Inhalt
1 Siegfried Kracauer: Soziologe, Architekt und Alltagsbeobachter..........................................2 1.1 Oberfläche und Materie: Traumdeutung des Städtealltags.............................................3 1.2 Entfremdung und Raum: Schrecken der Leere.................................................................5 2. Die Stadt in Kracauers Werk.......................................................................................................7 2.1 Raum der Massenkultur: würdige Versammlungsorte....................................................7 2.2 Stadt als Verkehrsraum: undurchschaubarer Schnittmusterbogen..............................10 2.3 Stadt als Angstraum............................................................................................................12 3. Die Wahrnehmung der Außenseiter........................................................................................13 4. Der Blick des Außenseiters: räumliche Vermittlung und entlarvte Entfremdung...........16 Literatur............................................................................................................................................17
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„Ein höchst verworrenes Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir gemieden wurde, ward mir mit einem Schlage übersichtlich, als eines Tages ein geliebter Mensch dort einzog. (Benjamin/Kracauer, „Kleine Illumination“, 1987, 93)
1. Siegfried Kracauer: Soziologe, Architekt und Alltagsbeobachter Wenn man sich mit Kracauers Schriften, insbesondere mit seinen Feuilletons aus der Berliner Zeit zwischen 1930 und 1933 veröffentlicht in der Frankfurter Zeitung, auseinandersetzt, wird man zweifelsohne bemerken, dass hier ein Flaneur schreibt, einer jener Müßiggänger, dem das ziellose Umherstreifen im Straßendickicht der Metropolen der Moderne erfüllender Selbstzweck ist. Und wenn man sich jenen Müßiggänger als teilnahmslosen, die Zerstreuung suchenden, wohlsituierten Herrn mit Spazierstock vorstellt, dem die Metropole gleichgültiger Hintergrund ist wie etwa eine Insel im Neckar, eine Landschaft im Mondlicht oder schneebedeckte Berggipfel, der könnte weiter daneben kaum liegen. Denn Siegfried Kracauer ist ein unerbittlicher, seine Umwelt in sich aufnehmender und schwer an der Last des Wahrgenommenen tragender Kritiker seiner Zeit. Er ist Soziologe, eng befreundet mit Walter Benjamin und Theodor Adorno, und ausgestattet mit glasklaren Vorstellungen von den Vorgängen hinter der Fassade der modernen Bürgerlichkeit. Er ist zugleich Architekt im erlernten Beruf, was ihn gelehrt hat, die Fassade als das zu deuten, was sich wegen der Substanz, die es schmückt, eben genauso zeigt wie es sich zeigt, gelehrt den Zusammenhang von Oberfläche und Materialität zu erschließen1. Und das gilt nicht nur für die Stadt als topographische Einheit, das gilt ebenso für die sozialen Räume der modernen Gesellschaft am Vorabend des Faschismus, inmitten der bis dahin verheerendsten Wirtschaftskrise. Den Film – Kracauer war auch Filmkritiker – als Ausdruck allerlei gesellschaftlicher Realitäten ernst zu nehmen, im Kitsch, in den alltäglichsten Verrichtungen 1 Vgl. Koch 1996, 44. Später in dieser Arbeit wird die Bewegung zwischen Oberfläche und Materialität genauer zu fassen sein.
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der Menschen die Bedingungen des modernen Lebens zu entdecken (vgl. Frisby 1985, 110), das macht ihn zum Vorläufer, wenn nicht gar zu einem Modell der sich nach dem Konkreten sehnenden Wissenschaftsschulen der jüngsten Zeit.2 Bezeichnend, dass Gertrud Koch gerade eine solche Sehnsucht auch dem damaligen Geist der Wissenschaften unterstellt. Trotzdem steht Kracauer mit seiner Methode der theoretisch fundierten Alltagsminiaturen im wissenschaftlichen Betrieb am Rande. Nicht dass er diese Beobachtungen und Analysen vornehmen würde als einer, der inmitten des Trubels seiner Zeit und aus voller Anteilnahme heraus zu berichten wüsste, was er gemeinsam mit den ihn Umgebenden durchlebt. Nein, Walter Benjamin schreibt es hin: „Soviel steht immerhin fest: daß dieser Mann nicht mehr mitspielt. Daß er es ablehnt, für den Karneval, den die Mitwelt aufführt, sich zu maskieren – sogar den Doktorhut des Soziologen hat er zu Hause gelassen –, und daß er sich grobianisch durch die Masse hindurchrempelt, um hie und da einem besonders Kessen die Maske zu lüften.“ (Benjamin 1987, 107)
Hier soll die Frage nach einem hervorstechenden Aspekt des Schriftstellers im Vordergrund stehen: Kracauers Position des Außenseiters (vgl. Frisby 1985, 112). Wenn Gertrud Koch feststellt, dass Kracauers Motiv die Oberfläche als Mitteilungssystem ist, als „neue[r], soziale[r] Text, an dem viele schreiben und den wenige lesen“ (Koch 1996, 14), und dass Kracauers Methode, in keinem naiven Sinne, die heuristischen Verfahren der Diagnostik, man könnte sagen die Hermeneutik des Flanierens, darstellt, dann muss sich aus der bewussten Verweigerung des „Karnevals“ eine besondere Beobachtungsposition ergeben. Diese und die sich daraus ergebende Perspektive auf die Außenseiter im Stadtraum näher zu ergründen, soll das Vorhaben dieser Arbeit sein. Im Vordergrund stehen dabei die Methode Kracauers, der die Gesellschaft seiner Zeit an Hand von Alltagsbeobachtungen beschreibt, und insbesondere sein Fokus auf die räumliche Dimension von Gesellschaft in den Großstädten Berlin und Paris.
