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Militärgeschichte im Bild: Schlacht bei Vionville und Mars-la-Tour am 16. August 1870
»Im Westen nichts Neues« Deutsche Herrschaft in der Ukraine Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg Eisenbahnen und Festungen in Preußen
Impressum
Editorial
Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Herausgegeben
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Oberst Dr. Hans Ehlert und Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.) Produktionsredakteur der aktuellen Ausgabe:
Hauptmann Magnus Pahl M.A. Redaktion:
Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn) Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp) Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp) Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks) Mag. phil. Michael Thomae (mt) Bildredaktion:
Dipl.-Phil. Marina Sandig Redaktionsassistenz:
Thomas Bäuml (tb) Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić
Layout/Grafik:
Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang Karten:
Dipl.-Ing. Bernd Nogli Anschrift der Redaktion:
Redaktion »Militärgeschichte« Militärgeschichtliches Forschungsamt Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam E-Mail: MGFARedaktionMilGeschichte@ bundeswehr.org Telefax: 03 31 / 9 71 45 07 Homepage: www.mgfa.de Manuskripte für die Militärgeschichte werden an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung usw. Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redaktion behält sich Kürzungen eingereichter Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise, fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung durch die Redaktion und mit Quellenangaben erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen auf CD-ROM. Die Redaktion hat keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser Zeitschrift durch Angabe eines Link verwiesen wird. Deshalb übernimmt die Redaktion Redakt ion keine Verantwortung für die Inhalte aller durch Angabe einer Linkadresse in dieser Zeitschrift genannten Seiten und deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausgewählten und angebotenen Links und für alle Seiteninhalte, zu denen Links oder Banner führen. © 2008 für alle Beiträge beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung. Druck:
SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden ISSN 0940-4163
Das vorliegende Heft der Militärgeschichte setzt mit zwei Großbeiträgen den inhaltlichen Schlusspunkt unter unsere Reihe zum Kriegsende 1918 und seinen unmittelbaren Folgen. Der 1929 erschienene Roman »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque schildert die Schrecken des Ersten Weltkrieges an der Westfront aus der Sicht eines jungen Soldaten, der 1918 kurz vor Kriegsende tödlich getroffen wurde, »an einem Tag, der so ruhig und still war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden«. Matthias Rogg stellt den einst umstrittenen Roman, vor allem aber dessen Verfilmung und die zeitgenössischen Reaktionen auf die Uraufführung der US-amerikanischen Produktion im Dezember 1930 in Deutschland vor. Die deutsche Herrschaft über weite Teile Osteuropas im Zweiten Weltkrieg ist der Allgemeinheit weitgehend bekannt, weniger dagegen, dass das Deutsche Reich bereits im Ersten Weltkrieg Weltkrieg große polnische und baltische Landesteile des zaristischen Russlands besetzt hielt. Im letzten Kriegsjahr 1918 gerieten dann Weißrussland und die Ukraine, die »Kornkammer Europas«, unter deutsche und teilweise österreichisch-ungarische Kontrolle. Peter Lieb richtet den Blick auf die deutsche Herrschaft und Partisanenbekämpfung in der Ukraine von Februar 1918 bis März 1919. Er zieht auch einen Vergleich zwischen dem deutschen Vorgehen 1918/19 und 1941/44 und zeigt Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der beiden deutschen Besatzungen auf. Militärische Akten aus diesen Besatzungszeiten in der Ukraine finden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br., das Archivgut der preußischen und der deutschen Armeen von 1864 bis zur Gegenwart verwahrt. Andreas Kunz verschafft anhand eines fiktiven Rundganges Einblicke in das Innenleben dieser Institution. Ausgewählte Beispiele zeigen die Einzigartigkeit des in Freiburg gelagerten Archivguts, seine Vielgestaltigkeit wie auch seinen Stellenwert für die Erforschung der deutschen Militärgeschichte. Schließlich gibt der Autor noch praktische Hinweise für die Benutzung des Archivs. Ein Aufsatz aus der Feder von Klaus Jürgen Bremm über Eisenbahnen und Festungen in den militärischen Planungen Preußens im 19. Jahrhundert rundet dieses Heft ab. In eigener Sache: Die Redaktion der Militärgeschichte heißt den neuen Redaktionsassistenten, Herrn Thomas Bäuml, herzlich willkommen und bedankt sich bei Herrn Michael Schadow für die geleistete Arbeit. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine gewinnbringende Lektüre der aktuellen Ausgabe und ein gutes Jahr 2009!
Magnus Pahl M.A. Hauptmann
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Editorial
Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Herausgegeben
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Oberst Dr. Hans Ehlert und Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.) Produktionsredakteur der aktuellen Ausgabe:
Hauptmann Magnus Pahl M.A. Redaktion:
Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn) Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp) Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp) Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks) Mag. phil. Michael Thomae (mt) Bildredaktion:
Dipl.-Phil. Marina Sandig Redaktionsassistenz:
Thomas Bäuml (tb) Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić
Layout/Grafik:
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Redaktion »Militärgeschichte« Militärgeschichtliches Forschungsamt Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam E-Mail: MGFARedaktionMilGeschichte@ bundeswehr.org Telefax: 03 31 / 9 71 45 07 Homepage: www.mgfa.de Manuskripte für die Militärgeschichte werden an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung usw. Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redaktion behält sich Kürzungen eingereichter Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise, fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung durch die Redaktion und mit Quellenangaben erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen auf CD-ROM. Die Redaktion hat keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser Zeitschrift durch Angabe eines Link verwiesen wird. Deshalb übernimmt die Redaktion Redakt ion keine Verantwortung für die Inhalte aller durch Angabe einer Linkadresse in dieser Zeitschrift genannten Seiten und deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausgewählten und angebotenen Links und für alle Seiteninhalte, zu denen Links oder Banner führen. © 2008 für alle Beiträge beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung. Druck:
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Das vorliegende Heft der Militärgeschichte setzt mit zwei Großbeiträgen den inhaltlichen Schlusspunkt unter unsere Reihe zum Kriegsende 1918 und seinen unmittelbaren Folgen. Der 1929 erschienene Roman »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque schildert die Schrecken des Ersten Weltkrieges an der Westfront aus der Sicht eines jungen Soldaten, der 1918 kurz vor Kriegsende tödlich getroffen wurde, »an einem Tag, der so ruhig und still war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden«. Matthias Rogg stellt den einst umstrittenen Roman, vor allem aber dessen Verfilmung und die zeitgenössischen Reaktionen auf die Uraufführung der US-amerikanischen Produktion im Dezember 1930 in Deutschland vor. Die deutsche Herrschaft über weite Teile Osteuropas im Zweiten Weltkrieg ist der Allgemeinheit weitgehend bekannt, weniger dagegen, dass das Deutsche Reich bereits im Ersten Weltkrieg Weltkrieg große polnische und baltische Landesteile des zaristischen Russlands besetzt hielt. Im letzten Kriegsjahr 1918 gerieten dann Weißrussland und die Ukraine, die »Kornkammer Europas«, unter deutsche und teilweise österreichisch-ungarische Kontrolle. Peter Lieb richtet den Blick auf die deutsche Herrschaft und Partisanenbekämpfung in der Ukraine von Februar 1918 bis März 1919. Er zieht auch einen Vergleich zwischen dem deutschen Vorgehen 1918/19 und 1941/44 und zeigt Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der beiden deutschen Besatzungen auf. Militärische Akten aus diesen Besatzungszeiten in der Ukraine finden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br., das Archivgut der preußischen und der deutschen Armeen von 1864 bis zur Gegenwart verwahrt. Andreas Kunz verschafft anhand eines fiktiven Rundganges Einblicke in das Innenleben dieser Institution. Ausgewählte Beispiele zeigen die Einzigartigkeit des in Freiburg gelagerten Archivguts, seine Vielgestaltigkeit wie auch seinen Stellenwert für die Erforschung der deutschen Militärgeschichte. Schließlich gibt der Autor noch praktische Hinweise für die Benutzung des Archivs. Ein Aufsatz aus der Feder von Klaus Jürgen Bremm über Eisenbahnen und Festungen in den militärischen Planungen Preußens im 19. Jahrhundert rundet dieses Heft ab. In eigener Sache: Die Redaktion der Militärgeschichte heißt den neuen Redaktionsassistenten, Herrn Thomas Bäuml, herzlich willkommen und bedankt sich bei Herrn Michael Schadow für die geleistete Arbeit. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine gewinnbringende Lektüre der aktuellen Ausgabe und ein gutes Jahr 2009!
Magnus Pahl M.A. Hauptmann
Inhalt »Im Westen nichts Neues«. Ein Film macht Geschichte
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Service Das historische Stichwort:
PD Dr. Matthias Rogg, geboren 1963 in Wittmund, Oberstleutnant i.G. und Referent im Planungsstab im Bundesministerium der Verteidigung, Berlin
Deutsche Herrschaft in der Ukraine 1918/19: Wegweise Wegweiserr zum Vernichtungskrieg?
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Medien online/digital
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Lesetipp
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Ausstellungen
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Geschichte kompakt
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Schlacht bei Vionville und Mars-la-Tour Mars-la-T our (Nähe Metz) M etz) am 16. August 1870
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Dr. Andreas Kunz, geboren 1970 in Lüneburg, Referatsleiter im Bundesarchiv-Militärarchiv Bundesarchiv-Militärarchiv,, Freiburg i.Br.
Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert
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Militärgeschichte im Bild
Dr. Peter Lieb, geboren 1974 in GarmischPartenkirchen, Oberleutnant d.R., Senior Lecturer im Department of War Studies an der Royal Military Academy Sandhurst
Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. Quell(en) deutscher Militärgeschichte von 1864 bis heute
Napoleon im Orient. Die »Ägyptische Expedition« 1798 bis 1801
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Zwei preußische Korps brachten in dieser Schlacht des Deutsch-Französ Deutsch-Französischen ischen Krieges der zahlenmäßig überlegenen Französischen Rheinarmee eine bedeutende Niederlage bei und zwangen sie zum Rückzug in die Festung Metz. Im Verlauf der letzten großen Reiterschla Reiterschlacht cht der Geschichte zeichnete sich auch das Preußische Ulanen-Regiment Nr. 13 (1. Hannoversches) aus, dessen Tradition vom Ausbildungszentrum der Heeresaufklärungstruppe in Munster fortgeführt wird. Gemälde von H. Lang. Foto: pa/akg-images
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Dr. Klaus-Jürgen Bremm, geboren 1958 in Duisburg, Oberstleutnant d.R., Lehrbeauftragter für Neuere Geschichte an der Universität Osnabrück
Wissenschaftlicher Oberrat Dr Dr.. Ber nhard Chiari, MGFA; Hauptmann Dr. Dr. Thorsten Loch, Kompaniechef 9./Wachbataillon 9./Wachbataillo n beim BMVg, Berlin; Dr. Martin Rink, Historiker, Potsdam
Ein Film macht Geschichte
d l i b n i e t s l l u
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»All Quiet on The Western Front«, Film nach dem Roman von Erich Maria Remarque, USA 1930. Regie: Lewis Milestone, Buch: Del Andrews, Maxwell Anderson, George Abbott, Lewis Milestone. Filmszene mit John Wray als Feldwebel Himmelstoß (stehend).
D
ie Darstellung von Krieg und Militär im Film ist fast so alt wie das Medium Film selbst. Für die Wahrnehmung, Diskussion und Deutung von Krieg und Militär spielt der Film seit über 100 Jahren eine zentrale Rolle. Produktionen wie »Die Brücke« (1959), »Apocalypse Now« (1979) oder »Der Soldat James Ryan« (1998) haben in den Köpfen der Zuschauer Bilder entstehen lassen, mit denen die öffentliche Auseinandersetzung über den Sinn des Krieges nachhaltig beeinflusst wurde. Zu den herausragenden Filmen dieser Gattung gehört ein Streifen, der Filmgeschichte geschrieben hat und auch nach fast 80 Jahren immer noch unter die Haut geht. Die Vorlage für den Film
Am Anfang stand ein Roman, für den sich zuerst kein Verleger finden wollte und der dann in kürzester Frist zu einem Weltbestseller wurde. Der Autor war ein unbekannter ehemaliger Weltkriegssoldat, der nach dem Krieg be4
»Im Westen nichts Neues« Ein Film macht Geschichte ruflich nicht richtig Fuß fassen konnte, dem Büchermarkt der Weimarer Repuanfangs als Lehrer und dann als Gele- blik tummelte sich eine Vielzahl von genheitsjournalist arbeitete. Anfang Werken, die den Weltkrieg in irgendeider 1920er Jahre änderte er seinen ner Form verarbeiteten. Das Spektrum Namen und nannte sich fortan Erich reichte von nationalkonservativen ArMaria Remarque (eigentlich Erich Paul beiten, in denen der Krieg zu einer präRemark, 1893–1970). Wie Millionen an- genden Lebenserfahrung stilisiert derer Männer trieb ihn das Trauma der wurde (»In Stahlgewittern« von Ernst Kriegserfahrung um. Er begann mit Jünger, »Der Wanderer zwischen beiRecherchen für einen Weltkriegsro- den Welten« von Walter Flex) bis zu man, die er Ende 1927 abschloss. Der kritischen Auseinandersetzungen mit Roman schildert aus der Perspektive dem Wesen von Krieg und Militär des Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer die (»Der Streit um den Sergeanten Grischa« Erlebnisse einer Gruppe von Soldaten von Arnold Zweig). Die Ablehnung an der Westfront. Wie in vielen Militär- des Remarque-Manuskripts durch den romanen verschmelzen dabei Autobio- Fischer Verlag sollte sich als eine der grafie und Fiktion. größten Fehleinschätzungen der LiteMitte 1928 reichte Remarque die raturgeschichte erweisen. Druckvorlage beim S. Fischer Verlag Ende 1928 fand sich für den Roman ein. Doch da traute man dem unbe- mit dem Propyläen Verlag in Berlin kannten Romancier nicht viel zu. Auf doch noch ein Interessent. Dort über-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
o n g a m I – d l i b n i e t s l l u
nichts Neues«. Damit sprach Remarque einer ganzen Generation aus der Seele. Schon vor der Veröffentlichung machte der Roman Furore. Noch bevor die Erstausgabe am 31. Januar 1929 in den Handel kam, erschienen über vier Wochen mehrere Vorabdrucke in der liberalen »Vossischen Zeitung«. Die Auflage des krisengeschüttelten Blattes stieg daraufhin sprunghaft an. Bis Ende 1929 verkaufte sich das Buch über eine Million Mal in Deutschland. Es folgten Übersetzungen in alle europäischen Sprachen. In den USA erschienen 1929 mehr als 300 000 Exemplare. Remarques überwältigender Erfolg Erich Maria Remarque, um 1930. polarisierte die Öffentlichkeit und natürlich auch die Kritiker. Am 31. Januar 1929 schrieb Carl Zuckmayer in der lizeugte die einfache, präzise, manch beralen »Berliner Illustrierten Zeimal erschreckend nüchterne Sprache, tung«: »Es gibt jetzt ein Buch, geschriedie auch heute anrührt, während Re ben von einem Mann namens Erich marque auf jede Sinndeutung, jede Maria Remarque, gelebt von Millionen, Auseinandersetzung mit Ursachen, es wird auch von Millionen gelesen Zielen und Konsequenzen des Krieges werden [...] so geschrieben, so geschafverzichtete. Mit diesem Stilmittel traf fen, so gelebt, dass es mehr wird als er offensichtlich den Nerv der Zeit. Der Wirklichkeit: Wahrheit, reine gültige Krieg wurde als »Urkatastrophe« darWahrheit.« gestellt, als ein unerhörtes Geschehen, Diese euphorische Sicht wollten viele das sich des Menschen bemächtigt und Deutsche nicht teilen. In nationalkonrationalen Erklärungsmustern entservativen und monarchistischen Kreizieht. Der Titel griff auf die immerwähsen sowie in der Reichswehr wurde rende, lakonische Formulierung im Remarque heftig attackiert (siehe Kasdeutschen Heeresbericht zurück und ten rechts). Dort warf man ihm vor, der gab der fatalistischen Sicht so einen Vorreiter einer pazifistischen Propaprogrammatischen Titel: »Im Westen ganda zu sein, die das ehrenhafte Gedenken der deutschen Soldaten im d l i Weltkrieg in den Schmutz zog. Nicht b n i e die Beschreibung der nackten Gewalt t s l l u und Erbarmungslosigkeit des Krieges wurde als Affront begriffen, sondern die fehlende Sinnstiftung. Um die gewaltigen Opfer, die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges für Deutschland begreifbar zu machen, musste das Desaster nach dieser Lesart einen tieferen Sinn erhalten – und sei es durch das Produzieren heroischer Vorbilder oder die individuelle Läuterung durch Kampf und Entbehrung. Ein sinnloser Krieg hätte letztlich die Fragen nach den politischen Ursachen und der Verantwortlichkeit gestellt. Remarques Roman wurde so von einem nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung in Deutschland nicht nur als Provokation, sondern als öffentliche Gefahr eingeschätzt. Auch heute Titelblatt der Originalausgabe des ist das noch der Stoff, aus dem man Romans, erschienen 1929 im Propyläen Verlag. Filme macht. 5
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Oberst a.D. Freiherr von der Goltz schrieb 1929 in »Deutsche Wehr. Zeitschrift für Heer und Flotte« (Heft 14) über Remarques Roman: Es ist ein besonders betrübendes Zeichen für den Zeitgeist im heutigen Deutschland, dass dieser Roman, der nichts anderes darstellt als eine raffinierte pazifistische Propaganda, es in wenigen Wochen auf einen Absatz von einer Million Exemplaren gebracht hat. Sein Zweck ist es, der heranwachsenden Jugend eine unüberwindliche Abscheu vor dem Kriege, überhaupt vor allem Militärischen, ins Herz zu senken. Das ist umso gefährlicher, als der Roman gut geschrieben ist und daher einen gewissen literarischen Wert besitzt. Die einzelnen Soldatenfiguren, die als Träger der Handlung auftreten, sind gut beobachtet und richtig gezeichnet, die Kampfszenen mit dramatischer Wucht und packender Realistik dargestellt. Und doch ist das Ganze ein maßlos verlogener Schwindel! Es ist ja einfach nicht wahr, dass der deutsche Soldat nur unter dem Zwang des Drills seine Pflicht getan, sich bei jedem Kanonenschuss in Todesangst an den Boden geklammert und im Übrigen lediglich seinen animalischen Instinkten gelebt habe. Wohl gab es solche Typen in unseren Reihen ebenso wie drüben beim Feinde. Die anderen aber, die in der großen Überzahl waren, für die der Kampf ums Vaterland noch eine heilige Sache war, und die sich ihre Menschenwürde trotz aller verrohenden Einflüsse des Krieges bis zum Schluss zu bewahren wussten, sie alle kommen in der Tendenzschrift Remarques (wer verbirgt sich hinter diesem Pseudonym?, sicherlich kein deutscher Mann) überhaupt nicht zu Worte! Darin liegt eine grobe und bewusste Irreführung. Es wird einfach ein minderwertiger Teil als gleichbedeutend mit dem Ganzen hingestellt. Ebenso irreführend ist es, wenn bis zum Überdruss grausige Kampfszenen oder andere Begebenheiten, in denen das Tier im Menschen sich austobt, aneinandergereiht, alle erhebenden Momente des Kriegserlebens aber einfach fortgelassen werden. [...] ›Im Westen nichts Neues‹ ist eine einzige ungeheuerliche Beleidigung des deutschen Heeres im Weltkriege [...] eine Verunglimpfung des Andenkens unserer gefallenen Kameraden [...]
