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Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts, Subjektive1/2017 Rechte, ziviler Ungehorsam und Demokratie nach Arendt
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„Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur“ Subjektive Rechte, ziviler Ungehorsam und Demokratie nach Arendt1 Robin Celikates In ihrem erstmals 1970 erschienen Essay mit dem Titel „Ziviler Ungehorsam“ schreibt Hannah Arendt: „Aufgrund des beispiellosen Tempos, mit dem sich in unseren Tagen alles ändert, und wegen der Herausforderung für die Rechtsordnung, die dieser Wandel mit sich bringt – auf seiten der Regierung wie auch auf seiten derjenigen, die die Gesetze nicht befolgen –, ist heutzutage die Auffassung weit verbreitet, daß Veränderungen durch die Gesetze herbeigeführt werden können [… Diese Auffassung scheint] mir von einer irrigen Vorstellung von der Leistungsfähigkeit des Rechts auszugehen. Natürlich kann das Recht Veränderungen, wenn sie einmal vollzogen sind, stabilisieren und legalisieren, doch die Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur.“2
Arendts Diagnose, die zugleich eine philosophische These enthält, findet sich eingebettet in eine Argumentation, die sich gegen gewissens- ebenso wie gegen rechtebasierte Konzeptionen des zivilen Ungehorsams richtet – und damit gegen die, damals ebenso wie heute, prominentesten Positionen in der philosophischen und der öffentlichen Debatte. In Abgrenzung davon entwickelt Arendt eine dritte Position, nämlich ein genuin politisches und, wie ich zeigen möchte, radikaldemokratisches Verständnis von zivilem Ungehorsam.3 Dass politische Freiheit und demokratische Ansprüche auf Selbstbestimmung restlos in staatlich organisierte Verfahren der Rechtssetzung übersetzt werden können, wird durch Arendts Argumentation als un- oder gar anti-politische Position entlarvt, denn ihr zufolge sind es gerade nicht-institutionalisierbare Praktiken wie der zivile Ungehorsam, die jene politischen Veränderungen initiieren, die das Recht vor Erstarrung bewahren. Nur genuin politische Momente des „acting-in-concert“ können die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht in Gang halten oder von neuem in Gang setzen, ohne damit in die falsche Alternative von Institutionalismus und Anti-Institutionalismus zu verfallen.4
1 Für hilfreiche Diskussionen danke ich den TeilnehmerInnen der Tagungen „Politik der subjektiven Rechte“ (Leipzig, November 2015) und „Ein Recht auf Widerstand gegen den Staat?“ (Düsseldorf, September 2015). 2 Arendt, Ziviler Ungehorsam (1970), in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, 1986, 141 (im Folgenden verweisen Seitenzahlen in Klammern auf diesen Text). 3 Vgl. auch Petherbridge, Between Thinking and Action. Arendt on Conscience and Civil Disobedience, Philosophy & Social Criticism OnlineFirst (2016). 4 Vgl. zu dieser Perspektive ausführlicher Celikates, Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie – konstituierende vs. konstituierte Macht?, in: Bedorf/Röttgers (Hrsg.), Das Politische und die Politik,
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Die im obigen Zitat angesprochene überzogene Vorstellung von der Leistungsfähigkeit des Rechts prägt zunächst die Position jener, die in zivilem Ungehorsam wenig mehr sehen als eine Art selektiver und von partikularen Interessen motivierter Erpressung demokratischer Mehrheiten durch querulantische Minderheiten, die die Gehorsamspflicht der BürgerInnen aufkündigen und damit den vom Staat zu gewährleistenden inneren Frieden aufs Spiel setzen. Diese Position ist in der deutschen Rechtswissenschaft vor allem in den 1980er Jahren prominent vertreten worden, etwa von so einflussreichen Juristen wie Rupert Scholz, Josef Isensee und Christian Starck.5 Im Gegenzug ließ sie Jürgen Habermas von den Risiken der „‚Gesetz ist Gesetz‘-Mentalität“ eines „autoritären Legalismus“ für die demokratische politische Kultur sprechen, die auf die „Idee eines nichtinstitutionalisierbaren Mißtrauens [des demokratischen Rechtsstaats] gegen sich selbst“ angewiesen ist.6 Problematische Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit des Rechts finden sich jedoch auch bei jenen, die den zivilen Ungehorsam verteidigen und das auf eine Weise tun, die den Ungehorsam zähmt, quasi juridifiziert und damit entpolitisiert – wie tendenziell im liberalen, rechte- und gerechtigkeitsbasierten Modell des zivilen Ungehorsams.7 Um die im Ausgang von Arendt konzipierbare Möglichkeit deutlicher konturieren zu können, werde ich im Folgenden zunächst ihre Position rekonstruieren, da sie wichtige Einwände gegen die beiden auch heute noch dominanten Verständnisse von zivilem Ungehorsam als gewissensbestimmt und als rechtebasiert formuliert. Zunächst werde ich ihre scharfe Kritik an Henry David Thoreau – dem einflussreichsten Vertreter des gewissensbasierten Verständnisses von Ungehorsam – diskutieren und zeigen, dass sie Thoreaus Thesen zugleich als Herausforderung ernstnimmt (I.). Daraufhin werde ich zu zeigen versuchen, dass Arendt ein alternatives Verständnis der transformierenden und demokratisierenden Kraft von zivilem Ungehorsam entwickelt, das dem liberalen Standardmodell – zu dessen einflussreichsten Vertreten John Rawls und, mit zum Teil weitreichenden Modifikationen, auch Habermas gehört – in den drei Dimensionen der Definition, der Rechtfertigung und der Rolle zivilen Ungehorsams überlegen ist (II.). Abschließend werde ich auf das Verhältnis von Zivilität, Gewaltfreiheit und Loyalität gegenüber der Rechtsordnung zurückkommen, deren einseitige Identifikation durch Arendts komplexere Konzeption zivilen Ungehorsams unterlaufen wird (III.).
