114
Kolumne
Friedrich von Borries
Die ganze Wahrheit ... über den Berliner Hauptbahnhof An dieser Stelle schreibt der Architekturtheoretiker Fri edrich von Borries im Wechsel mit der Architektin Regine Leibinger und Baumeister-Chefredakteur Alexander Gutzmer.
Wahrheit, so wissen wir, ist ein flexibler Begriff. Friedrich von Borries begründet in seiner neuen Kolumne Die ganze Wahrheit die spekulative Architekturkritik. In Alfred Hitchcocks Thriller „Vögel“ von 1963 fliegen Möwen, Raben, Sperlinge, Krähen und andere Vögel Attacken auf Menschen und Gebäude. Sie hacken mit ihren scharfen Schnäbel n auf Gesichter und Körper ein, zerstören aber auch Dächer und Fenster. Die Tiere sind aggressiv und scheinen in ihrer schieren Masse unüberwindlich. Ganz so schlimm ist es in Berlin nicht, aber auch hier legen Vögel ein Verhal ten an den Tag, das nicht unserer Vorstellung entspricht. Das gilt besonders für Krähen. Dass Krähen kreativ und intelligent sind, ist seit geraumer Zeit bekannt. Sie verwenden Werkzeuge und bauen hochinteressante Nester, in die sie den Abfall der menschlichen Zivilisation einweben. So entstehen Ob jek te, die a ll en Kriterien zei tge nössische r Re cycl ingKunst genügen. Aber Krähen agieren auch als akti ve Architekturkritiker. Ein besonders prominentes Beispiel ist dafür der Berliner Hauptbahnhof. Seit jeher ist das Gebäude ein Streitobjekt, Bauherr und Architekten prozessierten jahrelang gegeneinander. Ein Streitpunkt war die Länge des Glasdachs, das die Architekten länger (und damit größer, schöner und wichtiger) geplant hatten, als es schließlich ausgeführt wurde. In der Öffentlichkeit lange unbemerkt, haben sich auch die Krähen in den Diskurs um die Architektur des Hauptbahnhofs eingemischt. Ihre Ausdrucksmittel scheinen auf den ersten Blick begrenzt, aber doch wirkungsvoll. Schon seit Langem ziehen die Krähen die
Dichtung aus den Fugen zwischen den Scheiben des Glasdachs. Dann fließt Wasser in das Gebäude, 2011 wurde eine umfangreiche Sanierung vorgenommen. Früh war den Experten klar, dass die Krähen sich nicht aus Hunger an dem Dach zu schaffen machen. Sie unterstel lten den Vögeln Langeweile und Spieltr ieb. Ob so viel Ignoranz haben die Berliner Krähen die Auseinandersetzung verschärft. Statt nur die Fugen herauszupicken, werfen sie aus großer Höhe Gegenstände auf das Glasdach. Besonders beli ebt ist dabei die Verwendung von Schrauben. Die Folge der Wurfattacken: Die Scheiben gehen kaputt, bislang wurden 100 Scheiben ausgetauscht. Die Kosten: 10.000 Euro pro Scheibe. Natürlich ist es ein Einfaches, den Krähen auch hier bloßen Spieltrieb zu unterstellen. Irgendwo hat jemand eine Schraube locker, der Vogel findet sie, wirft sie aus Lust und Laune auf das nächstgelegene Gla sdach, und das größte hat in Berli n nunmal der Hauptbahnhof. Vielleicht sollten wi r aber unseren anthropozentrischen Blick hinterfragen und stattdessen Tiere als urbane Akteure ernstnehmen. Die Krähen, so wäre die Logik dieser Argumentation, spielen nicht. Das Glasdach stört sie, vielleicht ist es die Lichtreflexion, vielleicht die Temperatur oder auch das Schallverha lten. Nun betreiben sie aktive Architekturkritik, frei nach dem Motto: Macht kaputt, was Euch kaputt macht! Was also folgt daraus: Man soll te die Krähen nicht unterschätzen, sie sind eine mächtige Akteursgruppe. Alleine in Berlin leben 4. 500 Brutpaare. Wir brauchen eine Ausbildung für Architekturkrähen, die durch unsere Städte fliegen. Und wir wissen: Wo sie eine Schraube fallen lassen, da stimmt etwas nicht.
Tun sich Architekten mit Bürgerbeteiligung schwer, Herr Ingenhoven?
h c s i r a J k i z r y M : d l i B
Architektur und Demokratie widersprechen einander nicht. Demokratische Entscheidungsprozesse sind oft mühsam und zeitraubend. Sie bieten aber die Gewähr für größtmögliche Transparenz und Akzeptanz sowie dafür, dass Fehler, die fast zwangsläufig passieren, kleiner und damit korrigierbarer bleiben, als dies bei autokratischen Systemen der Fall ist. CHRISTOPH INGENHOVEN, ARCHITEKT, DÜSSELDORF
Das Architekturmagazin, das die richtigen Fragen stellt. AUSGEZEICHNET!
LEAD AWARDS 2015
WWW.BAUMEISTER.DE