Dunja Melcic (Hrsg.) im Auftrag des PALAIS JALTA
Der Jugoslawien-Krieg
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Dunja Melcic (Hrsg.) im Auftrag des Ost-Westeuropaischen Kultur- und Studienzentrums PALAIS]ALTA
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Der Jugoslawien-Krieg Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Redaktionsschluss: 15. Juli 1999 Redaktionelle Mitarbeit: Gudrun Bossert, Gerhardt Csejka, Wolfgang Klotz, Barbel Schmidt-Saki<:, Matthias Vetter Wissenschaftlicher Beirat: Chris Cviic (London), Srecko M. Dhja (Munchen), Paul Garde (Aix-en-Provence), Svein Mennesland (Oslo), Latinka Perovic (Belgrad), Ludwig Steindorff (Munster), Norman Stone (Oxford/Ankara), Holm Sundhaussen (Berlin). Das Handbuch wurde als gemeinsames Projekt des Ost-Westeuropiiischen Kultur- und Studienzentrums PALAIS JALTA e.Y. und der Lehrerkooperative e.Y. initiiert und finanziert. Wahrend der Arbeit (1997-99) wurde das Palais Jalta yom Land Hessen (Ministerium rur Wissenschaft und Kunst), von der Stadt Frankfurt (Amt fur Multikulturelle Angelegenheiten und Amt rur Wissenschaft und Kunst), der Hessischen Landeszentrale fur Politische Bildung, der Kulturstiftung der Deutschen Bank und der Heinrich-Boll-Stiftung e. Y. unterstUtzt. Aile Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 1999 Urspriinglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Oplade/Wiesbaden, 1999. Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1999
Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.westdeutschervlg.de Hochste inhaltliche und technische Qualitat unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produktion und Verbreitung un serer Bucher wollen wir die Umwelt schonen: Dieses Buch ist auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiBfolie besteht aus Polyathylen und damit aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Titelbild: Wolfgang Klotz Textsatz: Klaus Bossert
ISBN 978-3-663-09610-8 ISBN 978-3-663-09609-2 (eBook) DOl 10.1007/978-3-663-09609-2
Inhalt
I. Historische Grundlagen
1. Zur Ethnogenese auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ....................... 14 Sima Cirkovic 1.1. Methodische Vorbemerkungen 1.2. Siedlungsgeschichte 1.3. Die Rolle des Staates und der Kirche 1.4. Die ethnische Landkarte des Mittelalters 1.5. Die Auswirkungen der osmani· schen Eroberungen 1.6. Die Folgen der Modernisierung
2.
Slowenien .......................................................................................................... 28 Peter Vodopivec 2.1. Von der Friihzeit bis zur Reformation 2.2. Nachwirkungen der Reformation 2.3. Modernisierung und integrative Prozesse 2.4. 1m erstenjugoslawischen Staat 2.5. Der Zweite Weltkrieg und die kommunistische Diktatur 2.6. Dezentralisierung und nationale Antagonismen 2.7 Auf dem Weg in die Unabhiingigkeit
3. Kroatien bis 1918 .............................................................................................. 40 Ivo Goldstein 3.1. Mittelalter und fiiihe Neuzeit 3.2. Die Epoche der zentralistischen Reformen 3.3. Beginn der nationalen Integration 3.4. Der osterreichisch-ungarische Ausgleich und seine Folgen 3.5. Die Vorkriegszeit und der Erste Weltkrieg 3.6. Kroatische Geschichtsschreibung und
Politik im 20. Jahrhundert
4.
Bosnien-Herzegowina bis 1918 ........................................................................ 64 Mustafa Imamovic 4.1. Von den slawischen Starnmesgesellschaften zur feudalen Herrschaft 4.2. Bosnien als Teil des Osmanischen Reiches 4.3. Die osterreichisch-tiirkischen Kriege und der Zerfall des Osmanischen Reiches 4.4. Das Ende der osmanischen Herrschaft und die Okkupation durch Osterreich-Ungam4.5. Epilog
5.
Vojvodina .......................................................................................................... 88 Dimitrije Boarov 5.1. Die Entstehungsgeschichte 5.2. Der Weg zur Vereinigung 5.3. Die Authebung der Autonomie und die Foigen des Krieges 1991-1995
6.
Serbien bis 1918 ............................................................................................... 94 Latinka Perovic 6.1. Mittelalter 6.2. Tiirkische Herrschaft 6.3. Aufstand gegen die Tiirken 6.4. Serbische Autonomie im Osmanischen Reich 6.5. Das Konigreich und der Kampf urn die Modernisierung 6.6. Bis zum Ende des ersten Weltkriegs
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7.
Montenegro bis 1918 ...................................................................................... 109 Miomir DaJi(: 7.1. MittelaIter 7.2. Osmanenzeit 7.3. SelbstverwaItung undBischofsherrschaft 7.4. Weltliche Herrschaft und Expansion 7.5. Von den BaIkankriegen zum Verlust der Unabhiingigkeit
8.
Die politische Geschichte des Kosovo ..............................................
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Shkelzen Maliqi 8.1. Die Herkunft der Albaner 8.2. MittelaIter 8.3. Yom Osmanischen Reich zur serbischen Besetzung 8.4. Unter serbischer Suprematie 8.5. Unvollstiindige Gleichberechtigung in der Foderation und Verlustder Autonomie 8.6. Repression und Widerstand
9.
Makedonien .................................................................................................... 135 Darko Dukovski 9.1. MittelaIter 9.2. Unter osmanischer Herrschaft 9.3. Im zwanzigsten Jahrhundert 9.4. Die staatiiche Unabhiingigkeit
10. Jugoslawien 1918-1941 .................................................................................. 148 Ivo Banae 10.1. Vorgeschichte und Staatsgrundung 10.2. Das ,,Konigreich der Serben, Kroaten und Siowenen" 10.3. Die Konigsdiktatur 10.4. DerUntergang
11. Der Zweite Weltkrieg.... ................... ........ ...... ................................................. 167 Slavko Goldstein 11.1. Verlaufund Akteure 11.1.1. Eroberung und Aufteilung 11.1.2. Der Unabhiingige Staat Kroatien (NOH) 11.1.3. Die Tschetniks 11.1.4. Die Partisanen 11.1.5. Befreiungskrieg und Biirgerkrieg 11.1.6. Die Politik der Alliierten
Igor Graovae .................................................................................................. 184 11.2. Menschenverluste
12. Zwischen Aufbruch und Repression. Jugoslawien von 1945-1966 ............... 191 Ludwig Steindorff 12.1. Grundlegungen wahrend des Zweiten Weltkrieges 12.2. Die Zeit des "administrativen SoziaIismus" 12.3. Der Bruch mit der Sowjetunion 12.4. Der Ausbau des SelbstverwaItungssoziaIismus 12.5. Jugoslawien - (k)ein Sonderwegzum SoziaIismus
13. Der Titostaat in der Krise. Jugoslawien nach 1966 ........................................ 198 Viktor Meier 13.1. Auf dem Weg zur LiberaIisierung 13.2. Die neue Verfassung 13.3. Jugoslawien ohne Tito
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Inhalt
14. Der Jugoslawismus Wld sein Ende ................................................................. 208 Dunja Melcil: 14.1. Der lllyrismus und seine Grenzen 14.2. Jugoslawismus zwischen GroBserbentum und emeuertem lllyrismus 14.3. Der politische Jugoslawismus 14.4. Das erste Jugoslawien: Unitarischer Staat und fOderative Gegenbewegung 14.5. Das zweite Jugos1awien: FOderativer Anspruch und unitarische Tendenzen 14.6. Die Diskussionen urn den Zerfall Jugos1awiens
ll. Ideotitit, Ideologie uod Kultur 15. Die Religionsgemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien Rudolf Grulich ................................................................................................ 227 15.1. BiszurStaatsgriindung 191815.1.1. AnflInge desChristentums 15.1.2. Kroatien und Bosnien im Mittelalter 15.1.3. Die Reformation bei den Siidslawen 15.1.4 Die Ostkirchen 15.1.5. Die osmanische Eroberung und der Islam 15.1.6. Die katholischen Gebiete in Barock, Aufldllrung und im 19. Jahrhundert
Thomas Bremer ............................................................................................... 235 15.2. Nach der Griindung Jugoslawiens 1918 15.2.1. Die orthodoxen Kirchen 15.2.2. Die katholische Kirche 15.2.3. Der Islam 15.2.4. Die iibrigen Religionsgemeinschaften 15.2.5. Okumenische Beziehungen und die Kriege derneunziger Jahre
16. Jugoslawien im Lichte seiner Sprachen ......................................................... 249 Radoslav KatiCiI: 16.1. Dynamische Vielfalt 16.2. Die Mundarten 16.3. Die Minderheitensprachen 16.4. Sprachgeschichtliche Prozesse
17. Die EntwicklWlg des BildWlgswesens 1918-1991 ......................................... 263 Martin Mayer
18. Literaturen Wld nationale Ideologien ............................................................. 268 Alida Bremer 18.1. Die Literatur und das ,,nationale Bewusstsein" 18.2. Abgrenzungen und Grenziiberschreitungen 18.3. Die ldeologie des "Jugoslawismus" 18.4. Kurzer Oberblick iiber die einzelnen Nationalliteraturen
19. Nationale Symbole zwischen Mythos Wld Propaganda Ivo Zanil: ......................................................................................................... 287 19.1. Das politische Imaginariurn der kroatischen Nationalgeschichte 19.2. Zur Geschichte der bosniakischen Mythologie
Ozren Kebo ..................................................................................................... 300 19.3. Das Paradoxon von Sarajevo
Ivan Colovit .................................................................................................... 308 19.4. Symbolfiguren des Krieges. Zur politischen Folklore der Serben
Inhalt
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20. Zwischen Pluralismus lIDd Denkdiktat. Die Medienlandschaft ..................... 317 Dunja MelCic 20.1. Massenmedien im Dienste des ideologischen Konsens 20.2. Der Strukturwandel der slowenischen Offentlichkeit20.3. Die ,,Pressefreiheit" in Serbien 20.4. Der beginnende Pluralismus in Kroatien und seine Geflibrdungen 20.5. Anmerkungen zu anderen Medienlandschaften
OI. Der Krieg 21. Jugoslawien lIDter Milosevic .......................................................................... 332 Matthias Rub 21.1. Machtantritt und Wende zum Nationalismus 21.2. Von der Zerstorung der Provinzautonomie zur Aggression gegen die nordlichen Republiken 21.3. Von den Eroberungen in Bosnien zur Niederlage im Kosovo
22. Der Krieg an seinen Schaupliitzen ................................................................. 345 Erich Rathfelder 22.1. Der Auftakt 22.2. Wie man die Staatsgrenzen siehert 22.3. Der Krieg urn neue Grenzen und die UNO in Kroatien 22.4. GroBserbisehe Expansion in Bosnien-Herzegowina 22.5. Gegenwehr, Nebenkriege und Nato-Intervention
23. Strategien lIDd Kriegsziele .............................................................................. 364 James Gow 23.1. Serbisehe Kriegsziele, Strategien und Operationen 23.2. Kriegsziele, Strategien und Operationen der anderen Akteure 23. 3. Der Kosovo-Konflikt bis Ende 1998
24. Die jugoslawische Volksarmee lIDd ihre Erben. EntstehlIDg lIDd Aktionen der Streitkriifie 1991-1995 ............................................................................. 381 Ozren Zunec und Tarik Kulenovic 24.1. Der Krieg in Kroatien 24.2. Bosnien-Herzegowina 24.3. Sehlussfolgerungen
25. Das ethnische "engineering" .......................................................................... 408 Karl Kaser 25.1. Migrationen und ethnisehe Phantasien 25.2. Ethnisehe "Sauberung": Der Wahn des national Reinen 25.3. Planung, Strategie und Taktik derethnisehen Siiuberungspolitik 1991199525.4. Massenhafte Vergewaltigung 25.5. Epilog
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Inhalt
26. Der bosniakisch-kroatische ,,Krieg im Kriege" .............................................. 423 Ze/jko Ivankovic und Dunja MelCic 26.1. Staatsbiirgerliche versus ethnische Loyalitiit 26.2. Das Vorspiel des bosniakisch-kroatischen Konflikrs 26.3. Kroatiens Ziele in Bosnien-Herzegowina26.4. Die ungleiche Verteidigung des Landes und der Zankapfel Mostar 26. 5. Das verheerende Jahr 1993 26.6. Vor und nach dem Abkommen von Washington 26.7. Von der EU-Verwaltung fUr Mostar ilber Dayton zum schwierigen Frieden
27. Dayton und die Neugestaltung Bosnien-Herzegowinas ................................. 446 Mark Almond 27.1. Kriegswende und -ende 27.2. Das Abkommen von Dayton 27.3. Bosnien-Herzegowina als Halbprotektorat?
28. Die politische Entwicklung Kroatiens von 1990-1997 .................................. 455 Mirjana Kasapovic 28.1. Der schwierige Weg zum MachtwechseI28.2. Tudman und die HDZ 28.3. Die Opposition und die Altemativen
29. Die Welt im Balkanspiegel: das Agieren der GroBmachte ............................ 463 Jacques Rupnik 29.1. Wahmehmungen und Politik der europiiischen Staaten 29.2. Neuauflage der klassischen Miichtepolitik auf dem Balkan? 29.3. Amerikanische und europiiische Politik im Kontrast
IV. Die Folgen
30. VOikerrechtliche Rahmenbedingungen und die Staatengemeinschaft ........... 478 Stefan Deter 30.1. Volkerrecht im Umbruch 30.2. Der militiirische Konflikt: Barbarei als "Norrnalitiit" 30.3. Die volkerrechtlichenReaktionen: Anerkennung als Gestaltungsinstrument 30.4. Die Frage nach der militiirischen Reaktion: Friedensschaffung versus "humanitiire Intervention" 30.5. das UN-Straftribunal 30.6. Das Dayton-Abkommen 30.7. Die Kosovo-Intervention 30.8. Zusarnmenfassung
31. Die strategischen und militiirischen Nachwirkungen des Friedensabkommens von Dayton ............................................................. 499 Janusz Bugajski 31.1. Sicherheitspolitische Lage und militiirische Potentiale 31.2. Politisch-militiirische Beziehungen 31.3. Die Auswirkungen der Nato-Mission 31.4. ScWussfolgerungen: Sicherheitsaussichten
Inhalt
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32. Die wirtschaft1iche Lage der Nachfo1gestaaten Jugos1awiens vor dem Kosovokrieg ...................................................................................... 507 Herbert Biischenfeld 32.1. Siowenien 32.2. Kroatien 32.3. FOderative Republik Jugoslawien (FRJ) 32.4. Makedonien 32.5. Bosnien-Herzegowina
33. Opfer der Kriege 1991-1999 George Kenney ............................................................................................... 523 33.1. Oberlegungen zur ErmittIung der Verlustziffem
Matthias Vetter / Dunja MelCic ...................................................................... 524 33.2. SynopsezuOpfem, Schaden undFliichtiingen
Judith Kumin ................................................. .................................................. 531 33.3. Zur Aufnahme der Fliichtlinge in den westlichen Landern
V. Nachtrag ond Anhang 34. Der Kosovo-Krieg 1999 .................................................................................. 534 Joscha Schmierer 34.1. Milosevics letzter Krieg? 34.2. Entstehung und Charakter des Krieges 34.3. Die volkerrechtliche Problematik der Nato-Intervention 34.4. 1st die Nato-Intervention ein Priizedenzfall fur Interventionen ohne UN-Mandat?
35. Vom Kosovo zum Kosovo. Chronik 1986-1999 ............................................ 542 Matthias Vetter G1ossar, Abkiirzungen, Aussprache ................................................................ 569 Die Autorinnen und Autoren ............................................................................ 576 Namens- und Sachregister .............................................................................. 579 Verzeichnis der Karten Territorialgliederung vor 1918, Seite 165, Der Zweite WeItkrieg, Seite 166 aus: Holm Sundhaussen, Geschichte Jugos/awiens, Stuttgart 1982, mit freundlicher Genehmigung des Kohlhammer-Veri ages und des Autors Sprachenkarte, Seite 262 von Dalibor 8rozovic, Zagreb. Copyright 1999: PaiaisJalta, Frankfurt am Main. FrontverlaufFebruar 1994, Seite 353 und FrontverlaufDezember 1995, Seite 358 aus: Erich Rathfelder, Sarajevo und danach, MOOchen 1998, mit freundlicher Genehmigung des Beck-Verlags und des Autors Vance-Owen-P1an, Seite 437 undDayton-Vereinbarung, Seite 449 aus: Trugerischer Friede, Reinbek 1997, mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Taschenbuch-Verlags
Vorwort
Ein ganzes Jahrzehnt lang zogen die Kriege in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo die Aufmerksamkeit der Weltoffentlichkeit auf sich. Ebenso lang hatte diese Offentlichkeit mit Informationen und deren Einordnung und Interpretation zu kampfen, auch kampften die Medien oft mit ihrer eigenen Ignoranz. Auf der Ebene des politischen Handelns verhielt es sich ahnlich. Aus London kam das Gerlicht, die an der Krisenbewaltigung beteiligten Politiker schOpften ihr Wissen tiber den fraglichen Raum aus einem alten ethno-romantischen Buch der Reiseschriftstellerin Rebecca West. Bill Clinton wurde vorgehalten, er habe sich tiber die Hintergriinde nur aus dem untauglichsten Buch informiert. Jahrelang versuchten franzosische Intellektuelle, ihrem Prasidenten und der politischen Elite Vorurteile tiber die Balkanvolker auszureden. Man sieht: Wissen (oder mangelndes Wissen) und die Bewaltigung von Krisen haben miteinander einiges zu tun. Der Westen als oberster Krisenmanager beanspruchte die Defmitionsmacht tiber den Konflikt. Dieser Anspruch ware nicht anmaBend gewesen, wenn ihm eine genaue Wahrnehmung entsprochen hatte. Doch die Mangel waren untibersehbar - die Folgen dieser Mangel ebenso. Mit dem Kosovo-Krieg 1999 kam eine langsame Wende zu ihrem Abschluss. 1m Sommer danach mag es sogar ein bisschen so scheinen, als wolle das Jahrhundert, das mit den Kriegen auf dem Balkan und 1914 mit den Schiissen in Sarajevo blutig begann, doch noch mit einem Auftakt zum Frieden in Stidosteuropa enden. Dies ist weit tiber die Region hinaus von Bedeutung. Was den "Jugoslawien-Krieg" zu einem Weltproblem macht, ist auch die Frage, welche Lehren daraus fiir das 21. Jahrhundert zu ziehen sind. Schon 1914 war die Katastrophe mit dem Fehlurteil verbunden, ein schneller Krieg schaffe dauerhafte Losungen. Auch die ganz anders motivierte Intervention von 1999, der die Stationierung von Friedenstruppen und ein Stabilitatspakt fiir Stidosteuropa folgten, kann scheitem, sofem die Aufgaben als rein technisch losbare Probleme aufgefasst werden. SolI das Engagement tatsachlich einen dauerhaften Frieden zum Ergebnis haben, ist es unumganglich, sich in die komplexen Verhaltnisse dieser Weltgegend zu vertiefen und die Differenz zu den westeuropaischen Erfahrungen, aber auch die Gemeinsamkeiten der europaischen Geschichte und Traditionen zu begreifen. Indizien dafiir, dass der Westen einerseits auftechnische Losungen setzt, andererseits vollkommen in seiner eigenen Wahrnehmungsperspektive befangen bleibt, gibt es viele. Die Taktik des reinen Luftkriegs gegen Serbien, einer militarischen Operation, die wie gegen ein verseuchtes Gebiet - ja wie auf einem andem Planeten - gefiihrt wurde, ist mehr als ein Indiz: Sie ist der Beweis fiir den Vorrang der Technik im Umgang mit einem politischen Problem, das erst aus den kulturgeschichtlichen Zusarnmenhangen heraus zu verstehen und nur aufgrund solchen Verstandnisses losbar ist. Schon wahrend des Bosnien-Krieges wurde deutlich, dass trotz vieler Bucherscheinungen und ausgezeichneter wissenschaftlicher F orschungen zu Einzelthemen das Bediirfnis nach umfassender Information tiber die Krisenregion weitgehend unbefriedigt
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Vorwort
blieb. Gerade Darstellungen, die mehr leisten, als nur die westlichen Voreinstellungen zu reproduzieren, waren Mangelware. Diese Liicke rullt das vorliegende Handbuch, das alle im Zusammenhang mit den kriegerischen Verwicklungen relevanten Bereiche dieses komplexen Teils von Europa behandelt. 1m Mitlelpunkt des Handbuchs stehen die Kriege, oder besser: der eine Krieg Slobodan Milosevies und seines Regimes, der mehrere Etappen durchlief. Die ,,Kiimpfe ohne WafIen" der ersten Phase (M. Riib) wurden bald zu Kriegen einer Staatsarmee gegen die eigenen Biirger. Wenn Ereignisse Vergangenheit zu werden beginnen, verblasst die Anschaulichkeit. Dem begegnet eine Schilderung der Kriegsschaupllitze aus der Sicht eines Korrespondenten (E. Rathfelder). Einen Schwerpunkt bilden die oft vemachllissigten militlirisch-strategischen Aspekte (J. Gow, O . .lunec / T. Kulenovie, M. Almond und J. Bugajski). Programme und Methoden des ethnischen "engineering" werden vor dem historischen Hintergrund der Migrationen in Siidosteuropa geschildert (K. Kaser) und die langwierige Ethnogenese der siidslawischen Volker (S. Cirkovie) wird nachgezeichnet. Dass der Krieg mit seinem primliren Ziel GroBserbien vielfache interethnische Spannungen auslosen wiirde, war wohl einkalkuliert. In Kroatien, bei dessen Transformation zu einer demokratischen Gesellschaft erhebliche strukturelle Schwierigkeiten zu iiberwinden waren und sind (M. Kasapovie), gehOrten sie jedenfalls mit zum Programm und zur Eroberungstaktik. In Bosnien schlugen nach der serbischen Landnahme die Spannungen zwischen Kroaten und Bosniaken rasch in kriegerische Auseinandersetzungen urn. Dieser "Nebeokrieg", fijr den auch Tudmans groBkroatische Ambitionen bestimmend waren, wird - erstmals so ausffihrlich - in einem eigenen Kapitel behandelt (lvankovi6/Melcie). Der ,,Doppelkrieg" von 1999, nlimlich der letzte Krieg Milosevies im Kosovo und die Intervention der Nato, wird im Nachtrag erfasst: als untrennbarer Bestandteil des Gesamtkrieges in den Ruinen des ehemaligen Jugoslawien (1. Schmierer) .. Urn den Weg hin zum Krieg zu erlliutern, muss man tiefer schiirfen. Deshalb liegt der zweite Schwerpunkt des Handbuchs auf der Ideologie und den nationalen Mythologien. Wie mit national en Integrationssymbolen die Bevolkerung mobilisiert und irregeleitet wurde (I. Colovie, O. Kebo, I. .lanie), versteht man nur, wenn man den weiteren Kulturrahmen iiberblickt. Dies ermoglichen die Beitrlige iiber Glaubensgemeinschaften (R Grulich / Th. Bremer) und Bildlmgshintergriinde (M. Mayer) sowie iiber die Literatur (A. Bremer) und die komplexe Sprachenfrage (R. Katicie). Die Nationalideologien bestehen groBtenteils aus VerfaIschungen der Nationalgeschichte. Nicht nur deshalb eroffnen historische Abrisse das Handbuch. Es wurde Wert darauf gelegt, dass ihre Verfasser Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den jeweiligen Llindem sind (P. Vodopivec, I. Goldstein, M. Imamovie, D. Boarov, 1. Perovie, M. Dasie, S. Maliqi, D. Dukovski). So ist in gemeinsamer Arbeit mit diesen Autoren und Autorinnen ein Hand- und Lesebuch, ein Nachschlagewerk entstanden, das dem Anspruch, nicht nur den westeuropliischen Blick auf die siidosteuropliischen Dinge zu spiegelo, gerecht wird. Der Krieg 1991-99 macht gleichsam die Ereignisse des Jahrhunderts zu seiner Vorgeschichte. Die merkwiirdige Geschichte des erstenjugoslawischen Staates und seiner Griiodung wird daher in wesentlichen Ziigen umrissen (I. Banac), ebenso wie die kom-
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plexen Ereignisse nach seinem Zerfall und der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, erstmals so genau und priizise dargestellt, Gegenstand eines Beitrags sind (S. Goldstein), der erglinzt wird durch die Ubersicht der neuesten statistischen Forschung zur - seit Jahrzehnten hOchst politisierten - Frage der Kriegsverluste (I. Graovac). DaS" sozialistische Nachkriegsexperiment in einem Staatsgebilde voller Widerspriichlichkeiten (L. Steindorfi) fiihrte bald zu der sich vertiefenden Krise, die zusammen mit der Unflihigkeit der kommunistischen Eliten, eine gangbare Losung zu finden, unmittelbar zum Vorfeld der Machtergreifung Milosevics gehOrt (Y. Meier). Es musste zum vierten Krieg (im Kosovo) kommen, bis die WeltofIentlichkeit erkannte, dass die Menschen des ehemaligen Jugoslawien nicht auJ3erhalb ihrer Verantwortlichkeit existieren und dass die Region mit einer distanzierten Neutralitatshaltung nicht befriedet werden kann (1. Rupnik). Nur zogerlich und partiell wurden volkerrechtliche Konsequenzen aus dem Zerfall Jugoslawiens und den massiven Kriegsverbrechen gezogen (S. Oeter). Schon vor der Nato-Intervention und vor dem Stabilitatspakt fUr Sudosteuropa war klar, dass die Bewiiltigung der dortigen Probleme nur durch ein intemationaies Engagement chancenreich angegangen werden kann. Das zeigt in wirtschaftlicher Hinsicht die Bestandsaufuahme der kriegsbedingten Misere noch vor Kosovo (H. Buschenfeld). Schlimmer jedoch sind die Verluste an Menschenleben, an Heimat und die vieiniltigen Opfer des Krieges (Kenney / Kurnin / Vetter). Auch urn all dessentwillen, was im Unterschied zu den materiellen Zerstorungen niemals riickgangig gemacht werden kann, bedarf eine friedliche Zukunft des Raurnes eines internationalen Beistands, der sich auch bei unterschiedlichen Perspektiven uber die Ursachen einig ist. Damit hangt zusammen, dass zu diesem Handbuch Autoren und Autorinnen aus vielen Landem Beitrage geschrieben haben und die Arbeit von einem intemationalen Beirat begleitet wurde. AuJ3er den erwiihnten Hintergrundbeschreibungen bietet das Handbuch erstmalig eine so ausfiihrliche und vollstiindige Chronologie der Ereignisse seit Mitte der achtziger Jahre bis zum Sommer 1999 (M. Vetter). Die so entstandene Sammlung von Originalbeitragen wird von detaillierten Literaturhinweisen erglinzt, die teilweise von Herausgeberin und Redaktion erweitert wurden, besonders im Hinblick auf die Zuganglichkeit der Titel fUr Leser im deutschen Sprachraurn. Neben mehreren politischen Karten finden die Leser erstmalig eine - eigens fUr das Handbuch angefertigte - Sprachenkarte (D. Brozovic). Zusatzlich zur Unterstlitzung und maBgeblichen Beratung durch den wissenschaftlichen Beirat haben uns zahlreiche Kenner (einige davon sind Autoren des Handbuches) in manch schwieriger Frage mit Ratschlagen und Empfehlungen groBrugig geholfen, woraus wir alles in allem die Zuversicht schOpfen, dass wir den Lesem ein Nachschlagewerk von hoher Qualitat und Zuverlassigkeit bieten. Besonderer Dank gebUhrt Frau Prof. Mirjana Gross (Zagreb) und Frau Prof. Dagmar Burkhart (Mannheim). Mein personlicher Dank gilt allen Mitarbeitem der Redaktion, auch fUr den Glucksfall einer harmonischen Team-Arbeit, ganz besonders aber Matthias Vetter, dessen Engagement und historischer Sachverstand fUr das Gelingen des Handbuch-Projekts geradezu unentbehrlich waren. Die Herausgeberin
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Zur Ethnogenese auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien Sima Cirkovic
1.1. Methodische Vorbemerkungen
Siidosteuropa, zu dem der hier betrachtete Raurn gehOrt, hat in seiner ethnischen EntwicklWIg denselben Ausgangspunkt wie Westeuropa, namlich das Romische Reich, das von "barbarischen" Volkem angegriffen wird. In WIgleichen Wellen WId zu verschiedenen Zeiten dringen diese auf das Reichsgebiet vor, siedeln sich an WId werden sesshaft. Sowohl die aiteingesessene BevOlkefWlg als auch die neuen Zuwanderer leben fortan in den einstigen Provinzen, die Distanz zu einander wird iiberwunden, WId je nachdem, wie schnell dies geschieht, kommt es in WIterschiedlichem AusmaB zur VermischWIg. Trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes WId paralleler EntwickiWIgsabUiufe haben sich stark divergierende Ansichten iiber die ethnischen Prozesse herausgebildet. Die Unterschiede in der WahrnehmWIg sind so groB, dass man sich fragen muss, ob sie ihren GfWld in der Wirklichkeit haben, in den WIeinheitlichen EntwicklWIgsbedingWIgen der Balkanhalbinsel, oder vielmehr aufEinbildWIgen zurUckgehen, also die Folge einer beschriinkten WId einseitigen Betrachtilllg im GfWlde identischer Prozesse sind. Diese Frage muss hier schon deshalb gekllirt werden, wei! die VorstellWIgen von der Vergangenheit, seien sie mythisch oder wissenschaftlich, in den Integrationsprozessen eine wichtige Rolle spielen, ja WIter Umstanden ein wesentliches Element davon bilden. Die altere Geschichte der Balkanhalbinsel wurde aus nationaler Perspektive, als Summe von Nationalgeschichten rekonstruiert, wobei steuemd das Interesse an all em war, was zu einer aktuellen oder gewiinschten Integration fiihrte. Notwendigerweise kam dabei all das zu kurz, was nicht den "groBen" Nationen zuzuordnen war. ZahlenmaBig starke WId einflussreiche Gesellschaftsgruppen, wie es in dem Raurn, mit dem wir uns beschaftigen, die Wlachen in alteren oder die AromWIen in jiingeren Zeiten waren, blieben so WIsichtbar. 1m Bemiihen, den Bruch in der gesellschaftlichen EntwicklWIg zu iiberwinden, der durch die osmanische ErobefWlg des Balkans entstanden war, iiberzeichnete man die ideologische Kontinuitat zwischen den mittelaiterlichen WId den neu gegriindeten Staaten, urn diese als Nachfolger der friiheren erscheinen zu lassen. Es liegt am Desinteresse fur die Gesamtheit dieses Teils Europas, an der NichtberiicksichtigWIg eines vergleichenden Ansatzes WId an der FixiefWlg auf alles, was zur Einheit der einzelnen Balkannationen fiihrte, dass ein vereinfachtes Bild entstand, welches yom tatsachlichen Verlauf der Ereignisse erheblich abweicht. Eine kritische Reflexion der ethnischen Prozesse auf dem Balkan muss daher vorab die tradierten methodologischen WId konzeptuellen Schwachen deutlich machen WId zugleich abbauen, indem sie Erkenntnisse iiber identische Prozesse in den iibrigen Gebieten Europas zur GfWldlage nimmt. Dabei ist es WIurnganglich, die VOlker im Gesamtzusarnmenhang ebenso wie auch die realen EntwickiWIgsurnstande im Einzel-
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nen zu betrachten; die empirische Grundlage dafUr erwachst aus dem Interesse fUr die Besonderheiten der Integrations- und Desintegrationsprozesse in den einzelnen historischen Epochen, aus dem Erforschen der Gruppen, die in der Zwischenzeit verschwunden sind, sowie aus der Erkenntnis, dass ethnische Prozesse niemals abgeschlossen sind, sondemje nach soziookonomischem und kulturellem Kontext neue Formen annehmen. Bei der Betrachtung der fiber mehrere Jahrhunderte verlaufenden ethnischen Prozesse wird die Einteilung in Volker und nationale Minderheiten problematisch, sofem unter Volkern fiihrende, staatsbildende Gruppen und unter nationalen Minderheiten entweder Teile von Volkem, deren Hauptteil sich in einem anderen Staat befindet, oder verstreute ethnische Gruppen geringen Umfangs auf dem Territorium des Mehrheitsvolkes verstanden werden. Denn es ist klar, dass in der Mehrzahl der Falle das Verhaltnis Minderheit - Mehrheit von den staatlichen Rahmenbedingungen abhangt und die Veranderung der politischen Landkarte somit auch Wandlungen dieses Verhaltnisses nach sich zieht. In den letzten Jahrzehnten des sozialistischen Jugoslawien wurde der Terminus ,,nationale Minderheit" durch das schwer in andere Sprachen fibertragbare narodnost (in etwa: "Nationalitat") ersetzt, ein Begriff, der im Rahmen der foderativen Ordnung des jugoslawischen Staates einen spezifischen Sinngehalt annahm. 1m Rfickblick gibt es keinen Grund, zwischen jenen, die in der SFRJ VOlker, und jenen, die Minderheiten bzw. "Nationalitaten" waren, zu unterscheiden oder sie ungleich zu behandeln. Auch der Katalog der VOlker - der Siowenen, Kroaten, Muslime, Serben, Montenegriner und Makedonier - erfordert Anmerkungen methodologischen Charakters. Die allgemeine Uberzeugung, die Konstituierung von Volkem reiche in eine feme historische Zeit zuriick (aufdemBalkan ist das die Zeit yom 7. bis zum 10. Jh., fiber die man am wenigsten weiB), hatte Foigen fUr das Verstandnis der Veranderungen, zu denen es in spateren Perioden kam. Was sich spater ereignete (und sich auf die Gesamdage der VOlker auswirkte), wurde als Abweichung von der Norm empfunden, so als waren die Dinge in ihrem natiirlichen Gang behindert worden und etwas Kfulstliches hatte sich dariiber gelegt; die jfulgeren Vorgange sah man von fremder Hand gesteuert, man glaubte an ein Komplott, an den Einfluss feindlicher Politik etc. Von einigen dieser Vorgange (Migration, Islamisierung, regionale Besonderheiten u.a.) wird spater die Rede sein. Hier sei lediglich angemerkt, dass die Eigenstandigkeit der Muslime und der Makedonier, die als Folge objektiver und subjektiver Hindemisse bei ihrer Integration in die nationale Gesamtheit ihrer Nachbam zu verstehen ist (Kroaten und Serben im Falle der Muslime bzw. Serben und Bulgaren im Falle der Makedonier), friiher ebenso wie heute als Produkt kommunistischer Machenschaften und der Komintem-Taktik gilt, oder auch - auf hoherer Ebene - als Sieg des religiOsen Prinzips fiber das sprachliche in den modemen Integrationsprozessen. Dass nationale Eigenstandigkeit solcherart - oftmals im Namen der Wissenschaft - in Frage gestellt wurde, fiihrte zu Beginn der 90er Jahre direkt zur Verscharfung der jugoslawischen Krise und im Falle der Nichtanerkennung der Muslime zu Verbrechen, zu riesigen Opfem und unermesslichem Leid.
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1.2. Siedlungsgeschichte Wie bereits angedeutet, geht man in der Geschichtsschreibung von unrealistischen Annahmen aus, wenn von den Anflingen der ethnischen Prozesse an der Schwelle zum Mittelalter die Rede ist. So haben nicht die Vorfahren der Kroaten, Serben, Bulgaren, Griechen und Albaner die Balkanhalbinsel unter sich aufgeteilt, vielmehr war diese in jenen "dunklen Jahrhunderten" von einem bunten Mosaik verschiedener Gruppen, alteingesessenen ebenso wie neu zugewanderten, besiedelt. Die Reste antiker Bevolkerung sind in den Balkanprovinzen weniger bekannt als in den westlichen Teilen des Kaiserreichs, dennoch konnen einige Gruppen ausgemacht und bestimmt werden. An erster Stelle stehen hier die Rhomtier als Triiger romischer Staatstraditionen, da das Romische Reich in seiner Osthiilfte nicht zerstOrt wurde. Die griechische Sprache und jene kulturellen Traditionen, die sie bewahrt haben, setzten sich in dem bereits seit drei Jahrhunderten christianisierten Kaiserreich durch. Dies bewog mittelalterliche und spiitere Gelehrte, den ostlichen Teil des einstigen Kaiserreichs mit dem Namen Byzantions zu verbinden, dem alten griechischen Namen der Stadt am Bosporus, die Kaiser Konstantin der GroBe zur Reichshauptstadt erhob. Ferner gab es die Romanen, Bewohner der Stiidte an der adriatischen und ionischen Kiiste, die im Ostromischen Reich ihre Latinitiit und ihre romischen Rechtstraditionen bewahrten. Weniger klar ist die Situation im Innem der Balkanhalbinsel, wo man zuverliissig nur die Nachfahren zweier Gruppen von Altsiedlem identifizieren kann: Die Wlachen, die von der starker romanisierten Provinzbevolkerung abstammen, we1che in den westlichen und zentralen Teilen der Balkanhalbinsel illyrischer und in den ostlichen thrakischer Abstammung war, sowie die Albaner, die in geringerem MaBe romanisiert waren und bereits seit dem Mittelalter mit den Illyrem als unmittelbaren Vorfahren in Verbindung gebracht werden. (~ Kap. 8) Auf slawischer Seite steht am Anfang der mittelalterlichen Entwicklung eine Vielzahl von sog. "Sklawinien", kleinen slawischen Ffustentiimem, die von den Byzantinem am Nordufer der Donau, auBerdem in der weiteren Umgebung von Thessalonike und im Hinterland der dalmatinischen Stadte beobachtet wurden. Die Karte der verschwundenen "Sklawinien" konnte aufgrund von Angaben aus zeitgenossischen und spiiteren Quellen, Resten in den Namen von Verwaltungseinheiten und Kirchensprengeln sowie in Titeln und Amtem etc. zum Teil identifiziert werden. Unter den etwa dreiBig Namen im Raum zwischen Alpen, Schwarzem Meer und Peloponnes erkennt man alte Stiimme aus einer Ubergangsphase slawischer Entwicklung, die bei den West-, Siid- und Ostslawen bezeugt sind, wie Kroaten, Serben, Sewerjanen und Dregowitschen, aber auch aufkaum besiedeltem Boden z.T. aus antiken Bezeichnungen gebildete Namen wie Strumijanen (von Strymon, dem antiken Namen des Flusses Struma) oder Konawijanen (Kanalitai, nach den Resten des Romischen Aquiidukts canale im Hinterland Dubrovniks). Die Slawen stieBen nach allen Seiten der Balkanhalbinsel bis zur Meereskiiste vor (mancherorts setzten sie auch auf nahe Inseln iiber), iiberzogen sie jedoch nicht vollstiindig und gleichmiiBig; hinter ihnen und auch zwischen ihnen verblieben kleinere und groBere Enklaven der Altsiedler. Deren ursprungliche Lage liisst sich nicht genau
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bestimrnen; einige Parallelbildungen im Albanischen und Rumanischen als Uberbleibsel balkanromanischer Mundarten haben Fachleute zur Annahme einer ursprilnglichen N achbarschaft der Vorfahren von Albanem und balkanischen Wlachen veranlasst. SttiBt man in Quellen aus dem 12. Jh. oder spater auf Angaben tiber die Nachfahren balkanischer Altsiedler, so beziehen sie sich auf den weiten Raum zwischen Istrien und Thessalien und zeugen von einer Durchmischung mit slawischer Bevolkerung. Zu dieser kam es allerdings erst nach einer langen Periode der Annliherung. (~Kap. 9) 1m Unterschied zu Italien und den westlichen Provinzen, wo sich Altsiedler und germanische Zuwanderer in bestimrnten Gegenden, kleineren Gebieten und so gar vereinzelten Orten vermischten und durchdrangen, gibt es auf dem Balkan keine Angaben tiber unmittelbare BerUhrungen oder Zusamrnenleben. Traditionen aus spateren Zeiten (l o. -13. Jh.) sprechen von Abgrenzung und F eindschaft. Archaologischen Hinweisen zufolge nutzten die Slawen nicht die Uberreste antiker Stlidte. Erst die Christianisierung und Bildung von Territorialstaaten und stabiler Macht, regullirer Warenaustausch und wirtschaftliche Zusamrnenarbeit schufen die Bedingungen fiir eine Durchmischung und Verbindung wie auch dafiir, dass Nachkomrnen von Alteingesessenen in slawischer Umgebung aufgehen oder umgekehrt. Unter den wichtigen Fragen zur ethnischen Entwicklung stellt sich zuallererst jene, die den Prozess des Zusamrnenwachsens betrifft, die Frage, wie aus einer groBen Zahl kleiner Gruppen eine kleine Zahl menschenreicher und ausgedehnter Gruppen entstand, die entscheidend die ethnische Landkarte des Balkans beeinflussten. Auf der gesamten Balkanhalbinsel ist sowohl seitens der Altsiedler als auch der Slawen die groBe Rolle staatlicher Gebilde zu vermerken. Die Rhomaer vermehrten sich dank einer Politik der ,,Reconquista", der Unterwerfung friiherer romischer Provinzen, die die byzantinischen Kaiser seit dem 7. Jh. hartnackig verfolgten. Gesilitzt auf eine tibermachtige Flotte und auf Silitzpunkte in den Ktistenstlidten, unterwarfen sie die slawischen Ffustenrumer und verwandelten sie in eigene Verwaltungseinheiten (Themata). Bedeutsam ist der Umstand, dass nur die friihen Eroberungen, jene bis zum lO. Jh., weit reichende Konsequenzen hatten und eine langfristige Hellenisierung sicherstellten, wlihrend die Eroberungen im 11. Jh. im Innem der Balkanhalbinsel das ethnische Bild nicht verauderten. 1m Zuge seiner Expansion sttiBt Byzanz aufWlachen und Albaner, die Nachfahren der Altsiedler, doch sieht es in ihnen ein fremdes und barbarisches Element. Auch diese selbst stehen dem Kaiserreich feindlich gegentiber und identifizieren sich weder mit ihm noch mit seinem maBgeblichen griechischen ethnischen Element.
1.3. Die Rolle des Staates uod der Kirche Augenfallig ist die Rolle des ersten bulgarischen Reichs bei der F ormierung der Bulgareno Die turkstlimrnigen und turksprachigen Protobulgaren zwangen sich nach dem Jahre 679 den "Sklawinien" zwischen Donau und Balkanmassiv als Herrscher auf. 1m Kampf mit Byzanz erweiterten sie ihren Herrschaftsbereich bis zur lonischen Ktiste im Siiden und bis zur Drau im Norden. GroB ist die Bedeutung von Simeons Kronung zum Zaren (913), in einem entsprechenden, auf slawischsprachiger Grundlage gebildeten, symbo-
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lischen und ideologischen Ambiente. Die Friichte der Slawenmission Kyrills und Methods gelangen erst hier zur vollen Entfaltung, gleichzeitig aber werden die Bedingungen fur eine Uberwindung des protobulgarisch-slawischen Dualismus geschaffen. Obwohl sich das Erste Bulgarische Reich bis zurn Jahre 969 in Frieden und Stabilitat und unter Aufbegehren und Widerstand gegen byzantinischen Eroberungsdrang sogar bis 1018 behauptete, war dies dennoch nicht ausreichend, urn den gewaltigen Raurn (auBer Bulgarien gehOrte nicht nur das heutige Makedonien, sondem auch ein gro13er Teil Serbiens und Albaniens dazu) zu vereinheitlichen und zu stabilisieren. Daher muss beim Prozess der ethnischen Formierung der Bulgaren auch der Einfluss des Zweiten Bulgarischen Reichs (1185-1393, 1396) beriicksichtigt werden. 1m westlichen Teil der Balkanhalbinsel hielt sich der fur die Epoche der Besiedlung und der "Sklawinien" charakteristische Pluralismus noch langer. Auf der Grundlage alter Stammesverbande der Kroaten und Serben entstanden neue politische Stammesterritorien, uber die wir wenig wissen: Eines davon gab es urn Sisak, ein anderes zwischen Save und Drau und eine ganze Reihe im Hinterland der Adriakuste: Neretljanen, Zahumljanen, Trawunjanen und Dukljanen. Als ausgedehnter, vitaler und dauerhafter erwiesen sichjene FfustentUmer, die sich unter dem allein erhaltenen alten Stammesnamen der Kroaten etablierten, niimlich im Hinterland Dalmatiens, und entsprechend unter dem Namen der Serben zwischen den Kroaten und den Bulgaren. Am kroatischen Beispiel Hisst sich feststellen, dass die Periode bis zum 12. Th. entscheidend war, denn bis zum Jahre 1102, dem Anschluss an das Ungarische K6nigreich, waren im gesellschaftlichen Aufbau, in Institutionen, Rechtsgebrauchen und historischen Traditionen die Grundlagen fur die Bewahrung eigener Identitat und eigenstandiger Entwicklung innerhalb des gr613eren Staatsgebildes geschaffen worden, in dem die Magyaren das maBgebliche ethnische Element waren. Eine wichtige Rolle spielten die Vorstellungen yom eigenen Territoriurn (dem regnum Croatiae), femer die Existenz eines spezifischen Gewohnheitsrechtes und der Einrichtung der ,,zw6IfStamme des Kroatischen K6nigreiches". In einer Periode, als der Adel seine Standesrechte festigte und die Standeversammlungen ihre Rolle ausbauten, erstarkten auch spezifisch kroatische Traditionen, die der Adel verk6rperte und bewahrte. (~Kap. 3) 1m serbischen FaIle lasst sich die gro13e Rolle des Staates in einer spateren Periode (13.-14. Th.) ausmachen, als sich die einstmals getrennten FfustentUmer der Zahumlj anen, der Trawunjanen und der Dukljanen mit den Resten des "Getauften Serbien" und allmiihlich Byzanz abgetrotzten Territorien vereinigten. Der so geschaffene staatliche Rahmen gewinnt Autoritat und die Garantie der Dauerhaftigkeit durch die yom Papst (1217) gesandte K6nigskrone, femer eine autokephale kirchliche Organisation mit einem eigenen, im Lande gewiihlten und geweihten Erzbischof (1219). Dynastische Traditionen, hervorgegangen aus dem Kult der ,,Dynastie des heiligen Geschlechtes" (der Heilige Simeon, Stefan Nemanja als Sippenvorsteher und sein Sohn, der Heilige Sava, als erster Erzbischof), bilden ein Band, das nach dem Aussterben der Dynastie (1371) symbolisch die Territorialherren und die Herrscher verbindet. Die Rolle des Staates als Faktor der ethnischen Entwicklung bestatigt sich auch im FaIle Bosniens, das sich im 11.-12. Th. auf dem Verbreitungsgebiet der alten Stammesnamen der Serben im Osten bzw. der Kroaten (im Westen und Sudwesten) entwickelte.
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Der Umstand, dass sie dem Staat der bosnisehen Bane (von 1377 bis 1463 Staat der Konige) angehOrten, fiihrte zum Aufkommen der neuen Benennung ,,Bosnjanin", der ihre alten Stammesnamen verdrangte. Mit der Ausdehnung der Staatsgrenzen verbreitete sieh aueh der Name ,,Bosnjanin"; zudem stellte die Existenz eines stiindisehen Landtages oder der Standeversammlung (universitas nobilium) eine zusatzliehe Verbindung dar, die den politiseh aktiven Teil der Bevolkerung zusammenhielt. Mit dem Versehwinden dieses Staates und des Landtages bzw. des Adels sowie der "Obertragung des Namens auf die ausgedehntere osmanisehe Verwaltungseinheit (auf das Pasehalyk Bosnien) und dem Aufkommen neuer regionaler Namen (Herzegowina), wandelte sieh aueh Inhalt und Verbreitung der Bezeiehnung ,,Bosnjanin". (7 Kap. 4) Die Romanen besaBen in den Stiidten Dalmatiens yom 12. Jh. an aueh weiterhin ihre in hohem MaBe autonomen politisehen Gemeinsehaften in Form von stadtisehen Gesellsehaften. Diesen kleinen Verbanden driiekten die romanisehen Altsiedler ihre kulturellen Merkmale auf, in der ersten Peri ode dank ihrer Zahl und ihrer wirtsehaftliehen Ubermaeht, in der zweiten Peri ode dank des Maehtmonopols des Patriziertums, das sieh aus einem romanisehen Kern entwiekelt hatte. Dennoeh konnte das Romanentum nieht vollig auf die stadtisehen Gesellsehaften an der Adriakiiste abfarben, da es einerseits nieht vermoehte, die fUr den wirtsehaftliehen Aufsehwung der Gemeinsehaft benotigten Einwanderer aus dem Hinterland sprachlich zu assimilieren, und andererseits die Umgebungen der Stiidte sprachlich und kulturell nicht verandem konnte. Die kontinuierliche Entwicklung der Adriasmdte beweist, dass die ethnischen Prozesse im Mittelalter keineswegs abgeschlossen waren. Die Alhaner hatten im Verlauf des Mittelalters keinen eigenen Staat, doch besaBen sie ein kompaktes, mit einem Ethnonym versehenes Mutterland (Arbanon, Arbanum, Raban, Regnum Albaniae, Albania). SchlieBlich besaBen sie im Rahmen anderer Staaten ein bedeutendes MaB an Autonomie sowohl dank der von ihnen betriebenen weidewirtschaftlichen (transhumanten) Viehzucht als auch dank der verhiiltnismiiBig groBen Zahl berittener Krieger, die sie zu stellen vermochten. Gegen Ende des Mittelalters entwickelte sich in einigen Gebieten die Territorialherrschaft iihnlich wie auf dem einstigen byzantinisehen Territorium bzw. bei den slawischen Nachbam. Die Kriege Skenderbegs, der Arianiti und Dukagjin mit den Osmanen legten den Grundstein fUr eine starke historische Tradition, die sich im Yolk und in Teilen des katholischen humanistischen Schriftstellertums behauptete. (7 Kap. 8) Die tiber einen groBen Raum verstreut lebenden balkanischen Wlachen besaBen keine eigene politische Ordnung, und das hat vermutlich zu ihrem Auseinanderfallen und Untergang gefiihrt, obwohl sie zahlreich und expansiv waren. Dies kann an Migrationen und an der Verzweigung ihrer Familiengemeinschaften, der Katuns, beobachtet werden, die am Ende des Mittelalters auf einem weitaus groBeren Gebiet bezeugt sind als noch im 13. Jh. Ebenso wie die Albaner beschiiftigten sich auch die Wlachen mit Viehzucht des transhumanten Typs und bewahrten sich, selbst wenn sie sich in das Gefiige der Gutsherrschaft eingliederten, ein groBeres MaB an Freiheit als die tibrigen Bauem. Mit Pferden und Waffen ausgestattet, waren die Wlachen ein bedeutender Kriegsfaktor, was ihnen materielle Vorteile und nicht selten einen privilegierten Status einbrachte. 1m Unterschied zu den Albanem hatten die Wlachen entweder kein eigenes
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Territoriwn oder erhielten keines aufrecht, sondem lebten vielmehr iiber einen weiten Rawn unter den AngehOrigen anderer ethnischer Gruppen zerstreut, in denen sie schlieBlich aufgingen. In kompakten slawischen Gebieten nahmen sie die Sprache der Umgebung an, was an Personennamen und an gesellschaftlicher Terminologie (wie celnik ,Anfiihrer', sudija ,Richter', vojvoda ,Herzog' etc.) verfolgt werden kann. Die Slawisierung zog sich iiber Jahrhunderte bin; wiihrend einige Gruppen, wie die Pastrovici (wn Budva in Montenegro) im 15. Jh. bereits volIkommen in ihrer Umgebung aufgegangen waren - sie wurden als "adelige Gemeinschaft" betrachtet - trugen auf dem Boden Montenegros zahlreiche Katuns, die an einer Vereinbarung mit Venedig aus dem Jahre 1455 teilnahmen, noch albanische oder wlachische Namen. Selbst wenn sie sich sprachlich assimilierten, bewahrten die Wlachen doch eine eigene Ordnung und Struktur, Brauche und Lebensweise, was ihre vollstiindige Integration in die sie wngebende Gesellschaft verlangsamte. Am liingsten hielt sich die Bezeichnung "Wlachen", die Katholiken und Muslime spater auf aIle Orthodoxen iibertrugen, ja unter den Inselbewohnem wurde sie generell fUr die Festlandbewohner gebraucht, ohne Riicksicht darauf, ob diese wlachischer Herkunft waren oder nicht. Neben politischen spielten auch kirchliche Organisationen in den Prozessen der ethnischen DiiIerenzierung eine bedeutende Rolle. Vor allem das Netz hierarchisch verbundener, relativ stabiler und dauerhafter kirchlicher Organisationen war ein Faktor der Kohiision und kulturellen Homogenisierung. Andererseits brachte die kirchliche Jurisdiktion nicht nur Unterschiede in Einzelheiten der liturgischen Ordnung und Disziplin mit sich, sondem auch wichtige kulturelle Unterschiede, wie z.B. die Einstellung zur Sprache des Gottesdienstes, der Gebrauch der Schrift, die Art der Ausgestaltung und der Stil von Kirchengebauden und allem, was dem kirchlichen Leben dient. Die Rolle der Kirchen zeichnet sich dort ab, wo es keine sprachlichen Barrieren in der Kommunikation gab, wie dies auf serbisch-kroatischem Gebiet der Fall war. Die AngehOrigkeit zwn romisch-katholischen oder zwn orthodoxen Christentwn hatte sich vertiefende religios-kulturelle Unterschiede zwischen Serben und Kroaten zur Folge. Auch die besondere Lage Bosniens mit ihren Folgen fUr die integrativen Prozesse in diesem Teil des siidslawischen Raums wurde durch die Besonderheiten der ,,Bosnischen Kirche", eines besonderen Bistwns mit einer fUr jene Zeit ungewohnlichen Doktrin und kirchlichen Organisation, betont bzw. verstiirkt. Solange sie existierte, verhinderte diese Kirche eine Bindung Bosniens sowohl an die katholische als auch an die serbisch-orthodoxe Nachbarschaft, weil sie von beiden als hiiretisch bekampft wurde. (7 Kap. 4)
1.4. Die ethnische Landkarte des MittelaIters Die ethnische Landkarte, die bis zwn Ende des Mittelalters entstanden war, hat viel Ahnlichkeit mit jener, die wir heute kennen. Dennoch fmden sich auf ihr bestimmte VoIker nicht, die heute eine bedeutende Rolle spielen, dafiir gibt es solche, denen unsere Zeitgenossen schwerlich die Eigenschaft einer ethnischen Gruppe zuschreiben wiirden. Die Unterschiede resultieren aus ungleichen Klassifikationssystemen, aber auch
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aus den andersartigen gesellschaftlichen Gegebenheiten des Mittelalters. In einer serbischen Herrscherurkunde (1300), die sich auf die Umgebung Skopjes (heute Makedonien) bezieht, werden unter jenen, die einen Klosterjahrmarkt besuchen wollen und von denen man die Zahlung einer ZollgebUhr erwartet, Griechen, Bulgaren, Serben, Lateiner, Albaner und Wlachen angefiihrt. Die Bezeichnung Lateiner trim man auch in zahlreichen anderen Urkunden an, und stets sind katholische Kautleute aus den Kiistenstadten gemeint (ohne Riicksicht darauf, ob sie Romanen, katholisierte Slawen oder Albaner, Einwanderer aus dem Hinterland oder sogar Gaste aus italienischen Stadten sind). Die nach dem Verstandnis des mittelalterlichen Menschen bedeutende Kategorie des Lateiners rfihrt von der Konfession her, doch hat man auch die Autonomie, den besonderen Status und die Gerichtsbarkeit der Kiistenbiirger im Sinne. Selbst wenn sie jahre- oder jahrzehntelang in den Marktflecken der Bergbaugebiete des Balkans ansassig sind, so leben diese Lateiner dennoch nach dem Gesetz ihrer Heimatstadt und schlichten Streitigkeiten untereinander vor ihren eigenen Amtstragern, Streitigkeiten mit Ortsansassigen wiederum vor besonderen gemischten Gerichten. Wenn Unterschiede zwischen den mittelalterlichen Klassifikationssystemen von Gruppen und denen, die wir heute anwenden, aufireten, so ist es dennoch nicht gerechtfertigt, die alten Unterscheidungen als "fehlerhaft" oder inkonsequent zu verwerfen. Vielmehr ist es notwendig, ihren Hintergrund innerhalb der Grenzen zu suchen, die die damaligen heterogenen und nichtintegrierten Gesellschaften horizontal und vertikal teilten. Dies muss besonders beriicksichtigt werden, wenn von den Wlachen die Rede ist, urn die es viele Streitigkeiten gegeben hat. Ubereinstimmung besteht beziiglich ihrer romanischen Herkunft, Unterschiede treten dort auf, wenn vom spaten Mittelalter und der friihen Neuzeit die Rede ist, wo sich uns der Wlache als Beruf (Viehz'iichter) oder als Untertan mit besonderem Status prasentiert. Wie bereits angemerkt, bedeutete die Annahme der Sprache der weiteren Umgebung nicht gleichzeitig auch das Verschwinden der Wlachen als gesellschaftlicher Gruppe mit besonderer Stratiflkation und Ordnung (Katuns, Sippen, Bruderschaften), Lebensweise und Erwerbstiitigkeit sowie mit eigenen Glauben und Brauchen. Die groJ3e Rolle der Wlachen bei Migrationen und Kolonisierungsaktionen in friiher tiirkischer Epoche, bei denen besonders orthodoxe Wlachen auffielen, die in katholische Gegenden gerieten, fiihrte zu der falschen Uberzeugung, dass die Wlachen eine typisch serbische Erscheinung seien. Weit vor den Migrationen und tiirkischen Eroberungen gab es jedoch Wlachen in Kroatien, und diese gingen zweifellos in der kroatischen Umgebung auf, so wie es keinen Zweifel daran gibt, dass sich Wlachen in vereinzelten Gebieten auch islamisierten. Erst wenn man das Aufgehen der Wlachen in allen slawischen Volkem des Balkans im Auge hat (bekannt ist die Rolle der Wlachen beim Aufstand des Jahres 1185, der zu einer Emeuerung des bulgarischen Zarenreiches fiihrte), kann der Anteil der Nachkommen der Altansassigen bei der Herausbildung der ethnischen Verhiiltnisse auf dem Balkan realistisch bewertet werden. Die jahrhundertelange, stille, schleichende Slawisierung der autochthonen Bevolkerung stellt eine der Besonderheiten der balkanischen Entwicklung dar. In dem von uns betrachteten Raurn haben sich lediglich die Aromunen in Makedonien und eine kleine Gruppe von Wlachen in Ostserbien als Uberrest der balkanischen Romanen gehalten.
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Die ethnische Landkarte des zentra1en und westlichen Tei1s der Balkanha1binse1, wie sie sich bis zum 16. Th. herausgebildet hatte, war weder vollendet noch definitiv. Mit den tiirkischen Eroberungen yom Ende des 14. bis zum Beginn des 15. Th. hatten sich die Entwicklungsbedingungen so stark veriindert, dass viel von dem, was sich in den vorangehenden Jahrhunderten konsolidiert hatte, bis in die Grundfesten erschiittert wurde. Eine Kontinuitat beobachten wir nur in den westlichen Gebieten, den slowenischen Provinzen, in ,,zivilkroatien" und in den Territorien der Kiistengemeinden. (-7 Kap. 3) Die Landesversammlungen der Adeligen und das Patriziertum in den Stiidten bestanden auf einer Konservierung der traditionellen Ordnung und auf der Bewahrung einer Ideologie, die diese Ordnung legitimierte. In den iibrigen Teilen des von uns betrachteten Raurnes eroffneten die osmanischen Eroberungen eine neue Epoche in der Entwicklung der ethnischen Beziehungen, deren Foigen nicht weniger schwer wiegen als jene des Mittelalters. Wir konnen im Rahmen dieses knappen Uberblicks nicht die Geschichte spaterer, dynamischer, dichter und besser bekannter Zeiten ausbreiten, wir konnen lediglich auf die unter dem Gesichtspunkt der ethnischen Geschichte urnwalzenden Ereignisse und wesentlichen Prozesse hinweisen, urn nicht indirekt die vorherrschende traditionelle Auffassung zu unterstiitzen, dass sich alles Wichtige im Mitte1alter ereignet habe.
1.5. Die Auswirkungen der osmanischen Eroberungen Auf dem gesamten von den Osmanen eroberten Gebiet wurde die Wirkung aller bisheriger Integrationsfaktoren (monarchische oder dynastische Herrschaft, Stiindeversammlungen, Institutionen) im we1tlichen Teil der Gesellschaft unterbrochen; ein kontinuierliches Wirken war lediglich kirchlichen Organisationen mog1ich, und das in beschriinktern Umfang und unter erschwerten Bedingungen. Die osmanische Toleranz in Glaubensangelegenheiten nutzten bei regelmiilligen Zahlungen (als peskes ,Geschenk' und kesim ,Abgabe') die ehedem in ein System der Bestatigung kirchlicher Wiirdentrager durch kaiserliche Urkunden eingebundenen orthodoxen Kirchen (Konstantinopels, Ohrids und Serbiens) aus. Die katholischen Kirchenorganisationen und klosterlichen Orden waren nicht in dieses· System einbezogen, doch erhob man von katholischen Glaubigen wie von den iibrigen Christen Steuem aufEheschlieI3ungen und andere Sakramente. Die tiirkische Macht trieb diese Steuem iiber die orthodoxe Hierarchie ein, wobei sie die Ordensprovinz der bosnischen Franziskaner behandelte, als unterstiinde sie der Jurisdiktion des Patriarchen von Pee, gleichzeitig aber achtete sie ihre Selbstiindigkeit in Glaubensfragen. Dieses schwierige Verhiiltnis rief Reibereien und Streitigkeiten unter den Christen nicht nur in Bosnien, sondem in allen Teilen des Balkans hervor, wo Konfessionen vermischt lebten. Die Bosnische Kirche wurde als Organisation durch das Eingreifen des bosnischen Konigs im Jahre 1459 zerschlagen, was zur Foige hatte, dass ihre Glaubigen noch starker als bisher den Einfliissen der Romischen Kurie und der missionarischen Tatigkeit der Franziskaner ausgesetzt waren, die seit dem 14. Th. Stiitzpunkte in Bosnien unterhielten; im ostlichen Teil des Staates waren sie wiederum dem Wirken der serbisch-orthodoxen Kirche unterworfen. Die wenigen
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und verstreuten Oberreste der krstjani, der Glaubigen der Bosnischen Kirche, spielten in spiiteren Perioden keine bedeutendere Rolle mehr. Das mittelalterliche Erbe wurde also von der Kirche als einzigem Kontinuitatsfaktor gewahrt. Dies gab der serbisch-orthodoxen Kirche eine starke ethnische Priigung, und sie baute, ungeachtet dessen, dass es urn die Fortfiihrung allgemeinchristlicher Werte ging, eine spezifisch serbische Kirchentradition mit heiligen Herrschern und BischOfen als ihrem Mittelpunkt auf. Die Oberbetonung des Nationalen in der Kirche und der Rolle der Kirche bei der Bewahrung nationaler Traditionen hatte insofern weit reiehende Folgen, als noch vor Abschluss der osmanischen Eroberungen ein neuer, bedeutender, religioser Faktor in Form des Islam auftrat. Der Glaube der Eroberer blieb nicht auf Krieger und Beamte des Osmanischen Reiches beschriinkt, sondern erfasste einen mancherorts kleineren, mancherorts auch groBeren Teil der einstmals christlichen Bevolkerung. Die Annahme des Islamrief zwangslaufig eine Differenzierung der Beziehungen zur christlieh gebliebenen Umgebung hervor. Es wurden zahlreiche andersartige kulturelle Muster iibernommen, die das menschliche Leben von der Geburt bis zum Tod gliedern und begleiten; im Laufe der Zeit wandelten sich die Elemente der materiellen Kultur, die Familienstruktur, Eigenarten der Rede, also das, was sich am wenigsten und am langsamsten verlindert. Ein anderer Aspekt der Differenzierung zeigt sieh in der Beziehung zur geschichtlichen Tradition. Wer den Islam angenommen hatte, konnte schwerlich die im Rahmen der serbischorthodoxen Kirche geschaffenen und bewahrten geschichtlichen Traditionen mit ihrem antiosmanischen Gehalt und Kern annehmen. Grundsiitzlich zeigte sich dieselbe Schwierigkeit auch in kroatischer, bulgarischer oder makedonischer Umgebung. In der Zeit der Kriege des Osmanischen Reichs mit den christlichen Staaten spitzten sieh die Unterschiede zwischen den islamisierten und den nichtislamisierten Siidslawen dramatisch ZU, da die einen diesem Reieh LoyaliHit schuldeten, die anderen es aber angriffen und sich mit seinen groBten Feinden verbiindeten. All diese Unterschiede rissen Kliifte auf, die kein Ignorieren der Glaubensspaltung mehr iiberwinden konnte - weder auf romantisch-populiirer Ebene (,,Der Bruder ist teuer, welchen Glaubens er auch sei"), noch im Namen der Wissenschaft durch Anzweifeln der ethnischen Natur der entstandenen Unterschiede und unter Berufung auf europiiische Vorbilder ("Sowohl Protestanten als auch Katholiken sind Deutsche geblieben" o. dgl.). Die tiirkische Eroberung rief zahlreiche Erschiitterungen in der bisherigen riiumlichen Anordnung der Balkanvolker hervor. Auf dem Territoriurn des ehemaligen Jugoslawien spiirte man relativ wenig von den Folgen osmanischer Kolonisierung aus den Gebieten Kleinasiens, dafiir aber machte sich eine Konzentration islamischer bzw. islamisierter Bevolkerung in den stiidtischen Siedlungen bemerkbar, was zu einer Spaltung zwischen bauerlich-christlichem Umland und "tiirkischen" StMten fiihrte, eine Spaltung, die fUr einen GroBteil der europiiischen Provinzen des Osmanischen Reiehes bis zu seiner Zuriickdrlingung im 19. und 20. Jh. charakteristisch war. Uberaus bedeutend sind die Folgen vieler Fluchtbewegungen vor den tiirkischen Eroberungsziigen. Diese Bewegungen verliefen seit dem 14. Jh. hauptsiichlich von Siidennach Norden und von Osten nach Westen. Dazu kann man auch Massenurnsiediungen sowie Kolonisierungs-
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aktionen der osmanischen, sp1iter auch der habsburgischen Herrscher rechnen. Von diesen Migrations- und Kolonisierungsaktionen waren, wenn auch in unterschiedlichern MaBe, aIle groBen ethnischen Gruppen betroffen. Vereinzelte Teile bis dahin formierter Volker entfemten sich weit von ihren Ursprungsgebieten, die haufig wiederum durch die Ansiedlung von AngehOrigen anderer Volker verkleinert wurden. Kroaten gelangten in Gebiete Osterreichs und in das Innere Ungarns, wamend bedeutende Teile kroatischer Territorien von Siedlem aus Bosnien, schliel3lich von in zahlreichen Wellen angesiedelten Serben und Wlachen besetzt wurden. Serben flohen im 15. Jh. nach Synnien und in siidliche Gebiete Ungams, um sich angesichts groBer militarischer Operationen (1521, 1526, 1529) zusammen mit der ungarischen BevOlkerung tiefer im Landesinneren in Sicherheit zu bringen, wamend an ihrer Stelle Wellen von Siedlem einriickten, die von den tiirkischen BehOrden (besonders nach 1541) aus den Bergregionen Serbiens, der Herzegowina und Montenegros in Bewegung gesetzt wurden. Allgemein gesprochen erweiterte sich durch diese Umsiedlungen das Gebiet von Katun- und Stammesverbanden, wie sie fUr die weidewirtschaftlich gepr1igte Gesellschaft der Wlachen und Albaner charakteristisch waren, auf Kosten der durch Ackerbau gepr1igten Ansiedlungen und Gaue. Es bildete sich eine von Verwandtschaftsverbanden dominierte patriarchalische Kultur heraus, die die bisherigen sprachlichen und re1igiosen Grenzen sprengte und sich sp1iter integrativen Prozessen widersetzte. Wamend des 16. und 17. Jh. kam es im europ1iischen Siidosten nicht zur Vereinheitlichung und Stabilisierung groBer Ethnien wie in den Teilen Europas mit kontinuierlicher Entwicklung, sondem es vergroJ3erte sich das bunte Durcheinander und einige wesentliche, im Laufe des Mittelalters entstandene Strukturen wurden erschiittert. Diese Abweichung von einer aHgemeinen europ1iischen Bewegung in Richtung auf ein Zusammenwachsen hat umso grofiere Bedeutung, als sie nach dem Zuriickdrangen der Tiirken 1683-1699 und in den Kriegen des 18. Jh. noch potenziert wurde. Vor aHem wurden die Entwicklungsbedingungen auf den von tiirkischer Herrschaft befreiten Gebieten verandert und deren Anbindung an europ1iische soziookonomische und kulturelIe Prozesse ermoglicht, was neben zahlreichen anderen F olgen auch eine Differenzierung innerhalb der bis dahin formierten ethnischen Verbande nach sich zog, insbesondere bei Serben und Kroaten. Die ethnische Landkarte geriet infolge der durch die Kriege hervorgerufenen Verschiebungen noch bunter (Tiirken und zum Islam Obergetretene zogen sich in Gebiete unter tiirkischer Herrschaft zuriick, ihre PI1itze werden von Serben und Rumanen aus der landlichen Umgebung eingenommen), ebenso infolge systematischer Kolonisierungsaktionen der habsburgischen BehOrden, die sich bemiihten, durch Einwanderer aus entfemten Gebieten die dUnn besiedelten und wirtschaftlich verodeten Raume zu beleben. Die Vojvodina begann damals, ihre charakteristische multinationale Gestalt auszubilden, an welcher neben Serben, Kroaten, Ungam, Deutschen, Juden, Slowaken und Ruthenen auch kleinere Gruppen von Franzosen und Spaniem Anteil hatten, die spater verschwanden. (7 Kap. 5) Mittelbar nahmen auf die spatere ethnische Entwicklung auch die fortwamenden Konflikte zwischen der Zentralgewalt der Habsburger-Monarchie und den standischen Vertretungen der einzelnen Lander Einfluss, Streitigkeiten, in denen stets historische
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Rechte betont wurden. Dieses Denken in Kategorien historischer Rechte wurde nicht nur auf Fragen des Eigenturns, der Amtsbefugnis Wld der RechtsprechWlg, sondem weit dariiber hinaus auch auf Fragen des Status, ja sogar der BeziehWlgen zwischen den ethnischen Gruppen angewandt. Dadurch verstarkte sich die historische Komponente in den sich schrittweise herausbildenden Ideologien, gleichzeitig aber betrachtete man zunehmend die Zukunft als rekonstruierte Vergangenheit, eine Sicht, die fiir zahlreiche politische Programme des 19. Wld 20. Jh. charakteristisch werden sollte.
