dokument zur Unterschrift. Es war die ersehnte Verlustanzeige. Ich unterschrieb und empfing die ersehnte Durchschrift. Ich steckte sie in meine Badehose, dankte und verabschiedete mich. Auf Befehl des Polizeichefs durften die vier Brüder sein Büro erst verlassen, nachdem ich längst außer Sichtweite und über alle Berge war. Tags darauf fuhr ich mit der Durchschrift der Verlustanzeige zur Bank…
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Der Knappe der Bankfiliale zog ein langes Gesicht, als er meine Geschichte vom Verlust der Schecks hörte und die Durchschrift der Verlustanzeige sah. Er wusste aus Erfahrung dass ich log. Er kannte das Spiel auch schon von den vielen Italienern, die alle auch auf dieselbe Weise arbeiteten und zu allem Überfluss auch noch im selben Fischerdorf lebten wie ich und ihre Verlustanzeigen auch alle aus demselben Polizeibüro hatten. Diese Tour lief bereits kräftig aus der Hand, doch was sollte ein einfacher Bankangestellter dagegen tun, außer zähneknirschend zu sagen, „Ihre neuen Schecks liegen morgen gegen Mittag für sie abholbereit“? Die neuen Schecks fühlten sich wertvoll an, steif und wie frisch gedruckt. Jetzt benötigte ich nur noch einen neuen Reisepass. Den bekam man bei der Botschaft. Doch dort saßen an die zwanzig junge Leute im Garten und erweckten den Eindruck, sie wohnten dort. Verschlafen, sahen sie aus. Sie wirkten ungewaschen, hatten lange, verworrene Haare, dunkle Ringe unter den Augen und schwarze Ränder unter den Fingernägeln. Einer schrammte gelangweilt auf einer Klampfe, der mehrere Saiten fehlten. „Guten Tag“, sagte ich zu dem jungen Klampfenspieler. „Was treibt ihr alle im Garten der Botschaft“? Der junge Mann wies mit ausholender Geste in die Runde und erklärte, „Wir warten alle auf unseren neuen Reisepass“. In mir keimte ein furchtbarer Verdacht. Sollte es am Ende doch nicht so einfach sein, an einen neuen Reisepass zu kommen? Voll böser Vorahnung fragte ich, „Wie lange wartet ihr schon“? Der junge Mann legte sein Klampfe beiseite. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen und antwortete, „Olaf dort hinten“, er wies auf einen mageren jungen Mann, der flach auf dem Rücken im Grase lag, „Olaf wartet schon seit acht Wochen. Aber die meisten von uns warten noch nicht länger als drei Wochen“. Acht Wochen?! Drei Wochen?! Solange wollte ich nicht warten. Ich wollte meinen Reisepass sofort. Ich strich mein Haar glatt und marschierte auf den Eingang der Botschaft zu. In der kühlen, klimatisierten Vorhalle trat mir eine adrett gekleidete junge Frau entgegen. „Sie wünschen…?“, fragte
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sie unbeteiligt. „Ich wünsche in einer dringenden Angelegenheit den Herrn Konsul zu sprechen“, sagte ich. „Folgen sie mir bitte“. Sie führte mich in ein Büro und bat mich, vor einem mächtigen Mahagonischreibtisch Platz zu nehmen. „Der Herr Botschafter wird gleich bei ihnen sein“, sagte die junge Frau noch. Danach verließ sie das Büro und drückte von außen leise die Tür ins Schloss… An den Wänden des Büros hingen gerahmte Fotoaufnahmen von Kampfflugzeugen des zweiten Weltkriegs. Heinkel, Junker, Fokker, Messerschmidt, alle waren sie vertreten und alle trugen ein Hakenkreuz am Heckruder. Die Tür öffnete sich und ein groß gewachsener, sportlich aussehender älterer Herr mit kurzen grauen Haaren trat ein. Ich erhob mich und reichte dem Mann die Hand. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Herr Konsul waren während des Krieges Kampfflieger?“, eröffnete ich das Gespräch. Jawohl. Das war er. Da ich nicht nur jeden Flugzeugtypen auf den Fotos kannte, sondern auch die Geschichte der deutschen Luftwaffe von ihren Anfängen während des ersten Weltkriegs bis zum Ende des zweiten und auch die Biographie Hermann Görings, Chef der Deutschen Luftwaffe und somit ehemaliger Vorgesetzter des Herrn Konsuls, hatte ich genug Gesprächsstoff für die nächste Stunde. Wir schwätzten über die Abwurfhalterung von Stukas und lachten über Hermann, der seinen Namen ändern wollte, gelänge es auch nur einem feindlichen Flugzeug, Deutschen Luftraum zu erreichen. Es war für uns beide ein anregendes und interessantes Gespräch, bis der Botschafter nach etwa einer Stunde fragte, „Sagen sie, weshalb sind sie eigentlich heute zu mir gekommen“? „Mein Reisepass, Herr Oberst. (Er ist Oberst gewesen, während des Krieges …) Mein Reisepass wurde gestohlen und ich benötige dringend einen neuen“. Der Botschafter drückte auf einen verborgenen Knopf an der Unterseite seines Schreibtisches. Sofort öffnete sich die Tür und die junge Frau erschien. So schnell wie sie, konnte kein Mensch auf das Klingelsignal des Botschafters reagieren, es sei denn, er hatte bereits direkt an der Tür gestanden und gelauscht. Kein Zweifel, die adrette Göre