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Ein Film macht Geschichte l l i D s u a l K g n u t l a w r e v s s a l h c a N / 7 2 0 4 1 t a k a l P , h c r A B
Filmplakat von Klaus Dill (1922–2000) für die Wiederaufführung von »Im Westen nichts Neues« in den 1950er Jahren.
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Meilenstein der Filmgeschichte
Noch bevor der Roman auf den Bestsellerlisten stand, wurde die amerikanische »Universal Pictures Company« auf ihn aufmerksam und erwarb im Juli 1929 die Filmrechte. Die Universal Pictures Company verfügte über die notwendigen finanziellen Mittel und mit der »Universal City« über die damals größte Filmstadt. Beim Regisseur fiel die Wahl auf Lewis Milestone, einen noch völlig unbekannten Spielleiter, der allerdings das Geschäft von der Pike auf gelernt und ein Gespür für technische Neuerungen hatte. Milestone war fest entschlossen, ein möglichst realistisches Bild vom Krieg zu vermitteln. Der materielle Aufwand war gewaltig. Um den Kriegsbeginn und die Ausbildung möglichst authentisch wirken zu lassen, wurden auf dem Filmgelände eine deutsche Kleinstadt und komplette Kasernenanlagen nachgebaut. Nach Fotovorlagen verwandelte man ein Gelände von 16 000 m² in eine Schützengrabenlandschaft, die noch Jahre später für Dokumentarsequenzen anderer Filme über den Ersten Weltkrieg genutzt wurde. Bei den Dreharbeiten setzte das Filmteam teilweise sogar scharfe Munition ein. Aus Deutschland warb Milestone ehemalige deutsche Offiziere an, unter deren Kommando die Schauspieler 6
und Komparsen bis an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit militärisch ausgebildet wurden. Beim Hauptdarsteller griff man mit Lew Ayres auf ein völlig unbekanntes und damit unverbrauchtes Gesicht zurück: Ein »universal soldier«, der stellvertretend für die namenlos Leidenden einer ganzen Generation stehen sollte. Damit erhielt der Film schon vor Drehbeginn eine universale Aussage. Eine zentrale Rolle spielte der Ton, der 1929 noch in den Kinderschuhen steckte. »Im Westen nichts Neues« (All quiet on the Western Front) ist eine Produktion an der Schwelle vom Stumm- zum Tonfilm. Der Tonfilm begann sich damals nur langsam durchzusetzen, weil die Investitionen hierfür sehr aufwendig waren. Manche Kinos scheuten noch die relativ hohen Kosten für die Umrüstung. Die Universal Pictures entschieden sich deshalb, parallel zwei Versionen abzudrehen. Die mit Untertiteln versehene Stummfilmversion dauerte eine halbe Stunde länger. Die technischen Möglichkeiten für die Tonaufnahmen waren – gemessen an heutigen Standards – noch primitiv. So stand zum Beispiel nur eine Tonspur zur Verfügung. Während die Dialoge parallel zum Spielgeschehen als Primärton aufgenommen wurden, mussten alle anderen Geräusche später im Tonstudio produziert und abgemischt werden. Das betraf vor allem die Gefechtsszenen. Milestone fand im Kameramann Arthur Edeson einen kongenialen Partner, der sich zum Beispiel hervorragend auf die Beleuchtung verstand und so bei den Nachttaufnahmen besonders eindrückliche Effekte erzielte. Da die Kameras sehr laute Aufnahmegeräusche verursachten, entwickelte Edeson eine Lärmschutzhülle – ohne diese Erfindung wären mobile Aufnahmen mit Primärton nicht möglich gewesen. Um die Dynamik der Aufnahmen zu steigern, entwickelte man für die Produktion einen Kamerakran, der eine bewegliche Draufsicht ermöglichte. Dadurch konnte die Kamera von oben in die Schützengräben quasi eintauchen oder die stürmenden Soldaten auf Augenhöhe begleiten. So etwas hatte das Kinopublikum bis dahin noch nicht gesehen. Schnelle Schnitte und plötzliche Perspektivwechsel verstärkten beim Zu-
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schauer das subjektive Gefühl einer beschleunigten und inhaltlich aufgeladenen Handlung. Diese Effekte wurden von Milestone zum ersten Mal in der Filmgeschichte konsequent umgesetzt und zu einem filmästhetischen Gesamtkunstwerk zusammengefügt. Einige Szenen vermittelten durch die Rasanz das Gefühl von Orientierungslosigkeit in einem chaotischen Umfeld. Der Krieg im Film
Milestone setzte mit filmtechnischen Mitteln ein Gefühl um, das charakteristisch für die Wahrnehmung der Soldaten des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben war. Die Zeit war für die Soldaten im Schützengraben im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Takt geraten. Im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert wurde nun bei jeder Tages- und Nachtzeit und auch bei jeder Witterung gekämpft. Schlechtes Wetter und der Schutz der Dunkelheit konnten manche Operationshandlungen sogar begünstigen. Bei Tag verkrochen sich die Soldaten oft in Gräben und Unterständen; ihre Gefechtshandlungen führten sie im Schutz der Dunkelheit. Während die Einsätze der Fronttruppen immer länger wurden und die Schlachten nicht mehr Tage, sondern Monate dauerten, hatte sich das Gefecht rasant beschleunigt. Der Deutsches Filminstitut
Für die Produktion des Films wurde eigens ein Kamerakran entwickelt, der eine bewegliche Draufsicht ermöglichte.
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Angriff französischer Soldaten auf einen deutschen Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Szene aus dem Spielfilm »All Quiet on The Western Front«.
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Sekundenzeiger entschied, wann Zün- alten Stellung. Am Ende hat keine Seite der detonierten oder Sperrfeuer ver- einen Gewinn zu verbuchen, nur ungelegt wurden – nicht umsonst hat der zählte Menschen haben ihr Leben Erste Weltkrieg die bislang übliche Ta- verloren. Die feindlichen Franzosen schenuhr durch die handlichere Arm- werden in dem Ausschnitt in starker banduhr verdrängt. Neue Fernmelde- Untersicht und mit verschatteten Gemittel sorgten dafür, dass aufgeklärte sichtern gezeigt. Selbst im Nahkampf Ziele sofort unter Feuer genommen wird der Feind dadurch anonymisiert wurden. Die Reaktionszeiten began- – ein Strukturelement, dass man auch nen auf ein Minimum zu schrumpfen. heute bei Kriegsfilmen häufig antrifft. Hinzu kam eine bruchstückhafte WahrDie Erbarmungslosigkeit der Handnehmung des Gefechtsfelds und der lung verdichtet sich in einer Szene, die Kampfhandlungen. Im Schützengra- nur 30 Sekunden dauert und in deren ben konnte sich der Soldat kaum noch Mittelpunkt das Maschinengewehr räumlich orientieren, geschweige denn steht. Wie keine andere Waffe ist das den Feind identifizieren. Maschinengewehr zu einem Synonym Diese zentralen Veränderungen in für die Technisierung des Krieges geder individuellen Wahrnehmung des worden, die mit extrem geringem mamodernen Krieges wurden von Mile- teriellen Aufwand ein Maximum an stone erkannt und filmkünstlerisch ge- Zerstörung erreichen sollte. Milestone nial umgesetzt. Am deutlichsten wird näherte nun durch einen Trick die Feudas in einer sechsminütigen Kampf- ergeschwindigkeit des Maschinengeszene, die Filmgeschichte geschrieben wehrs dem Rhythmus der Filmaufnahhat. Die Sequenz zeigt einen Sturman- men an. Eine Filmkamera »schoss« in griff der Franzosen auf die deutschen einer Sekunde etwa 24 Einzelbilder, die Stellungen, den Nahkampf der Solda- Felder genannt wurden. Der Regisseur ten, den Rückzug aus der vorderen wählte für jede MG-Einstellung sechs Grabenzone, den Gegenangriff der bis sieben Felder und für jeden getrofDeutschen und die Rückeroberung der fenen französischen Soldaten die glei-
che Zahl; er passte damit die Abfolge der Einzelbilder der Feuergeschwindigkeit des MGs an. Durch die extrem kurzen Einstellungen von einer Drittel Sekunde gelang es ihm, den Handlungsablauf enorm zu verdichten und zu beschleunigen. Die wechselnden Einstellungen des Films und die Feuergeschwindigkeit des Maschinengewehrs scheinen ineinanderzugreifen und das Tempo zu forcieren. Durch die ständigen Wechsel aus statischen und dynamischen Einstellungen entsteht ein ähnlicher Effekt. Die enorme, mit bloßem Auge kaum noch nachvollzieh bare Geschwindigkeit, verbunden mit dem Wechsel von Schuss und Treffer, erweckt bis heute den Eindruck einer authentischen Szene. Filmzensur
Diese und andere Bilder von »Im Westen nichts Neues« bekamen viele Kino besucher allerdings nicht zu sehen. In jedem Land musste damals ein Film vor der Veröffentlichung einer Zensurabteilung vorgelegt werden. Dort
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Ein Film macht Geschichte
konnte nach politischen und teilweise recht willkürlichen moralischen Vorstellungen gestrichen werden. In den Akten der »Motion Pictures of Association of America« sind diese »Deletions« akkurat aufgeführt worden. In Australien strich man Fäkalausdrücke, Schleiferszenen, Soldaten, die sich nackt auszogen, und schließlich die Tötung eines französischen Soldaten. In der Tschechoslowakei durfte die Tonfassung nicht aufgeführt werden. In Polen mochte man den Zuschauern nicht das Grauen des Lazaretts zumuten. Dort schnitt die Zensur auch eine komplette Schlüsselszene, worin Paul Bäumer als Soldat in seiner alten Schulklasse jüngere Schüler vor dem Irrsinn des Krieges warnt. Ähnliche Zensurmaßnahmen verhängten auch einzelne Bundesstaaten in den USA. In Deutschland fiel eine andere Szene des Films der Zensur zum Opfer, in der die deutschen Soldaten mit französischen Mädchen fraternisieren. Besonderen Anstoß nahm man in fast allen Ländern an der Maschinengewehrszene. Vermutlich hatten die Zensurbehörden Angst, eine öffentliche Debatte über den Sinn des Krieges loszutreten. Die meisten Kinobesucher bekamen um bis zu 15 Minuten gekürzte Versionen zu sehen, die sich von Milestones »Directors Cut« deutlich unterschieden. Doch auch das durch Schnitte entschärfte Filmmaterial sorgte bei Publikum und Kritikern für leidenschaftliche Diskussionen. Am 21. April 1930 wurde die amerikanische Originalversion in Los Angeles uraufgeführt und dort von Kritikern und Publikum gleichermaßen gefeiert. Das war alles andere als selbstverständlich, denn der Film wählte ja nicht die Perspektive der alliierten Truppen, sondern die des ehemaligen Kriegsgegners Deutschland. Noch im selben Jahr erhielt der Streifen zwei Oskars: für die beste Regie und den besten Film des Jahres. Wie nicht anders zu erwarten, tat man sich in Deutschland mit dem Film besonders schwer. Noch vor der Fertigstellung der deutschen Fassung signalisierte die größte deutsche Filmfirma, die Universum-Film AG (UfA), den Universal Pictures, die Produktion nicht in den Verleih aufnehmen zu wollen. Am 21. November 1930 erhielt der Film die Freigabe von der Filmoberprüfstelle; die Prüfung durch diese Instanz 8
war ein ganz normales Verfahren, dem sich jede neue Produktion unterziehen musste. In Deutschland erfolgte die Premiere am 4. Dezember 1930 in Berlin. »Kinoterror« in Deutschland
Wie die Romanvorlage spaltete auch der Film das Publikum. Der NSDAPGauleiter von Berlin, Joseph Goebbels, witterte seine Chance und ließ am 5. Dezember Freikarten für den Film an SA-Männer, Parteimitglieder und Sympathisanten verteilen. Die braunen Banden warfen im Kino Stinkbomben, ließen weiße Mäuse laufen, verstreuten Niespulver und konnten mit diesen primitiven, aber wirkungsvollen Metho-
den die Vorstellung erfolgreich sabotieren. Doch das war erst der Auftakt eines Kinoterrors, der das Kampfgeschehen von der Leinwand auf die Straßen vor den Lichtspielhäusern verlagerte. Weitere Aufführungen wurden in den folgenden Tagen von SA-Gruppen sabotiert, Kinobesucher beschimpft oder am Betreten von Lichtspielhäusern mit Gewalt gehindert. Während li berale Kräfte und Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit für den Film Partei ergriffen, setzte sich der NS-Terror gegen Kinobesucher ungehindert fort. Täglich fanden jetzt Demonstrationen der bestens organisierten Nationalsozialisten und ihrer Gefolgsleute in Berlin statt, mit Tausenden von Teilnehmern. Aufführungen waren nur noch unter massivem Polizeischutz möglich. Be l r e h c S / o t o h P g n u t i e Z e h c s t u e d d ü S
Polizisten vor dem Mozartsaal in Berli n anlässlich der Unruhen bei der deutschen Uraufführung des Films »Im Westen nichts Neues«, Dezember 1930.
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günstigt wurde diese Gewalt der Straße hier verbot man »Im Westen nichts durch die Tatenlosigkeit der Staatsan- Neues« Anfang 1931. waltschaft und vieler Polizisten, die Im Preußischen Landtag kochte die dem rechtsstaatlichen System der Wei- Stimmung so hoch, dass die Abgeordmarer Republik reserviert gegenüber- neten des rechten Parteienspektrums standen. einen Misstrauensantrag gegen InnenAm 11. Dezember 1930 befasste sich minister Carl Severing (SPD) einsogar der Reichstag mit dem Skandal- brachten. Der Antrag scheiterte zwar film. Noch am selben Tag wurde für am 19. Dezember 1930. Doch nichts Berlin ein allgemeines Demonstra- zeigt deutlicher, dass die Diskussion tionsverbot verhängt. Die nationalsozi- über »Im Westen nichts Neues« längst alistische Presse schnaubte, allen voran zu einem Politikum geworden war. Es der »Völkische Beobachter«: Man ging nicht mehr um den Film, sondern müsse nicht die Demonstrationen, son- um eine Standortbestimmung über die dern »den Film an sich« verbieten. Deutung des Weltkrieges und damit Schließlich wurde »Im Westen nichts letztlich über die zukünftige Richtung Neues« aufgrund der angespannten Si- der deutschen Politik. Auch der Schriftcherheitslage vorläufig abgesetzt und steller Kurt Tucholsky brachte seine der »Filmoberprüfstelle« in Berlin, dem Empörung über den Filmskandal am letztinstanzlichen Entscheidungsor- 20. März 1931 in der Monatszeitschrift gan, ein zweites Mal zur Prüfung vor- »Menschenrechte« unmissverständlich gelegt. Dort erkannte man kurz darauf zum Ausdruck (siehe Kasten rechts). eine »ungehemmte pazifistische TenAm 24. März 1931 entschied schließdenz« und belegte den Film mit einem lich der Reichstag, dass der verbotene dauerhaften Aufführungsverbot. Film nur noch für geschlossene VeranDie nationalkonservative »Neue Preu- staltungen freigegeben werden durfte. ßische Kreuzzeitung« sprach in einem Die Front der Kritiker hatte damit ihr Artikel vom 13. Dezember vielen Kriti- Ziel erreicht und eine differenzierte kern aus der Seele. Danach sei das Ver- Auseinandersetzung über die Sinndeu bot gerechtfertigt, weil die Art der Dar- tung des Weltkriegs unterbunden. stellung geeignet sei, »das Ansehen der Es folgten nur noch wenige kriegskriKriegsteilnehmer auf das Empfind- tische Produktionen, etwa Georg Willichste zu schädigen. Es sei unbestreit- helm Pabsts »Westfront 1918« (1930). bar, dass es nur deutsche Soldaten Im deutschen Filmgeschäft der frühen seien, die jammerten und schrien, wäh- 1930er Jahre setzten sich die nationalrend die Franzosen, die gegen den Sta- konservativen und monarchistisch gecheldraht anrennen, schweigend stür- sinnten Kräfte immer stärker durch. ben.« Im Ganzen werde der Film der Produzenten und Regisseure, die dieGemütsverfassung der Teilnehmer am ser Linie folgten, durften mit erheblich Kriege nicht gerecht. Weiter hieß es, besserer staatlicher Förderung rechman wolle »das Volk sehen, das sich nen. Mit Produktionen wie »Berge in die Darstellung der eigenen Nieder- Flammen« (1931), »Tannenberg« (1932) lage gefallen lasse«. oder pseudohistorischen Preußenfilmen wurde die kritisch-pessimistische Kriegsdeutung immer stärker von der Der Film als Politikum Leinwand verdrängt. Das Kino war damit zu einem »Kampfplatz« geworden, Die Argumentation der Filmoberprüf- der das Ende der Weimarer Republik stelle, einer nachgeordneten Behörde beschleunigte. des Reichsinnenministeriums, unter Matthias Rogg strich eindringlich, dass man den Film nicht nach ästhetischen, juristischen Literaturtipps oder pädagogischen Gesichtspunkten eingestuft hatte. Während die NS- Bärbel Schrader (Hrsg.) Der Fall Remarque. Im Westen Presse die Entscheidung mit hämischer nichts Neues. Eine Dokumentation, Leipzig 1992 Freude feierte, organisierte sich Wider- Thomas Klein, Marcus Stiglegger und Bodo Traber (Hrsg.), stand. Da der Film nur im Reichsgebiet Filmgenres. Kriegsfilm, Stuttgart 2006 verboten war, wurden Busfahrten ins Wolfhard Keiser, Erich M. Remarque: Im Westen nichts benachbarte Ausland organisiert, zum Neues, Hollfeld 2005 (= Königs Erläuterungen und Beispiel nach Österreich. Doch auch Materialien, 433)
In der Zeitschrift »Die Menschenrechte« vom 20. März 1931 sprach sich Kurt Tucholsky für die Ausstrahlung des Films »Im Westen nichts Neues« aus: Gegen das Remarque-Filmverbot (Eine Umfrage der ›Deutschen Liga für Menschenrechte‹)
Der nordische Barde Goebbels hat in seinen Kundgebungen wiederholt darauf hingewiesen, dass der Remarque-Film ein ›Geschäft‹ sei [...] Die Nationaille hat aus unlauteren Beweggründen gegen diesen Film protestiert. Es ist bedauerlich, dass ein Pazifist wie Friedrich Wilhelm Foerster Verwirrung in die Reihen des Pazifismus getragen hat, indem er sagt: ›Das Szenario stellt eine tendenziöse Auswahl seitens einer Art von sentimentalem, ja oft weinerlichem Pazifismus dar, bei dem der Abscheu gegen den Krieg nicht aus den Tiefen der moralischen Menschennatur kommt, sondern aus dem Nervensystem [...]‹ Aus dem Nervensystem! Nur aus dem Nervensystem? Wir haben oft zu Foerster gehalten. In diesem Falle ist dem Vorsteher eines kleineren katholischen Moralamtes nur zu wünschen, dass er einmal in die Lage kommt, nur aus dem Nervensystem gegen den Krieg protestieren zu müssen – also etwa nach achtundvierzigstündigem Trommelfeuer. Noch der niedrigste Pazifismus hat gegen den edelsten Militarismus tausendmal recht! Es gibt kein Mittel, das uns nicht recht wäre, den Moloch des Kriegswahnsinns und des Staatswahnsinns zu bekämpfen. Der Tod der zehn Millionen ist sinnlos gewesen – sie sind für nichts gefallen. [...] Ehre der Trauer. Schmach dem Kriege! Wir brauchen keine Kartenkunststücke, die uns den angeblichen Sinn dieses Wahnsinns vormachen sollen. Und darum ist uns jeder, jeder Film recht, der der Menschheit den Krieg auch in seinen niederen Formen, gerade in seinen niedrigsten Formen vorführt. Mussolini zeigt seinem Volk nur die Fahnen und nichts als das – Remarque zeigt uns die Fahnen und den Rest: die Zerfetzten und die Taumelnden, die Blutenden und die Zerschossenen – und wer sich daran begeistern will, der mag es tun. Wir andern rufen gegen die Weltenschande: Nieder mit dem Kriege! Zit. nach: Kurt Tucholsky, Unser Militär! Schriften gegen Krieg und Militarismus, Frankfurt a.M. 1962, S. 447 f.
