Die Diagnose der spirituellen Krise Zwei wichtige und häufig gestellte Fragen sind die, wie man eine spirituelle Krise diagnostizieren kann, und wie es möglich ist, zwischen transformati¬ven Krisen, spiritueller Entwicklung und Geisteskrankheit zu unterscheiden. Um diese Fragen ernsthaft stellen zu können, müssen die Fachleute die Tatsache akzeptieren, daß Spiritualität eine legitime Dimension der Existenz ist und ihr Erwachen und ihre Entwicklung erwünscht sind. Die Unterscheidungskriterien für spirituelle Entwicklung und spirituelle Krisen finden sich in Tabelle 1 auf Seite 59. Da es zwischen diesen beiden Zuständen keine scharfen Grenzen gibt, müssen diese Kriterien einfach als nützliche Richtlinien betrachtet werden. Das erste wichtige Kriterium ist die Intensität und Tiefe des Prozesses, die Art, in der er fließt, und das Ausmaß, in dem der Betreffende den Alltag meistern kann. Ebenso wichtig ist die Einstellung zu dem, was geschieht — ob der Prozeß als aufregend und wertvoll oder als erschreckend und überwältigend erlebt wird. Und schließlich ist auch die Fähigkeit, die Begegnung mit dem Rest der Gesellschaft aufrecht erhalten zu können, von großer Bedeutung. Wie gut man differenzieren kann, mit welchen Leuten man über die Erfahrungen sprechen will, und welche Sprache man dabei benutzt, kann für die Frage, ob man in eine Klinik eingewiesen werden wird, bestimmend sein. Wenn die Entscheidung getroffen wurde, daß jemand die Grenzen einer spirituellen Entwicklung überschritten hat und vor einer Krise steht, folgen als nächstes die diagnostischen Überlegungen. Die wesentlichen Kriterien zur Unterscheidung zwischen spirituellen Krisen, streng medizinischen Krankheiten und sogenannten Geisteskrankheiten haben wir wieder in Form einer Tabelle zusammengestellt (Tabelle 2 auf Seite 362 f.). Die erste diagnostische Aufgabe ist die, alle durch klinische und Labortech¬niken feststellbaren medizinischen Zustände zu entdecken, die für die wahrnehmenden, emotionalen und anderen auftretenden Manifestationen verantwortlich sein könnten — etwa Enzephalitis, Meningitis oder andere Infektionskrankheiten, Gehirn-Arteriosklerose, Schläfentumore, Urämie und andere, von denen man weiß, daß sie das Bewußtsein verändern können.
Die psychologischen Symptome dieser organischen Psychosen lassen sich durch psychiatrische Untersuchungen und psychologische Tests deutlich von funktionalen Psychosen unterscheiden. Die Kriterien dafür finden sich in der ersten Spalte der Tabelle 2. Wenn die angemessenen Untersuchungen und Tests die Möglichkeit ausgeschlossen haben, daß das Problem organischer Natur ist, muß als nächstes herausgefunden werden, ob der Klient in die Kategorie der spirituellen Krisen fällt — das heißt seinen Zustand von funktionalen Psychosen zu unterscheiden. Es gibt keine Möglichkeit, absolut klare Kriterien für die Unterscheidung zwischen spirituellen Krisen und Psychose oder Geisteskrankheit aufzustellen, da es diesen Begriffen selbst an objektiver wissen-schaftlicher Validität mangelt. Man darf Kategorisierungen dieser Art nicht mit so präzise definierten Erscheinungen wie Diabetes mellitus oder perniziöser Anämie vergleichen. Funktionale Psychosen sind streng genommen keine Krankheit, und sie können nicht so genau identifiziert werden, wie es in der Medizin zur Erstellung einer differenzierten Diagnose nötig ist. Die Aufgabe, zu unterscheiden, ob wir es in einem bestimmten Fall mit einer spirituellen Krise zu tun haben, bedeutet praktisch, daß wir einschätzen müssen, ob der Klient von den in diesem Buch beschriebenen Strategien profitieren könnte oder ob