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hatte an der Tür gehorcht. Vielleicht arbeitete sie für einen feindlichen Geheimdienst? KGB? Mossad?„Haben sie ein Foto bei sich?“, fragte der Botschafter. Ich reichte dem Mann ein Passfoto. Er öffnete eine Schublade, holte einen unbeschriebenen Reisepass hervor und reichte Foto und Pass der jungen Frau. „Nieten sie dies hier bitte aneinander“. Sie verließ das Büro, kam nach wenigen Augenblicken wieder und reichte dem Botschafter den Pass der nun mein Foto enthielt. Der Botschafter legte den Pass vor sich auf den Schreibtisch. Er griff zu einem Kugelschreiber, fragte nach meinen Personalien und trug alles sorgfältig mit der Hand in meinen neuen Pass. Danach drückte er noch einige Stempel hinein und reichte ihn mir. Da sich aus einer Drei die mit Kugelschreiber geschrieben war, leicht eine Acht machen ließ, verlängerte ich diesen Pass einige Jahre später eigenhändig. Der Botschafter erhob sich, drückte meine Hand und wünschte gute Weiterreise. Als ich aus dem Gebäude in den Garten trat und durch die Meute verschlafener junger Leute lief, hielt ich triumphierend den neuen Pass hoch und rief, „Hoch lebe der Führer, Jungs, und hoch lebe Hermann Göring“! Mit hängenden Augen und wirrem Haar, sahen die Schläfer hinter mir her. Fliegen, summten dabei um ihre Köpfe... Die Witwe und ihre Kinder waren Tamilen. Besonders die beiden Jungs von siebzehn und achtzehn, waren mit jeder Faser Tamilen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sie beschlossen, ihren kämpfenden Volksgenossen in den Urwald zu folgen. Jeder bewaffnet mit einer AK 47 und dem Auftrag, zwei von der Schulter abzufeuernde Boden-Luft Raketen zur Truppe zu bringen, verabschiedeten sie sich eines Tages von ihrer Mutter, von ihrer Schwester und von mir. Keiner sollte sie jemals wieder sehen. Wie ich wenig später erfuhr, waren sie während eines Luftbombardements der Regierungstruppen ums Leben gekommen… Auch für mich kam schließlich die Zeit, die Insel wieder zu verlassen. Das Leben und die Not trieben mich weiter nach Malaysien, in die Türkei und von dort über Paris und Calais nach London. Nachhause, konnte ich
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nicht mehr. Dort erwarteten mich nur Medizinmangel, Krankheit, Elend, Unterdrückung, Haftbefehle, Gefangenschaft, Terror und Tod. Und ein zutiefst verbitterter Kriminalkommissar, mit einem Bündel falscher Banknoten in der Hand. Das grüne Paradies, die Insel an der Südspitze Indiens, mit ihren freizügigen Apothekern und den vielen fantastischen Menschen, sollte ich nie wieder sehen…
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Zweiter Teil
Blut & Mohnmilch, …die frühen Jahre 168
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Wieder ein „besonderer Fall“ Dauerhaft Morphin zu verwenden und davon auszugehen, es stelle sich keine körperliche Gewöhnung ein, ist ebenso naiv wie anzunehmen, nackte Hände würden nicht nass, wenn man sie unter strömendes Wasser hält. Ein Motorrad, wollte Werner sich aus dem Ertrag seines kleinen Heroinhandels zulegen. Nur ein Motorrad. Danach wollte er den Handel wieder einstellen. Er hatte mir die farbigen Broschüren schon unendliche Male vorgelegt. Eine Honda mit 750 Kubikzentimetern sollte es werden. Und knallgelb, sollte sie sein. Gelb wie Butteblumen, wie Löwenzahn, gelb wie die Post, ja, gelb wie die Sonne! Wie Werner immer wieder betonte, könne er sich nie an den Konsum der eigenen Handelsware gewöhnen. Er habe nämlich ein Ziel vor Augen, wie er jedem versicherte der ihm mit Bedenken kam, und wer ein Ziel vor Augen hatte, so Werners Theorie, der gewöhne sich nicht so leicht an Heroin, denn das stünde dann ja dem Erreichen des Zieles im Wege. Dadurch sei ein Ziel vor Augen gewissermaßen der rettende Mast, an den man gefesselt sei um allen Sirenengesängen des Opiats zu widerstehen. Eine kluge Theorie, kein Zweifel, nur wusste ich es besser und Werner sollte mein erster Fall werden, dem ich in keiner Weise dazwischen reden wollte. Ich hatte schon bei vielen die Entwicklung einer Morphingewöhnung beobachtet, hatte mich eingemengt und erfahren müssen, dass jede Einmengung sinnlos war. Manchmal schien mir, als wäre das Drehbuch für die Zukunft mancher Leute längst geschrieben und im Studio zur Verfilmung abgegeben worden, lange bevor sie selbst es ahnten. Es war die flüsternde Stimme des Morphins, die für manche wie subtiler Sirenengesang aus dem Hintergrund über die Meere klang, die Stimme, die noch den listigsten Odysseus vom Mast riss und sein Schiff auf die