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2010, 274; ders., Ziviler Ungehorsam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt, in: Martinsen/FlügelMartinsen (Hrsg.), Gewaltbefragungen. Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, 2013, 211; ders., Rethinking Civil Disobedience as a Practice of Contestation – Beyond the Liberal Paradigm, Constellations. An International Journal of Critical and Democratic Theory 23 (2016) 1, 37. 5 Vgl. Scholz, Rechtsfrieden im Rechtsstaat. Verfassungsrechtliche Grundlagen, aktuelle Gefahren und rechtspolitische Folgerungen, NJW 1983, 705; Isensee, Ein Grundrecht auf Ungehorsam gegen das demokratische Gesetz? – Legitimation und Perversion des Widerstandsrechts, in: Streithofen (Hrsg.), Frieden im Lande – Vom Recht auf Widerstand, 1983, 155; Starck, Frieden als Staatsziel (1984), in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, Gefährdungen, 1995, 231 (244–251). 6 Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, 1985, 79 (84, 91, 87); ders., Recht und Gewalt – ein deutsches Trauma, ibid., 100. 7 Vgl. bereits Bröckling, Ziviler Ungehorsam, zahm, links. Sozialistische Zeitung 198 (1986) sowie Balibar, Sur la désobéissance civique, in: ders., Droit de cité, 2002, 17.
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I. Arendt vs. Thoreau? Vom individuellen Gewissen zur politischen „Kunst, sich zu assoziieren“ In ihrem Aufsatz zum zivilen Ungehorsam zitiert Arendt den Philosophen Carl Cohen zustimmend mit dem Satz, dass „der Verstoß gegen das Gesetz nicht durch das Gesetz gerechtfertigt werden kann“ (120). Damit bezieht sich Arendt auf die – freilich nicht völlig unumstrittene – These, dass das positive Recht auch dann keinen Raum für zivilen Ungehorsam lassen kann, wenn man in Rechnung stellt, dass Konflikte zwischen unterschiedlichen Rechtsebenen – in den USA etwa „federal“ und „state law“ – möglich sind. Wenn sich der prinzipienbasierte Gesetzesbruch aber nicht auf der Basis geltenden Rechts rechtfertigen lässt, so scheint dies – in der Debatte ihrer Zeit – zwei theoretische ebenso wie praktische Optionen übrig zu lassen, die auch heute noch weite Teile der Debatte über zivilen Ungehorsam strukturieren: zum einen die Bezugnahme auf das individuelle Gewissen und ein höheres Recht, auf das es sich bezieht; zum anderen die Bezugnahme auf (über ihre positivrechtliche Kodifizierung hinausgehende) individuelle Rechte, wie sie für die liberale Tradition maßgeblich geworden ist. Beide Optionen findet Arendt aus guten Gründen problematisch. In einer ersten Annäherung lassen sich die Konturen von Arendts Position aus ihrer Abgrenzung von jener Thoreaus entwickeln. Thoreaus Position wiederum kann durch drei wesentliche Thesen charakterisiert werden, die sich in seinem zunächst unter dem Titel „Resistance to Civil Government“ publizierten und später als „Civil Disobedience“ bekannt gewordenen Text sowie seiner Verteidigung des militanten Abolitionisten John Brown finden.8 An erster Stelle ist Thoreaus Position durch eine Kombination aus Absolutismus und Subjektivismus gekennzeichnet. Alle politische Autorität ist Thoreau zufolge bedingt durch die „einzige Verpflichtung“, die man seines Erachtens berechtigt ist einzugehen, „und das ist, jederzeit zu tun was mir recht erscheint“.9 Diese Verpflichtung besteht nicht dem politischen Gemeinwesen, den Mitbürgern oder der Rechtsordnung, sondern allein dem eigenen Gewissen und dem eigenen moralischen Selbst gegenüber. Aus diesem Grund haben im Fall eines Konflikts von moralischen und politischen Pflichten immer erstere Vorrang. Im Konfliktfall müssen die Individuen auf ihr Gewissen hören und nicht erst die Mehrheit überzeugen, denn „es reicht, wenn sie Gott auf ihrer Seite haben, auf den anderen [Mitbürger] brauchen sie nicht zu warten“.10 In den moralisch
8 Hierzu eine kurze historische Bemerkung: Zu Beginn des Jahres 1848 hielt Thoreau eine Reihe von öffentlichen Vorträgen unter dem Titel „The Rights and Duties of the Individual in Relation to Government“. Das überarbeitete Manuskript erschien dann im Mai 1849 unter dem Titel „Resistance to Civil Government“ in einer Anthologie. Erst 1866, also vier Jahre nach seinem Tod, erschien der Essay unter dem heute gängigen Titel „Civil Disobedience“ (der Begriff selbst taucht in Thoreaus Text gar nicht auf, auch wenn Thoreau heute weithin als sein „Erfinder“ bekannt ist). Es ist nicht abschließend geklärt, ob Thoreau auch der Autor eines bereits im Juni 1846 im Boston Courier erschienenen zweiseitigen Aufsatzes mit dem Titel „Conflict of Laws“ ist, in dem der Autor das Gewissen als dem staatlichen Recht im Konfliktfall übergeordnetes Gesetz konzipiert und sich gegen die verbreitete Stimmung des „my country, right or wrong“ wendet, allerdings noch zu keiner kohärenten Formulierung seiner Position findet. Vgl. Scharnhorst/Thoreau, Conflict of Laws: A Lost Essay by Henry Thoreau, The New England Quarterly 61 (1988) 4, 569; Rosenwald, The Theory, Practice, and Influence of Thoreau’s Civil Disobedience, in: Cain (Hrsg.), A Historical Guide to Henry David Thoreau, 2000, 153. 9 Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, 2. Aufl. 1973, 9. 10 Ibid., 18 f.