2 Genannt seien hier beispielhaft die britischen Cultural Studies, der Materialismus des französischen Philosophen Bruno Latour und der ihm nahe stehenden Science Studies oder dem wieder stärkeren Interesse an ethnologischen Methoden in der deutschen Soziologie allgemein.
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1.1. Oberfläche und Materie: Traumdeutung des Städtealltags Kracauer beschreibt Gesellschaft über ihre profaneren Äußerungen und nicht in erster Linie über die Urteile, die sich Zeitgenossen über ihre Umgebung bilden. Ein Verweis auf Freuds Psychologie liegt nahe: was an der Oberfläche, im Alltag auftaucht, bildet nur den Verweis auf eine tiefer liegende Bedeutung. In „Aus dem Fenster gesehen“ heißt es: „Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft“, (Kracauer 1964, 53). Und Gertrud Koch stellt fest: „Das Unbewußte ist der Königsweg zur Selbsterkenntnis einer Gesellschaft, die Oberfläche ist der Traum, den sie von sich selber träumt und der sie deutbar macht. Somit erhellt der Traum den Träumer. In ihren Ornamenten träumt sich die Masse.“ (Koch 1996, 42)
Vermutlich wird Kracauer mit dem methodologischen Individualismus hier ein wenig Unrecht getan. Denn gerade durch seine induktive Beschreibung der mannigfaltigen Individualität ergibt sich ein Bild einer Gesellschaft, die für den Anhänger eines transzendentalen Erkenntnissubjekts, der Husserlschen Phänomenologie und vor allem eines materialsozialen Empirismus (vgl. Koch 1996, 23ff. sowie Frisby 1985, 121) anderen Gesetzmäßigkeiten folgen muss, als die Psychologie sie zur Erklärung von individuellem Handeln bereithält. „[...] es zeigt sich etwa, daß das Leben mit dem Nächsten, daß überhaupt die wirkliche Welt in ihrer ganzen Breite mannigfachen Gesetzlichkeiten unterliegt, die weder theoretisch-begrifflich ausmeßbar, noch lediglich die Frucht subjektiver Willkür sind [...].“ (Die Wartenden, Kracauer 1963, 118)
Gesellschaft kann nicht formalistisch aus dem isolierten Subjekt heraus erklärt und verstanden werden, sondern muss über den kollektiv geschriebenen Text erschlossen werden. Diese durchaus materiale Sphäre beheimate denn auch die Notwendigkeit des Sinns (vgl. Kracauer 2006a, 97f.). Allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten zu ergründen und ein für allemal festzuhalten, könnte zwar kaum weniger der Anspruch Kracauers sein. Vielmehr hält er diese nur für begrenzt wahrheitsfähig. „Gleichsam von einzelnen (beliebig herausgegriffenen) Punkten der Mannigfaltigkeit ausschwär-
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mend gelangt [das empirisch-soziologische Verfahren] auch immer nur zu einzelnen Punkten hin, niemals dehnt es sich über die Realität ihrem ganzen Umfang nach aus.“ (Kracauer 2006a, 100f.)
Bezogen auf den Umfang trifft die Analogie zum Unterbewussten jedoch zu. Die Stadt und ihr Alltag verweisen auf all das ungewusste Wissen der Masse über sich selbst wie das Unterbewusstsein im Traum des Einzelnen ebenfalls nur anzudeuten vermag, was er über sich niemals in Gänze wissen kann (vgl. Stalder 1996, 132).