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Klippen führte. Nicht jeder Mensch verfiel diesem Gesang. Es war immer nur eine gewisse Art Mensch, die unwiderstehlich davon angezogen wurde. Mit der Zeit hatte ich gelernt, sie an ihren Attributen zu erkennen. Es waren Menschen mit unscharf umrissener Persönlichkeit, Menschen, deren Persönlichkeit nie so recht in den Fokus geriet, Menschen, mit amorpher Persönlichkeitsstruktur, Persönlichkeiten mit fransigen Rändern… Werner war also mein erster Fall, dem ich in keiner Weise dazwischen reden wollte, dem ich keine Warnung zukommen lassen würde, wenn er zum Beispiel wieder bei mir zuhause am Küchentisch saß, seine Handelsware in kleine Briefchen verpackte und selbst schon davon naschte. Anfangs wischte er daneben gefallenes Heroin noch mit dem Hemdsärmel vom Tisch. Später nahm er es schon vorsichtig mit angefeuchtetem Finger auf und hielt es sich unter die Nase. Von da an dauerte es nicht lange und er nahm gelegentlich etwas von dem Pulver mit seinem Haustürschlüssel auf und zog es in seine Nase... Werner war das Musterbeispiel eines Menschen auf dem Wege in die Morphingewöhnung. Aber noch wusste er das nicht, ahnte es vielleicht noch nicht einmal. Und ich? Ich schwieg dazu. Doch das ist nicht völlig wahr. Einige Male war ich dazwischen gegangen, wenn er zum Beispiel wieder vor seiner ausgebreiteten Handelsware zum Haustürschlüssel griff. „Lass das jetzt sein“, sagte ich dann. „Du brauchst das jetzt nicht“. Und Werner gab mir Recht. Tatsächlich, er bräuchte das jetzt nicht. Und doch hatte er noch jedes Mal bevor er das Haus verließ, mithilfe seines Haustürschlüssels davon genascht. Klar, brauchte er es nicht. Es war ja nicht etwa so, als bräuchte er es schon. „Aber sieh mal. Es ist ja nur so wenig. Schaden, wird das sicher nicht“. Was Menschen in Werners Situation übersahen war, noch jedes Molekül morphinoider Substanz die man zu sich nimmt, vertieft oder festigt und erhält damit die Gewöhnung ein Stück mehr. Mangelte es irgendwann daran, schrie plötzlich jede Körperzelle vor Schmerzen danach…
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Kam Werner auf Besuch oder traf ich ihn auf der Straße, achtete ich stets auf die Größe seiner Pupillen. Ich erkannte von Morphin kontraktierte Pupillen so ich welche sah. Zogen Pupillen sich unter der Wirkung von Morphin zusammen bis sie nur noch die Größe eines Stecknadelkopfes hatten, trieben die Pigmente der Iris auseinander und die Farbe des Auges wurde heller. Bei Blauäugigen konnte das geradezu dramatisch wirken. Ich selbst bin blauäugig und erinnere mich, wie ich eines Tages um eine Ecke lief und dabei um ein Haar mit einem Bürger zusammengestoßen wäre. Wie der Zufall es wollte, blickte der Mann dabei schnurgerade in meine Augen. Die Wirkung war so dramatisch, dass er vor Schreck gut und gerne einen Meter zurück prallte. Der Anblick meines eiskalten Blickes, mit dem strahlend hellen Blau der Iris und der nadelfein kontraktierten Pupille, war zu viel für ihn. Werner hatte jedenfalls immer öfter kontraktierte Pupillen… Die Motorradmesse in Hannover war etwas, dass Motorradfreunde wie Werner sich nicht entgehen lassen konnten. Ich fuhr mit. Nachts im Hotel wurde Werner wach und lief unruhig im Zimmer auf und ab. Er könne nicht schlafen, klagte er. Gedanken an das Motorrad, das er bald erwerben würde, hielten ihn wach, glaubte er. Ich wusste es besser. Seine unruhig werdenden Opiatrezeptoren waren es, die nach Futter schrieen und ihn nicht einschlafen ließen. Da ich den ganzen Tag über bei Werner gewesen bin und er wusste, seine kleine Pupillen erweckten meine Aufmerksamkeit, hatte er sich geschämt von seinem Pulver zu naschen und sich zurückgehalten. Doch jetzt in der Nacht, da auch der letzte Krümel Morphin durch die Nieren gespült war, machte sich ein körperliches Unbehagen bemerkbar, zunehmende Unruhe und die Unmöglichkeit einzuschlafen… Ich gestehe es. Nur weil sein hin und her Gerenne im Zimmer auch mich am schlafen hinderte, riet ich schließlich, „Nimm etwas von deinem Pulver und du wirst sehen, gleich danach schläfst du wie ein Lämmlein“. Und
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tatsächlich. Keine zwanzig Minuten später schnarchte Werner, fest in Morpheus’ Armen… Während wir an den verschiedenen Ständen der Motorradmesse vorüber liefen, bemerkte ich, Werner brachte längst nicht mehr das Interesse für Motorräder auf wie noch vor wenigen Tagen der Fall. Wie getrieben, lief er von Stand zu Stand und nahm die ausgestellten Waren kaum wahr. Ich hatte ihn überredet, sein Pulver im Hotel zu lassen. Dort verweilten nun auch seine Gedanken, dorthin zog es jetzt auch seine ganze Konzentration. Ab einem gewissen Grade der Gewöhnung, und er ist mit Diacethylmorphin unter Umständen rasch erreicht, wird Morphin so sehr zum notwendigen Bestandteil normaler Körperfunktionen, dass ein morphinfreies Funktionieren nicht mehr möglich ist. Ein wesentlicher Bestandteil der nötig gewesen wäre um einen reibungslosen Ablauf von Werners Körperfunktionen zu gewährleisten, lag in einem kleinen durchsichtigen Plastikbeutelchen im Hotel in Werners Reisetasche… Werners Geschäft lief gut, was nicht zu verwundern war. Geschäfte mit Heroin liefen meist gut, weil die Nachfrage stets größer ist als das Angebot, was auch so bleiben wird, solange man die Prohibition von Heroin aufrechterhält. Über die Hälfte des Geldes für sein Motorrad hatte Werner schon, wie er stolz erzählte. Doch während er noch davon erzählte, wusste ich, entweder käme es nie zum Kauf des Motorrad, oder aber, kaufte Werner es, ließe er es bald in einer Ecke dahinrosten bis es schließlich verkauft werden musste um Werners Körper das zu geben, wonach ihn so schmerzhaft verlangte… Die Ernüchterung kam rascher als zu erwarten war. Werners „Dealer“, von dem er die ganze Zeit über zu relativ guten Großhandelspreisen kaufen konnte, war plötzlich verschwunden. Er war vermutlich von der Polizei festgenommen worden. Werner besaß nur noch wenig Ware, die er überwiegend für sich selbst benötigte. Hier sah ich zum ersten Mal das so