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Deutsche Herrschaft in der Ukraine
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Deutsche Herrschaft in der Ukraine 1918/19: Deutsche Truppen besetzen Kiew, 1. März 1918.
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Wegweiser zum Vernichtungskrieg?
icht erst im Zweiten Weltkrieg gerieten große Gebiete Osteuropas unter deutsche Herrschaft. Bereits im Ersten Weltkrieg besetzte das Deutsche Reich ab 1915 polnische wie baltische Gebiete des zaristischen Russlands. Im letzten Kriegsjahr 1918 kamen dann die Ukraine und Weißrussland unter deutsche (sowie österreichisch-ungarische) Kontrolle. Es ist erstaunlich, dass diese von Februar 1918 bis März 1919 dauernde Besatzungszeit bisher kaum erforscht ist. Dabei liegen die Vergleichsmöglichkeiten zu den Ereignissen in den Jahren 1941 bis 1944 – vor allem im Fall der Ukraine – auf der Hand: Beide Male spielte ein geostrategisches Kalkül eine wichtige Rolle, beide Male ging es aus deutscher Sicht gegen den »Bolschewismus« und beide Male kam es zu Auseinandersetzungen mit irregulären Kräften, also mit Partisanen. War bereits diese erste deutsche Besatzung in der Ukraine von 10
entgrenzter Gewalt gegen Partisanen, Partisanenverdächtige und Zivilbevölkerung begleitet? Welche Unterschiede und Ähnlichkeiten gab es in der Partisanenbekämpfung 1918/19 und 1941 bis 1944? Stellte die Besatzung 1918 einen Wegweiser zum Vernichtungskrieg im Zweiten Weltkrieg dar? Schutzmacht Deutschland?
Seit 1917 war das ehemals zaristische Vielvölkerreich Russland durch Revolutionswirren in seinen Grundfesten erschüttert. Die einzelnen »Nationen« strebten nach Unabhängigkeit, so auch die Ukraine, wo sich Mitte 1917 eine eigene Regierung, die sogenannte »Rada«, bildete. Am 20. November 1917 verkündete sie die »Ukrainische Volksrepublik« und erklärte sie zunächst für autonom, wenig später folgte die Unabhängigkeitserklärung.
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Die »Rada« war ein Sammelsurium von Parteien unterschiedlichster Couleur: Bürgerliche, Sozialisten und Sozialrevolutionäre. Ihre Herrschaft stand von Beginn an auf wackeligen Füßen, denn von Moskau unterstützt, reklamierten auch die Bolschewiki die Macht in Kiew für sich. Wollte die »Rada« politisch überle ben, brauchte sie unbedingt Unterstützung von außen. Sie setzte auf die Mittelmächte. Während das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn mit dem bolschewistischen Russland in BrestLitowsk Friedensgespräche führten, tauchte unerwartet eine Delegation der Ukrainischen Volksrepublik am Verhandlungsort auf und besprach mit den Bevollmächtigten des Deutschen Reiches im Geheimen mögliche Hilfeleistungen. Als am 8. Februar 1918 die Bolschewiki die »Rada« in Kiew stürzten, sah sich die ukrainische Delegation zum Handeln gezwungen und
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Mitglieder der ukrainischen Delegation im Gespräch mit deutschen Offizieren vor dem ehemaligen Gouvernementsgebäude in Brest-Litowsk während der Friedensverhandlungen im Februar 1918.
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schloss spontan ein Bündnis mit dem Deutschen Reich: Deutsche Truppen sollten die Bolschewiki vertreiben und die »Rada« wieder an die Macht bringen. Im Gegenzug versprach die ukrainische Seite umfangreiche Getreidelieferungen. Die deutsche Regierung setzte darauf große Hoffnungen, hatte doch die britische Seeblockade seit 1914 zu einer katastrophalen Versorgungslage in der Heimat geführt. Ab dem 18. Februar 1918 marschierten Truppen der Heeresgruppen (Alexander von) Linsingen und (Hermann von) Eichhorn offiziell als Schutzmächte der »Rada« in die Ukraine ein. Die Deutschen drangen in diesem »Eisen bahnfeldzug« schnell in das Innere des Landes vor und vertrieben die schlecht organisierten regulären und irregulären Truppen der Bolschewiki. Auch Österreich-Ungarn schloss sich einige Tage später diesem »Eisenbahnfeldzug« an, wollte es sich doch auch einen Teil der scheinbar leichten Beute sichern. Während die nördliche Ukraine sowie die Krim unter deutsche Kontrolle fielen, wurde Österreich-Ungarn ein breiter Besatzungsstreifen in der Südukraine zugestanden. Die deutschen Besatzungsverbände bestanden überwiegend aus zweit- und drittklassigen Landwehrdivisionen oder gar dem Landsturm, der zum Teil aus nicht ausgebildeten, älteren Männern bestand. Darüber hinaus sah dieser Kriegsschauplatz einen der letzten großen Einsätze der Kavallerie: Als schnelle und mobile Eingreiftruppe sollte sie
sich hervorragend zur Aufstandsbekämpfung eignen. Offiziell waren die Mittelmächte jedoch keine Besatzer. Vielmehr hob man nach der Einnahme Kiews Anfang März die »Rada« wieder in den Regierungssattel, doch war ihre Macht sehr schwach: Ihre Politiker waren jung und unerfahren, in der eigenen Bevölkerung fanden sie kaum Rückhalt, und ein eigenes ukrainisches Nationalgefühl war nur schwach entwickelt. Als schwerste Hypothek für das deutschukrainische Verhältnis erwiesen sich die versprochenen umfangreichen Getreidelieferungen. Die Ukraine erfüllte die Zusage bei Weitem nicht; Spannungen zwischen dem deutschen Militär und der ukrainischen Regierung waren die Folge.
warnte die 9. Armee ihre Truppen vor Verhältnissen, die an den Einmarsch in Belgien im Sommer 1914 erinnern würden. Aufstandsbewegungen seien daher im Keime zu ersticken, bewaffnete Aufständische sofort zu exekutieren. In der Tat hatten bolschewistische Revolten weite Teile des Landes erschüttert. Im ganzen Land lagerten Waffen, die von ehemaligen zarischen Soldaten bei ihrer Rückkehr in die Heimat einfach mitgenommen worden waren. Diese Waffen konnten nun leicht von roten Partisanen beschlagnahmt werden, um das Land zu beunruhigen. Folglich waren die drei Hauptaufgaben der deutschen Truppen zunächst: das Einbringen von Getreide, das Einsammeln der Waffen und die Bekämpfung der bolschewistischen Aufständischen. Dabei kam es vergleichsweise häufig zu Exzessen. Unschuldige Zivilisten wurden getötet, ganze Dörfer angezündet. Mit gefangenen Bolschewiki machte man zumeist kurzen Prozess, wenngleich man hinzufügen muss, dass diese wohl nur selten die Bedingungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 erfüllten, um als Kombattanten anerkannt zu g k a a p
Das Verhalten deutscher Truppen
Um sich das versprochene Getreide dennoch zu sichern, zogen deutsche Truppen durch das Land und beschlagnahmten Bestände ohne Rücksicht auf die Belange der einheimischen Zivilbevölkerung. Dies verschlechterte natürlich das Verhältnis zwischen Schutzmacht und Schutzbefohlenen. Dabei war beim Einmarsch im Februar 1918 noch in mehreren Befehlen betont worden, man sei von der ukrainischen Regierung als befreundete Schutzmacht und Befreier vom Bolschewismus ins Land gerufen worden. Bald erhoben sich aber auch andere Stimmen. So
Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn, um 1917.
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Deutsche Herrschaft in der Ukraine
werden. Lapidar berichtete eine Bri- zungen in der ukrainischen Innenpoligade der Bayerischen Kavallerie-Divi- tik. Anfang Mai 1918 kam es zu einem sion beim Vormarsch auf die Krim- Staatsstreich des ehemaligen zarischen Halbinsel im April, man habe prinzipi- Generals Pawlo Skoropadskij gegen ell keine Gefangenen gemacht. Dies die »Rada«, woran die Deutschen verhabe sich außerordentlich bewährt, da mutlich beteiligt waren. Skoropadskij so Angst und Schrecken beim Gegner ließ sich zum »Hetman der Ukraine« verbreitet worden seien. ausrufen. Er entsprach damit einem Besonders drastisch war der Vorfall »Reichsverweser« bzw. »Militärbefehlsam Mius-See im Südosten der Ukraine haber« und bildete ein deutschhöriges Anfang Juni 1918. Bolschewistische autoritäres Regime. Wie die »Rada« Truppen wollten dort in einem amphi- war auch diese neue Regierung bei der bischen Unternehmen den Deutschen Bevölkerung unbeliebt, aber zuminin den Rücken fallen, was aber bereits dest hatten die Deutschen einen Partnach zwei Tagen scheiterte. Anschlie- ner gefunden, mit dem sie zusammenßend ließ der deutsche Kommandeur arbeiten konnten. in diesem Gebiet, Oberst Arthur Bopp, sämtliche Gefangene erschießen. Die Zahl der Toten dürfte bei etwa 3000 ge- Deutsch-ukrainische legen haben und es bleibt bis heute Zusammenarbeit unklar, wieviele Zivilisten aus den umliegenden Orten sich unter den Opfern Im Juli 1918 erließen die Hetman-Regie befanden. Dieser Vorfall wurde sogar rung und die Heeresgruppe Eichhorn im deutschen Reichstag debattiert und Anordnungen zur Zusammenarbeit die Heeresgruppe Eichhorn verlangte von ukrainischen und deutschen Steleine genaue Untersuchung der Ereig- len. Bei der Unterdrückung von Unrunisse, die jedoch keine Ergebnisse zei- hen wollten beide Seiten eng kooperietigte bzw. ohne Folgen blieb. Es ist aber ren. Listen mit Verdächtigen und Rädavon auszugehen, dass dieses Massa- delsführern sollten geführt werden, ker am Mius-See in seiner Dimension damit Missverständnisse beseitigt würeine Ausnahme während der Besat- den, die bisher »oft zu Massenbestrazungszeit darstellte. fungen, wie z.B. Abbrennen von DörAllerdings setzte genau in diesen fern« geführt hatten. Monaten Mai/Juni 1918 auf deutscher Zusätzlich wurden ein bewaffneter Seite ein Umdenkprozess ein. Man er- Selbstschutz in den Dörfern aufgestellt, kannte, dass ein blindes Drauflosschla- sodass sich die Bevölkerung selbst gegen zwar eine kurzfristige Beruhigung, gen die umherziehenden bolschewistikeinesfalls aber eine dauerhafte Befrie- schen Partisanen wehren konnte, sowie dung des Landes ermöglichte und ein Agentennetz installiert. Weiterhin Ausschreitungen deutscher Truppen erfolgte die Aufstellung einer ukrainidie ländliche Bevölkerung nur in die schen Miliz, die aber als unzuverlässig Arme der Bolschewiki trieben. Letzt- galt und bei der Bevölkerung wegen endlich, so die Heeresgruppe Eich- ihrer mangelnden Disziplin eher für horn, würden nur gut zehn Prozent Beunruhigung denn für Ruhe sorgte. der Landbevölkerung die Bolschewiki Dennoch war der Einsatz landeseigeunterstützen. Das Niederbrennen von ner Kräfte aufs Ganze gesehen ein ErHäusern wurde daher ausdrücklich folg und trug nicht unwesentlich zur verboten, mutmaßliche Täter sollten Befriedung der Ukraine bei. Ab Septemden Feldgerichten überantwortet wer- ber/Oktober 1918 wurde eine »Ukrainiden. Bei Verhaftungen von Verdächti- sierung«, also die Besetzung von Schlüsgen mussten stets der genaue Sachver- selpositionen mit Ukrainern, offizielle halt angegeben und Zeugen genannt Besatzungspolitik. werden, da man sonst kein rechtmäDie deutsche Aufstandsbekämpfung ßiges Verfahren eröffnen konnte und hatte sich somit gewandelt. Ignoranz man die Verdächtigen wieder freilas- und Härte gegenüber der Regierung sen musste. Anordnungen einer reinen und den Einheimischen wichen einer Willkürherrschaft hätten sicherlich an- Kooperation zwischen deutschen und ders ausgesehen. ukrainischen Stellen sowie einer maßBegünstigt wurde diese Entwicklung vollen Behandlung der Zivilbevölkefür die deutsche Seite durch Umwäl- rung. Vergleichsweise schnell gelang 12
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es nun, die bolschewistischen Partisanen erfolgreich zu bekämpfen und das Land zumindest äußerlich zu befrieden. So kam es im deutsch kontrollierten Teil der Ukraine während des Sommers und Herbstes kaum mehr zu Aufständen – ganz im Gegensatz übrigens zum österreichisch-ungarischen Sektor, wo eine Neuorientierung in der Aufstandsbekämpfung nicht stattgefunden hatte. Eine spektakuläre Ausnahme bildete die Ermordung des Generalfeldmarschalls Hermann von Eichhorn durch einen Sozialrevolutionär am 30. Juli 1918 in Kiew. Bezeichnenderweise folgten aber diesem Attentat auf den höchsten deutschen Repräsentanten in der Ukraine keine Repressalien. Antisemitismus als Konstante deutscher Besatzungspolitik
Eine Konstante in der Besatzungspolitik 1918/19 und 1941/44 bildete sicherlich der Antisemitismus des deutschen Militärs. So lassen sich in den Militärakten aus dem Jahr 1918 immer wieder antisemitische Äußerungen finden mit dem bekannten Stereotyp der Gleichsetzung von Juden und Bolschewiki. »Die Juden sind die natürlichen Feinde der Ordnung und damit Anhänger des g k a a p
Kaiser Wilhelm II. empfängt den Hetmann der Ukraine, Pawlo Skoropadskij. Deutsches Pressefoto, 1918.