1.2. Entfremdung und Raum: Schrecken der Leere Die Entzweiung des Menschen von der Natur, die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, der Bedeutungsverlust der Religion und die daraus resultierende „sinnentleerte Realität“: Entfremdung – das ist Kracauers umfassende Diagnose der Zeit und vieler seiner Zeitgenossen. Die Sinn stiftende Einheit von individueller Existenz und Welt kann in dieser Epoche nicht mehr verwirklicht werden. Nach Frisbys (1985) Analyse des Epochenbegriffs in Kracauers Werk bleiben dem Individuum lediglich Fragmente einer zertrümmerten Welt. Entfremdung enthält durch die moderne Stadt wesentlich eine räumliche Dimension, die sich in der Analyse der Perspektive Kracauers schnell als allgegenwärtig erweist. Vidler (1996) beschreibt, rekurrierend unter anderem auf Simmel, die psychischen Leiden der Großstädter als Effekt des raschen Wechsels zwischen zu starker Identifikation mit den Dingen und zu großer Distanz zu ihnen. Entfremdung manifestiere sich in der „unsichtbaren, funktionellen Distanz“ (Simmel 1907, zit. n. Vilder 1996, 99) zwischen den Menschen als Antwort auf die gedrängte räumliche und zeitliche Dichte des großstädtischen Alltags. Die Funktion des Raumes liege jedoch nicht nur in der Bedingung der Dichte menschlicher Interaktionen, sondern ließe zugleich auf die sozialen Prozesse schließen, deren Symbol und Indikator er sei (Vilders 1996, 96). Der Raum an sich zeige sich nur als Oberfläche, die vielfach verknüpft ist mit tiefer liegenden gesellschaftlichen Strukturen. Kracauer nimmt die Hotelhalle zum Symbol des „unerfüllten Raumes“ (Kracauer 2006b, 134) – „unerfüllt“ im Gegensatz zum erfüllten Raum in den Verhältnissen zwischen den
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Individuen einer echten, nicht bloß zufälligen und räumlich definierten Gemeinschaft. In Kontrastierung zum Gotteshaus als „Sphärenbestimmung“ des erfüllten Raumes schreibt er: „Die Gleichheit [der im Gotteshaus Versammelten] ist positiv und wesenhaft, nicht Abstrich und Vordergrund, sie ist die Erfüllung des Unterschiedenen, das auf sein unabhängiges Eigensein verzichten muß, damit das Eigenste gerettet werde. […] Statt auf das Gottesverhältnis gründet sich in der Hotelhalle die Gleichheit auf das Verhältnis zum Nichts. […] Es ist die formale Übereinstimmung der Figuren, die in der Hotelhalle sich darstellt, eine Gleichheit, die Entleerung, nicht Erfüllung bedeutet.“ (Kracauer 2006b, 133f.)
Entfremdung wird hier in ihrer räumlichen Dimension beschrieben. Sie ist der entleerte, bedeutungslose soziale Raum zwischen den Individuen, die doch materiell-räumlich aufs Engste gedrängt, in großer Nähe auf der Oberfläche nebeneinander leben. Unter den Räumen der Moderne bilden die Straßen der Metropolen am häufigsten den Hintergrund und nicht selten die zum Leben erweckte Hauptsache für Kracauers Beschreibungen des Lebens in ihnen. Einmal im „Straßenrausch“ nimmt er das vermeintliche Eigenleben der baulichen Substanz der Städte wahr: Straßen mit eigener Geschichte, Gebäude, die morgens aufstehen und abends schlafen gehen (Erinnerung an eine Pariser Straße), Straßen, die selber schreien (Schreie auf der Straße), sterbende Passagen (Abschied von der Lindenpassage), beschäftigungslos herum lungernde Häuser (Straßen ohne Erinnerung, alle in Kracauer 1964). In Straßen ohne Erinnerung wird der Kurfürstendamm zur „Verkörperung der leer hinfließenden Zeit, in der nichts zu dauern vermag.“ Die Geschäfte, Lädchen, Teestuben, Amüsierbetriebe und Cafés würden verdrängt ohne Spuren zu hinterlassen. „Man hat vielen Häusern die Ornamente abgeschlagen, die eine Art Brücke zum Gestern bildeten. Jetzt stehen die beraubten Fassaden ohne Halt in der Zeit und sind das Sinnbild des geschichtslosen Wandels, der sich hinter ihnen vollzieht.“ (Ebd., 23)
Als Verkörperung ist der Straßenzug nicht lediglich Metapher oder Symbol. Er ist konkrete Materie, in der eine bestimmte soziale Konstitution zum Ausdruck kommt, für die sie zugleich räumliche Bedingung wird. Beiküfner fasst Kracauer Methode so: 6
„[...] [D]ie Straße [verkörpert] den empirischen Gehalt einer radikalen Verräumlichung des Daseins, für die Innerlichkeit und Erfahrung nur zwei Aspekte eines selben Verlustes sind, nämlich jenes der Einheit von Mensch und Welt. Das Aufsuchen von empirischen Erscheinungsweisen des Raumes gewinnt für Kracauers Schaffen gleichsam programmatisches Gewicht. Dabei ist zu beachten, dass Kracauers Hinwendung zum 'Materiellen und Äußerlichen' stets mit einer Reflexionsbewegung verbunden war, die ausgehend von den sichtbaren (räumlichen) Gegebenheiten die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit intendierte.“ (Beiküfner 2003, 115)
Der durch Geschichts- und Bedeutungslosigkeit von der menschlichen Natur entfremdete, leere soziale Zwischenraum wirkt, so will ich hier Kracauers Perspektive fassen, durch die kollektiv und großenteils ungeplant geformten materiellen Fundamente der Städte und ihrer Räume hindurch auf den Einzelnen, auch und gerade auf den Flaneur, der sich dem Straßenrausch hingibt (vgl. Frisby 1990, 53 sowie Vilders 1996, 86ff.).