er auf traditionelle Weise behandelt werden sollte. Die Kriterien für eine Entscheidung dieser Art sind in der zweiten Spalte von Tabelle 2 zusammengefaßt. Der Inhalt einer typischen spirituellen Krise ist eine Kombination von transpersonalen, perinatalen und biographischen Erfahrungen. Er weist einen gewissen Grad von Kohärenz auf und dreht sich wahrscheinlich um eines der im vierten Kapitel beschriebenen Themen oder eine Kombination von diesen. Zu den günstigen Zeichen gehören eine Biographie mit angemessener psychischer, sexueller und sozialer Angepaßtheit vor der Episode, die Fähigkeit, in Betracht zu ziehen, daß der Prozeß der eigenen Psyche entstammen könnte, ausreichend Vertrauen, um zu kooperieren, und die Bereitschaft, die Grundregeln der Behandlung anzuerkennen. Dagegen können eine lange Geschichte von ernsthaften psychologischen Schwierigkeiten und geringer sexueller und sozialer Anpassung im allgemeinen Vorsicht gebieten. Außerdem zeigen inhaltlich verwirrte und schlecht geordnete Erfahrungen, das Auftreten der Bleulerschen Primärsymptome von Schizophrenie, eine Häufung von manischen Elementen, der systematische Einsatz von Projektion und das Vorkommen von verfolgenden Stimmen und Einbildungen an, daß traditionelle Ansätze vorzuziehen sein könnten. Weitere negative Indikatoren sind starke destruktive und selbstzerstörerische Tendenzen und Verletzungen der Grundregeln der Behandlung. Bei den Klienten, die in die Kategorie der spirituellen Krise passen, macht
der Versuch, traditionelle psychiatrische Etikettierungen zu verwenden, sehr wenig Sinn. Da jedoch Ärzte mit traditioneller Ausbildung gewohnt sind, in solchen Begriffen zu denken und oft auch im Kontext des etablierten medizinischen Systems arbeiten müssen, werden wir hier kurz auf die Etikettierungen eingehen. Die Möglichkeiten, die die offiziellen diagnostischen Untersuchungsmethoden den Fachleuten zur Beschreibung von Menschen anbieten, die eine spirituelle Krise durchleben, sind eindeutig unbefriedigend. Sie gelten im großen und ganzen für schizophrene, manisch-depressive und paranoide Reaktionen. Eine sorgfältige Analyse der Manifestationen der wesentlichen Arten von spirituellen Krisen zeigt, daß sie in keine der offiziellen Kategorien passen. Da die traditionelle Psychiatrie keine Unterscheidung zwischen psychotischen Reaktionen und mystischen Zuständen macht, erhalten nicht nur die Krisen der spirituellen Öffnung, sondern auch unkomplizierte transpersonale Erfahrungen oft ein pathologisches Etikett. Diese Situation ist zu Recht von transpersonal orientierten Therapeuten und Forschem kritisiert worden. Der deutlichste und schärfste Kritiker der derzeitigen diagnostischen Praktiken auf diesem Gebiet ist David Lukoff, ein Psychiater an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Er hat die Notwendigkeit betont, zwischen mystischen Zuständen und psychotischen Reaktionen zu unterscheiden. Er meint, die Psychiatrie sollte zwei zusätzliche Kategorien für die Fälle haben, in denen das Mystische und das Psychotische einander überschneiden: mystische Zustände mit psychotischen Zügen und psychotische Zustände mit mystischen Qualitäten. Unter den gegenwärtigen Umständen verdunkelt die Verwendung von diagnostischen Etikettierungen die Fragen und behindert das heilende Potential des Prozesses. Zusätzlich zu den sozial stigmatisierenden und psychisch schädigenden Auswirkungen schafft dies zu Unrecht den Eindruck, die Störung sei eine präzise identifizierte Krankheit, und dient der Rechtfertigung von unterdrückender Medikation als einer wissenschaftlich ange-zeigten Behandlung.