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ausschlaggebenden Fällen ist es Thoreau zufolge irrelevant, ob man sich an das menschliche Gesetz und seine Interpretation durch Juristen hält. Was dann zählt, sind die „ewigen Gesetze, die den Menschen rechtmäßig binden“, und deren rechtmäßige Interpreten sind nicht Juristen, sondern unvertretbare und allein ihrem Gewissen verpflichtete Individuen.11 Es ist mithin gerade die subjektive Einsicht in absolute Verbindlichkeit, die Thoreau zum Prinzip ethisch rechtfertigbaren Handelns unter nicht-idealen Bedingungen erhebt. Das zweite Kennzeichen von Thoreaus Position – das sich direkt aus der eben skizzierten Kombination von Subjektivismus und Absolutismus ergibt – ist sein Anti-Institutionalismus. So schreibt er: „Was ich will, ist: dem Staat Gefolgschaft verweigern, mich von dieser Pflicht zurückziehen und über ihr stehen.“12 Aber der Rückzug ins Private reicht nicht aus, um dem Unrecht, das anderen angetan wird, ein Ende zu setzen: „Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen.“13 Die sich daraus ergebende Aufforderung, das Gesetz im Fall massiven Unrechts zu brechen, geht über den individuellen Gesetzesbruch hinaus – und zielt darauf ab, die das Unrecht produzierende Regierungsmaschine zum Stillstand zu bringen: „break the law [...], stop the machine“.14 Einem Staat, der nicht auf individuelle Zustimmung gegründet ist und der die rechtlichen und ethischen Ansprüche der Bürger verletzt – weil sie ihre eigene Stimme nicht mehr im öffentlichen Diskurs wiedererkennen und ihr nicht auf andere Weise Ausdruck verschaffen können –, kommt Thoreau zufolge keine Autorität zu. Er kann nicht mehr beanspruchen, im Namen des Volkes, also aller Bürger, zu agieren. Und obwohl Thoreau nicht ausschließt, dass es eine legitime Regierungsform („eine bessere Regierung“, wie er sagt) geben könnte, ist deren institutionelle Realisierbarkeit in einem Zeitalter, in dem die meisten Menschen dem Staat „nicht als Menschen, sondern als Maschinen“ dienen, als gering einzuschätzen.15 Drittens betont Thoreau die revolutionäre und potentiell gewaltsame Dimension von Ungehorsam. Denn „[w]er nach Grundsätzen handelt, das Recht wahrnimmt und es in Taten umsetzt, verändert die Dinge und Verhältnisse; solch ein Handeln ist wesentlich revolutionär.“16 Dass sich solch ein prinzipiell motivierter und potentiell revolutionärer Ungehorsam auch gewaltsam äußern kann, wird vor allem in Thoreaus – zumindest in Deutschland weniger bekannter – Schrift zur Verteidigung John Browns deutlich. Brown war ein militanter Abolitionist, der nach dem Scheitern eines gewaltsamen Aufstands gegen die Sklaverei zum Tode verurteilt und gehängt wurde. Thoreau sieht in Brown einen der wenigen aufrechten und konsequenten Verfechter der Menschenwürde in den Vereinigten Staaten seiner Zeit, einen „überlegenen Menschen“, der nicht vor der Einsicht zurückschreckt, dass angesichts des größten Unrechts und der Abwesenheit anderer Alternativen der Zweck die Mittel heiligt. In einer ungewöhnlichen Verbindung religiöser und realistischer Denkfiguren geht Thoreau soweit zu behaupten:
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Thoreau, A Plea for Captain John Brown (1859), in: ders., Political Writings, 1996, 156. Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, 2. Aufl. 1973, 29. 13 Ibid., 13. 14 Ibid., 17 f.; vgl. ders., Political Writings, 1996, 9. 15 Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, 2. Aufl. 1973, 8, 10. Vgl. zu Thoreaus Perfektionismus und der grundlegenden demokratietheoretischen Rolle der eigenen Stimme etwa Laugier, Désaccord, dissentiment, désobéissance, démocratie, Cités 17 (2004) 1, 39. 16 Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, 2. Aufl. 1973, 16 f. [Übersetzung korrigiert]. 12
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„I think that for once the Sharp’s rifles and the revolvers were employed in a righteous cause. The tools were in the hands of one who could use them. The same indignation that is said to have cleared the temple once will clear it again. The question is not about the weapon, but the spirit in which you use it.“17
In ihrem Essay formuliert Arendt eine schneidende – und nicht immer ganz ausgewogene – Kritik an Thoreau.18 Der moralische Appell an das Gewissen oder – darüber vermittelt – an ein höheres Gesetz stellt ihres Erachtens keine politisch brauchbare Grundlage für zivilen Ungehorsam bereit, „denn das Gewissen zittert um das individuelle Ich und dessen Integrität“ (126) und ist nicht primär angetrieben von der Sorge um die politische Welt, die Beziehung der Bürger untereinander und zum Gesetz. Aufgrund seines Subjektivismus und Absolutismus wird das Gewissen als un- oder gar anti-politische Instanz entlarvt, die aus individueller Perspektive zwar zur Bestimmung einer Grenze dienen, aber keinerlei positive Grundlage für das Handeln und insbesondere für die politisch zentrale Form des Zusammenhandelns bereitstellt. Zudem lasse Thoreau völlig offen, wie mit einem Konflikt umzugehen sei, in dem „Gewissen gegen Gewissen“ (129) steht. Arendt ist mit Thoreau nicht nur in dieser, sondern in allen drei oben eingeführten Hinsichten uneins, und doch nimmt sie Thoreaus Position als Herausforderung ernst. Ihr Essay lässt sich daher auch als eine Antwort auf Thoreau lesen, die über die pointierte Abgrenzung in den ersten Abschnitten ihres Aufsatzes hinausgeht. Auf die Herausforderung des Subjektivismus – Thoreaus Insistenz auf dem Primat des eigenen Gewissens – antwortet Arendt, indem sie zivilen Ungehorsam nicht als individuellen, vom Gewissen des einzelnen angeleiteten Akt, sondern als wesentlich kollektive und politische Handlung bestimmt, die man als „Mitglied einer Gruppe“ ausführt, „die weniger durch ein gemeinsames Interesse als durch eine gemeinsame Meinung zusammengehalten [wird] und durch die Entscheidung, sich selbst dann gegen die Politik der Regierung zu stellen, wenn sie mit Grund annehmen [kann], daß eine Mehrheit diese Politik unterstützt“ (122 f.).