2. Die Stadt in Kracauers Werk Für die Gesellschaftstheorie des Architekten Kracauer spielt die Stadt die zentrale Rolle. Sie ist der Raum, in dem sich das Leben der Angestellten, jener zu seiner Zeit gerade neu entstandenen Schicht, abspielt. Sie bietet die Bühne für die Menschen der Moderne; in ihr manifestieren sich die sozialen Zustände als räumliche Bedingungen. Hier sollen nun zwei Aspekte der Stadt beschrieben werden, die in Kracauers Werk als materielle Bedingungen des Lebens in ihr regelmäßig wieder kehren: Stadt als Raum der Massenkultur sowie Stadt als Verkehrsraum. Die Stadt als mit Angst behafteter, psychologisch wirksamer Wahrnehmungsraum, ebenfalls immer wiederkehrend, soll dann im Anschluss beschrieben werden. Obwohl hier schon auf die wechselseitige Bedingtheit von Subjektivität und räumlich-materieller Welt hingewiesen wurde, werden die Betrachtungen der ersten beiden Aspekte sich eher auf den Raum als materielle Voraussetzung beziehen, während der dritte Aspekt sich auf die durch den Raum bedingte Wahrnehmung durch den Einzelnen bezieht. Damit wird beabsichtigt, die Wechselseitigkeit deutlicher hervortreten zu lassen.
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2.1. Raum der Massenkultur: würdige Versammlungsorte Gertrud Koch und der oben eingeführten Beziehung zwischen Oberfläche und Materie folgend kann Kracauers Verhältnis zur populären, zur Massenkultur ambivalent gefasst werden. Einerseits sind die kulturkritischen Untertöne nur zu deutlich. Eskapismus und Zerstreuung trösten seine Zeitgenossen über die Entfremdung, den entleerten sozialen Zwischenraum hinweg. Das formal-gemeinsame Vergnügen rettet den Einzelnen vor der Einsamkeit. Auf der anderen Seite äußern sich in den Stätten der Massenkultur eben auch jene sozialen Bedingungen, die dem Handeln der Städter zu Grunde liegen. In Kochs Worten geht es Kracauer um die Kritik der seichten „Flucht vor der eigenen Vergänglichkeit“ und zugleich darum, „die Oberfläche selbst als Spielfläche des Ernstes zu bestimmen“ (Koch 1996, 61). Diese Spannung erwächst aus Kracauers „schmerzlicher Erfahrung des Außenseiters“ (Frisby 1985, 112), der sich dem Spiel verweigert, gleichwohl aber am Ernst interessiert ist. Der kulturkritische Ton klingt deutlich aus den Beschreibungen des Vergnügungsparks Lunapark heraus. Inmitten der Stadt gelegen bietet der Park die Illusion der Stadt zu entrinnen. „[Die Menge] ist für kurze Zeit aus dem organisierten Alltag ausgebrochen, mitten hinein ins Glück, das für sie nach rationellen Plänen organisiert worden ist. Die Illusion ist alles.“ (Organisiertes Glück, Kracauer 1996a, 235)
In Berg- und Talbahn (Kracauer 1964, 44ff.), in dem Kracauer eine Achterbahn in jenem Park zum Gegenstande der Beschreibung nimmt, sieht er gar einen kathartischen Effekt im emotionalen Erleben, in den Schreien der Mitfahrenden, die sich vor einer gemalten Stadtkulisse über die Stadt erheben und sie „bezwingen“. Vielleicht taugt dies zur Metapher für die Zersteuungssucht in der tatsächlichen Stadt. Die Anspannung der Massen während der Arbeit im Betrieb fülle zwar den Tag, fülle ihn jedoch nicht aus. Dies werde kompensiert mit einer für die massenhafte Bevölkerung gleichermaßen rationell organisierten Zerstreuung, die ihr das Gefühl der Leere kurzfristig nimmt. 8
In Kult der Zerstreuung (Kracauer 1964, 311ff.) legt Kracauer seinen Standpunkt differenziert dar. Er räumt dem „Oberflächenglanz der Stars, der Filme, der Revuen, der Ausstattungstücke“ hier insbesondere in den großen Berliner Lichtspielhäuser, eine entscheidende Bedeutung ein: die Wirklichkeit des Berliner Publikums könne hier offenbar werden. Genau wie die Masse sich im Verkehrsraum notwendigerweise begegnete und ihrer Heterogenität bewusst werde, so könne sie sich im massenhaften Vergnügen ihres eigenen Zerfalls bewusst werden, wenn nicht die Vorführungen in den Lichtspielhäusern einen vereinheitlichenden Rahmen herstellen würden. „Denn, rufen sie auch zur Zerstreuung auf, so rauben sie ihr doch sogleich wieder dadurch den Sinn, daß sie die Mannigfaltigkeit der Effekte, die ihrem Wesen nach voneinander isoliert zu werden verlangen, zur 'künstlerischen' Einheit zusammenschweißen, die bunte Reihe der Äußerlichkeiten in ein gestalthaftes Ganzes pressen möchte. Der architektonische Rahmen schon neigt zur Betonung der Würde, die den oberen Kunstinstituten eignete.“ (Kult der Zerstreuung, Kracauer 1963, 315)