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Bolschewismus«, behauptete die Hee- deutschen Heer zu Zerfallserschei- nenbekämpfung 1918. Den Deutschen resgruppe Eichhorn-Kiew, so die Be- nungen. Schnell zerstoben die Pläne gelang es sogar schließlich, einen verzeichnung der Heeresgruppe vom 31. der Heeresgruppe Kiew, Freiwilligen- gleichsweise modernen Ansatz zu finMärz bis 30. April 1918, in einem zen- Formationen aufzustellen, um Teile der den: Sie versuchten, eng mit den ukraitralen Befehl vom April 1918. Beson- Ukraine für deutsche Interessen noch nischen Stellen zusammenzuarbeiten, ders drastisch wurde der Komman- weiterhin besetzt zu halten. So zogen bauten einen bewaffneten Selbstschutz deur der Bayerischen Kavallerie-Divi- sich trotz der teilweise feindlichen und sowie ein Agentennetz auf und waren sion in einem Lagebericht vom Juni drohenden Haltung der Bürgerkriegs- bemüht, ein gewisses Vertrauen bei der 1918: »Die Juden sind die Haupthetzer parteien die deutschen Einheiten bis lokalen Bevölkerung zu gewinnen. im Lande. Solange wir ihnen nicht das März 1919 ohne größere Zwischenfälle Missgriffe bei der Wahl der Mittel sollHandwerk legen, wird niemals Ruhe aus der Ukraine zurück. Die erste deut- ten in der Partisanenbekämpfung im Lande eintreten.« Daher müssten sche Herrschaft im Osten im 20. Jahr- verhindert werden, auch wenn dies »schärfste Maßnahmen« angewandt hundert war damit zu Ende. nicht immer gelang. Hinzu kam der, werden. Selbst der Kommandeur der Welche Erkenntnisse lassen sich aus wenngleich auch erfolglose, Wille, den 15. Bayerischen Reserve-Infanterie-Bri- der knapp einjährigen deutschen Be- ukrainischen Staat auf ein solides wirtgade stieß in das antisemitische Horn – satzung der Ukraine 1918/19 ziehen? schaftliches Fundament zu stellen. Die obwohl seine eigene Frau Jüdin war. Sicherlich setzte man in beiden Welt- Sympathie der Einheimischen hatten Im Gegensatz zum Zweiten Welt- kriegen vor allem zu Beginn auf Härte. die Deutschen jedoch durch ihr rabiakrieg unterschieden sich aber 1918 Die Terminologie der Befehle von 1918 tes Vorgehen bereits im Frühjahr 1918 Rhetorik und Praxis. So kam es wäh- ähnelt teilweise sehr stark jenen des größtenteils verspielt, und später galrend der deutschen Besatzungszeit Unternehmens »Barbarossa« ab 1941: ten sie als Beschützer der reaktionären 1918 zu keinen antijüdischen Maßnah- So wurde »rücksichtsloses« Vorgehen Hetman-Regierung. Insgesamt hätten men. Im Gegenteil: Mittels der Akten verlangt, die Juden wurden als »Het- sich aber trotz aller Fehler aus der Belassen sich Fälle belegen, wo deutsche zer« bezeichnet. Außerdem verfuhr satzung der Ukraine 1918/19 viele LehTruppen Juden vor der Gewalt der auf- man mit gefangenen Partisanen ge- ren für die Zukunft ziehen lassen. Doch gebrachten ukrainischen Bevölkerung nauso wie später im Zweiten Welt- eine positive Rückbesinnung auf die beschützten. Erst nach dem deutschen krieg: Sie wurden erschossen oder ge- weitgehend erfolgreiche PartisanenAbzug kam es in Galizien 1918/19 zu hängt. Auch das Niederbrennen von bekämpfung 1918/19 fand in der ZwiMassenpogromen der einheimischen ganzen Dörfern als Repressalie lässt schenkriegszeit nicht statt. Hitler selbst Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mit- sich in beiden Weltkriegen finden. lehnte eine Besatzung nach dem Muster bürger mit mehreren tausend Opfern. von 1918/19 ab. War die Armee im ErsAuch wenn es die Deutschen im Somten Weltkrieg noch traditionelles WerkVon der befreundeten Macht mer 1918 geschafft hatten, der Ukraine zeug der Politik, so sollte sie im Zweiten zu den Eroberern neuen noch einmal eine Phase der relativen Weltkrieg Träger einer menschenverRuhe zu bescheren, stand die Regierung »Lebensraumes« achtenden Ideologie sein, was im Übrides Hetman weiterhin auf fragilen Fügen auch für die Rote Armee galt. Das ßen. Der ukrainische Staat konnte nur Doch allgemein überwiegen die Unter- alles sollte katastrophale Folgen für die durch die deutsche (und österreichisch- schiede zwischen 1918/19 und 1941/44, zweite deutsche Besatzung im Osten ungarische) Truppenpräsenz bestehen. sodass man insgesamt, was die Besat- gut zwei Jahrzehnte später haben. Als Sozialisten am 20. November 1918 zungsherrschaft in der Ukraine 1918/19 die Regierung des Hetman stürzten, betrifft, nicht von einem Wegweiser Peter Lieb brach dessen Herrschaft im ganzen zum Vernichtungskrieg sprechen kann. Land wie ein Kartenhaus zusammen. Allein die politischen Rahmenbedin- Literaturtipps Die Deutschen griffen auf Anweisung gungen der jeweiligen Besatzungen des neu gegründeten Soldatenrats der standen unter gänzlich anderen Vor- Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von BrestHeeresgruppe Kiew, wie die Heeres- zeichen: 1918 kam man zumindest offi- Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien, gruppe nach der Ermordung Eich- ziell als befreundete Macht in die Uk- München 1966. horns genannt wurde, nicht ein. Die raine, 1941 als Eroberer neuen, deut- Von Brest-Litovsk zur deutschen Novemberrevolution. Ukraine versank nun in einen chao- schen »Lebensraumes«. Das zeigte sich Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von tischen, unübersichtlichen und blu- auch in der Partisanenbekämpfung: Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman. tigen Bürgerkrieg. Während man im Zweiten Weltkrieg März bis November 1918. Mit einem Vorwort von Hans Bereits am 4. November 1918 war die erst 1943/44 offiziell von Terrorme- Herzfeld, Göttingen 1971. sich in Auflösung befindliche österrei- thoden abrückte, geschah dies in der Frank Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung unter chisch-ungarische Ostarmee überhas- Ukraine nur wenige Monate nach der deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42, tet aus der Ukraine abgezogen. Die deutschen Besetzung im Februar 1918. Wiesbaden 2005. deutschen Truppen verblieben nach Die Fähigkeit, aus den eigenen militä- Peter Lieb, Aufstandsbekämpfung im strategischen DiAbsprachen mit der Entente noch meh- rischen Fehlern schnell zu lernen – üb- lemma. Deutsche Besatzung in der Ukraine 1918. In: rere Wochen in der Ukraine, um dort rigens eine der traditionellen Leistun- Wolfram Dornik und Stefan Karner (Hrsg.), Die Besatdie Ordnung einigermaßen aufrecht- gen des preußisch-deutschen Militärs – zung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungszuerhalten. Doch kam es nun auch im war ein Charakteristikum der Partisa- stand – wirtschaftliche und soziale Folgen, Graz 2008. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Quell(en) deutscher Militärgeschichte Freikorps 1918–1920
Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br. Quell(en) deutscher Militärgeschichte von 1864 bis heute
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n einem Außenbezirk der südbadischen Stadt Freiburg, inmitten von Gewerbe- und Wohnanlagen, liegt eine Einrichtung, deren weitläufiges Areal mit mehreren fußballfeldgroßen Lagerhallen an ein Speditionsgelände erinnert. Hier befindet sich das Bundesarchiv-Militärarchiv. Die hohen Hallenmauern schützen etwas ganz Besonderes: die amtlichen Unterlagen deutscher Streitkräfte seit dem Jahre 1864 bis hin zur Bundeswehr der Gegenwart. Im Jahre 2008 beläuft sich der Gesamtumfang des hier verwahrten Archivguts auf nahezu 55 Regalkilometer. Siebzig Mitarbeiter sorgen dafür, dass das kulturelle Erbe deutscher Streitkräfte für die Zukunft erhalten und für die Benutzung durch die Bundeswehr, Wissenschaftler sowie für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten militärischen Unterlagen deutscher Herkunft, soweit sie Kriegseinwirkungen und systematische Vernichtung überstanden hatten, von den Siegermächten ins Ausland verbracht. Die Rückgaben erfolgten langsam und wurden über die Bundeswehr abgewickelt. Zu diesem Zweck wurde eine Dokumentensammelstelle im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) eingerichtet, das ab 1958 in Freiburg ansässig war. Mit dem Ziel, die Überlieferung der deutschen Streitkräfte an einem Ort zu vereinen, verlegte das Bundesarchiv seine Abteilung Militärarchiv im Jahre 1968 von Koblenz nach Freiburg; sie nimmt seither die Aufgabe eines zentralen Militärarchivs wahr. Im Rahmen eines fiktiven Archivrundgangs sollen im Folgenden anhand
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Magazinhalle des BundesarchivMilitärarchivs, Freiburg i.Br.
Zeitschrift für für historische historische Bildung Bildung ·· Ausgabe Ausgabe 3/2008 4/2008 Militärgeschichte ·· Zeitschrift Militärgeschichte
ausgewählter Beispiele die Einzigartigkeit des in Freiburg verwahrten Archivguts und seine Vielgestaltigkeit vorgestellt sowie seine Bedeutung für die Erforschung der deutschen Militärgeschichte gezeigt werden. Der erste Eindruck von den großräumigen, doppelstöckigen Magazinhallen ist nüchtern. In den riesigen Regalanlagen werden die Archivalien zum Schutz vor Schmutz, Staub, Licht und vor Beschädigung in Tausenden grauer Archivkartons aufbewahrt. Doch der Blick zwischen die Regalböden offenbart klangvolle Namen wie Moltke, Tirpitz, Fritsch, Halder, Ruge oder Heusinger. Hier liegen die privat-dienstlichen Unterlagen bedeutsamer Persönlichkeiten der deutschen Militärgeschichte, die man als Nachlässe bezeichnet. Doch auch aus dem Besitz weniger bekannter Personen lagern hier Unterlagen mit großer Aussagekraft. Ein Beispiel dafür bietet der aus nur wenigen Archivalien bestehende Nachlass der Gebrüder Koethe (BArch, N 557).
Archivbestände
Das Bundesarchiv-Militärarchiv verwahrt Akten und andere Quellen der preußisch-deutschen Armee seit den Einigungskriegen, des Deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine bis zum Ende des Ersten Weltkrieges sowie der Reichswehr, Wehrmacht, Waffen-SS wie auch der Nationalen Volksarmee und der Bundeswehr. Hinzu kommen Tagebücher, Feldpostbriefe und Fotoalben mit militärgeschichtlichem Bezug aus über 800 privaten Nachlässen deutscher Militärangehöriger des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ernst Koethe nahm als junger Offizier an den Schlachten in Frankreich in den Jahren 1914 bis 1916 sowie am Feldzug gegen Rumänien im Jahre 1917 teil. Eine Akte enthält die erhalten gebliebenen Personalunterlagen, mit deren Hilfe sich die Biografie des Ernst Koethe im Wesentlichen rekonstruieren lässt. Eine aufwändig gestaltete Hörsaalzeitung aus der Zeit der Generalstabsausbildung Ernst Koethes an der preußischen Kriegsakademie zu Berlin in den Jahren 1905/07 lässt die Vergangenheit in ebenso alltagsnaher wie humoriger Art präsent werden. Die Ernennungsurkunde Koethes zum Hauptmann im Jahre 1911 wurde, wie damals üblich, vom Monarchen persönlich unterzeichnet. Daneben liegen Briefwechsel und ein Konvolut mit Flugblättern, Frontzeitungen, Tagesbefehlen und vielen anderen Erinnerungsstücken aus dem fast ein halbes Jahrhundert währenden Soldatenleben. Die eigentliche Aufmerksamkeit zieht jedoch ein Stapel Fotoalben auf sich, worin Ernst Koethe seine Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges festgehalten hat. Eindrucksvoll sind beispielsweise die vielen Aufnahmen des Grabenkrieges vor Verdun im Jahre 1915/16. Nicht minder interessant sind aber auch die charakteristischen Momentaufnahmen vom Soldatenalltag im rückwärtigen Bereich: Befehlsausgaben, Kantinenbetrieb in einem unterirdischen Stollen, Berge frischgebackenen Kommisbrotes oder die zahnärztliche Versorgung im Felde. Zusammen mit dem Nachlass Ernst Koethes kamen auch Unterlagen seines Bruders Bernhard in das Archiv. Von Bernhard Koethe wissen wir nur sehr wenig. Er war Angehöriger des Expeditionskorps, welches das Deutsche Reich im Jahre 1900/01 zur Nie-
Auszug aus der »Übersichtskarte der derschlagung des sogenannten BoxerOperationen« (BArch, N 43/141 K) der aufstandes nach China entsandte. Großen Generalstabsreise West 1905 Bernhard Koethe hat uns aus dieser Alfred Graf von Schlieffens. Zeit ein ausführliches Tagebuch sowie ein opulentes Fotoalbum hinterlassen, die uns die Erlebnisse und Gedan- offiziere der Roten Armee zu liquidiekenwelt des Zeitgenossen auch mehr ren (der sogenannte Kommissarbeals einhundert Jahre danach nacher- fehl) oder die präventive Amnestie für leben lassen. Die Fotoaufnahmen ver- Übergriffe von Wehrmachtangehörigen anschaulichen Land und Kultur, sie gegen die Zivilbevölkerung der besetzverstören aber auch durch die Doku- ten Gebiete im Osten (»Kriegsgerichtsmentation kriegerischer Gewalt, Zer- barkeitserlass«). In großer Zahl dokustörung und menschlichen Elends. mentieren die Kriegstagebücher der
Einsatz mit Gasmasken im Frankreichfeldzug 1915. Foto aus dem Privatnachlass der Brüder Koethe (BArch, N 557/24, unpag.).
In einem anderen Magazinbereich zeugen endlos scheinende Aktenreihen von der Tätigkeit des Wehrmachtführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und der Generalstäbe von Heer und Luftwaffe sowie der Seekriegsleitung. Ein Aktenband enthält Ausfertigungen von Hitlers Weisungen für die Kriegführung aus den Jahren 1939 bis 1945; zahlreich sind verbrecherische Befehle, etwa die Aufforderung, kriegsgefangene Polit-
Heeresgruppen, Armeen und Divisionen das Kampfgeschehen. Dramatisches offenbart der Blick in einen Anlagenband zum Kriegstagebuch der Heeresgruppe Don aus dem Jahre 1943. Darin befindet sich ein Funkspruch von General Friedrich Paulus, Oberbefehlshaber der 6. Armee, vom 22. Januar 1943. Unter Aufbietung aller Kräfte hatte die seit dem 23. November 1942 durch eine großangelegte Gegenoffensive der Roten Armee in
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Quell(en) deutscher Militärgeschichte Freikorps 1918–1920
Stalingrad eingeschlossene 6. Armee den Zusammenhang ihrer Verbände wahren und die Aufspaltung des Kessels verhindern können. Nun meldete Paulus: »Russe im Vorgehen in 6 km Breite beiderseits Woroponow, zum Teil mit entrollten Fahnen nach Osten. Keine Möglichkeit mehr, Lücke zu schließen. Zurücknahme in Nachbarfronten, die auch ohne Munition, zwecklos und nicht durchführbar. Ausgleich mit Munition von anderen Fronten auch nicht mehr möglich. Verpflegung zu Ende. Über 12 000 unversorgte Verwundete im Kessel. Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben und weiter mit starker Artillerie, Panzern und Infanteriemassen angegriffen werden.« (BArch, RH 19 VI/42, Bl. 60).
Das Studium dieses und anderer im Regal liegender Aktenbände offen bart die Apokalypse, die Tausende deutsche Soldaten bei bitterer Kälte in der Trümmerwüste von Stalingrad erlebten, bis die Kämpfe am 2. Februar 1943 ihr Ende fanden und 110 000 von ihnen erschöpft und halb verhungert den Gang in die sowjetische Kriegsgefangenschaft antraten. Und das Archivgut belegt: Stalingrad war kein heroischer Opfergang; das Desaster war aufgrund falscher Lagebeurteilungen und einer katastrophalen Versorgungslage bereits vor der Einschließung der 6. Armee absehbar! Andere Akten aus der Zeit der Wehrmacht zeigen, wie Regime und Wehrmachtführung versuchten, die Soldaten im Sinne der NS-Ideologie zu beeinflussen. Erhalten gebliebene Prüf berichte der Feldpostzensur aus den Jahren 1944/45 belegen, dass sich die besiegte Wehrmacht zunehmend auflöste. Vom Schicksal derer, die wegen jugendlicher Unbekümmertheit, Zweifel, Opposition oder Verweigerung in die Mühlen einer mit fortschreitendem Krieg immer hemmungslos-brutaler agierenden Wehrmachtjustiz gerieten, künden Tausende von Gerichtsakten. In einer anderen Magazinhalle signalisiert die an einem Magazinregal ange brachte Bestandsbezeichnung DVW 1, dass hier die Unterlagen des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR gelagert werden. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wur16
In der Nacht vom 23. Februar 1940 war gegen 0.32 Uhr ein Flugzeug von der Marineflak vor der Insel Borkum für ein gegnerisches gehalten und abgeschossen worden. Daraufhin erfolgte am 26. Februar 1940 eine Führerweisung (BArch, RM 7/962, Bl.105; vgl. Kriegstagebuch der Seekriegsleitung 1939–1945, Teil A, Bd 6: Februar 1946, Herford, Bonn 1988, Bl. 94, S.179-A).
de der gesamte Bestand des Militärarchivs der DDR in den Bestand des Bundesarchiv-Militärarchivs überführt. Daneben fanden weitere Unterlagen zur Militärgeschichte der DDR Eingang in das Freiburger Militärarchiv. In den mit den Signaturen DVW 1/ 39458-39539 beschrifteten Archivkartons befinden sich die ehemals streng geheim gehaltenen Protokolle des Nationalen Verteidigungsrates (NVR), die auf Initiative eines Berliner Bürgerkomitees im Jahre 1990 vor der bereits laufenden Aktenvernichtung gesichert wurden. Der NVR wurde per Gesetz im Jahre 1960 zur Lenkung der Landesverteidigung eingesetzt. Der NVR nahm in der Organisation der Landesverteidigung der DDR eine Spitzenfunktion ein. Formal war das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) das höchste Führungsgremium der DDR, das Regierung und Staatsapparat als ausführenden Organen Beschlüsse und Weisungen vorgab. Das bedeutete jedoch nicht, dass hier alle wichtigen Staats- und Regierungsfragen entschieden wurden. Gerade für die zur Stützung des Regimes unverzichtbare Sicherheitspolitik schuf der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht 1960 mit dem Nationalen Verteidigungsrat ein sicherheitspolitisches Führungszentrum. Beim NVR handelte es sich auch um ein zusätzliches Machtinstrument, das Ulbricht und später Erich Honecker dazu dienen sollte, ihren persönlichen Einfluss und die Vorrangstellung der SED zu sichern.
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Schlägt der Leser das Protokoll der 16. Sitzung des NVR vom 20. September 1963 auf (BArch, DVW 1/39473), so stößt er auf Erörterungen der SED-Spitze unter anderem zu folgenden Themen: Zweifel an der politisch-moralischen Zuverlässigkeit der Grenztruppen; Abriss von Wohngebäuden, Produktionsstätten sowie Umsiedlung von Bürgern entlang des Grenzstreifens zu West-Berlin; Aufstellung sogenannter Arbeitsbataillone für Kriegsdienstverweigerer. Die Sitzungsprotokolle des NVR der DDR von 1960 bis 1989 wurden in einem gemeinsamen Projekt des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, des Bundesarchivs und des Instituts für Zeitgeschichte, gefördert durch die Bundesstiftung Aufarbeitung, ins Internet eingestellt und sind dort für jedermann abrufbar (www.nationaler-verteidigungsrat.de). Den umfangreichsten Teil des im Bundesarchiv-Militärarchiv verwahrten Archivguts machen inzwischen Unterlagen verschiedener Art aus (Aktenbände, Anlagekarten, Konstruktionszeichnungen, Fotos, Datenträger, Vorschriften), die vom Bundesministerium der Verteidigung und von Heer, Luftwaffe, Marine, der Streitkräftebasis, von den Wehrverwaltungen, aus dem Rüstungsbereich oder seitens der Rechtspflege (z.B. Truppendienstgerichte) abgegeben werden. Jedes Jahr kommen etwa vier Aktenkilometer neu hinzu. Das Archivgut zur Bundeswehrgeschichte ist jung, und vielfach unterliegen die Unterlagen der Geheimhaltung. Dies schränkt die Benutzung des Archivguts im Vergleich zu anderen Überlieferungen noch stark ein. Zu Fragen der Strategie, Organisation, der Führung und Ausbildung
Archivbenutzung
Das im Bundesarchiv-Militärarchiv lagernde Archivgut kann von jedermann genutzt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Unterlagen keiner Geheimhaltung mehr unterliegen (gilt nur für Bundeswehrakten), älter als 30 Jahre sind und keine personenbezogenen Daten enthalten (z.B. Gerichts- oder Personalakten). In diesen Fällen bedarf die Benutzung der gesonderten rechtlichen Prüfung der Zugangs-, d.h. Benutzungsmöglichkeiten. Auf der Homepage des Bundesarchivs können sich Interessierte mit den Möglichkeiten der Archivrecherche vertraut machen. Sogenannte Findbücher bieten wichtige Hintergrundinformationen zu den einzelnen Beständen und unterstützen die systematische Recherche. Auch sonst bietet die Homepage des Bundesarchivs in Form von Dokumenten des Monats oder Internet-Gallerien ein attraktives Onlineangebot zu einer breiten Palette militärgeschichtlicher Themen. Bundesarchiv-Militärarchiv Wiesentalstraße 10, 79115 Freiburg Tel.: 0761/47817-0 Fax: 0761/47817-900 E-Mail:
[email protected] Homepage: www.bundesarchiv.de
sowie der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unter den Bedingungen von Ost-West-Konfrontation und nuklearem Wettrüsten gibt das Archivgut Bedrückendes preis, wie die folgenden Beispiele zeigen: Unterrichtsmaterialien des »Atomlehroffiziers« an der Führungsakademie der Bundeswehr, die sich im Nachlass eines Lehrgangsteilnehmers erhalten haben, veranschaulichen, wie in den späten 1950er Jahren der Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen theoretisch geübt wurde. Der taktisch-operative Einsatz von Atomwaffen war damals ein fester Bestandteil von Operationsplänen, mit deren Hilfe man die konventionelle Überlegenheit der Angriffskräfte der Warschauer-Pakt-Armeen zu kompensieren versuchte. Die atomare Feuerunterstützung der Kampftruppe war bei Planungen und Übungen notgedrungen zu einer solchen Selbstver-
Übungsmaterial zum Atomlehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr, 5. bis 9. Mai 1958, Nachlass Freytag von Loringhoven (BArch, N 525/1, unpag.).