1.6. Die Foigen der Modernisierung Die Voraussetzungen fiir Existenz Wld EntwicklWlg der groBen Gruppen veranderten sieh emeut im Verlaufe der DemokratisiefWlgs- Wld ModernisiefWlgsprozesse, von denen die balkanischen Gesellschaften in verschiedenen Perioden erfasst wurden, im Westen Wld Norden friiher, im Osten Wld Sliden spater. Infolgedessen entstanden neue Unterschiede, die bei den Kroaten Wld besonders bei den Serben zu spiiren waren, da die VerandefWlgen in der Vojvodina Wld in Kroatien einerseits, in dem seit 1804 schrittweise befreiten serbischen Fiirstenturn andererseits, Wld schlieBlich in den restlichen Gebieten Wlter tiirkischer Herrschaft jeweils in ganz Wlterschiedlichem Rhythmus vonstatten gingen. Langfristig fiihrten diese Prozesse dennoch zu einer Integration Wld UberwindWlg der vorhandenen Unterschiede Wld TrennWlgen. Eine immer groBere BedeutWlg erlangten Fragen wie die, zu wessen GWlsten die wirtschaftliche Wld technischeErschlieBWlg des Raumes (Eisenbahnen, KommWlikationsmittel) zu erfolgen hatte, wer die integrativen Potentiale des wachsenden Schulwesens Wld der sich durchsetzenden Massenmedien fiir sich nutzen wiirde Wld nach wessen Regeln Wld Standards die komplexe UnifiziefWlg innerhalb der Staatsgrenzen verwirklicht werden sollte. Zwangslaufig verscharfte sich der Kampfum die Territorialgewalt mit zahlreichen Folgen sowohl fiir die Dynamik der inneren EntwicklWlgjeder einzelnen Nation als auch fiir ihre BeziehWlgen zu anderen Nationen Wld ethnischen Gruppen. Die Folgen dieser Rivalitat konnen bis in unsere Tage verfolgt werden. Die lange Wld verworrene Geschichte der Ereignisse auf dem Balkan im 19. Wld 20. Jh. lasst sich nicht auf einfache Wld komprimierte Formeln reduzieren. Es konnen bestimmte, Wlter dem GesichtspWlkt ethnischer EntwicklWlg bedeutende Konstanten festgestellt werden wie das liberkommene bWlte Durcheinander der ethnischen Landkarte, die DurchmischWlg verschiedener Elemente auf ein Wld demselben Territorium, die mit einer Wlvollkommenen Integration von VOlkem mit langer Vergangenheit einhergeht, die FixiefWlg auf Geschichte Wld ,,historische Rechte", die selektiv aus der fiir die betreffende Nation giinstigsten Peri ode abgeleitet werden; konstant war schlieBlich die Diskrepanz zwischen der Realitat gesellschaftlicher Wld ethnischer Prozesse einerseits Wld der Sieht dieser Prozesse durch die Optik europaischer Konzepte Wld einheimischer Mythen andererseits. Fast unmerklich vollzog sich der Selektionsprozess ethnischer Merkmale, von Kommunikationsmitteln Wld Symbolen, die fiir die betreffende, in der KonsolidiefWlg begriffene Nation reprasentativ waren. 1m Streb en nach Einheit, in der Schaffung einer
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Klammer, die aIle AngehOrigen der Nation zusammenhalten sollte, musste mit einer kleinen Anzahl von E1ementen operiert werden; folglich mussten unausweichlich Dialekte, ausgedehnte Tei1e des kulturellen Erbes, regionale Formen in Tracht und Brauchen geopfert werden, d. h. die Volkskultur, die man gerade im 18. Jh. entdeckt und nwer kennen ge1emthatte. Die Garungen, die die Nationsbildungen beg1eiteten, waren noch lange spater zu spiiren. So gelangte, was in friiheren Phasen der ethnischen Entwick1ung im Zentrum gestanden hatte, an die Peripherie, wie dies mit dem Adel (einschliel3lich des stadtischen Patrizierturns) bei den Kroaten geschah oder mit der patriarchalischen Stammesgesellschaft bei den Serben und Montenegrinem. Das Zuriickdrangen bedeutender Tei1e der Gesellschaft mit eigener Volkskultur schuf Spannungen und Bestrebungen nach Abspaltung und Individua1isierung, nach Abschottung innerhalb bescheidenerer Grenzen, aber mit "eigenen" Merkmalen und Symbolen. Bestrebungen in diesem Sinne konnen aufverschiedenen Seiten beobachtet werden, ihre Ernsthaftigkeit aber wird dann deutlich, wenn eine Verkettung der politischen Umstande zur Schaffung eines eigenen staatlichen Rahmens fiihrt, wie dies in Montenegro (18.-19. Jh.) und in der Republik Makedonien (nach 1945) geschah. Damals wurden die Bedingungen fUr die Herausbildung der montenegrinischen und der makedonischen Nationen geschaffen, deren Existenz nach wie vor besonders von den Serben bzw. Bulgaren in Abrede gestellt wird. Die groBen gesellschaft1ichen und wirtschaftlichen Prozesse des 19. Jh. haben die Konstituierung def groBen Gruppen auf dem Boden des Balkan nicht abgeschlossen, sie haben 1ediglich ihre Entwick1ungsbedingungen verandert. Die uberaus bedeutenden Umbruche wie der Untergang der einen und die Bildung anderer Staaten sind nicht ohne Fo1gen fUr die Abgrenzung und Konsolidierung der bis dahin entstandenen Volker geblieben. Einigen wurde erst im 20. Jh. die Gelegenheit geboten, sich in ihrer ganzen Eigenstandigkeit zu entfalten. Dennoch sind die Prozesse des 19. und 20. Jh. so sehr mit den politischen Ereignissen, mit der Verbreitung groBer Ideologien, der Schaffimg gut organisierter Massenparteien, dem Aufkommen neuer Kommunikationsformen verbunden, dass sie nur im Kontext dieser politischen Ereignisse in vollem MaBe verstanden werden konnen.
Deutsch von Robert Hammel
Literatur Allgemeine und vergleichende Studien zu ethnischen Entwicklungen auf der Balkanhalbinsel sind rar. Ansatze dazu finden sich in den Aufsatzen des slowenischen Historikers B. Grafenauer (vgl. Jugoslovenski istorijski casopis 1-2/1966 und 17-24/1988) und auf Deutsch: Die ethnische Gliederung und geschichtliche Rolle der westlichen Sudslawen im Mittelalter, Ljubljana 1966. Zu den Prozessen der Stammesbildung in Europa: R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der fruhmittelalterlichen Gentes, Koln, Graz 1961; G. Schramm: Eroberer und Eingesessene, Geografische Lehnnamen als Zeugen der Geschichte Sudosteuropas im ersten Jahrtausend n. Chr., Stuttgart 1981 ; K. -D. Grothusen (Hg.), Ethnogenese und Staatenbildung in Sudosteuropa, Gottingen 1974. Eine partielle Obersicht tiber den Stand der neueren Forschung ermoglicht Etnogeneza Hrvata (Hg. N. Budak), Zagreb 1995 mit Kurzfassungen in Deutsch und EngJisch. Darin findet sich auch eine Obersicht der Arbeiten zu kontrovers dis-
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kutierten Thesen iiber die iranische Herkunft der Kroaten (V Koseak, Iranska teorija 0 podrijetlu Hrvata) sowie S. Cirkovies Aufsatz iiber die mittelalterliche Phase der Ethnogenese auf der Balkanhalbinsel mit weiteren wichtigen Literaturhinweisen. Aus der immensen Literatur iiber die Geschichte des byzantinischen Reiches sind in unserem Zusammenhang besonders die Arbeiten von J. Ferluga von Bedeutung: Byzantium on the Balkans. Studies on the Byzantine Administration and the Southern Slavs from the VIIth to the XIIth Centuries, Amsterdam 1976 und Untersuchungen zur byzantinischen Provinzialverwaltung, VII-XIII Jahrhundert, Amsterdam 1992. Als klassische Standardwerke sind noch immer zu empfehlen: G. Ostrogorsky, Byzantinische Geschichte 324~1453, Miinchen 1965; S. Runciman, Byzantine Civilization, London 1993 und D. Obolensky, The Byzantine Commonwealth. Eastern Europe 500~1453, London 1971; I. Durie: Sumrak Vizantije ~ Vreme Jovana VIII Paleologa 1392~1448, Beograd 1984, frz: Le Crt!puscule de Byzance, 1996 und I. Goldstein, Bizant na Jadranu, Zagreb 1992. Zur bulgarischen Geschichte ist St. Evans, A Short History ofBulgaria, London 1960 heranzuziehen. Zu den Wlachen: T. Winnifrith: The Vlachs. The History of a Balkan People, New York 1987; erste Orientierung verschafft der Artikel von P. Skok, "Vlah" in: Enciklopedija Jugoslavije 8, Zagreb 1971. Beziiglich der altbalkanischen GroBfamilien und Katuns besonders aufschlussreich: K Kaser, Hirten, Kampfer, Stammeshelden. Ursprunge und Gegenwart des balkanischen Patriachats, Wien, Koln, Weimar 1992. In Bezug auf andere Volker finden sich die Literaturhinweise in den entsprechenden Kapiteln des Handbuches. Zu mittelalterlichen Stadten und stiidtischen Gesellschaften besonders zu empfehlen ist die Studie von KD. Grothusen, Entstehung und Geschichte Zagrebs bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts, Wiesbaden 1967; K-P' Matschke, Die byzantinische Stadt im Rahmen der allgemeinen Stadtentwicklung, 1995. Empfehlenswert ist auch der Sammelband The Urban Society of Eastern Europe in Premodern Times, ed. B. Krekie, Berkely, Los Angeles, London 1987. Speziell zu Dubrovnik: B. Krekie, Dubrovnik, Italy and the Balkans in the Late Middle Ages, London 1980; Dubrovnik: Mediterranean Urban Society 1300~1600, London 1997. Einschlagige Literatur zur Islamisierung sowie der Rolle der Konfessionen wird in den entsprechenden Kapiteln des Handbuches empfohlen. Zum gravierenden Problem der Migrationen gibt es noch immer keine umfassende Studie. Eine Art Chronik der Migrationen fehlt auch. Grundlegend, wenn auch nicht systematisch vergleichend, daher: I. N inie (Hg.), Migrations in Balkan History, Belgrad 1989 (SANU), sowie Beitrage der Zeitschrift Migracijske leme. Casopis za iSlraiivarife migracija i narodnost, Zagreb. Empirisches Material enthalt der Sammelband Migracije i Bosna i Hercegovina, Sarajevo 1990. Literatur zu neuzeitlichen Entwicklungen findet man in den entsprechenden Kapiteln des Handbuches. Uberlegungen methodologischer Art kann man nachlesen in: S. Cirkovie, "Procesi istorijskog priblizavanja i ujedinjenja naroda i narodnosti Jugoslavije kao polje istraZivanja", in: Jugoslovenski istorijski casopis 1~2 11988 ("Die Prozesse der historischen Anniiherung und Vereinigung der Volker und Nationalitaten Jugoslawiens als Forschungsgebiet).
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2.1. Von der Friihzeit bis zur Reformation Die historische Entwickhmg des heutigen slowenischen Staatsgebietes wurde in besonderer Weise von seiner geographischen Lage bestimmt. 1m Raum zwischen den Alpen und der Adria, an der Ostgrenze der romanischen und der SUdgrenze der germanischen Welt kreuzten sich die Verkehrs- und Handelswege, die von der Adria in den Norden, aus Italien nach Ungam und in den Balkan und aus Deutschland in den Siiden und Osten Europas fiibrten. Als Foige dieser Situation karn es auf diesem Gebiet zur Kreuzung diverser Kultureinfliisse, doch blieb es europaisches Randgebiet ohne eigene groBere Verwaltungs-, Wirtschafts- und Kulturzentren. Die slawischen Vorliiufer der Siowenen siedelten sich vom sechsten bis zum achten Jahrhundert im Ostalpenraum an. Ein Teil des slowenischen Siedlungsgebietes gehOrte zwischen dem siebenten und achten Jahrhundert zum slawischen Fiirstentum Karantanien, mit dem Zentrum auf dem Zollfeld nahe Klagenfurt. Karantanien wurde im 8. Jahrhundert von den Bajuwaren unterworfen und karn im 9. Jahrhundert zum karolingischen Imperium. Nach der Teilung des Frankenreiches im 9. Jahrhundert waren die von Vorgangern der Siowenen besiedelten Gebiete bis 1918 Bestandteil jener staatlich-politischen Gebilde, die als Erbe des Frankenreiches entstanden waren. Bis zum 12. Jahrhundert breitete sich hier die von Westen kommende "Hufenverfassung" (basierend auf dem Eigentum an einem Landsruck, der ,,Hufe") aus. Gleicbzeitig wurde die im 8. Jahrhundert begonnene Christianisierung abgeschlossen. Mit den feudalen Verhiiltnissen etablierte sich eine neue Oberschicht, die zum Teil aus Bayern, zum Teil aus dem friaulischen Bereich karn, aber auch einheimische Elemente mit einschloss. Aus dem Kranz von Marken, die im 10. Jahrhundert entlang der SUdostgrenze des deutschen Reiches entstanden waren, entwickelten sich vom 12. bis zum 14. Jahrhundert - als eine besondere Form von Staatlichkeit - die historischen Lander Steiermark, Krain und Kiirnten. Nach dem Sieg iiber den bOhmischen Konig Ottokar Premysl1278 begannen die Habsburger allmiihlich ihre Macht auszubauen und gliederten im 14. Jahrhundert ihrer Herrschaft noch die Grafschaft MitterburgIPazin in Istrien und Triest an (1382). Urn 1500 befand sich fast das ganze von Siowenen besiedelte Gebiet (mit Ausnahme der slowenischen Siedlungsgebiete in Ungam und in der Republik Venedig) in der Hand Habsburgs. Als Vogte versuchten die Habsburger auch, EinfluB auf die kirchliche Organisation auszuiiben. Bereits 811 war das Gebiet nordlich der Drau der kirchlichen Obhut der Salzburger ErzbischOfe unterstellt worden, siidlich davon aber dem Patriarchen von Aquileia. Auf dem Salzburger Gebiet entstanden schon im 12. und 13. Jahrhundert neue Bistiimer; auf dem Gebiet siidlich der Drau, das vom Patriarchen von Aquileia verwaltet wurde, griindete Kaiser Friedrich III. 1461/62 das Bistum Laibach.
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Nach Meinung der Sprachwissenschaftler bildeten sich die Slowenen erst im 12. Jahrhundert als besondere Sprachgruppe aus. Der sprachlich urspriinglich slawische Adel existierte zum Grofiteil nicht mehr oder war mit Adelsgruppen aus dem deutschen bzw. italienischen Sprachgebiet zu einem neuen Ade1 verschmolzen. Das Slowenische war demnach uberwiegend eine Bauernsprache. Der slowenische Bauer wahrte die miindliche Uberlieferung durch die Jahrhunderte. Der Adel, die hOheren stiidtischen Schichten, die Beamten und Gebildeten verwendeten die ublichen Sprachen der Kommunikation, der Amter, der Schulen und der gebildeten Kultur: Latein und Deutsch, an der Adriakuste und in ihrem Hinterland auch Italienisch. Aus den Reihen der Bauem ging eine schmale Schicht Gebildeter hervor, die lutherischen Reformatoren, we1che im 16. Jahrhundert die ersten slowenischen Bucher (1550/51) verfassten und die Bibel ins Slowenische ubertrugen. Sie hoben damit die (slowenische) Volkssprache auf die Ebene der Schriftsprache. Die zentrale Personlichkeit der slowenischen Reformation war der Domherr (Kanonikus) Primoz Trubar (1508-1586), als Sohn eines Dorfiniillers geboren. Unter dem Einfluss der Schweizer Reformatoren und des Luthertums ubernahm er die reformatorischen Ideen und begriindete ausgehend von den krainisch-slowenischen Dialekten die slowenische Schriftsprache.
2.2. Nachwirkungen der Reformation Die habsburgische Rekatholisierung driingte die reformatorische literarische Tiitigkeit zurUck und verzogerte somit die Bemiihungen urn die slowenische Schriftsprache urn eineinhalb Jahrhunderte. Der Laibacher BischofTomaz Hren (1560-1630) ermoglichte aber durch die Beibehaltung der protestantischen Bibel die Kontinuitat der protestantisch-slowenischen Schriftsprache im Zentralraurn des slowenischen Sprachgebietes. Die Slowenen standen in der Mitte des 18. Jahrhunderts gesellschaftlich und kulturell auf einer iihnlichen Stufe wie die Bretonen. Die theresianischen Reformen belebten in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts - parallel zum vorromantischen Interesse fUr Volkskultur und Sprache - emeut die slowenische Publizistik. 1m Jahre 1768 rief der Ordensmann Pater Marko Pohlin (1738-1801) in einer auf Deutsch verfassten slowenischen Grammatik seine Landsleute dazu auf, sich der eigenen Sprache nicht zu schiimen, und setzte sich fUr eine breitere Verwendung des Slowenischen in Wissenschaft, Kultur und Schulwesen ein. Den ersten Schritt in diese Richtung machte die Allgemeine Schulverordnung Maria Theresias (1774): Obwohl sie den Unterricht in der Volkssprache nur auf der untersten Schulebene einfiihrte, stimulierte dies dennoch die Standardisierung der Sprache. Ein Netz von Volksschulen mit slowenischer Unterrichtssprache verlieh zugleich auch der slowenischen Sprachgrenze zum ersten Mal klarere Konturen. (-7 Kap. 16) Pohlin folgten weitere SchriftsteUer, Priester und andere Gebildete: Sie sammelten sprachliche Substanz, gaben Worterbiicher, Grammatiken und Handbiicher fUr Bauem heraus, schrieben Gedichte und ubersetzten religiOse Schriften. 1m Jahre 1789 wurde in Laibach erstmals ein Theaterstiick in slowenischer Sprache aufgetUhrt: die Bearbei-
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tung einer deutschsprachigen Vorlage durch Anton Tomaz Linhart (1756-1795), der auch durch seine historiographische Tatigkeit Bedeutung erlangte. In seinem auf Deutsch verfassten "Versuch einer Geschichte von Krain und den iibrigen Landem der siidlichen Slawen Osterreichs" (1788-91) definierte er die slowenischsprechende BevOlkerung als eigenes Volk mit eigener Geschichte. Es unterscheide sich nicht nur von den Deutschen und den Italienem, sondem auch von den anderen Slawen. Mit diesen (und anderen) Aktivitaten begann in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die slowenische nationale Bewegung. Die slowenische Nationalbewegung hatte bis zum Jahre 1848 ausschlieBlich sprachlichen und literarischen Charakter und wurde vor allem von Gebildeten, Priestem und Laien getragen, die sich der VervolIkommnung der Schriftsprache widmeten. Durch die vierjahrige Episode unter franzosischer Regierung und die Einrichtung der Illyrischen Provinzen (1809-1813) mit der Hauptstadt in Laibach/Ljubljana wurden diese Bestrebungen beschleunigt. Die franzosischen Machthaber fiihrten die Gleichheit vor dem Gesetz ell, modernisierten das Steuer-, Verwaltungs- und Schul system und zeigten fiir die slowenische Sprache mehr Interesse als die Osterreicher. Deshalb dachte die slowenische liberale Intelligenz noch in der Zeit des Ersten Weltkrieges mit Dankbarkeit an Napoleon und die Illyrischen Provinzen zuriick. Gerade in der Zeit der Illyrischen Provinzen begann sich fiir die slowenische Bevolkerung die einheitliche Bezeichnung Slowenen durchzusetzen (zuvor verwendete man fiir sie die Landesnamen wie "Krainer" oder in Klimten: "Wenden"). Die Regierenden zur Zeit des osterreichischen Vormarz konnten die literarische Tatigkeit, die mit den Einfliissen der Romantik neuen Auftrieb erhielt, nicht mehr aufhalten. 1m Jahre 1830 erschien in Laibach die erste slowenische literarische Zeitschrift. Ab 1843 erscheint das - den Bauem und Handwerkem gewidmete - Journal Novice (Neuigkeiten), das sich bald zum nationalkulturellen Organ entwickeln sollte. 1m Jahre 1844 rief der groBte Dichter der slowenischen Romantik, France Preseren (1800-1849), im Gedicht Zdravljica (Trinklied) die "unterdriickten VOlker" zum Widerstand auf, sollte ihre Feiheit nicht friedlich durchsetzbar sein (zwei Strophen dieses Gedichtes wurden 1991 zum Text der slowenischen Staatshymne). 1m Jahre 1844 verwendete der Dichter Fran Vesel Koseski den Ausdruck "Slowenien" zum ersten Mal als zusammenfassenden Begriff fiir das Gebiet mit slowenischsprachiger Bevolkerung. Slowenien wurde aber erst im Jahr 1848 zur national-politischen Forderung, als slowenische IntelIektuelIe und Studenten, nach tschechischem Muster und unter deutschem Einfluss, ihr national-politisches Programm formulierten und die Vereinigung aller Slowenen in einer verwaltungsmaBigen und poJitischen Einheit, dem so genannten "Vereinigten Slowenien" forderten. Dieses stellte man sich als eine Einheit innerhalb einer f6derativ organisierten Habsburgermonarchie vor, mit Autonomie in Verwaltung, PoJitik, Kultur und auch Wirtschaft. Das Ideal einer so1chen autonomen Einheit mit einem groBziigigen ,,home rule" ist bis zum Zerfall des kommunistischen Jugoslawien in den achtziger lahren des 20. lahrhunderts - obwohl zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark ausgepragt - die Leitlinie der slowenischen nationalen Politik gebJieben.
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2.3. Modernisierung und integrative Prozesse Nach der Niederschlagung der Revolution und der Restauration des Absolutismus in der Habsburgermonarchie verschwand die Idee des Vereinigten Slowenien aus dem offentlichen Leben. Mit der Emeuerung des Verfassungslebens in der Monarchie nach 1861 fand die slowenische nationalpolitische Bewegung in der Bevolkerung rasch Anhanger. Bei den Landtagswahlen 1867 besiegten die slowenischen Kandidaten zum ersten Mal iiberzeugend die deutschen Gegner. Schon Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre kam es zugleich zur katholisch-liberalen Polarisierung, die das slowenische politische Leben bis 1945 kennzeichnete. 1m katholisch-liberalen Konflikt war die katholische Seite - hinsichtlich der Akzeptanz bei der Bevolkerung - die ganze Zeit hindurch sHirker. Dem schwach profilierten slowenischen Liberalismus geMrte aber der GroBteil der Intelligenz an. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts organisierten sich die beiden Lager in Parteien, als sich auch schon die Sozialdemokraten als dritte Parteigruppe formierten. Die Slowenen entwickelten sich bis zum Ersten Weltkrieg - trotz langsamerer Wirtschaftsentwicklung und iiberwiegend landlicher Struktur - zu einer reifen und gesellschaftlich in sich strukturierten nationalen Gruppe mit eigenem Biirgertum, selbstiindigen Wirtschafts-, Bildungs- und Kultureinrichtungen, eigenem Zeitungswesen und Parteien. Die Hauptrolle bei der Bildung der eigenen Eliten spielten die osterreichischen Universitaten, wo sich in drei Generationen - zwischen 1840 und 1910 - eine beruflich differenzierte und zahlenmiiBig starke Intelligenz bildete, die zum Trager nationalen Bewusstseins und nationaler Politik wurde. Es iiberrascht daher nicht, dass Kulturschaffende, vor allern Dichter und Schriftsteller, die slowenischen Anliegen oft entschiedener als die Parteifiihrer formulierten. Bis zum Sturz der Regierung Taaffe (1893) verbiindeten sich die beiden slowenischen biirgerlichen Parteien im osterreichischen Parlament mit den osterreichisch-deutschen Konservativen. Ende des 19. Jahrhunderts zerfiel dieses Biindnis, und es schien, als sei ein Ubereinkommen zwischen Slawen und Deutschen nicht mehr moglich. Slowenische Politiker begannen - da sie sich der eigenen zahlenmiiBigen Schwache bewusst waren (1910 lebten auf dem Gebiet des heutigen Slowenien 1.320.000 Einwohner) -, nach neuen Verbiindeten Ausschau zu halten. Die jugoslawische Bewegung, die vor dem Ersten Weltkrieg alle slowenischen Parteien erfasste (die katholische, die liberale und die sozialdemokratische), basierte einerseits auf der Erfahrung von Bedrangnis und Bedrohung durch ein aggressives Deutschtum, andererseits aber auf der ziemlich unkritischen, von romantischer Begeisterung durchdrungenen Uberzeugung, dass sich die Slawen - und vor aHem die Siidslawen - untereinander vielleichter verstandigen wiirden als die Slawen mit den Deutschen. Wamungen einiger kritischer Intellektueller - etwa des Schriftstellers Ivan Cankar -, dass zwischen Serben, Kroaten und Slowenen zwar eine sprachliche Verwandtschaft bestehe, sie sich aber in Geschichte, Tradition, Kultur und sogar Mentalitat erheblich voneinander unterschieden, verhallten ungehOrt. Der ZerfallOsterreich-Ungams am 29. Oktober 1918 wurde von den Slowenen - nach der Massenbewegung der Jahre 1917-18 zugunsten eines siidslawischen Staates unter dem Zepter der Habsburger - stiirmisch begriiBt. Nach dem Zerfall der
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Habsburgennonarchie blieben im neugegriindeten Staat der Siidslawen mit dem durch die Rapallo-Vertriige festgelegten Grenzverlauf etwa 30 Prozent Slowenen auBerhalb dieses neuen Staates (mehr als 300.000 in Italien, etwa 80.000 in Osterreich und 78000 in Ungarn).
2.4. 1m ersten jugoslawiscben Staat FUr die Slowenen bedeutete der 1918 entstandene jugoslawische Staat einen groJ3en Fortschritt. Bine eigene Universitiit (1919), ein breit gefachertes Netz von Mittelschulen, Theatem und Galerien, eine Kunstakademie und zahlreiche neue Zeitungen und Zeitschriften lieJ3en die jugoslawischen Slowenen der zwanziger und dreilliger Jahre einen dynamischen, europiiisch ausgerichteten kulturellen Impuls erleben, den sie zuvor nicht gekannt hatten. Der slowenische Teil Jugoslawiens wurde rasch industrialisiert und war zusammen mit Kroatien der wirtschaftlich hOchstentwickelte Teil des jugoslawischen Konigreiches. Die katholische Slowenische Volkspartei, die in Ljubljana eine slowenische Autonomie beschwor, in Belgrad aber taktierte und sich mit den Radikalen und dem Hofverbiindete, war die starkste politische Kraft in Slowenien. (7 Kap. 10) Ihr Parteifiihrer Anton Korosec (1872-1940) war zwolfmal Minister, einmal Vizepriisident und einmal Regierungschef, dazwischen stand er fast zwei Jahre lang auf der Insel Hvar unter Hausarrest (1933-34). Seine Verbindungen und seine Position in Belgrad setzte ersoweit moglich - fUr die Starkung der autonomen slowenischen Einrichtungen, aber selbstverstiindlich auch der slowenischen Volkspartei ein. Er misstraute Stjepan Radi6s Antiklerikalismus. An dessen Nachfolger Macek und die kroatische Bauempartei niiherte sich Korosec erst nach seinem Abgang aus der Regierung Stojadinovi6 (1938) an. Der pragmatischen Politik Korosecs widersprachen im katholischen Lager die demokratischen Intellektuellen und die christlichen Sozialisten (letztere fanden starke Untersrutzung in den Gewerkschaften). Die Mehrheit der slowenischen Liberalen schloss sich 1919 der Jugoslawischen Demokratischen Partei an. 1m Gegensatz zur Slowenischen Volkspartei befiirworteten sie den Zentralismus und versuchten, ihre Position in Slowenien, wo sie politisch immer deutlich hinter der katholischen Partei zurUcklagen, mit Hilfe Belgrads zu festigen. Die Befiirwortung des Zentralismus lichtete jedoch die liberalen Reihen noch starker, vor allem nach der Ausrufung der Konigsdiktatur in den dreiJ3iger Jahren. In der Arbeiterschaft hatten - neben den Christlichen Sozialisten - auch die Sozialisten erheblichen Riickhalt. Der Einfluss der Kommunisten war in den Jahren von 1921 bis 1935 gering (1935 gab es etwa 480 Mitglieder) und vergroJ3erte sich erst mit der Erstellung eines eigenen "slowenischen Programms". 1m Jahre 1937 wurde die Kommunistische Partei Sloweniens als eigene Organisation der Kommunistischen Partei Jugoslawiens gegriindet. In den Jahren 1935-39 entwickelte sich in Slowenien eine Bewegung der nationalen Verteidigung (Volksfront), in der die Kommunisten schon eine sichtbare politische Rolle spielten.
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2.5. Der Zweite Weltkrieg uod die kommuoistische Diktatur Nach der Ausweitung des Zweiten Weltkrieges auf jugoslawischen Boden im April 1941 wurde das jugoslawische Slowenien von Deutschen, Italienern und Ungaro besetzt. 1m Unterschied zur Vertreibungs- und aggressiven Gennanisierungspolitik der Nationalsozialisten gewabrten die italienischen Okkupanten in dem von ihnen annektierten Teil Sloweniens beschrlinkte lokale Autonomie und erlaubten den Gebrauch der slowenischen Sprache. Doch der Widerstand gegen den Faschismus konnte sich am raschesten dort formieren, wo das Terrorregime - wie in der italienischen Zone - gewisse Spielraurne offen lieB. Da die bfugerlichen Parteien urn einen modus vivendi mit den Italienern bemiiht waren und den Aufbau einer Untergrundbewegung zu langsam betrieben, iibemahmen die Kommunisten die Initiative im Kampf gegen die Besatzungsmachte. Sie versammelten Ende April 1941 in der Antiimperialistischen Front (spater Befreiungsfront) christliche Sozialisten, slowenisch orientierte Liberale sowie einen nicht geringen Teil der bauerlichen Bevolkerung. Die Befreiungsbewegung breitete sich besonders nach der Kapitulation Italiens auf das ganze slowenische Gebiet aus und entwickelte sich verhliltnismliBig autonom, jedoch in Verbindung mit der Befreiungsbewegung der Partisanen im iibrigen Jugoslawien. Die slowenischen Vertreter bestatigten am 29. November 1943 in Jajce ihr Einverstlindnis mit der Emeuerung Jugoslawiens bei Gewlihrung des Rechts auf eine eventuelle Sezession. Die Fiihrung der jugoslawischen Kommunisten begann erst 1944 die Selbstlindigkeit der slowenischen Fiihrung des Widerstandes und der Kommunisten spfubar einzuengen. Die slowenischen Kommunisten nutzten den Widerstand gegen die Besatzer als Mittel zur Abrechnung mit den Gegnem der Partisanenbewegung und wandelten ihn in eine soziale Revolution urn. Neben der antikommunistischen Propaganda der katholischen und der liberalen Partei sowie eines Teiles der Priesterschaft trug ihre Politik der "Bestrafung der Verrater" mit dazu bei, dass die antikommunistischen so genannten Heimwehrmilizen (domobranci) entstanden. Diese Entwicklung fiihrte zum Bfugerkrieg. Die kommunistischen FUhrer unterwarfen bis zum Herbst 1943 aIle in die Befreiungsfront eingegliederten Gruppen. Ab 1944 etablierten sie auf dem von ihnen kontrollierten Gebiet die neue, revolutionare Herrschaft und konnten nach dem Ende des Krieges 1945 - ohne besondere Umwlilzung - das Verwaltungssystem und die Institutionen iibemehmen. Die Riickgewinnung des slowenischen Kiistenlandes, des Gebietes urn Gorz und der Innerkrain, die nach dem Ersten Weltkrieg von Italien besetzt worden waren (etwa 300.000 Menschen), konnte aus Sicht der Slowenen gewiss als bedeutender Erfolg des Partisanenkampfes und der jugoslawischen Nachkriegsdiplomatie gelten. Dennoch blieb nach dem Friedensvertrag von Paris (1947, endgilltig bestatigt 1954) eine betrachtliche slowenische Minderheit in Triest und Umgebung (etwa 80.000) sowie im osterreichischen Klimten. Die Rechte und Zustlindigkeiten, die die Republik Slowenien nach der Verfassung 1946 erhielt (Parlament, Regierung, Verfassung, eine Reihe von Ministerien), waren zum GroBteil nur Schein. Das politische System in Slowenien unterschied sich in den ersten Jahren nach dem Krieg nicht wesentlich von dem in den anderen jugoslawischen
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Republiken; nach einigen EinschlitZWlgen war es noch brutaler als anderswo. (~ Kap. 11) Die damalige politische, gesellschaftliche, wirtschafiliche, zwn Teil auch die kulturelle Elite der Siowenen wurde nach dem Krieg buchstiiblich "enthauptet". Anfang der fiinfziger Jahre begann sich die politische Atmosphlire in Siowenien ahnlich wie anderswo in Jugoslawien - zu veriindern. Die jugoslawische Fiihrung hatte nach dem Bruch mit der Sowjetunion in der sogenannten ,,Arbeiterselbstverwaltung" ein eigenes "alternatives" Modell des Sozialismus entwickelt. Hauptideologe der neuen, jugoslawischen Form des Sozialismus war der Siowene Edvard Kardelj (19101979), der mit einer Mischung aus kommunistischen, sozialistischen und anarchistischen Ideen ein - in sich widerspriichliches - System schuf, das sich zwn Motor von Gegensatzen und Konflikten entwickelte. In Siowenien misslang die Politik der landwirtschaftlichen Kollektivierung und des Genossenschaftswesens schon vor der Mitte der fiinfziger Jahre, dagegen wurde der Druck auf die Industrie, die sich in den ersten J ahren nach dem Krieg den Bediirfuissen des industriellen Aufbaues in anderen Republiken anpassen musste, etwas gelockert. Die slowenische politische Fiihrung ging unvermindert scharf gegen die Gegner des Regimes vor, besonders gegen die katholische Kirche; zu Beginn der fiinfziger Jahre entfemte sie den letzten "widerspenstigen" katholischen Verbiindeten, den Dichter Edvard Kocbek (1904-1981), aus ihren Reihen. Mit Einfiihrung der Selbstverwaltung und beginnender Dezentralisierung brachen in den fiinfziger Jahren auch die nationalen Gegensatze wieder auf. Diskussionen dariiber, wie stark der zentrale Staat und wie selbstiindig die autonome Republiksregierung sein solIe, spalteten die kommunistische Spitze, die Meinungsverschiedenheiten fanden aber zwn ersten Mal auch in der Offentlichkeit und in den Kulturzeitschriften stiirkeren Widerhall. In Belgrad meldete sich 1961 im Namen der serbischen Zentralisten der Schriftsteller Dobrica Cosic zu Wort. Er machte fUr die wachsenden Spannungen unter denjugoslawischen Republiken die ,,Nationalisten" und FOderalisten verantwortlich und mahnte die Respektierung der "demokratischen" politischen Disziplin und der ,,intemationalistischen Praxis" der jugoslawischen Kommunisten an. In Ljubljana hielt ibm der Literaturhistoriker Dusan Pitjevec entgegen, die Nation sei "die elementare Form der gesellschaftlichen Verbindung". Zugleich beschuldigte er die Anhanger des Zentralismus von Staat und Partei, mit ihrer Kritik der fdderalistischen Staatsorganisation zur Steigerung des Nationalismus der einzelnen Volker beizutragen. Er sagte voraus, dass sich Jugoslawien nur dann erhalten werde, wenn es die nationale Vielfalt und die ungestOrte Entwicklung der einzelnen Volker und Staatsteile akzeptiereo In der polemischen AuseinandersetZWlg zwischen Cosic und Pirjevec wurden die Auffassungsunterschiede innerhalb der jugoslawischen Spitze deutlich.
2.6. Dezentralisierung und nationale Antagonismen Die Wrrtschafisreform des Jahres 1965 und die Reform des Geheimdienstes ein Jahr spater erreichten zwar liingerfristig nicht ihre Ziele, kurzfristig machten sie die ersten Schritte einer Demokratisierung moglich. In der zweiten HaIfte der sechziger Jahre iibemahmenjiingere, liberaler denkende Kommunisten das Ruder. Sie waren der Mei-
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nung, man konne den Sozialismus zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung reformieren, und setzten sich fiir eine rasche Modemisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ein. Das Programm der slowenischen Regierung unter der Filllrung von Stane Kavcic unterschied sich nicht wesentlich von den Forderungen der Reformer in anderen Republiken, vor allem in Kroatien und Serbien, nach Demokratisierung, Dezentralisierung, Marktwirtschaft und einer effizienten Sozialgesetzgebung. Kavcic war iiberzeugt, dass nur ein neuer Vertrag zwischen den Nationen und Republiken das Uberleben Jugoslawiens ermoglichen wiirde, und empfand die Entscheidung der jugoslawischen Filllrung (mit Tito an der Spitze), die Reformpolitiker 1972 durch dogmatische Reformgegner zu ersetzen, als groBen Fehler im Hinblick auf die jugoslawische Zukunft. (7 Kap. 13) Nach 1972 war eine freie AuBerung politischer' Standpunkte in Jugoslawien nicht mehr moglich. Die Verfassung von 1974 und die Diskussionen rund um ihre Entstehung machten die utopische Natur von Titos und Kardeljs nationalpolitischen Konzepten bis auf den Grund sichtbar. Slowenische "titoistische" FUhrer wie France Popit unterstUtzten die Verfassung ohne Einschriinkung, da sie einerseits ihr politisches Monopol garantierte und andererseits die Moglichkeit bot, mit Belgrad zu handeln, wo slowenische Jnteressen - ihrer Meinung nach - geflihrdet waren. Die slowenische kommunistische Filllrung, die Dogmatiker Sergej Kraigher und Stane Dolanc, lehnten jeden Gedanken an die F ormulierung eines eigenen slowenischen politischen Programms - auch nach dem Tod von Kardelj und Tito - abo Nach der offenen Abrechnung mit den Albanem im Kosovo im Jahre 1981, und nachdem die katastrophale Verschuldung Jugoslawiens offenbar wurde, erstarkte in Slowenien das Misstrauen gegen die zentralen politischen Einrichtungen in Belgrad. Schon als die kommunistische Bundesbiirokratie in den Jahren 1983-84 versuchte, mit der Zentralisierung der Schul-, Wissenschafts- und Kulturpolitik ihre schwindende AutoriUit zu stiirken, trat die Unzufriedenheit offen zutage. Als es nach groBen Spannungen Mitte der achtziger Jahre zum Zerfall der jugoslawischen Schriftstellervereinigung kam, blieben die Kontakte zwischen den slowenischen, kroatischen und serbischen Intellektuellen trotzdem bestehen. Vor allem ein Teil der demokratischen Opposition in Ljubljana, versammelt um die Zeitschrift Nova revija, die seit ihrer Griindung (1982) einen bedeutenden Teil der oppositionellen Intelligenz Sloweniens um sich scharte, setzte lange auf Dialog und Zusammenarbeit unter den oppositionellen Intellektuellen in Jugoslawien. Das war jedoch - wie das Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaft und Kunst 1986 offenbarte - eine Rechnung ohne den Wirt; das Memorandum vermittelte klar den Eindruck, dass die fiihrenden Intellektuellen in Belgrad keinen gleichberechtigten Dialog anstrebten. Insgesamt verlief der Prozess der Demokratisierung und der Ablehnung der kommunistischen politischen Formen im westlichen Teil Jugoslawiens viel schneller als im ostlichen.
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2.7. Aufdem Weg in die Unabbiingigkeit
In Slowenien breiteten sich nach 1985 Bewegungen jWlger Leute aus, die sich fUr eine radikale AbrechnWlg mit der kommunistischen Symbolik, fUr MeinWlgsfreiheit, eine zivile Kontrolle fiber die Annee Wld die RespektiefWlg der Menschenrechte einsetzten. Ihr Sprachrohr wurde das Wochenblatt Mladina (Jugend). (7 Kap. 20) Der Verfall der slowenischen Wirtschaft Wld grobe Belgrader Kritik am slowenischen Standpunkt, dass die Verhaltnisse im Kosovo nur im Einklang mit den Albanem zu regeln seien, brachten auch die slowenische kommunistische Politik in arge Bedrangnis. In dieser Atmosphare entwarfen in den Jahren 1987-88 die urn Nova revija versanunelten Intellektuellen zum ersten Mal ein "slowenisches Nationalprogranun". Den "slowenischen Staat" definierten sie als eine Demokratie nach westlichem Muster, mit Marktwirtschaft Wld verfassWlgsmaBiger Organisation, auf der Gnmdlage der RespektiefWlg staatsbiirgerlicher Rechte Wld Ptlichten. Sie lehnten den jugoslawischen nachtitoistischen Parteistaat ab als ein System, in dem man zum ewigen Minderheitsdasein verurteilt sei. Trotzdem hielten die Autoren des "slowenischen Progranunes" die Moglichkeit einer Einigung mit den anderen jugoslawischen Nationen Wld Republiken noch bis zum Jahre 1990 fUr gegeben, obwohl nach dem Aufstieg des Slobodan Milosevic an die Spitze der serbischen Kommunisten, als die EntwicklWlg in Serbien Wlter der Parole "ein starkes Serbien in einem starken Jugoslawien" verlief, aIle HoifuWlgen auf Verstandigung rasch verschwanden. Die EntscheidWlg, im Kosovo militarisch einzugreifen, Wld die DrohWlg, serbische MassenversanunlWlgen nach bekanntem Muster auch in Ljubljana abzuhaIten, urn Druck auf die slowenische RegiefWlg auszufiben, brachten die offentliche MeinWlg endgiiltig gegen Serbien Wld Belgrad auf 1m September 1989 nahm das slowenische Parlament VerfassWlgszusatze an, we1che die slowenische Selbstandigkeit im Verhaltnis zu Belgrad neu regelten, Wld strich die BestimmWlg fiber die fiihrende Rolle der kommunistischen Partei aus der VerfassWlg. In Be1grad betrachtete man die slowenischen VerfassWlgszusatze als ersten Akt der Sezession. Serbien Wlterbrach nach dem Verbot der serbischen VersanunlWlg in Ljubljana die WirtschaftsbeziehWlgen zu Slowenien; in der Hauptstadt Montenegros verlangten die Demonstranten Waffen fUr die AbrechnWlg mit Slowenien. Der Auszug der slowenischen Kommunisten yom 14. Kongress des Verbandes der Kommunisten Jugoslawiens (Januar 1990) - nachdem aIle ihre Vorschlage durch UberstimmWlg abgelehnt worden waren - fand durchwegs die ZustimmWlg der slowenischen Offentlichkeit. In Slowenien entstanden die ersten nicht kommunistischen politischen Organisationen Kmecka zveza (BauembWld) Wld Slovenska demokraticna zveza (Slowenischer demokratischer Verb and) schon in den Jahren 1988/89; die ersten Mehrparteienwahlen fanden 1990 statt. Bei den Parlamentswahlen gewann die demokratische Opposition DEMOS (die Koalition aus der Christlich-demokratischen, der Demokratischen Wld anderen Parteien), aIs Staatsprasident wurde in den Stichwahlen der bisherige Prasident der slowenischen Kommunisten Milan Kucan, der mit 59 % den DEMOS-Kandidaten Joze Pucnik geschlagen hatte, gewiihlt. Die neue RegiefWlg annullierte einige BWldes- Wld erlieB neue Republiksgesetze, urn die wirtschaftliche, finanzielle Wld politische Selbstandigkeit Sloweniens zu festigen. 1m Dezember 1990 Wlterstiitzte die
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slowenische BevOlkerung in einem Plebiszit mit mehr als 88 Prozent der abgegebenen Stimmen die F orderung nach staatlicher Souveriinitat Sloweniens. Trotzdem war in der Offentlichkeit noch wiihrend der ganzen ersten Halfte des Jahres 1991 die Stimmung fUr eine Verstandigung mit den Serben und Belgrad vorhanden. Den letzten Schlag versetzte dieser Bereitschaft erst die militarische Intervention, die der slowenischen Selbstandigkeitserkliirung am 26. Juni 1991 folgte. Die militiirischen Auseinandersetzungen in Slowenien dauerten zehn Tage. Einheiten der jugoslawischen Armee, die Grenziibergange und andere strategische Punkte zu besetzen versuchten, stieJ3en aufunerwarteten Widerstand der Miliz, der slowenischen Territorialverteidigung und der BevOlkerung, und sie erlitten trotz technischer Ubermacht eine klare Niederlage. Nach mehrtagigen Bemiihungen der Europaischen Gemeinschaft erreichte man am 4. Juli einen Waffenstillstand. Am 7. Juli 1991 wurde der vor den ZusarnmenstOJ3en geltende Zustand wiederhergestellt und ein dreimonatiges Moratorium fUr die slowenischen (und kroatischen) Selbstandigkeitsforderungen festgesetzt. Dessen ungeachtet beschloss das Prlisidium Jugoslawiens schon Mitte Juli 1991 - wahrscheinlich unter dem Eindruck der Ausweitung des Krieges in Kroatien - den Rfickzug der NA aus Slowenien innerhalb von drei Monaten. Slowenien entwickelte eine intensive diplomatische Tlitigkeit, um die intemationaieAnerkennung seiner Staatlichkeit zu erreichen. 1m slowenischen Parlament wurde am 23. Dezember 1991 die erste Verfassung des selbstandigen Staates Slowenien angenommen. Die Europaische Union entschied sich fUr die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens am 15. Januar 1992, nachdem die Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1991 die Anerkennung der beiden neuen Staaten angekiindigt hatte. Am 22. Mai 1992 wurde Slowenien zusarnmen mit Kroatien und Bosnien und Herzegowina Mitglied der Vereinten Nationen. Slowenien war unter den ehemaligen jugoslawischen Republiken ethnisch am homogensten: Nach der Volkszlihlung 1991lebten hier knapp 91 % Slowenen, 6,5 % Kroaten, Serben und Montenegriner, 0,5 % Ungam und 0,12 % Italiener. Das erleichterte die Verselbstandigung Sloweniens wesentlich. Die Desintegration Jugoslawiens und die fortschreitende slowenische Emanzipation wurden zweifellos begiinstigt durch die widerspriichliche und komplizierte politische Ordnung Jugoslawiens nach der Verfassung von 1974, we1che die Kompetenzen der Republiken stark erweitert hatte und vor all em in den achtziger Jahren unIosbare Probleme verursachte. Die Verfassung von 1974 definierte namlich die Republiken als "primaren Ort fUr die Durchsetzung von nationalen Interessen" und fibertrug ihnen eine Reihe von Aufgaben in Verwaltung, Politik, Wirtschaft und sogar im Militarwesen (die "Territorialverteidigung" lag im Kompetenzbereich der Republiken). Eigene Gesetze starkten auch die finanzielle Selbstandigkeit der Republiken (seit 1977 verfiigten sie selbst fiber die dort "verdiente" westliche Wlihrung). In der Praxis wurde der Zusarnmenhalt des Systems bis zum Beginn der achtziger Jahre durch die Person von Josip Broz Tito und die Autoritlit der kommunistischen Partei garantiert. Nach dem Tode Titos, als Folge des Autoritlitsverlustes der kommunistischen Herrschaft und durch die Wirtschaftskrise wurde die Verbindung zwischen den Republiken immer briichiger. Das widerspriichliche Verfassungssystem errnoglichte die Pluralisierung der politischen Entwicklung Jugoslawiens und somit eine Demokratisierung, die in unterschiedlichen Rahmenbedingungen ungleich
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schnell verlief. Die slowenischen politischen lUld kulturellen Eliten sahen im Zentralisierungsdruck des BlUldes lUld der Serben nach 1980 eine Einschrankung der schon erreichten politischen (lUld nationalen) Emanzipation lUld suchten den Ausweg aus der Krise in der weiteren SchwachlUlg der FOderation lUld der Verselbstandigilllg der Republiken. Das rasche Erlangen der Selbstandigkeit im Jahre 1991 kam trotz allem fUr die Mehrheit der slowenischen BevOlkerung ziemlich lUlerwartet. Erst nach 1991 begann Slowenien mit der Organisation der lUlerlasslichen staatlichen EinrichtlUlgen lUld einer entsprechenden GesetzgeblUlg; lUld es begann sich intemationalen Institutionen anzuschlieBen. Dabei erlebte Slowenien (lUld erlebt heute noch) ahnliche Ubergangsschwierigkeiten wie andere postkommunistische mitteleuropaische Staaten. Die schwierigste Frage stellt die Privatisierung dar. Diesbeziigliche Gesetze aus dem Jahre 1992 zogen weitreichende soziale, wirtschaftliche lUld politische F olgen nach sich. Einige Parteien sehen in der langsamen Transformation des Eigentums einen der Hauptgriinde fUr den wirtschaftlichen Missbrauch, der Untergang lUld Ausverkauf der ehemaligen sozialistischen Betriebe begleitet. Die slowenische Wirtschaft verlor mit dem Zerfall Jugoslawiens zweifellos den GroBteil ihres Marktes lUld erlebt eine lebhafte Umstrukturierung, die lUlter anderem in der hohen Rate von Arbeitslosen zum Ausdruck kommt (zwischen 12 lUld 14 Prozent). Fili die WirtschaftsentwickllUlg sind aber andererseits ein relativ stabiles Wirtschaftswachstum, eine feste WahrlUlg lUld steigende Bankreserven charakteristisch. Wirtschaftsfachleute erwarten zum Jahrtausendwechsel folgende wirtschaftliche Strukturveranderungen: Reduktion des Industrieanteils vonjetzt 40 auf 30 Prozent (lUlter Anstieg von DienstleistlUlgen), Modernisierung der Landwirtschaft sowie die Legalisierung der bisherigen "grauen Okonomie" - 1995 etwa 20 Prozent. (7 Kap. 32)
Noch lUlgewisser als die wirtschaftlichen Verhaltnisse sind die politischen. Die Koalition DEMOS zerbrach schon 1992 an der Frage der Privatisierung. Aus den Parlamentswahlen im Dezember 1992 ging die Liberaldemokratische Partei LDS (Mitglieder der ehemaligen kommlUlistischen Jugendorganisation lUld Kommunisten, denen sich nach dem Wahlsieg 1992 auch ein Teil der Demokraten anschloss) als starkste Partei hervor, gefolgt von den Christdemokraten, den Kommunisten, der Slowenischen Nationalpartei lUld der Bauempartei. Als Prasident der Republik wurde Milan Kucan 1997 wieder gewahlt. Regierungschef ist seit dem Zerfall des DEMOS lUld dem Riicktritt der DEMOS-Regierung (April 1992) der FUhrer der Liberaldemokratischen Partei, Janez Dmovsek, der in der zuriickliegenden Zeit verschiedenste politische Biindnisse (mit den Christdemokraten, den Sozialdemokraten lUld den ehemaligen Kommunisten) einging. Nach den Wahlen 1996 bildete die LDS mit Dmovsek an der Spitze die Regierung mit der Volks-(Bauem-)Partei lUld der kleinen Partei der Pensionisten. Die Gemeindewahlen von 1998 bestatigten die LDS als starkste Partei in den Stadten lUld die Volkspartei als einflussreichste politische Gruppierung auf dem Lande. Die groBe politische Ambition aller slowenischen Gruppierungen ist, das Land so schnell wie moglich an Europa anzuschlieBen. Die politischen Themen nach sieben Jahren Selbstandigkeit sind der Anschluss Sloweniens an die Europaische Union (Assoziationsabkommen 1996) lUld an
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die NATO, Privatisierung, ZU hoher Geldbedarf des Staates und wachsende Schulden, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstwo, die schleppende Modernisierung des Gerichtswesens und die Europiiisierung der Gesetzgebung. Die ofIentliche Diskussion kreist urn die Spaltung der Slowenen wlihrend des Zweiten Weltkriegs und die politischen Verhiiltnisse in der Zeit des jugoslawischen Kommunismus. Deutsch von Irena Bruckmuller
Literatur
Es gibt leider immer noch keine modeme monografische Darstellung der slowenischen Geschichte in deutscher oder englischer Sprache. Die in Slowenisch verfassten grundlegenden Syntbesen fOr die Geschichte bis 1918 sind immer noch die filnfbandige Darstellung von B. Grafenauer, Zgodovina slovenskega naroada, Ljubljana 1953-61, Bde. 1,2, und 5, auch bearbeitet 1964,1967 und 1974, (Geschichte des slowenischen VoJkes), sowie von F. Gestrin und V Melik, Siovenska zgodovina 1792-1918, Ljubljana 1966 (Slowenische Geschichte). Eine neue, moderne Syntbese stammt von P. Stih und V Simoniti, Siovenska zgodovina do razsvetljenstva, Ljubljana 1995 (Slowenische Geschichte bis zur AufkUirung). Die beste grundlegende Analyse Sioweniens 1918-1928 im ersten Jugoslawien ist weiterhin die Arbeit von M. Zecevic, Na zgodovinski prelomnici, Belgrad 1985, Ljubljana 1986 (Am historischen Wendepunkt). Eine tief gehende Darstellung der kommunistischen Machtiibernahme 1944-46 in Siowenien stammt von 1. Vodusek-Staric, Prezvem oblasti, Ljubljana 1992 (Machtiibernahme). Ein Autorenkollektiv und der Verlag ,,Nova Revija" gaben 1995-96 die zweibandige ilIustrierte Siovenska kronika xx. stoletja, Ljubljana 1995, 1996 (Slowenische Chronik des 20. Jahrhunderts) heraus. Einen Dberblick verschafft auch der Aufsatz von P. Vodopivec, ,,Fiinfzehn Punkte zur Frage: Grundziige und Konstanten der geschichtlichen Entwicklung Sioweniens", in: Begegnungen, Verlag Nova Revija, Ljubljana 1995, S. 69-77 (ein deutschsprachiger Querschnittsband mit Beitriigen aus der gleichnamigen Zeitschrift, der vielfaltige Einblicke in die slowenische Kultur seit den achtziger Jahren bietet). Zu den Darstellungen der jugoslawischen Geschichte, die nach dem Zerfall des Gesamtstaates erschienen sind, gehiirt die Monografie des in Triest lehrenden slowenischen Historikers JoZe Pirjevec, II giorno de San Vito, Turin 1993, slowenisch: Jugoslavija 1918-1992, Koper 1995. Einen historischen Uberblick geben femer 1. Benderly und E. Kraft, (Hg.) Independent Slovenia, Origins. Movements, Prospects, New York 1996. Als neuere Sammelbande aus Siowenien seien noch erwlihnt: 1. Pleterski (Hg.), Slovenci in driava, Ljubljana 1995 (Die Siowenen und der Staat) und V Rus (Hg.), Siovenija po letu 1995, Ljubljana 1995 (Slowenien nach dem Jahre 1995).