Neben den Eigenschaften der Vorführungen tragen auch die Gebäude selber zum Prunk der Oberfläche bei. Um die räumliche Dimension zu erfassen, zieht Kracauer wieder den Gegensatz zwischen Hotelhalle und Kirchengemeinde heran. „[Die Massentheater] sind wie die Hotelhallen Kultstätten des Vergnügens, ihr Glanz bezweckt die Erbauung. […] Die Gemeinde, die nach Tausenden zählt, kann zufrieden sein, ihre Versammlungsorte sind ein würdiger Aufenthalt.“ (Ebd., 311)
Wie in der Hotelhalle finden also Menschen zusammen, die außer der äußerlichen Beziehung im „homogenen Weltstadt-Publikum“ keine Verbindung haben. Die Räume des Vergnügens erhalten eine Einheit, die es faktisch nicht mehr gibt. Dennoch, Kracauer verteidigt die Potentiale des Mediums Film. Es könne „jene Spannung hervorrufen und wachhalten, die dem notwendigen Umschlag vorangehen muß.“ Die „Stimmungs-Kanonaden“ der Architektur auf die Besucher und die Vorführungen rund um den Film würden es jedoch nicht zur Entfaltung kommen lassen. Dies werde erst der Fall sein, wenn „[die Lichtspieltheater] ihre Darbietungen von allen Zutaten befreien, die den Film entrechten, und radikal auf eine Zerstreuung abzielen, die den Zerfall entblößt, nicht ihn verhüllt. Sie können es in Berlin, wo die Massen leben, die nur darum so leicht sich betäuben lassen, weil sie der
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Wahrheit nahe sind.“ (Ebd., 317)
Wie genau der Film den Zerfall der Gesellschaft unverhohlen, vermitteln kann, bleibt zumindest hier unklar und ist für das Anliegen dieser Arbeit auch nicht zu ergründen. Festzuhalten bleibt jedoch die räumliche Dimension der Massenkultur in Kracauers Beschreibungen. Die räumliche Struktur der massenkulturellen Veranstaltungen entspricht der Struktur der modernen Städte überhaupt, so wie Kracauer sie in der Hotelhalle verkörpert findet. In den Lichtspieltheatern, Vergnügungsparks, Amüsierlokalen, Theaterhäusern etc. finden sich die Stadtbewohner wieder in einem Innenraum, der sie als homogenes Publikum vereint, ohne an der grundsätzlichen Leere des sozialen Zwischenraums etwas zu ändern. Die räumliche Vereinigung bewahrt sie wenigstens formal vor dem Zerfall in isolierte Einzelwesen. Durch das Festhalten an der architektonischen Sprache der Stätten der vormodernen, exklusiven Hochkultur und durch die Einstellung auf den rationell organisierten Betrieb transzendiert die konkrete Ausgestaltung dieser „würdigen Versammlungsorte“ von der Mannigfaltigkeit der Massen mit all ihren Widersprüchen und trägt dazu bei, diese zu verdecken (vgl. Koch 1996, 59ff.).
2.2. Stadt als Verkehrsraum: undurchschaubarer Schnittmusterbogen In Kracauers Beschreibungen der Stadt als Verkehrsraum entdeckt man hingegen den Außenraum. In Kult der Zerstreuung setzt Kracauer die Straßen den Orten der Vergnügungen entgegen. „In den Straßen Berlins überfällt einen nicht selten für Augenblicke die Erkenntnis, das alles platze unversehens eines Tages entzwei“, (Kult der Zerstreuung, Kracauer 1963, 315). Was die Menschen auf der Straße verbindet, ist wenig und umso mehr geschieht dort. „Die vier Millionen Berlins sind nicht zu übersehen. Die Notwendigkeit ihrer Zirkulation allein verwandelt das Leben der Straße in die unentrinnbare Straße des Lebens, ruft Staffagen hervor, die bis in die vier Wände dringen.“ (Ebd., 313)
Mit Sicherheit steht deshalb auch das Straßenlabyrinth im Mittelpunkt der Entzifferung 10