ständlichkeit geworden, dass im Falle die Kartensammlung des Militärareines Krieges unvorstellbare Verwüs- chivs. Tausende besonders großfortungen Deutschlands die sichere Folge martiger Lagekarten des Generalstagewesen wären. Eine in den Akten ent- bes des Heeres zum Kampfgeschehen haltene Richtlinie für den Atomwaf- an der Ostfront 1941–1945 hängen von feneinsatz vom damaligen Generalin- der Hallendecke. Wenige Meter entspekteur Ulrich de Maizière aus dem fernt werden nicht nur die Karten Jahre 1966 mahnte an: werke des Amtes für Geoinformationswesen der Bundeswehr, wie etwa »Bei dem Einsatz von Atomwaffen sind Truppenübungsplatzkarten, verwahrt. die Auswirkungen auf die eigene Bevöl- In den Kartenschränken lagern auch kerung und im Hinblick auf Erhaltung die zahlreichen Kartenwerke des milides eigenen Landes besonders zu beach- tärischen Geowesens der DDR. Deren ten […] Durch die richtige Wahl des Or- geodätische und topgrafische Arbeiten tes, der Art und Zeit des Einsatzes kann unterlagen bis 1990 einer strikten oft sowohl den militärischen Erforder- Geheimhaltung; viele Kartenwerke nissen als auch der gebotenen Rücksicht- existieren nur noch im BundesarchivMilitärarchiv. Dazu zählen beispielsnahme entsprochen werden.« (BArch, BH 2/160, S. 9; zit. nach: weise die Karten der GrenzsicheDie Bundeswehr 1955 bis 2005. Rück- rung (1:10 000) und der Aufklärung blenden, Einsichten, Perspektiven, (1:25 000), beides Spezialkarten der München 2007, S. 312). Grenztruppen der DDR. Beide Kartenwerke beziehen sich auf das TerDass das Dilemma militärischer Ver- ritorium des früheren West-Berlins. teidigungsplanung vor dem Hinter- Eingetragen sind darin sämtliche migrund des atomaren Wettrüstens dem litärisch relevanten Objekte wie öffentMilitär bewusst war, belegt schon eine liche Gebäude, Lager, Kraftwerke, mögAusarbeitung des Führungsstabes der liche Einschränkungen der PassierbarBundeswehr von Anfang 1959, worin keit von Geländeabschnitten und vorman die grundlegende Frage aufwarf, bereitete Sprengschächte an wichtiob im Falle eines Krieges die »Wie- gen Brücken. Dargestellt werden auch dereroberung eines ›Atomschlachtfel- die DDR-Grenzsicherungsanlagen. des‹ nach Verlust der Substanz unseDie vorgestellten Beispiele und weires Volkes« überhaupt noch sinnvoll teres Archivgut zu den unterschiedsei (BArch, BW 17/42, Bl. 49; zit. nach lichsten Themen der deutschen MiliBruno Thoß, NATO-Strategie und na- tärgeschichte können im Benutzersaal tionale Verteidigungsplanung, Mün- des Bundesarchiv-Militärarchivs einchen 2006, S. 727). gesehen werden. Am Ende des »Rundgangs« soll noch Andreas Kunz etwas Besonderes vorgestellt werden: 3/2008 Militärgeschichte Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert l r e h c S / g n u t i e Z e h c s t u e d d ü S
Mit der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth 1835 begann auch das Militär, sich für die neue Technik zu interessieren.
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Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert
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it Staunen notierte der preußische Kronprinz und spätere deutsche Kaiser Friedrich III. (1831–1888) Anfang August 1870 in sein Tagebuch, dass er nie geglaubt hatte, einmal mit einer so großen Streitmacht noch vor den Franzosen am Rhein zu sein. Tatsächlich war es den deutschen Eisenbahnen gelungen, in nur drei Wochen rund 460 000 Mann an den Rhein zu transportieren. So konnten die preußisch-deutschen Armeen schon am 4. August 1870 mit doppelter Übermacht ihre Offensive gegen Frankreich eröffnen. 18
Der militärische Nutzen der Eisenbahnen
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war mit dem raschen Ausbau der ersten vereinzelten Eisenbahnen zu einem ganz Deutschland verbindenden Streckennetz auch das Verständnis der Strategen für den militärischen Nutzen des neuen Transportmittels gewachsen. Schon 1842 hatte Preußen beschlossen, seine anfängliche Politik der ausschließlich privat finanzierten Eisenbahnen aufzugeben. Mit Zinsgarantien beteiligte sich Preußen am Auf-
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bau eines nationalen Eisenbahnnetzes, das im Kern aus fünf strategischen Bahnlinien bestehen sollte. Von nun an zogen die Militärs die Eisenbahnen vermehrt in ihre militärischen Planungen ein. Der erste Militärtransport auf der Eisenbahn fand im Oktober 1839 auf der neuen Berlin-Potsdamer Eisen bahn statt. Drei Jahre später wurden auf derselben Strecke die ersten Truppenversuche mit dem Transport von Artillerie und Kavallerie durchgeführt und im Frühjahr 1846 erfolgte die Beförderung eines Observationskorps in Brigadestärke an die oberschlesische
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Preußische Beamte der Berlin-Potsdamer Eisenbahn, ca. 1863.
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Grenze. Als im Frühjahr 1848 in Europa Eisenbahnen contra Festungen die Revolution ausbrach, war der strategische Nutzen der Eisenbahnen in Der Konflikt zwischen den Befürwormilitärischen Kreisen längst unbestrit- tern der neuen Eisenbahnen und den ten. Tatsächlich gelang es den Regierun- Vertretern der traditionellen, sich auf gen in Berlin und Wien, ihre politische die Festungen stützenden LandesverLage in den anschließenden Revolu- teidigung beschäftigte die preußische tionskämpfen mit Hilfe umfangreicher Armee bis in die 1850er Jahre. Anfangs Eisenbahntransporte mit oft mehr als behielten dabei die Vertreter des preu10 000 Soldaten zu stabilisieren. ßischen Ingenieur- und Pionierkorps Die bestandene militärische Bewäh- als Befürworter des Festungswesens rungsprobe der Eisenbahnen warf je- die Oberhand. Sie befürchteten vor allem doch die Frage auf, wie sie sich mit den eine Minderung des VerteidigungswerFestungen, neben dem Landheer der tes ihrer Festungen, sobald Eisenbahzweite Pfeiler der damaligen Kriegfüh- nen in deren Nähe geführt würden. rung, zu einem neuen System der LanAls in den 1830er Jahren die ersten desverteidigung verbinden ließen. Eisenbahnlinien im preußischen Rhein1836 vertrat der Publizist und Eisen- land projektiert wurden, galt für sie bahnpionier Friedrich List in einem wie bisher für die Chausseen, dass sie Aufsatz in der Darmstädter »Allgemei- Flüsse oder Landesgrenzen nur im nen Militärzeitung« die These, dass Schutze von Festungen passieren durfDeutschland durch ein Netz von Eisen- ten, um einem Angreifer keine ungesi bahnen in Zukunft zu einer einzigen cherte Umgehungsmöglichkeit zu biegroßen Festung werde, da nun Trup- ten. Keinesfalls, so hieß es im preupen mit beliebiger Schnelligkeit von ßischen »Rayonregulativ von 1828, einem Ende des Landes zum anderen dürften durch Dämme oder ähnliche befördert werden könnten. Auf keinen bauliche Veränderungen »unbestriFall mochten sich jedoch die preu- chene Räume« (Räume vor einer Fesßischen Offiziere der von List gezo- tung, die von den Festungsgeschützen genen Schlussfolgerung anschließen, nicht getroffen werden konnten) entdass durch die neuen Eisenbahnen stehen und damit dem Feind Möglich bald alle Festungen überflüssig sein keiten geboten werden, sich der Feswürden. tung in Deckung zu nähern.
Als die 1837 geplante Taunusbahn von Frankfurt nach Mainz auch den Bereich der dortigen Bundesfestung berühren sollte, einigten sich daher die zuständigen Offiziere der Bundesmilitärkommission schnell auf einen umfangreichen Forderungskatalog, den sie an die Eisenbahngesellschaft richteten. Vor allem müsse, so das Militär, die Bahn direkt in den Festungsbereich geführt werden: Einerseits habe der Festungskommandant damit im Kriegsfalle die Kontrolle über sämtliches Betriebsmaterial der Gesellschaft. Andererseits entstünde, sofern die Bahn über den Rhein geführt würde, kein ungesicherter Flussübergang. Aus der Sicht der Strategen war es wiederum wichtig, dass die neuen Eisenbahnen, ebenso wie bisher die Chausseen, möglichst viele Festungen miteinander verbanden. Erst so konnte ihrer Meinung nach ein preußisches Festungssystem entstehen, das den militärischen Wert der Festungswerke beträchtlich erhöhen würde. Eine preußische Denkschrift aus dem Jahre 1837 forderte daher auch, wichtige Orte, in denen Waffen und Kriegsbedürfnisse gelagert oder hergestellt wurden, sowohl untereinander als auch auf den kürzesten Wegen mit der Hauptstadt Berlin zu verbinden. Vermutlich war es der preußische Ingenieuroffizier und spätere General Friedrich From (1787–1857), der 1846 in einem Aufsatz im »Archiv für Offiziere des Königlich-Preußischen Artillerie- und Ingenieurkorps« forderte, dass an den Landesgrenzen Eisenbahnstrecken nur in Festungen enden und Eisenbahnüberquerungen wichtiger Flüsse nur in Festungen erfolgen sollten. Den Festungen wurde somit eine Sperrfunktion gegenüber Eisen bahnlinien zugewiesen. Ebenso wichtig war den Festungsspezialisten in der preußischen Armee, die Bahnhöfe im Vorgriff auf den Kriegsfall nach Möglichkeit nur in Festungen anzulegen. Dazu mussten wiederum die Festungen so angelegt oder erweitert werden, dass die Eisenbahnen in sie hinein oder in ihrem Schussbereich aus- und einmünden konnten. »Das Débouchée der Eisenbahnen«, also das Einführen der Bahntrasse in die Festung, sollte an der dem erwarteten feindlichen Angriff abgelegenen Seite der Festung erfolgen. Die Bahnstrecken sollten von der er-
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Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert
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Georg Friedrich List (1789–1846), Publizist und Eisenbahnpionier.
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warteten feindlichen Seite erst einen Bogen in angemessener Entfernung um die Festung machen, ehe sie dort einmündeten. Der langjährige Chef des preußischen Ingenieurkorps, General Ernst Ludwig von Aster (1778–1855), stand den neuen Eisenbahnen zeitlebens kritisch gegenüber. In einer Denkschrift aus dem Jahre 1844 forderte er, dass die Eisen bahnen nur bis zum dritten, äußeren Rayon an eine Festung herangeführt werden dürften, denn dort könnten sie durch die Festungsartillerie noch hinreichend »beherrscht« werden. Nur auf diese Weise ließen sich nach seiner Ansicht die zu hohen Kosten für die notwendigen Änderungen im Festungs bereich einsparen, die bei einer Führung der Bahn durch die Umwallung anfallen würden. Asters Lösung lag jedoch nicht im kommerziellen Interesse der Eisenbahngesellschaften, die ihren Kunden lange Wege zu Bahnhöfen außerhalb der Städte nicht zumuten wollten. Aber auch der preußische Kriegsminister Hermann von Boyen (1771–1848) mochte sich Asters Ansichten nicht anschließen und trat für eine besondere Prüfung in jedem einzelnen Fall ein. Magdeburg, Minden, Stettin, Koblenz
Schon 1840 war in der Festung Magde burg, einer der größten Festungen Preußens, die Einführung der Magde burg-Leipziger Bahn in die Stadt ohne wesentliche bauliche Veränderungen der Festungsanlagen gelungen. Eine 20
Hermann von Boyen (1771–1848), preußischer Kriegsminister.
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schlagpunkte in einem großen Eisen bahnnetz. Grundsätzlich bestand ein hohes militärisches Interesse daran, die Bahnhöfe wichtiger Linien innerhalb der Festungen anzulegen, um auch im drohenden Kriegsfall den Eisenbahn betrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. So entfiele nach Meinung der Generalstabsoffiziere auch die weitreichende Entscheidung zur rechtzeitigen Zerstörung des vor einer Festung angelegten Bahnhofes. Diese Maßnahme hätte schon lange vor dem Auftreten des ersten Feindes den Nachschub von Kriegsmaterial und Verpflegung erheblich beeinträchtigt und zudem unweigerlich zu Entschädigungsforderungen der zivilen Eisen bahngesellschaften geführt. Aus diesem Grunde forderte 1857 der Kommandeur der 3. Ingenieurinspektion, Generalmajor Friedrich Leopold Fischer (1798–1857), beim Bau der Eisenbahnstrecke von Köln nach Koblenz beiderseits des Rheins, den Bahnhof Koblenz innerhalb der westlichen Umwallung der bedeutendsten preußischen Festungsstadt anzulegen. Die Stadt musste sogar hinnehmen, dass eine Eisenbahn innerhalb der Wallanlage durch Wohngebiete zum Rhein führte. Dort stellte seit 1864 die heutige »Pfaffendorfer Brücke« als Eisenbahnbrücke im Schutz der Festung und ihrer Artillerie eine Verbindung zur strategisch wichtigen Lahntalstrecke und zur Festung Ehren breitstein am anderen Rheinufer her. Erst nachdem die Doppelfestung Ko blenz durch die neuen Grenzziehungen zu Frankreich ihre militärische Bedeutung verloren hatte, konnte 1879 mit einer neuen Eisenbahnbrücke bei Horchheim der Rhein endlich an einer verkehrstechnisch günstigeren Stelle überquert werden.
Musterlösung für das Problem von Eisenbahnen und Festungen war damit jedoch nicht gefunden worden. So wurde in Wesel am Rhein der Bahnhof der Oberhausen-Arnheimer Eisenbahn in den Rayonbereich der Festung gelegt. Im Falle der Festung Minden beschloss das Kriegsministerium eine besondere Befestigung des auf dem rechten Weserufer anzulegenden großen Bahnhofes. Man errichtete dazu bis 1852 drei selbstständige Forts, die durch eine Walllinie miteinander ver bunden wurden, wodurch ein geräumiger, befestigter Bahnhofsbereich entstand. Dieser diente zugleich als rechter Weserbrückenkopf der Hauptfestung. In Stettin wiederum sollte der Bahnhof unmittelbar vor den alten Befestigungen angelegt werden. Aufgrund eines längst als notwendig erkannten Erweiterungsbaus in den Jahren 1847 bis 1851 wurde er aber in die neue Befestigung einbezogen. Besondere Bedenken hatten die Militärs hier auch aus maritimer Sicht, da der Hafen von Swinemünde gänzlich unbefestigt und somit dem Zugriff jeder feindlichen Flotte ausgesetzt sei. Die Anlage der Die Berlin-Hamburger Bahn und strategisch wichtigen Ostbahn von die Ostbahn Stettin entlang der pommerschen Küste nach Danzig kam für die Armee auch Weit blickende Militärs hatten schon aus diesem Grunde nicht in Frage. früh die Ansicht vertreten, dass EisenEntgegen der vorwiegend »fortifika- bahnen durch ihre Möglichkeit der torischen« Sichtweise der Ingenieure schnellen Truppenkonzentration an legten die Offiziere des preußischen bedrohten Frontabschnitten Lücken im Generalstabes besonderen Wert auf eigenen Festungssystem schließen eine Erleichterung des Transportes von würden. Dies könne den Bau neuer Nachschub und Truppen mit der Eisen- Festungen überhaupt überflüssig ma bahn. In den Festungen sahen sie vor chen. So äußerte sich in einer Denkallem die zukünftigen geschützten Um- schrift der Berlin-Hamburger-Eisen-
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Strategisch wichtige Eisenbahnbrücke: Die Pfaffendorfer Brücke in Koblenz, Aufnahme zwischen 1890 und 1900.