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typische Flackern der Panik in seinen Augen, die Morphingewöhnte befiel, befürchteten sie einen Mangel ihrer Medizin. Sein Körper ahnte was ihm bevorstünde, ginge das so lebenswichtig gewordene Pulver aus. In dieser Notlage kam Werner mit einem kühnen Plan. Er wollte nach Amsterdam fliegen, dort eine Menge Heroin erwerben, über die Grenze schmuggeln und nachhause bringen... Werner flog nach Amsterdam. Nach zwei Tagen war er wieder zurück. Während er erregt von seinem Abenteuer in Amsterdam erzählte, packte er auf meinen Küchentisch seine frisch erworbene Handelsware aus. Ich warf einen kurzen Blick auf das leicht glitzernde braune Pulver und stutzte. Noch nie zuvor war mir Heroinbase begegnet, die so auffallend glitzerte. Ich befeuchte einen Finger, nahm damit etwas von dem Pulver auf und gab es auf meine Zunge. Danach eröffnete ich Werner, „Gratuliere. Du hast dir pulverisierte Hustenbonbons andrehen lassen“. Und tatsächlich, Werner hatte achtzig Gramm fein gemahlene Hustenbonbons erworben und mit aller Finesse über die Grenze geschmuggelt. Werner lief nervös zur Tür und verschwand. Da wusste ich, nun begann der graduelle Abbau seiner Ersparnisse… Werner war bei weitem nicht der erste „Dealer“, den ich vom Vertreiber zum Kunden werden sah. Tatsächlich war es irgendwann auch mir so ergangen. Werners Werdegang zum Morphingewöhnten glich in Vielem meinem eigenen. Weshalb nur war es erfahrenen Menschen so unmöglich, werdenden Morphingewöhnten Ratschläge zu erteilen? Was war es, das noch jeden glauben ließ, bei ihm verliefe alles anders als bei anderen, er sei ein besonderer Fall, vielleicht psychologisch anders gestrickt, jedenfalls aber so geartet, dass er nie morphingewöhnt werden konnte? Dabei war es so einfach zu begreifen. Jeder, der sich auf die regelmäßige Verwendung hochpotenter Morphine einlässt, wird sich über kurz oder lang daran gewöhnen. Es war so sicher wie man nass wurde, sobald man die nackten Hände unter fließendes Wasser hielt. Und dennoch gab es immer wieder
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Menschen die davon überzeugt waren, dabei nicht nass zu werden, weil sie etwas Besonderes seien. Dass menschliche Körper mit jeder Einnahme eines so hochpotenten Morphins wie Heroin an Morphintoleranz zunahmen und an Morphinsensibilität verloren, war fast schon ein Naturgesetz. Weshalb nur fanden sich stets aufs Neue wieder Vermessene die glaubten, für sie gelte dieses Naturgesetz nicht? Wie ging es weiter mit Werner? Nun, er hatte sich, wie zu erwarten war, rasch vom stolzen zukünftigen Motorradbesitzer zum demütigen Morphingewöhnten gewandelt. Doch weil Werner Intelligenz besaß, gelang es ihm noch einige Zeit, sich trotz widriger finanzieller, gesellschaftlicher und gesetzlicher Umstände mit seiner Morphingewöhnung zu arrangieren. Doch am Ende lief auch er den in unserer Gesellschaft so unerbittlich vorgeschriebenen Weg des illegalen Morphinverwenders. Am Ende hatte Werner drei Jahre im Gefängnis verbracht und sogar, voll der Hoffnung auf eine Rückkehr seines früheren Selbst, zwei völlig sinnlose „Drogentherapien“ über sich ergehen lassen. Danach nahm er an einem Projekt teil, in dem Morphinbedürftigen versuchsweise Heroin gereicht wurde. Unter dieser stressfreien, geregelten Morphinzufuhr blühte Werner regelrecht auf. Er begann sogar eine verspätete Ausbildung zum Zweiradmechaniker. Wer begriffe im gegenwärtigen politischen Klima schon, Werners Persönlichkeit hatte sich durch seine Morphingewöhnung nicht etwa zum Schlechten gewandt. Sie war dadurch, im Gegenteil, sogar gestärkt worden. Es war letztlich nicht Morphingewöhnung, die an Werners Existenz nagte, an seiner Gesundheit und seinen sozialen Verhältnissen. Es waren die Gesetze und soziopolitischen Verhältnisse der Zeit. Auch Werner fiel es vorerst schwer zu begreifen, er gehörte zu den Menschen, denen Morphin einfach nur gut tat. Nicht relativ harmloses Morphin war es, was ihn zu Boden drückte. Es waren menschenfeindliche Gesetze und eine entsprechend propagandistisch manipulierte Gesellschaft, die ihn um jeden Preis zu
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einem morphinfreien Leben zwingen wollte, trotzdem er offenbar des Morphins bedurfte…