der Städte durch Kracauer. Aber mehr noch als das methodisch interessante Entziffern des „Straßentextes“ (vgl. Stalder 1996, 134f.) ist die Erkenntnis, dass der Verkehrsraum ein öffentlicher Raum der unmittelbaren Begegnung ist, hier von entscheidender Bedeutung. Während in den Räumen der Massenkultur bis zu einem gewissen Grade Exklusivität aufrecht erhalten wird, überlagern sich im Verkehrsraum sämtliche sozialen Räume. „Vielleicht rührt die Angst daher, daß sich diese Straßen in der Endlosigkeit verlieren; daß sie von Omnibussen durchrattert werden, deren Insassen während der Fahrt nach ihrem entlegenen Bestimmungsort auf die Landschaft des Trottoirs, der Schaufenster und der Balkone so gleichgültig herabblicken wie auf ein Flußtal, oder eine Stadt, in der sie nie auszusteigen gedenken; daß sich eine zahllose Menschenmenge in ihnen bewegt, immer neue Menschen mit unbekannten Zielen, die sich überschneiden wie das Liniengewirr eines Schnittmusterbogens.“ (Schreie auf der Straße, Kracauer 1964, 28)
Das Flanieren in diesem Raum bekommt eine besondere soziologische Qualität. Vor dem Hintergrund der technisch-rationellen Organisation des Verkehrswesens tritt die Isolation der Individuen auch im Nebeneinander des öffentlichen Raumes deutlich hervor. Außerdem wird eine Hierarchie sichtbar zwischen jenen, die ein Ziel haben und deshalb unterwegs sind, und jenen, die ihren Broterwerb im Verkehrsraum der Stadt erhoffen (s.u. Abschnitt 3). Von Uta Beiküfner (2003) stammt die Feststellung, dass Kracauer Stadtplanung, hier vor allem bezogen auf Paris, „als Inszenierung absolutistischer und großbürgerlicher Macht entlarvt“ (ebd., 147). Gleichwohl existieren aber daneben jene ungeplanten Landschaften. „Diese Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz.“ (Aus dem Fenster gesehen, Kracauer 1964, 53)
Beiküfner sieht hier die Übertragung des Gegensatzes von Stadt und Land auf den Gegensatz zwischen höheren und niederen Klassen. Mittels der geraden Avenuen in Paris lasse sich das bürgerliche System vollständig erfassen, wohingegen das Mosaik der armen Mehrdeutigkeit einer Deutung bedarf (vgl. Beiküfner 2003, 148). Obwohl ihr bei der Auslegung Kracauers Beschreibung Das Straßenvolk in Paris zuzustimmen ist, „dass räumliche
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Begrenzungen aufgehoben werden und der Verkehr nun auch den Raum erzeugt und strukturiert“ (ebd., 149), soll hier jedoch weniger der Gegensatz betont werden, als vielmehr der zusammenhängende Raum, in dem sich die Großstädter einander und dem flanierenden Beobachter begegnen und die verborgenen, sozialen Hierarchien offenbar werden. Und so sind es auch die öffentlichen Straßen und Plätze und die Untergrundbahn, in denen Kracauer die Figuren findet, die nicht zu den Angestellten zählen und doch die Raumbilder der Stadt mitgestalten. Er sucht „willkürlich die ärmeren Stadtteile“ auf, beschreibt Bettler und Hausierer „an einer belebten Verkehrsstraße“, Begegnungen in der Untergrundbahn und hebt die Marginalisierten heraus aus der Unsichtbarkeit.
2.3. Stadt als Angstraum Kracauer als Beobachter seiner Zeit beschreibt subjektiv seine Wahrnehmungen der Stadt. Kracauer ist einer der sensibelsten Diagnostiker dieses neuen Erfahrungsraumes (vgl. Frisby 1985, 5). Er ist bemüht, die Wirklichkeit sowohl „theoretisch zu durchdringen“, als auch durch die „Anschaulichkeit der Erfahrung“ zu erhalten (Stalder 1996, 131). Wie oben in Anlehnung an Simmel beschrieben, verändert sich die Wahrnehmung der Menschen in der modernen Großstadt dadurch, dass sie eine „unsichtbare, funktionelle Distanz“ zwischen sich aufrecht erhalten, um der räumlichen und zeitlichen Dichte im Großstadtleben entgegen zu wirken. Die Stadt bewirkt, in vereinfachender, psychoanalytischer Perspektive der Zeitgenossen, pathologische Erscheinungen wie Agoraphobie, Klaustrophobie, Neurasthenie usw. Diese „Raumleiden“ spiegeln die Furcht vor der Großstadt wider und finden in ihr ihren Ausdruck (vgl. Vilder 1996, 89). Demzufolge kann Stadt auch als durch die Wahrnehmung des einzelnen mit Angst behafteter Raum gefasst werden. Stalder spricht vom Schrecken, der den Flaneur in Kracauers Texten befällt (Stalder 1996, 149f.). Woher kommt dieser? Die Furcht, die Kracauer in den Großstädten aufspürt, speist sich einerseits aus dem technisch-rationell angelegten, materiellen Fundament der Stadt, das dem vereinzelten Individuum gegenüber tritt.