Diese These sollte nicht so verstanden werden, als schließe Arendt begrifflich aus, dass auf sich selbst gestellte Individuen Ungehorsam üben können. Vielmehr weist sie darauf hin, dass individueller Ungehorsam nicht den paradigmatischen Fall darstellt und zudem – in seiner Wirksamkeit und politischen Realität – von der Einbettung in und das Aufgreifen durch das Handeln anderer abhängt. Mit Bezug auf ein solches Zusammenhandeln kann das Gewissen durchaus einen Anfangs-, aber eben keinen Endpunkt
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Thoreau, Political Writings, 1996, 147, 153. Die Kritik kann als nicht immer ganz ausgewogen betrachtet werden, weil Thoreau sich zwar theoretisch auf sein Gewissen beruft, in der Praxis aber weithin geteilte Beschwerden artikuliert und explizit als Bürger an seine Mitbürger appelliert. Vgl. auch Rosenwald, in: Cain (Hrsg.), A Historical Guide to Henry David Thoreau, 2000, 169: „like King and Gandhi, Thoreau presents his action in relation to practices condemned by a broad consensus: slavery, the Mexican War, the Jim Crow Laws, the South African Black Act. That is why one reproach made against Thoreau’s program, namely that it gives too much liberty to the individual conscience, is invalid; Thoreau might in theory give the conscience too much liberty, but the action he describes is directed against things condemned not only by his conscience but also by his community.“ Nichtsdestotrotz kann man mit Arendt darauf bestehen, dass Thoreaus Bezug auf die Gemeinschaft durch die Priorisierung des individuellen Gewissens, das der Infragestellung und Transformation im politischen Streit entzogen ist, politisch entwertet wird. 18
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darstellen, denn sobald man sich mit anderen im öffentlichen Raum politisch auseinandersetzt, muss aus der Wahrheit des Gewissens – mit ihrem von Thoreau deutlich artikulierten Absolutheitsanspruch – eine Meinung werden, die fallibel und revidierbar ist: „Und die Macht einer Meinung ist nicht vom Gewissen, sondern von der Zahl derer abhängig, die sie teilen“ (132). In Abgrenzung von Thoreaus Subjektivismus geht Arendt in ihrer Politisierung des Ungehorsams so weit, in ihm „lediglich die neueste Form der freiwilligen Vereinigungen“ (154), eine Form der Ausübung der „Macht des Volkes“, der „potestas in populo“ (146), eine Aktualisierung des von ihr horizontal – auf gegenseitigen Versprechen basierend – statt vertikal verstandenen Gesellschaftsvertrags (151) zu sehen. Mit dieser Form des politischen Handelns soll der revolutionäre Geist des Gründungsmoments in der etablierten Ordnung selbst wachgehalten werden, ohne diese Ordnung außer Kraft zu setzen oder die demokratietheoretische Bedeutung von Institutionen zu negieren.19 Damit komme ich zur Antwort auf die zweite Herausforderung, die sich in Thoreaus Text findet, nämlich die Herausforderung der Institutionalisierung. Arendt betont, dass ziviler Ungehorsam dann ins Spiel kommt, „wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, daß entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offenstehen bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder daß im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft“ (136).
Dass institutionalisierte politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse durch im Rahmen der bestehenden politischen Systeme kaum vermeidbare strukturelle Demokratiedefizite, etwa in den Dimensionen Repräsentation, Partizipation und Deliberation, aber auch durch den Einfluss von Machtasymmetrien auf die öffentliche Debatte, durch hegemoniale Diskurse und ideologische Selbstverständnisse verzerrt werden, stellt den Einsatzpunkt der radikaldemokratischen Konzeption des zivilen Ungehorsams dar.20 Angesichts solcher strukturellen und für real existierende Demokratien charakteristischen Demokratiedefizite kann ziviler Ungehorsam als eine Form des demokratischen empowerment verstanden werden, die auf intensivere und/oder extensivere Formen der demokratischen Selbstbestimmung zielt, ohne damit schon die Unhintergehbarkeit institutioneller Vermittlungen zu verneinen. Da es aber eher unwahrscheinlich ist, dass diese strukturellen Defizite aus den existierenden Institutionen heraus adressiert werden, kommt aktivistischeren Formen politischer Praxis, wie eben dem zivilen Ungehorsam, eine für die Demokratie zentrale Rolle zu, um den Tendenzen der institutionellen Ossifikation und Erstarrung entgegenzuwirken, die Arendt unter den gegebenen Umständen für unvermeidlich hält.
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Vgl. zu dieser Interpretation Kalyvas, Democracy and the Politics of the Extraordinary, 2008, Kap. 9; Smith, Reclaiming the Revolutionary Spirit: Arendt on Civil Disobedience, European Journal of Political Theory 9 (2010), 149; Volk, Zwischen Entpolitisierung und Radikalisierung. Zur Theorie von Demokratie & Politik in Zeiten des Widerstands, Politische Vierteljahresschrift 54 (2013) 1, 75. 20 Vgl. auch Young, Activist Challenges to Deliberative Democracy, Political Theory 29 (2001), 670 sowie Celikates, Democratizing Civil Disobedience, Philosophy & Social Criticism OnlineFirst (2016).