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3.1. Mittelalter oDd frube Neuzeit Als das Romische Imperium im 4. Jahrhundert in ein Ostromisches und ein Westromisches Reich zerfiel, verlief die Grenze zwischen beiden Reichen auf dem Balkan entlang der Drina, von der montenegrinischen Kiiste bis zur Miindung der Save in die Donau. Bis zur Gegenwart war dies der Grenzraum, in we1chem der europaische Westen endete und der Osten begann. Obwohl fUr die Gesamtheit Europas von geringer Tragweite, hatten diese Teilung und die Veriinderung des Grenzverlaufs, die sich auf wirtschaftliche Kontakte und kulturelle Einfliisse nachhaltig auswirkten, fUr das Schicksal der slawischen VOlker zwischen dem heutigen Italien und Osterreich bis nach Griechenland entscheidende Bedeutung. Die in der Bevolkerung beiderseits dieser Grenze bestehenden ethnischen AhnIichkeiten entwickelten sich im Laufe der Geschichte zu erheblichen Unterschieden. Das kroatische Volk hat seine historischen Anfange wie die Mehrheit der europaischen Volker im Friihmittelalter oder in den letzten Jahrhunderten der Antike. Die Kroaten verdanken viel der Kultur, die sie vorfanden, als sie im ehemals romischen Illyricum ansassig wurden. Die Illyrer waren eine alteingesessene indoeuropaische Bevolkerungsgruppe des Balkans, die trotz starker Romanisierung ihre Identitat in manchen Gebieten teilweise bis zum Beginn des Friihmittelalters bewahrt hatte. Bedeutend waren die Stiimme der Histrier und Dalmater, nach denen schon zu romischer Zeit die Regionen Istrien und Dalmatien benannt wurden. Nachhaltig wirkte sich die griechische Kolonisierung der Adriakiiste und der Inseln auf diesen illyrischen Raum aus, die im 4. Jahrhundert v. ehr. ihren Anfang nahm, ebenso wie das zeitgleiche Eindringen der Kelten aus dem Nordwesten. Zur Zeit der groBen Volkerwanderung durchzogen Barbarenvolker kurzzeitig die pannonische Tiefebene, in die ab Mitte des 6. Jahrhunderts Slawen zusammen mit den mongolischen Awaren eindrangen und - wie auch die Kroaten etwa um 600 - sesshaft wurden. Wie es scheint, waren die Kroaten eine relativ kleine Gruppe von slawischen Nomaden oder Halbnomaden, die einen Namen nichtslawischen Ursprungs beibehielten und an ihre ebenfalls slawischen Nachbarn weitergaben. 1m 9. Jahrhundert entstand im Hinterland des byzantinischen Dalmatien das kroatische Staatsgebilde. Zur gleichen Zeit wurde die Mehrheit der Bevolkerung christianisiert. (~Kap. 15) Die Missionare kamen aus den dalmatinischen Stiidten, aber auch aus Byzanz, aus Italien und dem Frankenreich. Neben der lateinischen Liturgie wurde die Volkssprache verwendet; eine besondere slawische Schrift, in Kroatien aus der Glagoliza weiter entwickelt, breitete sich aus. Von dieser friihmittelalterlichen Entwicklung zeugen zahlreiche vorromanische Kirchen und die ersten Schriftdenkmaler. Auf dem altesten erhaltenen - etwa um die Mitte des 9. Jahrhunderts - wird Trpimir als ,,FUrst
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der Kroaten" bezeichnet. Und etwa dreiBig Jahre spater richtete Papst Johannes VIII. ein Schreiben an den ,,Ffusten Branimir" (dux Chroatorum). Zur Zeit von Tomis1av (ca. 910 bis ca. 928) wurden die in Pannonien vordriingenden Ungaro und Bulgaren unter Simenon besiegt. Ende des 10. Jahrhunderts erhielt DrZislav aus Konstantinope1 den Tite1 eines Exarchen von Dalmatien und die Konigswiirde. Von diesem Zeitpunkt an bezeichneten sich die kroatischen Herrscher als Konige. DrZislav und seine Nachfo1ger kniipften familiare Beziehungen zum dalmatinischen Patriziat und zu Venedig. Zu einer B1iitezeit kam es im friihmitte1alterlichen kroatischen Staat (regnum Dalmatiae et Chroatiae) zur Zeit des Petar Kresimir IV (1058-74) und des Dimitrije Zvonimir (1075-89). Zvonimir erhie1t yom beriihmten Papst Gregor VII. die Krone. Zu jener Zeit gelang es Kroatien, sich die Territorien des byzantinischen Dalmatien und Slawonien einzuver1eiben. Einige Stadte verzeichneten merklichen Aufschwung. Wichtig wurde auch die Tatigkeit in den Klostern, die groBe Ackerflachen urbar machten und an Macht gewannen. Aus dieser Zeit stammen die ersten in Stein gemeisse1ten Inschriften in glagolitischer Schrift und kroatischer Sprache. Ende des 11. Jahrhunderts ging die Dynastie aus dem Geschlecht des Trpimir unter, und die ungarische Dynastie der Arpaden erwarb das Anrecht auf den Thron. Mit der Kronung des Arpaden Ko1oman (1095-1116) zum Konig von Dalmatien und Kroatien im Jahre 1102 nahm die Epoche der Personalunion mit Ungaro (bis 1526) ihren Anfang. Das ,,Dreieinige Konigreich Dalmatien, Kroatien und Slawonien" behie1t auch unter arpadischer Herrschaft seine Sozialstruktur und seine Landesgesetze. Verwaltung und Heer blieben in der Verfiigungsgewalt der herrschenden Schichten. Der kroatische Banus wahrte als Koniglicher Stellvertreter zusammen mit der Landesversammlung, Sabor, die nationale Autonomie und die privilegierte Stellung des Adels. 1m Laufe des 12. und 13. Jh. wurden die Stadte im Kiistengebiet starker slawisiert. "Die dalmatinisch-istrische Stadtlandschaft hat das spatantike romische Erbe vor al1em in den rechtlichen und wirtschaftlichen Institutionen (das agrarsoziale Kolonatssystem, die Munizipalverfassung der stadtischen Kommunen mit ihrer Selbstverwaltung und Bfugerfreiheit) in der neuen lateinisch-slawischen Symbiose bewahren konnen" (Hosch). Wichtig fUr die Entwicklung war der Handel mit dem kroatischen Binnenland und Italien. Die Stadte entwickelten sich durch Gewahrung verschiedener Privi1egien und konigliche Unterstiitzung, die sie von der Herrschaft der Grundherren befreite. 1m Laufe des 13. Jh. bekamen zahlreiche Stadte den Status einer freien koniglichen Stadt, darunter auch Zagreb. In den Stadten war der Einfluss der Franziskaner und Dominikaner spfubar. Ab dem Ende des 12. Jh. gewannen die kroatischen Adelsfamilien, insbesondere die Familien Frankopan und Subic, die in der kroatischen Geschichte bis 1671 eine bedeutende Rolle spielen sollten, an Macht. Als im 13. Jahrhundert willrrend der Erbfolgekriege nach dem Tod des letzten Arpaden die ungarische Zentralgewalt geschWcicht wurde, war es dem Adel auf dem gesamten Gebiet von Kroatien gelungen, seine Macht auszubauen. Ffust Pavle Subic erwarb Territorien im Nordwesten Bosniens und fiihrte in den Urkunden den Titel ,,Banus von Kroatien und Dalmatien und Herr von Bosnien". 1301 kam mit seiner Unterstiitzung eine neue Dynastie auf den ungarisch-kroatischen Thron: die Herrscher des Konigreichs Neapel aus dem franzosischen Haus An-
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jou. Die Fiirsten Subic hatten damals nahezu selbstandig die Herrschaft tiber die siidlichen Teile Kroatiens inne. Als sie in den neunziger Jahren untergegangen waren, konnte Ludwig I. von Anjou die Allmacht der Feudalherren brechen. Ihm gelang es auch, 1358 Venedig aus Dalmatien zu verdrangen. Unter den kroatischen Stadten nimmt Dubrovnik eine Sonderstellung ein. Dubrovnik entwickelte sich ab dem 12. Jahrhundert zu einer selbstandigen Republik mit einer aristokratischen Verfassung nach venezianischem Vorbild, die dem Stadtpatriziat die Vormacht sicherte. Durch den Landerwerb von serbischen und bosnischen Herrschem dehnte Dubrovnik allmahlich sein Territorium zu einem relativ langen Ktistenstreifen aus. Ende des 15. Jahrhunderts hatte die Republik Dubrovnik schatzungsweise bis zu 90.000 Einwohner. Dubrovnik wurde durch den Aufschwung des Handels, die Ausweitung der Handelsbeziehungen zwischen dem balkanischen Hinterland und dem Mittelmeerraum und gewinnbringende F orderung des Bergbaus im Hinterland reich und in manchen Bereichen des Handelsverkehrs sogar machtiger als Venedig. Ragusanische Handelsschiffe waren damals von der Levante bis England unterwegs und kroatische Handler konnte man von Agypten bis Venedig finden. Dank der giinstigen Vertrage mit dem Osmanischen Reich erlebte die Stadt im 16. Jahrhundert den Hohepunkt ihrer Entwicklung, dem am Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Anzeichen einer Krise folgten. Nach dem katastrophalen Erdbeben 1667, bei dem etwa die Halfte der Einwohner ums Leben kam, setzte der wirtschaftliche und kulturelle Niedergang Dubrovniks ein. Nach dem Tod Ludwigs (1381) fiammten fur 25 Jahre wieder heftige Kampfe zwischen den Thronanwartem und den machtigen Adeligen auf Gleichzeitig dehnte sich Bosnien unter der Herrschaft des Konigs Tvrtko auf Kosten Kroatiens aus. 1408 wurde Dalmatien an Venedig verkauft und verblieb bis 1797 unter dessen Herrschaft. Dem wirtschaftlichen Aufschwung folgten Stagnation und Krise. Denn fur Kroatien war Dalmati en das Tor zur Welt, fur Venedig dagegen nur strategisch wichtig und ein nunmehr ausgeschalteter Handelskonkurrent. Die tiirkischen Eroberungen lieJ3en Dalmatien auf einen engen Kiistenstreifen schrumpfen, wahrend gleichzeitig der Mittelmeerraum insgesamt wegen der Entdeckung Amerikas an Bedeutung verlor. Das Vordringen der Tiirken hatte gewaltige Folgen fur den Verlauf der kroatischen Geschichte. 1396 fielen die Tiirken zum ersten Mal in Slawonien ein. 1m Laufe des 15. Jh. versuchten die ungarisch-kroatischen Konige erfolglos, gemeinsame Verteidigungslinien zu organisieren. Als 1463 Bosnien unter die Herrschaft der Osmanen fiel, kam es immer haufiger zu heftigen EinfaIlen der Tiirken in kroatisches Gebiet, denen auch dauerhafte Eroberungen folgten. Nach der Niederlage in der Schlacht an der Krbava 1493 kam es zu groJ3eren Migrationen in sichere Regionen im Nordwesten Kroatiens, nach Osterreich, Ungaro, in die Slowakei, nach Slowenien und Italien. Die Besetzung Dalmatiens durch Venedig einerseits und die tiirkischen Eroberungen andererseits teilten das kroatische Territorium auf drei (feindliche) Staaten auf und reduzierten somit die Moglichkeit, Verbindungen aufrecht zu erhalten, auf das auJ3erste Minimum. Dadurch wurde auch die wirtschaftliche und kulturelle Einheit in Frage gestellt. Trotz des politischen und militarischen Verfalls kam es im 15. Jahrhundert zum Aufschwung der kroatischen Kultur. 1483 wurde das erste Buch in glagolitischer Schrift
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(Miss ale ) gedruckt, und in den Kiistenstildten setzte in enger Fiihlung mit westeuropiiischen Stromungen ein reges literarisches Schaffen ein. (7 Kap. 18) Nachdem in der Schlacht bei Mohacs 1526 die Tiirken unter Sultan Silleyman II. das ungarisch-kroatische Heer besiegt hatten, wiihlte der kroatische Adel Erzherzog Ferdinand aus dem Hause Habsburg zwn kroatischen Konig, dem sich auch der Widersacher im Kampf urn den Thron, Janos Zapolya, Wojewode von Siebenbiirgen und ungarischer "Gegenkonig", unterwerfen musste. Der neuen Dynastie gelang es jedoch auch nicht, dem Vordringen der Tiirken Einhalt zu gebieten. Das kroatische Territoriurn wurde bis zwn Ende des Jahrhunderts urn mehr als die Hillfte reduziert, so dass sich Kroatien damals als ,,letzten Uberrest (reliquiae reliquiarum) eines einst ruhmreichen Konigreichs" bezeichnete. Fiir die Habsburger war dieser Rest Kroatiens nur ein kleines Riidchen in ihrer groBangelegten europiiischen Politik. In der kroatischen Historiogi-aphie wird die Verteidigung von Sziget in Siidungarn 1566 als eine bedeutende Episode erwiihnt. Unter der Fiihrung des Banus Nikola Subic Zrinski (ung. Zrinyi) unterlag die Besatzung dem riesigen tiirkischenHeer, aber spater festigte sich die Uberzeugung, dass diese verlustreiche Schlacht die Tiirken bei ihrem Vormarsch nach Wien aufgehalten hatte, und die Nachwelt riihmte Nikola SUbic als den "slawischen Leonidas". Infolge der tiefgreifenden Ereignisse im 16. Jahrhundert verlagerten sich die Zentren des kroatischen Staates aus Dalmatien nach Norden, was einen Zuwachs an Bedeutung fiir Zagreb mit sich brachte, wiihrend die Notwendigkeit eines nahen Zugangs zwn Meer den Hafen Senj und Rijeka an der nordlichen Adria giinstige Entwicklungsmoglichkeiten erofihete. Gegen Ende des Jahrhunderts kamen die tiirkischen Eroberungen ins StockeD, was auch auf den verbesserten Aufbau der Festungsanlagen im Grenzbereich zuriickgefiibrt werden kann. 1593 erlebt das tiirkische Heer bei Sisak die erste schwere Niederlage. Der folgende 13jiihrige Krieg (bis 1606) brachte keine territorialen Anderungen, deutete aber an, dass die Tiirken an Initiative verloren hatten. Der Friedensvertrag von Zsitva-Torok brachte zwn ersten Mal Gleichberechtigung und beendete die jiihrlichen Tributzahlungen des Kaisers (Rudolf II., 1567-1612) an die Tiirken. In der kroatischen Grenzzone zwn Osmanischen Reich entwickelte sich aus dem System einzelner Befestigungsanlagen ein geschlossenes Siedlungsgebiet mit eigener Verwaltungsstruktur, das direkt dem osterreichischen Militiirkommando in Wien unterstellt wurde und spilter den Namen Militiirgrenze bekam. Die zivile Verwaltung unterstand den Weisungen der Kommandanten, die als unmittelbare Beauftragte des Herrschers ihre Macht ausiibten. Die verwiisteten Gebiete entlang der gesamten Grenze wurden im 16. und 17. Ih. von "Wlachen", Gebirgsbewohnem orthodoxen und katholischen Bekenntnisses, besiedelt, die aus den Gebieten unter tiirkischer Herrschaft flohen oder gezielt angeworben wurden. Militiirkolonisten, die in Hausgemeinschaften (zadruga) lebten, wurde ein besonderer Status gewiihrt. Als Wehrbauem konnten sie das Land nutzen, waren aber an keine Grundherren gebunden. Dafiir unterlagen alle Manner viele Generationen lang dem Militiirdienst auf Lebenszeit und durften keinen anderen Beruf ergreifen. Die orthodoxen Wlachen (Serben) hatten Garantien der Glaubensfreiheit im katholischen Habsburgerreich (auch in der osmanischen Millet-Ord-
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nung hatten sie Rechte als Glaubensgemeinschaft genossen). 1630 wurden die besonderen "Statuta Walachorum" fUr dieses Gebiet erlassen. Die spezifische Organisationsform des Grenzgebietes unter dem Hofkriegsrat in Wien schaffie eine strikte administrative Trennung von der kroatischen Gesellschaft Banal- bzw. Zivilkroatiens. Nach der Zuriickdriingung der Tiirken bestand dieses aus Kroatien-Slawonien, das sich durch eine Zivilverwaltung von der Militiirgrenze unterscheidet. Das mit Ausnahme der Militargrenze in Nordkroatien herrschende Feudalsystem, vergleichbar jenem in Mitteleuropa, wurde zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert von Bauemaufstiinden erschiittert, von denen der 1573 von Matija Gubec angefiihrte der groBte und bekannteste war. Die Reformation trat in Kroatien - im Unterschied zu Ungam - nur in Randgebieten in Erscheinung, und obwohl einige der Adelsfamilien zum Protestantismus iibergingen, wurde die Bewegung von der Gegenreformation Anfang des 17. Jh. zerschlagen. Das Vorgehen der jesuitischen Gegenreformation erschOpfte sich nicht in der Verfolgung von Protestanten: Die Jesuiten griindeten Gymnasien, und durch ihre Initiative entstand in Zagreb Mitte des 17. Jh. auch ein Lehrstuhl fUr Philo sophie und Theologie sowie die konigliche Akademie und damit im Grunde die erste Universitat in Siidosteuropa. Die Verschworung der kroatisch-ungarischen Magnaten gegen den Wiener Hof im Jahre 1670 unter der Beteiligung der Adeligen Zrinski und Frankopan war das pragendste Ereignis der damaligen Zeit. Die den Frankopanen verwandtschaftlich verbundene Familie Subic-Zrinski war noch immer die machtigste Adelsfamilie in Kroatien. Der Verschworer Petar Zrinski (1621-1671) war kroatischer Banus, aber auch Herrscher eines regelrechten feudalistisch-fiiihkapitalistischen "Staats", der den Norden Kroatiens von der Kiiste bis zur Umgebung Zagrebs urnfasste (Jaroslav Sidak). Der Interessengegensatz zwischen den kroatisch-ungarischen Magnaten und dem Absolutismus Wiens und seiner merkantilistischen, dirigistischen Wirtschaftspolitik bildet den Hintergrund der Verschworung. Der Frieden von Eisenburg (Vasvar) mit seinen "fUr die Tiirken iiberraschend giinstigen Bedingungen" (Hosch) nach dem glanzenden Sieg bei st. Gotthard 1664 gab den Verschworem den letzten AnstoB. Die nachlassige Politik Wiens den Tiirken gegeniiber schien auf die Erwagung zurUckzugehen, wer durch die Befreiung Ungams und Kroatiens den groBten Nutzen ziehen wiirde, so lange die Macht der Magnaten ungebrochen blieb. Nach dem Misslingen des Aufstandes wurden die Verschworer 1671 hingerichtet, die Familien der Zrinski und Frankopan ausgeIOscht. Ressentiments gegen die Deutschen durchdrangen damals die gesamte kroatische Gesellschaft, sichtbar etwa bei Juraj Krizanic (1617-1683) und seinen Ideen einer Kirchenunion und der Vereinigung aller Slawen. (7 Kap. 10,7 Kap. 15) Die Tiirken entfachten, urn den Aufstand ihres Giinstlings ThOkoly von Siebenbiirgen gegen die Habsburger zu unterstiitzen, 1683 emeut einen Krieg, der zur zweiten tiirkischen Belagerung Wiens fiihrte. Nach deren Scheitem wendete sich das Kriegsgliick der Osmanen. Die Ursachen dafUr waren vieif
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witz (Sremski Karlovci) 1699 wurden die Grenzen im Siidosten erreicht, die praktisch in diesen Absclmitten dem heutigen kroatischen Grenzverlauf entsprechen. Aus dem Siidwesten konnte Venedig die Tiirken von der Kiiste tief ins Hinterland verdriingen, und bis 1718 wurde mit dem Frieden von Passarowitz (Pozarevac) die dalmatinisch-bosnische Grenze gezogen, die weitgehend bis heute ihre Giiltigkeit hat und mit ihrer charakteristischen Form des Hufeisens Bosnien-Herzegowina vom Norden und SOden gewisserma13en umschlie13t. Die neugeschaffenen politischen Realitaten regten neue Ideen an. Ein markantes Beispiel ist Pavao Ritter Vitezovic, der in seinem Werk C. Obnovljena Hrvatska ". Croatia rediviva. Zagreb, 1700) vom "erneuerten Kroatien" spricht und damit "ganz Kroatien" meint, welches Dalmatien mit einschlie13t. Er benutzte die Bezeichnungen illyrisch, slawisch und kroatisch synonym. Seine Ideen inspirierten ein Jahrhundert spater die Anhiinger und Trager der kroatischen Wiedergeburt. Die Befreiung von den Tiirken brachte Kroatien jedoch nicht die erhofften Vorteile. Das Gro13teil der befreiten Gebiete fiel ohnehin unter das Regiment der sich ausdehnenden Militiirgrenze. Die gesellschaftlichen Strukturen im befreiten Slawonien unterschieden sich von denjenigen in Zivilkroatien so sehr, dass der slawonische Kleinadel alsbald beschloss, die Vertreter der emeut konstituierten Gespanschaften (iupanije) direkt - unter Umgehung des Sabor in Zagreb - ins ungarische Parlament zu entsenden. Auch die Stadt und der Hafen von Rijeka fanden sich nach zahlreichen administrativen Veriinderungen in der merkwiirdigen Situation, als Bestandteil Kroatiens zugleich der unmittelbaren Aufsicht der ungarischen Krone unterstellt zu sein.
3.2. Die Epoche der zentralistischen Reformen 1m Laufe des 18. Jahrhunderts reagierte Wien auf die kapitalistischen Impulse in Europa und leitete Modernisierungen von Militiir und Verwaltung ein. Die Aufhebung der Binnenzolle bedeutete freie Schiffahrt auf der Adria. Die Save und andere Fliisse Slawoniens wurden schifibar, Wege und Strassen ausgebaut. Die Stral3enverbindung Donauraum - Adriakiiste erlangte immer mehr intemationale Bedeutung. Es gab auch erste, meist erfolglose Versuche, neue Industrieuntemehmen zu schaffen. Da die Lage an der osmanischen Grenze stabil war, wurde das Gebiet der Militiirgrenze allmiihlich zu einem riesigen Militiirlager, auf dem bis zur Einfiihrung der allgemeinen Wehrpflicht in der zweiten Hiilfte des 19. Jahrhunderts die militiirische Macht der Habsburger beruhte. Die Grenzer wurden in Kriegen in ganz Europa eingesetzt. Mit dem Beginn des 18. Jh. wurde die Grundfrage Kroatiens immer deutlicher: Wiirde es trotz der Abhiingigkeit seine Eigenstiindigkeit behaupten und in dem durch Widerspriiche zwischen Ungaro und Wien gezeichneten Raum Bestand haben konnte. Nachdem Ungaro Ende des 17. Jh. den gro13ten Teil seiner Gebiete von den Tiirken befreit hatte, versuchte der ungarische Adel, die Gesetze Kroatiens den ungarischen anzupassen. Mit der Pragmatischen Sanktion von 1712 erkannte der kroatische stiindische Landtag (Sabor) das Erbfolgerecht der Habsburger Dynastie an und berief sich darin auf die
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Einigkeit der Konigreiche Kroatien, Slawonien und Dalmatien. Dieser Beschluss, der auf der freiwilligen Unterstellung unter den Konig in Personalunion bestand und eine Realunion mit dem ungarischen Konigreich zurUckwies, wurde von den Habsburgern nie anerkannt. Vielmehr erkannten die Habsburger 1723 die Pragmatische Sanktion der ungarischen Standeversammlung an, die das Erbfolgerecht der Habsburger nach langem Widerstand akzeptierte, allerdings unter der Bedingung der Einheit der "ungarischen Lander", womit das Dreieinige Konigreich ein integraler Teil Ungaros wiirde. Seitdem wurde die eigenstaatliche Tradition Kroatiens einerseits unter dem Druck des Habsburger Absolutismus und Zentralismus und andererseits durch das Streben des ungarischen Adels, eine Vereinheitlichung der Lander "der Stephanskrone" zu erreichen, immer weiter eingeschriinkt und drohte, ganz zu verschwinden. Die historische Bedeutung der kroatischen Pragmatischen Sanktion von 1712 lag ihrerseits darin, dass sie im 19. Jahrhundert bei den Wortfiihrern der national en Bewegung, die eine Erneuerung der kroatischen Eigenstaatlichkeit jenseits der iiberholten feudalistischen Ordnung anstrebten, eine entscheidende Rolle spielte. 1767 wurde zwar in Wien eine von Ungaro unabhangige kroatische Hofkanzlei ernannt, doch sie stand im Dienste der ZentralisierungsmaBnahmen Wiens, we1che wiederum nicht im Interesse des Adels waren, so dass sie wegen dessen Unzufriedenheit 1779 aufgelOst und Kroatien dem "Ungarischen Statthaltereirat" unterstellt wurde. Die Reformbestrebungen des Wiener Hofes erreichten wiihrend der Herrschaft Josephs II. (1765-1790) ihren Hohepunkt. Die Leibeigenschaft wurde (1785) aufgehoben, aIle Stande der Gesellschaft wurden steuerpflichtig. Eine neue Aufteilung derVerwaltung wurde im Reich eingefiihrt, die es zu einer festen Gemeinschaft mit Deutsch als alleiniger Amtssprache vereinigen und zur Zerschlagung von historisch-traditionellen, ethnisch gepragten Verwaltungseinheiten fiihren sollte. Beispielsweise wurden die slawonischen Gespanschaften aufgelOst und mit den ungarischen Komitaten in neue Verwaltungseinheiten zusammengefugt. Joseph II. verwarf aber so gut wie alle von ihrn angeregten Reformen kurz vor seinem Tod 1790. Danach trat der kroatische Ade1 alle wesentlichen Zustandigkeiten des kroatischen Sabor an die ungarische Standeversammlung ab, in der Hoffnung, sich so gegen die zentralistischen MaBnahmen und diejenigen, die seine standischen Privilegien in Frage stellten, besser zu wehren. Die verwaltungsmaJ3ige Abhangigkeit Kroatiens von Ungaro wurde noch mehr gefestigt. Als 1797 die Republik Venedig nach der Besetzung durch Napoleon unterging, wurden Istrien und Dalmatien an Osterreich angeschlossen. Der Adel Dalmatiens brachte erstmalig seinen Wunschnach einer Vereinigung von Nordkroatien und Dalmatien zum Ausdruck. Nach dem siegreichen Feldzug Napoleons gegen Osterreich fielen 1805 Istrien und Dalmatien den Franzosen zu, ein Jahr spater auch Dubrovnik. SchlieBlich wurden 1809 alle kroatischen Gebiete siidlich der Save der franzosischen Verwaltung unterstellt und bekamen den Namen "Illyrische Provinzen" mit der Hauptstadt im slowenischen Ljubljana. Die Franzosen riefen die Gleichberechtigung aller Biirger aus, fiihrten eine moderne Verwaltung und ein modernes Gerichtswesen ein, maBen Wirtschaft und Ausbildung eine bis dahin unbekannte Bedeutung bei und verbesserten den StraBenbau. Obwohl sie eigentlich eine Italienisierung im Sinne hatten, trugen sie mit diesen Modernisierungsansatzen indirekt zur Bildung des kroatischen Nationalbewusst-
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seins bei. So erschien in Zadar vier Jahre lang die erste Zeitung in kroatischer (lll1d italienischer) Sprache. Doch der Ertrag dieser franzosischen Verwaltung fiel bescheiden aus, da sie nur bis 1813 dauerte lll1d von Kriegen beg1eitet wurde, wiihrend der ganze Raum lll1ter einer allgemeinen Riickstandigkeit litt.
3.3. Beginn der nationalen Integration Mit dem Ende des 18. Jahrhlll1derts setzten langerfristige Prozesse der Integration der kroatischen Nation lll1d der Modernisiefllllg ein. Der Ubergang von der ,,Adelsnation" zur modemen Nation begann spat lll1d voHzog sich langsam, weil der Adel als Trager der kroatischen Eigenstaatlichkeit relativ lange die Macht behielt lll1d sich neue biirgerliche Schichten nur zogerlich ausbildeten. Der erste Schritt wurde mit der Behauptung einer gemeinsamen, einheitlichen Hochsprache lll1d Rechtschreiblll1g getan. Bis dahin hatten die Kroaten namlich drei Literatur-lll1d Schriftsprachen verwendet, die ausgehend von drei kroatischen Dialekten entwickelt wurden. Seit dem 17. Jh. begann sich das NeuStokavische als die iiberwiegende Form zu etablieren. Aber erst die Anstrengllllgen von Ljudevit Gaj (1809-1872), dem wichtigsten Wortfiihrer der illyrischen Bewegllllg, f'iihrten zur Vereinheitlichlll1g der kroatischen Literatursprache aufneustokavischer Basis. (-7 Kap. 14) Gaj verfasste 1830 die ,,Kurzen GfWldziige der kroatischen Rechtschreiblll1g", wo er die Schafftmg einer einheitlichen Rechtschreiblll1g fUr aIle die lateinische Schrift verwendenden Siidslawen vorschlug. In relativ kurzer Zeit gelang es der illyrischen Bewegllllg der nationalen Wiedergeburt, kulturelle lll1d politische Ansatze fUr die Integrationsprozesse der kroatischen Nation zu schaffen lll1d dabei vor allem zur Ausbildlll1g einer modemen kroatischen Kultur beizutragen. Von weitreichender Bedeutung war die Verbindlll1g der traditionellen Staatlichkeitstradition des kroatischen Adels mit der biirgerlichen politischen Bewegllllg im Kampf fUr die Eigenstaatlichkeit. 1m Illyrismus verbanden sich zwei Stromlll1gen: die kulturell-sprachliche, siidslawisch orientierte Integrationsidee lll1d der Kroatismus als politische Stromlll1g, die auf eine Herausbildlll1g der ,,kroatischen politischen Nation" aus war.· Zwischen beiden herrschte eine gewisse Spannlll1g. Die politische Tatigkeit der Illyristen, die wegen ihres Festhaltens am Status quo der Sozialordnlll1g als "sozialkonservative Patriotengruppe" (Schodl) bezeichnet werden, richtete sich vomehmlich gegen den magyarischen Hegemonismus lll1d versuchte lll1ter den neuen Umstanden, die iiberlieferte kroatische "Individualitat" gegeniiber den Versuchen lll1garischer Vereinnahmlll1g zu bewahren. Die gemeinsame Literatursprache f'iihrte zur ersten Uberwindlll1g der regionalen Zersplittefllllg des kroatischen ethnischen Raums lll1d ebnete der Volkssprache den Weg ins offentliche Leben, so dass letztendlich die Funktion des Illyrismus im ,,kuiturellen Kroatismus" (Behschnitt) lag, der die Weichen fUr die Konstituiefllllg der eigenen politischen Gemeinschaft lll1d der nationalen Kultur steHte. Dieser Prozess konnte durch das auf Drangen des lll1garischen Adels erfolgte Verbot der Verwendlll1g des illyrischen Namens in Kroatien 1843 nicht mehr aufgehalten werden. Der Illyrismus fand Anklang bei Teilen des neuen Biirgertums, bei Klerus lll1d Intelligenz, bei der Jugend
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W1d Teilen des Ade1s W1d brei tete sich in Slawonien, dem Gebiet der Militlirgrenze W1d Dalmatien sowie spater W1ter dem Klerus in Istrien W1d den Franziskanem in Bosnien-Herzegowina aus. Die Ideologie des Illyrismus scheiterte aber mit dem Versuch, W1ter diesem iibergreifenden, aber kiinstlichen W1d "toten" geographischen Namen W1d auf der Basis einer iiberregionalen Literatursprache, als der Hauptbedingung einer gemeinsamen Kultur, aIle Teile ("Stamme") der Siidslawen zu vereinen. Bis auf einige Ausnahmen verwarf die serbische W1d slowenische Intelligenz das Konzept des Illyrismus. Als wichtige KennzeichnW1g der geschichtlichen Bedeutung des Illyrismus kann die EinschatZW1g Giinter SchOdls gelten, wonach "das illyristische Kulturmodell" nicht "im Namen einer biirgerlichen Offentlichkeit oder im Interesse eines gesellschaftlich dominierenden Besitzbiirgertums, - nicht als FolgeerscheinW1g, sondem als Vorbereitung der sozialen ModernisiefW1g" entstanden war. In der F olgezeit W1d d.h. vor all em nach dem Scheitem von, 1848' W1d dem "W1iibersehbaren Misserfolg" der illyristischen Konzeption (SchOdl) kniipften zwei StromW1gen an sie an, die als konkurrierende, den Illyrismus je auf eigene Art korrigierende Nachfolgekonzeptionen bezeichnet werden konnen: die jugoslawistische W1d die exklusiv kroatisch-nationalistische. Die jugoslawistische Richtung war der UberzeugW1g, dass die kroatische Identitat W1d Tradition angesichts der Ubermacht der deutschen W1d italienischen Kultur nur durch Kooperation mit anderen Siidslawen erhalten werden konne. Die exklusiv kroatische Ideologie der spateren Rechtspartei (Partei des kroatischen Staatsrechts) entwickelte in ihrer urspriinglichen Form eine pankroatische Konzeption, die gleichsam die illyrische BezeichnW1g durch die kroatische ersetzten konnte, eine BewusstwerdW1g im Sinne des kroatischen Nationalismus anstrebte W1d die Vision eines kroatischen Nationalstaates entwickelte, der den gesamtsiidslawischen Raum mit Ausnahme der Bulgaren einschlieBen wiirde. Diese Ansatze kamen auch im kroatischen Sabor (der StandeversammlW1g) 1843 zum Ausdruck, wo Ivan Kukulj evic Sakcinski zum ersten Mal eine Rede in kroatischer statt in lateinischer Sprache hielt. Dem 1848 in Gang gesetzten Wandel, der auf eine Vereinigung der kroatischen Lander sowie deren politische Selbstandigkeit W1d gesellschaftlich-wirtschaftliche ModernisiefW1g zusteuerte, standen immense Hindernisse im Wege: die Gesellschaft in Zivilkroatien war noch feudal-standisch W1d die militlirisch organisierte im Gebiet der Militlirgrenze noch weitgehend durch die modernisiefW1gsfeindiiche OrdnW1g von Hausgemeinschaften (zadruga) gepragt; in Dalmatien gab es eine Agrargesellschaft mediterranen Typs (Kolonatsystem) W1d in Istrien eine teils feudale, teils mediterrane Gesellschaft. Aile diese Gesellschaftstypen zusammen bildeten eine durch Riickstand gekennzeichnete bauerlich-biirgerliche Gesellschaft mit zahIreichen Besonderheiten ethnischer, konfessioneller W1d kulturgeographischer Art W1d erschwerten die Integrationsprozesse. Das Revolutionsjahr 1848 war auch in Siidosteuropa von widerspriichlichen Impulsen W1d Interessen - demokratisch-liberalen W1d national-hegemonistischen - gekennzeichnet. In der W1garischen revolutionliren Bewegung gab es von Anfang an die Tendenz, trotz biirgerlich-liberaler Impulse auf der Hegemonie gegeniiber den nichtungarischen Volkem zu beharren W1d keine Gleichberechtigung zu dulden. Auf die sich daraus ergebenden SpannW1gen konnte der Hof bei der Bekampfung der Revolution
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aufbauen. Wien und Zagreb befanden sich in "einer Art negativer Interessenkonvergenz" (Sundhaussen) der ungarischen Revolution gegenuber. Die neue ungarische Regierung und das neukonstituierte Parlament verabschiedeten eine Verfassung, derzufolge Ungam - nunmehr als Nationalstaat nur in Personalunion mit Osterreich verbunden - Kroatien und Slawonien als seinen integralen Teil ohne Rucksicht auf die historische Tradition und Autonomierechte eingeschlossen batte, wobei Ungarisch als Amtssprache eingefiihrt wurde. Wien emannte nach dem Ausbruch der Revolution in Ungam Josip Jelaci6 (1801-59), einen loyalen osterreichischen Offizier und uberzeugten Illyrer, zum Banus von Kroatien. Auch in Zagreb trat (im Marz) eine "Volksversammlung" zusammen, bei der man einen Katalog sogenannter "Forderungen des Volkes" verabschiedete, die zur Grundlage der kiinftigen politischen Bestrebungen und der gesamten national en Bewegung mit der damals charakteristischen liberalen Ausrichtung wurden. 1m Mai wurde das erste Wahlgesetz erlassen und die Standeversammlung in ein partiell reprasentatives Parlament urngewandelt. Der neugewiihlte Landtag hob in seiner regularen Sitzung unter Berufung auf das historische Staatsrecht Kroatiens die Realunion mit Ungam wieder aufund strebte eine bloBe Personalunion an. Gleichzeitig wurden die Vereinigung der kroatischen Lander gefordert und auBerdem eine selbstandige, dem kroatischen Landtag verantwortliche Regierung, die finanzielle Unabhangigkeit von Ungam, allgemeine bfugerliche Freiheiten, die Aufhebung der feudalen Gesellschaftsordnung und die Forderung der kapitalistischen Entwicklung. Diese Forderungen liefen auf die Schaffimg von Voraussetzungen fUr eine Uberwindung der noch feudalistisch gepragten, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen und den Aufbau einer modemen Gesellschaft hinaus. Urn die ungarische Revolution niederzuschlagen, drang JelaCi6 im Herbst 1848 mit dem kroatischen Heer in Ungam ein, konnte aber den Widerstand der Rebellen urn Kossuth nicht brechen. So wurde er nur zu einem Teil der osterreichischen Kriegsmaschine, die den Aufstand der Ungam erst im Sommer 1849 mit russischer Hilfe niederschlug. In der Zwischenzeit bestatigte Konig Franz Joseph (1848-1916) zwar in Wien den kroatischen Beschluss, der Kroatien von jeglicher staatsrechtlichen Bindung an Ungam entband, aber die oktroyierte Verfassung, mit der Franz Joseph den allgemeinen Forderungen nach einer demokratischen Verfassung entgegentrat, ordnete Kroatien wieder vollkommen unter. Spater hieB es, die Kroaten hatten zum "Lohn" bekommen, was fUr die Ungam eine "Strafe" war - namlich den Absolutismus. Danach wurden einerseits kroatische staatliche Institutionen aufgehoben, die Oppositionspresse abgewfugt, die kroatische Fahne verboten und Deutsch als Amtssprache eingefiihrt. Andererseits begann Wien ein umfangreiches Reformprogramm, das die Gesellschaft durch Anpassung an eine freie Wirtschaft und allgemeine kapitalistische Verhaltnisse modernisieren sollte. Diese Reformen entsprachen den Entwicklungen in jenen Teilen der Monarchie, in denen die industrielle Revolution bereits fortgeschritten war, und nahmen keine Rucksicht auf die durch Ruckstandigkeit bedingten sozialen und wirtschaftlichen Verhaltnisse in Kroatien. Bei dieser Modernisierung "von auBen" hatten die Eliten Kroatiens und Slawoniens keinen Einfluss. Der Umbau in eine moderne Gesellschaft zog sich in Kroatien bis zum Ende des 19. Jh. bin und verlief in drei
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Phasen: in der ersten - ab 1848 bis zum Beginn der siebziger Jahre - verhinderten der politische Druck Wiens (bekannt als ,,Bachscher Absolutismus") und der ungekHirte staatsrechtliche Status Kroatiens die Reformen; in der zweiten setzten unter der Regierung des Banus Ivan MaZuranic (1873-1880) liberale politische und kulturelle Reformen ein. In der dritten Phase wurden unter Banus Khuen-Hedervary (18831903) die Modernisierungsreformen (Verwaltung) intensiviert, aber die liberale Umgestaltung auf Eis gelegt.
3.4. Der osterreichisch-ungarische Ausgleich und seine Folgen Nach dem Scheitem des Neoabsolutismus folgte die Zeit des ,,Provisoriurns" (186067), in der Franz Joseph verschiedene Umgestaltungen der Staatsordnung erprobte. Dank einer Reihe innerer und 1iufierer Umstande entschloss er sich, ein Abkommen mit dem ungarischen Adel einzugehen. Durch diesen Ausgleich mit Ungam entstand 1867 die Doppelmonarchie Osterreich-Ungam. Unter den gegebenen historischen Umstanden versuchten die kroatischen politischen Krafte ohne Erfolg eine politische Autonomie mit Elementen der Eigenstaatlichkeit zu erreichen. 1860 und 1861 wurde im Sabor zum ersten Mal die kroatische staatsrechtliche Ideologie klar formuliert. Sie war ein Ausdruck fundamentaler Interessen der kroatischen Politik: Es ging urn die Umwandlung der traditionellen Munizipalverfassung in eine modeme Autonomie mit Staatsrecht, die man unter Berufung auf das historische Recht auf "vollkommene staatliche Selbstandigkeit und Unabhangigkeit" forderte, welches sich aus der Eigenstaatlichkeit im Mittelalter ergebe, auf die nie verzichtet worden seL Vielmehr batten zahlreiche konigliche Urkunden der kroatischen Staatlichkeit dieses historische Recht gewahrt, die man im Sinne von "Vertr1igen" zwischen dem Konig und der "Nation" interpretierte. Fundamental war die Forderung nach Vereinigung von Zivilkroatien, Militargrenze und DaImatien, also nach der Wiederherstellung der Gesamtheit des Dreieinigen Konigreichs. In Politik und Propaganda wurde das historische Staatsrecht mit dem naturrechtlich begriindeten Recht der Nation auf Selbstbestimmung verbunden. Nur so, meinte man, konne die kroatische Nation am allgemeinen Fortschritt der Menschheit teilhaben. Bei der F ormulierung dieser Strategie kristallisierten sich im kroatischen Sabor 1861 drei Stromungen: (1) Die N ationa/partei versuchte, das Ziel einer weitgehenden Autonomie fUr Kroatien durch Taktieren zwischen der zentralistischen, autokratischen MachtausUbung des Kaisers und der auf die Schaffimg eines einheitlichen magyarischen Staates ausgerichteten Politik des ungarischen Adels zu erreichen. (2) Die Unionisten wollten im Biindnis mit dem ungarischen Adel die Autonomie erreichen. (3) Ante Starcevic und Eugen K vatemik - den Griindem der Staatsrechtsbewegung und der kiinftigen kroatischen Rechtspartei (Stranka Prava) - schwebte das Ideal eines selbstandigen kroatischen Nationalstaates vor, aber K vatemik erkliirte sich im Sabor bereit, vorl1iufig darauf zu verzichten. Die Mehrheit im Sabor votierte 1861 fUr ein Abkommen mit Ungam fiber die kiinftige Union, falls die ungarischen politischen Entscheidungstr1iger die Losung der Ver-
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bindung zu Ungam, 1848, anerkannten, und die territoriale Einheit der kroatischen Lander bestatigten. Diese Bedingungen waren fUr den ungarischen Ade1 unannehmbar. Die Mehrheit im Sabor wollte einer bedigungslosen Anerkennung des Februarpatents (1862) zur Teilung der Legislative zwischen Krone und Reichsrat nicht folge ieisten und weigerte sich, kroatische Delegierte in den Wiener Reichsrat zu entsenden, was praktisch einer Anerkennung des zentralistischen Regimes des Februarpatents gleichgekommen ware. Darauthin loste der Kaiser den kroatischen Sabor auf. Auch der spatere, viel fiigsamere Sabor (1865-67) stellte weder den Kaiser noch die ungarische politische Klasse zufrieden und konnte letztendlich auf die Entscheidung Franz Josephs keinen Einfluss ausuben, sich auf einen Kompromiss mit dem ungarischen Adel einzulassen. Unter diesen enttauschenden reichspolitischen Umstanden in den sechziger Jahren bekamen die nationalen Integrationsideoiogien festere Konturen. Die Vertreter der jugoslawistischen Ideologie waren vor allem Josip Juraj Strossmayer (1850-1905), der Bischof von Dakovo, ein groBer Mazen und Forderer der Wissenschaften und Kiinste, sowie der Vorsitzende der Sudslawischen Akademie und Begriinder der modemen Geschichtsschreibung Franjo Racki (1828-94). Der zentrale Bestandteil dieser Ideologie war der FOderalismus, gedacht zunachst als foderale Staatsordnung gieichberechtigter Nationen innerhalb der Monarchie. In der Schaffung einer kiinftigen sudslawischen foderativen Staatsgemeinschaft sab man allerdings das narurliche ,,EndzieI", zu weIchern ein geschichtlicher Prozess und die allmahliche kulturelle Annaherung und Solidaritat unter den Sudslawen fiihren wiirden. Die Struktur der jugoslawischen Ideologie war aber keinseswegs einheitlich, sondem "vom Geflecht der kroatischen politischen Integration gekennzeichnet" (Gross). Verschiedene Varianten dieses kroatisch-bezogenen Jugoslawismus zeigten sich gegenuber realpolitischen Konstellationen in darauffolgenden Jahrzehnten durchaus flexibe1 und lieBen sich ,,mit den wechselnd aktuellen Modellen einer subdualistischen oder trialistischen, einer foderalistischen oder ,groBosterreichischen' Reichsreform" vereinbaren (Schodl). Die Wortfiihrer des Jugoslawismus konnten das gebildete kroatische Bfugertum und Teile des Klerus fUr die national-politische Bewegung und ModernisierungsmaBnabmen mobilisieren. Ihre historische Leistung lag in der Rolle, die sie bei der Schaffung der modemen kroatischen Kultur hatten. Gegensatze zwischen dem kroatischen Jugoslawismus und der serbischen Nationalideologie wirkten sich auf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen kroatischen und serbischen politischen Gruppen j e nach der politischen Lage und meist mit entgegengesetzten Zielsetzungen aus. Die exklusive kroatische Ideologie wurde jeweils auf eigene Art und Weise von Ante Starcevic (1823-1896) und Eugen Kvatemik formuliert. Wesentlich fUr Starcevics Haltung war seine Uberzeugung, dass eine politische Praxis unter den fUr Kroatien gegebenen Umstanden der territorial-administrativen Zersplitterung und allgemeinen Abhangigkeit moralisch verwerflich sei. Seine "teilweise abstrus wirklichkeitsfremde" politische Konzeption (Schodl) war durch seine Erwartungen eines durch neue Konstellationen der feindlichen Machte bewirkten Zusammenbruchs der Habsburger Monarchie bestimmt. Er beschrankte sich deshalb auf die Verbreitung seiner Ideen in Schriften und Reden, die dem Aufbau und der Starkung des politischen Willens und des nationa-
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len Selbstbewusstseins des kroatischen Volkes dienten. Starcevic wurde yom fiiihen Liberalismus angeregt und sab in der Franzosischen Revolution (d.h. der Doktrin der "Volkssouverilnitat") den ausschlaggebenden AnstoI3 fUr die nationalen Bewegungen Europas. Diese Position wird auch als nationalpolitische ,,Anti-Konzeption" beschrieben, die man sich als eine Art fundamentale Opposition oder radikale Protesthaltung gegeniiber der realpolitischen Aussichtslosigkeit im dualistischen System, d.h. den Osterreichem als dem ,,historischen Erzfeind" der Kroaten, vorstellen konnte. So sprach er dem damaligen Sabor die RechtmaI3igkeit ab, da er nicht aus Abgeordneten zusammengesetzt war, die nach einem allgemeinen Wahlrecht (fUr Manner) in allen kroatischen Landen gewiihlt worden waren. Seine Uberlegungen zur Abkehr des kroatischen Volkes von der "unwiirdigen und wortbriichigen Dynastie", wei! diese ihm die Treue durch eine vierhundertjahrige Missachtung der althergebrachten Verfassung und der einstigen Selbstandigkeit dankte, trugen mit der Zeit den ,,Funken nationalpolitischen ,Interesses' von elitaren Gruppen zur breiteren biirgerlichen, gerade auch kleinbiirgerlichen Offentlichkeit". Starcevics Ideen gingen in die 1861 gegriindete Rechtspartei (Partei des kroatischen Staatsrechts, Stranka Prava) ein, die zunachst auch "den Status quo vemeinend" die Kroaten "iiberhaupt von der bloI3en Moglichkeit nationaler Selbstbestimmung zu iiberzeugen" trachtete (SchOdl). Starcevics Ideologie schloss auch das serbische und das slowenische Yolk im Kroatentum mit ein; andererseits sab er die Grundlage dieses Kroatentums nicht im Slawentum, sondem in dem urspriinglichen im Mittelalter lebendigen kroatischen ,,Herrschaftsgeist", den man wiederbeleben sollte (Gross). Der Behauptung des serbischen Nationalideologen Vuk Karadfic und seiner Anhanger, dass "die Siidslawen ,Slawoserben' seien", setzte Starcevic in seinen Polemiken "das Bild der Kroaten als herrschender, kriegerischer und staatsbildender Nation" entgegen und sab "in den Serben nur eine Bettelund SklavenbevOikerung" (Gross). Eugen Kvatemik (1825-71) iibemahm und variierte die Elemente dieser Ideologie auf seine Weise. Im Unterschied zu Starcevic verzichtet er aber nicht auf die politische Praxis und versuchte, sich in der Emigration den der Habsburger Monarchie feindlich gesinnten nationalen Gruppierungen anzuschlieI3en. Er schwankte in seinem politischen Konzept zwischen dem Verzicht auf das Ideal des selbstandigen kroatischen Staates und der Bestrebung, diesen so bald wie nur moglich zu verwirklichen. 1871 versuchte er - ohne Starcevics Wissen - einen bewaffueten Aufstand serbischer und kroatischer Bauem im Gebiet der Militargrenze mit dem Ziel zu organisieren, ein selbstandiges Kroatien zu schaffen. Dieser wurde rasch von Grenzereinheiten niedergeschlagen, hinterlieI3 aber als einsamer revolutionarer Akt, den Kvatemik mit seinem Leben bezahlte, deutliche Spuren in der nationalen Erinnerung. N achdem Franz Joseph 1867 mit dem ungarischen Adel iiber die Schaffung der Doppelmonarchie einen Kompromiss erzielt hatte, war das oberste Ziel der kroatischen Politik, die Vereinigung der von Kroaten bewohnten Lander zu erreichen, das innerhalb der dualistischen Verfassung der Monarchie noch weiter in die Feme geriickt war, weil Dalmatien und Istrien der osterreichischen und Kroatien und Slawonien der ungarischen Reichshalfte zugehOrten. In der Ubereinkunft mit dem Kaiser wurde der ungarische Adel dazu gebracht, die Gesetze von 1848, die die alte traditionelle kroatische
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Autonomie aufgehoben batten, zu revidieren und eine bescheidene Autonomie unter zugesicherter ungarischer Kontrolle zuzulassen. Erst nachdem im Sabor durch Druck der neuen ungarischen Regierung und fiber das oktroyierte, vom Landtag nicht verabschiedete Wahlgesetz eine neue gerugige Mehrheit (unter Unionisten) erreicht wurde, konnte zwischen den Gesandtschaften des kroatischen Landtages und dem ungarischen Parlament 1868 der kroatisch-ungarische Ausgleich ausgehandelt und anschlieBend von beiden Parlamenten angenommen werden. Ihm zufolge bekamen Kroatien und Slawonien den Status einer "politischen Nation" mit bescheidenen Hoheitsrechten in inneren Angelegenheiten, in Justiz, Kultur und Unterricht. Aber diese ,,Autonomie" war vollig von der Kontrolle der Exekutive und Legislative Ungarns abhangig, und auch der kroatische Banus wurde auf den Vorschlag des ungarischen Ministerprasidenten yom Konig emannt. Die finanziellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten lagen vollig in der Zustiindigkeit der ungarischen Amter. Die Besteuerungspolitik machte der Bauernschaft einen Ubergang aus der traditionellen Selbstversorgungswirtschaft zur modemen marktorientierten landwirtschaftlichen Produktion unmoglich und fiihrte Ietztendlich zum Untergang von Bauemhofen und Verfal1 von Dorfem. Die Eisenbahnstrecken wurden nach den Interessen der ungarischen Regierung und nicht nach Bedfufuissen der kroatischen Wirtschaft gebaut, so dass sie erst Anfang des 20. Jahrhunderts sinnvoll ausgelastet werden konnten. Die fmanzielle Unabbiingigkeit wurde daraufhin zur Hauptforderung des kroatischen Biirgertums. Dieses Ausgleichssystem konnte so nicht funktionieren. Die ungarische Regierung suchte dann nach einer Ubereinkunft mit der oppositionellen Nationalpartei, die 1873 zu einer Revision des Ausgleichs fiihrte, die jedoch an den Prinzipien des Ausgleichs nichts anderte. Die Nachgiebigkeit der Politiker der Nationalpartei bei diesen Verhand1ungen veranlasste Strossmayer, die Partei zu verlassen und sich aus der Politik zurUckzuziehen. Die Lage in Dalmatien und Istrien war noch starker von Unterentwicklung gepragt. Die Wiedergeburtsbewegung Ioste in Dalmatien den Konflikt zwischen der Nationalund der Autonomistenpartei aus. Die Nationalpartei setzte sich fUr die Vereinigung mit Kroatien und Slawonien und die Einfiihrung der Volkssprache in Verwa1tung und Unterricht anstelle des Italienischen als einziger Amtsprache ein. Die Autonomisten widersetzten sich diesen Forderungen und orientierten sich noch starker an ltalien. 1870 besiegte die Nationalpartei bei den Wahlen zum Dalmatinischen Landtag zum ersten Mal die Autonomisten. Der Nationalpartei gehOrten bis 1879 Kroaten und Serben an, ais die Serbische Nationalpartei gegriindet wurde, die sich der Vereinigung mit Nordkroatien widersetzte und mit den Autonomisten zusammenarbeitete. Der politische Kampfwurde bauptsachlich urn die Mehrheit in den Gemeinderaten gefiihrt. Die Nationalpartei gewann nacheinander die Wahlen in allen Gemeinden und 1882 auch in Split. Nur Zadar, das Verwaltungszentrum Dalmatiens, blieb italienisch. Der dalmatinische Landtag forderte vergeblich die Einfiihrung der ,,kroatischen oder serbischen Sprache" als Amtssprache in inneren Angelegenheiten. Die Nationalpartei benannte sich 1889 in Kroatische Nationalpartei urn und emeuerte ihr Programm auf der GrundIage des kroatischen Staatsrechts. Doch der Druck aus Wien vereiteite ihre Versuche, im Landtag die Frage der Vereinigung mit Kroatien und Slawonien in angemessener
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Weise zu stellen. Die Unzufriedenheit mit dieser nachgiebigen Politik schuf die Bedingungen fUr das Erscheinen der Rechtspartei in Dalmatien. In Istrien verbreitete sich die Wiedergeburtsbewegung erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie erstarkte in Zusammenarbeit mit der slowenischen Nationalbewegung trotz enormer Schwierigkeiten in einem ungleichen Kampfmit dem italienischen Biirgertum und seiner Vormachtstellung in Wirtschaft, Politik und Kultur. In einigen Gemeinden besiegte die Nationalpartei die italienische Partei. Die politische Hauptfrage in Istrien war die Gleichberechtigung der kroatischen und der slowenischen mit der italienischen Sprache in Verwaltung, Gericht und Landtag. Mit der Zeit verschiirfte und komplizierte sich der nationale Kampf auch in Istrien. Nach der Revision des Ausgleichs wurde Ivan Mafuranic zum Banus (1873-1880) emannt und von der Nationalpartei mit Begeisterung begrill3t. Wahrend seiner Herrschaft wurden urnfangreiche Reformen der Institutionen des politischen Lebens in Angriff genommen, mit dem Ziel, eine modeme und zentralisierte Verwaltung und einen ,,Rechts- und Verfassungsstaat" aufzubauen. Mafuranic gelang es, die Justiz von der politischen Verwaltung zu trennen, und es gab einige Fortschritte bei den allgemeinen biirgerlichen Freiheiten. Er wurde in seiner Reformtiitigkeit massiv behindert, und so blieben die meisten Reformvorhaben und Entwiirfe fUr fallige Gesetzesiinderungen Mafuranics Wunschtraurn. Die Modernisierung wirkte sich auf andere Bereiche aus. Wissenschaft und Kultur wurden durch die von Strossmayer mit groBer Energie betriebene Griindung der Suds1awischen Akademie der Wissenschaften und Kiinste 1867 sowie einer modemen Universitiit in Zagreb 1874 angeregt und gefdrdert. Das Wirtschaftswachstum warohne notige Reformen - unregelmiiBig und stockend, aber es kam zu gesellschaftlichen Strukturiinderungen in der Verteilung der Land-Stadt-Bevolkerung, da durch die neuen Bahnverbindungen immer mehr Menschen in die Stiidte zogen. So hatte Zagreb zwischen 1857 und 1910 einen BevOlkerungszuwachs von 350 Prozent zu verzeichnen. Die ungarische Regierung versuchte aber, auch noch die bescheidenste Autonomie zu unterlaufen und vor allem beim Finanzausgleich ihre Bedingungen hemmungslos zu diktieren. Bei allen Meinungsverschiedenheiten zwischen der ungarischen und der kroatischen Regierung nahm Franz Joseph Partei fUr die Ungam. Eine der umstrittensten Fragen war der Fall von Rijeka (Fiume), da bei den Verhandlungen zum Ausgleich von 1868 keine Einigung uber die Hafenstadt erzielt wurde (§ 66 des Ausgleichs), was wiederum vom ungarischen Parlament nicht anerkannt wurde, das vielmehr beschloss, Rijeka als corpus separatum Ungam anzugliedem. Durch Manipulationen im Originaltext des Abkommens war Rijeka 1871 de facto Ungam angeschlossen, aber sein Status bis zum Ende der Monarchie de iure nicht geregelt. Die vielen urnstrittenen Fragen zwischen Budapest und Zagreb, die immensen Benachteiligungen Kroatiens und eine riicksichtslose ungarische Machtpolitik hatten gewaltige Folgen fUr das Wirtschaftsleben. Eine normale Entwickiung der Gesellschaft und Wirtschaft war so gut wie unmoglich, was zur Unzufriedenheit aller Schichten in der Gesellschaft fiihrte. Von der Nationalpartei spaltete sich ein Flugel unter dem Namen Unabhtingige Nationalpartei ab, und die Unzufriedenheit unter den Kleinbiirgem brachte der Rechtspartei Zulauf, die schnell von einer kleinen Randgruppe urn Starce-
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vic und Kvatemik zu einer verhiiltnismiiBig groBen national-politischen Bewegung anwuchs, die sich von der urspriinglichen Ideologie Starcevics immer starker entfemte. Die schleppende Integration des 1871 entmilitarisierten Gebietes der Militiirgrenze sorgte fUr weitere Spannungen und Unzufriedenheit. Die Militiirgrenze war das einzige Gebiet in der Monarchie ohne verfassungsmlillige Ordnung, und die Vereinigung mit Zivilkroatien war kein "staatsrechtlicher Akt", sondem ein Prozess jenseits des Verfassungsrahmens und der Verfahrensregeln. Als der Kaiser 1881 die Integration in Zivilkroatien genehmigte, hatte sich die ungarische Regierung die ausschlieBliche Entscheidungsgewalt fiber die angeschlossenen Territorien schon gesichert. Die Hiirten, die dem Ausgleich folgten, losten 1883 Unruhen in Zagreb und anderen Stadten aus, die sich bald ausbreiteten und auch die Bauernschaft erfassten. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde der ungarische GrafKhuen-Hedervary (18831903) als Banus eingesetzt, der 20 Jahre lang als Vollstrecker magyarischer Interessen fiber Kroatien herrschte und die Politik des" divide et impera" auf die Spitze trieb. Wlihrend seiner Herrschaft wurden einige Ansatze zur Modernisierung der Verwaltung aus der Regierungszeit MaZuranics beibehalten und teilweise neu angepasst. Ein bescheidener wirtschaftlicher Fortschritt machte sich erst zur Jahrhundertwende bemerkbar. Die Zeit Hedervarys blieb als Epoche brutaler Repression in Erinnerung, die GOOter SchOdl trefIend als "eine pseudokonstitutionelle, den ungarisch-kroatischen Ausgleich von 1868 aushOhlende Diktatur" beschrieb. Die nationale Integration der Kroaten und Serben hatten die Entstehung eines besonderen Komplexes kroatisch-serbischer Beziehungen zur Folge. Beide Volker lebten nlimlich in vielen Gebieten Kroatiens (bzw. SUdungarns) gemischt, wenn auch - trotz miiheloser sprachlicher Kommunikation - eher nebeneinander als zusammen. Die serbische nationale Integrationsideologie basierte auf der Lehre des Vuk Stefanovic KaradZic, die die gesamte Stokavisch sprechende Bevolkerung, also auch die Mehrheit der Kroaten, den Serben zurechnete, femer alle sfidslawischen Lander in der Monarchie als serbisch bezeichnete und erwartete, daB diese sich dem schon bestehenden serbischen Nationalstaat anschlieBen wiirden. Diese Staatsideologie stand in krassem Gegensatz zum kroatischen Jugoslawismus und der exklusiv-kroatischen Ideologie der Rechtspartei. Kroatische und serbische Staatsideologien prallten besonders in ihrem konkurrierenden Anspruch auf Bosnien-Herzegowina aufeinander. Diese grundsatzliche Unvereinbarkeit der kroatischen und serbischen Nationalideologien geriet aber oft in den Hintergrund - fiberdeckt durch das gemeinsame politische Interesse, das sich gegen Wien und den ungarischen Hegemonismus richtete. Die politischen Veranderungen unter den Serben in Serbien und Ungam und wechselnde Interessen ihrer politischen Parteien spielten dabei auch eine Rolle. In Dalmatien kam es bereits 1879 zur volligen Entzweiung zwischen der kroatischen und der serbischen Politik, die sich in Banalkroatien Ende der achtziger Jahre bemerkbar machte. In der zweiten Hiilfte der neunziger Jahre kam es unter neuen Bedingungen zu einer langsamen, teilweisen Annliherung zwischen den politischen Vertretem des kroatischen und serbischen Biirgertums. Anders als in Westeuropa spielte im sfidslawischen Raum die Religion bzw. die Konfession bei der Konstituierung der Nationen eine erhebliche Rolle. 1m Laufe des 19.
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Jahrhunderts verfestigten sich die konfessionellen Unterschiede a1s unterschiedliche nationale Identitliten. Statt fUr Konflikte nach okonomischen und politischen Ursachen in der fremdbestinnnten Gesellschaft zu suchen, neigte man dazu, sie aufkonfessionelIe bzw. nationa1e Unterschiede zutiickzufiihren. Die Serben in Kroatien hatten das Gefiihl der Bedrohung als Minderheit in der uberwiegend katholischen Umgebung und befUrchteten, von der kroatischen Mehrheit assimiliert zu werden. SchlieBlich war die Tatsache von folgenreicher Bedeutung, dass nach der Befreiung von den Tiirken in der Nachbarschaft ein serbischer Nationalsstaat entstanden war. Das gab den Serben in Kroatien das Gefiihl, Teil einer groBeren Nation mit dem Mutterland Serbien zu sein, wlihrend die gleiche Tatsache bei den Kroaten zum Verdacht fiihrte, die Serben konnten ihrer Heimat Kroatien gegenuber nicht loyal sein. 3.5. Die Vorkriegszeit uod der Erste Weltkrieg
In den neunziger Jahren lOsten die Konflikte der deutsch-osterreichischen und ungarischen politischen Interessen die Krise des Dualismus aus, die sich auf die politische Lage in Kroatien, das sich mitten im Wandel befand, auswirkte. Die kroatische Rechtspartei wandelte sich in eine opportunistische Partei, die zusammen mit der jugoslawisch orientierten Unabhlingigen Nationa1partei der Losung der kroatischen Frage im Rahmen der Habsburger Monarchie zustimmte. Dieser Zusammenarbeit war nur kurze Dauer beschieden, und auch die Rechtspartei zerfiel in antagonistische Flugel. Bei Richtungsklimpfen und Versuchen einer Wiedervereinigung errangen da1matinische und istrische Politiker der Rechtspartei eine fiihrende Position. 1894 wurde auBerdem die Sozialdemokratische Partei gegriindet. Doch erst die Ereignisse von 1895, die mit uberraschenden Aktionen der Zagreber Jugend, die sich Fortschrittliche Jugend nannte, ihren Anfang nahmen, entfachten eine politische Dynamik: Wahrend der feierlichen ErofInung des neuen, monumentalen Gebliudes des Kroatischen Nationaltheaters, der Franz Joseph beiwohnte, verbrannten die Zagreber Gymnasiasten und Studenten demonstrativ die ungarische Fahne vor dem Denkmal des Banus JelaCic. Dieser symbolische Akt brachte einen entscheidenden Umschwung in das politische und geistige Leben hinein und signalisierte eine Abkehr von den hergebrachten Verhaltensmustem der alten politischen Klasse Kroatiens. Die Fortschrittliche Jugend setzte sich fUr die Uberwindung des kroatisch-serbischen Konflikts ein. Erst spliter, 1904, wurde die Fortschrittspartei gegriindet. Die Bewegung war durch einen ausgeprligten Antitraditionalismus und die Rezeption modemer demokratischer Stromungen in Europa gekennzeichnet. Dies kam vor aHem bei Stjepan Radic (1871-1928), dem spliteren Grunder der Bauempartei, zum Ausdruck, der unter dem Einfluss des tschechischen Politikers T.G. Masaryk seine politischen Konzepte entwickelte. Die Bewegung breitete sich auf die Literatur, die darstellenden Kiinste und das Kulturleben iiberhaupt aus. Die Politik entfaltete sich in Richtung einer fortschrittlichen nationalen Programmatik. Die kiinstlerischen Kreise orientierten sich nach Paris, und es gab neue Stromungen in der Kunst (kroatische ,,Modeme"). (7 Kap. 17) Das zeugt von einer OfInung zur Kultur des Westens und davon, daB die junge kroatische Elite nach Jahrzehnten der Isolation zum
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ersten Mal uber den Tellerrand des Provinzialismus Wld die Ruckstandigkeit der dahinsiechenden Doppelmonarchie hinausblickte. Nach jahrelangen kroatisch-serbischen Reibereien Wld SpannWlgen loste 1902 der in der serbischen ZeitWlg Srbobran in Zagreb verofIentlichte Artikel Wlter dem hetzerischen Titel ,,Bis zu eurer oder unserer Ausrottwtg" (Do istrage vaSe iii naSe) antiserbische Demonstrationen in Zagreb aus, die sich uber drei Tagen hinzogen Wld von AusschreitWlgen gegen Serben in Zagreb (vor allem gegen reiche Ladenbesitzer) begleitet wurden. Den politischen Hintergrwtd bildete die Tatsache, dass die serbische Elite Wld serbische Abgeordnete fast geschlossen das Regime Hedervarys Wld seine EntscheidWlgen WlterstUtzten. Die neue Generation der serbischen Politiker in Kroatien, die sich gegen die regimefreWldliche serbische Politik wandte, iibernahm nach den antiserbischen Demonstrationen die FiihrW1g Wld arbeitete an der Verstandigwtg mit den kroatischen Parteien. 1m "Sturmjahr" 1903 (SchOdl) kam es in Zagreb emeut zu Demonstrationen Wld blutigen ZusammenstoBen zwischen Gendarmerie Wld Bauem in einer Vorstadt. Die Unruhen losten einen spontanen Wld massiven antiWlgarischen Bauernaufstand aus. Nach der blutigen Niederschlagwtg gelang einigen der Anfiihrer die Flucht ins Ausland, wo sie die OfIentlichkeit zum ersten Mal auf die Repression in Kroatien aufmerksam machten. In der Parteienlandschaft Kroatiens kam es zu bahnbrechenden VerschiebWlgen, als jWlge kroatische Wld serbische Politiker zeitgleich mit dieser ersten Massenbewegwtg die Szene betraten. Zurn ersten Mal wurden politische Grwtdlagen fUr modeme demokratische Parteien geschafIen. Die Bewegwtg hatte eine auBerordentliche Wirkwtg in Dalmatien, so dass die politischen Aktionen in Nordkroatien Wld Dalmatien fortan aufeinander abgestimmt wurden. So wurde gerade in DaImatien der ,,neue Kurs" der kroatischen Politik durch Ante Trumbic Wld Fran Supilo formuliert. Die neue Strategie versuchte, den politischen Konflikt zwischen den herrschenden Eliten in Wien Wld Budapest fUr sich ausZWlutzen bzw. neue Moglichkeiten zu erofInen, urn die kroatische Autonomie auszuweiten Wld eine Vereinigwtg der kroatischen Lander zu erreichen. Die Gefahr, die vorubergehend Siidslawen, Ungaro Wld ltaliener im Widerstand vereinigte, hieB deutscher ,,Drang nach Osten"; deshalb erwarteten die Verfechter des Neuen Kurses eine AndefWlg der Wlgarischen Politik, die in Kroatien Wld Slawonien mehr Autonomie zulassen wiirde, Wld sahen schon die femeren Ziele der Vereinigwtg oder gar einer staatlichen Unabhiingigkeit als greitbare Zukunft. Dieser neue Trend fand auch Wlter serbischen Politikem Anklang. Vor diesem Hintergrwtd wurde aus der Kroatischen Rechtspartei (die aus Teilen der friiheren Rechtspartei Wld der friiheren Unabhiingigen Nationalpartei bestand), der Fortschritts- Wld der Serbischen Selbstandigen Partei (SSP) die Kroatisch-Serbische-Koalition (HSK) gegriindet. In Dalmatien gab es keine formelle Koalition, sondem nur ein Abkommen zwischen den kroatischen Wld serbischen Parteien. Als 1905 die siegreiche Koalition (nach dem Wahlzensus immer noch von nur 2 % der Bevolkerwtg gewahlt) mit Wlgarischer ZuStimmWlg die Regierwtg bildete, wurde sie von Budapest aus in gleicher Weise gegangelt Wld eingeengt. Sie scheiterte nach einem Jahr, "ohne ein einziges ihrer Ziele erreicht zu haben" (SWldhaussen). Doch die Koalition (HSK) selbst blieb bis zur AufloSWlg der Monarchie bestehen.