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„Es ist wohl der Gegensatz zwischen dem geschlossenen, unerschütterlichen Konstruktionssystem und dem zerrinnenden menschlichen Durcheinander, der das Grauen erzeugt. Auf der einen Seite die Unterführung: eine vorbedachte, stabile Einheit, in der jeder Nagel, jeder Backstein an seiner Stelle sitzt und dem Ganzen hilft. Auf der anderen Seite die Menschen: auseinandergesprengte Teile und Teilchen, unzusammenhängende Splitter eines Ganzen, das nicht vorhanden ist.“ (Die Unterführung, Kracauer 1964, 48)
Andererseits taucht das Motiv der Leere immer wieder auf, das auf den entleerten sozialen Zwischenraum verweist. „Zum Unterschied von solchen Räumen flößen jene Straßen des Westens ein Grauen ein, das gegenstandslos ist. Weder werden sie von Proletariern bewohnt, noch sind sie Zeugen des Aufruhrs. Ihre Menschen gehören nicht zusammen, und es fehlt ihnen durchaus das Klima, in dem gemeinsame Aktionen entstehen. Man erhofft hier nichts voneinander. Ungewiß streichen sie hin, ohne Inhalt und leer. Ist es die Leere, die sie für Sekunden so unheimlich macht?“ (Schreie auf der Straße, ebd, 29)
Die Angst vor und im Stadtraum tritt in jenen Straßenbildern deutlich zu Tage, in denen die Räume durch die Überfülle der Stadt mit Leben und ihre gleichzeitige soziale Leere beim Beobachter das Gefühl der Verlassenheit erzeugen. „Auf dem menschenleeren Platz begibt sich dies: durch die Gewalt des Quadrats wird der Eingefangene in seine Mitte gestoßen. Er ist allein und ist es nicht. Ohne daß Beobachter zu sehen wären, dringen ihre Blickstrahlen durch die Fensterläden, durch die Mauern. Sie fahren bündelweis über das Feld und schneiden sich in der Mitte. Splitternackt ist die Angst; ihnen preisgegeben.“ (Zwei Flächen, ebd., 27)
Die Stadt als Raum vereint in seinen Texten die Entfremdung der Individuen und die räumliche Dichte, in der sie leben. Aus diesem Widerspruch entsteht eine Spannung, deren Bedrohlichkeit der Außenseiter Kracauer präzise zu erfassen vermag. In den Räumen der Überschneidung und in den sonderbar leeren Straßen der Städte ist die Angst vor dem unvermittelten Auseinanderfallen der vereinzelten Individuen ständig greifbar (s.o. Abschnitt 2.2). Aber auch in den Räumen der Massenkultur, wo die Angst verdrängt wird, präsentieren doch die räumlichen Anordnungen den ständigen Verweis auf das Verdrängte: die Angst vor dem Auseinanderfallen derjenigen, die zusammengehalten werden müssen. Er erspürt diese Bedrohung
in
den
Traumbildern
der
Stadt,
die
vielleicht
gerade
wegen
ihrer
Albtraumhaftigkeit eine besonders intensive Anziehungskraft auf den Flaneur ausüben. 13
3. Die Wahrnehmung der Außenseiter I. Kracauer nimmt die Städte seiner Zeit als Außenseiter wahr. Der präzise Blick für die Wechselwirkung zwischen räumlichen Bedingungen und den sozialen Zuständen, die sich in ihnen ausdrücken, rückt auch jene Figuren ins Gesichtsfeld des Lesers, die für gewöhnlich – damals wie heute – marginalisiert und unsichtbar bleiben. Geleitet wird sein Blick von der Suche nach der „Exotik des Alltags“. Diese Heuristik Kracauers wird von Michael Hofmann (1990) als Methode kritischer Öffentlichkeit beschrieben, die geeignet sei zur Überwindung dessen, was „die Menschen an der Wahrnehmung und Erkenntnis ihrer Alltagswirklichkeit hindert.“ Man bemerke, in Kracauers Worten, zahlreiche Gegenstände deshalb nicht, weil es uns niemals einfiele, in ihre Richtung zu blicken (ebd., 87ff.). Ausgestattet mit der Sensibilität eines Außenseiters findet er nicht nur jene Orte, an denen sich die Obdachlosen, Arbeitslosen, Bettler, Tagelöhner aufhalten, er hebt ihre „Bewohner“ heraus aus dem Gewühl des Alltags und würdigt sie der Beschreibung. II. In Die Unterführung stellen sie das „Personal“, das stationär dort verbleibt. Beim Durchgang durch die Unterführung treten sie hervor und interagieren mit den Passanten. „Denn sei es, daß die Passanten nach Hause oder zum Zug müssen, sei es, daß ihnen das kellerartige Wegstück Unbehagen einflößt: sie blicken nicht nach rechts oder links, sie machen so rasch, als sehnten sie sich danach, wieder an die Oberfläche zu kommen. Trotz ihrer Hast, die genauso wenig einladend ist wie das durch die Resonanz verstärkte Gepolter der Lastwagen, haben sich in der Unterführung verschieden Stammgäste angesiedelt, die hier offenbar Zuflucht vor Kälte und Regen suchen.“ (Die Unterführung, Kracauer 1964, 48)
Auch wenn die meisten hindurch eilen, widmet Kracauer dem „Personal“ der Unterführung diese Beschreibung. Er beschreibt ihre Tätigkeiten und ihr Verhältnis zu den hindurch Eilenden. Dabei kommt hier der Unverbundenheit der Menschen nur indirekt Bedeutung zu. In Die Unterführung kontrastiert er die Situation der Menschen mit der rationell-technischen Konstruktion der Unterführung und schreibt diesem Kontrast grauener14