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Früchte des Hasses Was Jason in dieser Gaststätte antrafm war nicht gerade was man eine angenehme Atmosphäre nannte. Aber er hatte sie auch nicht aus Gründen des angenehmen Aufenthaltes aufgesucht. Nur eben telefonieren wollte er und dass er hinterher auch noch ein Glas Cola bestellte, war nur der Hitze dieses Augustnachmittages zu verdanken. Als Jason bezahlen wollte und dazu seine Brieftasche aus der Jacke nahm, war eine kleine Kunststoffeinmalspritze aus seiner Tasche gerutscht und vor den Augen der Gäste zu Boden gefallen. Als Jason sich bückte um sie vom Boden zu nehmen, stellte sich ein Fuß darauf. Knirschend, zerbrach das kleine Kunststoffgebilde unter diesem Gewicht. „Bist du etwa einer von denen?“, hörte Jason eine barsche Stimme fragen. Als er aufblickte, sah er, dass mehrere Gäste sich von ihren Plätzen erhoben hatten. Noch bevor Jason sich aufrichten konnte, traf ein Tritt sein Gesicht. Jason versuchte auf die Beine zu kommen, doch es trafen ihn Fausthiebe von allen Seiten. „Er kann nicht bezahlen!“, hörte Jason die höhnende Stimme des Gastwirts. Natürlich konnte Jason bezahlen, gäbe man ihm nur Gelegenheit dazu. Nach diesen Worten des Gastwirts trafen Jason weitere Tritte und Hiebe. Jason blutete bereits aus seiner Nase und aus einem Riss in seiner Unterlippe. Auch fühlte er sich plötzlich sonderbar atemlos. Da öffnete sich die Tür der Gaststätte und ein Polizist trat ein. Es war der Polizist der Nachbarschaft, der auf seiner Runde auch der Gaststätte einen Besuch abstattete. Der Polizist sah auf Jason hinab. Wortlos, hielt einer der Gäste eine zerquetschte Injektionsspritze in die Höhe. Die Anwesenheit des Gesetzeshüters hinderte die Gäste nicht daran, weiter auf Jason einzuschlagen. „So helfen sie mir doch!“, rief Jason zwischen den Tritten und Hieben dem Polizisten zu. Doch der lachte nur ein raues Lachen bei dem sein Leib auf und nieder bebte. Danach sagte er, „Leuten wie dir ist nicht zu helfen“! Nach diesen Worten drehte der Polizist sich um und verließ die Gaststätte. Als die Tür sich hinter ihm schloss, verlor Jason das Bewusstsein. Er blieb reglos auf dem Fußboden der Gaststätte liegen…
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Die Gäste der Gaststätte ließen Jason erst eine Weile liegen um zu sehen, ob er sich von selbst wieder erhob. Als das nicht geschah, nahmen zwei von ihnen Jason in ihre Mitte. Sie schleppten ihn aus der Gaststätte und auf die andere Seite der Straße, wo sie den Bewusstlosen in einem kleinen Park auf eine Bank setzten und alleine ließen. Zuschauern war es erschienen, als hatten Gäste der nahe gelegenen Gaststätte einen betrunkenen Freund an die frische Luft gebracht... Als Jason zu sich kam, war es bereits später Abend. Er fühlte, etwas war nicht in Ordnung mit ihm und Angst befiel ihn. Durch die Bäume des Parks sah er die Hauptstraße und eine Telefonzelle, die an der Straße stand. Von dort wollte Jason die Polizei rufen, einen Notarzt, oder auch nur irgendeinen Menschen, der ihm helfen würde. Ein heftiger Schmerz in seinen Nieren verhinderte, dass er aufrecht lief. Auch nur aufrecht zu stehen, war zu schmerzhaft. Es blieb Jason keine andere Wahl als die Strecke bis zur Telefonzelle auf allen Vieren zurückzulegen. Derart auf Händen und Knien, erreichte er die Hauptstraße. Dort war der breite Bürgersteig voll Menschen. Die meisten eilten zu den vielen Bushaltestellen vor dem Bahnhofsgebäude. Komisch, wie diese Menschen auf Jason reagierten, der mit beblutetem Gesicht und bebluteter Jacke auf allen Vieren zwischen ihnen dahin kroch. Sie reagierten überhaupt nicht, oder höchstens nur, indem sie vor Jason zur Seite wichen und ihm Platz machten, damit er ungehindert weiter kriechen konnte. Es waren etwa sechzig Meter bis zur Telefonzelle. Als Jason sie erreicht hatte, öffnete er die Türe und setzte sich erst erschöpft auf den Boden. So sehr er sich auch bemühte, es wollte und wollte ihm keine der Notrufnummern einfallen. Nachdem er schon vergebens mehrere Nummern versucht hatte, öffnete sich plötzlich die Tür der Telefonzelle und zwei Polizisten standen davor. „Was bin ich froh, euch zu sehen“, brachte Jason hervor. „Ich versuche schon die ganze Zeit, euch zu erreichen“. Wortlos, sahen die beiden Polizisten einander an. Sie waren sich einig, dass es sich bei dieser Person auf dem Boden der Telefonzelle entweder um einen schwer Betrunkenen