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Angesichts dieser fundamentalen demokratietheoretischen Bedeutung zivilen Ungehorsams stellt sich für Arendt jedoch auch die Frage, ob diese Rolle sich wenn schon nicht rechtlich, so doch politisch institutionalisieren lässt: „Die politische Institutionalisierung des zivilen Ungehorsams könnte das bestmögliche Heilmittel gegen [das] letztendliche Scheitern juristischer Überprüfung sein. Der erste Schritt wäre, den Minderheiten, die den zivilen Ungehorsam praktizieren, die gleiche Anerkennung zu gewähren, die den zahlreichen Interessengruppen […] im Lande zugestanden wird, und mit den Gruppen des zivilen Ungehorsams auf die gleiche Art wie mit den Pressure-groups zu verhandeln.“ (158)
Mit diesen tentativen Überlegungen scheint Arendt weniger auf eine formale Institutionalisierung und eher auf eine Anerkennung des politischen Beitrags zu zielen, den zivilen Ungehorsam ausübende Minderheiten zur Weiterentwicklung des politischen Gemeinwesens leisten.21 Statt deren Protest, der „vielleicht nicht in Übereinstimmung mit dem Wortlaut, wohl aber im Einklang mit dem Geist [der] Gesetze“ (143) steht, zu kriminalisieren oder zu bagatellisieren, sollte er ernst genommen und im politischen Prozess auf eine Weise aufgegriffen werden – und damit im weiten Sinne institutionalisiert werden –, die weder rein strategisch noch den Kontingenzen politischer Stimmungen unterworfen ist.22 Schließlich antwortet Arendt auch auf Thoreaus Radikalismus. Obwohl sie an der Notwendigkeit festhält, zivilen Ungehorsam von revolutionärem Handeln historisch ebenso wie systematisch zu unterscheiden, gesteht sie – mit Bezug auf ein immer wieder als paradigmatisch diskutiertes Beispiel – doch zu, dass „[d]er Gehorsamsverweigerer mit dem Revolutionär den Wunsch [teilt], die Welt zu verändern“, und auch die von ihm angestrebten Veränderungen können wirklich drastischer Art sein – wie beispielsweise im Falle Gandhis, der in diesem Zusammenhang immer als das große Beispiel für Gewaltlosigkeit herangezogen wird. Erkannte Gandhi den „Rahmen der bestehenden Autorität“, also die britische Herrschaft in Indien an? Respektierte er die „generelle Rechtmäßigkeit der Rechtsordnung“ in der Kolonie? (138) Gerade an Figuren wie Gandhi, aber in bestimmten Hinsichten auch an der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King Jr. sowie vielleicht auch jüngeren Bewegungen wie Occupy Wall Street, lässt sich sehen, dass die Unterscheidung von zivilem und revolutionärem Ungehorsam sowohl in der Dimension der Zielsetzung als auch in der Dimension der gewählten Mittel nicht immer so trennscharf ist, wie häufig angenommen wird.23 Darüber hinaus gibt Arendt mit Bezug auf heute als
21 Es ist richtig, dass Arendt unterdrückte Minderheiten auch als Gefahr für die Stabilität der Republik sieht. Zugleich wendet sie sich aber explizit dagegen, diesen Minderheiten selbst die Schuld hierfür zuzuschreiben, denn der Grund für ihre Unterdrückung liegt schlicht und einfach darin, dass sie nie Teil des Vertrags und des die Republik tragenden Konsenses waren (149). Vgl. auch Gines, Hannah Arendt and the Negro Question, 2014. 22 Vgl. Smith, European Journal of Political Theory 9 (2010), 164: „It is this final claim that most distinguishes Arendt’s approach from that of liberals like Rawls and democrats like Habermas. It reflects her belief that the constitutional state must be compelled not only to tolerate but also to engage with civilly disobedient minorities. In and through this engagement, she hopes that the moribund institutions of representative democracy may once again recapture some of the political energy that is manifest in the annals of the revolutionary tradition.“ 23 Vgl. hierzu Lyons, Moral Judgment, Historical Reality, and Civil Disobedience, Philosophy and Public Affairs 27 (1998) 1, 31; Harcourt, Political Disobedience, Critical Inquiry 39 (2012), 33.
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gegeben anerkannte (wenn auch wieder ausgehöhlte) Errungenschaften der Rechtsordnung zu bedenken, woher diese Errungenschaften kommen: „Der ganzen Arbeitsgesetzgebung – dem Recht auf Tarifverhandlungen, dem Organisations- und Streikrecht – ging jahrzehntelang der oft gewalttätige Ungehorsam gegen Gesetze voraus, die sich am Ende als völlig überholt erwiesen.“ (141 f.)
Für zivilen Ungehorsam ist trotz dieses komplexen Verhältnisses zu revolutionärem und gewaltsamem Handeln jedoch spezifisch, dass er „in aller Öffentlichkeit stattfindet“ (157), die bestehende Ordnung zumindest in ihren Grundzügen anerkennt – sonst könnte er kaum „im Einklang mit dem Geist [der] Gesetze“ (143) sein –, und nicht militärisch organisiert ist, sondern eine genuin politische Form der „Kunst, sich zu assoziieren“, darstellt (153).