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Der Dubrovniker Journalist und Po1itiker Fran Supi10 (1870-1917) war die treibende Kraft beim Versuch einer Zusammenarbeit mit der ungarischen Unabhangigkeitspartei und der von ihr gestellten Regierung. Supilo, der von Rijeka aus wirkte, wo er an der maBgeblichen Stelle publizistisch wirkte, war zunachst die wichtigste Person in der Kroatisch-Serbischen Koalition (HSK). Die "gleichermaBen in Budapest und Wien gefiirchtete kroato-serbische Zusammenarbeit" (Sundhaussen) versuchte Wien mit allen Mitteln zu bekampfen, besonders heftig aber im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchfiihrung der osterreichisch-ungarischen Annexion Bosnien-Herzegowinas. Das Regime im Dienste der Annexion (Banus P. Rauch) versuchte die Koalition unter anderem durch einen politischen Prozess zu sprengen, bei dem einige (serbische) Mitglieder der Koalition des Hochverrats beschuldigt wurden. Bei diesem ,,Agramer Hochverratsprozess" wurden die Angeklagten schul dig gesprochen, aber spater, nach veranderter politischer Lage, arnnestiert. In der Wiener Presse wurden einige andere (kroatische) Mitglieder der HSK der Zusammenarbeit mit der serbischen Regierung bezichtigt. Sie klagten gegen diese Verleurndung, und Supilo als Hauptklager konnte vor Gericht nachweisen, dass das osterreichische AuI3enministeriurn den Autor (Friedjung) jener Artikel mit gefalschten Dokumenten be1ieferte (Wiener ,,Friedjungprozess"). Nach diesen das intemationale Prestige der k. u. k. Monarchie schadigenden Affairen wurde das repressive Regime in Kroatien abgelOst. 1910 versuchte der neue Banus, sich mit der Koalition, die die Mehrheit im Landtag stellte, zu einigen und gleichzeitig auf der ungarischen Vorherrschaft zu beharren. Nach dem Scheitem dieser Politik wurde die Verfassung abgeschaffi und ein Kommissariat (1910-1912) installiert. In der Atrnosphare der immer starkeren allgemeinen Unzufriedenheit eskalierte auch die Gewaltbereitschaft vor allem unter der Jugend, was auch zu Anschlagen fiihrte. Nach dem Kompromiss zwischen dem neuen ungarischen Ministerprasidenten und der HSK wurde die verfassungsmaBige Ordnung wiederhergestellt. Bei den Wahlen von 1913 erreichte die HSK die Mehrheit und betrieb eine vollkommen opportunistische Politik, deren Folge die restlose Unterordnung unter ungarische Interessen war. Fran Supilo, der Griinder und spiritus rector der HSK, hatte schon zuvor die Koalition verlassen und sein Nachfolger, der junge Vorsitzende der SSP, Svetozar Pribicevic (1875-1936), verfolgte eine opportunistische Taktik, urn in der Zeit der Spannungen und des Krieges den Druck auf das serbische Biirgertum in der Doppelmonarchie zu entscharfen und seine "bestehenden Rechte" zu sichem (Sundhaussen). Gleichzeitig fing er an, mit der Moglichkeit zu spekulieren, der Ausbruch des Krieges konnte Bedingungen fiir eine Einigung der siidslawischen Lander unter Serbien schaffen. Der Erste Balkankrieg (1912), in dem die Verbiindeten Serbien, Bulgarien und Griechenland den siidlichen Balkan von der tiirkischen Herrschaft befreiten, loste Begeisterung sowohl bei den Serben als auch bei den Kroaten der Monarchie aus, die aber ein Jahr spater im Zweiten Balkankrieg, als es urn die Verteilung der befreiten Gebiete unter den einstigen Verbiindeten ging, von den Kroaten nicht mehr geteilt wurde. Unter den bosnischen Kroaten kam es zur politischen Betatigung erst spat. Mit einer aktiven Politik begannen nach der Okkupation von Bosnien-Herzegowina (1878) zunachst die Franziskaner, die ihren traditionellen Illyrismus zugunsten der exklusiv-kroa-
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tischen Ideologie aufgegeben hatten. Der Gegensatz zwischen der kroatischen und der serbischen Nationalideologie war unter bosnischen Bedingungen noch durch die konkurrierenden Anspruche auf die nationale Zuordnung der Muslime besonders verscharft. Erst nachdem sich 1910 der bosnisch-herzegowinische Landtag konstituierte, kam es zur Differenzierung verschiedener politi scher Stromungen unter den bosnischen Kroaten. Die Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg spieiten sich nicht auf kroatischem Gebiet ab, aber kroatische Soldaten waren in groBer Zahl in den osterreich-ungarischen Einheiten an der serbischen, italienischen und der Ostfront eingesetzt. Weder bei Ausbruch noch wahrend des Krieges hatte Kroatien die Moglichkeit, Entscheidungen zu treffen oder mitzutragen. Die kroatischen Soldaten mussten fUr einen Staat kampfen, mit dem ihre eigene nationale Politik schon seit Jahrzehnten im offenen oder verdeckten Konflikt stand. Fran Supilo war inzwischen einer der aktivsten Politiker der sudslawischen Vereinigung geworden. Als Mitglied des Londoner "sudslawischen Komitees" bereitete er zusarnmen mit Ivan MestroviC (1883-1962) und Ante TrumbiC (1864-1938) die sudslawische Vereinigung vor, die er sich als eine FOderation aus fiinfEinheiten vorstellte. Gleichzeitig bekampfte er in reger diplomatischer Tatigkeit die in dem Londoner Geheimabkommen vereinbarten PHine, denen zufolge Italien groBe Teile der adriatischen OstkUste im FaIle eines Wechsels zu den Aliierten zufallen sollten und an die der serbische AuBenminister Nikola Pasi6 anknupfte, im Bestreben, nach dem Sieg uber die Achsenmachte und dem Zerfall der Monarchie Serbien zusatzlich zu Bosnien-Herzegowina auch groBe Teile kroatischer Territorien anzuschlieBen. Als es immer klarer wurde, dass das Komitee nicht imstande sein wfude, fUr Gleichberechtigung beim Vereinigungsprozess zu sorgen, verlieB Supilo 1916 das Gremium, ein Jahr spater starb er in London. Am Vorabend des Zerfalls der Monarchie wurde in Zagreb von politischen Vertretern aus Banalkroatien, Dalmatien, Istrien, Bosnien-Herzegowina und Slowenien der Nationalrat als oberste staatsrechtliche Korperschaft der Sudslawen der untergegangen Monarchie gegrlindet. Der kroatische Sabor klindigte am 29. Oktober 1918 aIle staatsrechtlichen Verbindungen zu Osterreich und Ungam auf, erkliirte formell die Vereinigung von Nordkroatien, Dalmatien und Rijeka mit dem neuen Staat der Sudslawen aus der zerfallenen Monarchie (der Slowenen, Kroaten und Serben, SHS) und stattete den Nationalrat mit der hochsten Vollzugsgewalt aus. Spater stellte der Nationalrat umstandehalber - z.B. das italienische Militar hatte schon Teile jener Gebiete des volkerrechtlich nicht anerkannten Staates besetzt, auf die Italien nach dem Londoner Abkommen Anspruch erhob - die Bedingungen fUr eine Vereinigung mit Serbien hintan und verzichtete aufVerhandlungen uber die Verfassungsordnung des klinftigen gemeinsamen Staates. Am 1. Dezember uberreichte die Abordnung des Nationalrates dem Prinzregenten Aleksandar das Billingungsschreiben, der daraufhin die Vereinigung des Konigreichs Serbien mit dem unabhangigen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben zum Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen proklamierte. (7 Kap. 10)
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3.6. Kroatische GeschichtsschreibuDg uDd Politik im 20. JahrhuDdert In der kroatischen Politik hat die Benutzung historischer Tatsachen zu politischen Zwekken eine lange Tradition. Die Berufung aufhistorische Staatsrechte war fUr die kroatischen Eliten haufig das einzige Mittel gegen Vereinnahmungsversuche. 1m 19. Jahrhundert war Kroatien starken Germanisierungsversuchen ausgesetzt, die sich auf die Uberlegenheit der deutschen Kultur beriefen. Die ungarischen Anspriiche, die sich auf die Stephanskrone beriefen, liefen auf eine Geschichtsauslegung hinaus, die die Kroaten als politische Nation leugnete und kroatische staatsrechtliche Traditionen ignorierteo Auch gegeniiber dem serbischen Geschichtsmythos und den Phantasien zur Emeuerung eines serbischen mittelalterlichen Reiches musste man sich mit geschichtlichen Argumenten zu Wehr setzen, denn mit der Berufung auf ,,zar Dusan" erstreckten sich serbische Gebietsanspriiche bis nach Triest. 1m Unabhiingigen Staat Kroatien (NDH), 1941-1945, erhielten jedoch historische Inhalte besondere Bedeutung: Sie lieferten der Ustascha-Ideologie Begriindungen. Die Geschichte sollte die staatliche Rechtmlilligkeit mit Hinweisen auf das historische kroatische Staatsrecht legitimieren, und sie sollte jegliche staatsrechtliche Bindung an andere jugoslawische VOlker verwerfen und nationale AusschlieBlichkeit rechtfertigen. Aus dem nationalen Pantheon wurde an erster Stelle Ante Starcevi6 zum ideologischen Gewahrsmann auserkoren: In ihm sah die Ustascha den "Vater der Heimat", "VorHtufer und Inspirator" des FUhrers Paveli6. Starcevi6s Uberlegungen zum politischen Kroatentum und das auf dem historischen kroatischen Staatsrecht beruhende politische Programm kamen der Ustascha sehr zupass. Sie reduzierte sein Denken auf eine einzige, namlich die nationalistische, Dimension und gab ihr eine extremistische und hetzerisch antiserbische Wendung, die sie urspriinglich so nicht hatte. Infolge dieser Instrumentalisierung blieben die demokratischen Impulse seiner politischen Theorie fUr die Rezeption verschiittet. Nach grobschlachtigen Manipulationen und der ideologischen Umdeutung der Geschichte im sozialistischen Jugoslawien kam es im Laufe der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre zu einer ungehemmten Politisierung der Geschichte im Sinne einer nationalistischen Wiedergeburt. Die nationalistische Instrumentalisierung der Geschichte vor allem durch den serbischen nationalistischen Diskurs trug iiberall zur Verschiirfung der Konflikte bei. Mitte der achtziger Jahre wurde die serbische Offentlichkeit von national-geschichtlichen Themen und iiberzogenen Thesen etwa iiber das Kosovo als urserbisches heiliges Land oder iiber den genetisch verankerten volkermorderischen Charakter der Kroaten geradezu iiberschwemmt. Da die kroatischen kommunistischen Meinungsmacher auf so1che und andere Provokationen aus Serbien nicht zu antworten pfiegten, kennzeichnete man diese Zeit als ,,kroatisches Schweigen". 1m Grunde aber bahnten die kroatischen Historiker den Weg fUr eine kritische und niichteme Geschichtsschreibung, die vor allem die neuere Geschichte yom Ballast der Legenden und Mythen, Liigen und Instrumentalisierungen befreien sollte. In den achtziger Jahren wurden zum ersten Mal wichtige Quellen zur Zeitgeschichte (z.B. von Ljubo Boban) und umfassende Studien, vor allem den Zweiten Weltkrieg betreffend, veroffentlicht. Die einsetzende Demokratisierung begiinstigte zunachst diese Entwick-
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lWIg, es konnten auch tabuisierte Themen wie Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg wissenschafilich, ohne Ideologie behandelt werden. (7 Kap. II) Doch bald mischte sich in die ersten Versuche einer kritischen UntersuchWIg der jiingeren WId iilteren kroatischen Geschichte eine popuiistisch-nationalistische Instrumentalisiertmg hinein. Unter den gegebenen Umstiinden war es nachvollziehbar, dass die oppositionellen Politiker Themen aus einer verschiitteten WId verlogenen Geschichte ansprachen, obwohl es aus Sicht der entwickelten westeuropiiischen Demokratie anachronistisch erscheinen mochte. Ais aber die Gruppiertmg urn Franjo Tudman an Ansehen WId Macht gewann, verstarkte sich das politische Interesse an der Geschichte, WId die nationalen Aspekte gerieten in den Mittelptmkt. Als der Zerfall Jugoslawiens nahte, aufierte Franjo Tudman immer haufiger, dass "das kroatische Yolk seit 900 Jahren nach Eigenstaatlichkeit" strebte. Tudman knupfte VerbindWIgen zum rechten Flugel der kroatischen Emigration im Westen, der die Tradition des Ustascba-Staats NDH hochhielt, WId begann, obwohl er am antifaschistischen Widerstand teilgenommen WId nachher giorifizierende AbhandiWIgen uber den Partisanenkrieg WId den Aufbau des Sozialismus geschrieben batte, die Unterschiede zu verwischen. So sagte er beim 1. Parteitag der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) 1990, der NDH sei ,,nicht nur ein faschistisches Gebilde, sondem auch Ausdruck der jahrhWIdertealten BestrebWIgen des kroatischen Volkes nach einem eigenen Staat" gewesen. Diese Art Umwerttmg der Geschichte mag eine Konzession an den rechten Rand der Partei oder die F olge einer tmkritischen Uberbewerttmg der kroatischen Geschichte sein. Auf jeden FalllOste Tudman damit in Kroatien WId im Ausland eine Polemik dariiber aus, ob der jWIge kroatische Staat als Nachfolger des faschistischen NDH zu verstehen sei. Dies vemebelte die wahren Verhiiltnisse im Krieg in Kroatien 1991, WId die kroatische Politik WId Offentlichkeit mussten viel wertvolle Zeit WId noch mehr Energie aufwenden, urn Augenscheinliches zu beweisen: wer namlich in dem Krieg Angreifer WId wer Opfer war. War die InstrumentalisieTWlg der Geschichte fUr Tudman nutzlich, urn die Mehrheiten im rechten politischen Spektrum zu gewinnen, so war sie fUr die nationalen Interessen eines demokratischen Kroatien nur schadlich. Mit solchen Parallelen spielte man lediglich der ohnehin miichtigen serbischen Propaganda in die Hiinde, die stiindig bemiiht war, die demokratischen EntwicklWIgen in Kroatien in die Niihe des von Hiders Gnaden installierten Ustascba-Staates im Jahre 1941 zu mcken. Diese WIgeschickte Strategie brachte die Kroaten in die paradoxe Lage, pauschal als ehemalige Verbiindete der Achsenmachte verurteilt zu werden, wiihrend doch der antifaschistische Widerstand 1941-45 gerade in Kroatien am massivsten WId erfolgreichsten gewesen war. Gleichzeitig wurden damit die Wege zu einer freien Diskussion der vielen noch offenen Fragen der Zeitgeschichte, die zu Beginn der Demokratisiertmg angeschnitten worden waren, erheblich verstellt. Tudmans Strategie ist, das Verhiiltnis zwischen der antifaschistischen Tradition der GriindWIg des kroatischen Staates im foderativen Jugoslawien WId jener des faschistischen Unabhiingigen Staates Kroatien WIentschieden zu lassen. Die Priiambel der Ende 1990 verabschiedeten VerfassWIg begriindet zwar die kroatische Eigenstaatlichkeit in den Beschliissen der Korperschafien des antifaschistischen Widerstands von 1943 (AVNOJ) WId schlieBt jegliche Kontinuitat zum Unabhiingigen Staat Kroatien der Usta-
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scha ganz klar aus. Dem entspricht auch, dass der Tag des Partisanenaufstandes gegen die Ustascha 1941 zum Staatsfeiertag (22. Juni) erhoben wurde. Aber andererseits benannte Prasident Tudman durch personlichen Beschluss den Platz der Opfer des Faschismus in Zagreb in ,,Platz der groBen Kroaten" urn. AuBerdem auBert Tudman immer wieder den Wunsch, das Ustascha-Todeslager in Jasenovac zu einer Gedenkstatte fUr aIle Kriegsopfer in Kroatien urnzuwandeln - also fUr diejenigen, die das Unrechtsregime und so auch dieses Lager errichteten, wie fUr jene, die im Kampf gegen die faschistische Diktatur gefallen oder als Verfolgte in diesem Lager ermordert wurden, und zusatzlich fUr jene, die im Krieg 1991-1993 gefaIlen sind. Auch das kroatische Militar manipuiiert die Vergangenheit. Die Ustascha-Tradition wird bei manchen Einheiten dadurch gepflegt, dass sie sich Namen bekannter und beriichtigter Feldherrn der Ustascha zulegen. Die andere Vergangenheit, eigentlichjene, der Kroatien - geschichtlich gesehen - seine staatliche Existenz verdankt, wird oft geleugnet. Dazu gehOrt, dass mehrere Hundert antifaschistischer Denkmaler ohne jedes gerichtliche Nachspiel abgerissen und vernichtet werden konnten. Statt in offener Diskussion im Dialog mit der kritischen wissenschaftlichen Forschung die totalitaristische Vereinnahmung des Widerstands gegen den Faschismus einer Priifung in der Offentlichkeit zu unterziehen, strickt die politische Klasse, d. h. die aIlein herrschende HDZ, einen nationalen politischen Mythos, in dem auch die Jahre des politischen Extremismus - der geradezu eine Ausnahme in der kroatischen Geschichte darsteIlt - einen ehrenwerten Platz finden soIlen. Mit dieser - von Teilen der unabhangigen Offentlichkeit und von Historikem angefochtenen - Politisierung der Geschichte legt sich die fiihrende Elite bei ihren erklarten Zielen einer Integration in Europa nur weitere Stolpersteine in den Weg. Deutsch von Christine Dumbovic-Reiser Redaktionell bearbeitet von Dunja MelCic Literatur
Oberblicke mit Einschluss der Gegenwart verschaffen: Neven Budak, Peter Jordan, Walter Lukan und Petra Moissi (Hg.), Kroatien. Landeskunde - Geschichte - Kultur - Politik - Wirtschaft - Recht, Wien usw. 1995 (Osterreichische Osthefte, Sonderband 13); Marcus Tanner, Croatia: a Nation Forged in War, New Haven usw. 1997. Historische Gesarntdarstellungen: Vjekoslav KJaic, Povijest Hrvata, Zagreb 1980 (Geschichte der Kroaten); Jaroslav Sidak, Kroz pet stoljeca hrvatske povijesti, Zagreb 1981 (DUTch funf Jahrhunderte der kroatischen Geschichte). Fiir die friihe Zeit: J. V A.Fine, The Early Medieval Balkans: A Critical Survey from the Sixth to the Late Twelfth Century, Ann Arbor 1983; ders. The Late Medieval Balkans: A Critical Survey from the Late Twelfth Century to the Ottoman Conquest, Ann Arbor 1987; Stanko Guldescu, History ofMedieval Croatia, Den Haag 1964 Neuzeit: Francis W. Carter, Dubrovnik (Ragusa) - a Classic City-State, New York, London 1972; Cathrin Bracewell, The Uskoks of Senj: Piracy, Banditry and Holy War in the Sixteenth-Century Adriatic, New York 1992; Karl Kaser, Die Entwicklung der Zadruga in der kroatisch-slawonischen Militargrenze, Graz 1985; ders., Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft in der kroatisch-slawonischen Militargrenze (1535-1881), Graz 1986. 19. Jahrhundert: Wolfgang Kessler, Politik, Kultur und Gesellschaft in Kroatien und Slawonien in der
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ersten Hiilfte des 19. Jahrhunderts. Historiographie und Grundlagen. Miinchen 1981; E. M. Despalatovic, L]udevit Ga] and the JIlyrian Movement, New York, London, 1975; Holm Sundhaussen, Der Eitiflufi der Herderschen 1deen aufNationbildung bei den Viilkern der Habsburgermonarchie, Miinchen 1973; Arnold Suppan, "Die Kroaten", in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. Jll: Die Viilker des Reiches. hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Wien 1980. S. 626-733; Mirjana Gross, Die Anflinge des modernen Kroatien: Gesellschaft, Politik und Kultur in Zivi/-Kroatien und -Slawonien in den ersten dreissig Jahren nach 1848, Wien usw., 1993 (Mit einer umfassenden Bibliographie zum untersuchten Zeitraum); Guenter SchOdl, Kroatische Nationalpolitik und "Jugoslavenstvo ": Studien zu nationaler Integration und regionaler Politik in Kroatien-Dalmatien am Beginn des 20. Jahrhunderts. Miinchen 1990; WolfD. Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830--1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie, Miinchen 1980; Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitiiterifrage im habsburgischen Vielviilkerstat, Wien 1963; Nicholas J Miller, Between Nation and State: Serbian politics in Croatia before the First World War, Pittsburgh 1997; Jaroslav Sidak, Mirjana Gross, Igor Karaman, Dragovan Sepic, Povijest hrvatskog naroda 1860-1914, Zagreb 1968 (Geschichte des kroatischen Volkes 1860-1914)
Zum Epilog: Wolfgang Hopken, "Kriegserinnerung und nationale Identitat(en). Vergangenheitspolitik in Jugoslawien und in den Nachfolgestaaten", in: Transit 1S, 1998. S. 83-99.
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1m April 1992 wurde die Republik Bosnien-Herzegowina von den EG-Staaten und den USA als unabhangiger Staat anerkannt. Einen Monat spliter war Bosnien-Herzegowina Mitglied der UNO und zwar mit dem 51.233 Quadratkilometer umfassenden Staatsgebiet, das es als zentral gelegene Teilrepublik Jugoslawiens hatte. Doch schon viel Wher hatte sich das Land auf dem Westbalkan als ein Raum herausgebildet, in dem sich Einfliisse aus dem Osten und aus dem Westen kreuzen.
4.1. Von den slawischen Stammesgesellschaften zur feudalen Herrschaft Als erste Quelle erwlihnt das Kompendium ,,De administrando imperio" des byzantinischen Kaisers Konstantin VII. Porphyrogennetos (913-959) unter den VOlkem und Regionen des Reiches neben einem "getaufien Serbien" auch ein Gebiet ,,Bosona". In der Forschung ist man sich einig, dass damit das Gebiet um die Quelle des Flusses Bosna unweit des heutigen Sarajevo gemeint war. Der Zeitpunkt, Mitte des 10. Jahrhunderts, betrifft den Obergang von den slawischen "Territorialgemeinden" zu den FrUhformen feudaler Organisation. 1m Laufe dieses Prozesses erlebte das kroatische friihmittelalterliche Konigtum Anfang des Jahrhunderts seinen Hohepunkt unter Konig Tomislav, der auch tiber betrlichtliche Teile des heutigen bosnischen Territoriums herrschte. Unter Konig Bodin (1081-1100) von Zeta bzw. Doclea (Montenegro), der Raszien (Raska) und Zahumlie, Hum (Herzegowina) unter seine Herrschaft brachte, erlebte der friihe serbische Feudalstaat seinen ersten Hohepunkt. Die Chronik des Priesters von Doclea (11. Jh.) erwlihnt Bosnien neben Raszien und Kroatien - als relativ gro13es Land zwischen den Fliissen Drina und Vrbas, an dessen Spitze der Banus steht. Als erster Herrscher mit diesem Titel taucht in den Quellen Banus Boric auf - zur Zeit der byzantinisch-ungarischen Kriege 1154-1164. 1m Bericht tiber die Eroberungen des EmanuelL Komnenos wird er als "Verbiindeter" des ungarischen Heeres erwlihnt. Der Historiograph des erfolgreichen byzantinischen Feldherm, Johannes Kinnamos, notierte, dass Bosnien sich dem "serbischen Zupan" nicht unterordnete. Trotz wechselnder Abhangigkeit von slawischen Nachbarstaaten und von Byzanz zeichnete sich das friihmittelalterliche Bosnien als eine eigene politisch-territoriale Organisation abo Der erste machtige Herrscher Bosniens im Mittelalter war Banus Ku1in (1180-1204) - in den Quellen Culin magno banD Bosniae genannt. Zu seiner Zeit waren die feudalen Strukturen in Bosnien, das bereits tiber Zentralbosnien hinaus die Regionen U sora (Srebmik), Soli (Tuzla) und Donji Kraji (Kljuc) umfasste, einigerma13en gefestigt. Bergbau und Handel mit dalmatinischen Stadten brachten wirtschaftlichen Aufschwung. Eine zentrale Rolle kam dabei Dubrovnik zu, damals die wichtigste Handels- und Wirt-
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schaftsmacht in jenem Rawn. 1m Dubrovniker Historischen Archiv wird die in der Volkssprache und in der so genannten Bosancica geschriebene Urkunde vom 29. August 1189 fiber den Freundschafts- und Hande1svertrag zwischen dem "bosnischen Banus Kulin", dem Fiirsten Krva.§ und den Biirgern von Dubrovnik aufbewahrt, mit dem der Banus den ragusanischen Hlindlem das Recht auf freien Handel und die Ausbeutung der Erzlagerstiitte gewiihrte. Mit dem Namen des Kulin Ban sind in der Geschichtsschreibung vor allem die ersten Nachrichten fiber die "bosnische Hiiresie" verbunden. Bosnien war ein katholisches Land, fiber das die zustlindigen ErzbischOfe aber keine feste Jurisdiktion er1angen konnten. Es unterstand eine Zeit lang dem Erzbischof von Dubrovnik, der sich in die VerWiltnisse wenig einmischte. Als beherrschende Macht in dem Rawn etablierte sich Ungaro, und so stand auch Kulin Ban im Vasallenverhliltnis zum ungarischen Konig. Bis 1918 machten Ungams Herrscher ihren Anspruch auf Bosnien als ein Land der Stephanskrone geltend, indem sie den Titel der Konige von Rama (nordlich von Mostar, Prozor) fiihrten. Das Bestreben der romischen Kurie, Bosnien in die romisch-christliche Welt voll zu integrieren, verband sich mit den machtpolitischen Interessen Ungams, so dass der Vorwurf der Hiiresie stets einen politischen Hintergrund hatte. Vukan, der mit Ungaro verbiindete Fiirst von Zeta, bezichtigte Banus Kulin, dessen Frau und einige Tausend seiner Untertanen der Hiiresie, und da Papst Innozenz III. eine iihnliche Beschwerde vom Erzbischof aus Split bekam, forderte er den ungarischen Konig auf, in Bosnien zu intervenieren. Der Banus kam dem drohenden Kreuzzug mit einem Brief an den Papst zuvor, in dem er wn Aufkliirung fiber die richtigen Glaubenspraktiken bat, da er die angeblichen Hiiretiker fUr gute Katholiken gehalten Witte. Der Papst schickte daraufhin seinen Legaten Johannes de Casamare nach Bosnien, und Kulin Ban hielt mit ilun 1203 auf Bilino polje (Zenica) ein Konzil der bosnischen katholischen Kirche ab, bei dem offiziell den abweichenden Praktiken abgeschworen wurde. Die Abschworung von Bilino polje wurde am ungarischen Hof vor Konig Emericus I. bestiitigt. Nachdem das bosnische Bistwn unter die kirchliche Zustlindigkeit Ungams, d.h. des Metropoliten von Kalocsa gestellt und 1252 der Sitz des bosnischen Bischofs nach Slawonien (Dakovo) verlegt wurde, konnte von dort aus in Bosnien selbst wenig ausgerichtet werden. In den Jahrzehnten nach Kulins Tod bis zur Zeit des Banus Ninoslav bauten die Adligen ihre Herrschaft aus, und die Bosnische Kirche behielt ihren Ritus und ihre Organisation anscheinend unbehelligt bei. Ninoslav konnte sich als von Rom anerkannter rechtgliiubiger Herrscher (dux de Bosna) zunachst weder gegen den immer miichtigeren lokalen Adel behaupten noch die MaBnahmen der romischen Kurie gegenfiber der Hierarchie der Bosnischen Kirche durchsetzen - trotz der begleitenden inquisitorischen Mission der Dominikaner. Nachdem aber der Bruder des ungarischen Konigs und Banus von Kroatien, Koloman, im Auftrag Roms gegen Bosnien einen Kreuzzug unternahm, verbiindete er sich mit anderen bosnischen Adligen und setzte sich zur Wehr, so dass Koloman nur einige Landstriche in Nordbosnien und einen Teil von ZahumlielHwn im Sfiden eroberte. Der Fiirst von Raszien aber, Stefan Dragutin Nemanjic, konnte sich als ungarischer Vasall die nordostlichen Regionen Soli und Usora im Herzogtwn Macva (Macs6) einverleiben.
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Yom Ende des 13. Jahrhunderts bis zum Aufkommen der Dynastie der Kotromani6s bleiben die bosnischen Gebiete unter der Herrschaft von Vasallen Ungarns. Ninoslav aber muss sich in Zentralbosnien (zwischen Visoko und Zenica) behauptet haben, denn 1240 wurde zwischen ihm, als ,,Banus von Bosnien", und Dubrovnik ein Freundschaftsvertrag geschlossen. Die Erbfolgekriege nach dem Tod des letzten Arpaden schwachten die ungarische Zentralgewalt und begfulstigten den Aufstieg lokaler Herrscher. In Kroatien erstarkte die Dynastie der Fiirsten von Bribir (Sibenik): Pavle Subi6 (12991322) errang die Herrschaft tiber betrachtliche Teile des nordwestlichen Bosnien, tiber das Gebiet der Fiirsten von Donji Kraji, Hrvatini6i und nannte sich ,,Banus von Kroatien, Dalmatien und Herr von Bosnien". Sein Sohn Mladen Subi6 wurde aber von kroatischen und bosnischen Magnaten aus seiner Stellung verdrangt. Die Entscheidung des ungarischen Erbfolgekrieges zu Gunsten des Thronpratendenten Karl Robert aus dem neapolitanischen Hause Anjou wirkte sich gfulstig fiir Stjepan II. Kotromani6 aus, der im Zuge der Siege gegen Subi6 und mit UnterstUtzung des neuen ungarischen Konigs seine Herrschaft tiber die bosnischen Lander ausbaute. Damit setzte der Machtaufstieg des mittelalterlichen Bosnien ein. Stjepan Kotromani6 besiegelte spater seine Position durch die Heirat seiner Tochter, Elisabeth, mit dem jungen ungarischen Konig Ludwig. Der Nachfolger Stjepans, Tvrtko Kotromani6, konnte mit Ludwigs UnterstUtzung seine Herrschaft gegentiber den bosnischen Adligen festigen, denn Ludwig war im Kampf gegen den venezianischen Konkurrenten auf bosnische Waffenhilfe angewiesen. In einem Vertrag mit Dubrovnik (1367) bezeichnet sich Tvrtko als bosnischen Banus von "Gottes Gnaden", ohne Ludwig, d. h. sein Vasallenverhaltnis zu erwiihnen. Die Auflosung des gewaltigen serbischen Reiches nach Stefan DtiSans Tod bot Tvrtko giinstige Chancenf fiir eine Expansion. Er verbiindete sich mit dem Fiirsten von Morava und Raszien, Lazar Hrebljenovi6, der nach dem Tod von DtiSans Nachfolger Stefan Uros 1371 um die Macht im Stidwesten, um Zeta und Hum kiimpfte. Ihre Siege brachten den beiden erheblichen Territorialgewinn, und Tvrtko dehnte seine Herrschaft auf groBe Teile der an Bosnien grenzenden Regionen aus, einschlieBlich Stiddalmatiens (Boka Kotorska). Giinstig fiir den weiteren Machtzuwachs Tvrtkos wirkte sich der Umstand aus, dass Ludwig seit 1370 auch Konig von Polen war und die Schwerpunkte seiner Staatspolitik sich veriagerten. Hohepunkt dieser Entwicklung war 1377 Tvrtkos Kronung und die Erhebung Bosniens zum Konigreich. Aus der verwandtschaftlichen Verbindung der Kotromani6s mit den Nemanjiden leitete Tvrtko den Anspruch auf den serbischen Thron abo Seitdem der Sarajevoer Historiker Pavo Andeli6 in den sechziger Jahren seine archaologischen Entdeckungen in Zentralbosnien machte, wird der Kronungsort, den die iiltere Historiographie im serbischen Kloster Milesevo identifiziert hatte, in Frage gestellt. Tvrtkos machtpolitische Interessen richteten sich jedenfalls hauptsachlich nach Westen. Trotzdem sprang er 1389 in der Schlacht auf dem Amselfeld dem serbischen Fiirsten und alten Verbiindeten Lazar mit einem starken Heer bei. Nach dem Tod Ludwigs I. war auch im Westen eine giinstige Lage entstanden. Es kam zu Rivalitaten tiber die Thronfolge, die zu verheerenden Kiimpfen unter den Adeligen in Kroatien fiihrten, was Tvrtko geschickt ausniitzte, so dass er schlieBlich seine Herrschaft tiber groBe Teile Kroatiens und Dalmatiens ausdehnen konnte, wo sich ihm
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viele Stadte auch ohne Kamphmterstellten. Von der Verbindung mit dem Hause Bribir leitete er entsprechende Herrschaftsanspriiche ab und nannte sich nunmehr ,,Konig von Raszien, Bosnien, Dalmatien, Kroatien und dem Kiistenland". Doch Tvrtkos Einigungswerk hatte keine stabilen Institutionen der Zentralmacht geschaffen. Nach seinem Tod spielten wieder lokale Interessen der Magnatengeschlechter politisch die entscheidende Rolle und trugen zusammen mit der Unfahigkeit seiner Nachfolger zum Zerfall bei. Die politische Macht Tvrtkos stiitzte sich auf die stetige wirtschaftliche Entwicklung, durch die sich die agrarische bosnische Gesellschaft langsam wandelte. Die materielle Grundlage dafiir lag (ahnlich wie im mittelalterlichen Serbien) im reichen Vorkommen an Edelmetallen, d.h. in dem sich entwickeInden Bergbau, der Handel und Handwerk stiirkte und das Aufbliihen der Stiidte mir sich brachte. Die relativ lange und stabile Herrschaft Stjepan Kotromanics schuf die Grundlagen fiir eine Prosperitat, die sogar die Zeit der Blirgerkriege und Invasionen iiberstand. Die bosnischen Herrscher forderten die Entwicklung des Bergbaus und holten zu diesem Zweck deutsche Bergleute ins Land. Wichtig waren auch die Handelsstrategen aus den dalmatinischen Stiidten, vor allem aus Dubrovnik, und der wachsende Bedarf an Edelmetallen in Westeuropa. Nach Italien wurde Blei aus Olovo (Plumbum), Kupfer und Silber aus den Bergwerken bei Kresevo und F ojnica, Gold, Silber und Blei aus jenen bei Zvornik exportiert. Den groBten Aufschwung erlebte aber die Stadt Srebrenica, die auch ihren Namen nach dem Edelmetall Silber (srebrolargentum) bekam. Die Republik Dubrovnik hatte innerhalb Bosniens ein Monopol auf den Silberhandel und Vorrangstellung beim Export nach Ubersee. 1m 15. Jahrhundert deckten Bosnien und Serbien ein Fiinftel des europaischen Bedarfs an Silber. Allmahlich entwickelte sich auch eine schmale Schicht von heimischen Handlem und Gewerbetreibenden. AuBer Produkten aus Landwirtschaft und Jagd wurden mit der Zeit auch handwerkliche Produkte ausgefiihrt. In den ragusanischen Quellen werden ,,nach bosnischer Art" hergestellte Erzeugnisse erwahnt. Uber die Franziskaner gelangten westliche kulturelle Einfliisse nach Bosnien, etwa der gotische Baustil, der in der sakralen wie in der hOfischen Architektur zu finden ist. Keine Frage der bosnischen Geschichte ist so umstritten wie das Phanomen der Bosnischen Kirche. Die modeme Erforschung der Bosnischen Kirche begann Mitte des vorigen Jahrhunderts mit zwei konkurrierenden Werken iiber die bosnischen "Bogumilen". Der in Zadar tatige serbisch-orthodoxe Historiker Bozidar Petranovic stellte 1867 die These auf, dass die bosnische Kirche eine von der serbischen Orthodoxie abgefallene, unter sporadischen Einfliissen der bogumilischen Hiiresie stehende Kirche war. Diese Interpretation erfreut sich in Serbien bis heute groBer Beliebtheit und wurde von Teilen der national en Geschichtsschreibung als Beleg fiir die mittelalterliche serbische Prasenz in Bosnien instrumentalisiert. Den Thesen Petranovics trat der Begriinder der modemen kroatischen Historiographie Franjo Racki mit einer Studie entgegen, die zu beweisen versuchte, dass die bosnische Kirche aus der dualistischen Sekte der bulgarischen Bogumilen entstanden war (-7 Kap. 9). Diese Interpretation hatte ebenfalls starken Nachhall und ist bis heute nicht ganz aufgegeben worden. Rackis Theorie, wonach die hiiretische bosnische Kirche ein in sich geschiossenes Gebilde war, dessen Organisation ohne Einfluss der Kirchen in Kroatien und Serbien entwickelt wurde, hatte viele Anhanger, insbesondere unter den bosniakischen Gelehrten, da die Bogumilentheorie
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"eine authentische ... bosnische Kirche" (Malcolm) implizierte und sich als ErkHirung fUr die Konversion eines betrachtlichen Teils der Bevolkerung zum Islam anbot. (~Kap.
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In der kroatischen Forschung entwickelte sich nach dem 2. Weltkrieg eine Theorie (Leon Petrovic, Jaroslav Sidak), die in der bosnischen Kirche "grundsatzlich einen Zweig der romisch-katholischen Kirche" sab, der in der Isolierung schismatisch wurde und haretische Tendenzen aufuahm. Obwohl diese Forschung eine katholische Tendenz nicht verhehlen kann, bot sie Resultate, an die weitere quellenkritische Arbeit ankniipfen konnte. Hier ist vor allem der amerikanische Historiker John V. A. Fine (The Bosnian Church) zu nennen, der sich auch gegen die Bogumilentheorie wandte und die schismatischen Erscheinungen hauptsachlich mit allgemeiner Riickstiindigkeit und mangelnder Ausbildung des Klerus in dem isolierten Land begriindete, wobei er andererseits annahm, dass es parallel dazu in Bosnien auch dualistische Haretiker (Katharer) gab. (~Kap. 15, ~ Kap. 9) F esthalten kann man, dass die Berichte iiber die ,,Haresie" ausschlieBlich nichtbosnischer Herkunft sind, die Benennung der Ketzerei dem jeweiligen Herkunftskreis verbunden ist - in romisch gepragten Quellen ist von Pataranen die Rede, in denen der Ostkirche von Bogumilen oder Babunen. Es gibt kein Dokument aus dem mittelalterlichen Bosnien selbst, in dem die Bogumilen oder irgend eine Verbindung mit ihnen erwiihnt ware, viehnehr bezeichneten sich die Angehorigen der bosnischen Kirche selbst immer nur als Krstjani. Bei der Abschworung von Bilino polje kommt das Wort "Haresie" in den Quellen gar nicht vor. Es wurde vielfach beobachtet, dass die Organisation der bosnischen Kirche Parallelen zur monchischen Ordensorganisation aufweist und ihre eigenartige Hierarchie sich womoglich von dieser ableitet. In allen offentlichen Belangen wurde im mittelalterlichen Bosnien fast ausschlieBlich die Volkssprache benutzt, so auch in der Liturgie. Die Bosnische Kirche bediente sich der slawischen Sprache und der Glagoliza, spater der Bosancica, einer eigenen Variante der Kyrilliza. Die slawischen Bezeichnungen der hierarchischen Rangstufen lassen sich als Ubersetzungen lateinischer Titel verstehen, z.B.: Djed (GroBvater) Nonnus, fUr ranghohe Priore und Abte. Die gesamte Hierarchie war einheimischer Herkunft. Bei der an sich westlich gepragten Liturgie ist auBerdem der Einfluss der orthodoxen Kirche beobachtet worden. Zur Organisation, den Zeremonien und der Theologie der Bosnischen Kirche gibt es auBer dem Testament des Gost Radin - einem in Dubrovnik nach der Flucht vor den Osmanen niedergeschriebenen Dokument - keine bosnischen Quellen. Was Radin erwiihnt (Feiertage etc.), kann als typisch orthodox gelten. Die Bosnische Kirche f'iihrte in ihrer Isolation von Rom ein eigenes Leben und orientierte sich an ihrer historischen und sozialen Umgebung. Die Monche hatten in der Hierarchie des bosnischen Staates ihren festen Platz, die Kirche aber hatte als klosterliche Organisation nie viele einfache Laienmitglieder. Die intensiveren missionarischen Versuche Roms begannen parallel mit Bosniens wirtschaftlicher Entwicklung Friichte zu tragen. Die franziskanischen Monche, die Ende des 13. Jahrhunderts nach Bosnien gekommen waren, konnten zunachst vor allem in den Kolonien der Ragusaner FuB fassen und von den aufstrebenden Stiidten aus ihre
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missionarische Arbeit ausweiten, so dass sie allmiihlich die Hierarchie der Bosnischen Kirche verdrangten. Als die Tiirken die Macht in Bosnien iibernahmen, war die Bosnische Kirche schon weitgehend zerschlagen. In den ersten osmanischen Landregistern aus dem 15. md 16. Jahrhmdert werden nur wenige Krsljani angefiihrt.
4.2. Bosnien als Teil des Osmanischen Reiches
1m Sommer 1463 eroberten die Tiirken das bosnische Kernland, das fortan mter ihrer Kontrolle blieb: zunachst als ein "bosnisches Sandschak", mter einem Sandschak-Beg mit dem Sitz in Vrhbosna (Festtmg Hodidjed). Gegen den plotzlichen, schnellen Angriff Sultan Mehmeds II. (Mehmet Fatih, der Eroberer) hatte der letzte bosnische Konig Stjepan I. Tomasevic ohne ausreichende Hilfe aus dem Westen nichts aufzubieten. 1m SUdosten waren die serbischen Fiirstentiimer schon fest in tiirkischer Hand. 1m Siiden wurde 1470 das ,,Herzegowinische Sandschak" mit dem Sitz in F oca md 1483 das "Sandschak von Zvornik" errichtet. Nach der Niederlage der mgarischen Armee bei MoMcs 1526 nahm die Erobertmgswucht der Tiirken mter Silleyman dem Prachtigen auf dem Balkan zu. 1m Jahr daraufwurde als letzte bosnische Festtmg Jajce kampflos eingenommen, das im Winter 1463 yom mgarischen Konig Matthias Korvin (Corvinus) zuriickerobert md als "das bosnische Banat Jajce" zu einem relativ breiten BrUkkenkopf ausgebaut worden war. Die Tiirken eroberten danach Slawonien, die Gebiete im Westen Kroatiens (Lika md Krbava) md, nach der Festtmg Klis (1537), dem sUdlichsten Uskokenstiitzpunkt bei Split, auch Gebiete an der Kiiste. Jedes neueroberte Gebiet wurde sofort der osmanischen Verwalttmg mterstellt md schlieBlich aus 8 Sandschaks 1583 das Paschalyk Bosnien (oder das bosnische Eyalet) errichtet. Der erste bosnische Beglerbeg (Beylerbey) war Ferhad-Beg Pascha Sokolovic. 1m Norden konnte Beglerbeg Hasan-Pascha Predojevic noch 1592 die Festtmg bei der alten Freistadt Bihac einnehmen md in das bosnische Paschalyk eingliedem. Nach seiner Niederlage bei Sisak (an der Save) gab es an der Grenze zu Restkroatien keine expansiven Aktionen mehr. Eine Art Positionskrieg zwischen Osmanen- md Habsburgerreich stabilisierte sich fiir etwa ein Jahrhmdert, wiederholt von kleinen Uherfallen begleitet. Bosnien war fiir die Osmanen ein Bollwerk (serhad) an der Westflanke gegen Europa und gleichzeitig Grenzgebiet zum Dar al-Harb, dem Feindesland der Unglaubigen. Deshalb errichteten die Tiirken in Grenzgebieten (u~) in der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts ein Festtmgsnetz, das in der Defensivperiode noch ausgebaut wurde. Nach der Eroberung entstand mit den bosnischen Sipahis eine militiirische Oberschicht, deren sozial-politische Position auch mit der Iililitiirisch-politischen Institutionalisierung im Grenzgebiet zusammenhing. Es handelte sich urn Festtmgen mit territorial organisierten Hauptmannschafien, so genannte Kapetanije mit regularen Truppen, die den Hauptleuten, Sipahi, unterstanden. Die Sipahis wurden fiir ihre Dienste mit Lehen (timar) entlohnt, die bald in Privatbesitz (mulk) urngewandelt und als Antter erblich wurden. Unter den Sipahis gab es zunachst auch Christen, die von den Osmanen als irregulare Truppen rekrutiert wurdenen, aber die zweite Generation war schon iiberwiegend islamisiert. Mit Privilegien, vor allem Steuerentlasttmgen konnten die slawisierten Hirten-
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nomaden, die Wlachen (eflaki), mit ihren spezifischen Lebensgewohnheiten zu unterschiedlichen Waffendiensten (als Grenzsoldaten, Kundschafter, Milizionare usf.) gelockt werden. Aber diese Martolosen oder auch "Vojnuks" genannten in der Regel orthodoxen Wlachen, siedelten mit der Zeit, vor allem nach der Niederlage bei Sisak, auf die kroatisch-osterreichische Seite uber. In den westlichen Quellen tauchen sie unter verschiedenen Namen auf: als Uskoken (Pribjegen, UberHiufer) oder als Raszianer, Servianer bzw. Wlachen und Morlaken, d.h. Hirtennomaden. 1m Zuge der Eroberungen stiegen ihre Oberhaupter (Knezen und Wojwoden) in die osmanische Oberschicht auf Die Privilegien der von Kopfsteuer (cizye) und Knabenlese (dev~irme) befreiten Wlachen waren erheblich. Sie durften einen Teil der Kriegsbeute behalten und lebten weitgehend nach dem patriarchalischen Gewohnheitsrecht der hergebrachten KatunInstitutionjus valachicum; adet-i eflaki). Das System der osterreichischen Militargrenze, die auch ideologisch als antemurale christianitatis im heiligen Krieg galt, war in mancher Hinsicht ein Spiegel osmanischer Verhaltnisse - etwa in den institutionalisierten Privilegien der Wehrbauer (Befreiung von Lehenspflichten) und in der Zusammensetzung der Bevolkerung. Wehrbauer waren nicht nur orthodoxe, serbisierte, sondem auch katholisch-kroatische Wlachen (Bunjewzen und Schokzen), und sogar islamisierte (oder nur oberflachlich islamisierte) Wlachen. Man weiB aus epischen Volksliedem und der Korrespondenz zwischen Hauptleuten beiderseits der Grenze - dem "bosnischen Krajiste" und der ,,kroatischen Vojna Krajina" -, dass unter ihnen die gleiche Heldenverehrung und der patriarchal-ritterliche Kodex der Krieger herrschte. Die Kehrseite der schlechten Besoldung der Grenzkrieger war das Heiduckentum. Beiderseits der Grenze waren Uberflille an der Tagesordnung: Uskoken, Heiducken und "Tiirken" tOteten, pliinderten, betrieben Sklavenhandel und Piraterei und storten in Friedenszeiten den Handel zwischen dem Osmanischen Reich und Venedig. Die osmanischen Eroberungen wirbelten die ethnisch-sozialen Strukturen auf dem ganzen Balkan auf Jiih verschwanden das Bosnische Konigtum und der Adel. Das mittelalterliche Stadtewesen ging unter, und die Prosperitiit der entstehenden Mittelschicht wurde in vielen Teilen des Landes zunichte gemacht. Mit der Verwandlung Bosniens in eine osmanische Provinz setzte ein Strukturwandel der Gesellschaft ein. 1463 lieB Mehmed Stjepan Tomasevic, den letzten bosnischen Konig, der ubrigens als einziger die Krone yom Papst bekommen hatte, bei Jajce hinrichten. Die meisten Reprasentanten des hohen bosnischen Adels ereilte das gleiche Los. Pliinderungen, Versklavungen (von Kindem) und Grausamkeiten trieben die restliche BevOlkerung in die Flucht. Ganze Regionen blieben menschenleer und verOdet zuriick. Diese Eroberungspraktiken entsprachen dem Wesen der osmanischen Landnahme, deren erster Zweck die Pliinderungen waren. Der zweite waren Tributzahlungen der Unterworfenen, weshalb die Osmanen ziigig ihre Verwaltung ausbauten, urn den Zulauf von Soldaten und das Geld fiir deren Besoldung zu sichem und die Wiederbesiedlung der Gebiete einzuleiten. Dafiir war es nOtig, der ubrig gebliebenen einheimischen BevOlkerung Integrationschancen zu bieten oder Anreize fiir die Ruckkehr der Geflohenen zu schaffen. Die Neubesiedlung erfolgte - ebenso wie die Herausbildung der neuen Elite - aus dem gesamten sudslawischen Raurn.
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Der sich aus der theokratischen Herrschaftsstruktur des Reiches gleichsam automatisch ergebende Zentralismus ging mit einer peniblen Reglementierung aller relevanten wirtschaftlichen Bereiche und Vorgiinge einher, was fUr die Bevolkerung zunachst Vorteile hatte. Das galt auch fUr die Institution des Kadi (,,Richters"): Er musste iiberwachen und priifen, dass die Normen nach islamischem Recht (Scheriat) eingehalten wurden. Die Liinder bzw. die Sandschaks waren in Kadiluks eingeteilt mit je einem Kadi an der Spitze. Da das Amt richterliche und exekutive Kompetenzen vereinte, wurde es mit der Zeit zur QueUe von Korruption. Weil das System auf militlirischer Macht und Kriegsfiihrung fuBte, war die Schicht der Krieger die tragende Sliule. Die Streitkriifte bestanden aus reguliiren Truppen mit bezahlten Soldaten, Janitscharen, und Lehensreiterei (Sipahi) neben den schon erwiihnten irreguliiren Truppen. Die Janitscharen wurden als ,,Blut-Tribut" mittels Knabenlese (dev~irme) unter den Sohnen christlicher Untertanen rekrutiert, nach Istanbul gefiihrt, beschnitten und einer langjiibrigen Erziehung unterworfen. Diese Praxis, alle drei bis fiinf Jahre geeignete Jungen zwischen sieben und zwanzig Jahren auszuheben, war in Bosnien, der Westflanke des Reiches, besonders intensiv. Sie wird in der Geschichtsschreibung - je nach nationalen Priiferenzen - unterschiedlich bewertet. Als Institution ermoglichte sie einem Teil der christlichen Jugend den Aufstieg in die osmanische Elite - etwa 200.000 Menschen wurden wiihrend dieser Zeit rekrutiert -, und zwar vorwiegend solche bliuerlicher Herkunft, denn die "Sohne der christlichen privilegierten Schichten, der Wlachen, Martolosen, Bergleute, Kaufleute" etc. waren von der Aushebung ausgeschlossen. Die breite Islamisierung war also eine strukturelle Folge der theokratischen Organisation des Osmanischen Reiches, dessen Fiihrungsschichten muslimisch sein mussten, und der geopolitischen Grenzlage Bosniens (und Albaniens). Die Islamisierung bing auch mit der bereits erwalmten Institution der Kapetanije zusammen und ging mit einer ,,Bosnifizierung" der Eliten einher. Der Machtgewinn der heimischen Truppen und eine gewisse Unabbiingigkeit der Sipahis und anderer Lokalherrscher (Agas) konnte die Willkiir der von auJ3en ernannten Gouvemeure (Beglerbegs, Wesire) und Sandschak-Begs, die ihre Position oft zur Bereicherung nutzten, einigermaBen beschriinken. Die breite Islamisierung gilt als eine bosnische Besonderheit, und dieses Phiinomen wurde iihnlich wie die Bosnische Kirche bzw. die "bogumilische Hiiresie" zum Gegenstand von Legenden und Mythen. Eine "bogumilische Bereitschaft" oder "Nlihe" zum Islam sollte die Konversion erkliiren, die sich laut tiirkischer Geschichtsschreibung mit einem Male (bir ugurden) und massenhaft vollzog. Tatslichlich war die Islamisierung ein etwa 250 Jahre dauemder, ethnisch und religios ubergreifender, von den Umstiinden abhiingiger Prozess, der in verschiedenen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten ablief, je nach der regionalen Stabilitlit des osmanischen Systems. Diese ging mit der Etablierung der islamisch-orientalischen Stlidte (kasaba) einher, die im Unterschied zu den mittelalterlichen nicht von Gewerbetreibenden, Hiindlern, Handwerkern und Bfugem, sondern von Heerfiihrern und Provinzverwesem gegrtindet wurden. Eine groBe Rolle spielte die Sklaverei. Die Versklavung nicht nur feindlicher Soldaten, sondem auch der anslissigen Zivilbevolkerung war bei den Osmanen die Regel. Der Ubertritt
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zwn Islam war eine Moglichkeit, die Freilassung zu erlangen. Die konvertierten freigelassenen Sklaven (guliim) siedelten wiederwn meist in den SUidten. (1528 machten sie fast acht Prozent der Einwohner von Sarajevo aus.) Auch darin ist ein Faktor der Islamisierung zu suchen. Die osmanisch-islamische Urbanisierung und die Uberlagerung des vorosmanischen Stadtcharakters spielten ihrerseits eine groBe Rolle beim Strukturwandel der Gesellschaft. Die osmanischen Stadte auf dem Balkan waren planmii/3ige Griindungen, urspriinglich militarische Stiitzpunkte fUr weitere Expansionen. So wurde 1395 Skopje (Uskiip, lat. Scupi) gegriindet und weiter von Ishakovic-Beg aufgebaut. In den Kasaben lieBen die Sultane zuerst stets die Sultan-Moscheen errichten. Sarajevo ist ein typisches Beispiel. Die Stadt entstand als eine Garnisonsstadt in der Nahe des mittelalterlichen Marktfleckens Vrhbosna (bzw. Utorkoviste), noch bevor das bosnische Konigreich besiegt war. Gazi Isa-Beg Ishakovic errichtete 1457 als Provinzverweser auf dem Stidufer der Miljacka eine Sultan-Moschee, nebenan ein Hamam (tiirkisches Bad) und die Brucke. Danach lieB er das Gasthaus (han) auf dem anderen Ufer bauen, eine Loge der Derwische, neun Wassermiihlen und den Gouvemeurspalast, Serai, nach dem die Stadt benannt wurde (Seray-ovasi). Das Wirtschaftsleben war eng mit dem militiirischen verkntipft. Zusammen mit der neuen geopolitischen Orientierung Bosniens fiUrrte das zur Stagnation frUherer urbaner Zentren. Sarajevo bliihte nach der Eroberung Bosniens 1463 auf, als es zwn Regierungssitz des Sandschaks Bosnien gemacht wurde, besonders unter Gazi Husrev Beg (15211541). Die Osmanen befanden sich unter Silleyman dem Prachtigen auf dem Hohepunkt ihrer Macht und eroberten weitere Gebiete im Westen (Mohacs 1526; Belagerung Wiens 1529). Aus dem Nord-Westen fillrrten die Wege ebenso tiber Sarajevo weiter nach Sliden (Saloniki oder Adria) wie aus dem Nord-Osten, wo Belgrad eine osmanisch-islamische GroBstadt und wichtiger Handelsknotenpunkt war. Wahrend dieses "goldenen Zeitalters" wurde die schOne Moschee des Beg (Begova dzamija) gebaut, die Medresse, eine Bibliothek, ein Hamam und der Tuchmarkt (Bezistan). Wichtig waren die so genannten Vakufs (vakij), fromme woWtatige Stiftungen in Form von Immobilienschenkungen, mit denen die reichen Sandschakbegs und die neue militiirische Aristokratie offentliche Gebiiude errichten lieBen und fUr ihren Unterhalt sorgten. Der reichste, Gazi-Husrev-Begs Vakuf, bestand bis ins 20. Jahrhundert. Vakufs trugen zur Verflechtung der stadtischen Institutionen mit denen des Islams beL 1m 16. Jahrhundert war die Einwohnerschaft fast ausscWieBlich muslimisch; von 93 Mahalas (Stadtbezirken) waren nur 2 von Christen bewohnt. Zwischen dieser Zeit der erfolgreichen Eroberungen in Slawonien, Kroatien und Dalmatien (1503 Makarska, 1527 Pozega, Cazma, Pakrac, 1537 Klis, 1592 Bihac) und der Eroberung und ZerstOrung Sarajevos durch Eugen von Savoyen 1697 war die Stadt am Fluss Miljacka eine der groBten und schOnsten auf dem Balkan und galt als GroBstadt. Da das osmanische Reich von Bosnien (und Albanien) aus permanent Kriege fillrrte, war die Kriegsbeute Teil seiner Wirtschaftsstruktur, in der Form des Sklavenhandel etwa; so war Sarajevo fUr zwei Jahrhunderte ein Sklavenhandelszentrum gewesen. Sarajevos Reichtum auBerte sich nicht nur in der Kultur, in Bauwerken oder im regen Handlertreiben in der Carsija, (far# Stadtzentrum), sondem er fillrrte auch zum Machtzuwachs der stadtischen Eliten. Mit
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dem ZusammenschluB von Janitscharen und den Gilden der Handler und Handwerker (esnaf) verschaffte sich Sarajevo als administratives Zentrum eine gewisse Unabhi!ngigkeit von den Provinzverwesem. Auch Banja Luka und Mostar sind im Kontext der osmanisch-islamischen Urbanisierung entstanden. Banja Luka war die zweitstiirkste Festung in der Banovina von Jajce, der letzten bosnischen Verteidigungsstellung. Als die strategisch auBerst wichtige Stadt am Fluss Vrbas (schon zu Romerzeiten verlief dort der Weg von Salona/Split nach Pannonien und gab es ein Castrum) 1528 erobert wurde, baute man sie zum osmanischen Briickenkopf und administrativen Zentrum aus. Der Verweser des Bosnischen Sandschaks Mehmed Sofi-Pascha begann den Aufbau der Stadt im Donji Seher (neben der Altstadt), nachdem 1553 die Verwaltung von Sarajevo hierher verlegt worden war. Ferhad-Beg Sokolovic, ein Nachkomme des beriihmten Mehmed-Pascha Sokolovic, eroberte 1537 von da aus die Festung Klis. 1574 wurde der Sandschakbeg des KlisSandschaks zum bosnischen Sandschakbeg und 1580 zum Beglerbeg des neuerrichteten bosnischen Eyalets, das bis 1639 seinen Sitz in Banja Luka hatte. Ferhad-Beg lieB fiber 200 offentliche Gebiiude errichten, darunter die beriihmte Ferhad-Moschee, die 1993 von den Serben dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auch in Mostar spiegelt sich die Geschichte der osmanischen Epoche wider. Das Neretvatal erlebte im Mittelalter keine so intensive Urbanisierung wie die BergbauGegend in Zentralbosnien, war aber seit Urzeiten besiedelt. Schon in der Antike lebten griechische Handler im Delta, und zur romischen Zeit war die Stadt Narona (Capljina) wichtiges Wirtschaftszentrum, bis sie nach dem Eindringen der slawischen Stamme vollkommen zerstOrt wurde. 1m friihen Mittelalter brachte die Piraterie der slawischen Narentaner (Neretljani) die Gegend in Verruf. Ais sich die slawischen Territorialstaaten herausbildeten und Venedig seine Vorherrschaft an der Adria sichem konnte, entstanden an der Neretva, der natiirlichen Verkehrsverbindung zwischen der Kiiste und dem Binnenland, Marktflecken. Der wichtigste war Drijeva (forum Narente) an der Neretvamiindung. In den Jahrzehnten vor der osmanischen Eroberung war das Geschlecht der Kosaca erstarkt. In den Fehden nach dem Tod Konig Tvrtkos I. kam es zu wechselnden Biindnissen zwischen den bosnischen GroBfUrsten bzw. dem Konig und den Osmanen. Spatestens 1428 war Konig Tvrtko II. den Osmanen trlbutpflichtig. FUrst Stjepan Vukcic Kosaca dehnte seine ursprunglichen Besitzungen urn GoraZde (an der oberen Drina) aus aufHurn, auf die Gebiete beiderseits der Drina (Foca und Trebinje), auf die siiddalmatinische Kiiste und das Hinterland bis Imotski und wurde so zum Landesherren fiber Sfidbosnien. Er erwarb den Titel eines Herzogs, doch konnten er und seine Sohne den Osmanen nicht lange widerstehen, die das Zusammenspiel der auBeren und inneren Bedrohungen fUr sich zu entscheiden wussten und nach und nach die Lander des Herzogs eroberten. Aus der Benennung dieser Besitzungen - Vildyet-i Hersek - entstand der Name der Region Herzegowina. Durch die Ausdehnung des Reiches auf ehemals serbische Territorien (auf den Besitzungen des Herzogs lag z.B. das Kloster Mileseva mit dem Grab des HI. Sava), unter der Jurisdiktion der Serbischen Orthodoxen Kirche, fanden die Orthodoxen zum ersten Mal in nennenswertem Umfang Eingang in die bosnische Geschichte. An Kosacas Hof
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verkehrten der serbisch-orthodoxe Metropolit von Milesevo, David, Wld das Oberbaupt der bosnischen Kirche, Gost Radin (Butkovic), der sich auf diesem Wege der BekebrWlg durch die Franziskaner entzog: Nachdem Mehmed II. das bosnische Konigsreich Wld Teile der Lander des Herzogs erobert batte, hielt sich Kosaca nur noch kurze Zeit im SOOen in Herceg Novi (Castell novo). Wllhrend in Foca 1470 der osmanische Sandschak schon errichtet war, hielten sich mit Wlgarischer Unterstiitzung die letzten WiderstandspW1kte Herceg Novi (bis 1480/81) Wld die NeretvamiindWlg (Kos, bei Opuzen) bis 1490. Stjepan, der Sohn des Herzogs, konvertierte zum Islam Wld wurde Wlter dem Namen Hersek-zade Ahmed Pascba zum beriihmten Feldherrn des Sultans mit hOchsten Amtem im Reich. Mostar war eine FestWlg Wld ein Marktflecken mit einem franziskanischen Kloster Wld einer Kirche. Ein Bericht von 1452 erw3.hnt auch die hOlzerne Briicke iiber die Neretva. Aber verkehrsstrategische BedeutWlg erlangte Mostar erst durch die Osmanen Wld entwickelte sich zum relativ starken Handelszentrum, das bald einen priviIegierten Wld unabhangigen Status gegeniiber den Wesiren anstrebte. Ein Zeugnis seines Reichtums ist die yom beriihmten tiirkischen Architekten Hairuddin entworfene Alte Briicke von Mostar, die nach neWl Jahren Bauzeit 1566 fertig gestellt wurde Wld wie ein "steinemer Halbmond" die beiden Ufer der Neretva verband. Schon der tiirkische Reisebericht Evliya velebis (17. Jh.) riihmte ihre Eleganz Wld verglich sie mit dem Regenbogen. Als Symbol der islamisch gepragten Stadt iiberlebte sie bis zum Krieg 1993, als sie - wie auch das alte, orientalisch gepragte Stadtzentrum - von kroatischen Granaten aus Westmostar zerschossen wurde. (7 Kap. 22) Auch in der Herzegowina rekrutierte sich eine osmanisch-bosnische Aristokratie aus der heimischen BevolkerWlg, in der es viele slawisierten Wlachen gab. Die tiirkischen Steuerverzeichnisse (zwischen 1468/69 Wld 1477) belegen einen Zuwachs von Wlachen in der Herzegowina. Diese waren allerdings schon seit dem Mittelalter als Warentransporteure bekannt, die mit ihren Saumtieren die schwierigen Bergpfade meisterten. In dieser Region gab es auch die meisten christlichen Sipahis. UrbanisierWlg Wld IslamiSierWlg brachten eine heimische muslimische Handlerschicht hervor, Wld gleicbzeitig erstarkte gerade in Herzegowina das (serbisch)-orthodoxe Element. Die ,,Bosnifizierung" war in der Herzegowina besonders deutlich. Der erste Schritt war meist eine Folge der Tatsache, dass die osmanischen Nichtbosniaken von dem besonderen Privileg der UmwandlWlg von Lehen in Privatbesitz ausgeschlossen waren. Spater kam eine AnordnWlg hinzu, die freie Lehen nur Anwiirtem aus dem Sandschak Bosnien zugestand. Dadurch war auch die UmwandlWlg der Lehen in Familienerbe moglich geworden. So konstituierte sich eine bosniakisch-muslimische Klasse, die sich einerseits im Kampf gegen die christlichen Nachbam formierte Wld andererseits immer mehr politische Unabhangigkeit von der Pforte anstrebte.