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bahngesellschaft vom November 1842 Kommunikationen und Flanken zu be- rischen« Interessen durch. »Sämtliche der Major Helmuth von Moltke, da- drohen, und auf diese Weise Breslau Eisenbahnlinien müssen ununterbromals noch Vorstandsmitglied der Ge- und Posen am wirksamsten zu vertei- chen, Schiene in Schiene, miteinander sellschaft, über den militärischen Nut- digen«. Eisenbahn und Festung sollten zusammen hängen«, lautete schon im zen einer Bahnlinie entlang des Elb- sich hier also in der Vorstellung der Ar- Jahre 1846 die Forderung eines unbeufers. Auf dem rechten Ufer der Elbe meeführung ergänzen und eine offen- kannten Ingenieuroffiziers im »Archiv waren von Magdeburg flussabwärts sive Kriegführung, zumindest auf ope- für das Königlich-Preußische Artillekeine Festungen vorhanden. Eine Eisen- rativer Ebene, ermöglichen. rie- und Ingenieurkorps«. Die Festungs bahnstrecke von Berlin nach Hamburg anlagen dürften diesem Prinzip nirauf dem östlichen Ufer ermöglichte es, gends entgegenstehen. Auch müsse so Moltke, zu jedem bedrohten Punkt Vorfahrt für die Eisenbahn der Verlauf der Eisenbahnenlinien zuin kurzer Zeit Truppen zu dirigieren, künftig die Lage neuer Festungen beohne dass sie sich jedoch dem Fluss nä- Mit der stetigen Zunahme der Eisen- stimmen. Veraltete Plätze, deren Lage herten und dem feindlichen Feuer vom bahnkapazitäten und der wachsenden diese Bedingung nicht mehr erfüllten, jenseitigen Ufer aussetzten. Fähigkeit der Eisenbahnen, immer grö- sollten geschleift oder wenigstens nicht Dass im preußischen Kriegsministe- ßere Truppenmassen in kürzester Zeit mehr mit besonderen Besatzungen und rium bald auch darüber nachgedacht an bedrohte Frontabschnitte zu trans- Verteidigungsmitteln versehen werden. wurde, Eisenbahnen und Festungen portieren, sank die bisherige BedeuDamit wird bereits ein beachtlicher gemeinsam für eine offensive Krieg- tung der Festungen innerhalb des Sinneswandel in der Armeeführung führung zu nutzen, zeigte sich spätes- preußischen Verteidigungssystems. deutlich, der kaum mehr als anderthalb tens bei den ministeriellen Beratungen Deren Aufgabe hatte vor allem darin Dekaden beansprucht hatte. Nunmehr über den Verlauf der Ostbahngleise bestanden, den Vormarsch des Feindes sah der Generalstab in der Fähigkeit von Berlin nach Danzig 1844/45. Hier- so lange zu hemmen oder aufzuhalten, der Eisenbahnen, schnell bedeutende bei hatte sich Kriegsminister von Boyen bis aus dem Landesinneren weitere Truppenmassen an einem bedrohten im Staatsministerium mit Erfolg dafür Kräfte zur Verstärkung herangeführt Ort zu konzentrieren, einen vollwereingesetzt, die Eisenbahn auf einer wurden. Auch in ihrer logistischen tigen Ersatz für die traditionelle Rolle mittleren Linie über Küstrin und, ge- Rolle als Lagerplatz verloren die Fes- der Festungen. Die ursprüngliche Wertschützt von Warthe und Netze, in die tungen an Bedeutung, da Güter aller hierarchie von Festungen und EisenNähe der Weichselfestung Thorn zu Art nun ebenfalls schnell aus dem Lan- bahnen hatte sich praktisch umgekehrt, führen. Thorn besitze als Waffenplatz desinnern herbei befördert werden so wie es frühe Eisenbahnprotagonisden Vorteil einer offensiven Lage ge- konnten. Dagegen wuchs die Bedeu- ten wie Friedrich List prophezeit hatgen die vermuteten wichtigen russi- tung der Festungen als Umschlagplatz ten. Nicht vorausgesehen hatten diese schen Operationslinien Richtung Po- für Truppen sowie als Bergungsort für jedoch, dass die Eisenbahn viel eher sen und Breslau. Eine Eisenbahn könne das Betriebsmaterial der Eisenbahnen, eine offensivere, beweglichere KriegPreußen in den Stand versetzen, schnell das ansonsten im Kriegsfall in die führung begünstigen und somit den Truppen und Kriegsmaterial heranzu- Hände des Feindes zu fallen drohte. Charakter der Kriege gänzlich veränführen, und zugleich die Möglichkeit Das strategische Ziel möglichst durch- dern sollte. bieten, den feindlichen Truppen »von gehender Eisenbahnlinien setzte sich dort aus auf den Hals zu fallen, ihre schließlich gegen die »fortifikato Klaus-Jürgen Bremm Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Service
Das historische Stichwort
Die »Ägyptische Expedition« 1798 bis 1801
»Soldaten! Ihr seid in diese Gegend gezogen, um sie der Barbarei zu entreißen, um die Zivilisation in den Orient zu tragen und um diesen schönen Teil der Erde dem Joch Englands zu entziehen. Wir werden kämpfen. Denkt daran, dass Euch von der Spitze dieser Denkmäler vierzig Jahrhunderte betrachten.«
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icht nur wegen dieser Ansprache bleibt die Schlacht Napoleon Bonapartes bei den Pyramiden am 21. Juli 1798, ja der französische Orientfeldzug als Ganzes legendär. Analog zu den Kampagnen des revolutionären Frankreich am Rhein und in Italien ab 1792 sollten auch in Ägypten die alten Autoritäten gestürzt werden, um das Land von der »Despotie«, der unumschränkten Herrschaft, zu »befreien«. Seit 1517 gehörte Ägypten zum Osmanischen Reich, wurde aber de facto von der Militärkaste der Mamluken beherrscht. Die beiden Mächtigsten unter ihnen, Murad Bey und Ibrahim Bey, besaßen ihr Machtzentrum in Kairo bzw. Gizeh. Berichte über interne Rivalitäten im Land hatten den frisch 22
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Schlacht bei Abukir zwischen den Osmanen unter Mustafa Pascha und den Franzosen unter Napoleon Bonaparte am 25. Juli 1799. Gemälde (Ausschnitt) von LouisFrançois Lejeune (1775–1848), Öl auf Leinwand. Inv.-Nr. MV 6856, Versailles, Musee du Château.
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Napoleon im Orient zum französischen Außenminister avancierten Charles de Talleyrand im Juli 1797 zur Idee einer Ägyptenexpedition motiviert; begeistert griff der Befehlshaber der Italienarmee, Napoleon Bonaparte, die Idee auf. Dieser hatte die französische Direktorialregierung, die letzte Regierungsform der Französischen Revolution, durch seine Bajonette im Innern gestärkt und versorgte sie reich mit italienischer Beute. Mit seinem ohne Regierungsvollmacht geschlossenen Vertrag mit Österreich hatte der junge Revolutionsgeneral nicht nur den Frieden gebracht, sondern Norditalien unterworfen. In der Folge suchte der ehrgeizige Korse nach einer Gelegenheit, um der politisch unklaren Situation in Paris aus dem Wege zu gehen. Die unpopuläre Direktorialregierung stimmte den Plänen für das
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ägyptische Unternehmen zu; nicht zuletzt, um den charismatischen Aufsteiger einstweilen von Paris fernzuhalten. Ägypten war in Mitteleuropa mythisch verklärt, doch kaum bekannt. So erhielt der Feldzug einen kulturellen Nebenauftrag. Napoleon rief persönlich 167 Gelehrte aller Disziplinen zusammen, um die Expedition zu begleiten: Mathematiker und Astronomen, Geologen und Geografen, Pulver- und Salpeterexperten (also »Chemiker«), Architekten, Ingenieure, Künstler, Zeichner, Zoologen, Botaniker, Orientalisten und andere Philologen. Dazu kamen Übersetzer, Drucker mit allen verfügbaren Zeichensätzen und zahlreiche Hilfskräfte. Das »englische Joch«, das es angeblich abzuschütteln galt, war eine andere, geopolitische Motivation für den gewagten Feldzug: Zwi-
schenzeitlich zum Oberbefehlshaber senden Infanterie-Karrees. An deren brachten ca. 4 000 osmanischen Kriegsder England-Armee ernannt, verwarf Flanken befanden sich die Geschütze, gefangenen ermorden zu lassen. Ende Napoleon die Pläne zur direkten Inva- in deren Mitte Tragtiere und mitmar- März begann die Belagerung des osmasion der britischen Inseln bald als Illu- schierende Wissenschaftler (und so rie- nischen Verwaltungssitzes Akko nördsion. Demgegenüber versprach die In- fen die Soldaten »Esel in die Mitte!«). lich von Haifa. Sie blieb infolge der brivasion Ägyptens die Möglichkeit, die Die wiederholten ungestümen Reiter- tischen Unterstützung der Belagerten französische Herrschaft Richtung In- attacken der Mamluken brachen sich erfolglos. Währenddessen wurde ein dien auszudehnen, wo im Süden Tipu an den langsam vorrückenden Karrees. zahlenmäßig weit überlegenes osmaniSultan, der Herrscher von Mysore, ge- Danach wurde Embaba im Sturm ge- sches Entsatzheer am 16. April am Berg gen britische Truppen kämpfte. nommen, die dort eingegrabenen Tabor in Galiläa zerschlagen. Trotzdem In kurzer Zeit wurde nun im süd- Ägypter wichen. Ein Entsatzversuch musste der Feldzug Ende Juni erfolgfranzösischen Toulon und in Häfen Ita- der ägyptischen Truppen vom anderen los abgebrochen werden. Zurück in liens eine Flotte von rund 300 Schiffen Ufer blieb bald im Strom der Flüchten- Ägypten, siegte Napoleon am 25. Juli zusammengezogen. An die 35 000 Mann den sowie im aufkommenden stür- bei Abukir gegen angelandete britischund etwa 1000 heimlich von ihren Män- mischen Gegenwind stecken. Nach gut osmanische Truppen. Ende August 1799 nern und Freunden an Bord geschmug- zwei Stunden war die Schlacht bei den verließ Bonaparte seine Armee, ohne gelte Frauen brachen am 19. Mai 1798 Pyramiden entschieden. Von nun an seinen Nachfolger im Kommando, Geauf. Unterwegs nahm Bonaparte am beherrschte Napoleon Unterägypten. neral Jean-Baptiste Kléber, vorher auch 11. Juni 1798 Malta fast kampflos in BeNur eine Woche nach dem Triumph nur gesprochen zu haben. Ebenso sitz. Am 30. Juni landeten die Franzo- wurde die französische Armee vom fehlte eine entsprechende Regierungssen in Alexandria. Just am Tag zuvor Mutterland abgeschnitten: In der Nacht weisung. Im Mutterland war unterdeswar das Geschwader des britischen auf den 2. August vernichtete das Ge- sen das Verlangen nach einem starken Admirals Horatio Nelson unverrichte- schwader Nelsons die bei Abukir vor Mann gewachsen. Die Armee blieb ter Dinge von dort abgezogen. Bei sei- Anker liegende französische Flotte. In- noch zwei Jahre im Land. Kléber, der ner Verfolgung der französischen dessen wurde General Louis-Charles- gegen die Osmanen eine weitere Schlacht Flotte hatte Nelson diese mehrfach ver- Antoine Desaix nach Oberägypten aus- für sich entschied, fiel am 14. Juni 1800 passt und sie dann – ohne es zu wissen gesandt, der sich dort als der »gerechte einem Attentat zum Opfer; am selben – überholt. Sultan« Vertrauen erwarb (genauso Tag errang Napoleon seinen Triumph Die Hauptkräfte der französischen wie einen Harem, über den er stolz in der Schlacht von Marengo in Italien. Truppen setzten sich unterdessen nach einer Brieffreundin berichtete). Ende Menou führte nun die Franzosen in Kairo in Marsch. Nach ersten Gefech- Oktober 1798 erschütterte ein Aufstand Ägypten, wurde von britischen Trupten schwand die Kampfkraft infolge Kairo, der blutig niedergeschlagen pen wiederholt geschlagen und kapituvon Hitze, Wassermangel, Augenlei- wurde. Die französische Herrschaft lierte gegen freien Abzug. Am 31. Auden, Durchfall und strapaziöser Mär- konnte anschließend wieder etabliert gust 1801 verließen die letzten Franzosche durch Wüste und Schwemmland. werden. sen Ägypten. Ein Teil der Armee, die meisten WisInfolge der Besatzung kam es zu funWissenschaftlich und propagandisenschaftler und das Gepäck fuhren damentalen kulturellen Missverständ- stisch blieb der Orientfeldzug ein groparallel dazu in Booten nilaufwärts. nissen, u.a. wegen des Alkoholkonsums ßer Erfolg. Die Mission, die »ZivilisaFrühmorgens am 21. Juli brach Napo- der ausländischen Soldaten und des tion« nach Ägypten zu bringen, verlief leons Armee zur letzten Etappe nach Auftretens der französischen Frauen – letztlich in die Gegenrichtung: In Kairo auf. Gegen zwei Uhr nachmit- und dem der ägyptischen Freundinnen Europa folgte eine wahre Ägyptomatags erreichten die in fünf Divisionen der Franzosen. Die Übernahme ägyp- nie, und von den hier erschlossenen eingeteilten rund 25 000 französischen tischer und muslimischer kultureller Kunstschätzen, Ausgrabungen und naSoldaten den Ort Embaba nördlich von Werte durch die Franzosen blieb die turwissenschaftlichen Erkenntnissen Gizeh. Zehn Kilometer südlich waren Ausnahme. Gleichwohl heiratete der zehrte die Wissenschaft noch lange. die Pyramiden zu sehen; im Ort selbst Stadtkommandant von Alexandria, Auch ein militärisches Erbe des Ägypund in der Ebene westlich davon sowie General Jacques-François Menou, eine tenfeldzugs blieb. Bis zum Ende des am anderen Nilufer stand eine dop- Ägypterin und trat zum Islam über. französischen Empire blieben Mampelte Übermacht: etwa 20 000 JanitschaAls Misserfolg erwies sich Napole- luken im Dienst der kaiserlichen Garde, ren (und andere Infanterie), 40 Ge- ons Expedition nach »Syrien« auf dem darunter auch der berühmte Leibwächschütze, rund 12 000 mamlukische und Gebiet des heutigen Israel in der ersten ter Napoleons, Rustan. Trotz seines Deägyptische Reiter, eine kaum über- Jahreshälfte 1799. Das Ziel des ehrgei- sasters in Palästina erwarb sich Naposchaubare Zahl an bewaffneten Fuß- zigen Generals war es, entweder über leon daheim den »Mythos des Retters«. knechten und Milizen sowie 8 000 Be- Konstantinopel den Heimweg nach Seit seinem Putsch vom 9. November duinen. Sonst, in Europa, lag die Stärke Frankreich zu erkämpfen oder nach In- 1799 war er als Erster Konsul nun fakder französischen Revolutionstruppen dien zu ziehen. Entlang der Küste zog tisch Alleinherrscher der Französischen im vorwärtsstürmenden Angriff. Doch das französische Heer nach Jaffa, wo Republik und wurde vier Jahre später hier siegten geschlossene Ordnung Napoleon infolge der Versorgungs- Kaiser aller Franzosen. und Feuerkraft. Die Franzosen formier- schwierigkeiten den Entschluss traf, Martin Rink ten sich zu rund 2 000 Mann umfas- die beim Sturm auf die Stadt eingeMilitärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Medien online/digital
Krieg von 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Besondere Aufmerksamkeit jedoch verdient die Wilhelmshöher KriegskarDigitales Archiv Marburg tensammlung, die dank des Digitalen Archivs Marburg nun einem breiten Das »Digitale Archiv Marburg« ist ein Publikum zugänglich gemacht worden Projekt der Arbeitsstelle Archivpäda- ist. Bei diesem Bestand handelt es sich gogik des Hessischen Staatsarchivs um 44 großformatige Bände mit 3000 Marburg. 59 virtuelle Ausstellungen Plänen, Karten und sonstigen Darstelaus sieben Epochen mit insgesamt ca. lungen. Die Sammlung war um 1700 7000 online abrufbaren Dokumenten von dem Landgrafen Karl von Hessenwerden darin präsentiert. Jeder Epoche Kassel begonnen worden und befand ist ein Einführungstext vorangestellt, sich ab 1790 im Schloss Wilhelmshöhe der dem Nutzer den Quellenzugang bei Kassel. Bis in die Mitte des 19. Jahrerleichtert. hunderts war der Bestand noch um Der Schwerpunkt liegt auf Bild- und einzelne Stücke ergänzt worden, bevor Schriftquellen zur hessischen Landes- sie 1878 in das Staatsarchiv Marburg und Regionalgeschichte. Darüber hi- gelangte. naus können Arbeitsgruppen in der Die Wilhelmshöher Kriegskarten doRubrik »Werkstattausstellungen« ihre kumentieren Kriegsschauplätze und Kriegsereignisse in Europa und Ame 5 1 rika vom frühen 16. Jahrhundert bis K H W zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei den ) R Dokumenten handelt es sich um Hand M A T zeichnungen, Kupferstiche, Holz S ( g r schnitte und Lithographien. Neben u b r a den Land- und Schlachtkarten finden M v sich Geschützzeichnungen, Manöver i h c r a karten, Lagepläne, Uniformblätter sowie s t a a Truppengliederungen und Schlachtord t S . s s nungen. e H Die Kriegskartensammlung bietet u.a. Karten zum Ungarisch-Türkischen Krieg 1683–1699 (Bd. 6), Nordischen Krieg 1700–1719 (Bd. 10), Spanischen Erbfolgekrieg 1701–1714 (Bd. 11–16) zum Siebenjährigen Krieg 1756– http://www.digam.net/ und 1763 (Bd. 24–26). Karten zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775– eigenen Ausstellungen präsentieren. 1783 (Bd. 28–29) und zu den KoalitiZusätzlich finden sich auf den Seiten onskriegen 1792–1815 (Bd. 31–33) werdes Digitalen Archivs Marburg Infor- den ebenso präsentiert wie Kartenwerke mationen zum archivpädagogischen zur Festung Wilhelmstein im SteinBildungsangebot sowie Links zu ande- huder Meer (Bd. 37) und zu verschieren Einrichtungen und Archivportalen. denen Manövern (Bd. 38–42, 44). Ton- und Filmquellen werden (noch) Die einzelnen Dokumente sind als nicht angeboten. JPEG-Grafik oder PDF-Datei aufrufbar Von militärhistorischem Interesse sind und mit editorischen Bemerkungen sou.a. die Ausstellungen zum 20. Juli wie knappen Angaben zum Inhalt ver1944 im Bereich »Weimar & National- sehen. Mit Hilfe der Suchfunktion kann sozialismus«. Eine davon ist dem Gene- daher auch in den 44 virtuellen Räural der Nachrichtentruppe und Mit- men der Kriegskartensammlung nach glied des Widerstandes Erich Fellgiebel beliebigen Begriffen recherchiert wergewidmet, der am 4. September 1944 in den. Berlin-Plötzensee ermordet wurde. In Die Wilhelmshöher Kriegskarten der Rubrik »Kaiserreich & 1. Welt- sind ein militärhistorischer Quellenkrieg« finden sich u.a. Feldpostbriefe schatz, der nun online entdeckt wervon Friedrich Ludwig aus Niederkleen den kann. mn aus dem Preußisch-Österreichischen 24
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Tage des Ruhms (frz. Titel: Indigènes). Regie: Rachid Bouchareb, 119 Minuten, Belgien/Frankreich/Marokko 2006. ISBN 4048317357512; 14,99 Euro
Der Spielfilm »Tage des Ruhms« wäre dem hiesigen Publikum besser bekannt, wenn seiner Oskar-Nominierung von 2007 auch die Trophäe selbst gefolgt wäre. So kam die deutsche Produktion »Das Leben der Anderen« mit dem überragenden Ulrich Mühe zum Zuge. Hier wie dort geht es um die Verarbeitung eines heiklen historischen Erbes. »Indigènes«: »Einheimische«, so lautet der 2006 von Regisseur Rachid Bouchareb unter dem Originaltitel gedrehte Film aus französisch-belgischmarokkanisch-algerischer Produktion. Nordafrikanische Soldaten hatten zwischen 1943 und 1945 erheblichen Anteil an der Befreiung Frankreichs. Bereits der Titel ist provokant, denn genau wie im Deutschen der Begriff »Eingeborene« spiegelt auch die Bezeichnung »Indigènes« europäische Vorurteile wider. »Herr Hauptmann, nennen Sie sie nicht Einheimische!«, sagt der Nordafrika-Franzose Sergeant Martinez in einer Schlüsselszene des
Films, nachdem die ungleichen Verpflegungsrationen fast zur Meuterei geführt hätten. Der Dialog geht weiter und zeigt das Problem der französischen Kolonialherrschaft in verdichteter Form: »Muselmanen!« – »So auch nicht!« – »Wie wollen Sie, dass wir sie nennen?« – »Männer, Herr Hauptmann, (leise:) Freunde«. Freilich entpuppt sich auch Martinez (Bernard Blancan) als Vertreter der alten Ordnung. Und dieser sind die vier nordafrikanisch-muslimischen Protagonisten ausgesetzt, zwischen Anpassung und Konflikt: Saïd (Jamel Deb bouze) lehnt sich eng an seinen Zugführer an, bis zur bitteren Enttäuschung; Messaoud (Roschdy Zem) verliebt sich in eine Französin, doch Liebesbriefe werden Opfer der Zensur; Yassir (Samy Naceri) versucht sich in kriegsnahen Gelegenheitsgeschäften. Die eigentliche Hauptperson Abdelkader (Sami Bouajila) versucht den sozialen Aufstieg über den Weg von Bildung und Militärkarriere. Als düpierter Korporal überlebt er als einziger seiner Kameraden den Krieg. Die »Indigènes« kämpfen zunächst in Italien und befreien 1944 in Frankreich ein »Mutterland«, das sie nicht kennen. Ihr Kampf in den blutigen Schlachten um den italienischen Monte Cassino und in den französischen Vogesen findet keine Entsprechung in militärischer Gleichbehandlung, geschweige denn werden den »Indigènes« die gleichen Bürgerrechte wie den Franzosen zugestanden. 1959 schließlich setzte der französische Staat die Rentenzahlungen für seine nordafrikanischen Kämpfer aus. So ist der Film auch ein politischer Appell, der zu anhaltenden Diskussionen in Frankreich – und mittlerweile auch zur Rentenzahlung – geführt hat. Der Film erzählt die Geschichte der muslimischen nordafrikanischen Soldaten Frankreichs aus ihrer Perspektive. Das führt aber auch dazu, dass andere heikle Aspekte der Geschichte nur leise angedeutet bleiben: So fielen in Italien Tausende von Frauen der Gewalt der »Marokkaner« zum Opfer. (Hiervon erzählte 1960 der italienische Film »La Ciociara«/»Und dennoch lebten sie«, der größte kommerzielle Erfolg des italienischen Weltstars Sofia Loren.) Der handwerklich gut gemachte Film Boucharebs ist dennoch
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sehenswert: Das liegt nicht zuletzt an den eindrucksvollen Darstellern, bereichert um die Musik von Arman Amar und Cheb Khaled (weltweit bekannt durch »Aïcha«). Der Film zeigt dem europäischen Publikum einen Teil seiner Geschichte – aus der Sicht der »Anderen«. Die nordafrikanischen »Einheimischen« erhalten hier ihr eigenes Gesicht. Martin Rink
Zwischen Oktober 1940 und Mai 1945 hielt Thomas Mann insgesamt 58 meist kurze Reden im »Deutschsprachigen Dienst« der BBC (British Broadcasting Corporation) im Rahmen seiner monatlich ausgestrahlten Sendung »Deutsche Hörer!«. Mit emotional geprägten und nachhaltigen Worten rief Mann seine Radiohörer im nationalsozialistischen Deutschland zum Widerstand gegen die politische Führung auf. Er unterschied dabei zwischen der ver brecherischen politischen Elite und der Masse der deutschen Bevölkerung, die er für Demokratie und Menschlichkeit zurückgewinnen wollte. Schon 1941 warnte Mann vor systematischer Ju-
denverfolgung, Kriegsverbrechen und Vergasung. Durch die Reden wurde der Literaturnobelpreisträger von 1929 zu einem der prominentesten Gegner des »Dritten Reiches«. Das Abhören solcher »Feindsendungen« war unter Hitler strengstens verboten und wurde mit aller Härte bestraft. Für die Briten waren Thomas Manns Reden Teil ihrer allgemeinen Demoralisierungstaktik gegenüber dem »Dritten Reich«, somit also auch Teil ihrer Anti-Nazi-Propaganda. Es ist Oliver Boeck, Redakteur des Bayerischen Rundfunks, zu verdanken, dass die berühmten BBC-Reden Thomas Manns nun wieder in einem neuen Zusammenhang zur Verfügung stehen. Elf ausgesuchten Ansprachen Thomas Manns werden auf der im hörverlag erschienenen CD kurze Ausschnitte aus Reden von Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Gauleiter Arthur Karl Greiser und anderen Größen des NS-Regimes gegenübergestellt. Durch diese Zusammenstellung wird auch deutlich, dass Propaganda auf beiden Seiten der Front ein ge bräuchliches Mittel war. tb Thomas Mann, Deutsche Hörer! BBC-Reden 1941 bis 1945 (CD). Hrsg. von Oliver Boeck, Der Hörverlag, 73 Minuten, München 2004. ISBN 3899403983; 14,95 EUR
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Lesetipp
Lettow-Vorbeck
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er »Löwe von Afrika« wurde er genannt. Bereits zu Lebzeiten war Paul von Lettow-Vorbeck Legende, Mythos und, für nicht wenige, soldatisches Vorbild. Im Ersten Weltkrieg versuchte er als Kommandeur der kaiserlichen Schutztruppe die Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Teil Tansanias) gegen britische Angriffe zu verteidigen. Seine Truppen bestanden vor allem aus einheimischen Söldnern, den sogenannten Askari. Deutsche bildeten das Offizierkorps. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit hielt die Schutztruppe dem Gegner bis Kriegsende stand. Lettow-Vorbeck ergab sich erst knapp zwei Wochen nach dem Waffenstillstand in Europa im November 1918.