regende Wirkung zu. In Berliner Figuren (ebd., 147ff.) beschreibt er unter anderem einen Bettler, einen Straßenverkäufer, Zeitungsausrufer und einen verwahrlosten Mann, einen „Tänzer“, der eines nachmittags mitten auf der Straße im Zeitlupentempo läuft und dabei singt. In vielen Beschreibungen wiederkehrendes Motiv ist eine Lösung der Interaktionen der Figuren im öffentlichen Raum von ihren Persönlichkeiten. Bei dem Bettler ist es die Stimme: „[…] in einem völlig unbeteiligten Ton vielmehr, den man gerade darum hören muß, weil er sich aus jeder Beziehung zum Sprecher und zu den Angesprochenen gelöst hat. Ich glaube nicht, daß er vom Bettler herrührt oder irgendwo hinzielt... Es ist, als sei die Stimme selbständig geworden und bahne sich aus eigener Kraft ihren Weg.“ (Ebd., 149)
Bei den Zeitungsverkäufern beschreibt er das „automatisch in Umlauf gesetzte Band“ ihrer Rufe, in immer gleicher Betonung „ohne Rücksicht darauf, ob Passanten vorbeikommen, oder die Straße menschenleer ist“ (ebd, 152). Auch sie seien von ihrem „Ursprung längst unabhängig“. Die Personen scheinen von ihren Tätigkeiten so entfremdet, dass sie kaum noch als ihre Urheber erscheinen. Die Interaktionen gehen von den Personen auf den Raum als Träger über. Noch drastischer beschreibt Kracauer die Bettler in Die Unterführung, „die von der Backsteinmauer, an der sie stehen und kauern, kaum noch zu unterscheiden sind“, das „aus der Mauer gequollenes Mütterchen, das am Boden hockt, [und] mechanisch auf die vorbeiziehenden Hosenbeine, Rocksäume und Schuhe [starrt]“ (49ff.), oder den „Tänzer“: „Vielleicht hat die Straße den Tänzer ausgebrütet. Und was sie verschweigen muß, verdichtet sich zu dieser Figur.“ (Berliner Figuren, ebd., 156)
Die Räume der Stadt scheinen diese Figuren nun gänzlich hervorzubringen. Die Außenseiter sind ein Produkt der räumlichen und materiellen Struktur der modernen Großstadt, die zugleich Ausdruck ihrer sozialen Bedingungen ist. Der Raum vermittelt die soziale Struktur mit dem Individuum. Was vorher für die Raumbilder bei Kracauer als Ausdruck des Unbewussten gefasst wurde (s.o. Abschnitt 1.1), gilt hier für eine Figur im Straßenbild, für einen Außenseiter. In ihm drückt sich das aus, was in der Straße, in der räumlichen 15
Struktur, die er verlässt, nicht offenkundig sein darf: In dieser Welt gibt es keinen Anspruch auf ein erfülltes Miteinander. „Sein Haar ist rötlich, seine Blicke richten sich auf das Asyl, das ihm in dieser Welt vorenthalten worden ist. Wir anderen erkennen es nicht, er selber jedoch ist bereits auf dem Wege zu ihm, und zieht mit irren Tönen und Zeitlupenschwüngen in eine unzugängliche Geborgenheit ein.“ (Ebd.)
4. Der Blick des Außenseiters: räumliche Vermittlung und entlarvte Entfremdung Kracauers Beschreibungen des modernen Großstadtlebens transportieren die zeitgenössischen Motive der Kulturkritik. Kracauer beschreibt gesellschaftlichen Zerfall. Es mag dahingestellt sein, ob es jemals eine Einheit von Kultur und Natur gegeben hat, oder ob nicht vielmehr die radikale Trennung zwischen beidem unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit gar nicht angemessen ist. Entfremdung der Menschen untereinander und Entfremdung des Menschen von der Welt werden bei Kracauer aber auf einzigartige Weise mit den räumlichen Bedingungen der Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Bestimmend sind dabei die Wechselwirkungen zwischen sozialem und physikalischem Raum. Kracauer fasst den Raum als zentrale soziale Kategorie, in der auf ganz materielle Weise die Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse stattfindet und mittels derer sich diese Verhältnisse erkennen lassen. Den Räumen in Kracauers Stadtbildern wurden hier zwei Funktionen entnommen: einerseits die technisch-rationelle Funktion des Verkehrsraumes und andererseits die integrierende Funktion des Raumes der Massenkultur. Beide Funktionen erzeugen Wahrnehmungen und Eindrücke bei den Menschen, die diese Räume füllen. Kracauer beschreibt den Kontrast zwischen unerfüllten sozialen Zwischenräumen, d.h. der Entfremdung der Menschen untereinander, und dem gemeinsam bewohnten, dicht gefüllten physikalischen Raum. Viel zu bedrohlich wirkt auf ihn der gemeinsame Raum, als dass seine Wahrneh16
mungen einen Zweifel daran lassen könnte: das Gemeinsame ist äußerlich; die moderne Stadt hat einen Raum hervorgebracht, der die Menschen zwar zusammenzwängt, sie aber nicht zusammenbringt.
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