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4.3. Die osterreichisch-tiirkischen Kriege und der Zerfall des Osmanischen Reiches
Als dem strukturellen Niedergang des Osmanischen Reiches Gebietsverluste folgten und die "Flut" der Sipahis, Janitscharen und Beamten aus Ungaro, Slawonien, Kroatien und Dalmatien nach Bosnien und in die Herzegowina ddiogte, verschlirften sich die inneren Spannungen in der bosnischen Gesellschaft. Auch die Eroberung und Zerstorung Sarajevos 1697 durch Prinz Eugen wirkte sich nachhaltig aus. Die Stadt war griindlich gepliindert und niedergebrannt worden. Darauthin wurde der Sitz des Wesirs nach Travnik verlegt, das fUr 150 Jahre zum administrativen Zentrum des bosnischen Paschalyks wurde. Mit der Zeit erholte sich Sarajevo als Handels- und Wirtschaftszentrum und konnte nach dem Frieden von Passarowitz (1718) von den im osterreichischen Kaiserreich eroffneten Handelsmarkten profitieren. Nach dem Frieden von Karlowitz (1699) wurde in Bosnien das System der Kapetanije im Landesinneren ausgebaut, so dass es Ende des 18. Jahrhunderts 39 Kapetane gab - mehr als doppelt so viele wie ein Jahrhundert davor. Die Position des Kapetans wurde mit Familienmitgliedern der Sipahis besetzt und bald erblich. Parallel dazu festigte sich die Institution des Ajanluks, als Instrument der lokalen Herrschaft in einer Verwaltungseinheit (Kadiluk). Die Ajane, urspriioglich gewBhlte Vertreter der Stadt, waren verantwortlich fUr Recht und Gesetz, und hatten durch ihre Macht auch die Moglichkeit zur personlichen Bereicherung. Irgendwann waren diese Amter fast ausschlieBlich mit Vertretem der bosniakischen Aristokratie besetzt. In Gebieten, wo es Kapetanije gab, wurde dieses Amt von Kapetanen ausgeiibt, so dass die Amter der zivilen Gewalt mit jenen der milit1i.rischen Funktion in einer Person vereint wurden. Um diese privilegierten Positionen aufrechtzuerhalten, widersetzte sich die bosniakische Aristokratie den Reformen (Tanzimat), mit denen die Pforte das Milit1i.rwesen, die Verwaltung und veraltete Herrschaftsformen modernisieren und dem westeuropilischen System angleichen wollte. 1m Friihjahr 1831 taten sich die bosnischen Ajane und Begs zusammen, setzten den offiziellen Gouverneur ab und beschlossen, die Armeen des Sultans zu bekampfen, urn die Reformen zu verhindem. An die Spitze wurde Husein-Kapetan Gradascevic gewBhlt, dessen Kapetanija (Gradacac in der Posavina/SaveTal) damals die groBte und reichste in Bosnien war. Er fiihrte eine starke bosnische Streitmacht nach Kosovo, wo GroBwesir Mustafa Reschid Pascha gerade gegen die groBe Rebellion des Mustafa Bushati im Feld stand. Es gelang Husein-Kapetan, den GroBwesir zu schlagen, in den Verhandlungen aber zeigte er sich nachgiebig und zog sich gegen die Zusage, dass die bosnischen Forderungen erfiillt wOrden, nach Bosnien zuriick. Bine dieser Forderungen bezog sich auf die Auswahl der bosnischen Wesire aus den Reihen der bosnischen Begs. Der erste sollte der Kapetan aus Gradacac sein, was Bosnien faktisch eine gewisse Autonomie gebracht hatte, nicht uniihnlich jener, die Serbien durch das Reichsgesetz von 1839 (Hatt-i ~erifvon Giilhane) bekommen hatte, als der Sultan (unter dem Druck Russlands) Milos Obrenovic als FUrst anerkannteo (~ Kap. 6) Sultan Mahmut II. erkannte jedoch keine dieser Forderungen an. Bei der Bekampfung Husein-Kapetans bediente sich die Pforte rivalisierender herzegowinischer Ajane und Begs. Mit Hilfe von Ali-Aga Rizvanbegovic und Smail-Aga Cengic
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schlug der GroBwesir die Rebellion Husein-Kapetans nieder. Rizvanbegovic wurde fUr seine Dienste mit der Ausgliedenmg der Herzegowina aus dem Eyalet Bosnien belohnt. Rizvanbegovic war natiirlich auch ein Gegner der Reformen und herrschte selbstherrlich in der Herzegowina. Diese Periode der Reformen von oben und der Widerstiinde der Lokalherrscher ist nicht einfach zu bewerten. Die Pforte richtete sich gegen rebellische und eigenmiichtige Provinzstatthalter, die in vielen Gebieten, gestiitzt auf ihre Streitkriifte, eigenstiindige Herrschaftsbereiche errichteten. Die Herrschaft der lokalen Machthaber bedeutete meist Willkiir, Korruption und Ausbeutung der Bewohner. In mancher Hinsicht bekamen einige der rebellierenden Lokalherrscher trotzdem die Unterstiitzung der BevOlkenmg. Die Prinzipien des Tanzimat, wie sie im Reichsgesetz von Giilhane niedergelegt sind, orientierten sich an westlichen Vorbildem. Den Untertanen des Sultans wurde ohne Riicksicht auf ihre religiose Zugehorigkeit die Sicherheit von Leben, Ehre und Eigentum garantiert; die Teilung der Gesellschaft in Soldaten und Raja sollte aufgehoben werden. Die umfassenden Reformvorhaben sollten eine neue finanzielle, administrative und rechtliche Gnmdlage schaffen und das zersplitterte Militiirwesen des Reiches in eine modeme Armee umstrukturieren. Die Rebellionen der Lokalherrscher und Widersacher der zentralen Gewalt wurden mit iiuBerster Brutalitiit niedergekampft. Schon 1826 wurde das Janitscharenkorps, das mit der Zeit zu einer korrupten Soldateska verkommen war, in einem regelrechten Massaker aufgerieben. Diese Zeit der Widerstiinde und lokalen ,,Biirgerkriege" hatte in Bosnien eine weitere Verschlimmenmg der allgemeinen wirtschaftlichen Lage zur Folge. Erst 1851 gelang es dem bosnischen Gouverneur Omer-Pascha Latas, die restlichen Ajane einschlieBlich des beruchtigten Ali-Pascha Rizvanbegovic auszuheben und dessen Paschalyk Herzegowina abzuschaffen. Omer-Pascha versuchte die Reformen durch eine administrative Neuaufteilung des Landes voranzubringen, doch wurden viele Ansiitze im entfemten Bosnien auflokaler Ebene ignoriert. Als die Christen Bosniens 1851 eine Petition an den Sultan schickten, forderten sie darin Rechte, die ihnen nach dem Giilhane-Erlass ohnehin zustanden: Gleichheit mit den Tiirken vor dem Gericht, gleiche Anzahl christlicher und muslimischer Richter und Beseitigung der Kopfsteuer. Die Reformen waren gescheitert, weil sie nicht bei den gegebenen Verhiiltnissen angesetzt hatten. Durch die Umwandlung von Lehen in Privatbesitz war eine uniibersichtliche Lage entstanden. Da die Bauem durch eine festgelegte Gebiihr fUr das von ihnen bebaute Land ursprunglich Schutz genossen und ein Anrecht auf ihr Ciftluk (9iftlik) besaBen, gerieten sie in mehrfache Abhiingigkeit, vor allem von den Ciftluk-sahibis (sahibi, Besitzer), der mittleren Schicht der Landbesitzer, die ein Ciftluk erwerben konnten und es den Bauem gegen Pacht iiberlieBen. Das neue System der einheitlichen Eigentumssteuer konnte damit den Bauem keine Erleichtenmg bringen. Wichtigste Errungenschaften waren die Authebung der diskriminierenden MaBnahmen gegeniiber nicht-islamischen Glaubensgemeinschaften. Neue Kirchen wurden errichtet, womit sich zum ersten Mal die Bedingungen fUr die Entfaltung der christlichen Glaubensgemeinschaften und ihrer Kulturen merklich verbesserten. Mehrere konfessionelle, aber auch weltliche Schulen wurden gegriindet.
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Das Osmanische Reich war - wie alle Reiche - ein multiethnisches Gebilde. Zwar ein theokratisch organisiertes islamisches System, duldete es im Unterschied zu den christlichen Imperien andere Religionen. Sein Aufuag als Dar ai-Islam (Welt des Islam) bestand darin, die nicht-islamische Welt, Dar al-Harb (,,Kriegsgebiet", urspriinglich die polytheistische Umgebung der friihen Muslime), zu bekiimpfen und zu erobem. Von den iilteren islamischen Staaten iibemahmen die Osmanen die Regelung, nach der den Juden und Christen als Anbiingem der mit dem Islam verwandten OfIenbarungsreligionen Gnade (aman) gewiibrt wurde und sie als "Schiitzlinge" im islamischen Staat leben konnten. Als solche waren die Katholiken, Orthodoxen und Juden (die AngehOrigen der Millets) toleriert und geschiitzt, mussten sich aber an diskriminierende Anordnungen halten. Das Gesellschaftssystem des Osmanischen Reiches war somit eines der gleichzeitigen Diskriminierung und Tolerierung. Die konkrete Position der jeweiligen Kirchen wurde nach dem Status, den diese in vorosmanischer Zeit besaBen, geregelt - bzw. je nachdem, was der Sultan als solche Rechte "von alters her" anerkannte. Die Orthodoxe Kirche hatte in vielerlei Hinsicht einen besseren Status als die katholische, deren Sitz sichja in Rom, aul3erhalb des osmanischen Reiches, d.h. in der nichtislamischen Welt befand. Eine Rolle spielte dabei auch die Tatsache, dass die irregularen Truppen der orthodoxen Wlachen bzw. Serben einen wesentlichen Beitrag bei den osmanischen Eroberungen und Kriegen leisteten. Diesen Spielraum konnte der beriihmte Mehmed Pascha-Sokolovie (Sokollu) nutzen und beim Sultan 1557 die Emeuerung des Patriarchats von Pee (Ipek) erreichen. Sein Bruder Makarije Sokolovie wurde der erste ,,Erzbischof und Patriarch" des emeuerten Patriarchats, dessen Jurisdiktion (in Titulaturen) sich iiber die urspriinglich serbisch-orthodoxen Gebiete erstreckte. Die Widersacher des serbischen orthodoxen Klerus waren meist die griechischen Geistlichen, die im okumenischen Patriarchat in Konstantinopel/lstanbul fiihrende Positionen innehatten und die orthodoxen BischOfe (meist griechische Fanarioten) auf dem Osmanischen Gebiet emannten. Die serbische Orthodoxe Kirche sicherte sich neben zahlreichen Privilegien groBe L1lndereien und gehOrte zu den groBten GroBgrundbesitzem in den balkanischen Provinzen. FUr die Prasenz der serbischen Orthodoxen Kirche in den eigentlichen historischen L1lndem des mittelalterlichen Bosnien gibt es in den Quellen keine Belege (wenn man von der Ostherzegowina absieht). In Sarajevo wird Anfang des 16. Jahrhunderts ein orthodoxer Priester rum ersten Mal urkundlich erwahnt sowie eine Siedlung (Gomja Yaros), wo zwischen 1520 und 1539 eine serbisch-orthodoxe Kirche erbaut wurde. In Mostar entwickelte sich mit der Zeit eine orthodoxe Gemeinde; da die serbischen Kirchen keine Griindungsurkunden fiihrten, schlieBt man aus anderen Dokumenten, dass die erste Kirche in Mostar an der Wende vom 17. rum 18. Jahrhundert - wahrscheinlich durch die Monche des nahe gelegenen Klosters Zitomisliei - gegriindet wurde. Mitte des 16. Jahrhunderts betrieben die orthodoxen Monche eine Druckerei in der Kirche von GoraZde (von Stjepan Kosaca 1446 als Kirche des HI. Georg gegriindet) und spater im Kloster von Milesevo. Trotzdem war die Schriftkultur und Bildung in den orthodoxen Sprengeln von Stagnation und Niedergang gekennzeichnet. Zur Zeit des tiirkischen Vordringens und der sukzessiven Eroberung Bosniens war der franziskanische Orden in der bosnischen Vikarie schon etabliert. Einige Kloster
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wurden nach der Eroberung verlassen, in einigen aber blieben die Fratres und lieBen sich den Schutz des Sultans vertraglich sichem. So erteilte Sultan Mehmed II. den Franziskanem nach der Eroberung von Srebrenica 1462 Privilegien zur ungestOrten Ausiibung ihrer Ordenstiitigkeit. Ein Jahr spater erteilte er einen so1chen Schutzbrief den Franziskanem der Kustodie Bosna, das beriihmte ahd-name von Fojnica, (wo es aufbewahrt wurde). Dieses Privilegiendokument, mit dem Mehmed II. den Franziskanem Sicherheit des Lebens und Wirkens garantierte, bezog sich nicht nur auf ein einziges Kloster und wurde deshalb als ein zentrales Dokument fUr den Orden und die katholische Glaubensgemeinschaft insgesamt gesehen. Die gewlihrten Privilegien verdanken sich zum groBen Teil dem Verhandlungsgeschick des Kustos Angelus Zvizdovic, der realistisch eingeschlitzt hatte, dass die osmanische Prasenz von Dauer sein wiirde. Eine einheitliche politische Linie fUr die Haltung des Ordens gegeniiber den Eroberem hatte es aber nicht gegeben. In der Kustodie Jajce riefen die Fratres zum Widerstand aufund beteiligten sich am Kampf gegen die Osmanen. Viele Kloster wurden verlassen bzw. siedelten in die freien Gebiete urn. Die Franziskaner lieBen sich die erteilten Privilegien immer wieder von den Wesiren emeuem. Mit der Zeit aber waren die Kloster durch die Erteilungspraxis von Genehmigungen und Privilegien immer groBeren finanziellen Belastungen ausgesetzt, so dass viele hochverschuldet aufgegeben werden mussten. Die Franziskaner waren dank ihrer Verbindung zur bosnischen Mittelschicht in den Bergwerkstadten und Handelszentren sicher, solange sich diese urbanen Zentren - wie Srebrenica - hielten. Als die Osmanenjene Bergwerk-Regionen und ihre Stadte im 17. Jahrhundert vemachiassigten, erlebte der Katholizismus - verbunden auch mit dem Niedergang der Republik Dubrovnik - einen urnfassenden demographischen, urbanen und sozialen Niedergang, dessen Tiefpunkt im Tiirkenkrieg 1683-1699 erreicht wurde. Von ca. 30 franziskanischen Klostem im Mittelalter blieben im 18. Jh. nur drei erhalten. Die osmanische Konfessionspolitik erwies sich fUr die in Europa verfolgten Juden als vorteilhaft. Die aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden (Sephardim) bekamen weit reichende Handelsprivilegien und Konzessionen, und so siedelten sich zah1reiche jiidische Handler und Gewerbetreibende in den Balkanstadten an. In Istanbul gab es eine jiidische Gemeinde von 1.500 jiidischen Haushalten, deren Oberrabiner bei der Pforte einen gewissen Einfluss hatte. Saloniki wurde durch die jiidischen Textilunternehmer zum bedeutendsten Warenurnschiagsplatz im ostlichen Mittelmeer. Uber Saloniki kamen in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts zunachst etwa 30 jiidische Familien (aus Portugal) nach Sarajevo. 1565 wurde die sephardische jiidische Gemeinde gegriindet. Wie andere Nicht-Muslime mussten die Juden besondere Steuerabgaben leisten, sich erkennbar anders kleiden, durften weder Waffen tragen noch reiten. Die einschrankenden Bestimmungen iiber GroBe und Renovierungsmoglichkeiten fUr Gotteshliuser wurden ebenso wie auf die Kirchen der Christen auch auf Synagogen angewandt. Nur fUr eine kurze Peri ode mussten die Juden in Sarajevo in einem isolierten Stadtteil siedeln (Velika avlija, auch civutana), und auch da durften sie sich frei bewegen, weshalb von einem Getto zu keiner Zeit gesprochen werden kann. Die Verlagerung der Handels- und Kapitalwege yom Mittelmeer in atlantische Handelszentren und
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die Erstarkung heimischer Schichten im Handelsgewerbe veranlassten immer mehr Juden, vom Balkan in den Westen zu ziehen. Die ersten Aschkenasim kamen nach Bosnien, als die Tiirken aus Ungarn (Budim) verdrangt waren. Massiv kamen sie dann aber erst nach der Okkupation Bosniens durch Osterreich-Ungarn und spielten eine herausragende Rolle bei der Industrialisierung des Landes. Die Sephardim schatzte man als gute Handler und Handwerker, die Aschkenasim wegen hoher Bildung und Expertenwissen. 1940 gab es 20 jiidische Gemeinden und etwa 14.000 Mitglieder. Nur 4000 von ihnen iiberlebten die Verfolgung im Zweiten Weltkrieg. 4.4. Das Ende der osmanischen Herrschaft und die Okkupation durch Osterreich-Ungarn
Nach dem Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts machten sich in Bosnien einige Modernisierungsansatze bemerkbar. Eine neue administrative Einteilung des Landes wurde eingefiihrt, urn die Willkiir in der Kadiluk-Ordnung zu unterbinden. Die zaghaften Reformen wirkten sich in den urbanen Zentren aus. Die Verbindungen wurden noch immer mit Pferden und Maultieren aufrecht erhalten, weil es so gut wie keine Strassen gab. Die erste Eisenbahnverbindung wurde in Banja Luka (1872) gebaut, wo die Trapisten die ersten kleinen Industrieanlagen errichteten. Sie fiihrte nur bis zur kroatischen Grenze. In Sarajevo entstand das erste Krankenhaus, und man baute eine Strafie nach Bosanski Brod. Es enstanden Zeitungen, gleichzeitig aber batte Sarajevo mit etwa 50.000 Einwohner Mitte der siebziger Jahre keine einzige Buchhandlung. Bosnien blieb ein Agrarland mit komplizierten Agrarverhiiltnissen, die jeglicher Modernisierung trotzten. Die bosnischen islamischen Geistlichen (Ulema) widersetzten sich den Reformen ebenso wie die auf ihren Pfriinden sitzenden GroBgrundbesitzer; aber auch die einfachen Muslime sahen in der Gleichsetzung der Untertanen eine Beschneidung ihrer Prlvilegien und versuchten oft die Errichtung von Kirchen zu verhindem. Gleichzeitig erstarkten in der kroatisch-katholischen und der serbisch-orthodoxen Bevolkerung die nationalen Integrationsprozesse unter dem Einfluss der nationalen Bewegungen der Konnationalen auBerhalb des Landes. Die Benachteiligung der christlichen Bauernbevolkerung gegeniiber den muslimischen GroBgrundbesitzern (Agas und Begs) war trotz der halbherzigen Reformen unertriiglich, und die Willkiir der Lokalherrscher steigerte sie noch. Es kam zu Bauernaufstanden, von denen der serbische in der Herzegowina 1875 durch seine Heftigkeit und die Brutalitiit, mit der er niedergeschlagen wurde, Aufsehen erregte,ja so groBe Publizitiit in der westlichen Offentlichkeit hatte, dass er die Losung der "Orientalischen Krise" beim Berliner Kongress mit veranlasste. Die Diplomatie Osterreich-Ungarns betonte, die Zentrale in Istanbul sei nicht imstande, fur Recht und Ordnung und fur die Durchfiihrung von Reformen in Bosnien-Herzegowina zu sorgen, so dass die Stabilitiit in Europa auf dem Spiel stehe. Unterstiitzt von Deutschland und England, wurde die osterreich-ungarische Monarchie beim Berliner Kongress 1878 von den europiiischen Signatarstaaten ermiichtigt, Bosnien-Herzegowina zu besetzen und zu verwalten, obwohl das Land nominell (bis zur Annexion 1908) unter der Oberhoheit des Sultans blieb.
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Die kaiserlichen Streitkrafte (im Grunde mehrheitlich kroatische und serbische Offiziere und Soldaten aus den Garnisonen der Militiirgrenze) brauchten drei Monate, urn den spontanen und hartnackigen Widerstand der bosniakisch-muslimischen Einheiten und der muslimischen sowie teilweise serbisch-orthodoxen Bevolkerung zu brechen. Weil die politische Spitze der Doppelmonarchie sich falsche Vorstellungen gemacht hatte (als stiinde ein Einmarsch ,,mit Militiirmusikkapelle" bevor, wie AuI3enminister Gyula Andrassy meinte), mussten erhebliche Verluste hingenommen und ein viel groBeres militiirisches Potential eingesetzt werden als urspriinglich geplant. Von vergleichbarer Qualitiit war die gesamte politische und kulturpolitische Strategie im besetzten Land, obwohl der Gemeinsame Finanzminister Benjamin Kallay, der fiir die Verwaltung Bosniens zustiindig war, als Balkankenner galt. Die Angliederung der neuen Provinz an die Doppelmonarchie geschah auch im Zeichen der aul3en- und innenpolitischen Problemlage in der Doppelmonarchie selbst. AuI3enpolitisch galt es, Russlands Einfluss auf dem Balkan einzudfunmen und die Entstehung eines siidslawischen Staates zu verhindem. Die dualistischen, nach dem Ausgleich 1861 bzw. 1867 geschafIenen Strukturen hatten zu inneren Spannungen und schlieBlich zur Krise des Dualismus gefiihrt. Ungarn verfolgte eigene Nationalinteressen (vor allem in wirtschaftlichen Belangen), die mit der repressiven Politik in Kroatien korrespondierten. Kurz: die Politik der Besatzer ist nie von den Belangen, Bediirfnissen, realen Noten und Problemen des Landes selbst ausgegangen. (-7 Kap. 3) So blieb auch die feierliche Proklamation des Hofes iiber die Respektierung der "Gesetze", "Gebrauche", ,,Einrichtungen" und "Sitten" des Landes und die Zusicherung der vollen ,,Freiheit der Mohammedaner in ihrem Verkehr mit ihren geistlichen Hauptem" nur eine fromme Erkliirung. Um das Vertrauen der bosnischen Eliten zu gewinnen, traf die neue Verwaltung allerdings eine Reihe von MaBnahmen zur Wahrung einer gewissen Kontinuitat, was zur F olge hatte, dass "der bosnische Islam in der postosmanischen Epoche politisch und kulturell unvergleichlich besser dastand, als der Islam in irgendeinem anderen Balkangebiet." (Dzaja). Die Annexion von 1908 war der abschlieBende Schritt einer politischen Strategie zur Einbindung Bosniens und der Herzegowina in die Doppelmonarchie, die mit der (vertragswidrigen) Eingliederung in die gemeinsame Zollunion und der AbschafIung des tiirkischen Geldes bzw. Einfiihrung der neuen Wiihrung begonnen hatte. Der folgende Schritt war die Einfiihrung des Wehrdienstes im November 1881, was einen Aufstand der muslimischen und serbisch-orthodoxen Bevolkerung in der Ostherzegowina auslOste. Die Regierung iibemahm zwar die alte territoriale Verwaltungsordnung, verwandelte nur die bestehenden Sandschaks in Kreise und die Kadiluks in Bezirke, doch wurde die Verwaltung substantiell anders organisiert. Fiir Zivilprozesse zwischen Muslimen blieben die Scheriat-Gerichte in Kraft. Die neue Landesverwaltung nahm die fallige Reformierung der muslimischen religiosen Stiftungen (vakifs) in AngrifI, deren zerriittete Finanzen saniert werden mussten. Durch die Modernisierung der Vakufsverwaltung konnte auch politische Kontrolle ausgeiibt werden. Die neuen Machthaber brachten kaurn die notigen Voraussetzungen mit, urn das AusmaB der Schwierigkeiten zu begreifen, auf das sie in dem riickstiindigen Land stieBen. Nicht nur war das Land, in dem iiber 88 Prozent der Bevolkerung von der Landwirt-
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schaft lebte, technisch und wirtschaftlich riickstiindiger aIs die iirmsten Gegenden der Monarchie (DaImatien), sondern aIle soziaIen Missstande waren zudem mit den konfessionellen Unterschieden verknupft, und diese wiederum spielten auch bei der Elite eine groBe Rolle. Die MaBnahmen des Okkupationsregimes waren in (1) gesellschaftsund wirtschaftspolitischer Hinsicht fUr die Entwicklung des Landes wenig hilfreich, fUr die (2) technisch-industrieUe Entwicklung hingegen brachten sie einen schnellen und enormen Fortschritt und waren (3) in der Bildungspolitik und im wissenschaftlichkulturellen Bereich trotz Scbattenseiten von groBer Bedeutung. (4) Die Religionspolitik aber, obwohl die toleranteste, die es in Bosnien-Herzegowina je gegeben batte, war doch stark vom christlichen Weltbild bestimmt. (1) Als folgenreichste Entscheidung erwies sich, dass man die unurngiingliche Bodenreform auf die lange Bank schob. Das Regime ging dieser heiklen Frage aus dem Wege, urn keine sozialen Unruhen auszulosen. Man ubernahm unter kleinen Korrekturen der Abgabenormen die reformierte Ciflik-Ordnung (nach der letzten Osmanischen Reform 1859) und bestiitigte die von der Pforte eingefiihrte Regelung von 1876, wonach sich die abhangigen Bauern (Kmeten, Pachter) freikaufen konnten. 1911 wurdenach der Konstituierung des bosnischen Landtags (1909) - ein Gesetz uber die fakultative Kmetenablosung verabschiedet. Doch obwohl es dafiir Kredite von der Regierung gab, konnten bis 1915 nur 9 Prozent der Kmeten abgelost werden. Diese zogerliche Tilgung der schwer wiegenden Uberbleibsel des osmanisch-islamischen FeudaIismus bevorteilte die bosnischen Muslime bzw. die GroBgrundbesitzer, die aIlerdings eine Minderheit waren. Die Mehrheit der muslimischen Landbesitzer (die 1910 neun Zehntel der Grundbesitzer stellten) besaB weniger aIs 50 Hektar Land. Fast 74 Prozent der Kmeten waren (der gleichen Zahlung zufolge) Orthodoxe, 21,4 Prozent Katholiken. Bis zur Annexion gab es eine Art Allianz zwischen Serben und muslimischen Bosniaken in dieser brisantesten bosnischen Frage - freilich aus vollkommen unterschiedlichen Interessen, die mit der Moglichkeit einer Restitution der Osmanischen Herrschaft verkniipft waren. Nach der Annexion batten die Serben ,,keinen Grund mehr fUr die Vertagung der Forderung nach Anderung" der feudaIistischen Landverteilung (I. Banac). Andererseits woUte man in Budapest und Wien durch die Annexion auch eine festere staatsrechtliche Grundlage und damit klarere Finanzbedingungen fUr die wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Doch es steht fest, dass der Verzicht auf eine Landreform ebenso die Krise forderte wie die Annexion sie verscharfte. Ohne eine Bodenreform konnten keine reellen Modernisierungsansatze eingeleitet werden. Der Erste Weltkrieg machte die Gegensatze im okkupierten Bosnien-Herzegowina erst recht unuberbriickbar. Gegen Ende des Krieges steigerte sich die interkonfessioneUe GewaIt. Es kam zu Massenangriffen auf muslimische Bosniaken, meist durch serbische Bauern und Soldaten, deren Opfer nicht nur muslimische GroBgrundbesitzer waren. Noch vor der GrUndung Jugoslawiens gab der serbisch dominierte Nationalrat fiir Bosnien-Herzegowina eine Proklamation zur Aufhebung der Besitzverhiiltnisse im Agrar heraus und gleich nach der Errichtung des gemeinsamen Staates wurde von Prinzregent Aleksandar eine Verordnung erlassen, die den Kmeten einen Rechtsanspruch auf die von ihnen bearbeiteten Liindereien verlieh. Einheitliche und transparente Ver-
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fahren und Regelungen des Rechtsweges kamen nicht zustande. Daher lief diese sogenannte Agrarrefonn praktisch vielfach auf Enteignung oder gar Mord und Totschlag hinaus. Der oberste islamische Geistliche Reis ul Ulema CauSevie zog in einem Interview fUr die Pariser Tageszeitung Le Temps die Bilanz der Griindung Jugoslawiens fUr die Muslime: "Tausende Menschen ennordet, 76 Frauen verbrannt, 270 Dorfer ausgeraubt und zerstOrt". Besonders willkiirlich war die Zuteilung des Landes an die serbischen freiwilligen Soldaten (Dobrovoljci). Erst in miihsamen politischen Kfunpfen, die mitunter zu abtriiglichen politischen Allianzen zwangen, konnte der FUhrer der stiirksten muslimischen Partei Mehmed Spaho ein Recht aufEntschiidigung der friiheren Besitzer (1920) erwirken. Etwa 4000 landbesitzende Familien, von denen einige in die Annut stiirzten, waren von der Refonn betroffen. Diese Agrarrefonn hatte im Krieg der neunziger Jahre ein Nachspiel, als die serbischen Verhandlungsfiihrer bei Gespriichen fiber Teilungen des Landes ihren Anspruch auf fiber die HiiUte des Landes mit den Katastem untennauerten, in denen die Ergebnisse der Umverteilung festgeschrieben waren, und die intemationalen Vennittler diese als Ausgangsbasis fUr die Teilung des Staates Bosnien-Herzegowina akzeptierten. (2) An die Entwicklung der Infrastruktur und der industriell-technischen Modernisierung ging die Landesverwaltung mit groBer Energie heran. Mit enonnem finanziellem Aufwand (durch Regierungskredite) wurden ein StraBennetz und etwa 1500 km Eisenbahnstrecken gebaut. Es kam zu bedeutenden Industriegriindungen; in Tuzla wurde die erste modeme Salzgrube eroifuet (1884), Erzbergwerke in Vares und das Eisenwerk in Zenica folgten 1886. Anbau und Verarbeitung von Tabak wurden modernisiert, bei Mostar ein Weingut angelegt. In Sarajevo und Mostar errichtete man monumentale Kulturgebiiude. Zur wichtigsten Industriebranche wurde die Holzindustrie (d.h. die schnelle Ausbeutung der bosnischen Wiilder). Kurz vor dem 1. Weltkrieg verzeichneten die Industriebetriebe ca 50.000 stiindige Arbeitskriifte. Die Epoche der Industrialisierung gehOrt zu den besterforschten der bosnischen Geschichte, dabei wurde festgestellt, dass "die militiirisch-strategischen Gesichtspunkte und die ungarischen Wirtschaftsinteressen zum Nachteil der bosnischen Bevolkerung konsequent durchgesetzt worden waren" (Dzaja). (3) Erfolge gab es vor allem im Bereich der Bildung und wissenschaftlichen Forschung. Die vorgefundenen konfessionellen Schulen wurden fmanziell gefordert, neue kamen hinzu. Vor aHem das offentliche Schulsystem wurde gefordert - die Zahl der (vierklassigen) Grundschulen hat sich in der Zeit von 1880/81 bis zum Kriegsbeginn verzehnfacht. Trotz neuer Mittel- und Fachschulen, kam das notige fliichendeckende primiire Schulsystem nicht zustande. Eine biirgerliche Professionalisierung der Intelligenzia, wo die Bereitschaft zu politi scher Radikalisierung verbreitet war, blieb aus. Die wissenschaftliche Forschung, von den Interessen des Regimes durchaus geleitet, begann nach der Okkupation mit dem Kartographieren der besetzten Gebiete und mit geologischen Untersuchungen, bei denen man aufbetriichtliche Bodenschiitze, aber auch aufzahlreiche archiiologische Funde (z.B. die Grabsteine, steeci) stieB. Dem folgten entsprechende wissenschaftlicher Einrichtungen, darunter das Landesmuseum in Sarajevo, ein Prunkstiick der damaligen Griinderzeitarchitektur.
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(4) Der Religionspolitik musste in einem durch Konfessionalismus strukturierten Bosnien-Herzegowina eine Schliisselrolle zukommen. Aile Lebensbereiche waren von der osmanisch-islamischen OrdnWlg gepriigt. Die Wlterschiedlichen Wertmaf3stiibe Wld VorstellWlgen der drei konfessionellen Gruppen verfestigten sich noch in der Ubergangsperiode, so dass der Konfessionalismus letztendlich im Nationalismus miindete. Die HaltWlg der neuen Machthaber war durch die Furcht vor dem ihnen bekannten serbischen bzw. kroatischen Nationalismus bestimmt. Die osterreichisch-Wlgarische Politik war in Bosnien-Herzegowina etwas zurii.ckhaltender als in Kroatien, trotz gleicher neoabsolutistischer Grundziige. Der Gouverneur Benjamin Kallay berniihte sich, die bosnischen, vor allern die muslimischen Eliten Wld die Repriisentanten der Glaubensgemeinschaften fUr die osterreichisch-Wlgarischen politischen Ziele zu gewinnen. Kallays Idee, eine aIle drei bosnischen konfessione11en Gruppen integrierende nationale Idee des Bosniakertums zu etablieren, war dern Bestreben entsprwtgen, von auBen kommende Einfliisse nationaler Bewegwtgen zu verhindem. Eine solche Idee des interkonfessione11en integrativen Bosniakertums hatte keine vorgebildete Tradition, doch kniipfte man auch nicht an die bestehenden Traditionen des Zusammenlebens an, die im jahrhWldertelangen Umgang mit dem anderen eine spezifisch bosnische Art der Gemeinsamkeit konstituiert hatten. Die Kirchenpolitik des Habsburger Reiches wurde auf die neue Provinz ausgedehnt, was fUr jede Konfession Besonderheiten mit sich brachte. 1m Falle des Katholizismus dienten als Grundlage die KonkordatsregelWlgen, wonach die EmennWlgsrechte fUr BischOfe beim Kaiser lagen Wld samtliche Kosten fUr die Dotationen von der Regierwtg getragen wurden. Trotz der gemeinsamen konfessione11en Ausgangsposition verlief die institutione11e UmgestaltWlg des Katholizismus, der in Bosnien Wlter Fiihrwtg der Franziskaner seit JahrhWlderten in Wletablierter Form existierte, nicht reibWlgslos. Der Romischen Kurie ging es darum, die ordentliche Hierarchie einzufiihren Wld die Weltkirche zu festigen. Politische Ziele flossen gleich in diese BestrebWlg mit hinein. Eine eigene, yom kroatischen Erzbistum unabhiingige Kirchenprovinz Bosnien wurde gegriindet Wld somit die HOffnWlg Strossmayers als Bischof von Dakovo aufVereinigwtg durchkreuzt, da besonders Ungam die politische ErstarkWlg Kroatiens befUrchteteo In manchen Kreisen der Grofikirche war auch der Einfluss der Franziskaner, deren Franziskanerprovinz die einzige bosnische mittelalterliche Institution war, die die osmanische Epoche iiberlebt hatte, mit Argwohn betrachtet. Der erste Erzbischofvon Sarajevo, Josip Stadler, war nicht zu Kompromissen bereit Wld rief heftige Konflikte hervor - man warf ihm Proselytenmacherei vor. Die serbische Orthodoxie, die offizie11 als griechisch-orthodox bzw. griechisch-orientalisch Wld erst nach Protesten nur orthodox (ohne das nationale Adjektiv) benannt wurde, sol1te nach den gleichen Prinzipien der habsburgischen Kirchenpolitik integriert werden: Zuniichst wurden die amtierenden Metropoliten bestiitigt, aber EmennWlgen sol1ten durch den Kaiser erfolgen, die BesoldWlg der Geistlichen durch die Regierwtg, die Abgaben der Gliiubigen durch den Fiskus geregelt werden. Vor allem der niedrige Klerus leistete Widerstand gegen das Regime Wld verbreitete kriiftig serbische Propaganda. Was den Islam anbelangt, waren angesichts der bestehenden tief liegenden strukture11en Unterschiede zur westlichen ReligionsauifassWlg fimdamentale Unvereinbarkeiten
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unlosbar. Das betrifft die StrenggHiubigen, die nicht unter der Herrschaft der Unglaubigen leben wollten und die Hauptmasse der Muslime bildeten, die das Land verlassen hatten (ca. 60.000). AuBerdem war jeder EingrifI durch einen nichtislamischen Staat mehr als heikel, zumal der Islam keine Trennung zwischen religiOsem und privatem Bereich kennt. Die osterreichisch-ungarische Regierung versuchte, die bosnischen Muslime von Istanbul politisch abzukoppeln, und rief zu diesem Zweck die vollig neue Institution des geistlichen Oberhauptes (reis-ul-ulema) ins Leben und berief den Mufti von Sarajevo und Bosnien Hilmi-Efendi Omerovic in dieses Amt. AuBerdem richtete man einen obersten geistlichen Rat (ulema meclisi) ein, dem auBer dem reis-ul-ulema vier Mitglieder angehOrten. Die schon erwiihnten Reformen der Vakufverwaltung und des islamischen Schulwesens riefen heftige Gegnerschaft bei der konservativen Ulema hervor. Ein Fall der Konversion zum Katholizismus schlieBlich fiihrte zur Politisierung der Muslime in ganz Bosnien, die auBer Geistliche zunehmend GroBgrundbesitzer erfasste. Der politische Kampf konzentrierte sich fortan auf die Erlangung der autonomen Verwaltung islamischer Institutionen (Schulen und Vakufverwaltungen). 1909 bekam der bosnische Islam den Autonomiestatus, den die Serben sich schon vier Jahre zuvor erkiimpft hatten. Offiziell anerkannt wurden die beidenjiidischen Gemeinden (Sephardim und Aschkenasim) sowie andere Religionsminderheiten, die wie die Mehrheit der Aschkenasim erst nach der Okkupation ins Land gekommen waren. Die zogerliche Reformtatigkeit der Okkupationsmacht hatte zwar den bosnischen Muslimen eine schonende Anpassungsspanne an die modeme Welt verschafft, aber da ihre Vorhaben nicht im Einklang mit den Bediirfnissen im Lande selbst waren, konnte sie keinen politischen Riickhalt bei der breiten Bevolkerung erlangen, so dass die meisten vollendeten Projekte bloB vereinzelte ,,Prunksrucke okzidentaler technischer Uberlegenheit" blieben. (Dzaja) Das osterreichisch-ungarische Regime in Bosnien-Herzegowina musste innenpolitisch notgedrungen zum Spiegel der Krise im ganzen Reich werden, zumal diese gerade durch die Okkupation und Annexion von Bosnien-Herzegowina auf die Spitze getrieben wurde. (~Kap. 3, ~ Kap.6) Die politische Klasse in der Monarchie meinte, diese grundlegende Tatsache ignorieren und das Land als eine isolierte Insel regieren zu konnen. AuBerdem wurde die Auswirkung der Annexion auf die siidslawische BevOlkerung in der Region und in Bosnien-Herzegowina selbst unterschiitzt. Gleichzeitig war man mit Serbien in einen regelrechten Wirtschaftkrieg verwickelt, und in Kroatien wechselte nach der 20-jahrigen Diktatur Herdervarys ein repressives Regime im Dienste Ungarns das andere abo Dies alles und vor allem die politischen Annaherungen unter den Kroaten und Serben der Monarchie, ihr gemeinsamer ,,Neuer Kurs", sowie die jugoslawisch orientierte "Nationale Jugend" konnten nicht ohne Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina bleiben. (~ Kap. 14). Der erste Balkankrieg wurde nicht nur unter den Serben in Bosnien-Herzegowina, sondem unter den meisten Siidslawen in der Monarchie insgesamt begeistert aufgenommen. Wenn unter der kroatischen und muslimischen BevOlkerung Bosnien-Herzegowinas eine gewisse Loyalitat der Fremdherrschaft gegeniiber vorausgesetzt werden konnte, nicht zuletzt aus Angst vor serbischen Anspriichen - besonders nach dem 2. Balkankrieg -,
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so konnte sie von der serbischen (der damals starksten) Bevolkerungsgruppe unmoglich erwartet werden. Die serbische Nationalideologie war ein kompaktes Projekt, das von so gut wie allen Schichten und serbischen politischen Gruppierungen betrieben wurde. Als nach der Annexion der erste bosnisch-herzegowinische Landtag konstituiert wurde, lieBen sich die Spannungen kaurn beschwichtigen, obwohl mit der Entstehung politischer Parteien ein gewisser Pragmatismus in die Auseinandersetzungen kam. Freilich waren die Kompetenzen des Landtags auBerst eingeschrlinkt, denn die Regierung war weiterhin dem Gemeinsamen Finanzministeriurn der Doppelmonarchie unterstellt. Charakteristisch fur das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts in den siidslawischen Teilen der Doppelmonarchie war die politische Radikalisierung der Jugend (Studenten und Mittelschiller), wodurch (national)revolutionare und terroristische Milieus begiinstigt wurden. Aus diesen Milieus kam auch der Ferdinand-Attentater Gavrilo Princip, Mitglied der Organisation Mlada Bosna (Jungbosnien), die sich dem - allerdings nicht ausschlieBlich terroristischen - Kampf gegen die Fremdherrschaft in Bosnien-Herzegowina verschrieben hatte. Der Anschlag von Sarajevo im Juli 191410ste in der Stadt antiserbische Aktionen aus. (7 Kap. 6) Wahrend des Krieges gab es viele repressive MaBnahmen gegen die Serben. Die osterreichisch-ungarische Politik in Bosnien-Herzegowina kann man rein formell mit der Kolonialpolitik Englands auf Zypem zur gleichen Zeit vergleichen. (Banac) In politischer Hinsicht aber hatte sich die Doppelmonarchie durch die Besetzung und Annexion eines Landes, dessen BevOlkerung zu 65 Prozent Konnationale jener Volksgruppe waren, mit denen sie seit einem Jahrhundert im politischen Kampf stand, die Schlinge urn den Hals gelegt. Auch das repressive Regime, das wlihrend des Krieges in Bosnien-Herzegowina eingefiihrt wurde, wird man zu den Faktoren zlihlen diirfen, die der Bereitschaft, aus dem Reich auszuscheiden und einen sUdslawischen Staat zu bilden, forderlich waren.
4.5. Epilog Die Enstehung von GroBgruppen und die nationalen Integrationsprozesse waren unter den siidslawischen Stlimmen und VOlkem uneinheitlich verlaufen. Einerseits etablierten sich im fiiihen Mittelalter die Stammesnamen der Kroaten und der Serben. Andererseits iibte unwesentlich spater die bosnische Landnahme eine vergleichbar integrative Wirkung aus. Der bosnische Name etablierte sich durch bosnische Herrscher und das bosnische Konigreich im Mittelalter ebenso wie die Stammesnamen fur die Territorialherrschaften in der Nachbarschaft. In den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts iiberwog das ethnische Modell der Konstruktion einer Gruppenidentitat, und zwar so sehr, dass der VOlksbegriff mit der Ethnie identisch gesetzt wurde. Dieses so genannte "objektive Nationsverstlindnis" (Sundhaussen) lebt von der Illusion einer "gemeinsamen Abstammung", die es zum Kriteriurn der Nationszugehorigkeit macht bzw. mangels Nachweis mit ,,Ersatzkriterien" (Sprache, Konfession, Kultur) auffiillt. Die durch einen so1chen ,,Abstammungsmythos" gepragten national en Identitaten wurden
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auch in Bosnien selbst rezipiert, obwohl die GroBgruppenidentitaten dort wahrend der osmanischen Jahrhunderte konfessionell bestimmt waren. Beelingt durch historische und politische Faktoren verdrangte das national-ethnische Modell das territoriaIe Paradigma der Identitat, das ja auch durch die ZugehOrigkeit zum osmanischen Reich am Verb lassen war. Die historische Erinnerung an das bosnische Konigreich wurde von den marginalisierten Franziskanem bzw. Katholiken gepflegt; dennoch hat sich der Name Bosnien (wie auch Herzegowina) in der tiirkischen Form als regionales Identifikationsmerkmal erhalten. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches entwickelte sich die Vorstellung der territorialen Unteilbarkeit von Bosnien-Herzegowina zu einer politischen Antwort auf ethnisch-nationale (kroatische und serbische) Projektionen. Schon im 16. Jahrhundert schrieb der osterreichische (slowenische) Gesandte von Ferdinand I., Benedict Curipeschitz, von "dreyerley nation und glauben" in Bosnien, historisch entstanden in der Folge der osmanischen Eroberung und Herrschaft. Auf diese Tradition konnte sich die Vorstellung einer politisch-territorialen Identitat berufen, die vor allern - aber nicht ausschlieBlich - bei den bosnisch-muslimischen Eliten urn die Jahrhundertwende tiberwog. Dem FUhrer der stiirksten Partei der bosnischen Muslime (Jugoslavenska Muslimanska Organizacija, JMO), Mehmed Spaho (18831939), gelang es 1921, durch einen Kompromiss mit den zentralistischen serbischen Parteien bei der administrativ-territorialen Einteilung des neugegriindeten Staates der Serben, Kroaten und Slowenen in Bezirke (oblasti), Bosnien-Herzegowina als Einheit in seinen bisherigen Grenzen beizubehalten und die bestehenden Kreise in neue Bezirke umzubenennen. Dieses Recht wurde sogar in der Verfassung festgeschrieben, wabrend aIle anderen historischen Lander in Oblasti zerstiickelt wurden. 1929 ordnete allerdings Konig Aleksandar eine neue Einteilung des Landes in ,,Banate" an (die keinerlei Verbindung mit den geschichtlichen Banschaften hatten) und gliederte BosnienHerzegowina in vier Banate, in denen die bosnischen Muslime jeweils eine Minderheit waren. Ais 1939 der kroatisch-serbische Konflikt durch die Schaffimg eines kroatischen Banat gelOst wurde, geschah dies ohne jede Beriicksichtigung der Muslime; die Entscheidung tiber die Zuteilung der Gemeinden zur Kroatischen Banovina folgte ausschlieBlich den kroatischen und serbischen Mehrheitsverhiiltnissen. Bei der Griindungsversammlung der jugoslawischen FOderation noch wahrend des Zweiten Weltkrieges wurde Bosnien-Herzegowina als gleichberechtigte foderale Einheit des zukiinftigen Bundesstaates behandelt. Die Sozialistische Republik BosnienHerzegowina war definiert als Republik der gleichberechtigten Volker (Serben, Kroaten und Muslime), doch wurden die Muslime weiterhin dem Druck ausgesetzt, sich im ethno-nationalen Sinne als Kroaten oder Serben zu entscheiden. Erst in den sechziger Jahren wurden die Muslime als eigene Nation anerkannt, wenn dafiir auch die Konfessionalitat als Identitatstitel genommen wurde. Die serbischen Nationalisten wollten diese Anerkennung als Nation nie akzeptieren, wagten dies aber erst nach dem Tod Titos laut zu sagen. Allerdings lieB der aus der Konfession abgeleitete Name auch Spielraurn fiir Spekulationen tiber die "wahre" oder "eigentliche" ethnische Herkunft der Muslime. Die serbischen Nationalisten bedienten sich dieses Arguments urn die staatsrechtliche Existenz von Bosnien-Herzegowina zu negieren und behaupteten, es handle sich urn
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"serbische Under", und die Muslime seien "eigentlich" islamisierte Serben. Die breite Anerkennung des nicht-konfessionellen Namens der Bosniaken bestiitigt abschlieBend die historische und kulturelle Gruppenidentitiit als Nation. So wie die westliche Definitionsmacht die Bosniaken zu einer der ,,Kriegsparteien" gemacht hat, wird auch nach Dayton ignoriert, dass die Bosniaken Opfer eines Genozids waren. Der Euphemismus "ethnische Sauberung" unterstellt, alle Kriegsparteien hatten diese praktiziert. Damit werden die Unterschiede zwischen lokalen und sporadischen Exzessen und dem von langer Hand geplanten Vernichtungszug verwischt und den Bosniaken Gerechtigkeit verweigert. Diese aber ist eine wesentliche Bedingung fUr die Zukunft Bosniens.
Ubersetzt, iiberarbeitet und ergiinzt von Dunja MelCic Literatur Die Literatur llber Bosnien-Herzegowina ist im Zusammenhang mit clem Krieg 1991-1995 immens angestiegen. Dazu siehe die Angaben zum Kapitel 24. Allgemeine Darstellungen der bosnischen Geschichte sind: Smail Balie, Das unbekannte Bosnien. Europas Briidee zur islamischen Welt. KOln, Weimar, Wien 1992; Ivan Lovrenovie, Bosnien und Herzegawina. Eine Kulturgeschichte. Wien, Bozen 1998; Noel Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt 1996; vgl auch den Sammelband: Mark Pinson, (Hg:) The Muslims o/Bosnia-Herzegovina. Their Historic Developmentfrom the Middle Ages to the Dissolution o/Yugoslavia, Harvard 1993. Die fiir das friihe Mittelalter SUdosteuropas wichtigste byzantinische Quelle ist ein yom byzantinischen Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (913-959) zusammengestelltes Kompendiurn iiber die Provinzen des Reiches, fremde Lander und VOlker, De administrando imperio, hg. von Gy. Moravcsik, Washington 1967 (Der lateinische Titel stanunt von der ersten Edition der griechischen Handschrift, 1611); eine weitere Quelle: Mauro Orbini, II Regno degli Slavi, Pesaro 1601, Nachdruck hg. v. S. Cirkovic und P. Rehder, Miinchen 1985. Ferner wichtig: Fikret Adanir, ,,Heiduckentum und osmanische Herrschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der Diskussion urn das friihneuzeitliche Rauberwesen in Siidosteuropa", in: Siidost-Forschungen, 41 (1982), S. 43-116; Mihailo Dinic, Srpskezemlje usrednjem veku, Be1grad 1978, hrsg. S. Cirkovic; Srecko M. DZaja, Kon/essionalitiit und Nationalitiit Bosniens und der Herzegawina. Voremanzipatorische Phase 1463-1804. Miinchen 1984; c1ers., Bosnien-Herzegawina in der 6sterreichisch-ungarischen Epoche (187819I8). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie, Miinchen 1994; Jozo D~bo, Die Franziskaner im mittelalterlichen Bosnien, WerllWestfalen 1991; Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 1-6, 1988; John VA. Fine, Jr., The Bosnian Church: A New Interpretation. A Study o/the Bosnian Church and Its Place in State and Society from the 13" to the 15" Centuries, Boulder, New York, Lond. 1975; N.Klaie, Povijest Hrvata u srednjem vijeku, Zagreb 1990; H. Kre§ev1jakovic, Kapetanije u Bosni i Hercegovini, Sarajevo 1954; F. Racki, ,,Dopisi izmedju krajinskih turskih i hrvatskih casnika", Starine, Zagreb 1870; F. Si§ic, Povijest Hrvata u vrijeme narodnih vladara, Zagreb (1925) 1990; A. Sueeska, ,,Bedeutung und Entwicklung des BegrifIes A'yan im Osmanischen Reich", Siidost-Forschungen, 25 (1966). Zu den ideologisch motivierten Stereotypen der bosnischen Historiographie gehOren KrOnungsort und jahr von Tvrtko I., deren Zuordnung zu einer Angelegenheit geworden ist, die nur durch interdiszip1inliren Zugang entwirrt werden karm. 1m Bemiihen, Bosnien-Herzegowina eine bosniakische Identitat zu verschaffen, gingen schon die Osterreich-ungarischen BehOrden nachlassig mit historischen Tatsachen urn, auch mit archliologischen Funden, deren wichtigster die Entdeckung der Groft des KOnigs 1909 in Zentralbosnien bei Visoko war. Siehe M. Wenzel, "Bosnian History and Austro-Hungarian Policy: some Medieval Belts, the Bogomil Romance and King Tvrko Graves", in: Peristil 30, Zagreb 1987; dies., ,,Bosanska povijest i austrougarska politika: Zemaljski muzej u Sarajevu i bogumilska romansa", Erasmus 15, 1996. Zur neueren Bestimmung des KrOnungsortes von Tvrtko I. ist auch zu beriicksichtigen, Pavo Andelic, "Krundibena i grobna crkva bosanskih vladar u Milima (Amautovici kod Viskog)", in: Glasnik Zemaljskog muzeja Bosne i Hercegovine, 25, SarlYevo 1979.
5.
Vojvodina Dimitrije Boarov
Die Vojvodina ist heute in der 1992 gegriindeten, aus Serbien und Montenegro bestehenden Bundesrepublik Jugoslawien eine Provinz ohne nennenswerte Autonomierechteo Ihre gesellschaftliche, kulturelle und territoriale Eigenart, die sich im Verlauf einer wechselreichen Geschichte herausgebildet hat, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals politisch anerkannt. Die Vojvodina bekam einerseits den Status einer autonomen Provinz der Republik Serbien, andererseits den einer gleichberechtigten foderalen Einheit des sozialistischen Jugoslawien (deren es insgesamt acht gab). Dieser Status wurde der Vojvodina durch Milosevic und seine Gefolgsleute 1988 einseitig und verfassungswidrig aberkannt.
5.1.
Die Entstehungsgeschichte
Die Vojvodina (Flache: 21.506 km2 , Einwohner 1991: 2.012.517) besteht aus Teilen der geographischen Landschaften Batschka, Banat und Baranya, die bis 1541 Siidungam bildeten. Danach gehOrte dieses Gebiet wie fast ganz Ungam tiber ein Jahrhundert lang zum Osmanischen Reich und wurde in der Zeit der Tiirkenkriege (1683-1699) zum Schauplatz der groBen und entscheidenden Kampfe gegen die Tiirken. Nach der Wende durch den Sieg Prinz Eugens bei Senta (Zenta) 1697 begann die schubweise Neubesiedlung des infolge der Kriege entvOlkerten Gebietes, wobei im 18. Jhd., vor aHem nach dem Frieden von Pozarevac (Passarowitz) 1718, die spontanen Einwanderungen durch staatlich organisierte und von Grundherren initiierte erganzt wurden. Bereits wamend des Krieges, vor all em urn das Jahr 1690 siedelten groBere BevOlkerungsgruppen aus dem siidlichen Balkan in die befreite Gegend urn. (-7 Kap. 6) Vor der erfolgreichen Gegenoffensive des neuen GroBwesirs Mustafa Kopriilii floh die christliche, vorwiegend serbische BevOlkerung aus Angst vor Vergeltungen nach Belgrad und weiter nach Ungam. In der serbischen Erinnerungskultur - in der Ikonographie und Z. T. auch in der Geschichtsschreibung - bekam dieses Ereignis als "GroBe Wanderung" unter der ,,Fiihrung" des Patriarchen Arsenije Cmojevic groBe symbolische Bedeutung. In der Literatur variieren die Angaben iiber die Zahl der so eingewanderten Bevolkerung erheblich: zwischen 80.000 (Glass!) und 30.000 (Enciklopedija Jugoslavije). Schon vor den neuesten Quellenauswertungen durch den englischen Historiker Noel Malcolm war in der serbischen Historiographie festgestellt worden, dass "der Patriarch, der bereits im Januar 1690 mit Gefolgsleuten nach Belgrad floh", lediglich "das erste Zeichen" fiir die Auswanderung gab und sich danach in Ungam (in Budim = Buda) aufhielt. (VeselinoviC, 1980) Bei der ausgewanderten BevOlkerung aus Siidserbien hatte es sich urn Familien christlichen Glaubens gehandelt, aber nicht ausschlieBlich urn Serben. Mit seinem beriihmten Aufruf (Invitatorium) versuchte Kaiser Leo-
5. Vojvodina
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pold I. die ,,Aufst1indischen von der Auswandenmg abzubringen" (Veselinovic) WId steUte fUr die Zeit nach der BefreiWlg eine nicht nliher bestimmte SelbstverwaltWlg in Aussicht. Auf der VersammlWlg (Crkvenonarodni sabor- ,,KirchenvolksversammlWlg" mit Laienvertretern) in Belgrad 1690 wurde Kaiser Leopold als serbischer Konig anerkannt WId es wurde beschlossen, den Kampf gegen die Tiirken von den befreiten Gebieten in SUdWlgam aus weiter zu fiihren. Gleichzeitig wurde yom Kaiser gefordert, der Serbischen Orthodoxen Kirche die Vorrechte, die sie im Osmanischen Reich nach der GriindWlg des Patriarclults von PeC/lpek genoss, zu bestatigen. Nach der NiederlassWlg des kirchlichen Oberhauptes in der Nlihe von Sremski Karlovci entwickelten sich die neu auflebenden Stadte zum kultureUen WId nationalen Mittelpunkt der Serben in der Habsburger Monarchie. Die durch Kaiser Leopold erteilten konfessionellen WId fiskalischen Privilegien nahrten bei dem aufstrebenden serbischen Biirgertum die HoffilWlg auf ein autonom regiertes Gebiet WId die Wahl eines Fiirsten, des "vojvoda" (worauf der spatere Name der Provinz zuriickgeht). Aber schon die erteilten wurden erst nachtraglich WId auf wiederholten Druck aus Wien von der Wlgarischen koniglichen Kanzlei bestatigt. Der Wiener Hof verstand lange Zeit die Kaisertreue der Grenzer gegen die Standesinteressen sowohl des kroatischen als auch des magyarischen Adels auszuspielen. Schon 1703 setzte Wien serbische Einheiten (,,Raszier") gegen den Aufstand des Wlgarischen Adels Wlter der Fiihrung von Ferenc Rakoczy II. ein. Aus Unsicherheit in der sprachlich WId konfessionell fremden UmgebWlg WId wegen wirtschaftlicher Benachteiligung klammerten sich die Serben an die von Wien gewlihrten Privilegien als Neuansiedler, die wiederum eine Einschr1inkung der Vorrechte der Wlgarischen Feudalherren bedeuteten. Dieser magyarische Komitatsadel straubte sich nicht nur gegen die AnsiedlWlg der Serben als freie Bauem WId Grenzer, sondem auch gegen die spatere Zuwandenmg von Deutschen, Franzosen, Italienem WId Spaniem. Keine dieser Popuiationenjedoch beanspruchte fUr sich irgendeine Art politischer Autonomie - bis auf die Serben. Durch das Leopoldinische Privileg wurde die Kirche in gewissem Umfang selbst1indig (Wlgehinderte Wahl des Metropoliten, Steuerprivilegien), aber die serbischen politischen F ordenmgen nach Gebietsautonomie, gehegt schon seit 1694 (dem serbischen Kirchentag in Baja), also noch vor der GriindWlg des serbischen ,,Mutterstaates" Anfang des 19. Jh., waren vergeblich. Zwecks BetreuWlg der zugewanderten orthodoxen Bevolkenmg, die es in den Komitaten der Stephanskrone erheblich schwerer batte als in der ,,Militargrenze" genannten Zone, wurde 1745 eine "lllyrische Hotkommission" (seit 1747 ,,Hofdeputation") errichtet. Die serbischen Fordenmgen nach Gebietsautonomie (nach einem corpus separatum) wurden mit besonderer Entschiedenheit auch beim Kirchentag von Temesvar im Jahr 1790 erhoben, also zu der Zeit, als man begann, die Militiirgrenze im Banat WId in der Backa, die bis dahin von der ungarischen Komitatsjurisdiktion ausgenommen waren, abzuschaffen. Nach dem Temesvarer Nationalkongress bewilligte der ungarische Landtag den Orthodoxen dennoch die vollen Biirgerrechte, und die Metropoliten erhielten Sitz WId Stimme im Landtag. Am Vorabend der Ungarischen Revolution von 1848 hatten sich bereits ein vermogendes serbisches Biirgertum WId eine Bildungselite herausgebildet. Durch die beson-
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Dimitrije Boaroy
dere Rolle der Kirche und der Kirchenversammlungen, die mit den von den Gemeinden gewiihlten Laienvertretem die Bedeutung "quasi-parlamentarischer Entscheidungsinstanzen" bekamen (Hosch, 1988), bildete sich zunachst als ,;Obergangsstufe" die serbische ,,Konfessions-Nationalitat". Diese Entwicklung wurde besonders durch die theresianischen und josephinischen Reformen begiinstigt und durch das neue Volksschulwesen beschleunigt. Die eingeleiteten Transformationen der traditionellen Agrargesellschaft, das Erstarken der mittelstandischen Schichten und die national-integrativen Prozesse mit der sich profilierenden nationalbewussten Elite anderten nichts daran, dass die Serben fUr Budim lediglich den Status einer Religionsgemeinschaft hatten, namlich als ,,Nicht-Unierte griechischen Ritus". Davon wurde das Verhaltnis der serbischen Eliten gegentiber dem revolutionaren Nationalstaat des Lajos Kossuth im Jahre 1848 mitbedingt. Der nationalistischen Ausrichtung von Kossuths liberaler Reformbewegung, die fUr Nicht-Ungam keine politischen Rechte vorsah, setzte die serbische Bewegung die F orderung nach einer "Serbischen Vojvodina" entgegen. 1m Mai 1848 wurden bei der Versammlung der serbischen Repriisentanten in Sremski Karlovci der Metropolit Josif RajaCic zum serbischen Patriarchen emannt und der osterreichische Oberst Stevan Supljikac zum serbischen Vojvoda gewiihlt. Die Wahl des Metropoliten wurde yom kaiserlichen Hof bestatigt, alle anderen Beschliisse der Versammlung von Karlovci, insbesondere die Wahl des serbischen Fiirsten, zurUckgewiesen. Da es nach dem politischen Bruch zwischen serbischen und magyarischen Eliten zu einer Einigung tiber politische Ziele mit Politikem aus Kroatien kam, beschloss die Versammlung "ein politisches Biindnis auf der Grundlage der Freiheit und der vollen Gleichheit" mit dem Dreieinigen Konigreich Kroatien, Slawonien und Dalmatien und rief die "Serbische Vojvodina" aus, und zwar in Grenzen, die nicht nur Baranya, Banat und Backa, sondem auch Syrmien und die Militargrenze in Kroatien einschlieBen sollten. Diese Ereignisse im Jahr der ungarischen Revolution waren begleitet von sozialen Unruhen und bewaffueten Auseinandersetzungen zwischen serbischen und ungarischen Einheiten. Die Serben erhielten dabei Unterstiitzung von Freiwilligen aus dem Fiirstentum Serbien und waren an der Niederwerfung der ungarischen Revolution durch kaiserliche Truppen unter dem kroatischen Banus, General Josip Jelacic, beteiligt. Der Zankapfel, der mit den territorialen Anspriichen schon vor dem Krieg da gewesen war, wirkte sich an seinem Ende als offener Zwist zwischen Serben und Kroaten aus. Von da an lehnten die Serben die Idee eines Zusammenschlusses mit dem Dreieinigen Konigreich ab und bestanden darauf, ein eigenes Kronland (,;krunovina") zu bekommen. Das kaiserliche Patent yom 18. November 1849, mit dem die "Wojwodschaft Serbien und das Tarnischer Banat" mit der Hauptstadt Temesvar geschaffen wurde, verscharfte einerseits diesen Streit und untergrub andererseits die serbische Autonomiebewegung. Die "Wojwodschaft" bestand aus den syrmischen Landkreisen Ruma und Ilok, Backa und einem Teil des Banats. Der Mittelpunkt des serbischen religiosen Lebens Sremski Karlovci befand sich auBerhalb dieser ,;Bachschen Vojvodina". (7 Kap. 3) Nach dem ungarischen Aufstand bildeten sich unter den Serben drei politische Stromungen heraus. Eine trat fUr die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Wien ein. Ihr angesehenster Vertreter war der General Borde Stratimirovic, der sich 1848 als der
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fahigste Mann in den Reihen der serbischen Streitkrafie erwies. Die andere Stromung, in der der Rechtsanwa1t und Schrifisteller Jakov Ignjatovic das groBte Ansehen genoss, setzte sich fiir eine Versohnung mit den Ungarn und den gemeinsamen Widerstand gegen den Abso1utismus Wiens ein. In den darauf f01genden Jahrzehnten wurde die dritte Stromung des Svetozar Mi1etic, des spateren Biirgermeisters von Novi Sad, zur starksten Kraft, welche ein ausgesprochen serbisch-nationa1es Programm unter Anlehnung an die Ideen des Pans1awismus und der serbischen Vereinigung vertrat. Bei der Herausbi1dung und Erstarkung des serbischen Nationalbewusstseins spie1te auch die schon 1826 in Pest gegriindete und 1864 nach Novi Sad verlegte Ku1turgesellschaft Matica srpska eine enorme Rolle.
5.2. Der Weg zur Vereinigung 1887 griindete Miletic in Novi Sad die Serbische Freisinnige Volkspartei, die 1918 nunmehr a1s Radikale Partei die entscheidende Rolle beim Anschluss der Vojvodina an Serbien spielte. Man wollte "zunachst das serbische Hemd anziehen" und "erst danach den jugoslawischen Mantel" und beschloss den ,,Anschluss" von Banat, Backa und Baranya an das Konigreich Serbien, die Trennung von Ungarn und strebte einen "einheitlichen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen unter der Fiihrung des Konigs Petar" an. Die Demokratische Partei der Vojvodina hingegen favorisierte die Vereinigung iiber den Nationalrat in Zagreb und strebte auch in Zukunft eine gewisse Selbstiindigkeit fUr die Vojvodina an. Nach der Griindung des Konigreichs SHS war allerdings die herrschende serbische Auffassung, dass die Idee einer autonomen Vojvodina nach der Vereinigung mit Serbien obsolet sei, denn die Verse1bstandigung war - so der FUhrer der Radikalen Partei Ljuba JovanoviC - in Bezug auf Pest und die Magyaren und nicht gegeniiber "dem Siiden" (Serbien) gedacht. 1m neuen jugoslawischen Staat lebte die Idee einer eigenstandigen Vojvodina dennoch fort. Anstelle der friiheren nationalen Bestrebungen (nach der kulturellen und konfessionellen Identitat) traten nun besondere wirtschaftliche und politische Interessen des Biirgertums und der serbischen GroBgrundbesitzer in den Vordergrund, ausgelost durch Entriistung iiber die neue, aus Serbien importierte Staatsverwaltung und hohe Steuem, die in Serbien und Montenegro nicht erhoben wurden. Industrie und Landwirtschaft in der Vojvodina verloren durch den Zerfall des Habsburgerreiches einen Markt mit 50 Millionen Verbrauchern und befanden sich nunmehr in einem Staat mit nur 15 Millionen, meist mittellosen, Biirgem. Aus Angst vor der Ubermacht der nichtserbischen Bevolkerungsmehrheit der Vojvodina war man zunachst gegeniiber der foderalistischen Idee zogerlich. Nachdem immer mehr bedeutende Politiker die FOderalisierung Jugoslawiens befiirworteten - so auch der friihere Zentralist Svetozar Pribicevic - und es einerseits zur Bauerlich-Demokratischen Koalition kam und andererseits die Januardiktatur Aleksandars eingefiihrt wurde, verstarkte sich auch in der Vojvodina der politische Kampf gegen den Belgrader Zentralismus immer mehr. In mehreren Resolutionen forderte man Autonomie oder gar den Status einer autonomen Pro-
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Dimitrije Boarov
vinz ,,zusammen mit Synnien", als Antwort auf die fOderalistischen VorschHige der sog. ,,zagreber Punktationen". Neben Bosnien blieb die Vojvodina einer der Streitpunkte zwischen den serbischen und kroatischen Oppositionsparteien. In Wahrheit akzeptierten die Belgrader Parteien die FOderalisierung nicht und bauschten die kroatischen Anspriiche auf "vojvodinisches Gebiet" auf. Das Misstrauen zwischen Serben und Kroaten setzte sich im Zweiten Weltkrieg auch unter den Kommunisten fort, als das Gebiet von Ungarn annektiert war. Die vojvodinischen Kommunisten und Partisanen wurden anfanglich (1942) an das Kommando und die Fiihrung in Kroatien verwiesen. Da die Mehrzahl der Partisanen in der Vojvodina serbisch war, wurde 1943 ein "Vorlaufiges Provinzkomitee der Kommunistischen Partei Jugoslawiens fUr die Vojvodina" mit Jovan Veselinov an der Spitze gebildet. Zwar wurde die Autonomie der Vojvodina in den Grunddokumenten der zweiten AVNOJVersammlung nicht erwiihnt, aber als Tito 1944 schrieb, die Vojvodina werde "wie andere Provinzen auch" die "weitestgehende Autonomie" erhaiten, beruhte dies auf einem breiten Konsens, obwohl noch keine Klarheit dariiber herrschte, in welcher fOderalen Einheit des kiinftigen Jugoslawien sie sich befinden sollte. Diese Entscheidung fiel im April 1945 unter eindeutiger Zustimmung der Kommunisten aus der Vojvodina.
Bis 1974 war der autonome Status der Vojvodina mehr proklamiert als verwirklicht. Auch wirtschaftlich war die Provinz durch einen kontinuierlichen Riickstand gekennzeichnet. Auf den Landgiitem der 1945 vertriebenen 400.000 Deutschen war vorwiegend serbische Bevolkerung aus riickstandigen Gebieten Bosniens, Montenegros und Kroatiens angesiedeit worden, wobei die sozialistische Zwangskollektivierung zusatzlich fUr den wirtschaftlichen Niedergang sorgte. Die Vertreibung von Ungarn wurde durch ein Abkommen zwischen Tito und Imre Nagy gestoppt. Erst nach der Verfassungsanderung von 1974 erhielt die Vojvodina als ,,konstitutives Element" und somit als eins der acht Mitglieder der jugoslawischen F Oderation - obwohl weiterhin ein Teil Serbiens -legislative, exekutive und justizielle Autonomie sowie die Moglichkeit, tiber Investitions-, Kultur- und Entwicklungspolitik in gewissem MaBe selbstiindig zu entscheiden.