Teilnehmer von Demonstrationen zusammenschießen. Dafür wurde er vor dem Reichsgericht des Hochverrats angeklagt, aber kurze Zeit später per Gesetz amnestiert. Schulte-Varendorff zeichnet auch das weitere politische Wirken des Generals nach: »als Kolonialrevisionist« vor und nach 1933 sowie als »Ewiggestriger« in der Bundesrepublik bis zu seinem Tod 1964.
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Der General tat nach dem Krieg alles, um die Legendenbildung um seine Person zu fördern. Nicht zuletzt seine Bücher (am bekanntesten »Heia Safari!«, 1920) prägten und prägen bis heute das Bild von Lettow-Vorbeck. Uwe Schulte-Varendorff durchleuchtet das Leben des Generals und spart dabei bewusst die weniger strahlenden Seiten nicht aus. Insbesondere LettowVorbecks Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 wird bisweilen gern übersehen: Als Kommandeur in Schwerin ließ er die Landesregierung von Mecklenburg-Schwerin verhaften und 26
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Deserteure
Eckard Michels, »Der Held von Deutsch-Ostafrika«. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn 2008. ISBN 978-3-506-76370-9; 360 S., 39,90 Euro
Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck. Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006 (= Schlaglichter der Kolonialgeschichte, 5). ISBN 978-3-86153-412-6; 224 S., 24,90 Euro
tobte laut Michels kein »ritterlicher Kampf«, sondern ein »rücksichtsloser Kleinkrieg« mit katastrophalen Folgen für die dortige Bevölkerung. Michels geht auch mit den Heldenlegenden der Zwischen- und Nachkriegszeit ins Gericht und hinterfragt, wie der Mythos des »Löwen von Afrika« entstehen konnte.
ckard Michels blickt in seiner 2008 erschienenen preisgekrönten umfangreichen Arbeit ebenfalls kritisch hinter die Kulissen der Legende. Er fragt nach den Denk- und Handlungsmustern Lettow-Vorbecks und sieht in ihm einen »typischen Repräsentanten adeliger preußischer Militärdynastien«. Trotz Einsätzen in den Kolonialkriegen in China, in Deutsch-Südwestafrika und als Kommandeur in Deutsch-Ostafrika blieb sein Denken stets ganz mitteleuropäisch geprägt. Michels beleuchtet ähnlich wie SchulteVarendorff sehr kritisch die gegen die Republik gerichtete Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920. Der Autor lässt Lettow-Vorbecks spätere Rechtfertigung, er habe nur Befehle befolgt, nicht gelten. Sein Schwerpunkt liegt aber auf dem Kriegsgeschehen in Ostafrika 1914 bis 1918. Er zeichnet eine quellengestützte wissenschaftliche Geschichte des Krieges in Ostafrika. Dort
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ie deutsche Wehrmacht umfasste im Zweiten Weltkrieg insgesamt etwa 18,2 Millionen Soldaten, die entweder eingezogen wurden oder sich freiwillig gemeldet hatten. Die Zahl derer, die sich zwischen 1939 und 1945 nach damals geltender Rechtsauffassung »unerlaubt« von der Truppe entfernten, ist nicht präzise zu ermitteln. Wissenschaftliche Schätzungen gehen von bis zu 300 000 fahnenflüchtigen Wehrmachtsoldaten aus. Viele von denjenigen, die nach ihrer Desertion wieder aufgegriffen wurden, erwartete der Tod: Über 15 000 ließ die Wehrmachtjustiz im Verlauf des Krieges hinrichten. Andere überlebten den Krieg in der Haft. Einigen Deserteuren gelang es, sich nach ihrer Fahnenflucht dauerhaft dem Kriegsdienst in der Wehrmacht zu entziehen, indem sie in den Untergrund gingen oder ins neutrale Ausland flüchteten.
Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008 (= Krieg in der Geschichte, 42). ISBN 978-3-506-76457-7; 426 S., 39,90 Euro
Sechs in die Schweiz geflüchtete des Zweiten Weltkriegs. Zudem beein- Krieg gegen die Zivilbevölkerung Männer stellt Magnus Koch in seinem trächtigt der Schleier des Verdrängens Buch in einzelnen Fallstudien vor. Ihre während des Ost-West-Konflikts bis ie Ausstellung »Vernichtungskrieg. Lebenswege und Beweggründe für die heute unser Wissen über die damaVerbrechen der Wehrmacht 1941 Desertion zeichnet der Autor vorwie- ligen Ereignisse. bis 1944« machte auch der breiten Öfgend anhand von schweizerischen und Der Autor nimmt den Leser kennt- fentlichkeit klar, dass im Zweiten Weltdeutschen Quellenfunden wie Verneh- nisreich und spannend formuliert in krieg »Partisanenbekämpfung« unmungsprotokollen und Selbstzeugnis- jene Steppen, Wälder und Sumpfge- trennbar mit der Tötung von Zivilisten sen nach. Die heute gängigen Vorstel- biete der Sowjetunion mit, in denen verbunden war. lungen von Deserteuren als per se re- nicht nur die Hauptkampflinien der Dem Wiener Fotohistoriker Anton gimekritischen Kriegsgegnern werden Holzer gelingt der Nachweis, dass dies dabei von Koch widerlegt. Kochs Unkein ausgesprochenes Phänomen des tersuchung zeigt zum einen die unterZweiten Weltkrieges gewesen ist. Der schiedlichen Motive auf, welche die Kampfgegenvermeintlicheodertatsächsechs Soldaten zur Desertion veranliche Spione, Verräter, Saboteure oder lasste, zum andern lässt seine Analyse Aufwiegler wurde bereits im Ersten im Umkehrschluss aber auch AussaWeltkrieg brutal und systematisch gegen darüber zu, was die Wehrmacht gen die Zivilbevölkerung des Hinterlanzusammenhielt. Koch richtet seinen des geführt. Zehntausende fielen ihm Blick des Weiteren auf die kontrovers zum Opfer. Holzer führt dazu überwiegeführte Nachkriegsdebatte in der gend österreichisch-ungarische KriegsBundesrepublik Deutschland, die auch schauplätze an, die in Deutschland für die Selbstsichten der Deserteure stark die Jahre 1914–1918 eher vergessen sind: beeinflusste. Galizien (Ostfront) und Serbien (Balkan). In rechtlicher Hinsicht ist der TheAusgangspunkt von Holzers Überlemenkomplex in der Bundesrepublik gungen sind beklemmende Fotos von Deutschland inzwischen geklärt: Im Hinrichtungen, die sich mehr oder weMai 1999 beschloss der Bundestag ein niger öffentlich abspielten. Ein Teil der Gesetz zur Rehabilitierung der WehrFotos wurde bereits während des Ersmacht-Deserteure und eine symboten Weltkrieges veröffentlicht. Holzer lische Entschädigung der Überlebenstellt dabei Grundsatzfragen zum öfden und ihrer Angehörigen. In Österfentlichen Umgang mit Kriegsfotos, reich warten die ehemaligen Fahnen- Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutmit der Gewalt gegen Zivilsten sowie sche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung flüchtigen der Wehrmacht dagegen bis zur Pose der Henker. Er verbindet diese in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008 heute auf ihre Rehabilitierung. Fotogeschichte gekonnt mit litera(=Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 71). mp rischen Zeugnissen bekannter Autoren ISBN 978-3-486-58065-5; 399 S., 39,80 Euro zu diesem Krieg gegen die ZivilbevölHerrschaft der Wehrmacht kerung: Karl Kraus, Egon Erwin Kisch kriegführenden Parteien verliefen, son- und Joseph Roth. hp er Beginn des Zweiten Weltkriegs dern der Alltag »hinter« der Front ei jährt sich 2009 zum 70. Mal. Un- nen Spannungsbogen zwischen Milizählige Bücher und Beiträge, welche tärverwaltung, Wirtschaftsorganisadie großen Entwicklungslinien nach- tion und Fronttruppe bildete, der Aufzeichnen, aber auch Detailfragen be- schluss über die »brutalste militärische antworten, füllen mittlerweile ganze Besatzungsherrschaft, die die GeBibliotheken. Und doch gibt es immer schichte bis dahin gekannt hatte«, bienoch Themenfelder, über die wir nur tet. Detailreich vermittelt das Buch sowenig wissen, obwohl sie von großem wohl organisationsgeschichtliches Wiswissenschaftlichen und öffentlichem sen als auch unterschiedliche Aspekte Interesse sind. Dieter Pohl untersucht im alltäglichen Zusammenleben von mit seiner Arbeit über die Besatzungs- Zivilbevölkerung und Wehrmacht. Daherrschaft der Wehrmacht in der So- bei werden Fragen zur Ernährungspowjetunion ein solches Feld. Unser Wis- litik, Zwangsarbeit, zu Massenmorden sen über die Vorgänge in den besetzten und zum Partisanenkrieg thematisiert, Gebieten ist wesentlich geprägt von und dem Leser wird eindringlich verder sowjetischen Geschichtsschreibung mittelt, dass die Wehrmacht vor allem einerseits sowie andererseits von der als militärischer Besatzungsapparat zeitgenössischen deutschen Berichter- teilhatte an den Massenverbrechen in Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte stattung und der Erinnerungsliteratur der Sowjetunion. Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, DarmThorsten Loch stadt 2008. ISBN 978-3-89678-375-2; 208 S., 39,90 Euro hoher deutscher Offiziere nach Ende
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Ausstellungen
10318 Berlin Telefon: 0 30 / 50 15 08 10 Telefax: 0 30 / 50 15 08 40
Bad Karlshafen
Geschichte der Hugenotten Deutsches HugenottenMuseum
Hafenplatz 9 a 34385 Bad Karlshafen Telefon: 0 56 72 / 14 10 Telefax: 0 56 72 / 92 50 72 www.hugenottenmuseum.de
[email protected] Dauerausstellung
Samstag und Sonntag 14.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 2,00 Euro Verkehrsanbindung: Anfahrtsskizze unter www.hugenottenmuseum.de/ museum/museumspfad.php.
www.museum-karlshorst.de
[email protected] 14. November 2008 bis 1. März 2009
täglich außer Mittwoch 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt frei Verkehrsanbindung: S-Bahn: S 1 bis Station »Zehlendorf« , weiter mit Buslinie 115 bis Haltestelle »Alliierten-Museum«; U-Bahn: U 3 bis Haltestelle »Oskar-Helene-Heim«; Bus: Linie 115 oder X 83 bis Haltestelle »Alliierten Museum«.
Bad Mergentheim
Kassandra. Visionen des Unheils 1914–1945
800 Jahre Deutscher Orden
Deutsches Historisches Museum, Pei-Bau Hinter dem Gießhaus 3 10117 Berlin Telefon: 0 30 / 20 30-40 Telefax: 03 0 / 8 20 30 45 43
Deutschordensmuseum Schloß 16 97980 Bad Mergentheim Telefon: 0 79 31 / 5 22 12 Telefax: 0 79 31 / 5 26 69 www.deutschordensmuseum.de
[email protected] Dauerausstellung
www.dhm.de
[email protected]
April bis Oktober täglich 10.30 bis 17.00 Uhr November bis März 14.00 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 4,20 Euro ermäßigt: 3,20 Euro
19. November 2008 bis 22. Februar 2009
Verkehrsanbindung: Anfahrtbeschreibung unter www.deutschordensmuseum. de/Lageplan.htm.
Berlin
The Making of ... Die Männer und Frauen der Berliner Luftbrücke 1948/49
Alliierten-Museum Clayallee 135 14195 Berlin Telefon: 0 30 / 81 81 99-0 Telefax: 0 30 / 81 81 99-91 www.alliiertenmuseum.de
[email protected] 27. Juni 2008 bis 27. September 2009
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(Führungen) täglich 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 5,00 Euro (unter 18 Jahren frei, Tageskarte für alle Ausstellungen) Verkehrsanbindung: S-Bahn: Stationen »Hackescher Markt« und »Friedrichstraße«; U-Bahn: Stationen »Französische Straße«, »Hausvogteiplatz« und »Friedrichstraße«; Bus: Linien 100, 157, 200 und 348 bis Haltestellen »Staatsoper« oder »Lustgarten«.
Russischer Soldatenalltag in Deutschland
Bilder des Militärfotografen Wladimir Borissow 1990–1994 Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst Zwieseler Straße 4/ Ecke Rheinsteinstraße
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10.00 bis 18.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt frei Verkehrsanbindung: S-Bahn: S 3 bis Station »Karlshorst«: Ausgang Treskowallee, dann zu Fuß die Rheinsteinstraße entlang (ca. 15 min. Fußweg); Bus: Linie 396.
Haus der WannseeKonfernz
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der WannseeKonferenz Am Großen Wannsee 56–58 14109 Berlin Telefon: 030 / 80 50 01-0 Telefax: 030 / 80 50 01-27 www.ghwk.de
[email protected] Dauerausstellung
10.00 bis 18.00 Uhr (außer an gesetzlichen Feiertagen) Eintritt frei Verkehrsanbindung: S-Bahn/Bus: S 1 oder S 7 bis Station »Wannsee«, dann Buslinie 114 bis Haltestelle »Haus der WannseeKonferenz«.
Bonn
Auf die Bilder kommt es an! Wahlkampf und politischer Alltag in Deutschland nach 1945
in der U-Bahn-Galerie der Station »Heussallee«
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Museumsmeile Willy-Brandt-Allee 14 53113 Bonn Telefon: 02 28 / 91 65-0 Telefax: 02 28 / 91 65-302 www.hdg.de
[email protected] 13. Juni 2008 bis Ende Mai 2009
Tag und Nacht geöffnet Eintritt frei Verkehrsanbindung: U-Bahn: Linien 16, 63 und 66 bis Station »Heussallee/ Museumsmeile«; Bus: Linien 610 und 630 (Museumslinie) bis Haltestelle »Bundeskanzlerplatz/Heussallee«.