II. Jenseits des Liberalismus? Um zu verdeutlichen, welche Distanz zwischen Arendts eigener radikal-demokratischer Konzeption zivilen Ungehorsams und nicht nur der gewissensbasierten Konzeption Thoreaus, sondern auch der heute noch immer weithin geteilten liberalen rechtebasierten Konzeption besteht, bietet es sich an, sich zwei einflussreiche Definitionen dieser Handlungsform in Erinnerung rufen. In seiner Theorie der Gerechtigkeit bestimmt Rawls zivilen Ungehorsam in Abgrenzung zu anderen Formen des Widerstands als eine „öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politische gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“ und mit der man sich an den „Gerechtigkeitssinn der Mehrheit“ wendet, und zwar „innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue“, was unter anderem durch die Akzeptanz der eventuell verhängten Strafe ausgedrückt wird.24 Auch Habermas scheint Rawls’ Definition zivilen Ungehorsams weitgehend zu folgen, wenn er schreibt: „Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protestes.“25
In der philosophischen Diskussion haben sich so gut wie alle Bestandteile dieser Definition als umstritten erwiesen.26 Auffällig ist in jedem Fall das recht spezifische Verständnis des Zusatzes „zivil“, das den Ungehorsam qualifiziert und das hier mit einem wiederum recht spezifischen – nämlich restriktiven – Verständnis von Gewaltfreiheit gleichgesetzt wird. Demnach muss sich ziviler Ungehorsam auf den kommuni-
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Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 401, 403. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 1985, 79 (83 f.). 26 Vgl. etwa Celikates, in: Martinsen/Flügel-Martinsen (Hrsg.), Gewaltbefragungen. Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, 2013, 211. 25
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kativen bzw. rein symbolischen Appell an die Mehrheit bzw. die politischen Institutionen beschränken. Vor dem Hintergrund von Arendts Überlegungen können wir hier eine mehrfache Verengung diagnostizieren, nämlich eine weitgehende Restriktion der Definition, der Rechtfertigung und der Rolle von zivilem Ungehorsam, die das liberale vom radikaldemokratischen Verständnis grundlegend unterscheidet. Was die Definition angeht, so hatten wir mit Arendt bereits gesehen, dass ziviler Ungehorsam in einem komplexen Verhältnis zu revolutionärem und gewaltsamem Handeln steht. Dies wird im Fall von Besetzungen, etwa von Universitätsgebäuden,27 der Blockade, etwa von Atommülltransporten, oder der Konfrontation, etwa mit Tagungsorte abriegelnden Sicherheitskräften, und anderen über das Symbolische hinausgehenden Formen des Ungehorsams bzw. der direct action besonders deutlich, zumal diese Handlungsformen dadurch nicht schon per se aus dem Bereich des Zivilen hinausfallen. Auch wenn ziviler Ungehorsam von legaler Opposition auf der einen und revolutionärem Aufstand (und anderen Formen des Widerstands) auf der anderen Seite abgegrenzt werden muss, sind die Grenzen hier vor allem in der Praxis politisch umstritten und vermutlich weniger eindeutig zu ziehen, als es die Theorie suggeriert. Aber auch in der Dimension der Rechtfertigung geht Arendt über die problematische Alternative von gewissens- oder rechtebasierten Theorien hinaus. Während ich ihre explizite Kritik der gewissensbasierten Position als anti-politisch oben bereits rekonstruiert habe, ist ihre Alternative zum Liberalismus nicht gleichermaßen explizit formuliert.28 Der liberalen Position zufolge ist ziviler Ungehorsam dann (und nur dann) legitim, wenn individuelle Rechte oder basale Verfassungsgrundsätze durch eine staatliche Institution oder eine Mehrheitsentscheidung verletzt werden, also etwa nicht bei „bloßen“ politischen Differenzen (in Gesellschaften, die noch nicht einmal als „fast gerecht“ gelten können, hält Rawls allerdings auch weitergehende Formen des Widerstands für prinzipiell legitim, über die die Leserin aber nicht mehr erfährt).29 In eine ähnliche Richtung zielt Ronald Dworkins These, dass ziviler Ungehorsam nur in „matters of principle“, nicht aber in „matters of policy“ legitim sei – im Unterschied zur Bürgerrechtsbewegung, der es um Fragen der Gerechtigkeit und der Grundrechte gegangen sei, verfolge die Anti-Atom-Bewegung einfach andere politische Prioritäten, was den Griff zum Mittel zivilen Ungehorsams aber nicht rechtfertige.30 Diese Unterscheidung, die auch für die Frage des Umgangs mit den Ungehorsamen aus Perspektive der Exekutivorgane und der Judikative relevant ist, dürfte freilich kaum so einfach zu treffen sein. Zudem drohen mit der liberalen Fokussierung auf die klassischen Grundrechte sowohl bestimmte Formen der sozioökonomischen Ungleichheit (bei Rawls gravierende Verletzungen des Differenzprinzips) als auch jene prozeduralen und institutionellen Demokratiedefizite, die Arendt im Blick hat und die die effektive Beteiligung der BürgerInnen an der Selbstgesetzgebung beeinträchtigen, als potentielle Rechtfertigungsgründe aus dem Bild zu verschwinden. Mit Arendt kommt daher eine notwendige demokratietheoretische Ergänzung des liberalen Modells in den Blick: Ziviler Ungehorsam eröffnet Möglichkeiten des Ein27
Vgl. etwa Vrousalis/Celikates/Hartle/Rossi, Why We Occupy: Dutch Universities at the Crossroads, openDemocracy, 2. März 2015, https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/nicholasvrousalis-robin-celikates-johan-hartle-enzo-rossi/why-we-occupy-dutch-un. 28 Vgl. Petherbridge, Between Thinking and Action. Arendt on Conscience and Civil Disobedience, Philosophy & Social Criticism OnlineFirst (2016). 29 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, § 57. 30 Vgl. Dworkin, Bürgerlicher Ungehorsam, in: ders., Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, 337.