5.3. Die Authebung der Autonomie und die Folgen des Krieges 1991-1995 In Belgrad wurde diese Aufwertung der autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo als eine beabsichtigte Schwachung Serbiens und als ,jugoslawische Verschworung" aufgenommen. Nach Titos Tod steigerte sich diese Unzufriedenheit. Die serbische politische Fiihrung mit Slobodan Milosevi6 an der Spitze organisierte groJ3e "Volkskundgebungen" in der Vojvodina und mobilisierte mit den extremistischen serbischen nationalistischen Parolen vor allem die nach 1945 angesiedelten Teile der Bevolkerung (die sog. Dodosi, Neuankommlinge) fUr sich. Diese Allianz der lokalen BevOikerung mit der serbischen politischen Fiihrung aus Belgrad richtete im Oktober 1988 die Autonomie der Vojvodina zugrunde. 1990 wurde die Provinzverfassung aufgehoben und eine einheitliche serbische Verfassung verabschiedet, in welcher die Autonomie der Vojvo-
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dina, ahnlich der in Kosovo, nur auf dem Papier existiert, in Wirklichkeit aber aIle Institutionen der Gesellschaft der Belgrader Zentrale unterworfen sind. Der Krieg, den Belgrad gegen Kroatien 1991 und Bosnien-Herzegowina 1992-1995 fiihrte, tobte an den Grenzen der Vojvodina. Seine Folgen fUr die Vojvodina sind verheerend injeder Hinsicht. Eine der schlimmsten ist die massive Flucht ihrer BUrger: serbischer und anderer junger Manner, die nicht in den Krieg ziehen wollten und alteingesessener Volksgruppen - vomeweg Ungam und Kroaten -, die vor dem Terror der serbischen Nationalisten zu Zigtausenden ihre Heimat verlieBen. Die autonomistischen Krafte in der Vojvodina geben sich trotz dieser negativen Entwicklung nicht geschlagen. Tabelle 1: Zusammensetzung der Beviilkerung der Vojvodina nach der Volksbefragung von 1991: Serben Ungarn Jugoslawen Kroaten Andere
1.151.353 340.949 168.859 97.644 71. 703
57,25 % 16,94% 8,39% 4,85% 3,56%
Slowaken Montenegriner Rumiinen Rusinen Makedonier
63.941 44.721 38.831 17.887 16.641
3,17% 2,22 % 1,92% 0,88 % 0,82 %
nach: Statisticki godisnjak Jugoslavije, Beograd 1995
Diese ethnische Zusammensetzung hat sich im Laufe der Kriegsjahre erheblich geandert. Es wird geschiitzt, dass zwischen 35.000-38.000 Ungam die Provinz verlassen haben (dem serbischen Helsinki-Komitee zufolge). Gleichzeitig kamen in den Jahren 1991-1995 iiber 200.000 serbische Fliichtlinge in die Vojvodina, also 42% der Gesamtzahl der Fliichtlinge in Serbien. Schiitzungen zufolge verlieBen mindestens 30.000 Kroaten die Provinz. Diese Vorgange nennt man mittlerweile "stille ethnische Siiuberung". Die Folge ist, dass die multikulturelle und pluriethnische Region ihr Geprage vollends zu verlieren und zu einer vorwiegend serbischen Provinz zu werden droht, noch dazu mit einer serbischen Population, die fUr die radikalsten politischen Ausrichtungen, eines Vojislav Seseljs etwa, optiert. Deutsch von Ivan Glaser Redaktionell bearbeitet von Dunja MelCic Literatur Zu Patriarch Crnojevic und seiner Rolle beim Exodus der Serben liegen mehrere Aufsatze von Ratko Veselinovic vor, zusarrunenfassend mit weiteren Literaturangaben in: Enciklopedija Jugoslavij·e, Bd. I (,,Arsenije III Crnojevic"), Zagreb 1980, Bd. 1-6, 1980-1990. Neueste Forschungen bei: Noel Malcolm, Kosovo. A Short History, London 1998, S. 139-162. Slavko Gavrilovic, Srbi u Habsburskoj monarhiji (1792-1849), Novi Sad 1994, (Die Serben in der Habsburger Monarchie); Cedomir/Jelena Popovic, Autonomija Vojvodine - srpsko pitanje, Sremski Karlovci 1993 (Die Autonomie der Vojvodina - die serbische Frage); Helsinki Committee for Human Rights in Serbia, Report on Human Rights in Serbia/or 1997, Belgrad, Jan. 1998; Hans-Ulrich Wehler, Nationalittitenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche Minderheit 1918-1978, GOttingen 1980; Dimitrije Boarov, Ima Ii jOs Vojvodine, Novi Sad 1996 (Gibt es noch die Vojvodina). Uberblicke bieten auch: Horst Glassl, "Vojvodina", in: M. Weithmann (Hg.), Der ruhelose Balkan, Miinchen 1993, S. 293-304; Edgar HOsch, Geschichte der Balkanltinder. Von der Frohzeit bis zur Gegenwart, Miinchen 1988.
6.
Serbien bis 1918 Latinka Perovic
Serbien taucht in den Quellen erstmals im sechsten Jahrhundert n. ehr. in seiner Urform "Weillserbien" auf. Das so bezeichnete Gebiet lag zwischen Weichsel und Dnjepr, wo sich noch heute Uberreste dieses Namens finden lassen. Von dort zogen viele slawische St!imme unter dem Ansturm hunnischer und awarischer Kriegsziige nach Westen und SUdwesten. Dieser gewaltige Migrationsprozess setzte in den ersten Jahrzehnten des siebten Jahrhunderts ein und dauerte fast zwei Jahrhunderte. Nach dem Aufbruch aus ihrer Urheimat iiberquerten die slawischen Stiimme die Karpaten, bewegten sich allmlihlich iiber Dakien und die pannonische Tiefebene auf Save und Donau zu, um dann iiber die Grenzen des Byzantinischen Reiches hinweg in den Balkanraum einzudringen, ohne jedoch eine feste Organisationsform mitzubringen. Erst im Verlaufe von Jahrzehnten entstanden einzelne Volksverbiinde mit eigenen Namen (darunter Serben und Kroaten (~Kap. 1). Der erste sichere Beleg der Bezeichnung der Serben auf der Balkanhalbinsel datiert aus dem Jahre 822.
6.1. Mittelalter Fast drei Jahrhunderte lebten die Slawen - sieht man vom protobulgarisch-slawischen Staatswesen ab - auf dem Balkan ohne echte staatliche Ordnung und beschriinkten sich auf Stammeseinheiten. Erst Ende des neunten Jahrhunderts begannen sich in der Auseinandersetzung mit den miichtigen Nachbarn, vor allem mit Byzanz - im Falle der Kroaten auch mit den Franken und bei den Serben mit den Bulgaren -, slawische Staatsgebilde zu formieren. 1m Verlauf dieser Periode tauchten in mehreren Gebieten, von Duklja (Doclea), Bosnien und Zeta bis Raszien und Makedonien, verschiedene serbische Kleinstaaten und Stammesfiirsten auf. Einer der damaligen serbischen Kleinstaaten erstreckte sich iiber die Bergschluchten Siidostbosniens und der siid6stlichen Herzegowina. Yom Territorium des heutigen Serbien geMrte lediglich ein Streifen der Gebiete bis zur westlichen Morava dazu. Erst gegen Ende des elften und zu Beginn des zwolften Jahrhunderts driingten die Serben starker von den dinarischen Schluchten hinab in die Ebenen des Amselfeldes und der Morava, Gebiete, die dUnn mit den Nachfahren der ursprunglichen illyro-romanischen Bevolkerung besiedelt waren. Ende des elften Jahrhunderts lag die serbische Ostgrenze bei Zvecan, am Ende des zwolften Jahrhunderts bei Lipljan am Fluss ~a, weswegen dieser Kleinstaat lange den Namen Raska (Raszien) trug. Die erste bedeutendere Versammlung der verschiedenen serbischen Gebiete und Kleinstaaten in einem miichtigeren und zentral regierten Staat untemahm Stefan Nemanja, der von 1166 bis 1196 herrschte. Nach Niederlagen gegen Byzanz eroberte
6. Serbien bis 1918
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er von Toplica (Kursumlija) aus zunachst Raszien, darauf Zeta Wld stieB dann entlang des Vardartales Wld im Osten in RichtWlg des Timok vor. Damit dehnten sich die Grenzen Serbiens nach allen RichtWlgen aus, Stefan griindete zahlreiche kirchliche Stiihmgen, darWlter die noch heute imposanten Kloster Studenica Wld Hilandar (letzteres auf dem Berg Athos). Stefans Sohn, der Heilige Sava, erwirkte beim griechischen Patriarchen die TrennWlg der Kirchenorganisation yom Ohrider Erzbistum. Die damit 1219 begriindete Unabhiingigkeit der serbischen orthodoxen Kirche sollte iiber JahrhWlderte von groBter BedeutWlg fUr das Nationalbewusstsein werden (7 Kap. 15).
Die Nemanjiden (NemanjiCi) brachten in den folgenden zweihWldert Jahren mit Stefan Prvovencani (Stefan der Erstgekronte, bis 1228, ab 1217 mit einer yom Papst verliehenen Konigskrone), Konig Milutin (bis 1231), besonders aber mit Zar DuSan fahlge Wld weithin anerkannte Staatsmiinner hervor. Unter ihrer Herrschaft wurde Serbien vergroBert (im Osten bis zum Timok Wld im Sliden bis Velez, Ohrid Wld Skopje mit dem erklarten Ziel, zu den beiden siidlich gelegenen Meeren vorzudringen) Wld wirtschaftlich gestiirkt, so dass es lange die stiirkste Macht auf dem Balkan war. Seine Wirtschaft, besonders die AusbeutWlg von Silber- Wld anderen Bergwerken, gewann an Stiirke. Die ErzgewinnWlg organisierten deutsche Bergleute, die zur Zeit der Tatareneinflille (1241) aus Siebenbiirgen nach Serbien geflohen waren; das Kapital stammte aus Dubrovnik Wld Venedig. Bereits in der zweiten Halfte des 13. JahrhWlderts begann die Arbeit in den Bergwerken, im Jahre 1275 erschien Serbiens erstes Silbergeld. Den territorial en, politischen Wld wirtschaftlichen Zenit erreichte der serbische Staat Wlter Stefan DuSan, der sich nach bulgarischem Vorbild den Zarentitel zulegte. Nach der Schlacht bei Velbu.zd, dem heutigen Kjustendil (1330), wurden die Bulgaren aus dem Vardartal gedriingt, Skopje wurde Zentrum des Reiches, griechische Gebiete bis fast nach Thessaloniki Wld ganz Albanien standen nWl Wlter serbischer Herrschaft. Das serbische Geistesleben, besonders die RechtsprechWlg (Zakonik, Kodex des DuSan) Wld andere Formen der Eigenstaatlichkeit nahmen Konturen an. 1346 erhob eine Synode den serbischen Erzbischof zum Patriarchen, worauf dieser Stefan zum ,,Kaiser der Serben Wld Griechen", spater auch der Bulgaren Wld Albaner kronteo Diese HerausfordefWlg beantwortete Konstantinopel 1353 mit dem Kirchenbann. Nach Zar DuSans friihem Tod im Jahre 1355 drohte das noch kaurn gefestigte Reich mit seinen groBen nichtslawischen BevolkefWlgsteilen zu zerfallen, wozu die Schwiiche von DuSans Thronfolger Stefan Uros V. (1355-71) beitrug. Durch AbspaltWlg entstanden winzige, haufig verfeindete Fiirstentiimer. 1m Siiden fielen die griechischen Gebiete ab, urn Skopje Wld Prilep schufKonig Vukasin einen Kleinstaat, zahlreiche weitere Wlbedeutende Potentaten iibernahmen im ehemaligen Zarenreich DuSans die Herrschaft. Dies begiinstigte den Aufstieg der bosnischen Herrscher, die sich im 14. JahrhWldert von der Wlgarischen Oberhoheit emanzipierten. 1377 lieB sich der bosnische Herrscher Tvrtko I. (1353-91) sogar zum Konig der Serben kronen (7 Kap. 3).
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6.2. Tiirkische Herrschaft Die Zersplitterung erleichterte den Durchbruch der Tiirken ins Innere des Balkans erheblich. Zuniichst fiigten sie an der Marica (1371) Konig VukliSin eine entscheidende Niederlage zu, worauthin dessen Sohn Marko Kraljevic sowie voriibergehend auch die Dejanovics tiirkische Vasallen wurden. Eine weitere vernichtende Niederlage erlitt Lazar Hrebljenovics serbischer Staat mit seinen Verbiindeten, darunter Bosnier, wohl auch Ungarn und Albaner, achtzehn Jahre spiiter (an einem Veitstag, dem 28. Juni 1389) auf dem Amselfeld (Kosovo polje), woraufhin ganz Nordserbien tiirkischer Vasallenstaat wurde. Dabei kamen sowohl Hrebljenovic als auch der tiirkische Sultan urns Leben, letzterer durch den serbischen Adligen Milos Obilic. Sehr schnell entstanden urn die Ereignisse - vor allem urn serbischen Verrat und Obilics Opfertat - Volksepen und kirchliche Legenden. Dieser Kosovo-Mythos bildet fUr das serbische Yolk das Zentrum seines historischen Bewusstseins und damit seines Geschichtsdenkens. Besonders im 19. Jahrhundert hatte dieser Mythos eine wichtige Funktion im nationalen Befreiungskampf, doch spiitestens seine politische Verwendung seit Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und die damit verbundene Konstruktion der serbischen Geschichte als Opfergang fiihrte zu einer Instrumentaiisierung des Mythos zum Zweck der nationalistischen Mobilisierung. (7 Kap.19)
Unter dem Druck der aus dem Suden vordringenden Tiirken verlagerte sich das Zentrum des serbischen Staates zunehmend naeh Norden. In der Zeit von Nemanja bis Milutin war die serbisehe Expansion naeh Osten, von der Neretva zum Vardar gerichtet, zur Zeit DuSans naeh Suden, als die Grenzen des Zarenreiches fast bis Thessaloniki reichten. Nach der Niederlage an der Mariea verschoben sie sich unabliissig nach Norden: Der Sitz des Fiirsten Lazar war KruSevae, der seines Sohnes, des Despoten Stefan, Belgrad. 1m vierzehnten Jahrhundert war der Vardar serbischer Hauptfluss, im fiinfzehnten Jahrhundert die Morava. Von Beginn des fiinfzehnten Jahrhunderts an eroberte das tiirkische Heer, nur durch das Vordringen der Mongolen unter Tamerlan zeitweilig aufgehalten, einen christliehen Balkanstaat nach dem anderen. Ein GroBteil der tiirkiseh-ungarischen Schlachten wurde auf serbischem Boden ausgefochten, aber auch ein letzter Sieg unter dem ungarischen Heerfiihrer Hunyadi 1456 vor Belgrad konnte den Vonnarsch der Tiirken nieht umkehren. Serbien fiel endgilltig im Jahre 1459, die Unterwerfimg Zetas (7 Kap. 7) war 1499 abgeschlossen. Dies fiihrte zu einer Massenflucht der serbischen Bevolkerung naeh Sudungarn. Der ungarische Konig Matthias vennerkte, dass allein in den fiinf Jahren zwischen 1478 und 1483 etwa 200.000 Serben in sein Land geflohen seien. SehlieBlieh wurde Serbien tiirkisches Paschalyk (Verwaltungseinheit). Es begann eine mehr als 400 Jahre lange Periode serbischer Knechtschaft unter den Tiirken, die danaeh strebten, die Serben beim Vonnarsch aufUngarn einzusetzen und von ihnen wirtsehaftlich zu profitieren. Die Tiirken drangen so gut wie gar nicht in die Dorfer vor. Sie besetzten kleine Stiidte, Verkehrskreuzungen und Ansiedlungen entlang der Hauptverkehrswege und verwandelten sie in Stiidte mit islamisierten slawischen und tiirkisehen Bewohnem, aber aueh starken armenischen, griechisehen,
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spanisch-jUdischen und ,,lateinischen" (Dubrovniker) Kolonien. Ursprunglich, als das Kosovo und die Metohija sowie das Moravabecken zu Serbien kamen, waren die Serben in der Landwirtschaft, spater auch im Bergbau tiitig. Mit der Tilrkenzeit begann der Ri1ckzug der Serben in die Gebirge und damit verbunden eine Ver1inderung ihrer wirtschaftlichen Grundlagen. Die ursprungliche Bezeichnung "Wlache" fUr Viehhirten romanischer Herkunft wurde nun auf Grund der von Viehzucht und Gebirge gepragten Lebensweise allgemein auf alle christlichen Serben iibertragen. (~Kap. I) Die st1indigen Kriege zwangen der serbischen Raya (christliche Steuerpflichtige) immer mehr Steuern und Abgaben auf. UnaufhOrlich wurden die Verkehrswege von Kriegerhorden gekreuzt, die unterwegs pliinderten und die serbische Bevolkerung dezimierten. ,,Alles, was wir besaBen", heillt es in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1537, ,,nahm man uns - der eine, als er kam, der andere, als er abzog". Ein Gegengewicht zur tiirkischen Herrschaft bildete die serbische Geistlichkeit. Verhaftet in der Tradition der Nemanjiei, gelang es ihr, da das tiirkische Millet-System den Christen ihre innere Jurisdiktion belieB, Macht und Einfluss der Orthodoxie aufrechtzuerhalten. Zeitweilig lieBen die Tilrken auch Milde waiten, vor allern, urn die Serben fUr den Kampf gegen die ungarischen, kroatischen und venezianischen Nachbarn zu gewinnen. Unter dem Grosswesir Mehmed Pascha Sokolli (Sokolovie), der aus Serbien stammte, erlaubten sie die Emeuerung des serbischen Patriarchats in Pee (1557), nachdem sie 1459 die serbische Orthodoxie dem Ohrider Patriarchat unterstellt hatten. Umgekehrt kam es zu grausamen Repressalien gegen die serbische Bevolkerung, als jene in der HofIoung auf Befreiung den osterreichischungarischen Kampf gegen die Tilrken unterstiitzte. So geschah es nach 1683, als das osterreichische Heer mit Hilfe serbischer Truppen vor Wien die tiirkische Armee schlug und dann tief nach Siidserbien bis nach Tikve~, Pee und Prizren vordrang. Als sich jedoch das Kriegsgliick wendete und das osterreichische Heer aus Furcht vor einem Ausbruch der Pest in seinen Reihen den Riickzug antrat, brachen fUr die Serben (und die anderen Christen unter tiirkischer Hoheit) schwere Zeiten an. Kompromittiert durch die offene Hilfe fUr die Feinde der Osmanen, wagten die serbischen FUhrer sowie ein groBer Teil des Volkes nicht, die Riickkehr der Tilrken abzuwarten, sondem begannen 1689, sich mit den Osterreichem zuriickzuziehen. Auch der Patriarch Arsenije III. Cmojevie floh mit der groBen Masse der Serben nach Siidungarn. (~ Kap. 5) Damals verOdeten viele Dorfer, verfielen Haushalte, wurden viele serbische Kloster wie Milesevo, Ravanica, Durdevi Stubovi, der Sitz des Patriarchen in Pee sowie Decani verwiistet und gepliindert. Mit dem Patriarchen zogen viele angesehene Grundherren und bedeutende Personlichkeiten, wiihrend das Yolk sozusagen alleine blieb und okonomisch ausgelaugt und physisch misshandelt eine der schwersten Perioden seiner Geschichte durchlebte. Nach einem neuen osterreichisch-tiirkischen Krieg, fielen serbisch besiedelte Gebiete siidlich von Save und Drau im Frieden von POZarevac (Passarowitz, 1718) unter die Herrschaft Osterreichs und die Situation der Serben wurde ertraglicher. Dabei blieb es bis zu einer erneuten Niederlage Osterreichs (1739), das nun die serbischen Gebiete raumte. Save und Donau bildeten jetzt die Grenze zweier groBer Reiche, zwischen denen das friihere Serbien als beidseitig befriedetes Grenzgebiet lag.
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Wahrend nach der emeuten Aufhebung des Pecer Patriarchats durch die Tiirken 1766 und der damit verbundenen Grazisierung des Klerus sich die kulturelle Situation der Serben im Osmanischen Reich verschlechterte, trat fUr die Serben in Ungam unter der Herrschaft des aufgekliirten Kaisers Joseph II. eine Wendung zum Besseren ein. Dieser erlieB im Jahre 1781 sein Toleranzpatent, das auch Nichtkatholiken freie Religionsausiibung gewiihrte. Ungeachtet allgemeiner Missstande kam den Serben in geistig-kultureller Hinsicht zugute, dass sie in einem Milieu lebten, das in Kontakt mit der modemen Zivilisation stand. Mit Hilfe russischer Lehrer schufen sie im Verlaufe des 18. Jahrhunderts einige Grund- und Mittelschulen, wiihrend eine betrachtliche Anzahl junger Serben die Hochschulen in Pest, Wien und in Deutschland besuchten. Aus diesen Kreisen heraus entwickelte sich mit Dositej Obradovic (17391811) an der Spitze eine von der Aufkliirung gepragte Literatur, doch man pflegte auch weiterhin mit Liebe die nationale Tradition und den Vergangenheitskult. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts sammelte sich eine Gruppe nationaler Aktivisten mit groBeren Ambitionen urn den Metropoliten Stefan Stratimirovic (17571836), der Russland die Errichtung eines "slawisch-serbischen Kaiserreichs" vorschlug.
6.3. Aufstand gegen die Tiirken Verstiirkte HofInungen auf eine weitere Verbesserung ihrer Lage wurden bei den Serben auch durch die Tatsache geweckt, dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts Russland als Konkurrent Habsburgs auf dem Balkan erschien. Dadurch wurden Unabhangigkeitsbestrebungen geweckt und geschiirt, die auch den Kampf urn die Befreiung von den Tiirken neu belebten. Rebellionen und bewafInete serbische Gruppierungen (Heiducken) nahmen besonders nach den russisch-osterreichischen Kriegen gegen die Tiirken in den Jahren von 1787 bis 1791 zu. Der serbische Widerstand richtete sich besonders gegen die Janitscharen, tiirkische Elitetruppen, die Ende des 18. Jahrhunderts die BevOlkerung des Belgrader Paschalyks terrorisierten. Zunachst hatte der tiirkische Statthalter die Serben gegen die rebellischen Janitscharen sogar bewafInet, doch die serbische Gegenwehr wuchs sich zum Freiheitskampf gegen die tiirkische Besatzung tiberhaupt aus. Daraufhin versuchten die Janitscharen, die zeitweilig aus Serbien abgezogen worden waren, jeden weiteren Aufstand groBeren AusmaBes zu vereiteln. Dazu gehOrte, dass sie ein Massaker an den Knezen (Dorfaltesten) veriibten; im Verlaufe einer einzigen Nacht im Januar 1804 enthaupteten sie 72 Bauemfiihrer und andere angesehene Serben aus ihrem gesamten Herrschaftsgebiet. als Reaktion auf diese Graueltat brach Ende Januar 1804 in der gesamten Surnadija (zentralserbisches Gebiet zwischen Morava und Drina) ein Volksaufstand gegen die Tiirken aus (I. Serbischer Aufstand). Auf einer Versammlung angesehener Serben in Orasac wurde Karadorde Petrovic (ca. 1768-1817), ein Viehhandler und Analphabet, aber mutig und tiber militiirische Erfahrungen in der osterreichischen Armee verfiigend, zum Anfiihrer der Erhebung gewiihlt. Innerhalb von wenigen Wochen beteiligten sich 50.000 BewafInete an dem Aufstand, der bis zum
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Sommer das gesamte Belgrader Paschalyk erfasste. Schnell gelang die Zuriickdrangung der Janitscharen, die Rohe Pforte schlug angesichts der MassenerhebWlg ErleichtefWlgen innerhalb des Osmanenreichs vor. Die Serben, die Wlter Karadorde bereits erste staatliche Strukturen aufzubauen begannen, verlangten, dass ihre Autonomie zunachst von Osterreich, spater von Russland garantiert werden sollte. Die Rohe Pforte sab darin EinmischWlg in ihre inneren Angelegenheiten Wld lehnte abo Somit kam es zu bewaffueten Auseinandersetzungen zwischen Aufstandischen Wld der osmanischen Armee, aus denen die Serben, die 1806 Belgrad einnahmen Wld seit 1807 von Russland WlterstUtzt wurden, zumeist als Sieger hervorgingen. 1812 eroffnete der russisch-tiirkische Friedensschluss von Bukarest erstmals die Moglichkeit einer serbischen Autonomie Wlter tiirkischer Rerrschaft. Doch als noch im selben Jahr Russland von den Armeen Napoleons bedrangt wurde, nutzten die Osmanen das Nachlassen des russischen Drucks auf den Balkan, schlugen den serbischen Aufstand nieder Wld eroberten 1813 Belgrad zuriick. Karadorde Wld zahlreiche Reerfiihrer flohen nach Osterreich, dann nach Russland, doch trotz harter tiirkischer VergeltWlgsmaBnahmen lieB Serbien sich nicht mehr befrieden. Standig gab es kleine ortliche Unruhen, 1815 erging aus Takovo der Aufruf zu einer neuen allgemeinen ErhebWlg (II. Serbischer Aufstand). An der Spitze stand Milo§ Obrenovic (17801860), der, von !ihnlicher sozialer Rerkunft wie Karadorde, zwar weniger wagemutig als dieser, doch der politisch geschicktere Taktierer war. Durch den Sieg fiber Napoleon verstarkte sich der russische Einfluss in Europa, wovon Serbien profitierte. In Istanbul verwandte man alles diplomatische Geschick darauf, eine ausschlieBliche BindWlg von Milos an Russland zu verhindern, Wld ernannte ibn zum Obersten Fiirsten (Vrhovni knez) des Belgrader Paschalyks. Milos nutzte geschickt die tiirkische Politik aus, brach aber dennoch nicht seine VerbindWlg zu Russland abo Er fiihrte VerhandlWlgen, wamenddessen Serbien sich wirtschaftlich Wld kulturell erholen konnte. Seinen Konkurrenten Karadorde lieB Milo§ 1817 nach dessen Rfickkehr nach Serbien ermorden Wld sandte seinen abgeschlagenen Kopf nach Istanbul. Damit begann eine erbitterte Konkurrenz zweier Dynastien, die das ganze 19. JahrhWldert fiberschattete.
6.4. Serbische Autonomie im Osmanischen Reich Die LOSWlg der serbischen Frage brachte das Eingreifen Russlands Wlter dem Zaren Nikolaus I. Nach einem erfolgreichen Krieg (1828-29), der auch zur BefreiWlg Griechenlands Wld der rumanischen Donaufiirstentiimer fiihrte, zwang er die Tiirken, den Serben in UbereinstimmWlg mit dem nicht verwirklichten Abkommen von Bukarest von 1812 Autonomie einzuraumen. 1830 erkannte die Rohe Pforte Serbien als autonomes Fiirstentum Wlter der Oberhoheit des Sultans, aber Wlter dem Schutz des russischen Zarenhofs an. Gleichzeitig wurde Milos Obrenovic zum serbischen Erbfiirsten. Nach den langen Wld schweren Zeiten Wlter osmanischer Herrschaft richtete sich Serbien Wlter der Herrschaft Milo§ Obrenovics schrittweise auf. Tiirkische Sipahis
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(Besitzer von Lehensgiitem) gaben ihre Giiter auf, serbische Bauem konnten auf diese Weise und durch Waldrodung ihren Besitz vergroBem. Der Handel, besonders Ein- und Ausfuhr entwickelten sich sprunghaft. Die Verkehrsbedingungen waren zunachst hOchst unzureichend, StraBen gab es wenige. Fiirst Milos, der auch auBerlich im Stile eines osmanischen Herrschers regierte, ordnete daher haufig Frondienst an, um diesen Missstand zu beseitigen. Bis zum Aufstand hatte es im Landesinnem Serbiens fast keine christlichen Schulen gegeben. 1836 waren es bereits 60, und zwei Jahre spater wurde in Belgrad das erste Lyzeum gegriindet. Die ersten Postamter und Banken wurden eroffnet und verschiedene staatliche und soziale Institutionen ins Leben gerufen. Solche hatte es fUr Serben zuvor nur unter ungarischer Herrschaft gegeben, wo mit Einrichtungen wie dem ersten Gymnasium 1792 oder mit einer wachsenden Kaufmanns- und Biirgerschicht die serbische Nationalbewegung ihren eigentlichen Ausgang nahm (7 Kap. 5). Nachdem in Budapest schon 1826 die Kulturvereinigung Matica srpska (eigentlich "serbische Bienenkonigin") gegriindet worden war, entstand im Juli 1842 in Belgrad eine entsprechende "Gesellschaft fUr serbisches Schrifttum" als wissenschaftliche und literarische Organisation. Die Autonomie der Orthodoxen Kirche wurde in Serbien 1832 wieder hergestellt, in der Form der Autokephalie allerdings erst 1879. Auf kultureller Ebene ereigneten sich tief greifende Veranderungen. Vuk Stefanovic KaradZic (1787-1864) verfasste sein Worterbuch und fiihrte eine Reform von Sprache und Rechtschreibung durch, die aUerdings eine Identifizierung von Serbentum und Sprache einschloss, aus der sich weitreichende serbische Gebietsanspriiche ableiten lieBen. Vuk Karadzic sammelte Volkslieder, die in Europa groBe Aufmerksamkeit fanden und gerade in Deutschland von Goethe und Jacob Grimm begeistert aufgenommen wurden. (7 Kap. 17,7 Kap. 18) In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Polarisierung zwischen dem Lager der Aufklarung und dem Rationalismus zugeneigten Schriftstellem und einer eher der Romantik zuzuordnenden Bewegung. Dem entsprach eine Kluft zwischen den Anhangem eines ,,neuen" und eines "alten" Bewusstseins im Volke. Das ,,Alte" war eine Mischung aus heidnischen Elementen und einer volkssprachlichen und, des Analphabetismus wegen, nicht schriftgebundenen Religiositat, da die Osmanen und das Konstantinopoler Patriarchat die Entwicklung einer slawischen Schriftkultur zugunsten des Griechischen verhindert hatten. Der in Ungam ausgebildete Dositej Obradovic, der noch unter Karadorde Unterrichtsminister geworden war, aber auch Kleriker wie Stefan Stratimirovic und Bischof Lukijan Musicki wollten das heidnische Erbe der Volkskultur iiberwinden. Die Kirche leistete jedoch auch gegen die Aufwertung der Volkssprache durch KaradZic und seine Orthographie Widerstand und verteidigte das Kirchenslavische. Dennoch setzte sich, mit Vuk KaradZic und dem Montenegriner Njegos an der Spitze, die serbische Literatur in romantischer Pragung durch, wodurch gerade das heidnische Kulturerbe, eine heroische und kampibetonte Lebensphilosophie der Volkslieder und -epen sowie deren Sprache gefestigt wurden. Der Konflikt zwischen Patriarchalitat und Modernisierung, zwischen Kollektivismus und Individualismus, letztlich zwischen einer "ostlichen" und einer "westlichen" Ausrichtung hat sich spiirbar bis in die heutigen Tage verlangert.
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Nicht nur kulturell, auch politisch setzte sich im 19. Jahrhundert keine grundlegende Modernisierung durch. Die Herrschaft des Fiirsten Milos, der potientielle Konkurrenten ohne zu zagem aus dem Weg rliumen lieB, stieB im Volk auf breiten Widerstand. Die Opposition forderte eine Verfassung, und nachdem es 1835 zum ofIenen Aufstand gekommen war, wurde Milos 1838 auf Druck Russlands von der Hohen Pforte eine Verfassung aufgezwungen, und zugleich damit ein siebzehnk6pfiger Senat (Savet), der ihn kontrollieren soUte und dessen Mitglieder er nicht auswechseln konnte. Nach In-Kraft-Treten der Verfassung wuchs der Einfluss der Ustavobranitelji ("Verfassungsverteidiger", Konstitutionalisten), darunter Vu~ic, Petronijevic, die Gebriider Simic, HadZi.-Milutin GaraSanin und sein Sohn Ilija, die ihren Rlickhalt im entstehenden wohlhabenderen Biirgertum hatten und seit Beginn der 1830er Jahre gegen Milos opponiert hatten. Nach Riicktrittsforderungen des Senats verlieB Fiirst Milos 1839 Serbien und iibergab die Macht seinem Sohn Mihailo. Doch nach drei Jahren wurde die Dynastie der Obrenovics durch die der Karadordevics abgelost. Wiihrend der Herrschaft Aleksandar Karadordevics (1842-1859) kam Serbien kulturell gut voran. 1m Jahre 1844 wurde nach dem Muster des 6sterreichischen biirgerlichen Gesetzbuches ein biirgerliches Recht, im Jahre 1846 ein Oberster Gerichtshof eingefiilirt. Die Zahl der Grundschulen stieg auf 343 an, femer wurden einige Fachmittelschulen gegriindet. Das Belgrader Lyzeum wurde in eine Hochschule verwandelt und die nach dem Wechsel der Dynastien verbotene "Gesellschaft fiir serbisches Schrifttum" wurde emeuert. 1853 wurde die Nationalbibliothek und im Jahre 1848 beim Innenministerium eine Ingenieursschule er6fInet, 1855 schlieBlich nahm man den Telegraphenverkehr auf. 1844 formulierte der Innenminister llija Garasanin (1812-74) ein geheimes Memorandum (Nacertanije) an Aleksandar. Der ,,Entwurf" zielte auf die Vereinigung aller Serben (bzw. auch der von GaraSanin als "Serben" definierten meisten ubrigen SUdslawen) in einem Staat, was nur nach einem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Zuriickdriingung Osterreichs m6glich ware, wobei Serbien sich nicht zu sehr auf Russland smtzen diirfte. Da dieses erste groBserbische (und kaum als ,jugoslawisch" zu deutende) Nationalprogramm auBenpolitischen SprengstofI barg, ging Serbien behutsam vor und beschriinkte sich aufverdeckte antiosmanische Propaganda. (~Kap. 14) Die zurUckhaltende AuBenpolitik Aleksandars fiilirte auch dazu, dass wiihrend der Revolution 1848 Serbien seinen Landsleuten unter 6sterreich-ungarischer Herrschaft keine nennenswerte Hilfe leistete. Wegen seiner vorsichtigen Annaherung an Osterreich verlor Aleksandar die Unterstiitzung der starker nach Russland orientierten Kreise. Die Ubermacht des Beamtentums, das System seiner personlichen Herrschaft und die schlechte Lage der Landbev6lkerung hatten die liberale Intelligenz gegen ihn aufgebracht. Die 1858 erstmals einberufene Volksversammlung, die Skupstina, setzte daher 1859 seine Abdankung durch. Emeut kamen die Obrenovics an die Macht, zuniichst fiir kurze Zeit der alte FUrst Milos und nach dessen Tod (1860) fiir acht Jahre sein Sohn Mihajlo, ein europiiisch gebildeter Vertreter der reformfreudigerenjiingeren Generation, der 1861 eine relativ liberale Verfassung einfiilirte. In dieser Zeit wurden die wichtigsten europiiischen
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Llinder, besonders Deutschland und ltalien, von starken nationalistischen Einigungsbewegungen erfasst. Diese Stromungen fanden 1866 mit der Griindung der "Vereinigten serbischen Jugend", der Omladina-Bewegung, zu deren fiihrenden Gestalten auch der aus der Vojvodina stammende Svetozar Miletic (1826-1901) gehOrte, in Serbien ihren Widerhall. Als AuBenminister und Regierungschef konnte Ilija Garasanin nun sein politisches Programm weitertreiben und Biindnisse mit den Staaten und Befreiungsbewegungen des Balkan schlieBen, wodurch in Umrissen erstmals das Konzept einer Balkanf6deration hervortrat. 1m Jahre 1867 kam es zu einer bedeutsamen Erweiterung des serbischen Autonomiestatus: Die Pforte iibergab die letzten nach einer Reduzierung der tiirkischen Prasenz 1862 noch verbliebenen Garnisonen an Serbien. Die tiirkische Verwaltung verschwand damit endgilltig aus den serbischen Stadten. FOrst Mihajlo hoffie, auf 1ihnliche Weise auch Bosnien aus der osmanischen Herrschaft lOsen zu konnen, doch seine Ermordung unter unklaren Umstiinden im Mai 1868 machte diese Plline zunichte. Mit Hilfe des Militiirs wurde der damals minderjahrige Milan Obrenovic auf den Thron gebracht, die Regierungsgeschafte iibemahm der Regent Jovan Ristic. Dieser wurde von den Liberalen unterstiitzt, denen es 1869 bereits ohne osmanische Einmischung gelang, eine Verfassung durchzusetzen, die der noch an Zensuswahlen gebundenen Skupstina legislative Funktionen verlieh. Die endgiiltige Befreiung von den TOrken begann 1875 mit dem Aufstand in Bosnien-Herzegowina, der Serbien und Montenegro, dann 1876-1878 auch Russland in den Krieg gegen das Osmanische Reich hineinzog. Doch im Friedensvertrag von San Stefano setzte Russland die Schaffimg eines GroBbulgarien auf Kosten Serbiens durch. Durch das Beharren der westeuropaischen Machte wurde jedoch auf dem Berliner Kongress 1878 der Frieden von San Stefano revidiert. Serbien und Montenegro erhielten die Unabhiingigkeit, Serbien wurde im Siiden eine Gebietserweiterung urn vier Landkreise zugesprochen, Montenegro erhielt die Gebiete von Podgorica und Niksic sowie den Zugang zum Meer, Makedonien wurde dem neuen bulgarischen Staat wieder weggenommen und blieb unter osmanischer Herrschaft. Bosnien-Herzegowina kam unter die Herrschaft Osterreich-Ungarns, das 1879 auch den Sandschak Novi Pazar besetzte, auf den Serbien Anspruch erhoben hatte.
6.5. Das Konigreich und der Kampf um die Modernisierung Das Jahrzehnt zwischen 1878 und 1888 war eine der dramatischsten Epochen in der modemen Geschichte Serbiens. 1m Parlament war die Annahme der auf dem Berliner Kongress gefassten Beschliisse heftig urnstritten. In den unversohnlichen politischen K1impfen des ersten Jahrzehnts der staatlichen Unabhiingigkeit war von entscheidender Bedeutung, auf wessen Seite die Krone stand. FOrst Milan Obrenovic bezeichnete die Zeit nach den Kriegen von 1876-1878 und nach Erlangung der Unabhiingigkeit als Auszug Serbiens "aus den Grenzen eines patriarchalischen Staates" und als Beginn eines schweren, doch weitreichenden Werks, sich von innen heraus als modemer Staat zu formieren.
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AuBenpolitisch blieb Osterreich-Ungam unter den Obrenovics bis zum Ende der Dynastie 1903 die dominierende Option, nachdem sich 1878 Russland einseitig fUr Serbiens Rivalen Bulgarien entschieden hatte Wld da zwischen Serbien Wld Osterreich-Ungam immer engere wirtschaftliche BeziehWlgen bestanden. 1881 wurde ein geheimes politisches Abkommen mit Wien geschlossen, femer Handelsvertriige, die erste serbische Eisenbahnlinie wurde von einer osterreichisch-fra.nz6sischen Gesellschaft gebaut. Gegen die proosterreichische Politik wuchs der Widerstand der radikalen Opposition, doch die ErhebWlg Serbiens zum Konigreich 1882 festigte zunachst die Position der herrschenden Dynastie Wld ihrer RegiefWlg Wlter dem Premierminister Milan Pirocanac von den liberalen Fortschrittlem (Naprednjaci). Trotzdem fUhrte die SpaltWlg der politischen Elite Serbiens zu tiefen Wld dauerhaften historischen Dilemmata, die dem fUr Russland so charakteristischen Gegensatz zwischen Slawophilen Wld Westlem in vielem vergleichbar sind. Entscheidend war dabei die Schliisselfrage nach der RichtWlg, in die sich Serbien nach ErlangWlg der Unabhangigkeit entwickeln sollte. Die eine Antwort darauf gaben die 1858 gegriindeten Liberalen bzw. danach die Fortschrittler, die andere die Radikalen, die an die sozialistische StromWlg ankniipften, die seit der SpaltWlg der Omladina-BewegWlg 1871 dort neben einer liberalen RichtWlg bestand. FUhrer der liberalen StromWlg in der Omladina war Vladimir Jovanovic (18331922), einer der ersten Serben - zumal nicht aus den osterreich-Wlgarischen Teilen , die Europa bereist hatten Wld der dort viele BeziehWlgen gekniipft hatte. Als Nationalromantiker, der iiberzeugt war, die Serben batten schon im Mittelalter eine demokratische GesellschaftsordnWlg besessen, hatte er klare VorstellWlgen vom Privateigentum als GfWldlage personiicher Freiheit Wld parlamentarischer Demokratie. An der Spitze der entgegengesetzten StromWlg stand Svetozar Markovic (18461875), der Begriinder des serbischen Sozialismus. Markovic, zeitweilig Student an einer russischen Hochschule, entwickelte nach dem Vorbild russischer revolutionarer Ideologen, besonders Tschemyschewskis, die Doktrin eines Volkssozialismus, der auBerhalb Russlands nirgends einen solchen Einfluss hatte wie in Serbien, wo er die (politische) Geschichte in der zweiten Halfte des 19. JahrhWlderts entscheidend pragte. Die Elemente dieser Doktrin bestanden in (1) der VermeidWlg des Weges, den die westlichen Volker gegangen waren, (2) im Glauben an die Riickstlindigkeit als Vorteil Wld (3) im Kampf gegen eine AusdiiIerenziefWlg der Gesellschaft in Schichten, (4) gegen einen vermeintlichen Rechtsformalismus Wld (5) gegen die InstitutionalisiefWlg des Staates, besonders des Beamtentums. Der Volksstaat als Gegensatz des Rechtsstaates, dies war der ideologische Kempunkt des Volkssozialismus, aus dessen Positionen heraus man gegen die ModernisierWlg des Staates Widerstand leistete. Hauptgarant des Volksstaates sollte danach eine Volkspartei sein, die iiber ein System der Selbstverwa1tWlg die Volksdemokratie verwirklichen sollte. Der serbische Historiker Wld Rechtstheoretiker Slobodan Jovanovic erkllirte das Auseinanderbrechen des BOndnisses zwischen Fortschrittlem Wld Radikalen als Folge von Fehlem beider Parteien. Die Fortschrittler hatten seiner MeinWlg nach den Fehler begangen, ihre erste RegiefWlg im Jahre 1880 ohne die Radikalen zu bilden, Wld waren deswegen ,,nur eine Gruppe von Intellektuellen geblieben, die ohne die
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Hilfe radikaler Demagogen und Volkstribunen keine Mehrheit im Volke gewinnen konnten". Die Radikalen wiedenun, so meinte Jovanovic, "vermochten nicht abzuwarten: 1880 wurden sie zu ,Kommunisten', ,Republikanem' und ,KaradordevicAnhiiogem' erkHirt und hatten nicht viele Aohlinger in den Kreisen der htiheren Intelligenz, aus denen man die Minister beriet". Doch es ging nicht urn verschiedene Taktiken, die nur aufgrund politischer Fehler nicht zusammenfanden, sondem urn Folgen zweier fundamental unterschiedlicher politischer Philosophien - niimlich einer liberalen und einer volkstiimlerisch-,,radikalen". Nicht nur zwei verschiedene Demokratieauffassungen standen sich damit gegeniiber - eine liberale, parlamentarische und eine direkte, an Yolk und Selbstverwaltung orientierte -, sondem mit Osterreich und Russland auch zwei auBenpolitische Orientierungen, die zudem das Paradigma des Westens und des Ostens vertraten. Dies spiegelte sich in den beiden Verfassungsentwiirfen, die seit 1882 vorlagen: einer von den Radikalen mit Konventcharakter und einer von den Fortschrittlern, der nach einem repriisentativen System strebte. FUr die Fortschrittler, die zweifellos an der Spitze der damaligen nicht nur politischen, sondern auch intellektuellen Elite standen, hob Pirocanac 1879 hervor, dass die "Vorstellungen iiber staatliche Fragen ... noch nebulas und nicht entwickelt sind". Er wies daraufhin, dass die Einhaltung von Gesetzen eine Bedingung ,,fiir jeden gesellschaftlichen Fortschritt ist" und dass Serbien zu einer reprlisentativen Demokratie kommen miisse, "welche die bislang vollkommenste Herrschaftsform ist". Dnd Stojan Novakovic erkliirte ein Jahr spiiter: "Wir stehen vor der Wahl, ob wir in der Kultur der westlichen Welt einen Feind sehen wollen, vor dem wir fliehen miissen, oder ob wir in ihr den iilteren Kameraden und Lehrer sehen wollen, mit dem es sich lohnt zu verkehren und mit dem wir verkehren miissen. " Von dieser Welt habe die Menschheit "allgemeine Vorstellungen von Menschlichkeit, Aufklilnmg, Recht und Ordnung empfangen, aber auch Postiimter, Telegraphen, Eisenbahnen, gemeinsame Malle usw.". Aber gerade diese Modemisierungen, die die Fortschrittler in einer Revolution von oben durchsetzten, lehnten die Radikalen abo Sie stimmten lediglich fUr die liberalen Gesetze zur Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und zur Gerichtsbarkeit. Diese Reformen, die in einer Zeit des bedingten Biindnisses zwischen Radikalen und Fortschrittlem eingebracht wurden, hatten fUr die Radikalen instrumentellen Wert: Sie gaben ihnen weitliiufigen Raurn fUr ihre Organisation und Propaganda. AIle iibrigen Gesetze stieJ3en auf den starren Widerstand der Radikalen, einige von ihnen wurden erst eingebracht, als die Radikalen im Jahre 1882 die Volksversammlung verlassen hatten. Sie betrafen das stehende Heer, den Eisenbahnbau, die GrUndung der Nationalbank, die Grundschulen, den Schutz der Volksgesundheit sowie die Bekiimpfung von Viehseuchen, zu der Serbien durch eine internationale Veteriniirkonvention verpflichtet war. Den Grund fUr die Ablehnung der Modemisierung legte der FUhrer der Radikalen Nikola Pasic (1846-1926) dar, wobei er sich auf die Interessen des Volkes berief, die er mit denen seiner Partei gleichsetzte. In den Auseinandersetzungen in der Volksversammlung urn die Richtung der inneren Entwicklung Serbiens erblickte PaSic das Aufeinanderprallen zweier Staatsideen. Dabei sah er in allen von den Fortschrittlem eingeleiteten Reformen eine Frucht fremder bzw. asterreichisch-ungarischer Enfliisse. In einer Debatte urn den Bau der ersten innerserbi-
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schen Bahnlinie durch ausllindische Gesellschaften im Jahre 1882 erkliirte er: ,,Die Idee unseres Volkes ist die Idee von Befreiung und Vereinigung; die Idee des osterreichisch-ungarischen Staates aber, besonders in neuerer Zeit, ist die Idee der Ausdehnung nach Siidosten. Diese beiden Staaten sind immer aneinander geraten und werden auch in Zukunft aneinander geraten." Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch PaSics vielseitige Aktivitaten in der Volksversammlung - von 1878 bis 1903. Er bestimmte die Standpunkte der Radikalen zu allen Schliisselfragen, nach denen die Fundamente Serbiens als moderner Staat nach westlichem Vorbild geschaffen wurden. Die Auseinandersetzung datiiber spiegelte sich in der Volksmeinung, die freilich mit iiberwiegender Mehrheit zu den Radikalen tendierte. 1m ungebildeten Yolk wurde Riickstlindigkeit mit nationaler Identitat gleichgesetzt, wahrend ein Teil der politischen Elite gerade diese Riickstlindigkeit bewusst im Kampf gegen die Modernisierung des Staates einsetzte. Die Kluft zwischen den Moglichkeiten einer unterentwickelten Wirtscbaft und den Bediirfuissen eines modernen Staates versuchten die Fortschrittler durch zahlreiche indirekte Steuern zu iiberwinden, die die nach den Kriegen verarmte Bevolkerung belasteten. Die FUhrer der Opposition wussten wohl, dass der Ubergang zu einem modemen Staat seinen Preis hatte, doch suchten sie daraus fUr die engen Interessen ihrer Partei Kapital zu schlagen. So gelang bei den Skup§tina-Wahlen im September 1883 den Radikalen ein deutlicher Sieg. Nachdem darauf der Konig den konservativen Ministerprasidenten Hristic emannt batte und dieser das Parlament aufioste, gingen die Radikalen im November 1883 am Timok zum offenen Aufstand iiber, der blutig unterdriickt wurde. Diese Ereignisse verlangsamten den Prozess der staatlichen Modernisierung, doch brachten sie auch die Grundfeste des Staates ins Wanken. Nach der Flucht der RadikalenfUhrer nach Bulgarien und den Neuwahlen fiihrten ab 1884 nochmals die Fortschrittler die Regierung. Ein Jahr spater erkliirte Serbien Bulgarien den Krieg, um eine Kompensation durchzusetzen, nachdem Bulgarien erfolgreich Teile des Osmanischen Reiches (Ostrumelien) annektiert batte. Nur dem Einwirken des Verbiindeten Osterreich-Ungaro war es zu verdanken, dass Serbien nach der militarischen Niederlage keine Gebiete an Bulgarien abtreten musste. Danach wandte sich Konig Milan Obrenovic allmiihlich den Radikalen zu, die nach ihrem Wahlsieg 1887 erstmals 1888 an die Regierung kamen. 1m selben Jahr konnte Pa§ic triumphierend aus dem Exil zuriickkehren, und es wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die zwar immer noch ein Zensuswahlrecht vorsah, aber der Skupstina mehr Kompetenzen verlieh. Sie war das Resultat eines Kompromisses zwischen allen drei politischen Parteien (Konservative, Fortschrittler, Radikale) und dem Konig. Doch dieser wurde 1889 - auch weil sein Privatleben in der Offentlichkeit sehr umstritten war - zur Abdankung gezwungen, und von einem weiteren minderjahrigen Herrscher, Aleksandar Obrenovic, abgelost. Die Regentschaft berief eine Regierung der Radikalen, die die schwache Opposition als politischen Feind, nicht nur als politischen Gegner betrachteten. Doch auch mit der Regentschaft lagen die Radikalen, fUr die 1891 erstmals pa§ic die Regierung fiihrte, in den neunziger Jahren im Konflikt.
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Der Herrscher iibemahm 1893 noch vor Erlangung der Volljiihrigkeit die Macht und setzte 1894 die liberale Verfassung wieder auBer Kraft. Trotz der politischen Vorherrschaft der Radikalen wandte Aleksandar sich auBenpolitisch nicht von Osterreich abo Als er 1898 seinen Vater, den abgedankten Konig Milan, zum Oberbefehlshaber des Heeres machte, fiihrte dies zu Spannungen mit Russland. Die offene Hinwendung Serbiens zu Russland erfolgte 1900 anlasslich der in Serbien allgemein kritisierten EheschlieBung des Konigs, bei der Zar Nikolaus II. als Trauzeuge auftrat. Nun wurden die Radikalen, die noch ein Jahr zuvor in ein Attentat auf den Vater des Konigs verwickelt waren, rehabilitiert und eine Verfassung eingefiihrt, die wieder freie Skupstina-Wahlen vorsah. Doch schon 1902 brach Aleksandar mit den Radikalen, zugleich verschworen sich TeiIe der Armee gegen ibn. Die Herrschaft der Dynastie der Obrenovics wurde durch die Ermordung Aleksandars und seiner Gattin am 29. Mai 1903 beendet. Die Attentater kamen aus der Geheimorganisation "Schwarze Hand" (erna Ruka), die sich innerhalb der Armee gebildet hatte. So1che Organisationen begannen neben den Parteien zunehmend eine wichtige Rolle zu spielen. Sie vertraten einen expansiven Nationalismus und die Vereinigung aller Serben (7 Kap. 14). 1908 wurde die offentliche "Narodna odbrana" (Nationale Verteidigung) gegriindet, 1911 die mit ihr verbundene, jedoch geheime "Ujedinjenje iIi smrt" (Vereinigung oder Tod), die aus der "Schwarzen Hand" hervorging und in der Verschworung von 1903 ihren Ursprung hatte. Gegen die groBserbischen Bestrebungen wandten sich die Sozialdemokraten, deren Partei ebenfalls 1903 gegriindet wurde.
6.6. Bis zurn Ende des Ersten Weltkriegs Nach dem Attentat kehrte die Dynastie der Karadordevic unter Petar Karadordevic auf den serbischen Thron zurUck. Es begann eine neue Epoche in der serbischen Geschichte: Von der absoluten personlichen Herrschaft des Monarchen ging man zu einer Herrschaftsform parlamentarischer Monarchie fiber. Der gestiirkte Parlamentarismus war das bedeutendste Resultat des Jahres 1903, doch wurde dieser Effekt durch die politische Praxis beschriinkt: Die Armee, die den Umsturz ausgefiihrt hatte, hatte den Konig in ihrer Hand, ein unterentwickeltes Biirgertum war von einem Meer von Bauem umgeben, und de facto gab es ein Einparteiensystem unter der Vorherrschaft der Radikalen, die zumeist im Biindnis mit den von ihnen abgespaltenen "Jungradikalen" und unter der Fiihrung von Pasic regierten. AuBenpolitisch brach Serbien 1906 endgilltig mit Osterreich-Ungam, als es zu Auseinandersetzungen in Handelsfragen (zum sogenannten "Schweinekrieg") kam. Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die k. u. k.-Monarchie im Jahre 1908 erschiitterte Serbien schwer. In Osterreich-Ungam schloss man serbische Schulen, hob die kirchliche Autonomie auf und verbot die Kyrilliza. Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Osterreich-Ungam und Serbien schien im Winter 1908-09 unausweichlich, doch unter deutscher Vermittlung wurde Serbien dazu gebracht, die osterreichische Annexionspolitik zu akzeptieren.
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Gleichzeitig setzte mit der Machtergreifung der Jungtiirken im Osmanischen Reich eine starke Bewegung zur Homogenisierung der gesamten Gesellschaft ein, die Unruhen bei allen Volkem unter tiirkischer Herrschaft ausloste - bei den Arabem ebenso wie bei Griechen, Serben, Bulgaren und Albanem. Zur Verteidigung und Befreiung der Balkanchristen schlossen Serbien, Montenegro, Griechenland und Bulgarien ein Bilildnis. 1m Oktober 1912 erkliirte Montenegro, gefolgt von den Verbilildeten der Tiirkei den Krieg (I. Balkankrieg), nachdem in Albanien ein Aufstand gegen die osmanische Herrschaft ausgebrochen war. Innerhalb weniger Tage stand die serbische Armee fast vor Thessaloniki und an der Adriakiiste. Sie eroberte Skopje, Prilep, Pristina, Prizren, Pee, Ohrid, Stip, Bitola und viele andere Orte mit baulichen Zeugnissen der serbischen mittelalterlichen Geschichte. In ,,Altserbien", wie das damals schon mehrheitlich albanisch bewohnte Kosovo genannt wurde, gingen serbische Truppen brutal gegen die albanische BevOlkerung vor, zwangen sie teilweise zum Ubertritt vom Islam zur Orthodoxie und toteten Tausende. Die Ergebnisse der Londoner Konferenz ab Dezember 1912 iiber die Grenzen des neuen albanischen Staates schrieben groBe Gebiete mit albanischer Mehrheit Serbien, Montenegro und Griechenland zu. Gegen die serbische und montenegrinische Unterdriickungspolitik kam es zu einem weiteren albanischen Aufstand 1913, dessen blutige Niederschlagung durch serbische Truppen zu weiteren Spannungen zwischen Serbien und OsterreichUngarn fiihrte, das als Schutzmacht Albaniens und albanischer Interessen auftrat. Bei dem Konflikt ging es auch darum, dass Serbien auf albanischem Gebiet den Zugang zur Adria suchte, was Osterreich-Ungarn, das sein Handelsmonopol mit Serbien gefahrdet sah, verhindem wollte. Urn die Frage der Aufteilung Makedoniens kam es zu einem Konflikt zwischen Bulgarien auf der einen und Serbien und Griechenland auf der anderen Seite, denen sich auch Rumaruen anschloss. 1m II. Balkankrieg besiegten die Serben 1913 Bulgarien und entschieden gemeinsam mit Griechenland die makedonische Frage durch die Einverleibung der umstrittenen Gebiete. (7 Kap. 9) Von den Kriegen von 1876--1878, 1885, 1912 und 1913 ausgelaugt, aber territorial erheblich vergroBert, sah Serbien den Hauptgegner nun in der k. u. k-Monarchie. Pasie, der seit Ende 1912 wieder die Regierung leitete, blieb zunachst an einer eher gemiiBigten Politik ohne Anschluss der Gebiete der Doppelmonarchie orientiert. Dagegen drangte die "Ujedinjenje ili smrt" und ihr FUhrer, der schon am Konigsmord von 1903 beteiligte Generalstabsoffizier Dragutin Dimitrijevie (Apis) auf die Schaffung eines siidslawischen Staates mit Serbien als ,,Piemont". In das Attentat auf den osterreichisch-ungarischen Thronfolger am 28. Juni 1914 in Sarajevo, das von Mitgliedem der Organisation ,,Mlada Bosna" (Junges Bosnien) veriibt wurde, war zwar nicht die serbische Regierung, wohl aber Dimitrijevie verwickelt, der als Gegner PasiCs in einem zweifelhaften Prozess 1917 zum Tode verurteilt wurde. Nach der osterreichisch-ungarischen Kriegserklarung yom 28. Juli 1914 gelang es Serbien bis zum Ende des ersten Kriegsjahres, das zwischenzeitlich von OsterreichUngarn eingenommene Belgrad zu befreien und den Gegner vom serbischen Staatsgebiet zu verdriingen. Zu einem VorstoB nach Bosnien-Herzegowinareichten die Krafte jedoch nicht, stattdessen wurden Teile Albaniens besetzt. 1m Oktober 1915 trat Bul-
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garien an der Seite der Mittelmachte in den Krieg ein, den Serbien dadurch an zwei Fronten fiihren musste. Nach einer mehrtagigen Schlacht auf dem historischen Amselfeld musste sich die serbische Annee Ende 1915 auf italienisch beherrschtes Gebiet zuriickziehen. 1916 wurde von Griechenland aus die Offensive wieder aufgenommen, doch eine Wiedereroberung Serbiens von Sliden misslang weitgehend. Serbien wurde von Osterreich-Ungarn und Bulgarien in drei Gouvemements aufgeteilt, auch die deutsche Annee an der makedonischen Front hatte einen eigenen Verwaltungsbereich. Die serbische Regierung und das Konigshaus residierten auf der griechischen Insel Korfu, wo 1917 auch die Errichtung eines ,,Konigreichs der Serben, Kroaten und Slowenen" beschlossen wurde. Erst 1918 gelang Serbien und den Entente-Machten an der Saloniki-Front die Wende: September 1918 wurde Bulgarien zur Kapitulation gezwungen, am 1. November wurden die Truppen Osterreich-Ungarns aus Belgrad vertrieben. Deutsch von Robert Hammel Literatur Oberblicke bieten: Wolfgang Libal, Die Serben. Blute, Wahn und Katastrophe, Miinchen, Wien 1996; ausfuhrlicher: Tim Judah, The Serbs. History, Myth and the Destruction of Yugoslavia, New Haven, London 1997. Bine Gesamtdarstellung ist: !storija srpskog naroda, 6 Bde., Belgrad 1981 ff. (Geschichte des serbischen VoIkes). Wichtig fur die mittelalterliche Geschichte: Sima Cirkovic, Srbi u srednjem veku, Belgrad 1995, (Die Serben im Mittelalter); auBerdem immer noch von Wert die klassische Darstellung von Constantin Jireeek, Geschichte der Serben, GoIha 1911-1918. Zu beachten sind femer die Literaturhinweise zu ~ Kap. I, weiterhin zu ~ Kap. 21 uber die Verwendung historischer Themen in der serbischen NationaImythologie. Wichtige Arbeiten uber das neuzeitIiche Serbien: Latinka Perovic, Srpski socialisti XIX veka, Bd. 1-3, Belgrad 1985, 1995 (Serbische Sozialisten im 19. Jh.); dies., Rusko-srpske revolucionarne veze, Belgrad 1995 (Russisch-serbische revolutioniire Verbindungen); dies. (Hg.), Srbija u modernizacijskim procesima XX veka, Belgrad 1994; dies. (Hg.), Srbija u modernizacijskim procesima XIX i XX veka, Belgrad 1998 (Serbien in den Modemisierungsprozessen des 19.120. Jahrhunderts); Michael BOTO Petrovich, A History ofModern Serbia, 1804-1918,2 Bde., New York, London 1976; David Mackenzie, I1ija GaraSanin: Balkan Bismarck. New York 1985, WolfD. Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie, Miinchen 1980, Charles lelavich, Tsarist Russia and Balkan Nationalism. Russian Influence in the Internal Affairs ofBulgaria and Serbia 1879-1886, Berkeley and Los Angeles 1958, sowie: Wayne S. Vucinch, The First Serbian Uprising 1804-1813, New York 1981, und ders., Serbia between East and West. The Events of1903-1908, Stanford 1954. Zur ldeengeschichte: Duncan Wilson, The Life and Time ofVuk Stefanovic Karadiic 1787-1864: Literacy, Literature and National Independence in Serbia, Oxford 1970; W D. McClellan, Svetozar Markovic and the Origins ofBalkan Socialism, Princeton 1964. Zur Sozialgeschichte: Holm Sundhaussen, Historische Statistik Serbiens 1834-1914. Mit europiiischen Vergleichsdaten, Miinchen 1989; Marie-Janine Calic, Sozialgeschichte Serbiens 1815-1941. Der aufhaltsame Fortschritt wiihrend der 1ndustrialisierung, Munchen 1994.
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Das heutige Montenegro umfasst eine Flache von 13.812 km2 mit ca. 640.000 Einwohnem (1991). 1m Nordwesten grenzt es an Kroatien und Bosnien-Herzegowina, im Westen an das Adriatische Meer, das es mit Italien verbindet, und im Sliden und Slidosten an Albanien. Seine nordliche und nordwestliche Grenze verbindet Montenegro mit der Republik Serbien, mit der es einen gemeinsamen Bundesstaat, die Bundesrepublik Jugoslawien, bildet. Seit dem Beginn der slawischen Landnahme Ende des 6. und in der ersten Halfte des 7. Jahrhunderts kam es ethnisch gesehen zu vieWiltigen Veranderungen auf dem Gebiet des heutigen Montenegro. Slawische Stiimme besiedeltenjenen zentralen Teil der vormaligen romischen Provinz Praevalis, der nach dem illyrischen Stamm der Doc1eaten slawisch Duklja/Dioklitija (lat. Doc1ea, dt. auch Dioklitien) genannt wurde. Die romanisierte und christianisierte autochthone Bevolkerung, Wlachen und andere ethnische Gruppen wurden in der Folge weitgehend slawisiert. Die osmanischen Eroberungen verstiirkten seit dem Ende des 14. Jahrhunderts die ethnische Mischung und Verschiebung der Bevolkerung. Die osmanischen Einkunfts- und Steuerverzeichnisse aus dem 15. und 16. Jahrhundert belegen die Zuwanderung von Siedlem und Fllichtlingen aus den zentralen serbischen Territorien. Die Bevolkerung Montenegros ist in ihrer liberwiegenden Zahl serbisch-orthodoxen Glaubens. Die Wlachen im Landesinnem wurden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vollstandig serbisiert. In den Klistenstadten gibt es noch eine katholisch-kroatische Minderheit, die immer weiter schrumpft. Die Albaner im Sliden waren zu Beginn der osmanischen Herrschaft romisch-katholischen oder orthodoxen Glaubens, wurden aber in der Folge groBteils islamisiert. Die slawischen Muslime Montenegros sind ihrer ethnischen Herkunft nach Montenegriner bzw. Serben. Nur ein kleiner Teil ist eingewandert. Die Muslime stellen heute in Montenegro etwa 14 Prozent der Bevolkerung.