Tabelle 2: Unterscheidung zwischen spiritueller Entwicklung und psychiatrischen Störungen
Charakteristika des Prozesses, die auf die Notwendigkeit eines medizinischen Herangehens an das Problem hinweisen
Charakteristika des Prozesses, die nahelegen, daß Strategien für spirituelle Entwicklung funktionieren könnten
Medizinische Kriterien Klinische Untersuchungen und Labortests decken eine physische Krankheit auf, die psychische Veränderungen bewirkt
Negative Ergebnisse von klinischen Untersuchungen und Labortests für eine physische Krankheit
Klinische Untersuchungen und Labortests decken einen Krankheitsprozeß im Gehirn auf, der psychologische Veränderungen bewirkt (neurologische Reflexe, Rückenmarksflüssigkeit, Röntgen usw.)
Negative Ergebnisse bei den klinischen Untersuchungen und Labortests für einen pathologischen Prozeß, der das Gehirn beeinflußt
Spezifische psychologische Tests weisen auf eine organische Schädigung des Gehirns hin
Negative Ergebnisse bei den psychologischen Tests für organische Schädigungen
Schädigung von Intellekt und Gedächtnis, umnebeltes Bewußtsein, Probleme mit der grundlegenden Orientierung (Name, Zeit, Ort), schlechte Koordination
Intellekt und Gedächtnis qualitativ verändert, aber intakt, Bewußtsein meist klar, gute grundlegende Orientierung, Koordination nicht ernsthaft gestört
Verwirrung, Desorganisation und gestörte intellektuelle Funktionen behindern die Kommunikation und Kooperation
Fähigkeit zu kommunizieren und zu kooperieren (gelegentlich könnte tiefes Involviertsein in den inneren Prozeß ein Problem sein)
Psychologische Kriterien Die persönliche Geschichte weist seit der Kindheit ernsthafte Schwierigkeiten mitzwischenmenschlichen Beziehungen auf; Unfähigkeit, Freundschaften zu schließen und intime sexuelle Beziehungen zu haben; schlechte soziale Anpassung, meist eine lange Vorgeschichte von psychiatrischen Problemen
Angemessene Funktionsweisen vor der Episode, die durch zwischenmenschli che Fertigkeiten belegt sind; einiger Erfolg in Schule und Beruf; Netzwerk von Freunden und die Fähigkeit zu sexuellen Beziehungen; keine ernsthafte psychiatrische Vorgeschichte -
Schlecht organisierter und definierter Prozeßinhalt; unqualifizierte Veränderungen von Emotionen und Verhalten, unspezifische Desorganisation der psychischen Funktionen; Mangel an jedweder Bedeutung; kein Hinweis auf Entwicklungsrichtung; Entgleiten der Assoziationen; Inkohärenz
Sequenzen von biographischen Erinnerungen; Themen von Geburt und Tod; transpersonale Erfahrungen; möglicherweise die Einsicht, daß der Prozeß heilender oder spiritueller Natur ist; Wechsel und Entwicklung von Themen, oft bestimmbares Fortschreiten; Vorfälle von echter Synchronizität (für andere offensichtlich)
Autistischer Rückzug, Aggressivität oder kontrollierendes und manipulatives Verhalten behindert eine gute Arbeitsbeziehung und macht die Kooperation unmöglich
Die Fähigkeit, auch während Episoden mit dramatischen Erfahrungen, die spontan oder im Laufe der therapeutischen Arbeit auftreten, in Verbindung zu stehen und zu kooperieren
Die Unfähigkeit, den Prozeß als innerpsychische Angelegenheit zu sehen; Verwechslung von inneren Erfahrungen und Außenwelt, extensive Projektion und Schuldzuweisungen; »Ausagieren«
Bewußtheit der innerpsychischen Natur des Prozesses; ausreichende Fähigkeit, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden, sich den Prozeß zu eigen zu machen; Fähigkeit, ihn internalisiert zu halten
Grundlegendes Mißtrauen; die Welt und alle Menschen werden als feindlich empfunden; Verfolgungswahn; akustische Halluzinationen von Feinden (»Stimmen«) mit sehr unerfreulichem Inhalt
Ausreichend Vertrauen, um Hilfe anzunehmen und zu kooperieren; kein Verfolgungswahn oder »Stimmen«
Durchbrechen der Grundregeln der Therapie (sich selbst und andere nicht zu verletzen, die Einrichtung nicht zu zerstören); destruktive und selbstzerstörerische (suizidale oder selbstverstümmelnde) Impulse und eine Tendenz, sie ohne Vorwarnung auszuleben
Die Fähigkeit, die Grundregeln der Therapie zu respektieren; keine destruktiven oder selbstzerstörerischen Gedanken und Tendenzen oder aber die Fähigkeit, über sie zu sprechen und Vorsichtsmaßnahmen zu akzeptieren.