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handelte, oder um einen der vielen Süchtigen, die sich in Bahnhofsnähe umher trieben. Einer der beiden Polizisten griff in seine Hosentasche. Er holte einige Latexhandschuhe hervor und reichte ein Paar seinem Kollegen. Sie streiften die Gummihandschuhe über ihre Hände, ergriffen Jason und zerrten ihn aus der Telefonzelle. Jason konnte nicht dagegen protestieren. Gänzlich von Schmerz konsumiert, konnte er nicht sprechen. Die Polizisten bemerkten nichts von seinem Zustand. Sie schleiften Jason über die Erde zu einer Bank und setzen ihn darauf. „Und wenn du dich hier hinlegst“, drohte einer der Polizisten, während sich beide bereits entfernten, „dann bekommst du es mit uns zu tun“. Es war in dieser Stadt verboten, auf öffentlichen Bänken zu liegen, nur sitzen durfte man (Amsterdam). Die Worte des Polizisten hatte Jason wie durch eine dicke Watteschicht gehört. Er war kurz davor, vor Schmerz das Bewusstsein zu verlieren und nur die Angst vor den beiden Polizisten hielt ihn vorerst noch bei sich. Diese Angst war berechtigt. Prügelten die beiden Polizisten auf ihn ein, er hätte in seinem Zustand allen Grund um sein Leben zu fürchten… Jason setzte alle Kraft daran, aufrecht zu sitzen und bei Bewusstsein zu bleiben. Während er saß und gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfte, strömten hunderte von Passanten an ihm vorüber und gewiss eine Stunde verging, bis sich einige Menschen aus dieser Menge lösten und auf Jason zutraten. Es war eine Familie, offenbar Vater Mutter und Tochter. „Ihnen geht es nicht gut“, erkannte die Mutter. Jason saß auf einer Bank ohne Lehne, auf der man von beiden Seiten sitzen konnte. Der Vater setzte sich hinter ihn, drückte seinen Rücken gegen den von Jason und hielt ihn auf diese Weise entspannt und im Gleichgewicht. Die Tochter setzte sich neben Jason und ergriff seine Hand. „Drücken sie bitte hin und wieder meine Hand“, sagte sie, „damit wir wissen, dass sie noch bei uns sind“. Die Mutter stand unterdessen in der Telefonzelle und rief eine Ambulanz herbei. Jetzt, da er sich anlehnen konnte und die Spannung des krampfhaften aufrecht Sitzens von ihm gewichen war, verlor Jason endgültig das Bewusstsein…
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Als Jason wieder zu sich kam, lag er in einem weichen Bett das von Menschen in weißen Kitteln umstanden war. „Man hat sie übel zugerichtet“, sagte ein Arzt. „Sie haben Risse in beiden Nieren, einen kollabierten Lungenflügel und einen noch nicht näher diagnostizierten Schaden an der Wirbelsäule. Haben sie irgendwelche Allergien, Unverträglichkeiten, Krankheiten, oder nehmen sie regelmäßig Medikamente ein, auf die wir zu achten hätten“? Jason dachte nach und antwortete benommen, „Ich bin gegen Salatgurken allergisch und ich bin Diabetiker. Ich bin es gewohnt, subkutan Insulin zu injizieren, aber meine Spritze…“. Kurz darauf trat eine Krankenschwester an Jasons Bett. Sie stach ihm mit einem kleinen Instrument in den Finger und entnahm mit einer Glaskapillare etwas von dem austretenden Blut. „Wir müssen ihren Zuckerstatus bestimmen“, sagte sie, als müsse sie sich für ihr Tun entschuldigen. Doch Jason hörte sie schon nicht mehr. Er war bereits wieder von Bewusstlosigkeit umfangen… Als Jason während der Nacht wieder zu sich kam, wurde er einer weißen Gestalt gewahr, die still neben seinem Bett auf einem Stuhle saß. „Wer bist du?“ fragte Jason benommen. „Ich bin Arzt“, antwortete die Gestalt. „Was tun sie hier?“, wollte Jason wissen. „Ich wache über sie für den Fall, dass sie in ein Koma geraten“, gab der Arzt zur Antwort. Jason lag erst einige Augenblicke still, dann sagte er, „Ich habe so starke Schmerzen dass ich befürchte...-.“ Diesen Satz konnte Jason nicht zu Ende sprechen. Er hatte ihn kaum begonnen, da erhob der Arzt sich und verließdas Zimmer. Kurz darauf kam er mit einer Injektionsspritze in seiner Hand wieder. „Was ist das“, fragte Jason und wies mit einer schwachen Hand zur Spritze. „Es ist Morphin. Verwandten sie jemals Morphine“? Jason verneinte. „Ich muss sie das fragen“, erklärte der Arzt. „In dem Fall reichte nämlich die Dosis nicht“. „Ich weiß weshalb sie mich das fragen“, erklärte Jason und fügte mit schwacher Stimme hinzu, „Ich studiere Medizin“. Der Arzt stach die Nadel der Injektionsspritze in Jasons Oberschenkel und drückte den
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Kolben nieder. Sekunden später spürte Jason, wie ein warmes wohliges Gefühl über ihn kam und seine Schmerzen in den Hintergrund wichen... Gegen Mittag des nächsten Tages erschienen zwei Herren der Kriminalpolizei an Jasons Bett. Da offensichtlich eine Straftat vorlag, waren sie vom Arzt herbeigerufen worden. Jason erzählte den Beiden in allen Einzelheiten. was vorgefallen war. Er erstattete Anzeige gegen die Gäste der Gaststätte und gegen den Gastwirt wegen schwerer Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung. Doch diese Anzeige sollte keine Folgen haben. Die Gäste der Gaststätte sowie der Gastwirt und auch der Polizist der Nachbarschaft, schützten einander in ihren Aussagen. Jason hätte seine Zeche nicht bezahlen wollen, erzählten Gastwirt und Gäste. Die Gaststätte habe er jedenfalls gesund verlassen. War er Stunden später verletzt aufgefunden worden, so erklärte man, habe er sich diese Verletzungen nach seinem Besuch der Gaststätte zugezogen... Vier Wochen verbrachte