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spruchs der BürgerInnen gegen Entscheidungen (oder Nicht-Entscheidungen), wenn die „normalen“ institutionellen Wege ihnen nicht offenstehen oder ihren Widerspruch nicht effektiv übertragen. Dabei können die strukturellen Demokratiedefizite repräsentativer Institutionen vielfältige Formen annehmen, die von formaler Exklusion (etwa von irregulären MigrantInnen und Flüchtlingen) über informelle Formen der Marginalisierung (aufgrund der strukturellen Ungleichverteilung von Ressourcen, Wissen, sozialen Beziehungen, die zu ungleichen Einflussmöglichkeiten führen) bis zu hegemonialen Diskursen oder Vokabularen (die bestimmte Akteursgruppen strukturell benachteiligen) reichen können und potentielle Rechtfertigungsgründe für zivilen Ungehorsam darstellen.31 Die Differenz zwischen liberalen, eher rechteorientierten Ansätzen und Arendts eher demokratieorientiertem Ansatz zeigt sich auch in der dritten Frage, die eine Theorie des zivilen Ungehorsams beantworten sollte, nämlich der nach seiner Rolle in einer demokratischen Gesellschaft. Zunächst ist freilich eine bedeutende Gemeinsamkeit zu betonen. Beide Ansätze stellen sich entschieden der noch immer verbreiteten Ansicht entgegen, dass sich die BürgerInnen in einigermaßen funktionierenden liberalen Demokratien ausschließlich auf rechtskonforme Formen der Äußerung abweichender Meinungen und der Einwirkung auf den politischen Prozess zu beschränken hätten. Während der zivile Ungehorsam aus liberaler Perspektive jedoch vor allem als Protestform individueller GrundrechtsträgerInnen gegen Regierungen und politische Mehrheiten erscheint, die konstitutionell abgesicherte moralische Prinzipien und Werte verletzen, ist er aus radikaldemokratischer Perspektive nicht primär als Beschränkung, sondern als Ausdruck der demokratischen Praxis kollektiver Selbstbestimmung zu verstehen, dessen Bedeutung als dynamisierendes Gegengewicht zu den Erstarrungstendenzen staatlicher Institutionen nicht zu unterschätzen ist.32 In dieser Perspektive ist ziviler Ungehorsam zudem nicht allein oder primär stabilisierend, wie im liberalen Modell, das ihn im Wesentlichen als Warnmechanismus konzipiert, der auf die Notwendigkeit von lokalen Korrekturen ungerechter Entscheidungen oder Einzelgesetzen hinweist, sondern wesentlich transformativ und unter Umständen sogar revolutionär.33 Transformativ ist der zivile Ungehorsam aus dieser Perspektive gerade, insofern er als „legitime Dramatisierung des Spannungsverhältnisses zwischen dem positiven Recht und den vorfindlichen demokratischen Verfahren und Institutionen einerseits sowie der Idee von Demokratie als Selbstregierung andererseits [funktioniert], die sich nicht im geltenden Recht und institutionellen Status quo erschöpft“.34
In gewisser Hinsicht müssen Arendt zufolge daher gerade diejenigen als BürgerInnen im emphatischen Sinn gelten, die zivilen Ungehorsam üben und ihre Bürgerschaft
31
Vgl. Young, Activist Challenges to Deliberative Democracy, Political Theory 29 (2001), 670. An dieser Stelle geht auch Habermas über das liberale Modell hinaus, wenn er schreibt: „Wenn die Repräsentativverfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen aller berühren, muß das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen. Der demokratische Rechtsstaat ist in letzter Instanz auf diesen Hüter der Legitimität angewiesen.“ (Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 1985, 88). 33 Vgl. auch Kalyvas, Democracy and the Politics of the Extraordinary, 2008, Kap. 9; Smith, European Journal of Political Theory 9 (2010), 149. 34 Rödel/Frankenberg/Dubiel, Die demokratische Frage, 1989, 42. 32
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damit im Konflikt mit den herrschenden Vorstellungen und Normen legalen und legitimen politischen Handelns ausüben.
III. Zivilität im Konflikt Aus einer an Arendt orientierten Perspektive ist Zivilität daher weniger eine Frage der Zurückhaltung, Höflichkeit oder Konstruktivität. Als zivil muss vielmehr der selbstbegrenzende Charakter zivilen Ungehorsams gelten, der auch angesichts dezidiert unziviler und häufig gewaltsamer Reaktionen auf Ungehorsam an dieser Selbstbegrenzung mit Blick auf die eingesetzten Mittel und angestrebten Ziele festhält.35 Zivilität ist dann weniger Ausdruck der Loyalität gegenüber der bestehenden Ordnung als die Festlegung darauf, einen Konflikt auf politische – und nicht etwa: militärische – Weise auszutragen, also so, dass er die zukünftige Möglichkeit politischen Zusammenlebens offenhält. Minimal bedeutet das den Verzicht auf organisierte und schwere physische Gewalt gegen Personen, anspruchsvoller die präfigurative Forderung, das angestrebte Ziel – also etwa eine gewaltfreie und demokratische Form des Zusammenlebens – müsse in den Mitteln und Formen des politischen Protests zum Ausdruck kommen. In beiden Formen ist Zivilität durchaus vereinbar mit Wut, Unversöhnlichkeit, Polarisierung und Zurückweisung als Einstellungen und Haltungen und auch mit Blockaden, Besetzungen und Sabotage, also über das Symbolische hinausgehenden Formen des politischen Handelns, die von manchen als gewaltsam beschrieben werden würden. Auch wenn Arendt in „Vandalismus, Gewalttätigkeiten, schlechten Launen und noch schlechteren Manieren“ (155) durchaus Bedrohungen der Zivilität zivilen Ungehorsams zu erkennen scheint, folgen dringlichere Aufgaben als deren Zurückdrängen aus ihrer Auseinandersetzung mit der Gewaltproblematik. Gemeint ist die Notwendigkeit einer Selbstreflexion auf die Mittel politischen Handelns, aus der sich der oben genannte selbstbegrenzende Charakter zivilen Ungehorsams ergibt. Schließlich erblickt Arendt, wie gesehen, im zivilen Ungehorsam einen Ausdruck von Macht im Sinne „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“.36 Diese Fähigkeit kontrastiert sie mit Gewalt, die aufgrund ihrer instrumentellen Logik immer Gefahr läuft, „daß die Vorrangstellung des Zwecks im Verlauf der Handlung verloren geht; [daß] der Zweck, der die Mittel bestimmt, die zu seiner Erreichung notwendig sind und sie daher rechtfertigt, von den Mitteln überwältigt [wird]“.37
Aus diesem Grund ist Zivilität zwar nicht auf Gewaltfreiheit im durch die liberalen Definitionsversuche intendierten restriktiven Sinn festgelegt, steht aber doch zumindest in Spannung zur destruktiven Eigendynamik, die nach Arendt allem Gewalthandeln eigen ist.