Das Verhalten gefährdet die Gesundheit und gibt Anlaß zu ernsthaften Sorgen (Weigerung, über längere Zeiträume hinweg zu essen oder zu trinken, Vernachlässigung der grundlegenden hygienischen Bedürfnisse)
Gute Kooperation in Belangen der physischen Gesundheit, der grundlegenden Versorgung und der Hygieneregeln
Tabelle 1: Unterschiede zwischen spiritueller Entwicklung und spirituellen Krisen Entwicklung
Krise
Die inneren Erfahrungen sind fließend, sanft, leicht zu integrieren.
Innere Erfahrungen sind dynamisch, erschütternd, schwer zu integrieren.
Neue spirituelle Einsichten sind willkommen, erwünscht, erweiternd.
Neue spirituelle Einsichten können philosophisch herausfordernd und bedrohlich sein.
Allmähliches Eindringen von Vorstellungen und Einsichten ins Leben.
Überwältigendes Einströmen von Erfahrungen und Einsichten.
Die Erfahrungen von Energie sind verhalten und gut zu handhaben.
Erfahrungen von starken Zuckungen, Zittern, die Energie stört das tägliche Leben.
Leichte Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen inneren und äußeren Erfahrungen und Übergang von einem zum anderen.
Es fällt manchmal schwer, zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu unterscheiden; oder beide treten zugleich auf.
Außergewöhnliche Bewußtseinszustände sind leicht ins tägliche Leben zu integrieren.
Die inneren Erfahrungen stören und unterbrechen das tägliche Leben.
Langsame, allmähliche Veränderung in der Bewußtheit von einem selbst und der Welt.
Abrupte, schnelle Veränderung in der Wahrnehmung von einem selbst und der Welt.
Freude über innere Erfahrungen, wenn sie kommen. Bereitschaft und Fähigkeit, mit ihnen zu kooperieren.
Ambivalenz gegenüber inneren Erfahrungen, aber Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation, wenn es Unterstützung gibt.
Akzeptierende Haltung gegenüber Veränderung.
Widerstand
Es fällt leicht, Kontrolle aufzugeben.
Notwendigkeit, Kontrolle zu behalten.
Vertrauen in den Prozeß.
Ablehnung, Mißtrauen gegenüber dem Prozeß. Schwierige Erfahrungen sind überwältigend, oft unwillkommen.
Schwierige Erfahrungen werden als Möglichkeiten für Veränderung behandelt. Positive Erfahrungen werden als Geschenk angenommen.
gegen
Veränderung.
Positive Erfahrungen sind schwer zu akzeptieren, scheinen unverdient, können schmerzhaft sein.
Selten das Bedürfnis, über Erfahrungen zu reden.
Häufiger Drang, über die Erfahrungen zu sprechen.
Genaue Unterscheidung, wann, wie, mit wem man über den Prozeß spricht.
Unterschiedslose Kommunikation über den Prozeß (wann, wie, mit wem).