Jason im Krankenhaus. Danach durfte er wieder nachhause. Einen kleinen Haltungsfehler hatte er von seinem Abenteuer übrig behalten. Ein Schaden an seiner Wirbelsäule hinderte ihn daran, aufrecht zu stehen. Ansonsten war er eigentlich wieder weitgehend hergestellt. Seinen Zuckerhaushalt solle er gut im Auge behalten, hatte der Arzt des Krankenhauses ihm geraten. Dazu hatte er Jason sogar ein elektronisches Gerät mitgegeben, das aus einem Tröpfchen Blut automatisch den Zuckerstatus ermitteln konnte und auf einem Display wiedergab… Zwei Monate nach seiner Krankenhausentlassung, es war unterdessen Ende November geworden, unternahm Jason einen Abendspaziergang durch den städtischen Park. Abendkühle durchzog den Park und nur wenige Menschen waren noch unterwegs. Jason fühlte sich ein wenig unwohl werden. Er spazierte noch am Restaurant des Parks vorbei, das um diese Jahreszeit geschlossen war, und setzte sich schließlich am Ufer des
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kleinen Sees hinter dem Restaurant erschöpft auf eine Bank. Dort saß Jason eine Weile und wurde müder und müder. Was wohl los sei mit ihm, fragte er sich in Gedanken. Ob die Kälte ihm so zusetzte oder ob sein Zuckerspiegel nicht in Ordnung war? Jasons Hände wurden weiß wie Schnee, blutleer und taub. Ich fühle meine Hände nicht mehr, dachte Jason wie im Traum. Auch seine Füße erschienen ihm plötzlich als wären sie von Holz. Matt und kraftlos, sank Jason schließlich in Schlaf und während er schlief, schwand ihm endgültig das Bewusstsein… Spät in der Nacht kamen drei junge Leute des Weges. Sie waren im Dunkel des Parks unterwegs, um Ausschau zu halten nach Menschen, die sie überfallen und ausrauben konnten. Dabei trafen sie auf einen vermeintlichen Stadtstreicher, der zusammen gesunken und vermutlich stark betrunken. auf einer Parkbank saß. Die Jugendlichen durchsuchten Jasons Taschen und fanden eine Brieftasche mit etwas Bargeld und einigen persönlichen Papieren. In einer Jackentasche fanden sie ein Etui mit Injektionsspritzen und weiteren fremdartigen Gegenständen. Angewidert, zeigten sie einander den ekligen Fund. Einer der Jugendlichen rannte los, um etwas aus ihrem Auto zu holen. Als er wiederkehrte, trug er in seiner Hand einen roten Reservekanister voll Benzin. Die jungen Leute zerrten den, wie sie meinten, „schlafenden alten Junkie“ von der Parkbank auf die Erde und übergossen ihn mit Benzin. Lachend, warf einer von ihnen eine Anzahl brennender Streichhölzer auf das nasse, reglose Bündel am Boden. Als die Flammen empor fauchten, rannten sie geschwinde davon. Sie verließen den Park, liefen zu ihrem Auto und fuhren auf der Suche nach weiterem Vergnügen in die Stadt. Der Große Geist war Jason gnädig. Im Zustand der Bewusstlosigkeit spürte er nichts von den Flammen und nichts von der sengenden Hitze, die sein Fleisch von den Knochen schmorte. Übergangslos, glitt er von seiner Bewusstlosigkeit hinüber in die gnädige Umnachtung des Todes... (Geschehen zu Amsterdam, im Jahre 1993. Was ich nicht selber bezeugen oder aus Jasons Mund vernehmen konnte, habe ich anhand von Beweisen und Indizien rekonstruiert.)
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Agent wider Willen Schicksale sind selten eindeutig. Manche Menschen haben eines, manche Menschen haben keines, manche Menschen sind eines und manche Menschen sind gar anderer Leute Schicksal…
Staatliche Memes befahlen verstärkt, man kämpfe gegen eigene Antriebe, bis man von selbst in die Schablonen herrschender Eugeniker fiel, oder vor Erschöpfung zugrunde ging. Kaum war Professor Kalinkows antimemetischer Helm im Handel, fand er auch schon reißenden Absatz. Es kostete die Regierung Zeit und Geld, bis bestechliche Wissenschaftler gefunden waren, die öffentlich beteuerten, das Tragen von antimemetischen Helmen zerstöre das Immunsystem, es führte zu Krebs und damit zum baldigen Tode. Als man erkannte, dass die Bevölkerung diese Gesundheitswarnung ungläubig in den Wind schlug, erließ die Regierung kurzerhand Gesetze, die das Tragen von antimemetischen Helmen mit Gefängnis bestraften… Dies zwang freiheitsliebende Jugendliche, nach pharmakologischen Lösungen zu suchen. Arbeitsgruppen wurden gebildet, die in geheimen Laboratorien, untergebracht in den feuchten Kellern von Abbruchhäusern, in still gelegten UBahnschächten und in abgelegenen Gehöften, nach geeigneten molekularen Verbindungen forschten. Apomorphin und diverse Partiell- und Vollantagonisten schienen anfangs vielversprechend, erwiesen sich angesichts des massiven Memebeschusses seitens der Regierung dann aber doch als unzureichend… Widerwillig, war ich von Anbeginn Agent und unterwegs in dieser fragwürdigen Angelegenheit. Unter ständiger Lebensgefahr hinter feindlichen Linien operierend, war ich zwar mit modernster Waffentechnologie ausgerüstet, musste aber am 183