35 Vgl. Celikates, Learning From the Streets: Civil Disobedience in Theory and Practice, in: Weibel (Hrsg.), Global Activism, 2015, 65. 36 Arendt, Macht und Gewalt, 8. Aufl. 1993, 45. 37 Ibid., 45.
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Abschließend möchte ich kurz auf die Befürchtung eingehen, dass die hier im Anschluss an Arendt skizzierte radikaldemokratische Konzeption des zivilen Ungehorsams in einen problematischen Anti-Legalismus abgleitet.38 Diese Gefahr könnte man aus Arendts Diagnose einer „irrigen Vorstellung von der Leistungsfähigkeit des Rechts“ und ihrer Hinwendung zu außerinstitutionellen Formen des politischen Handelns durchaus ableiten. Arendt selbst ist jedoch weit davon entfernt, das Recht und andere Institutionen für irrelevant zu erklären.39 Sie muss auch nicht leugnen, dass die Artikulation rechtlicher Forderungen – etwa im Medium der Inanspruchnahme subjektiver Rechte – politisch transformative Effekte haben kann. Allerdings werden letztere in den meisten Fällen von der Verbindung mit außerrechtlichen Formen politischen Handelns abhängen, mit denen Druck auf institutionalisierte Formen der Rechtssetzung und anwendung ausgeübt wird. Zudem droht ein von politischem Handeln entkoppeltes Recht zur Gefahr sowohl für politisches Handeln als auch für seinen institutionellen Hintergrund und Rahmen zu werden: „When the legal system absorbs and exhausts extraordinary politics, nothing can stop impersonal, mechanical juridical processes from banishing from normal politics spontaneous action and thus freedom itself.“40
Damit würde die institutionelle Ordnung der Möglichkeit der eigenen Weiterentwicklung und Reproduktion verlustig gehen. Wie Arendt formuliert: „Es gibt ihn [den Raum des Politischen] immer und überall, wo Menschen in Freiheit, ohne Herrschaft und Knechtschaft miteinander leben, aber er verschwindet – auch wenn das institutionellorganisatorische Gerüst, das ihn einschließt, intakt bleiben sollte – sofort, wenn das Handeln aufhört, das Sichverhalten und Verwalten anfängt oder auch einfach die Initiative erlahmt, neue Anfänge in die Prozesse zu werfen, die durch das Handeln entstanden sind.“41
Ebenso ist es sicher richtig zu behaupten, dass in einer pluralistischen Gesellschaft Gewissensentscheidungen aufgrund der ihnen eigenen Subjektivität in ihrer Substanz immer umstritten bleiben werden. Aber Ähnliches gilt auch für das Recht, das nur in einer von tatsächlichen Konflikten abstrahierenden und idealisierenden Sichtweise ein von allen geteiltes normatives Vokabular bereitzustellen vermag, in dem sich die entsprechenden Forderungen auf unumstrittene Weise artikulieren lassen. Arendts Konzeption des zivilen Ungehorsams ist weit davon entfernt, dem Recht seine Bedeutung abzusprechen – es trägt gerade wesentlich zu jener Hintergrundstabilität bei, die eine Voraussetzung politischen Handelns ist. Aber das heißt nicht, dass sich politisches Handeln auf Handeln innerhalb der Koordinaten des Rechts reduzieren ließe oder dass es sinnvoll ist, zivilen Ungehorsam in die Alternative „wesentlich umstrittene Politik“ vs. „unumstrittenes Recht“ zu zwingen.
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Vgl. Scheuerman, Recent Theories of Civil Disobedience: An Anti-Legal Turn?, Journal of Political Philosophy 23 (2015) 4, 427. 39 Vgl. wiederum Kalyvas, Democracy and the Politics of the Extraordinary, 2008, Kap. 9; Volk, Politische Vierteljahresschrift 54 (2013) 1, 75. 40 Kalyvas, Democracy and the Politics of the Extraordinary, 2008, 259. 41 Arendt, Freiheit und Politik (1959), in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2. Aufl. 2000, 225.
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Wie ich in diesem Beitrag zu zeigen versucht habe, kommt das Spezifische an Arendts Begriff des zivilen Ungehorsams – sein politischer und radikaldemokratischer Charakter – erst dann in den Blick, wenn diese Praxis sowohl vom ethischen Fokus auf das individuelle Gewissen (Thoreau) als auch vom liberalen Fokus auf individuelle Rechte (Rawls) unterschieden wird. Arendt selbst bringt diese doppelte Abgrenzung – ergänzt man ihren Bezug auf JuristInnen mit auf das Recht orientierten PhilosophInnen – auf noch immer gültige Weise zum Ausdruck, wenn sie schreibt: „Meines Erachtens liegt der größte Fehler der gegenwärtigen Diskussion in der Annahme, wir hätten es mit Einzelpersonen zu tun, die sich subjektiv und aufgrund ihres Gewissens gegen die Gesetze und Bräuche des Gemeinwesens stellen – eine Annahme, die von Verteidigern wie Kritikern des zivilen Ungehorsams geteilt wird. [...] In dieser Hinsicht ist es vielleicht ungünstig gewesen, daß die Debatten in letzter Zeit bei uns größtenteils von Juristen beherrscht werden – von Rechtsanwälten, Richtern und anderen Männern des Gesetzes –, denn diesen muß es besonders schwerfallen, den Gehorsamsverweigerer als Mitglied einer Gruppe anzuerkennen, anstatt in ihm einen einzelnen Rechtsbrecher, also einen potentiellen Angeklagten im Gerichtssaal zu sehen.“ (156) Robin Celikates, Universiteit van Amsterdam, E-Mail:
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