7.1. Mittelalter Montenegro bildete historisch nie eine Einheit in seinen heutigen Grenzen. Duklja, das sich zunachst als slawisches Fiirstentum entwickelte, bildet jedoch den Kern des modemen Montenegro. Der weitaus groBere Teil gehOrte zum serbischen mittelalterlichen Reich von Raska (lat. Rascia, dt. Raszien) sowie zum Fiirstentum Zahumlje, der spateren Herzegowina. Von der zweiten Halfte des 12. Jahrhunderts an wurde das Toponym Duklja allmiihlich durch den Namen Zeta (lat. Zenta oder Genta) ersetzt, nach dem Fluss Zeta, der durch den mittleren Teil des Landes flieBt. Die Unabhangigkeit von Byzanz erreichte das Fiirstentum Duklja im Jahr 1042 unter FUrst Stefan Vojislav, dem Begriinder der Dynastie der Vojislavljevici. Seinem Nach-
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folger Mihajlo (1046-1082) sandte Papst Gregor VII. im Jahre 1077 die Insignien der Konigswiirde lll1d erhob den Fiirsten zum ,,rex sclavorum". Seine gro13te territoriale Ausdehnlll1g erreichte das Konigreich Duklja wlihrend der Herrschaft Konig Bodins (1082-1101). Papst Clemens III. erkannte 1089 die Selbstlindigkeit des Erzbistwns von Duklja lll1d Bar (Doclea lll1d Antivari) an. Er dehnte den Jurisdiktionsbereich des Erzbistwns auf aIle Diozesen aus, auch auf die Bistiimer von Serbien, Travunien (Trebinje) lll1d Bosnien. Zrun allgemeinen staatlichen Niedergang nach dem Tod Konig Bodins trugen die normannischen Balkanziige lll1d der Aufstieg Venedigs beL Vor allem war Zeta starkern byzantinischem Druck ausgesetzt, bis Ende des 12. Jahrhlll1derts der serbische Gro13fupan Stefan Nemanja (1166-96, gest. 1199 oder 1200) das Gebiet seiner Herrschaft lll1terwarf. In den darauf folgenden zweihlll1dert Jahren war Zeta Bestandteil des serbischen Reiches von Raska, das von der ,,heilig geborenen" Dynastie der Nemanjiden regiert wurde. Ais "Konigreich von alters her" genoss Duklja eine Zeit lang ein hohes MaB staatlichen Eigenlebens lll1d die Thronnachfolger der Nemanjiden trugen in der Folge als Mitregenten den Titel ,,Konig von Duklja lll1d Dalmatien", worauf sich Gro13fupan Stefan Nemanja berief, run die Anerkennlll1g der Konigswiirde von der papstlichen Kurie zu erreichen. Die Bemillllll1gen wurden 1217 mit der Kronlll1g des zweitaltesten Sohnes Stefan Nemanjas, Stefan Prvovencani (Stefan der Erstgekronte) (1217-1227/28) verwirklicht. Ais nach dem Tod des Zaren DtiSan 1355 der Verfall des serbischen Reiches einsetzte, wurde Zeta 1366 lll1ter der RegieTlll1g des Hochadligen BalSie erneut selbstlindig lll1d konnte lll1ter den BalSiCi lll1d den Crnojeviei (von 1421 bis 1496) die staatIichen Institutionen des Nemajiden-Staates bewahren. Nach dem Fall Zetas lll1ter die Herrschaft der Osmanen 1496 wurde die ErinneTlll1g an die fiiihere Unabhlingigkeit im Hochland am FuBe des Berges Loveen bewahrt, wo sich viele Adlige lll1d Bewohner aus den Tiefebenen Zetas lll1d Serbiens ansiedelten. Das Gebiet der Katlllle wurde durch viele Neuansiedler in ein dauerhaftes Siedllll1gsgebiet verwandelt, wo sich in Verbindlll1g mit der an die Transhrunanz geblll1denen Hirtenkultur der Kern der Stamme von Montenegro, Brda lll1d Herzegowina konsolidierte. Das Bistwn von Montenegro, Skutari (slaw. Skadar, alb. Shkodra) lll1d dem Kiistenland (slaw. Primorje, lat. Maritima) war, wie das Patriarchat von Pee in AltSerbien, der Hiiter der staatlichen Tradition der Nemanjiden, BalSiei lll1d CrnojeviCi lll1d trug zur ErinneTlll1g an Zeta als freiem serbischen Land beL Der Name Montenegro (slaw. Crna Gora), mit dem urspriinglich nur ein kleiner Teil des heutigen Montenegro bezeichnet wurde, [mdet sich das erste Mal 1296 in den QueIlen.lm 15. Jahrhlll1dert beginnt sich der Name Crna Gora, "der schwarze Berg", als Bezeichnlll1g fiir die Obere Zeta, die sich im Gegensatz zur Unteren Zeta durch ein gebirgiges Terrain auszeichnet, im politischen Sinne zu etablieren. Die llllmittelbaren Nachbam iibersetzten den Namen wortlich in ihre jeweiligen Sprachen: Karadag (Tiirkisch) Malazeze (Albanisch). Die westeuropaischen Sprachen folgten der italienischen UbersetZllllg. Die Obere Zeta bzw. Montenegro stand lll1ter der Herrschaft der Vojvoden aus dem Adelsgeschlecht der CrnojevieL Urspiinglich residierten sie in Zabljak, an den Ufern
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des Skutari-Sees. Ivan Cmojevic (1465-1490) verlegte den Hauptsitz nach Cetinje, wo er auch ein Kloster errichtete, das nachfolgend die Residenz der montenegrinischen Metropoliten wurde. Montenegro verfiigte im 15. Jahrhundert iiber fiinf administrative territoriale Einheiten, so genannte Zupen (Gaue), die die Osmanen nach der Eroberung in Nahiye umbenannten. Aus ihnen setzte sich zusammen, was man im 19. Jahrhundert Alt-Montenegro (Stara Cma Gora) nannte.
7.2. Osmanenzeit
Die Obere Zeta fiel erst spat, im Jahre 1496, unter osmanische Herrschaft. Die Brda und die spateren montenegrinischen Gebiete von RaMca und der Herzegowina hatten die Osmanen bereits zwei bis drei Jahrzehnte zuvor eingenommen. In der osmanischen administrativen und territorialen Gliederung gehOrte das heutige Montenegro zu verschiedenen Sandschaks. Von 1513 bis 1528 war Montenegro als Sandschak Karadag unter dem zum Islam konvertierten Stani~a Cmojevic eine eigene administrative Einheit im Rahmen des Beglerbegluks (Wilajet) Rumelien. Es folgten mehrere territoriale Umgliederungen der osmanischen Herrschaft, wobei das heutige Montenegro groBtenteils auf die Sandschaks Herzegowina, Bosnien, Prizren, Dukadjin und Novi pazar verteilt war. Montenegro genoss wahrend der osmanischen Herrschaft wie kaum eine zweite Region einen rechtlichen und sozialen Sonderstatus, was mit einigen Besonderheiten des Landes zusammenhing. Die bergige Landschaft war dOnn besiedelt. Ende des 16., Anfang des 17. Jhs. berichten Quellen von etwa 3.500 Haushaltenmit ca. 15.000 Einwohnem in Alt-Montengro. Die sieben Stiimme der Brda verfiigten iibermehr Bevolkerung und Soldaten als Alt-Montenegro. Eine osterreichische Quelle aus dem Jahr 1792 gibt 40.000 Einwohner fUr Montenegro (vermutlich einschlieBlich der Brda) an. In der karstigen und unfruchtbaren Region war diese Bevolkerung nicht in der Lage, die iiblichen steuerlichen Verpflichtungen zu erfiillen. Als diese 1513 im Sandschak Karadag eingefiihrt worden waren, erhoben die Bewohner Klage iiber die zu hohen Lasten, worauf eine Untersuchungskommission der Hohen Pforte feststellte, dass die Tribute nicht geleistet werden konnten und auch ,,nicht von der Rajah eingefordert werden" soUten. 1523 wurde die Aufhebung (oder Einschriinkung) der sonst fUr alle christlichen Untertanen des Reiches obligatorischen Steuern festgelegt und in den montenegrinischen Nahiyes eine feststehende jiihrliche Steuer, wie sonst fUr die Wlachen, eingefiihrt. 1m Gegenzug war die miinnliche montenegrinische Bevolkerung verpflichtet, auf den Salinen des Sultans im Kiistenland bei Tivat zu arbeiten. Dafiir war sie weitgehend von der Teilnahme an den osmanischen Kriegsziigen befreit, auch die Knabenlese (dev~irme) ist durch kein Dokument belegt. Die Dorfliltesten, Knjaze (auch Knezen), waren als lokale osmanische Verwa1tungsbeamte ohnehin von allen steuerlichen Abgaben befreit. Ebenfalls von einigen Abgaben ausgenommen waren Hilfstruppen wie Wachter von Wegen und Briicken, die zumeist ganze Dorfer, StraBen und Passe in unzuganglichen und yom grassierenden Riiubertum bedrohten Gegenden zu schiitzen hatten.
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Aus diesen weit reichenden Privilegien Ieitete die Bevolkerung das Recht auf Selbstverwaltung ab und regeite Konflikte und Streitigkeiten ohne osmanische Intervention nach den Regeln des patriarchalischen Gewohnheitsrechtes. Thre Altesten und Stammesoberhaupter vertraten sie gegentiber Osmanen und Venezianem. Der Sonderstatus innerhalb des Osmanischen Reiches krliftigte Ietztlich die Stammesorganisationen und deren Oberschicht. So verfestigte sich die patriarchale Stammesordnung (zwischen dem 15. und 18. Iahrhundert nahmen die Stamme ihre endgiiltige Gestalt an) zur dominierenden Gesellschaftsform, die soziale Differenzierungprozesse verhinderte. Das Bistum von Montenegro tibemahm unter diesen Bedingungen eine Art geistiger und politischer Fiihrerschaft, vermitteite zwischen den sich stiindig bekampfenden Stammen, richtete sie auf den Kampf gegen die osmanische Herrschaft aus und bewalrrte die kollektive Erinnerung an die vorosmanische Tradition.
7.3. Selbstverwaltung und Bischofsherrschaft Die wichtigste politische Institution war bis zum Ende des 18. Iahrhunderts das oberste Repdisentationsorgan der montenegrinischen Stamme, die Allmontenegrinische Versammlung (Opste cmogorski zbor), auf der bis zu 2.000 Montenegriner zusammenkamen. Die Stammesversammiung hielt Rat tiber die wichtigsten Fragen der Gemeinschaft. Sie wiihlte auch den Bischofvon Montenegro und trat in Stammeskonflikten ais vermittelnde Instanz auf. AuI3erdem entschied sie tiber die Verteidigung der Autonomie, mithin tiber Krieg und Frieden mit den Osmanen und war bis zum Ende des 18. Iahrhunderts eine Institution der militiirischen Demokratie. Die Stammesversammiung und das Amt des Viadika (Fiirstbischof), das kirchliche und weltliche Herrschaft vereinte, wirkten entscheidend daraufhin, dass sich - ais Vorbedingung fUr die Entstehung zentralistischer Institutionen und Verwaitungsformen - Stammesallianzen bildeten. Die zahlreichen Aufstande und Kriege gegen die Osmanen begiinstigten aber auch einen gewissen Partikularismus und Konflikte zwischen den Stiimmen Montenegros und der Brda, die erst Ende des 17. Iahrhunderts abklangen, als die Montenegriner an der Seite Venedigs kampften. 1688 kam es - begiinstigt durch die venezianischen Siege gegen die Osmanen und die politische Stiirkung des Vladika - bei der Stammeversammlung in Cetinje zu einem wichtigen politischen Wandel. Statt der bloI3en Aufrechterhaltung der Autonomie innerhalb der osmanischen Herrschaft wurde nun die Unabhangigkeit zum Kampfziel. Dabei betonten die montenegrinischen BischOfe ihre historischen Rechte auf die Brda und die Herzegowina sowie die anderen serbischen Lander unter osmanischer Herrschaft. Danilo (1697-1735), der erste Viadika aus der Bruderschaft der Petrovici, aus dem Stamm der Njegosi, leitete den offenen Kurswechsel gegentiber der Hohen Pforte ein. Mit ihm begann die Epoche der Theokratie in Montenegro. 1m Kampf gegen die osmanische Herrschaft gewann er die fmanzielle und materielle Unterstiitzung Russlands. Der bis dahin bestinunende Einfluss Venedigs nahm im 18. Iahrhundert ab, obwohl die Republik das Amt eines Gouvemeurs in Montenegro eingerichtet hatte. Seit dem Frieden von Pozarevac (Passarowitz) von 1718 fand Montenegro zudem auch im Habsbur-
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gerreich einen auJ3enpolitischen Verbiindeten. Danilo griindete 1713 das erste Landgericht (Zernaljski sud) mit zwolfMitgliedern, dern die Entscheidung der Stammesstreitigkeiten obliegen sollte. Das Verbot der Blutrache (1723) bewirkte zuniichst wenig, sie konnte sich lokal bis in die zweite H1ilfte des 19. Jahrhunderts hinein erhalten. Danilo bekampfte auch die pro-osmanischen Krafte unter den Montenegrinem und die Ausbreitung von Islam und Katholizismus. In der miindlichen Uberlieferung wurde die Erinnerung an die Vertreibung und Totung der montenegrinischen Muslime zu Weihnachten 1702 (in friiherer Geschichtsschreibung ,,montenegrinische Bartholomausnacht" genannt) wachgehalten - ob sie tatsiichlich stattgefimden hat, ist jedoch urnstritten. Sie wurde spiiter im beriihmten Epos Bergkranz des Dichters und Fiirsten Petar II. Petrovic Njegos verherrlicht. Wegen seiner religiosen Unduldsamkeit und seiner russischen Orientierung versuchten sowohl die Osmanen wie auch die Venezianer und die romische Kurie, Danilo zu beseitigen. BischofVasilije (1750-1766), ein Neffe des politisch weitgehend abstinenten Nachfolgers Danilos und als ,,zweiter Vladika" der reale Herrscher, war mehr von utopischen und visioniiren Ideen geleitet als von politischem Realismus. Er versuchte Montenegro weiter vom venezianischen Einfluss abzukoppeln und hielt sich in der AuJ3enpolitik eng an Russland, dern er bei mehreren Besuchen anbot, Montenegro unter sein Protektorat zu stellen, damit es den Kampf fUr die Befreiung des serbischen Volkes aufnehmen konne. Ahnliche Vorschliige unterbreitete er allerdings auch der osterreichischen Kaiserin Maria Theresia. Dabei - und in seiner 1754 in Moskau gedruckten "Geschichte Montenegros" - stellte er sein Land erheblich miichtiger dar, als es in Wirklichkeit war. Durch seine schlecht vorbereiteten Befreiungsaktionen verlor er den ROckhalt in Montenegro, zumal er unter Umgehung der Stammesversannnlung handelteo Von seinen Planen blieb letztlich nur der bescheidene, aber nOtzliche Brauch, dass ausgewiihlte junge Manner zur Ausbildung nach Russland entsandt wurden. Nach Vasilijes Tod tauchte im Jahre 1767 eine noch bizzarere Gestalt auf: der sich fUr den 1762 verstorbenen russischen Zaren Peter III. ausgebende Scepan Mali (Scepan der Kleine, 1767-1773). Er sorgte - gerade angesichts des russisch-tOrkischen Krieges (1768-1774) - fUr betriichtliche auJ3enpolitische Irritationen. Obwohl sein Betrug schnell aufgedeckt wurde, lenkte Scepan Mali als Petar III. bis 1773 relativ erfolgreich die politischen Geschicke des Landes, bis er in einer osmanisch-venezianischen Verschworung ermordet wurde. Er hatte es vermocht, durch institutionelle Neuerungen seine Autoritiit tiber die montenegrinischen Stiimme zu behaupten und der Schwiichung der Zentralmacht entgegenzutreten. Dazu gehOrte vor allern die Aufstellung einer bewaffileten Garde zum Schutz der Organe tiberstannnlicher Herrschaft und als erstes Instrument zur Umsetzung der Urteilsschliisse bei Stammeskonflikten. Unter montengrinischen Stiimmen war das Heiduckentum weit verbreitet, in dern sich Rebellion und Riiubertum verbanden. Bei Aktionen dieser Art (montenegrinisch: cetovanje) konnte es sich urn Uberfalle auf die osmanischen Steuereintreiber oder urn die Vertreibung der lokalen Herrscher des Reiches handeln. In Kiistengebieten wurden Montenegriner als Uskoken von Venedig zum Kampf gegen die Tiirken angeheuert, wenn im Land aber Hunger herrschte - was meist der Fall war, zumal Aushungem eine Kampfmethode der Venezianer gegen die rebellischen Montenegriner war -, hieB cetovanje nichts anderes
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als Riiubertwn und Pliinderung. Dies fonnte eine Mentalitat der Gesetziosigkeit, d.h. der Weigerung, andere als durch das Gewohnheitsrecht und den Ehrenkodex festgelegte Gesetze zu akzeptieren. Deshalb war die schwierige und wesentliche Aufgabe montenegrinischer Herrscher, allgemeine Rechtsinstitute und -nonnen durchzusetzen. Die Stammesversammlung von Montenegro proklamierte 1784 in Cetinje den Archimandriten Petar I. Petrovic Njegos (1783-1830) zum Bischofvon Montenegro, Skutari und dem Kiistenland. Vladika Petar I. war der bedeutendste Staatsmann der Geschichte Montenegros, denn er legte das Fundament zur Errichtung der montenegrinischen Zentralverwaltung und vergroBerte Montenegro nach den Siegen tiber Mahmud Pascha Bushatli 1796 bei Martinici und Krusi urn Teile der Brda und der Herzegowina. Danach blieb Montenegro zwar de jure weiterhin Bestandteil des Osmanischen Reiches, war de facto aber selbstiindig. Petar unterdriickte die Selbstherrschaft der Stamme, errichtete die ersten Regierungsinstitutionen und unternahm mit der Niederschrift eines Allgemeinen Gesetzbuches einen VorstoB zur Einfiihrung biirgerlich-rechtlicher Grundsatze in Montenegro und der Brda. Die allmiihliche Verselbstiindigung Montenegros und der Brda Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts fallt in eine Zeit der groBen gesellschaftlichen und politischen Umwiilzungen in Europa, die von der Franzosischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen (1789-1815) gepragt war. Nach dem Zusammenbruch der Republik Venedig 1797 teilten Frankreich und Osterreich deren Besitzungen untereinander auf. Osterreich kam in den Besitz der Bucht von Kotor, einige Jahre spater traten die Franzosen als Besatzungsmacht im Kiistenland auf. Trotz russischer und englischer UnterstUtzung gelang es Montenegro jedoch nicht, die Bucht von Kotor anzuschlieBen, sie verblieb yom Wiener Kongress (1815) bis 1918 im Besitz des Habsburger Reiches. Petar I. hegte die Idee einer Erneuerung des mittelalterlichen serbischen Reiches. 1m Jahr 1807 trug er am russischen Hof sein Programm zur Errichtung eines slawischserbischen Kaiserreiches vor, das Montenegro und Brda, die untere Zeta, Teile des mittelalterlichen serbischen Staates von Raska, die Herzegowina, Dalmatien und Dubrovnik (als Hauptstadt) urnfassen sollte. Diese Ideen Petars I. sollten auch die spiiteren Herrscher aus dem Hause Petrovici verfolgen. Die besondere montenegrinische Identitat vertrug sich mit dem serbischen Nationalverstiindnis, weil die orthodoxe Kirche die Erinnerung an das Nemanjidenreich als gemeinsames Erbe wachhielt. Die Arbeit an der inneren Konsolidierung des Landes, der Zuriickdriingung des osterreichischen Einflusses, der auf die Venezianer foigte, und an der Errichtung staatlicher Organe setzte Vladika Petar II. Petrovic Njegos (1830-1851) fort. Der Senat von Montenegro und Brda wurde zum hOchsten Gerichts- und Verwaltungsorgan der Regierung, deren Entscheidungen eine stehende Garde vollzog. 1837 wurde das Land in Bezirkshauptrnannschaften (kapetanije) eingeteilt, deren Hauptleute (kapetani) durch den Vladika ernannt wurden. Petar fiihrte eine Haussteuer ein, die je nach Besitzverhiiltnissen drei Klassen kannte, und die er trotz vieler Schwierigkeiten durchzusetzen vennochte. Petar II. versuchte, die Auseinandersetzungen mit den Osmanen, in deren Zentrum fast immer die montenegrinischen Grenzen standen, auf diplomatischem Wege zu Iosen. So kam es 1838 zum Abschluss eines Vertrages "zwischen dem unabhiingigen Gebiet Montenegro und dem Paschalyk Herzegowina".
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Der Politiker Petar II. wird vom Dichter bei weitem in den Schatten gestellt. Er hinterIieB ais kulturelles Erbe mehrere Werke, von denen der Bergkranz (Gorski vijenac) das herausragendste ist. Dank seines energischen Einsatzes wurde 1834 in Cetinje die erste staatliche Grundschule eroffuet, spater folgte eine zweite. 1m selben Jahr nahm eine Druckerei ihre Arbeit auf, in der u.a. Schulbiicher fUr die Grundschule gedruckt wurden. Er starb im Alter von 38 Jahren, auf dem Hohepunkt se.iner schopferischen und politischen Kraft. Mit seinem Tod endete die Periode der Vladikate und der Theokratie in Montenegro.
7.4. Weltliche Herrschaft ond Expansion Mit der Trennung von geistlicher und weltlicher Macht begann eine neue Epoche in der Entwicklung des Landes. Erster weltlicher Herrscher von Montenegro und Brda wurde Danilo Petrovi6 (1851-1860), der der Verwaltung einen streng zentralistischen Aufbau gab. Stiitzen seines absolutistischen Regierungssystems waren die reorganisierte Armee, das Offizierskorps und die 1.000 Mann starke Garde. Widerstande und Partikularismus der Stamme bekampfte FUrst Danilo energisch und ohne Gnade, unter Androhung der Todesstrafe verbot er die Blutrache. Die Verwaltung traf strenge MaBnahmen gegen Raub und Diebstahl. FUrst Danilo organisierte aussichtslose Aufstandsbewegungen in der Herzegowina und beim Stamm der Vasojevi6i im Lim-Tal, die letztlich den jungen Staat in seiner Existenz gefahrdeten, und nur die Intervention der russischen und osterreichischen Diplomatie bewahrte ihn vor der drohenden total en Niederlage. Der Sieg Montenegros fiber die Osmanen bei Grahovac im Mai 1858 lenkte die Aufmerksamkeit der GroBmachte auf die montenegrinische Frage. Eine intemationale Kommission legte 1858/59 den Grenzverlauf zwischen Montenegro und dem Osmanischen Reich fest. Durch diesen Akt der faktischen intemationalen Anerkennung wuchs das Ansehen Montenegros, FUrst Danilo aber fiel im August 1860 in Kotor einem Attentat zumOpfer. Wahrend der langen Regierungszeit Nikolas (1860-1918), des ersten Herrschers, der eine Ausbildung im Westen genossen hatte, durchliefMontenegro drei Phasen seiner staatlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwick1ung. In der ersten Periode (1860-1878) folgte die Politik von FUrst Nikola der Auffassung, die Losung der Existenzprobleme Montenegros liege in seiner Ausdehnung. Die Unruhen und Aufstande von 1861162 in der Herzegowina und im Lim-TallieBen ihn hoffen, dass er das Herrschaftsgebiet auf "die historischen Lander" ausdehnen und auf diese Weise das ,,Lebensminimum" des Landes sichem konne. Montenegro stand tatsachlich vor einer schwer zu lOsenden Aufgabe. Durch die geringe zur Verfiigung stehende Flache an nutzbarem Ackerboden (ca. 14.000 Hektar) war die Grundversorgung der BevOlkerung mit landwirtschaftlichen Produkten bestandig in Frage gestellt. Grundnahrungsmittel erwarben die Montenegriner auf den osmanischen und osterreichischen Handelsplatzen, und sie waren auf finanzielle Hilfe und Getreide aus Russland angewiesen. Es gab in Montenegro weder Handel noch Handwerk (auBer der von Frauen verrichteten Warenproduktion fUr den Eigenbedarf), und
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die einheimische Miirkte waren gerade erst im Entstehen. In der patriarchalischen Kultur der Montenegriner war das Handwerk als minderwertige Tiitigkeit verachtet. In Alt-Montenegro hatten bis zur zweiten Hiilfte des 19. lahrhunderts keine Stiidte existiert; die niichsten Stiidte und Handelspliitze waren das venezianische Kotor sowie die osmanischen Stiidte Podgorica, Skutari, Niksie, Bar und andere. Erst seit den siebziger lahren des 19. lahrhunderts formierten sich kleinere Miirkte: Rijeka Cmojeviea, Vir Pazar, das neu gegriindete Danilovgrad und die Hauptstadt Cetinje, die 500-600 Einwohner hatte. Die wirtschaftliche Unterentwicklung, vor allem der Mangel an fruchtbarem Boden fiihrte zur permanenten Abwanderung der verarmten Bevolkerung nach Serbien und zur Arbeitsemigration in die wirtschaftlich entwickelten Lander Europas und in die USA. Auf die stiindigen Grenzzwischenfalle und Konflikte entlang der montenegrinischosmanischen Grenze antwortete das Osmanische Reich 1862 mit einem Angriff auf Montenegro. Die iibermachtige osmanische Armee unter dem Kommando von OmerPascha Latas wurde vor den Toren Cetinjes durch den Einsatz der russischen und franzosischen Diplomatie aufgehalten. Der anschlie13ende Friedensvertrag stellte zwar den status quo ante wieder her, enthielt aber fiir die montenegrinische Seite nachteilige Verpflichtungen gegeniiber der Pforte. Fiirst Nikola und die herrschenden Kreise in Cetinje lie13en von ihren Kriegspliinen gegen die Osmanen nicht abo 1866 schloss Montenegro mit Serbien einen Geheimvertrag iiber die Bildung eines Balkanbunds, dem sich Griechenland, Rumiinien und einige nationale Befreiungsorganisationen Bulgariens anschlossen. Der Bund zerfie1 jedoch nach der Ermordung des serbischen Fiirsten Milos Obrenovie 1868. Am Vorabend der Orientkrise (1875-1878), die mit Aufstiinden in der Herzegowina, Bosnien und im Kosovo begann, beanspruchte FUrst Nikola fiir Montenegro die Gebiete ,,AltSerbiens" mit dem Sitz der orthodoxen Kirche in Pee und der Stadt Prizren als einstiger Residenz der mittelalterlichen serbischen Zaren. Das Fiirstentum sollte - nach dem Vorbild der italienischen Einigung - zum ,,Piemont des Serbentums" werden. Dieses politische Projekt verfolgte der montenegrinische Herrscher bis zu den Balkankriegen. Durch die Annullierung des Friedensvertrags von San Stefano begruben OsterreichUngam, Deutschland und England im Sommer 1878 alle Wunschtriiume von "Gro13Montenegro" und einer gemeinsamen serbisch-montenegrinischen Grenze. Obwohl durch den Berliner Kongress die Unabhiingigkeit Montenegros de jure anerkannt und das Staatsterritorium verdoppelt wurde, sah sich Nikola enttiiuscht. Montenegro war durch den Einmarsch der k. u. k. Monarchie in Bosnien-Herzegowina von der Herzegowina abgeschnitten worden. In ,,Alt-Serbien" erhielt es keine Kompensation, seine Souveriinitiit an der Adriakiiste war begrenzt (Hafen von Bar). In Nikolas zweiter Herrschaftsperiode (1878-1905) setzte dank der Ausweitung des Territoriums auflandwirtschaftlich fruchtbare Gebiete und stiidtische Siedlungen (Podgorica, Niksie, Bar und Ulcinj) sowie den Zugang zum Adriatischen Meer eine beschleunigte wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ein. Diese Periode endet 1905, als Montenegro die erste Verfassung seiner Geschichte erhielt. Zur lahrhundertwende wurden Stral3en und Infrastruktureinrichtungen gebaut, die Uberreste des osmanischen Feudalsystems durch eine Landreform beseitigt. Freilich
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erhielten hohe Staatsfunktioniire einen bedeutenden Teil des Bodens, und der Herrscher selbst wurde zum gro/3ten Grundbesitzer. Die ersten Industrieuntemehmen entstanden im Bereich der Forst- und Holzindustrie sowie der Bier- und Tabakproduktion. An der Industrie- und Handelstiitigkeit nahm auch ausliindisches, fiberwiegend italienisches Kapital regen Anteil. Geldinstitute, Sparkassen und Banken wurden gegriindet. Seit 1906 wurde eine einheimische Wiihrung, der Perper, ausgegeben. Nach 1878 wurde der Reformprozess, der Anfang der siebziger Jahre mit der Reorganisation des Senats und einer einschneidenden Neuordnung der Verwaltung, wie der Trennung der staatlichen Finanzen von der personiichen Kasse des Fiirsten, und auch mit der Reorganisation von Armee und Beamtenapparat begonnen hatte, fortgesetzt. Die Aufgaben des Senats fibernahmen endgilltig die Staatskanzlei (DrZavni savjet), die Ministerien und das Oberste Gericht (Veliki sud). Der Herrscher behielt sich jedoch die Gesetzgebung und Regierungsbildung vor. Mit dieser Reform waren zum ersten Mal die Exekutive und die Judikative getrennt und die Grundlagen fUr den weiteren Ausbau des Rechtssystems gelegt. Allerdings stand fiber beiden die uneingeschriinkte Macht des Herrschers in der Person von Fiirst Nikola, der sich auf die altere Generation der Stammesoberhiiupter stiitzte. Bald wuchs der Widerstand gegen seine selbstherrliche Regierungsweise, unter den besten und verdientesten Vojvoden (Knezen, Dorfliltesten), Senatoren und anderen Stammesoberhiiuptem bildete sich eine Opposition, die einige Jahre spiiter auch vom jungen Untemehmertum, von der noch wenig ausgepriigten Intelligenz sowie der Schul- und Hochschuljugend an den Bildungsinstitutionen im Ausland, vor allem in Serbien, unterstiitzt wurde. Diese Kriifte forderten vehement die Demokratisierung des Landes, die weitere Modernisierung der Verwaltung und die Einfiilirung von Verfassung und Parlament. Die dritte Periode in der Entwicklung Montenegros begann 1905 und dauerte bis zum Ende seiner Unabbiingigkeit 1918. Der Druck der gesellschaftlichen Kriifte im Innem des Landes und die politische Unterstiitzung der Opposition aus Serbien zwang Fiirst Nikola zu Konzessionen. Er "beschenkte" sein Land 1905 mit einer Verfassung, die Montenegro zur konstitutionellen Monarchie machte, in der er sich die legislative Macht mit dem Parlament teilte und die volle Kontrolle fiber Regierung und Gerichtswesen hatte. Ab 1905 waren politische Kiimpfe zwischen der oppositionellen Volkspartei (den so genannten klubasi) und der loyalen Nationalen Rechtspartei an der Tagesordnung. Die politischen Parteikiimpfe und die latente Rivalitiit zwischen der Dynastie der Petrovici und dem serbischen Herrscherhaus der Karadordevici kulminierten in zwei politischen Straiprozessen gegen Regimegegner, die mit eingeschmuggelten Bomben aus Serbien aufgegriffen wurden (Bombenafflire 1908) sowie gegen die Verschworer von Kolasin 1909, die als Anfiihrer eines Aufstandes gegen den Fiirsten zum Tode verurteilt wurden. An beiden Affiiren, die Nikolas Ansehen empfindlich schwiichten, waren Agenten Serbiens beteiligt. AuBenpolitisch orientierte sich auch Fiirst Nikola an Russland, obwohl es durch Heiratsbeziehungen zur Anniiherung an die italienische Dynastie Savoyen gekommen war. Der montenegrinische Herrscher hatte durch die Befreiungskriege bei den europiiischen Regierungen viel Ansehen gewonnen. Durch die Verheiratung seines Sohnes
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Danilo mit einer deutschen Prinzessin und seiner Tochter an HOfe in Serbien, Russland, Italien und Deutschland erwarb sich Nikola den Titel "Schwiegervater Europas" und intemationales Ansehen. Montenegro wurde 1910, fiinfzig Jahre nach Nikolas Herrschaftsantritt, zum Konigreich ausgerufen und Nikola zum Konig gekront. Dieses Ereignis war von herausragender historischer Bedeutung fUr "das kiistenlandische serbische Konigreich". Mit diesem Akt wurde die traditionelle historische Gleichberechtigung Montenegros und des Konigreichs Serbien hervorgehoben.
7.5. Von den Balkankriegen zurn Verlust der Unabhangigkeit
Montenegro gelang es im Ersten Balkankrieg 1912, einen bedeutenden Teil des Sandschak Novi Pazar, Kosovos und des mittelalterlichen Zeta zu befreien. Es vergroBerte sich urn 5.000 km2 und erwarb die Stadte Berane, Bijelo polje, Pljevlja, Pee und Dakovica. Unter dem Druck der GroBmachte musste Montenegro 1913 das gerade eroberte Skutari an Albanien abtreten. Mit der Beendigung des Ersten Balkankrieges hatte Montenegro seine Ziele fast vollstandig verwirklicht. Nach der intemationalen Festlegung der Grenzen Montenegros und des Osmanischen Reiches 1858/59 hatte Montenegro eine Flache von 4.400 km2 mit 120.000 Einwohnem gehabt. Nach den Beschliissen des Berliner Kongresses 1878 war es auf iiber 211.000 Einwohner (Volksziihlung von 1910) angewachsen. Mit den territorialen VergroBerungen in der Folge des Ersten Balkankrieges stieg die Einwohnerzahl auf 460.000. In den Kriegsjahren von 1912 bis 1918 sollte Montenegro allerdings ein Fiinftel seiner Gesamtbevolkerung, iiberwiegend Manner, verlieren. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges trat Montenegro als Verbiindeter Serbiens in den Krieg ein und kiimpfte unter groBen Verlusten auf der Seite der Entente. Erfolgreich deckte es 1915 und in den ersten Tagen des Jahres 1916 den Riickzug der serbischen Armee iiber Albanien und Montenegro. Anfang 1916 musste Konig Nikola mit einem Teil der Regierung das Land verlassen. Truppen der k. u. k. Monarchie besetzten Montenegro, und die montenegrinische Armee war gezwungen zu kapitulieren. Das Okkupationsregime war hart und die wirtschaftliche Lage des Landes katastrophal. Gegen die Repressionen regte sich bald Widerstand, eine Freischiirlerbewegung bildete sich. 1m Herbst 1918 befreiten die Aufstandischen mehr als die Halfte des Territoriurns, noch bevor Truppen der Entente montenegrinischen Boden betraten. Ende Oktober war ganz Montenegro befreit. Der Konig, der sich mit der Exilregierung in Neuillysur-Seine bei Paris aufhielt, hatte auf die Ereignisse in Montenegro keinen Einfluss mehr. Mit Ausnahme Italiens erhielt der Konig auch von den Verbiindeten keine Unterstiitzung. Der Wunsch nach einer Vereinigung mit Serbien und der Errichtung eines jugoslawischen Staates war weit verbreitet, besonders unter der proserbischen Jugend, den Intellektuellen sowie der urbanen Bevolkerung. Die GroBe Volksversammlung tagte yom 24.-28. November 1918 in Podgoricaweit weg von den Gebieten mit den der Petrovie-Dynastie loyalen Mehrheiten. Gegen die gut ausgestatteten Anhanger der Vereinigung konnten sich deren Gegner, die vorwiegend von der bauerlichen BevOlkerung sowie von den Stammen Alt-Montenegros
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und Cetinjes Unterstiitzung bekamen, nicht durchsetzen. Thre Kandidatenlisten fUr die Wahlen Anfang November wurden auf griines Papier gedruckt, die siegreichen BefUrworter der Einigung benutzten weilles. Daraus entstanden die Namen fUr die beiden politischen Lager, das der Autonomisten als Zelenasi (zelen - griin) und jenes der proserbischen Bjelasi (bijelo - weill). In der Versammlung wurde Konig Nikola von der Bjelasi-Mehrheit entthront und die bedingungslose Vereinigung mit Serbien verkiindet. Es wurde der Beschluss gefasst, dass das neue vereinigte Konigreich mit den ubrigen sudslawischen Volkem in das neugegriindete Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen eintritt. Durch die Entscheidung der Versammlung von Podgorica horte das unabhangige und souverane Konigreich Montenegro auf zu existieren. FUr die Gegner der Vereinigung handelte es sich dabei urn eine nicht legitime Annexion, und sie bemOOten sich, den Widerstand zu organisieren. So kam es auch zum groBen Weihnachtsaufstand (BoZicna pobuna) im Januar 1919, der blutig erstickt wurde. Die Motive der Zeienasi iagen nicht nur in der Loyalitat der Petrovici-Dynastie bzw. dem Konig gegenuber, sondem in der Wahrung der Ehre und der Seibstandigkeit von Montenegro und in dem Anspruch, gieichberechtigt behandelt zu werden. Diese Spaltung unter den Montenegrinem in bezug auf das Serbentum sollte sich noch oft politisch auswirken und besitzt in der Gegenwart, nach dem Zerfall Jugoslawiens, eine besondere Brisanz.
Deutsch von Heiko Hansel Literatur 1m 19. lahrhundert war Montenegro, insbesondere der heroische Befreiungskarnpf gegen die Osmanen Thema reger literarischer Beschafiigung, die im 20. lahrhundert keine Fortsetzung fand. Das 1948 gegriindete Historische Institut Montenegros betreibt eine systematische wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte Montenegros, hat ca. 100 Quellensammlungen und Monographien veroffentlicht und gibt die Zeitschrift !storijski zapisi heraus. Viele zuvor ideologisierte Fragen konnen erst seit den 90er Jahren objektiv erforscht werden, wobei auch heute die Geschichtsschreibung nicht frei von politischen Einstellungen ist, gerade hinsichtlich der Einigung mit Serbien und der Aufhebung des montenegrinischen Konigshauses 1918, aber auch bei der Beurteilung des Zweiten Weltkrieges. AuBer auf russisch liegen neuere wissenschaftliche Publikationen iiber Montenegro in den groBen Weltsprachen nicht vor. Einzig auf franzosisch wurden zehn Aufsatze maBgeblicher montenegrinischer und serbischer Historiker unter dem Titel "Le Montenegro dans les relations intemationales" in: !storijski zapisi, Heft 1-2 (1984), S. 7-230 veroffentlicht.
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Die politische Geschichte des Kosovo Shkelzen Maliqi
Kosovo (10.908 km2, albanisch ,,Kosova") ist der Name einer geographischen tUld politischen Region im ehemaligen Jugoslawien. Nachdem das Kosovo 1989 als konstitutiver Bestandteil des foderativen Jugoslawien abgeschaffi worden war, erklarten die politischen Vertreter der albanischen Mehrheit seine Unabbiingigkeit (Republika e Kosoves, Republik Kosova), es verblieb aber im Rahmen der 1992 proklamierten BtUldesrepublik Jugoslawien weiterhin tUlter der ZwangsverwalttUlg der Republik Serbien. Das Kosovo grenzt im Norden an Serbien, im Suden an Makedonien, im Sudwesten an die Republik Albanien tUld im Nordwesten an die Republik Montenegro. Es hat etwas mehr als zwei Millionen Einwohner, von denen schiitzungsweise 90 Prozent Albaner tUld der Rest Serben, Muslime, Montenegriner, Tiirken tUld Roma sind (77,4 Prozent Serben nach der VolkszahltUlg von 1981. Die VolkszahltUlg von 1991 wurde von den Albanern boykottiert, so dass sich fUr die Gesamtbevolkertmg tUld die Nationalstruktur des Kosovo nur Schiitzungen angeben lassen). Wann tUld wieso der Name von Kosovo polje (Amselfeld) auf die ganze Region bezogen wurde, ist nicht ganz klar. In den mittelalterlichen Quellen wird der Name fUr die Hochebene benutzt, tUld zwar zum ersten Mal in Berichten uber die beriihmte Schlacht von 1389 auf dem Kosovo polje (lateinisch: campus merulae). In der serbischen Tradition war der Name Metohija fUr das Westkosovo ublich, wo sich einige der bekanntesten orthodoxen Kloster befinden. Der Name ist aus dem byzantinisch-griechischen Wort metochia abgeleitet, das klosterliche Anwesen bezeichnet. In der albanischen Tradition war fUr diese Gegend der Name Dukagjin-Hochebene ublich, nach dem Namen der mittelalterlichen Herrscherfamilie Dukagjin. 1m sozialistischen Jugoslawien hieB die Provinz ZtUlachst Kosovo tUld Metohija (kurz Kosmet). Seit 1968 bezeichnet ,,Kosovo" die ganze Region. 8.1. Die Herkunft der Albaner
Die Herkunft der Albaner (alban. Shqiptaret) war lange Gegenstand wissenschaftlicher (tUld pseudowissenschaftlicher) Kontroversen. In der modemen Historiographie uberwiegt die Ansicht, dass die Albaner Nachkommen altbalkanischer illyrischer St!imme sind tUld dass diese ,,Protoalbaner" wie andere altbalkanische Ethnien im Laufe der Geschichte Phasen der VermischtUlg tUld Assimilation mit romischen tUld slawischen Ethnien durchlaufen haben. Darauf deutet das Fehlenjeglicher Hinweise auf Albaner in der groBen Volkerwandertmg des friihen Mittelalters tUld die Tatsache, dass der Name der ,,Albaner" erst im 11. JahrhtUldert in den Quellen auftaucht. Meistens wird angenommen, dass die Vorfahren der heutigen Albaner als autochthone Bevolkertmg dieses Gebietes seit romischer Zeit nur in tUlZUganglichen Gebirgsregionen der Romanisiertmg tUld Slawisiertmg erfolgreich widerstehen tUld dort ihre Sprache tUld traditio-
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nelle Lebensweise erhalten konnten. Neben dieser These existiert auch die Auffassung, der Ursprung der Albaner liege bei thrakischen Stlimmen, doch die dafiir vorgebrachte sprachgeschichtliche Beweisfilhrung wurde in der neuesten Synopse des englischen Historikers Noel Malcolm iiberzeugend zuriickgewiesen. 8.2. Mittelalter
Das zentrale Gebiet des Balkan war jahrhunderte1ang Teil des Romischen Reiches, und die ansassige Bevolkerung wurde stark romanisiert. Als Theodosius 359 die Regierung des Reiches unter seine Sohne auf die West- und Osthiilfte teilte, wurden diese Gebiete dem ostromischen Reich zugeschlagen, dem noch Jahrhunderte groBartiger Entwicklung beschieden waren, wiihrend das Westreich zerfiel. Nach dem Kirchenschisma (1054) fie1 der nordliche Teil A1baniens erneut unter romische Jurisdiktion. Die wahrend der groBen Volkerwanderung zugezogenen Volker durchliefen im byzantischen Kaiserreich, das nach der Expansion unter Kaiser Justinian auch Dalmatien und Teile Italiens umfasste, umfangreiche gesellschaftliche Formierungsprozesse. Aus territorialen Stammesgesellschaften erwuchsen - auch unter dem Einfluss der westlichen Feudalisierungsprozesse - fiiihmitteialterliche Herrschaftsstrukturen, die sich gegen das dann schon durch Schwache gezeichnete Byzanz stemmten. Das erstarkte Konigreich Serbien expandierte gegen Siiden und Westen und beherrschte seit dem 14. Jahrhundert das Gebiet des Kosovo bis 1389, als es genau dort durch die Osmanen sein Ende erlebte. (7 Kap. 6) Das Gebiet des Kosovo verblieb danach bis 1912 unter tiirkischer Herrschaft. 1m politischen Sinne konnen wir dies als Vorgeschichte der serbisch-albanischen Beziehungen betrachten, die praktisch bis rum 19. Jahrhundert andauerte, als das serbische und das albanische Yolk die historische Szene mit dem Bestreben betraten, sich von der tiirkischen Besatzung zu befreien und eigene Nationalstaaten zu griinden. Dabei war das Kosovo das zentrale Gebiet, in dem die albanischen und serbischen nationalen Interessen kollidierten. Es nimmt daher im nationalen Selbstbewusstsein sowohl der Albaner als auch der Serben eine auBerordentlich wichtige Position ein. Die Serben heben das Kosovo als das Herzsruck ihres mittelalterlichen Staates hervor. Fiir die Albaner insgesamt ist das Kosovo von groBer Bedeutung, weil es mit ihrem historischen SelbstbewuBtsein tief verbunden ist, was vor allem in der Neuzeit durch die in Prizren (Siidkosovo) 1878 gegriindete ,,Albanische Liga" bekriiftigt wurde, die die nationale albanische Wiedergeburt, ,,Rilindja", einleitete. Die Anspruche auf das Kosovo werden aufbeiden Seiten von Geschichtsmystifizierung begleitet, die den Wunsch nach ,,Erweiterung" bzw. ,,Einengung" des Territoriums rechtfertigen solI. Wiihrend die serbischen Ideologen von einer gewaltsamen Expansion der Albaner auf "serbische Territori en" sprechen und davon, dass diese erst nach der tiirkischen Eroberung in das Kosovo eingezogen seien, behaupten die albanischen Ideologen, eine friihe gewaltsame Expansion slawischer Stlimme habe den Lebensraum der illyrischen und protoalbanischen Stiimme eingeengt. Demnach sei das albanische Yolk der Uberrest einer historischen Katastrophe aus romischer Zeit.
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Es entspricht allerdings den Tatsachen, dass das Kosovo Teil eines mittelalterlichen serbischen Konigreichs und fUr dieses wegen seiner Bergwerke von besonderer Bedeutung war. Die wirtschaftliche Entwicklung und die Macht, die mit den Erzbergwerken (in denen die Nemanjiden deutsche Bergleute beschiiftigten) verbunden war, leitete auch den Slawisierungsprozess der Albaner ein, der durch die osmanische Eroberung beendet wurde. Der tiirkischen Invasion des Balkan widersetzten sich auch die albanischen Stiimme und ihre Adeligen. An der Schlacht auf dem Amselfeld, in welcher der mittelalterliche serbische Staat 1389 seine Selbstandigkeit endgiiltig verlor, waren auch viele Adelige dieses Gebietes mit ihren albanischen, bosnischen, kroatischen und ungarischen Heeren beteiligt, die FUrst Lazar und seinem serbischen Heer zu Hilfe kamen. Gjergj Kastriota Skenderbeg, der die albanischen Stiimme im Widerstand gegen die Osmanen einte, wehrte die tiirkischen Eroberungsexpeditionen 25 Jahre lang ab (1443-1468). Nach seinem Tode zerfielen die albanischen Lander, die christliche Elite iiberquerte die Adria und siedelte sich in Siiditalien an. Ohne Fiihrungsschicht und nationale Kirche konvertierten die meisten Albaner bereits im 16. und 17. Jahrhundert zum Islam, wie sich den tiirkischen Steuerverzeichnissen entnehmen liisst. Die Griinde fUr die Konversion lagen auch hier vorwiegend in der besseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung der Muslime im multinationalen osmanischen Reich, unmittelbar aber in der Befreiung von der Kopfsteuer, die Nicht-Muslime zu bezaWen hatten. Die Albaner bekleideten im Verwaltungs- und Militarapparat in der Tat hohe und hOchste Amter. Es gab in der Zeit zwischen dem 15. und dem 17. J ahrhundert mehr Grofiwesire albanischer als tiirkischer Abstammung. Viele Albaner hingen aber auch dem Kryptochristentum (alb. Laramane, bunt) an, gaben sich also den Behorden gegeniiber als Muslime aus, blieben aber Christen. Eine andere Besonderheit war die starke Verbreitung der sektiererischen Bewegung des sogenannten Bektaschi-Ordens, fUr den ein starker Synkretismus verschiedener religioser Einfliisse (auch christlicher) auf der Grundlage der Sufi-Mystik und der Derwisch-Ordnung typisch war. Bezeichnenderweise war das Erwachen der albanischen Nationalbewegung gerade in den Bektaschi-Zentren sehr stark.
8.3. Yom Osmanischen Reich zur serbischen Besetzung Es gab Perioden, in denen Albaner und Serben in ihrem Bestreben, sich von der tiirkischen Macht zu befreien, verbiindet waren. Zur Zeit der osterreichisch-tiirkischen Kriege Ende des 17. Jahrhunderts schlossen sich sowohl die albanischen Aufstandischen, die yom katholischen BischofPjete Bogdani gefiibrt wurden, als auch die serbischen Truppen den Osterreichem an, die Stadte und Gebiete im Siiden des Balkan eroberten. Unter der neuen Fiihrung des Grofiwesirs Mehmet KoprUlu, der zu einer machtigen albanischen Dynastie unter den osmanischen Beamten gehOrte, wendete sich das Kriegsgliick schnell zu Gunsten der osmanischen Truppen, woraufhin die revoltierenden Serben und Albaner (hauptsachlich aus dem katholischen Stamm der Kelmendi) in berechtigter Angst vor den tiirkischen Repressalien den sich zurUckziehenden Truppen des osterreichischen Heeres folgten und iiber die Donau fliichteten. Dies ging als der
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Mythos des serbischen Massenexodus unter dem Patriarchen Cmojevic in die serbische Geschichtsschreibung ein, welches Ereignis angeblich die Ansiedlung und ethnische Dominanz der Albaner auf dem Kosovo nach sich zog. (7 Kap. 5) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Autonomiebestrebungen auch unter den Albanem verbreitet. Aber wahrend die serbischen Aufstiinde (1804 und 1815) wie auch die griechischen (1821) erfolgreich waren und die Bildung autonomer Fiirstentiimer und spater Staaten zur Folge hatten, gelang dies den Albanem nicht. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts sagten sich die machtigen albanischen Feudalherren Bushatliu im Norden (Shkodra/Skadar) und Ali Pasha im Suden Albaniens (Janina, Ioannina, gehort heute zu Griechenland) von der pforte los und fiihrten eine unabhangige und separatistische Politik. Streitigkeiten untereinander, die strukturelle Eingebundenheit der Elite in das Herrschaftssystem der Osmanen und die kulturelle Verwurzelung in deren Weltanschauung verhinderten die Entstehung einer Basis, die fiir die Entwicklung der Selbstiindigkeit dieser potentiell albanischen Fiirstentiimer stark genug gewesen ware (die Paschaluks von Janina und Skadar wurden 1822 bzw. 1831 wieder der Kontrolle der Pforte unterstellt). Die sogenannte Erste Orientkrise (1832-1841) erlebten die Albaner als geschichtlich verspatete Nation, und dieses Handicap begleitete sie durch das ganze 19. Jahrhundert. Wahrend ihre Nachbam (vor allem die Griechen, Serben und Montenegriner, spater auch die Bulgaren) eine akiive Staatspolitik betrieben, die darauf ausgerichtet war, die ,,Befreiung" des unter tiirkischer Besatzung befindlichen Territoriums vorzubereiten, erschopften sich die Albaner in einer Vielzahllokaler Aufstande gegen die tiirkische Herrschaft, ohne dass es ihnen gelang, sich zusarnmenzuschlie/3en. Der Grund dafiir wird von vielen in ihrer religiOsen Spaltung gesehen. Die Mehrheit der Albaner, etwa 65 Prozent, hatten den Islam angenommen, etwa 20 Prozent gehorten dem christlich-orthodoxen Glauben an und etwa 15 Prozent waren katholisch. Erst wahrend der sogenannten albanischen Renaissance, der Rilindja ("Wiedergeburt", zweite Halfte des 19. Jahrhunderts) erfand Vaso Pashe Shkodrani (1825-1892), einer der Ideologen der Bewegung, den Slogan "die Religion der Albaner ist ihr Albanertum", der zum allgemein anerkannten Prinzip des Vorrangs der nationalen Identitat vor den religiOsen Identitaten der Albaner wurde. In der Liga von Prizren (1878-1881) vereinigten sich alle regionalen albanischen Politiker (300 Delegierte) im Widerstand gegen die Beschlusse der Gro/3machte (Frieden von San Stefano yom Marz 1878 und Berliner Kongress im Juni desselben Jahres), die zu einer Teilung und Aufsplitterung der Albaner gefiihrt hatten. Die Liga erkllirte sich dem Osmanischen Reich prinzipiellloyal, forderte aber die Erhaltung eines einheitlichen und autonomen albanischen Territoriums; sie initiierte die Schaffung einer Armee, proklarnierte die nationale Aussohnung und das Ende der Blutrache sowie die politische und juristische Gleichheit alIer Albaner ungeachtet ihres Glaubens. Die Forderungen der Albaner wurden jedoch nicht berucksichtigt, da die europaischen Machte ihre Existenz prakiisch leugneten (Bismarck auJ3erte auf dem Kongre/3, es gebe keine albanische Nation). Die Unterstellung, die Liga von Prizren sei im Einvemehmen mit der Pforte entstanden, weil ihr islarnischer Flugel fiir eine Autonomie im Rahmen des tiirkischen Reiches eintrat, wurde durch ihre Aktivitaten widerlegt, die deutlich mach-
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ten, dass sie authentischer Ausdruck der albanischen Bestrebungen nach staatlicher Unabhlingigkeit war. Die albanische Nationalbewegung umfasste alle Teile des albanischen Volkes und wurde besonders von zahlreichen albanischen Emigranten vorangetrieben. Besonders einflussreich waren die Intellektuellen aus der Familie Frashl!ri (aus Siidalbanien), die offen fUr progressive Entwicklungen eintraten und viel fUr die albanische politische Kultur, in der Literatur und zur Etablierung der modemen albanischen Schriftsprache geleistet haben. Die politischen FUhrer der Albaner waren allerdings oft in Traditionalisten und Modernisten gespalten. Die Elite des Kosovo widersetzte sich lange den Modernisierungen wie etwa der Einfiihrung der lateinischen Schrift. Als die Hohe Pforte zur Einsicht kam, dass die Prizren-Liga ihren Interessen nicht mehr von Nutzen war, ging sie hart gegen deren Anh!ioger vor. 1881 wurde die Autonomiebewegung zerschlagen, und viele Albaner verschwanden fUr lange Jahre im Gefiiognis oder in der Verbannung. Serbiens Expansion im Siiden (Nis, Leskovac, Vranje), die yom Berliner Kongress sanktioniert wurde, ging mit Massenvertreibungen der Albaner einher, die von der Pforte dann mehrheitlich im Kosovo angesiedelt wurden. Dies fiihrte zu einer noch stiirkeren ethnischen Ubermacht der Albaner im Kosovo sowie zu Feindseligkeit gegeniiber dem offen expansionistisch auftretenden Serbien. Nach der Revolution der Jungtiirken im Jahre 1908 brachen im Kosovo eine Reihe von Revolten aus, die sich gegen den Zentralismus der Jungtiirken richteten und im Friihjahr 1912 ihren Hohepunkt erreichten. Der Erfolg des albanischen Aufstands war das Signal fUr die Intervention Griechenlands, Bulgariens, 8erbiens und Montenegros, die bereits im Laufe des Friihjahrs desselben Jahres Geheimvertrage abschlossen mit dem Ziel, der tiirkischen Macht auf dem Balkan ein Ende zu setzen und Makedonien, Thrakien und Albanien unter sich aufzuteilen. 1m Herbst 1912 begann der Erste Balkankrieg, in dessen Verlauf es den Verbiindeten gelang, die restlichen tiirkischen Streitkriifte zuriickzudriingen, aber auch den albanischen Aufstand zu ersticken. Die vierundvierzig Jahre andauemden Revolten der Albaner gegen die Tiirkei hatten das Imperium geschwiicht. Der englische Politiker und Reiseschriftsteller Aubrey Herbert stellte spater fest, die Albaner hatten die Saulen des Osmanischen Reiches zerstort, sie seien diejenigen gewesen, die den Sieg iiber die Tiirken erreicht hatten, und nicht Serben, Bulgaren oder Griechen, die davon profitierten. Serbien handelte schnell und besetzte das Kosovo, Makedonien und Nordalbanien. Die Verbiindeten auf dem Balkan waren nicht bereit, dem albanischen Yolk das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen. Einige Tage vor der tiirkischen Kapitulation am 3. Dezember 1912 versammelten sich am 28. November 1912 in Vlora im 8iiden Albaniens 86 albanische Politiker zu einer nationalen Versammlung und griindeten eine provisorische Regierung mit Ismail Kemal Bey Vlora an der Spitze, die die Unabhlingigkeit Albaniens proklamierte. Die europliischen Mlichte waren jedoch nicht zur Anerkennung bereit und billigten erst im Mai 1913 (aufDriingen 6sterreich-Ungarns und Italiens) die Griindung eines albanischen Fiirstentums (dessen erster Fiirst ein deutscher Prinz war) und zwar in reduzierten Grenzen, unter Amputation von Kosovo, Westmakedonien und Epirus, wo die Halfte des albanischen Volkes lebte.
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8.4. Unter serbiscber Suprematie In Serbien protestierten nur die Sozialdemokraten (D. Tucovic, K. Novakovic) gegen die Besetzung des Kosovo und Nordalbaniens. Tucovic verteidigte in seinem Buch "Serbien und die Arbanasi" das Recht der Albaner auf Selbstbestimmung, einschlieBlich derer im Kosovo. Die serbischen Parteien und Politiker wie Nikola Pa~ic bingegen rechtfertigten ihre expansionistischen Bestrebungen auI3er mit fiktiven historischen Argumenten auch mit den geostrategischen Interessen des serbischen Staates an einem ,,Ausgang rum Meer". (~ Kap. 6) PaSic bot den Albanem gewisse Autonomierechte an, tatsachlich aber iibte die serbische Besatzungsmacht Terror aus und veriibte Massaker an der albanischen Bevolkerung. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs besetzten die Osterreicher das Kosovo und fiihrten rum ersten Mal die albanische Sprache in Verwaltung und Schulen ein. Nachdem das an der Seite der Franzosen kiimpfende serbische Heer Serbien befreit hatte, besetzte es aufs neue das Kosovo sowie einen Teil Ost- und Nordalbaniens. Dem Ende 1918 gebildeten Komitee ,,Nationalverteidigung des Kosovo" (Komiteti i Mbrojtjes Kombetare te Kosoves) gelang es nicht, sein Ziel zu verwirklichen: die gerechte Losung der albanischen Frage beziehungsweise die Vereinigung des Kosovo mit Albanien. Serbische Truppen hielten siidostliche Teile des albanischen Territoriurns bis Ende 1921 besetzt, als die Siegermachte die Unabhiingigkeit Albaniens bestiitigten und die serbischen Besatzungskriifte ultimativ aufforderten, sich hinter die 1913 festgelegten Grenzen Albaniens zurUckzuziehen. In strikt staatsrechtlichem Sinne war diese serbische Annexion des Kosovo und Mazedoniens durch bilaterale Friedensvertrage zwischen Serbien und dem Osmanischen Reich nicht legalisiert. Erst der Vertrag von Ankara (1925) zwischen Jugoslawien und der Tiirkei scheint diese neuen Grenzen staatsrechtlich in vollem Sinne anerkannt und ratifiziert zu haben. Seit der Entstehung Jugoslawiens 1919 hat die Lage der Albaner dort sechs Phasen durchlaufen. Zuerst waren die Albaner kulturell, national und politisch vollig rechtlos, obwohl Jugoslawien Garantien fUr die Minderheitenrechte und die rechtliche Gleichstellung aller Biirger ungeachtet ihrer Herkunft, Nationalitiit, Sprache, Rasse oder Religion unterzeichnet hatte. Die serbischen Politiker behaupteten, es habe in den vom Konigreich vor der Griindung Jugoslawiens annektierten Territorien keine Minderheiten gegeben, also handle es sich bei der albanisch sprechenden Bevolkerung urn albanisch sprechende Serben. Die serbischen BehOrden betrieben auf den ausgedehnten Giitem der albanischen GroBgrundbesitzer eine aggressive Kolonisierungspolitik. Die albanischen Schulen wurden geschlossen. Zwischen den beiden Kriegen wurden etwa 330 Siedlungen fUr 10.877 serbische und montenegrinische Kolonistenfamilien errichtet. AuBerdem initiierten und organisierten die serbischen BehOrden eine Massenabwanderung von Albanern, Tiirken und slawischen Muslimen. (10.000 Albaner wanderten nach Albanien und einige Zehntausend in die Tiirkei aus.) Ziel der serbischen Politik war durchweg die Anderung der etlmischen Bevolkerungsstruktur. (Laut Volksziihlung von 1931 hatte das Kosovo damals 552.064 Einwohner, davon waren 347.214 Albaner, also 62,8 Prozent. Von westlichen Beobachtem wurden die Ergebnisse dieser Ziiblung dabei noch als zu niedrig angezweifelt.) Kolonisation und Abwanderung gingen der serbischen nationalistischen Elite jedoch nicht schnell genug. Der Historiker Vasa
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Cubrilovic legte im Miirz 1937 einen wnfassenden MaJ3nahmenkatalog vor, tun die Albaner Zillll massenhaften Verlassen des Kosovo zu notigen. Zur Rechtfertigung erkliirte er, durch die Vertreibung von einigen Hunderttausend Albanem werde es zu keinem neuen Weltkrieg kommen, wo doch auch Deutschland ungestraft seine Juden vertreiben konne. 1m Jahre 1938 versuchte Belgrad den SerbisierungsprozeB durch die Unterzeichnung eines Abkommens mit der tiirkischen Regierung iiber die Auswanderung von 400.000 Kosovoalbanem in die Tiirkei zu beschleunigen. Die Durchfiihrung dieses Plans wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindert. Wiihrend des Krieges war das Kosovo zwischen Italien, Deutschland und Bulgarien aufgeteilt. Das Gebiet unter italienischer Besatzung wurde Albanien angegliedert und es wurde dort eine Politik betrieben, die die Albaner bevorzugte (Schulen und Verwaltung in albanischer Sprache), wiihrend die Serben ihre friiheren Privilegien einbiiBten. Der GroBteil der serbischen Kolonisten, die sich in den zwanziger und dreilliger Jahren angesiedelt hatten, fliichtete aus dem Kosovo, teils auf Grund des Drucks, den die neue Obrigkeit ausiibte, teils aus Angst vor Rache. 1m Kosovo gab es nur wenige Kiimpfe und Tote, da die Albaner die Italiener und Deutschen als Befreier und nicht als Besatzer empfingen. 1m September 1943 beriefen nach der Kapitulation Italiens die nationalistischen FUhrer des Kosovo (Xhafer Deva, Rexhep Mitrovica usw.) die Zweite Liga von Prizren ein, deren Ziel die dauerhafte Vereinigung der albanischen Gebiete war, aber es gelang ihnen nicht, sich als die entscheidende Kraft bei der Losung der alb anischen Frage durchzusetzen. GroBe Bedeutung fiir die serbisch-albanischen Beziehungen und das Schicksal des Kosovo hatte die Entwicklung des Volksbefreiungskrieges in Jugoslawien. Er wurde von der Kommunistischen Partei Jugoslawiens angefiihrt, die gemii.13 den Direktiven der Komintem auch in Albanien eine Widerstandsbewegung organisierte. Die Hauptinstrukteure der albanischen Partisanenbewegung waren die Serben (bzw. ethnischen Montenegriner) Milan Popovic und DliSan Mugosa aus dem Kosovo. Ihr Favorit unter den albanischen Kommunisten wurde Enver Hoxha (1908-1985), der N achkriegsdiktator Albaniens, wiihrend die kommunistische Bewegung auf dem Kosovo von Fadil Hoxha (1916) gefiihrt wurde. Obwohl sie wiihrend des Krieges nur relativ geringe Krafte mobilisierte, wurde die kommunistische Bewegung fiir das Kosovo spater von entscheidender Bedeutung. Die am 2. Januar 1944 im DorfBunjaj abgehaltene Provinzkonferenz des Volksbefreiungskomitees fiir Kosovo und Metohija verabschiedete eine Resolution, in der es hieB, dass das Kosovo "ein Gebiet ist, in dem iiberwiegend Albaner leben, die schon immer und auch jetzt nach einer Vereinigung mit Albanien streben", weshalb 49 Delegierte dieser Versammlung "fiir vollstandige Freiheit und fiir das Recht des Volkes auf Selbstbestimmung, einschlieBlich Abspaltung" optierten. Die jugoslawischen Kommunisten hatten der albanischen Frage gegeniiber jedoch ein ambivalentes Verhaltnis. Ais Titos Partisanen im Herbst 1944 die Kontrolle iiber das Kosovo iibemahmen, kam es Zillll Aufstand nationalistischer albanischer Krafte. Die neue Macht fiihrte das Kriegsrecht ein, wobei sie betrachtliche Krafte fiir die Zerschlagung des Widerstandes einsetzte. Tito war der Ansicht, dass es zur Sicherung der Stabilitat der neuen Foderation notwendig war, auf die Gefiihle und Interessen der Serb en Riicksicht zu nehmen. Immerhin erwogen die jugoslawischen und albanischen Kommuni-
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sten auch die Moglichkeit, das Problem des Kosovo durch einen Verbund mit Albanien zu lOsen, wobei Albanien im Gegenzug als siebte Republik der jugoslawischen Foderation beigetreten ware. FUr eine breite Balkanf6deration setzte sich auch der bulgarische FUhrer Dimitrov ein, aber Stalin widersetzte sich diesen PHinen. Nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito machte die Parteinahme Enver Roxhas fUr die So\\jetunion allen albanisch-jugoslawischen Annaherungen ein Ende. 1m Sommer 1945 trat in Prizren das Gebietskomitee fUr das Kosovo zusammen, das seinen AnschluJ3 an Serbien beschloB. 1m September desselben Jahres wurde das ,,Autonome Gebiet von Kosovo und Metohija" gebildet. Eine der vertrauensbildenden MaBnahmen der neuen Macht war das Riickkehrverbot fUr etwa 40.000 serbische Kolonisten. Den Albanem wurde der Schutz ihrer politischen, nationalen und kulturellen Rechte sowie eine alle Bereiche umfassende enge Zusammenarbeit mit dem Mutterstaat Albanien garantiert; sie wurden in Jugoslawien jedoch weiterhin als Minderheit behandelt und der fi.ir das Kosovo vereinbarte Autonomiestatus war niedriger als jener der Vojvodina.
8.5. Unvollstiindige Gleichberechtigung in der FOderation und Verlust der Autonomie
Nach der Resolution des Kominfonnbiiros im Jahre 1948 wuchsen die Spannungen urn das Kosovo, weil Serbien die Verschlechterung der Beziehungen zu Albanien dazu nutzte, die Doktrin iiber seine unsicheren Grenzen und iiber die begrenzte Loyalitat der Albaner zu emeuem. Zwischen 1948 und 1966 terrorisierte die serbische Geheimpolizei unter verschiedenen Vorwanden die Albaner im Kosovo, einschlieBlich manipulierter Gerichtsprozesse gegen einen Teil der politischen Elite und der Intellektuellen. So wurde Adem Demat;i 1958 zum ersten Mal unter der Beschuldigung verhafiet, sezessionistische und irredentistische Ideen zu untersrutzen. Er verbrachte daraufhin 28 Jahre injugoslawischen Gefangnissen und wurde so zum Symbol des albanischen Widerstands und zum Vorbild fi.ir spatere Generationen von Irredentisten. Das politische Schliisselereignis fi.ir das Kosovo war 1966 die Ablosung des jugoslawischen Innenministers Aleksandar RankoviC (7 Kap. 13). 1m Kosovo fiihrte eine Sonderkommission der Regierung spater Untersuchungen durch und stellte zahlreiche Falle von MachtmiBbrauch, Morden (etwa 70), Verhaftungen und Folterungen an Albanem fest, die von Rankovics Einheiten der serbischen Polizei veriibt worden sind. Die politische Elite des Kosovo erhielt damals die Gelegenheit, groBere Autonomie von Serbien zu fordem. Demonstrationen albanischer Studenten und Biirger im November 1968 in Prishtina iibten zusatzlichen Druck aus. Die Forderungen standen im Einklang mit der allgemeinen Tendenz, die Einflussbereiche der konstitutiven Elemente der FOderation aufKosten der Zentrale zu starken sowie die Gesellschafi zu liberalisieren und zu demokratisieren. Nach der Abrechnung mit den liberalen Fiihrungen Anfang der siebziger Jahre untersrutzte Tito das Modell einer FOderalisierung Jugoslawiens. Eine Neuerung war, dass in diesem System auch die zwei fIiiheren serbischen Provinzen Kosovo und Vojvodina als gleichberechtigte konstitutive Elemente der FOderation behandelt wurden.