Flagge zeigen? Die Deutschen und ihre Nationalsymbole
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (siehe oben) 4. Dezember 2008 bis 13. April 2009
Dresden
Hinterlassenschaften aus fünf Jahrhunderten
(Schaumagazin mit kost baren und seltenen Exponaten aus allen Sachgebieten des Museums) Militärhistorisches Museum der Bundeswehr Olbrichtplatz 2 01099 Dresden Telefon: 03 51 / 8 23 28 03 Telefax: 03 51 / 8 23 28 05 www.militaerhistorischesmuseum.bundeswehr.de Dauerausstellung bis 2010
9.00 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt und Führungen frei Verkehrsanbindung: Straßenbahn: Linien 7 und 8 bis Haltestelle »Olbrichtplatz/ Militärhistorisches Museum«; Bus: Linie 91 bis Haltestelle »Stauffenbergallee/Militärhistorisches Museum«.
Dresden und das Militär
(800 Jahre Stadtgeschichte 800 Jahre Militärgeschichte) Militärhistorisches Museum der Bundeswehr (siehe oben) Dauerausstellung bis 2010
Frankfurt (Oder)
Frankfurt im Dreißigjährigen Krieg
Städtische Museen Junge Kunst und Viadrina Carl-Philipp-EmanuelBach-Straße 11 15230 Frankfurt (Oder) Telefon 03 35 / 4 01 56-0 Telefax 03 35 / 4 01 56-11 www.museum-viadrina.de
[email protected] Dauerausstellung
11.00 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 2,00 Euro. Gedenk- und Dokumentationsstätte »Opfer politischer Gewaltherrschaft« 1930–1945 und 1945–1989
Städtische Museen Junge Kunst und Viadrina Collegienstraße 10 15230 Frankfurt (Oder) Telefon: 03 35 / 68 02-712 Telefax: 03 35 / 4 01 56-11 www.museum-viadrina.de unter »Ständige Ausstellungen außerhalb des Junkerhauses«
[email protected] Dauerausstellung
Montag bis Freitag 9.00 bis 16.00 Uhr Eintritt frei
Ingolstadt
Herbert Agricola (1912–1998). Graphiken aus dem Zweiten Weltkrieg
Bayerisches Armeemuseum Ingolstadt Neues Schloss, Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Telefon: 08 41 / 93 77-0 Telefax: 08 41 / 93 77-200
www.bayerischesarmeemuseum.de
[email protected] 9. Juli 2008 bis 13. April 2009
08.45 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 3,50 Euro ermäßigt: 3,00 Euro Verkehrsanbindung: Anfahrtsbeschreibung auf der Website unter »Kontakt/ Anschrift«.
Ludwigsburg
Die 260-jährige Geschichte der Garnison Ludwigsburg
Garnisonmuseum Ludwigs burg im Asperger Torhaus Asperger Straße 52 71634 Ludwigsburg Telefon: 0 71 41 / 9 10-2412 www.garnisonmuseumludwigsburg.de
[email protected] Dauerausstellung
Mittwoch 15.00 bis 18.00 Uhr Sonntag 13.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 2,00 Euro ermäßigt: 1,00 Euro Verkehrsanbindung: S-Bahn: S 4 und S 5 (von Stuttgart bzw. Bietigheim) bis Station »Ludwigsburg«, weiter zu Fu ß über Bahnhofund Uhlandstraße zum Asper ger Torhaus (10 Minuten).
Nordholz
Willy Messerschmitt (1898–1978). Ein Konstrukteur und seine Flugzeuge
AERONAUTICUM Deutsches Luftschiff- und Marinefliegermuseum Peter-Strasser-Platz 3 27637 Nordholz Telefon: 0 47 41 / 18 19-0 Telefax: 0 47 41 / 18 19-15 www.aeronauticum.de
[email protected] 2. November 2008 bis 29. März 2009
Februar bis November täglich 10.00 bis 18.00 Uhr
Dezember bis Januar täglich 10.00 bis16.00 Uhr Eintritt: 6,50 Euro ermäßigt: 2,50 Euro Verkehrsanbindung: Anfahrtsskizze unter www.aeronauticum.de/ deutsch/Bilder/pdf/anfahrt.pdf.
Peenemünde
Geschichte der Raketentechnik
Historisch-Technisches Informationszentrum Peenemünde Im Kraftwerk 17449 Peenemünde Telefon: 03 83 71 / 505-0 Telefax: 03 83 71 / 505-111 www.peenemuende.de
[email protected] Dauerausstellung
April bis September 10.00 bis 18.00 Uhr Oktober bis März 10.00 bis 16.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 6,00 Euro ermäßigt: 4,00 Euro Verkehrsanbindung: Das Museum ist unter anderem mit der Usedomer Bäderbahn (UBB) erreichbar.
Prora
Verführt · Verleitet · Verheizt. Das kurze Leben des Nürnberger Hitlerjungen Paul B.
Dokumentationszentrum Prora Objektstraße, Block 3 18609 Prora Telefon: 03 83 93 / 1 39 91 Telefax: 03 83 93 / 1 39 34 www.proradok.de/seiten_ deutsch/aktuelles.html
[email protected] 8. November 2008 bis 31. März 2009
Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 2,00 Euro (Kinder unter 14 Jahre freier Eintritt) Verkehrsanbindung: Bahn: Regionalbahn von Stralsund bzw. Binz bis Station »Prora-Nord« oder »ProraOst«; Pkw: Von Stralsund über den Rügendamm auf der B 196 und weiter auf der B 196a Richtung Binz nach Prora.
Seelow (bei Frankfurt/Oder)
Die Schlacht um die Seelower Höhen im April 1945
Gedenkstätte/Museum Seelower Höhen Küstriner Straße 28a 15306 Seelow Telefon: 0 33 46 / 597 Telefax: 0 33 46 / 598 www.gedenkstaette-seelowerhoehen.de
[email protected] Dauerausstellung
10.00 bis 16.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 1,50 Euro Verkehrsanbindung: Bahn/Bus: Von Berlin mit Regionalexpress RE 1 bis Bahnhof »Frankfurt (Oder)«, weiter mit OE 60 nach »Seelow (Mark)«, 3 Minuten zu Fuß.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Service
Militärgeschichte kompakt
8. Januar 1959 Sieg Fidel Castros in Kuba ullstein bild Ist heute von Kuba die Rede, denkt wohl jeder zuerst an Fidel Castro. Der »maximo lider« dominierte die Entwicklung der karibischen Insel im vergangenen Jahrhundert wie kaum ein anderer Staatschef eines Landes. Bereits 1953 versuchte Castro erstmals, den Diktator Fulgencio Batista zu stürzen. Dessen Regime zeichnete sich, unter dem Schutz der Vereinigten Staaten, primär durch Korruption, Unterdrückung, maßlose Dekadenz und schrankenlose Prostitution aus. Ein vom jungen Castro zieht unter dem Rechtsanwalt Castro geführter Überfall auf die MonJubel der Bevölkecada-Kaserne in Santiago de Cuba scheiterte 1953 aber rung in Havanna ein. auf ganzer Linie. Vor Gericht gestellt und verurteilt, wurde er nach drei Jahren Haft ins Exil nach Mexiko abgeschoben. Ende 1956 kehrten Castro und seine Getreuen, unter ihnen der Argentinier Ernesto »Che« Guevara, heimlich nach Kuba zurück und begannen in den Bergen im äußersten Südosten der Insel ihren Kampf von Neuem. Mit ihrer klassischen Sabotage- und Guerillataktik schwächten sie fortwährend die Armee Batistas, bis diese quasi in sich kollabierte. Jeder Machtbasis enthoben, floh Batista am 1. Januar 1959. Castros Truppen starteten einen Sieges- und Jubelzug quer über die Insel und zogen am 8. Januar in Havanna ein. Die neue Regierung unter Castro, dessen Bruder Raoul und »Che« Guevara begann mit der revolutionären Umgestaltung des Landes. Die Beziehungen zu Washington verschlechterten sich massiv, Castro führte Kuba an die Seite der Sowjetunion. Tiefpunkt war die Raketenkrise des Jahres 1962, als die Welt am Rand eines nuklearen Krieges stand. Bis heute besteht eine konsequente Wirtschaftsblockade seitens der USA. Castro regierte Kuba 48 Jahre. 2007 übergab er die Regierungsgeschäfte an seinen Bruder Raoul, 2008 trat er offiziell als Präsident zurück. 5
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12. März 1929 »Windiges aus der Deutschen Luftfahrt« pa-akg Die Ausgabe der Wochenzeitschrift »Die Weltbühne« vom 12. März 1929 sorgte für Furore. Unter dem Titel »Windiges aus der deutschen Luftfahrt« wurden die Verbindungen zwischen Reichswehr, ziviler Luftfahrt und Flugzeugindustrie aufgezeigt. Der Friedensvertrag von Versailles (1919) hatte deutsche Luftstreitkräfte verboten. Die Reichswehr jedoch umging diese Bestimmungen und sah sich durch diesen Artikel herausgefordert. Daher wurde gegen den Autor Walter Kreiser Carl von Ossietzky (Pseudonym Heinz Jäger) und gegen den Herausgeber (Mitte) mit seinen der »Weltbühne« Carl von Ossietzky am 1. August 1929 Verteidigern vor dem Reichsgericht Strafantrag gestellt. Noch 1929 erfolgten VoruntersuchunLeipzig im Novemgen in Sachen Landesverrat und Verrat militärischer ber 1931. Geheimnisse. Allerdings versuchten Reichswehr, Justizministerium und Auswärtiges Amt zunächst, das Verfahren zu verschleppen, damit nicht noch weitere Details an die Öffentlichkeit gelangten. Vor dem Reichsgericht wurde schließlich im November 1931 der »Weltbühnenprozess« verhandelt. Herausgeber und Autor wurden zu je anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Während sich Kreiser nach Frankreich absetzte, trat Ossietzky seine Haft am 10. Mai 1932 in Berlin-Tegel an. Er wurde am 22. Dezember 1932 im Rahmen einer Weihnachtsamnestie entlassen. Das NSRegime ließ jedoch den überzeugten Pazifisten und Demokraten Ossietzky im Februar 1933 erneut verhaften und in ein Konzentrationslager einweisen. Folter und schlechte Haftbedingungen führten zu Tuberkulose, an deren Folgen er schließlich am 4. Mai 1938 starb. Am 23. November 1936 war Carl von Ossietzky rückwirkend der Friedensnobelpreis für das Jahr 1935 zuerkannt worden. Das NS-Regime untersagte ihm die Reise nach Oslo, sodass er den Nobelpreis nicht persönlich in Empfang nehmen konnte. 5
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Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung
Vorschau
Die nächsten beiden Ausgaben der Militärgeschichte thematisieren in größerem Umfang den Zweiten Weltkrieg, Heft 2 befasst sich aus gegebenem Anlass vornehmlich mit Themen des Kriegsbeginns 1939. Im ersten Heft des Jahres 2009 schließt Markus Eikel mit seinem Beitrag über das Führerhauptquartier »Werwolf« im ukrainischen Winniza an den Aufsatz von Peter Lieb in der vorangegangenen Ausgabe an, wo dieser fragte, ob die deutsche Besatzung 1918/19 in der Ukraine ein »Wegweiser zum Vernichtungskrieg« ab 1941 gewesen sei. Markus Eikel nimmt nunmehr die militärischen Entscheidungen an der Ostfront in den Blick, die im militärischen Lagezentrum in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges getroffen wurden. Bevor die Verlegung der obersten militärischen Führung von der ostpreußischen »Wolfsschanze« nach Winniza erfolgen konnte, wurde das Gebiet um das Lagezentrum großräumig »gesäubert«; bis zur Ankunft Hitlers im Juli 1942 sollten alle Juden aus dem Raum Winniza verschwunden sein. Ein weiterer Beitrag zum Zweiten Weltkrieg hat die Torpedo-Krise zum Inhalt, die im April 1940 mit dem britisch-deutschen Kampf um die Vorherrschaft in den norwegischen Gewässern ihren Höhepunkt erreichte. Die Besatzungen der deutschen U-Boote setzten sich mit den zahlreichen Torpedoversagern nicht nur zusätzlichen Gefahren aus, diese nagten darüber hinaus am Selbstvertrauen der Offiziere und schwächten so die Kampfkraft der Truppe. Welche technischen Mängel und menschlichen Unzulänglichkeiten zu der Krise führten, die in letzter Konsequenz die verantwortlichen Männer vor dem Reichskriegsgericht unter Anklage sah, arbeitet Heinrich Schütz heraus. Uwe Brammer widmet sich paramilitärischen Verbänden in der Weimarer Republik und knüpft so an die Ausführungen von Rüdiger Bergien an, der in Heft 3/2008 die Freikorpsbewegung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben hat. Und schließlich zeichnet Christian Senne ein Bild von der Militärbeobachtertätigkeit eines deutschen Offiziers Ende des 19. Jahrhunderts. mt
Militärgeschichte im Bild
Vom Preußischen Ulanenregiment (1. Hannoversches) Nr. 13 zum Ausbildungszentrum der Heeresaufklärungstruppe in Munster
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m 1. September 2008 übernahm tag feierte, sieht sich der Tradition der das jüngst aufgestellte Ausbil- Hannoverschen Kavallerie verpflichtet. dungszentrum HeeresaufkläOriginal und Kopie des Reiterstandrungstruppe in Munster, das den Bei- bildes verweisen auf die Entstehung namen »Heeresaufklärungsschule« eines deutschen Nationalstaates im führt, das neue Dienstgebäude des Ge- 19. Jahrhundert und auf 200 Jahre nerals der Heeresaufklärungstruppe wechselhafte Kavalleriegeschichte. und Kommandeurs Ausbildungszen- Deren Anfänge reichen zurück bis ins trum Heeresaufklärungstruppe (Oberst Napoleonische Zeitalter. Während der Karl-Ernst Graf Strachwitz) mit einer französischen Besatzung des Kurfürsganz besonderen Feier. In Munster tentums Hannover wurde 1803 in Engfand an diesem Tag die Miniatur eines land »The King’s German Legion« aufReiterstandbildes des Bremer Bildhau- gestellt. Deren 1. Schweres (seit 1813: ers Ernst Moritz Gorsemann eine neue Leichtes) Dragoner-Regiment kämpfte Heimat. Das Original des »Hannover- unter dem Herzog von Wellington in schen Ulans« steht seit 1922 in der Eilen- den Napoleonischen Kriegen und riede in Hannover und erinnert an das kehrte am 24. Februar 1815 als GardePreußische Ulanenregiment (1. Hanno- Regiment in die nun königlich-hannoversches) Nr. 13. 1990 wurde die Minia- versche Armee zurück. 1816 bestanden tur für die – 1994 aufgelöste – Panzer- in Hannover die Garde du Corps und brigade 3 in Nienburg geschaffen, die ein Gardekürassier-Regiment. Im preuden Marsch der hannoverschen Garde ßisch-österreichischen Krieg von 1866 du Corps (franz.: Leibgarde) als Parade- erwarb hannoversche Kavallerie im marsch führte. Auch das Aufklärungs- siegreichen Gefecht von Langensalza lehrbataillon 3 der Bundeswehr, das (27. Juni) Ruhm und Ehre, als die Garde 2006 in Lüneburg seinen 50. Geburts- du Corps eine glänzende, aber blutig gescheiterte Attacke gegen die mit dem überlegenen Zündnadelgewehr ausgeReiterstandbild des Bremer Bildhauers stattete preußische Infanterie ritt. EntErnst Moritz Gorsemann (1886–1960) gegen dem hannoverschen Reglement in der Eilenriede i n Hannover, Aufnahme weit vor der eigenen Linie reitend, von 1927 von Wilhelm Ackermann. führte Premierleutnant Graf Ernst von r e v o Wedel seine 1. Schwadron in Parade n n formation gegen das feindliche Infan a H m teriekarree. Anders als die Mehrzahl u e s u seiner Ulanen überlebte Graf von We M s del den Angriff schwer verwundet. e h c s i Die hannoversche Armee musste r o t s trotz ihres (später mitunter stark in sei i H ner Bedeutung überhöhten) Erfolges bei Langensalza bereits am 29. Juni 1866 gegenüber den preußischen Truppen kapitulieren. Das Königreich Hannover wurde annektiert und zur preußischen Provinz Hannover. Als Preußisches Ulanen-Regiment Nr. 13 (1. Hannoversches) ging die Garde du Corps in der preußischen Armee auf. Die hannoverschen Gardekürassiere hingegen dienten fortan als UlanenRegiment Nr. 14 (2. Hannoversches). 6
Hannoversche Kavallerie zeichnete sich 1870 in der letzten großen Reiterschlacht der Weltgeschichte bei Vionville und Mars-la-Tour (nahe Metz) aus. An der Spitze der 13er Ulanen fiel ihr Oberst Friedrich von Schack, aus Wolken in Mecklenburg-Schwerin stammend, der dem zahlenmäßig weit überlegenen französischen Gegner eine für den weiteren Verlauf des Krieges bedeutende Niederlage beigebracht hatte. Oberst von Schack wurde am 20. August 1870 in Mars-la-Tour beigesetzt. Graf Ernst von Wedel, der Held von Langensalza, erhielt übrigens bei »seinen«, nun preußischen Ulanen den Ehrentitel eines Obersten »à la suite« (der Titel berechtigt zum Tragen einer Regimentsuniform, beinhaltet jedoch kein dienstliche Stellung). Kaiser Wilhelm II. ernannte sich am 13. September 1889 selbst zum Chef des ruhmreichen Ulanen-Regiments Nr. 13. Dieses trug fortan an der Fellmütze, Tschapka genannt, den Gardestern, auf den Schabracken (Satteldecken), den Stern des schwarzen Adlerordens und auf den Schulterstücken den Namenszug des Kaisers. Ab 1899 durften die »Königsulanen« wieder die Tradition der hannoverschen Garde du Corps fortführen. Im Ersten Weltkrieg kämpften sie, aufgeteilt in zwei Halbregimenter, sowohl an der Westfront als auch auf dem östlichen Kriegsschauplatz. 1918 endete die Geschichte der hannoverschen Ulanen. Die Tradition der beiden Regimenter übernahmen in der Reichswehr die 1. und 2. Eskadron des 13. Reiter-Regimentes, das bis 1939 bestand, als seine Schwadronen in diversen Aufklärungsabteilungen der Wehrmacht aufgingen. Eine Traditionskameradschaft »Königsulanen-Regiment (1. Hannoversches) 13 1889 e.V.« ging nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Panzergrenadierbataillon 11 (später 13) der Bundeswehr eine Patenschaft ein, die bis zur Auflösung der Kameradschaft in den 1980er Jahren bestand. Die Panzergrenadiere pflegten die Tradition bis zur Auflösung des Bataillons 1992 am Standort Wesendorf. Bernhard Chiari
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008
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