dritten Tage meines Einsatzes erkennen, man hatte mich mit Munition des falschen Kalibers ausgestattet. Also musste ich improvisieren. Gezwungen, auf die Verwirrungen der Zeit einzugehen, stellte ich eines Tages fest, mir war während meiner Improvisation Sinn und Zweck der eigentlichen Mission entfallen... Dringende Nachfragen über geheime Kanäle blieben unbeantwortet, doch ging mein Sold noch stets mit penetranter Regelmäßigkeit auf meinen Konten ein. Was blieb mir unter diesen Umständen anderes übrig, als unter jedem sichtbaren Niveau zu bleiben und auf eindeutige Instruktionen zu warten? Diese Instruktionen erreichten mich schließlich vom Winde getragen als Gerüchte getarnt, in Form von Dialogbruchstücken alter Spielfilme und Fetzen veralteter Zeitungsartikel… Kader, so hieß es, sollte ich bilden. Kampfverbände aus Gruppen störrischer Jugendlicher, die sich wie Tintenflecke in den Straßen und Gassen der Städte verbreiteten … Dafür mussten neue Strategien ersonnen werden. Doch gerade dazu, befand ich mich nicht im Einsatz, gerade dazu, war ich nicht ausgebildet worden. Ich war nur einfacher Agent und das wider Willen. Ich arbeitete nur hier, war nur einfacher Fußsoldat und verfügte über eingeschränkte Möglichkeiten. Deshalb wartete ich auf weitere Instruktionen… Während eines Spazierganges durch die Fußgängerzone einer Geschäftsstraße, erhielt ich schließlich die ersten entscheidenden Nachrichten. Ich zwängte mich gerade durch die Menschenmassen eines verkaufsoffenen Abends, als ich hörte wie jemand im Gespräche sagte, „…raubten ihre Seelen“. Einige Meter weiter fing ich den Gesprächsfetzen auf, „…zu 184
befreiendem Gelächter“. Diese Worte enthielten meine Instruktion. Dechiffriert, ergaben sie die nötige Strategie... Die Unruhe in den Städten nahm zu. Horden Jugendlicher verweigerten zunehmend jede Form der Kontrolle. Sie besuchten keine Schulen mehr, pfiffen heiter auf Ausbildung und verlockende Karriereversprechen und randalierten lieber auf den Straßen. Arbeiter legten die Arbeit nieder, Bürger holten all ihr Geld aus den Banken, die Fundamente bebten… Als Gegenmaßnahme entließ die Regierung Ströme auf absoluten Gehorsam gestimmte und zur „alten Ordnung“ mahnende Memes. Sie quollen aus Tagesblättern und Zeitschriften, klangen aus Radios und Fernsehgeräten, sangen verlockend aus populären Liedern und schillerten verführerisch aus Kino- und Videofilmen. Auf den Straßen traf man zunehmend merkwürdigere Gestalten. Durch massiven Memebeschuss verworren und desorientiert, taumelten sie als Karikaturen gestriger Fernsehfilme durch Kneipen, Sportvereine, Verwaltungsgebäude und aus den Türen der Wettbüros… Angesichts dieser massiven Memeangriffe, war die totale neuronale Blockade durch hochpotente Morphine noch die wirksamste Maßnahme. Doch dazu mussten Quellen und Nachschubwege gesichert werden. Sie waren die natürliche Achillesferse jeder pharmakologischen neuronalen Blockade. Wurden Quellen oder Nachschubwege kompromittiert, die Nervensysteme aller Agenten stünden augenblicks jedem feindlichen Angriff weit offen… 185
In feuchten Kellern verfallener Abbruchhäuser, in stillgelegten UBahnschächten und in abseits gelegenen Gehöften, synthetisierten wir schließlich Dehydroheroin und brachten es als Antimemetikum auf jede erdenkliche Weise unter die Leute. Damit war die totale neuronale Blockade zur beinharten Wirklichkeit geworden... Staatliche Memes, gestern noch virulent wie pulmonale Pest, wirbelten machtlos vor besetzten Rezeptoren, Synapsen befahlen störrisch jede Einflussnahme hartnäckig zu verweigern! Und so erwachten geraubte Seelen zu Tausenden und lachten ihr befreiendes Gelächter in der silbrigen Frische eines neuen Morgens… Im entstandenen Tumult fanden wir Agenten, gut getarnt und geschützt durch neuronale Schirme, die Einstiegsluken zu den Schaltzentralen. Wir entdeckten geheime, weltumspannende Machtstrukturen zwischen Banken und Investitionshäusern voll geraubter Gelder und gewaschener Gewinne staatlicher Heroinund Kokaingeschäfte. Wir erschlossen die Verknüpfungen zwischen herbei manipulierten Kriegen, künstlich erzeugten Hungersnöten, Viren verseuchten Impfstoffen, AIDS infizierten Blutbanken, Krebs erzeugenden Krebsforschungsinstituten und Krankheiten schaffenden Gesundheitsorganisationen… Begeistert, klemmten wir die Sprengsätze an Energiezufuhr und Kühlaggregate. Wir justierten die Timer, entsicherten die Zünder und suchten rasch das Weite… Die staubbedeckten Häupter schüttelnd, stiegen wir aus den 186
rauchenden Trümmern. Zerstörung, soweit das Auge reichte. Staubschwaden verwehrten den Blick zum Horizont. Doch herrschte rings umher neuartige, nie gekannte Stille. Und über alldem schwebte, von Staub noch getrübt, doch ruhig und unerschüttert, das stille Auge der Sonne…“.
ENDE Das Leben selbst, schreibt die unglaubwürdigsten Geschichten. So gesehen ist das Leben der schlechteste aller Schriftsteller. Carlitos Amsel vom Holunderstrauch
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