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Das Kosovo erhielt fonnal aile staatlichen Funktionen: Verfassung, Parlament, Regierung, Oberster Gerichtshof, unabhangige Polizei, Territorialverteidigung, das Recht aufVerleihung der StaatsangehOrigkeit und auf Ausstellung von Passen, usw. Das Kosovo war in den kollektiven Vorstanden von Partei und Staat gleichberechtigt vertreten, mit einem rotierenden einjahrigen Vorsitzendenmandat und mit seinen Delegierten im Bundesparlament. Es harte aber den dualen Status eines konstitutiven Elements der FOderation und gleichzeitig einer Provinz innerhalb der Republik Serbien. Auch wurden die Albaner nicht als Yolk anerkannt, der amtliche Terminus war ,,nationale Minderheit" (,,kombesi"). Titos Kompromiss bestand darin, die "staatlichen Funktionen" sicherzustellen, die Moglichkeit einer fonnalen Anerkennung der Republik Kosovo aber auszuschlieBen - "weil Serbien noch nicht bereit war, dies zu akzeptieren". 1978 wurde in Ubereinstimmung mit der Verfassung erstmals ein Albaner, Fadil Hoxha, als Prasident in das hOchste jugoslawische Staatsamt gewahlt. Die siebziger Jahre waren eine Zeit relativer Prosperitat. Man strebte eine beschleunigte Entwicklung und Modernisierung des Kosovo mit Hilfe eines Bundes-Sonderhilfsfonds fiir die unterentwikkelten Gebiete an. 1971 wurde die Universitat Prishtina gegriindet, an der auch Albaner aus Makedonien und Montenegro studierten. Solche Zeichen von Gleichberechtigung und Selbstiindigkeit der Albaner im Kosovo waren den nationalistischen serbischen Eliten ein Dom im Auge. Die Demonstrationen albanischer Studenten im Marz und April 1981 dienten ihnen als willkommener AnlaB, die "albanische Frage" wiederaufzunehmen. Die brutale Intervention der Polizei gegen die Studenten provozierte eine allgemeine albanische Revolte, auf die Belgrad sofort mit einer Intervention der regularen Streitkrafte reagierte, was zu grofiem Blutvergiefien fiihrte (offiziell gab es unter den Demonstranten neun Opfer, inoffiziell war die Zahl urn ein Vielfaches grofier). Uber das Kosovo wurde der Ausnalunezustand verhangt, und die Offentlichkeit sowie die fiihrenden Krafte in Serbien drangen darauf, dass die lokalen Fiihrungskrafte (Malunut Bakalli, Xhavit Nimani) abgesetzt und die sogenannten albanischen lrredentisten massenhaft bestraft wiirden. 1m Zusammenhang mit einer gewaltigen Repressionswelle wurden nach 1981 einige Tausend Albaner verurteilt, und zwar vomehmlich Anhanger illegaler linker Gruppen, die unter dem Einfluss des sogenannten ,,Enverismus", der albanischen Variante des Marxismus-Leninismus, bzw. Stalinismus standen. Man sChatzt, dass in dieser Periode fast 10.000 Albaner zeitweilige Freiheitsstrafen (meistens 30 Tage) bekamen. Zugleich wurde von Belgrad eine scharfe Kampagne gegen die albanische Intelligenz in Gang gesetzt, in der behauptet wurde, die Universitat in Prishtina sei "eine Bastion des albanischen Nationalismus und Separatismus". Die Repression wurde im Kosovo iibrigens von den albanischen kommunistischen Foorungskraften selbst ausgeiibt, da sie der Ansicht waren, die starke Verfassungsposition des Kosovo im Bund auf diese Weise am besten verteidigen zu konnen. SchlieI3lich wurde das Kosovo trotzdem zum Katalysator einer tiefen Krise des Bundes. Ais sich die Lage im Kosovo 1984 relativ stabilisiert harte und der Ausnalunezustand aufgehoben wurde, riefen nationalistische Kreise aus Belgrad die sogenannte serbische Widerstandsbewegung im Kosovo in Leben. Sie behaupteten, die Kosovoserben wiirden von der albanischen Mehrheit diskriminiert und verfolgt, bzw. der Anteil der Serben an der Bevolkerung des Kosovo sei rapide von 27 Prozent auf weniger als 10 Prozent gefal-
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len, und zwar nicht nur wegen der hohen albanischen Geburtenrate, sondern auch auf Grund direkter Gewalt und politischen wie wirtschaftlichen Drucks zur Auswanderung. 1986 unterschrieben 200 bekannte serbische Intellektuelle eine Petition, die die Revision des fdderalen Status des Kosovo forderte. 1m Jahr darauf unterzeichneten 60.000 Kosovoserben eine Petition, in der sie die AbschafIung der Autonomie des Kosovo und der politischen und kulturellen Rechte der Albaner forderten sowie eine Anderung der demographischen Verhiiltnisse im Kosovo, bzw. die Riickkehr der friiberen serbischen Kolonisten und die Vertreibung "illoyaler" Albaner, angeblicher ,,Emigranten" aus Albanien. Milosevic nutzte die Lage im Kosovo, urn die Macht in Serbien vollstiindig zu iibernehmen, und eroffnete eine vehemente Kampagne fUr die ,,Losung" der Kosovo- und der serbischen Frage in Jugoslawien.
8.6. Repression ond Widerstand Ein erster StoB wurde Milosevics hegemonistischen Ambitionen durch die albanischen Protestmarsche yom 17. bis zum 25. November 1988 versetzt, an denen mehrere Hunderttausend Albaner teilnahmen, die jedoch nicht die notwendige Unterstiitzung der FOderation erhielten. So wurde weder die Absetzung der fiihrenden albanischen Politiker (Azem Vllasi, Kaqusha Jashari) noch die willkiirliche Verfassungsiinderung und die Aufhebung der Autonomie des Kosovo und der Vojvodina als konstitutiver Elemente der FOderation verhindert. Am 20. Februar 1989 begann im Kosovo der Streik der Bergleute des Kombinats "Trep9a", der von einem Generalstreik der Albaner und von Studentendemonstrationen unterstiitzt wurde. Die Bundesregierung tief auf der Grundlage eines fingierten Dokuments iiber die Vorbereitung eines Aufstands im Kosovo den Ausnahmezustand aus und schickte Truppen dorthin. Nur in Slowenien protestierte die Offentlichkeit gegen die NotstandsmaBnahmen. Wiihrend dieser Zeit unterzeichneten 212 der bedeutendsten albanischen Intellektuellen eine Petition urn Aufschub der Verfassungsiinderungen. Nachdem eine Sitzung des Kosovoparlaments manipuliert worden war, iibernahm Serbien im Marz 1989 die Verfassungskontrolle iiber das Kosovo, die es ibm spater ermoglichte, die Autonomie des Kosovo weiter zu reduzieren und schlieBlich ganz aufzuheben. In den darauffolgenden Protesten totete die serbische Polizei 30 Demonstranten. 300 albanische Intellektuelle wurden ohne Verurteilung interniert, eine MaBnahme, die einschiichtern und die albanische Bewegung ihrer Fiihrung berauben sollte. Albaner wurden aus den fiihrenden Posten und der Verwaltung (vorneweg aus der Polizei) entlassen. Erst im Winter desselben Jahres begannen die Kosovoalbaner, politischen Widerstand zu organisieren. Am 7. Dezember 1989 wurde die Griindungsversammlung der ersten Oppositionsorganisation abgehalten, ihr folgte am 23. Dezember 1989 die Bildung des Demokratischen Bundes des Kosovo (LDK, Lidhja Demokratike e Kosoves), sowie spiiter anderer Parteien (Sozialdemokratische, Bauern-, Christdemokratische, Parlamentarische, Liberale, National-Demokratische Partei usw.). Nach neuen Massakern der serbischen Polizei in Malisevo und Glogovac bildete sich die sogenannte Albanische Alternative; sie forderte, den planlosen Widerstand durch kontrollierte Formen
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des gewaltfreien Protests zu ersetzen. Der Demokratische Bund des Ibrahim Rugova war aufierst erfolgreich und schuf ein weitverzweigtes Organisationsnetz. Diese Krafte waren von der Hoffnung geleitet, dass der Dominoeffekt nach dem Fall des Kommunismus auch ganz Jugoslawien ergreifen wiirde und dass im Kosovo in freien Wahlen und auf demokratischem Wege eine wirkliche Veriinderung der Verhaltnisse stattfinden wiirde. Als im April 1990 eine politische Delegation der Kosovoalbaner unter der Leitung von Rugova Washington besuchte, herrschte im Kosovo euphorische Stimmung. Ende Juni kam es zu starken Spannungen im Parlament des Kosovo und zur nationalen Spaltung. Die serbischen Delegierten betrieben Obstruktion der Parlamentsarbeit, sie verboten den albanischen Delegierten sogar das Betreten des Parlamentsgebaudes. Am 2. Juli 1990 hielten die albanischen Delegierten eine Sitzung vor den verschlossenen Tiiren des Parlaments ab, auf der eine Unabhiingigkeitserkliirung beschlossen wurde, mit der sich das Kosovo zu einem "gleichberechtigten konstitutiven Element der jugoslawischen FOderation" erklarte und die Albaner als Nation (komb) und nicht als nationale Minderheit defmiert wurden. Die serbischen BehOrden antworteten am 5. Juli mit der Auflosung des Parlaments in Prishtina und der Regierung des Kosovo. Es wurden sogenannte SondermaBnahmen eingeleitet - der Fernsehsender TV Prishtina wurde geschlossen und Tageszeitungen wurden verboten. In den darauffolgenden Jahren wurden mehr als 10.000 Albaner, die in der lokalen Verwaltung und im offentlichen Dienst gearbeitet hatten, entiassen, bzw. mehr als 100.000, wenn man diejenigen hinzuziihlt, die aus Fabriken und Bergwerken, aus Gesundheits- und Kultureinrichtungen, Verkehrs-, Handels- und sonstigen Betrieben entlassen wurden. Am 7. September 1990 hielten die Delegierten des albanischen Parlaments eine geheime Sitzung in Kayanik ab und proklamierten die Republik Kosova als "demokratischen Staat des albanischen Volkes und anderer Volker und nationaler Minderheiten, die seine BUrger sind". Regierung und Parlamentsabgeordnete gingen danach ins Exil, zuerst nach Kroatien und Slowenien, spater nach Westeuropa und Albanien. Die Republik Kosova wurde nur von der Republik Albanien anerkannt, wo sie eine stiindige Vertretung hat. In anderen Liindem (Deutschland, Schweiz, GroBbritannien, den skandinavischen Liindem) hat die Regierung informelle Zentren eingerichtet. Serbien hob nicht nur die Autonomie des Kosovo auf; es beschnitt die Rechte der Albaner auch in Kultur, Bildungswesen und sogar im Sport. Eine vollstiindige Segregation der Gesellschaft und nationale Diskriminierung mit fortdauemden repressiven PolizeimaBnahmen wurden eingefiihrt (Durchsuchung, Verhaftung, heftigste Priigel, Mord, inszenierte Gerichtsprozesse, systematischer Druck auszuwandem usw.); hieriiber existieren bei den Menschenrechtsorganisationen umfangreiche Dokumentationen. Als der Zerfall Jugoslawiens im Januar 1992 unaufhaltsam wurde, machte die internationale Gemeinschaft dem Regime in Belgrad ein bedeutendes Zugestiindnis, indem sie das Problem des Kosovo vollkommen ignorierte. Obwohl die sogenannte Badinterkommission beim Urteil fiber den Status der jugoslawischen Foderation von der letzten Verfassung aus dem Jahre 1974 ausging, hat sie die konstitutionelle Frage der beiden autonomen Provinzen als konstitutive Teile der FOderation mit dualem Status vollig vemachlassigt. Auch auf den Friedenskonferenzen von den Haag, London und
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Genfwurde das Problem des Kosovo immer wieder grundlos vertagt. Belgrad wurde wegen massenhafter Menschenrechtsverletzungen lediglich kritisiert. Zu der Zeit, als Belgrad ausgedehnte kriegerische Operationen in Kroatien und Bosnien durchfiihrte, wollte Milosevi6 keine neue Front im Siiden provozieren und duldete im Kosovo eine Art Status quo - weder Krieg noch Frieden. Die Organisation einer parallelen albanischen Gesellschaft und paralleler Institutionen mit Elementen einer unabhangigen albanischen Verwaltung sowie Vertretungen und Regierungsbiiros im Exil unter der Leitung von Bujar Bukoshi wiegten die Kosovoalbaner in der Illusion einer Alternative. Finanziert von Sonderfonds fimktionierten im Kosovo ein unabhangiges Netz politischer Organisationen, eine lokale albanische Verwaltung, ein paralleles Steuersystem (Steuern wurden auch bei den albanischen Emigranten im Westen an deren Wohnorten eingezogen), ein unabhangiges albanisches Schulsystem (von Vorschuleinrichtungen bis zur Universitat) und Bildungseinrichtungen, unabhangige albanische Medien und Verlage, Elemente eines unabhangigen Gesundheitssystems, selbstorganisierte kulturelle, sportliche und gewerkschaftliche Aktivitaten, usw. 1m Mai 1992, einige Wochen nach der Proklamation der Bundesrepublik Jugoslawien als F<>deration Serbiens und Montenegros, die von den Albanern nicht anerkannt wird, wurden im Kosovo Meh.'llarteienwahlen fUr das Parlament und das Prasidentenamt durchgefiihrt. In diesen Wahlen wurde Ibrahim Rugova ohne Gegenkandidat mit 99 Prozent der Stimmen zum Prasidenten der Republik Kosovo gewiihlt. Bei den Parlamentswahlen erhielt der Demokratische Bund des Kosovo (LDK) die meisten Stimmen. Obwohl Serbien die Durchfiihrung der Wahlen nicht behinderte, setzte es starke Polizeikrafte ein, urn die Konstituierung des Kosovoparlaments zu verhindem. Die albanischen Politiker entschlossen sich zu einer Strategie des gewaltfreien Widerstands und dazu, geduldig eine politische Uisung fUr das Kosovo zu fordern sowie sich auf den Rat und die Versprechungen der GroBmachte, vor allen der USA, zu verlassen. 1992 und 1993 begann die jugoslawische Regierung, die in dieser Zeit von Milan Pani6 gefiihrt wurde, mit einer Delegation des LDK iiber die Normalisierung der Arbeit der albanischen Schulen zu verhandeln. Es wurde lediglich eine Teilnormalisierung der Arbeit der Grundschulen in ihren Gebauden erreicht, ohne dass die Lehrer jedoch fUr ihre Arbeit bezahlt worden waren. Die Gebaude der weiterfiihrenden Schulen und der Universitat wurdenjedoch nicht zuriickgegeben und die Verhandlungen im Sommer 1993 eingestellt. 1m Rahmen der Kontaktgruppe (gegriindet 1993 von USA, GroBbritannien, Deutschland, Frankreich, Russland und Italien), die eine U:isung fUr den Krieg in Bosnien suchte, wurden Kompromisslosungen fUr den Status des Kosovo als einer weitgehend autonomen politischen Entitat, aber in den Grenzen der jetzigen Bundesrepublik Jugoslawien erwogen. Allerdings wurde auf der Konferenz in Dayton (Herbst 1995), wo das Abkommen tiber die Zukunft Bosniens geschlossen wurde, wieder einmal versaurnt, die Kosovofrage ernsthaft zu erortern. Dies fiihrte zur Unzufriedenheit unter Rugovas politischen Gegnern, die ihn beschuldigten, eine perspektivlose, passive Politik zu fiihren, die die politischen Reflexe stumpf werden lasse und die Albaner erniedrige, obwohl er sich immer fUr ein unabhangiges Kosovo oder ein internationales Protektorat eingesetzt hatte. Rugova wurde von Adem Demaqi und Rexhep Qosja heftig kritisiert,
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aber auch yom radikalen FIugel seiner eigenen Partei (LDK), die aus einer Gruppe friiherer politischer Haftlinge besteht. 1m Friihjahr 1996 tauchte zum ersten Mal der Name ,,Befreiungsarmee des Kosovo" (Uc;K, "Ushtria c;lirimtare e Kosoves") auf, einer Geheimorganisation, die die Verantwortung fUr Uberfalle auf Polizeistationen und serbische Fluchtlingssiedlungen im Kosovo ubernahm. Rugovas Politik des Abwartens hatte wohl nur ein positives Ergebnis. Unter Vermittlung der katholischen hurnanitliren Organisation "Sante Eugidio" aus Rom unterzeichneten er und Milosevic am 1. September 1996 ein Abkommen uber die Normalisierung der Arbeit der albanischen Schulen, das Belgrad aber nicht in die Tat urnsetzte. Ende 1996 brachen in Serbien schwere Unruhen aus, weil die Wahlergebnisse verfalscht wurden und die oppositionelle Koalition Zajedno urn ihren Sieg in den Kommunalwahlen gebracht worden war. Zu der Zeit eroffneten die albanischen Studenten und Adem Demayi eine scharfe Offensive gegen Rugova, weil sie annahmen, dass die Tage des Milosevic-Regimes gezlihlt seien. Dieser Offensive schloss sich auch das offizielle Albanien unter dem damaligen Priisidenten Sali Berisha an. Die Erwartung, Milosevic wiirde stiirzen, war jedoch verfriiht und die Position Berishas in Albanien so labil, dass er nach dem Kollaps des albanischen Staates und dem Uberfall groBer Menschenmengen auf die Armeekasernen, aus denen Hunderttausende Waffen entwendet wurden, zuriicktreten muBte. 1m Kosovo protestierten die Studenten gegen den Status quo und organisierten trotz Rugovas Widerstand Demonstrationen, auf denen die Umsetzung des Schulabkommens gefordert wurde. Die Studentenaktionen verlorenjedoch an Bedeutung, als die Uc;K im Herbst 1997 ihre Aktivitiiten intensivierte und bei der Beerdigung eines Opfers von PolizeimaBnahmen erstmals ihre Existenz bestiitigte. Dies geschah in der traditionell unbeugsamen Provinz Drenica, westlich von Prishtina, von wo aus ausliindische 10urnalisten die Geschichte von einem freien albanischen Gebiet verbreiteten. Das Belgrader Regime startete im Mlirz 1998 eine groBangelegte Polizeiaktion gegen die Einheiten der Uc;K, und zwar zuerst in Drenica, wo am 1. und 5. Mlirz in den Dorfern Likosan und Prekazi Massaker veriibt wurden, deren Opfer vor allem Zivilisten, Frauen, Kinder und alte Menschen waren (etwa 100 Opfer). Das Autkommen des militanten Widerstands diente Milosevic als Vorwand, urn gegen die albanische Zivilbevolkerung vorzugehen. Was als Polizeiaktion etikettiert wurde, zeigte von Anfang an sein wahres Gesicht. Serbische ,,Antiterroraktionen" richteten sich gegen albanische Dorfer, die beschossen und angeziindet wurden. 1m Grenzgiirtel zu Albanien, von wo sich die Einheiten der Uc;K mit Waffen versorgten, wurden weite Teile der Dorfer und Weiler niedergebrannt. Die von zwei eilig einberufenen Ministerkonferenzen der Kontaktgruppe erhobenen Forderungen, die polizeilichen Massenaktionen einzustellen, waren vergeblich. Die Taktik der verbrannten Erde hatte die Albaner im hOchsten MaBe mobilisiert, so dass die Uc;K in den Konfliktzonen und in einigen angrenzenden Gebieten groBen Zulaufbekam. Unter den gegebenen Umstiinden konnte dennoch keine richtige Armee organisiert werden, zumal die Uc;K nicht einmal die Untersrutzungjener schattenhaften Alternativinstitutionen hatte, die von Rugova und seinen Anhiingern in den Stiidten von Kosovo aufgebaut worden waren. Das Regime in Belgrad bereitete sich mittlerweile propagandistisch auf den Krieg und die Abrechnung mit den Kosovoalbanern
8. Die politische Geschichte des Kosovo
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vor. Nach den verlorenen Kriegen im Nordwesten Wld der immer deutlicher werdenden allgemeinen Isolation Serbiens, die zur AusbreitWlg von Resignation in der serbischen Bevolkeroog fiihrten, musste diese erst wieder neu mobilisiert werden. Denn obwohl die Hasspropaganda gegen die Kosovoalbaner eine Konstante des MilosevicRegimes war, lieB sich die BevolkerWlg nach Dayton fiir das Kosovo-Thema kaum erwiirmen. Als aber im Mai 1998 ein Referendum gegen eine ausliindische VermittlWlg im Kosovo-Konflikt organisiert wurde, bei dem die Bevolkeroog entscheiden sollte, ob Kosovo ausschlieBlich als innerserbische Angelegenheit zu behandeln Wld jegliche VermittlWlg als EinmischWlg in diese innere Angelegenheit abzulehnen sei, gelang es Milosevic wieder, die serbische Bevolkeroog fiir die Kosovo-Frage, damit gegen die Kosovoalbaner Wld den Westen zu mobilisieren. Die Kosovo-Albaner wiederum waren politisch zerstritten. Rugova organisierte im Miirz 1998 neue Parlaments- Wld Priisidentschaftswahlen Wld vertiefte dadurch die SpaltW1g zwischen den Blocken in der albanischen Politikszene. Daran iinderte die Tatsache nichts, dass er personlich die massenhafte Unterstiitzung der Bevolkeroog Wld ein neues Mandat als legitimer politischer Vertreter der Albaner erhielt. Einige Parteien hatten allerdings die Wahl boykottiert. Nach dem Misserfolg der Kontaktgruppe, in der Russland die Einfifurung neuer Sanktionen gegen Serbien ablehnte, schickten die Vereinigten Staaten Anfang Mai eine diplomatische Mission, die ein Treffen der beiden Prasidenten Milosevic Wld Rugova erwirkte. Dies ermoglichte Milosevic, eine zweigleisige Politik zu betreiben Wld einerseits den Anschein zu wahren, nach politischen VerhandlWlgslOsWlgen fiir das Kosovo zu suchen, andererseits weiter Krieg zu fiihren. Diese Taktik behielt Milosevic bei, nachdem er im Oktober 1998 auBerlich dem Ultimatum der Nato nachgegeben Wld einige Einheiten aus dem Kosovo zuriickzogen hatte, aber dennoch die VertreibWlg von Albanem Wld die Massaker fortsetzen lieB. Ebenso stimmte er der EntsendWlg von OSZE-Beobachtem in die Provinz zu Wld setzte trotzdem die "SauberWlgen" fort. Seine Strategie scheint es gewesen zu sein, nach auBen den Eindruck eines Nachgebens zu erzeugen Wld durch die Priisenz der auswiirtigen Beobachter Wld deren Konzentration auf den Truppenabzug davon abzulenken, dass durch gleichzeitige Massieroog der Truppen die Frlihjahrsoffensive gegen die albanische ZivilbevolkerWlg im Kosovo vorbereitet wurde.
Deutsch von Heike Majic Literatur Wichtigstes Werk zum Kosovo ist: Noel Malcolm, Kosovo: A Short History, London 1998. Es enthillt Hinweise auf die Literatur in praktisch allen relevanten Sprachen (dabei neben A1banisch und Serbisch auch Tllrkisch), fasst souveran die bisherigen Diskussionen iiber die Ethnogenese zusanunen und fiihrt iiberzeugende Iinguistische Argumente fur die iIIyrische und gegen die thrakische Herkunft der A1baner an. (Letztere wird in jilngerer Zeit a1s These aufgestellt bei Gottfried Schranun, Arifange des albanischen Christentums: die friihe Bekehrung der Bessen und ihre Langen FoLgen, Freiburg i.Br. 1994.) Ein weiterer Oberblick stanunt von Miranda Vickers, Between Serb and Albanian. A History of Kosovo, New York 1998, hier liegen die Gewichte weniger auf der friihen und mittelalterlichen a1s auf der jiingeren und jiingsten Geschichte (bis 1997). Eine gute Einordnung der kosovarischen Geschichte in den Balkanraum bietet: Hough Poulton, The Balkans: Minorities and States in Conflict, London 1994. A1s Einfiihrung in die
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albanische Geschichte aIlgemein heranzuziehen ist: Peter Bartl, Albanien: vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 1995; yom selben Autor auch: ,,Die AIbaner", in: Michael Weithmann (Hg.), Der ruhelose Balkan. Die Konfliktregionen Sudosteuropas, Miinchen 1993, S. 176-204. Grundlegende Informationen auch bei: Karl-JosefSchukalla, ,,Nationale Minderheiten in AIbanien und AIbaner im Ausland", in: Albanien (Sudosteuropa-Handbuch, VIII), hg. v. KIaus-Detlev Grothusen, GOttingen 1993, S. 505-528. Viele Details der Entwicldung bis nach Titos Tod und den Unruhen von 1981 bietet: Jens Reuter, Die Albaner in Jugoslawien, Miinchen 1982. Zur Entwicldung in den achtziger Jahren: Michel Roux, Les Albanais en Yougoslavie: minorite nationale. territoire et developpement, Paris 1992, sowie - knapperChristine v. Kohl u. Wolfgang Libal, Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan, Wien, ZUrich 1992; in englischer Spracbe auch enthalten in dern Samme1band von Robert Elsie (Hg.), Kosovo. In the heart ofthe Powder Keg, Boulder, New York 1997. Dieser Band enthliit neben einer sehr ausfiihrlichen Bibliographie auch tibersetzte historische Doknmente wie das Cubrilovie-Mernorandum von 1937, ferner aktuelle Texte und Interviews. Solche Informationen bieten auch: Denisa Kostovioova, Parallel Worlds: Response ofKosovo Albanians to Loss ofAutonomy in Serbia, 1986-1996 (Keele European Research Centre Research Papers: Southeast Europe Series 2), Keele 1997; ShkeIzen Maliqi, Kosova: Separate Worlds. Reflections, Analyses, Prishtina 1998. Zur jOngsten Entwicklung: Stefan Troebst, "The Kosovo War, Round One: 1998", in: SUdosteuropa 48 (1999), H. 3-4, S. 156-190; geldlrztauch in: SIPRI Yearbook 1999, Oxford 1999. Den Beginndes Krieges 1999 sowie Hintergriinde erfasst: Thomas Schmid (Hg.), Krieg im Kosovo, Reinbek 1999.
Der Kosovo-Krieg hat die gewachsene Bedeutung des Internet demonstriert, das Informationen oft am schnellsten zuglInglich machte. Daher seien - ohne Anspruch aufVollstandigkeit - einige wichtige Adressen im World Wide Web angegeben:
Human Rights Watch-Seite zum Kosovo: ·· Jugoslawisches Aussenministeriwn: ·Seite desjugoslawischen Rundfunks, von wo es taglich die amtlichen Nachrichten auch in deutscher Sprache zu bOren gibt: · · Hellenic Recources Network: • Hellenic Recources Network - Kosova Information Center (KlC): · Dernocratische Partei Jugoslawiens: • Informationen des deutschen AA zum Kosovo: • Informationen des Verteidigungsministeriurns zum Kosovo: · OS1 Macedonia: • Seite der NATO zurn Kosovo: • Informationsdienst mit aktuellen Meldungen, Berichten und Kommentaren aus undzum Kosovo: · Internet Nachrichtendienst Infobasis.de - Seite zurn Kosovo: • · Kosovo Info Center: ·Kosoya Homepage: • Koha Ditore (ARTA): (derzeit ausgeschaltet)· Balkan Peace Team - Special Reports: • Center for Security Studies and Conflict Research, Swiss Federal Institute of Technology: · UNPO, den Haag: ·TheSchoolof Slavonic and East European Studies (SSEES) University of London: • Orthodox Christian Missions and Evangelism: • Kosovo-Seite von Le Monde Dopilomatique: ·CommunauteJuif Online - Kosovo-Seite: • Courrier International: · Homepage der UCK: · Homepage von BORBA - Belgrad: · Le Courrier des Balkans: · Homepage des UNHCR: ·InsituteforWarandPeace reportiogs: · International Crisis Group:
Zusammentstellung: Wolfgang Klotz
9.
Makedonien Darko Dukovski
Geographischreicht Makedonien yom Sar-Gebirge im Norden, von den Westrhodopen und dem Fluss Mesta (griechisch Nestos) im Osten, von der Agiiis, dem Olymp und dem Fluss Bistrica (griechisch Aliakmon) im Sliden bis zu den Bergen Korab, Jablanica, Mokra und Pindos im Westen. Die Gesamtflache von 67.000 Quadratkilometem ist heute auf drei Staaten verteilt. Die Republik Makedonien umfasst davon 37 Prozent, nach dem zentralen Flusslauf auch Vardar-Makedonien genarmt. Daneben spricht man von Pirin-Makedonien in Bulgarien und Agais-Makedonien in Griechenland. ,,Makedonien" ist allerdings eine eher willkiirliche Definition europaischer Geographen, die damit Ende des letzten J ahrhunderts - in Anlehnung an antike Quellen - einem geographisch und ethnisch uneinheitlichen Restgebiet osmanischer Herrschaft in Europa einen Namen gaben. Dieser verwies auf die Mazedonen, nordliche Nachbarn der antiken Griechen, die yom Mazedonen-Konig Philipp II. im 4. Jahrhundert v. Chr. unterworfen wurden. Nach dem Niedergang des von Philipps Sohn Alexander eroberten Weltreichs und seiner Nachfolger wurde Mazedonien 146 v. Chr. romische Provinz und nach der Reichsteilung 395 n. Chr. Teil des Byzantinischen Reichs. Zu des sen Themata (Verwaltungseinheiten) gehorte seit dem Ende des 8. Jahrhunderts auch Makedonien, yom 9. bis zum 11. Jahrhundert regierte in Konstantinopel die Dynastie der ,,Makedonenkaiser". Doch handelte es sich hier urn geographische, nicht etwa ethnische Bezeichnungen.
9.1. Mittelalter Sprachlich gehOrten die Vorfahren der modemen Makedonier zu den Slawen, die im Laufe des 6. und 7. Jahrhunderts in den Slidosten Europas einwanderten und in den byzantinischen Quellen als ,,Anten" auftauchen. Teilweise verschmolzen die Eindringlinge mit der illyrisch-romanischen, thrakischen und griechischen Stammbevolkerung, doch urn Saloniki siedelten sich mehrere slawische Stiimme dauerhaft an. Sie vermischten sich mit den ebenfalls in den Balkanraurn eingedrungenen, turksprachigen Bulgaren (spater Protobulgaren genarmt), die die slawische Sprache libemahmen, aber die FUhrungschicht erster staatlicher Gebilde der Slawen stellten. (7 Kap. I) Ein solcher bulgarisch-slawischer Staat, seit Ende des 7. Jahrhunderts Bulgarien genarmt, besiegte Byzanz und zwang ihm 681 einen Tribut abo In stiindigen Kiimpfen gegen Byzanz wuchs die Macht des bulgarischen Staates, wodurch ein GroBteil Makedoniens in seinen Herrschaftsbereich geriet. Der bulgarische Herrscher (Khan) Boris nahm 865 das Christentum an und fiihrte es in seinem Herrschaftsbereich ein. Zuvor hatte er sowohl nach Osten als auch nach Westen Kontakte unterhalten, doch die papstlichen Gesandten konnten eine Hinwen-
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dung zu Byzanz, das groBere kirchliche Unabhiingigkeit versprach, nicht verhindem. 1m 9. Jahrhundert schufen die aus Saloniki stammenden Bruder Konstantin (Kyrill) und Method mit der Glagoliza das erste Alphabet, das der Sprache der (in Makedonien lebenden) Slawen angepasst war, in deren Christianisierung das Hauptziel der Schaffimg des slawischen Schrifttums lag. Mit den Bibelfibersetzungen ins Slawische wurde die Grundlage fUr das noch heute weit fiber seinen makedonischen Ausgangsort hinaus verwendete Kirchenslawische geschaffen. Im 10. Jahrhundert wurde die Glagoliza durch die Kyrilliza, eine Weiterentwicklung der griechischen Schrift durch Kyrills und Methods Schiller, ersetzt. (7 Kap. 16) Wiihrend der bulgarische Staat immer weiter slawisiert und christianisiert wurde, vergroBerte er sich, indem er die auBeren und inneren Missstande von Byzanz am Anfang des 10. Jahrhunderts ausnutzte. Der Hohepunkt der Ausdehnung wurde unter Fiirst Simeon erreicht, der sich zum Zeichen seiner Vorherrschaft auf dem ostlichen Balkan und seiner Siege fiber Byzanz im Jahre 918 den Titel "Selbstherrscher der Bulgaren und Rhomaer (Griechen)" gab und den bulgarischen Erzbischof zum Patriarchen erhob. Dieser kronte Simeon dann zum ,,zaren", doch Simeons Nachfolger Peter (ab 927) trug den Zarentitel nur fUr Bulgarien, das Patriarchat blieb hingegen von Byzanz anerkannt. Nach dem Tod Peters (969) schlugen die Byzantiner die eindringenden Kiewer Russen zuriick und unterwarfen Bulgarien wieder. Die durch eine Rebellion an die Macht gelangten "JungfUrsten", Sohne des makedonischen Provinzstarthalters, mussten unter Beibehaltung ihrer Autonomie formell den Kaiser anerkennen. Aus ihrem Aufstand gegen Byzanz (976) ging nach Kampfen innerhalb der Dynastie der jiingste Bruder Samuel siegreich hervor. Er wahlte nach der Eroberung byzantinischer Territorien die Stadt Prespa zu seinem Sitz und zog spater nach Ohrid (Achrida) urn, wo er sich zum Zaren ausrufen lieB. Das Erste Bulgarische Reich harte damit in seiner Endphase sein Zentrum in Makedonien. Ob es damit auch zum ersten ,,makedonischen" Staat wurde, soBte in unserem Jahrhundert zum Streit zwischen makedonischen und bulgarischen Historikem fiihren. Zwar sab sich Samuel als Herrscher der Bulgaren und keineswegs der Makedonen, doch ist unbestreitbar, dass sein westbulgarisches oder ,,makedonisches" Reich, das strukturell viele Parallelen zu Byzanz aufwies, sich deutlich yom Bulgarischen Reich unter seinen Vorgangem unterschied. In langen Kampfen seit Ende des 10. Jahrhunderts wurde Samuel 10 14 yom byzantinischen Kaiser Basileios II., dem ,,Bulgarentoter", endgilltig besiegt. Er starb im gleichen Jahr, nach der baldigen Unterwerfung seiner Nachfolger ging das seit 681 bestehende Erste Bulgarische Reich unter. Unter Samuel harte es Makedonien (auBer Saloniki), den groBten Teil Bulgariens, Thessalien und Epirus, Albanien, die Fiirstentiimer am Kiistenland, Territorien an der Neretva und Teile Serbiens (Raszien) umfasst. In den eroberten Gebieten harte Samuel seine Macht nicht lange aufrechterhalten konnen, so dass sich diese Lander schnell yom Vasallentum befreiten. Nach dem Zusammenbruch wurde Samuels Staat von den Byzantinem geteilt, und in Makedonien wurde das Thema Bulgarien mit dem Hauptort Skopje (Scupi) errichtet. Ais kulturelles Erbe von Samuels Staatsgebilde blieb das autokephale Erzbistum. Sein erster Sitz war in Prespa, der spater mit dem koniglichen Hof nach Ohrid verlegt wurde. Nach dem Zusammenbruch von Samuels Staat wurde dem Bistum der Rang als
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eigenes Patriarchat von Byzanz aberkannt, der Erzbischofblieb im Verhaltnis zu den untergeordneten Bistiimern zwar selbstandig, war jedoch in allen anderen Dingen von Byzanz abhangig und wurde vom Kaiser direkt ernannt. Nach dem Tod Basileios' II. wurde das Ohrider Erzbistmn von Griechen gefiihrt, die das slawische Schrifttum auf den hoheren Ebenen der kirchlichen Hierarchie abschafften. Auf unterer Ebene blieben aber slawische Liturgiesprache und -schrift weiterhin im Gebrauch. Eine groBe Rolle in der Geistesgeschichte des gesamten europaischen Siidosten spielte die religiose Bewegung der Bogumilen, die sich in Bulgarien und Makedonien seit dem 10. Jahrhundert ausbreitete. Ihr Ursprung ging auf die Paulikianersekte aus Kleinasien zuriick, deren AngehOrige von den Byzantinern nach Thrakien umgesiedelt worden waren. Der Name riihrte von dem vermeintlichen Grunder her, einem bulgarischen Popen Bogurnil. Diese manichaische Sekte ahnelte mit ihren "sozialrevolutionaren" Akzenten den Waldensern und den Katharern Westeuropas und hatte deren Entstehung wohl auch beeinflusst, wovon die Bezeichnung ,,Bulgari" fUr die westlichen Sekten zeugt. Die Kosmologie von Bogurnilen wie Katharern beruhte auf extremem Dualismus, dem Kampf zwischen dem Guten und Bosen, dem Geistlichen und Weltlichen, was konkret den Kampf gegen den Erwerb von Besitztiimern und weltlicher Macht durch die Kirche bedeutete. Die Bogumilen lehnten es ab, sich der staatlichen Macht zu unterwerfen und verlangten von ihren Anhangern ein asketisches Leben. Von Byzanz erbittert bekampft, hielten sich die Haretiker dennoch langer als ahnliche Bestrebungen in Westeuropa - namlich bis zum Vordringen der osmanischen Tiirken. Die Behauptung einer massenhaften Verbreitung des Bogumilentmns in Bosnien diirfte allerdings eine ideologische Verzerrung aus spaterer Zeit sein. (~Kap. 4, ~ Kap. 19) Anfang des 13. Jahrhunderts, insbesondere zur Zeit des vierten Kreuzzuges, tiel ein Teil Makedoniens an das von einem Kreuzritter regierte Konigreich von Saloniki, der andere an das Zweite Bulgarische Reich, das zwischen 1185 und 1396 Bestand hatte. Die Kampfe bulgarischer, serbischer und lateinischer Machthaber und Kreuzfahrer zogen sich bis zur Wiederherstellung des byzantinischen Kaiserreichs 1261 hin. Doch statt Byzanz oder Bulgarien konnten nun die Serben unter ihrem Konigshaus der Nemanjiden dauerhaft in Makedonien FuB fassen. 1282 eroberte Konig Milutin den nordlichen und mittleren Teil, sein Nachfolger Stefan Decanski besiegte 1330 Griechen und Bulgaren und unterwarf fast das gesamte Makedonien. Dessen Sohn Dusan schloss diese Eroberungen in den Jahren 1345/46 ab, lieB sich in Skopje zum ,,Kaiser der Serben und Griechen, der Bulgaren und Albaner" kronen und erlieB dort drei Jahre spater auch sein fUr die serbische Geschichte wichtiges Gesetzbuch (Zakonik). (~Kap. 6)
9.2. Voter osmaoischer Herrschaft 1371 schlugen die seit der Eroberung Gallipolis (1352) vorriickenden Osmanen bei Cernomen an der Marica die serbischen Fiirsten in Makedonien. Nach dem tiirkischen Sieg 1389 auf dem Amselfeld geriet ganz Makedonien unter osmanische Herrschaft und wurde dem Beglerbegluk (Provinz) von Rumelien (Rum - Rom, ehemalige byzantinische Besitzungen) zugeteilt, das auf die vier Sandschaks (Regierungsbezirke) Kju-
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stendil, Ohrid, Saloniki Wld Skopje aufgeteilt war. Einige serbische Feudalherren mit Uindereien in Makedonien waren zunachst tiirkische Vasallen geworden. Doch nach ihrem vollsmndigen Sieg fiihrten die Osmanen in den neueroberten Gebieten ein militansches Lehenswesen mit islamischen bzw. islamisierten Lehensmannern, den Spahis (Sipahi = osmanisch ursprunglich ,Reiter') ein. Die Osmanen regierten nicht in die Jurisdiktion des christlichen Millet (religiose Gemeinschaft) hinein, auch blieb das autokephale Erzbistum Ohrid bis 1777 intakt. Doch nach seiner AufhebWlg wurde das griechisch-orthodoxe Patriarchat in Konstantinopel immer mehr gef6rdert, was zu einer Bevorzugung der Griechen innerhalb des christlichen Millet fiihrte. Schon friiher hatte, bedingt durch den besseren wirtschaftlichen Stand der Muslime, der langwierige Prozess der IslamisierWlg der christlichen BevolkerWlg begonnen, von der in Makedonien heute noch die slawischsprechenden muslimischen Torbesi zeugen. Eng mit der IslamisierWlg verkniipft war der Zuzug tiirkischer Familien aus Kleinasien nach Makedonien. Neben Tiirken besiedelten die makedonischen Stadte besonders seit dem 16. JahrhWldert auch Juden, die aus Portugal Wld Spanien Zuflucht suchten. Ausser ihnen spielten im Handel besonders Griechen, teilweise auch Armenier eine wichtige Rolle. (7 Kap. 4) Nach der Niederlage vor Wien, Ende des 17. JahrhWlderts, wurden die Tiirken von den europaischen Machten immer mehr zuriickgedrangt. Dennoch wuchs spatestens im 19. JahrhWldert (d.h. seit der Reformeinfiihrung in der Tanzimat-Epoche) mit der allmahlichen EinbeziehWlg des osmanischen Reiches in die europaische Wirtschaft ein bulgarisches bzw. makedonisches Biirgertwn heran, das immer deutlicher seine Interessen gegen die osmanische Herrschaft Wld die griechische geistige BevormWldWlg artikulierte. Makedonier wie Bulgaren kampften fUr ein slawisches Schulwesen Wld slawische BischOfe, wobei ersteres von den osmanischen Reformem gewahrt, letzteres yom Konstantinopoler Patriarchat jedoch verwehrt wurde. Nachdem die griechische Orthodoxie kaum zu Zugestandnissen an die Slawen bereit war, griindeten die Osmanen - auch Wlter russischem Druck - 1870 das bulgarische Exarchat, eine Kirchenorganisation, die die religiosen Belange der Bulgaren selbst regeln sollte Wld nur dem Sultan Wltergeordnet war. Obwohl das Konstantinopoler Patriarchat die bulgarische Kirche fUr schismatisch erklatte, traten die makedonischen Diozesen nach einer VolksabstimmWlg dem Exarchat bei. Doch innerhalb des bulgarisch-makedonischen Biindnisses kam es allmahlich zur DifIerenzierWlg der Interessen Wld VorstellWlgen von einer nationalen Integration. Erste Druckwerke in makedonischem Slawisch erschienen in den vierziger Jahren, auch in Schulen begann der Unterricht in dieser Sprache, die mit Griechisch, Serbisch, vereinzelt mit Albanisch und dem von den Wlachen gesprochenen Aromunisch als Schulsprachen konkurrierte. Mit dem Postulat einer eigenstandigen makedonischen Sprache war die Perspektive einer makedonischen Autonomie innerhalb des osmanischen Reiches oder sogar der volligen Selbstandigkeit verbWlden, die auch aus okonomischen Grunden einem Anschluss an Bulgarien vorgezogen wurde. Bekanntester Vertreter dieser Position war Krste Misirkov. Ab wannjedoch von einer eigenen makedonischen Sprache die Rede sein kann, bleibt ein schwieriges linguistisches Problem, das sehr von politischen EinstellWlgen belastet ist. Es dauerte bis Februar 1999, bis Bulga-
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rien in einem Abkommen mit Makedonien die Existenz einer vom Bulgarischen verschiedenen makedonischen Sprache anerkannte. Als nach dem russisch-tllrkischen Krieg der Friede von San Stefano 1878 die Niederlage des Osmanischen Reiches besiegelt batte, wurde Makedonien Teil des neuentstandenen autonomen bulgarischen Staates. (7 Kap. 6) Unzufrieden mit der VergraBerung von Russlands VerbOndetem Bulgarien erzwangen die westeurop1iischen GroBmachte die Anderung des Friedensabkommens. Der Berliner Kongress (Juni-Juli 1878) brachte Makedonien wieder unter tllrkische Herrschaft mit der Auflage, dort Reformen durchgzufiihren. Damit waren weder das serbische, das bulgarische, noch das griechische Biirgertum zufrieden. Makedonische Ideologen der nationalen Wiedergeburt forderten sogar, dass Osterreich und Russland Makedonien unter ihren Schutz steUen soUten. Immer mehr spitzte sich die Orientalische Krise auf die ,,Makedonische Frage" zu, die ein enormes KonfiiktpotentiaI barg, da aIle Nachbarstaaten Anspruche auf das letzte groBe StUck des Osmanenreiches in Europa anmeldeten. Ein Aufstand in Bulgarien und Makedonien 1878 wurde niedergescblagen, denn die Tiirkei wurde von England unterstiitzt, und die promakedonischen und probulgarischen Kr!ifte batten sich nicht einigen kannen. GespaItenheit sowie wechselnde BOndnisse mit anderen Nationen waren typische Merkmale des Kampfes der Makedonier fiir ihren Staat. Da historische Anrechte auf einen makedonischen Staat schwer zu begrOnden waren, bemiihte sich der Metropolit in Skopje seit 1891 urn die GrOndung einer autokephaIen makedonischen Kirche aIs Vorbedingung fiir einen Nationalstaat. Nachdem einige Vorlaufer in Form literarischer GeseUschaften existiert hatten, entstand im Herbst 1893 in SaIoniki eine geheime revolutionare Organisation. Schon im folgenden Jahr wurde das Programm der IMRO (Innere makedonische revolutionare Organisation, makedonisch VMRO, VnatreSna makedonska revolucionarna organizacija) verabschiedet, das die Autonomie Makedoniens anstrebte, wobei das Verh!iltnis zum Osmanischen Reich und zu Bulgarien unklar blieb. Unter der Fiihrung von Goce Delcev (1872- 1903) wuchs die Organisation seit 1896 betrachtlich, wobei soziaIe Forderungen unter dem Einfiuss der soziaIistischen Arbeiterbewegung ins Programm einflossen. Ihre Geschichte, selbst ihre Benennungen sind verwirrend. Umstritten ist, ob in den ersten Selbstbezeichnungen das Wort "bulgarisch" vorkam, was die innere Zerrissenheit zwischen einem rein makedonischen und einem probulgarischen Flugel widerspiegelt. Parallel strebte das probulgarische "Oberste makedonische Komitee" (1895) in Sofia nach der aUeinigen Vertretung und Fiihrung des makedonischen Volkes. Diese Zerwiirfnisse fiihrten zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den konkurrlerenden Gruppen. 9.3. 1m zwanzigsten Jahrhundert
Nachdem Goce Delcev unter ungeklarten Umstanden ermordet worden war, brach trotz innerer Zerriittung und Polarisierung der IMRO am Eliastag 1903 (makedonisch lUnden, 2. August) der Aufstand gegen die Tiirken aus. Die erste Aktion der Aufst!indischen war die Einnahme der Stadt KruSevo, wo der Rat einer ,,Republik" gegrOndet
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wurde, in dem neben den Slawen auch Griechen und Wlachen (Aromunen) vertreten waren. Nach der Zerschlagung dieses Gebildes am 13. August 1903 konnte die Aufstandsbewegung nicht aufrechterhalten werden. Sie bewirkte auch keine bewatfuete Einmischung der europ1iischen Machte in den Konfiikt, allerdings zwangen Osterreich und Russland das Osmanische Reich zu einem ,,Reformprogramm", das begrenzte Autonomie verhieB. Den Kampf zwischen den nichttiirkischen Ethnien heizte es eher an. Auch die IMRO setzte ihre Tiitigkeit zunachst fort, stellte ihre Aktivitaten aber 1905 wegen heftiger interner Auseinandersetzungen ein. 1m Moment der endgilltigen Spaltung in zwei entgegengesetzte Konzepte der nationalen Einigung erlebte Makedonien die Jungtiirkische Revolution von 1908, die wesentlich von osmanischen Politikern getragen wurde, die in Makedonien den Einfluss der wachsenden Nationalbewegungen der Christen erfahren hatten. Bevor die Jungtiirken selbst auf den Kurs nationaler Homogenisierung einschwenkten, konnte aus einer makedonisch-adrianopolischen Organisation die FOderative Volkspartei entstehen, die 1910 verboten wurde. Auch in der Folgezeit kam es zu Guerillak1impfen, an denen sich nicht nur makedonische Gruppen, sondern auch serbische Tschetniks und ahnliche griechische ,,Antarte"-Einheiten beteiligten. Die Balkankriege 1912 und 1913 hatten ihren Hauptschauplatz in Makedonien und blockierten dort die politische Entwicklung. Nach dem Ersten Balkankrieg, in dem Serbien, Bulgarien und Montenegro die Tiirkei angegriffen hatten, wurde Makedonien im Frieden von London zwischen Serbien, Bulgarien und Griechenland aufgeteilt, ein kleiner Teil ging an das neugegriindete Albanien. (~Kap. 6) Bulgarien begann 1913 gegen die einstigen Verbiindeten Serbien und Griechenland den Zweiten Balkankrieg urn den Anschluss Makedoniens. Dieses wurde im Frieden von Bukarest nochmals zwischen den drei Nachbam aufgeteilt, wobei der Verlierer Bulgarien weitere Teile abgeben musste. Die Gelegenheit, im Ersten We1tkrieg gestiitzt auf die Entente die politische Autonomie Makedoniens zu erlangen, konnte wegen der Proteste der serbischen und griechischen Regierungen nicht genutzt werden. Auch die zeitweiligen bulgarischen Besatzer, mit den Mittelmachten verbiindet, gewahrten Makedonien keine Autonomie, sondern betrieben eine Bulgarisierungspolitik. SchlieBlich schlugen die Versuche, Makedonien einen besonderen Status innerhalb oder auBerhalb des kiinftigen jugoslawischen Staates zu erteilen, aafgrund Frankreichs serbenfreundlichem Veto fehl. Die Pariser Friedenskonferenz sanktionierte 1919 lediglich die Beschliisse des Bukarester Friedens von 1913. Die Makedonier des griechischen, des ag1iischen und des bulgarischen Pirin-Makedonien standen unter starkem Assimilierungsdruck und genossen keine Rechte als nationale Minderheit. Durch Zuzug griechischer Fliichtlinge aus Kleinasien und die aus griechischer Sicht freiwillige Emigration von Slawen nach Bulgarien anderte sich die ethnische Zusammensetzung von Agais-Makedonien grundlegend. (~Kap. 25) Ratte es dort 1912 noch iiber 300.000 slawische Makedonier gegeben, so z1ihlten 1928 griechische BehOrden nur noch 80.000 "Slawophone". Die Makedonier in Vardar-Makedonien, das nun rum Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen (KSHS) gehOrte, befanden sich in einem Staat, der in seinem Namen allein die anerkannten und staatsbildenden VOlker fiihrte. Der makedonische Name
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fehlte, die Anerkennung der Makedonier als Yolk stand nicht zur Debatte. Dieser Status wurde mit der Vidovdan-Verfassung, am St.-Veits-Tag von 1921 bestatigt und galt bis 1929. Den serbischen Eliten galt Makedonien als eines der serbischen Lander, obwohl kIar war, dass die Makedonier von Sprache und kultureller EntwickIung her keine Serben waren. Ende 1929 wurde Vardar-Makedonien Bestandteil der so genannten Vardar-Banschaft, die auch den sfidlichen Teil Serbiens und das Kosovo umfasste. Am politischen Leben des Konigreichs SHS, ab 1929 Konigreich Jugoslawien, nahmen die Makedonier, anders als die Kroaten oder Slowenen und selbst die Muslime, nicht mit nationalen Parteien teil. Sie votierten mehrheitlich fUr Kommunisten und Demokraten. Mit der ,,Makedonischen Volksbewegung" (MANAPO) wurde 1936 von Linksintellektuellen eine politische Kraft fUr die nationale Befreiung der Makedonier und die Gleichberechtigung aller Volker im Konigreich Jugoslawien gegriindet. Die jugoslawische Verordnung fiber die Kolonisierung neuer siidlicher Gebiete yom September 1920 schloss die Makedonier von der Moglichkeit aus, Land auBerhalb ihres Wohnortes zu erwerben. Besonders intensiv war die Kolonisierung in den ersten fiinf Jahren des neuen Staates und erstreckte sich auf das Vardar-Tal, aber auch auf andere freie Niederungen, insbesondere zu Bulgarien bin, wo man Kolonisten als Wehrbauern fUr die Grenziiberwachung ansiedelte. So kam fiber die Halfte des bestellbaren Bodens in den Besitz von Kolonisten und Beamten des neuen Staates, die Makedonier wanderten in groBer Zahl in andere Regionen Jugoslawiens oder nach Ubersee aus. Trotz brutalen Drucks, erzwungener Namensiinderungen und der Unterstellung der Kirche unter das serbische Patriarchat misslang die Serbisierung Makedoniens, weil der GroBteil der liindlichen makedonischen Bevolkerung kulturell und ethnisch kompakt blieb und bis 1940 nur ein Achtel der geplanten 50.000 serbischen Kolonistenfamilien angesiedelt werden konnte. In Bulgarien war nach dem Ersten Weltkrieg mit Aleksandar Stambolijski (18791923) erstmals ein Politiker an die Macht gekommen, der offentlich auf die bulgarischen Anspriiche auf ganz Makedonien verzichtete und den bulgarischen Nationalisten seine UnterstUtzung entzog, weshalb diese ibn 1923 ermordeten. Die nationalistischen Kriifte, die sich unter Todor Aleksandrovs Fiihrung 1919 wieder unter dem Namen IMRO formierten, machten das mit Fliichtlingen aus Griechenland iiberfiillte PirinMakedonien zur Basis bewaffueter Einheiten, die im jugoslawischen Makedonien terroristische Anschlage auf die Staatsmacht, aber auch auf serbische Kolonisten veriibten. Dies fiihrte zu einer Verschlechterung der jugoslawisch-bulgarischen Beziehungen und einer hermetisch abgeriegelten Grenze zwischen den beiden Liindern. Die IMRO nahm unter Ivan-Vance Mahajlov mit dem Ustascha-Fiihrer Ante Pavelic Kontakt auf, urn den gemeinsamen Kampf gegen die serbische Hegemonie abzustimmen. Ergebnis dieser Zusammenarbeit unter italienischem und ungarischem Schutz war das Attentat auf den jugoslawischen Konig Aleksandar, der 1934 in Marseille von dem IMROTerroristen Vladimir Cemozemski getotet wurde. (~ Kap. 10) Die Kommunisten, die seit 1923 im Balkanraurn nationale Bewegungen unterstUtzten, griindeten 1926 eine parallele "vereinigte" IMRO und forderten eine unabhiingige makedonische Republik. Die Definition der Komintern von 1934, dass eine makedonische Nation existiere, fand bei den jugoslawischen, griechischen und bulgarischen
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Kommunisten wenig Widerhall. Doch Josip Broz Tito und Georgi Dimitrov (18821994), der Begriinder der Kommunistischen Partei Bulgariens, setzten sich fUr eine FOderation der Siidslawen und die Eigenstiiodigkeit des makedonischen Volkes darin ein. Das konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg verwirklicht werden. 1941 war Makedonien zwischen Bulgarien und Italien (formell Albanien) aufgeteilt worden. Die bulgarischen Machthaber okkupierten die ostlichen, siidlichen (Agais-Makedonien und Thrakien) und die nordlichen Teile Makedoniens und schlossen sie zu einem Gro13bulgarien zusarnmen. Wiihrend in den altbulgarischen Teilen die Juden vor der deutschen Vernichtungspolitik verschont blieben, wurden die makedonischen Juden von den Deutschen fast ausnahmslos in die Vernichtungslager in Polen deportiert. (7 Kap. II) Der antifaschistische Befreiungskampf begann in Vardar-Makedonien im Oktober 1941 mit Partisanenangriffen in Prilep. In Pirin-Makedonien schloss die IMRO sich sofort der Partisanenbewegung an, im agaischen Makedonien kampften Makedonier in der griechischen Volksbefreiungsfront EAM fUr ihre nationalen Rechte. In der ersten Sitzung des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) in Bihac 1942 wurde die Griindung eines Vielvolkerstaates als Staat gleichberechtigter Volker proklamiert. Nachdem auf der zweiten AVNOJ-Sitzung 1943 in Jajce Makedonien als kiinftige fOderative Einheit genannt worden war, erklarte der ASNOM (Antifasisticko Sobranije na Narodnoto osloboduvanje na Makedonija, Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Makedoniens) am 2. August (Eliastag) 1944 die staatliche Konstituierung des makedonischen Volkes und alIer Nationalitaten in Makedonien. Nach der Griindung der Foderativen Volksrepublik Jugoslawien (FNRJ) mit Makedonien als einer der sechs Republiken waren - obwohl der ASNOM Anspruche auf ganz Makedonien artikuliert hatte - die Beziehungen zum bulgarischen Nachbarn freundlich. Dimitrov erkannte als bulgarischer Ministerprasident 1945 und 1946 das makedonische Yolk offentlich an. Intern sprach er sich sogar fUr den Anschluss Pirin-Makedoniens an die jugoslawische Republik aus. Den Pirin-Makedoniern wurde das Recht auf eigene makedonische Kandidaten und eine eigene makedonische Parlamentariergruppe gewahrI, Lehrer aus dem jugoslawischen Makedonien durften iiber die Grenze geschickt werden. Hintergrund waren Beitrittsplane Bulgariens zu einer FOderation mit Jugoslawien und der 1947 im slowenischen Bled unterzeichnete Freundschaftsvertrag. Vor alIem auf Druck der UdSSR scheiterten all diese Ansatze. Die Spannungen im Verhaltnis zum kommunistischen Bulgarien verschiirften sich nach der antititoistischen Resolution des Kominformbiiros von 1948 und Dimitrovs Tod 1949 zusehends. Die kulturelle Eigenstiiodigkeit der Pirin-Makedonier sollte nun von Bulgarien, das Jugoslawien "gesamtmakedonische" Expansionsplane unterstellte, nicht mehr anerkannt werden. Die bulgarisch-jugoslawische Irritation kulminierte in den sechziger Jahren sogar in einer gewissen Kriegspanik in beiden Landem. In Griechenland verschlechterte sich nach dem Ende des Biirgerkriegs 1949 die Lage der slawisch-makedonischen BevOlkerung noch mehr, zumal man ihr zur Last legte, Parteiganger der kommunistischen Nachbarn zu sein. So konsolidierte sich eine makedonische NationaIitat allein in Jugoslawien. Den neuen Machthabern gelang die Schaffung eines makedonischen Nationalbewusstseins, wobei
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Zweifelsbekundungen an der makedonischen Eigenstiindigkeit yom Repressionsapparat unerbittlich verfolgt wurden. Hingegen lieJ3 der Staat 1958 die Neugriindung des Erzbistums Ohrid zu, auf die gegen den Willen des Serbischen Patriarchats 1967 die Erkliirung der Autokephalie der Makedonischen Orthodoxen Kirche folgte (~Kap. 16). Wirtschaftlich gehOrte das jugoslawische Makedonien zu den riickstiindigsten Regionen Europas. Zu Beginn der siebziger Jahre waren noch 18 Prozent Analphabeten zu verzeichnen, 1981 lag die Arbeitslosigkeit bei fiber 20 Prozent. In diesem Jahr bestand die Bevolkerung zu 67 Prozent aus Makedoniern, 19,7 Prozent Albanern, 4,5 Prozent Tfuken, 2,4 Prozent Roma, 2,3 Prozent Serben, 2 Prozent Torbesi und 0,3 Prozent Wlachen (Aromunen). Diese Vielfalt der Ethnien und Religionen kann als wahrer Reichtum dieses Raumes angesehen werden, wenngleich sie oft fUr Spaltung und Auseinandersetzung missbraucht wurde. Soziologische Untersuchungen der siebziger und achtziger Jahre ergaben, dass es kaum zu zwischenethnischen EheschlieJ3ungen kam. Problembeladen war in der Endphase Jugoslawiens das makedonisch-albanische Zusammenleben. Albaner stellten die Mehrheit der westlichen Regionen, besonders in Tetoyo. In den achtziger Jahren mehrten sich die AngrifIe der Republikfiihrung auf angeblich irredentistische und nationalistische Inhalte albanischer SchulbUcher. 1988 erwuchsen aus dem Schulstreit albanische Demonstrationen, deren Organisatoren zu Haftstrafen verurteilt wurden. Der zunehmende Druck auf die Albaner fand seinen Ausdruck 1989 in der Umbenennung Makedoniens yom Staat des ,,Makedonischen Volkes und der albanischen und tfukischen Minderheit" zum ,,Nationalstaat des makedonischen Volkes". 9.4. Die staatliche Unabhiingigkeit
Seit dem Machtwechsel bei den makedonischen Kommunisten von Lazar Kolisevski zu Petar Gosev (1989) gehOrte Makedonien eher ins innerjugoslawiscbe Reformlager. (~Kap. 13) Die ersten freien Wahlen in Makedonien wurden Ende 1990 abgehalten und fiihrten zum Sieg der ,,IMRO - Demokratische Partei fUr die makedonische nationale Einheit" (VMRO-DPMNE, Demokratska partija za makedonsko nacionalno edinstvo). 1m Januar 1991 wurde mit Kiro Gligorov, der aufeine lange Karriere imjugoslawischen Staat zurUckblickte, erstmals ein makedonischer Priisident demokratisch gewiihlt. Bis zur Unabhliogigkeitserkliirung Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 kampfte er fUr den Erhalt der FOderation. Doch nachdem deren Auflosung nicht mehr aufzuhalten war, erkliirten sich im September 1991 in einer Volksabstimmung mit 75 Prozent Wahlbeteiligung 95 Prozent der Wahler fUr die staatliche Unabhliogigkeit, die dann im November 1991 proklamiert wurde. Zu den ersten Staaten, die Makedonien anerkannten, gehOrten die Tfukei und Bulgarien. Bedroht fiihlte sich das unabhliogige Makedonien von Serbien. 1m November 1990 erkliirte der serbische Oppositionelle Vuk DraSkovic, Makedonien miisse im Zuge einer antiislamischen Allianz zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien von letzterem absorbiert werden. Von serbischer Seite wurde die Behauptung aufgestellt, die Zahl der Serben in Makedonien betrage mehr als das Sechsfache der 1991 gezahlten
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2,2 Prozent der BevolkefWlg. Vojislav Seselj versuchte 1992 eine Autonome Serbische Region im Norden Makedoniens auszurufen, und der griechische Ministerpriisident Mitsotakis berichtete, Milosevic babe ibm urn die Jahreswende 1991192 die Teilung Makedoniens zwischen Griechenland und Serbien angeboten. So geriet die Bebauptung der Unabhiingigkeit und der Abzug der Jugoslawischen Volksarmee ohne Krieg zu einer beachtlichen politischen Leistung der Fiihrung des jungen Staates. 1993 einigte sich Makedonien mit der FOderation Jugoslawien auf die Erwiihnung der serbischen Minderheit in der Verfassung. Die UNO stationierte im selben Jahr eine tausend Mann starke Friedenstruppe (seit 1995 unter der Bezeichnung UNPREDEP, UN Preventive Deployment Force) vor a11em an der makedonischen Grenze zu Serbien, urn ein Dbergreifen des Krieges aus Bosnien zu verhindern, der bereits dazu gefiihrt hatte, dass sich zu dieser Zeit einige Zehntausend Fliichtlinge in der Republik befanden. Erschwert wurde Makedoniens Weg in die Unabbiingigkeit vor a11em durch die Politik Griechenlands. Griechische Politiker wurden nicht mUde, die Verwendung des antiken mazedonischen Namens als Usurpation und GfWldlage fUr angebliche territoriale Anspriiche zu brandmarken. Dabei spielte keine Rolle, dass der Name schon seit 1945 verwendet wurde und das neue Makedonien in Verfassungszusiitzen auf a11e Gebietsanspriiche verzichtet hatte. Griechenland konnte sich a11enfa11s dadurch bedroht fiihlen, dass zu Anfang der neunziger Jahre teilweise in Makedonien, vereinzelt in Bulgarien - a11erdings iiberhaupt nicht unter der "slawophonen" Minderheit in Griechenland selbst - FordefWlgen nach einer Vereinigung a11er Makedonier laut wurden. Besonders eigenartig ist der griechische Protest gegen die makedonische Nationalfahne mit der Sonne von Vergina, einem Symbol aus der Zeit Alexanders des GroBen. Obwohl diese schon im sozialistischen Jugoslawien verwandt wurde, so11 sie nach griechischer Lesart dokumentieren, dass der neue Staat nicht nur die makedonisch-griechische Geschichte usurpiere, sondem daraus auch Gebietsanspriiche ableite. 1992 erreichte Griechenland, dass die EG erkliirte, Makedonien nur bei Verzicht auf seinen Namen anzuerkennen. 1993 lenkte Griechenland teilweise ein und stimmte dem UNO-Beitritt Makedoniens als FYROM (Former Yugoslav Republic of Macedonia, Ehemalige Jugoslawische Republik Makedonien) zu. Unter der VerzogefWlg der Anerkennung litten aIle auBenpolitischen Aktivitiit des Landes, insbesondere Wirtschaft und Handel und der Beitritt zu intemationalen Finanzinstitutionen. (7 Kap. 32) Nachdem Ende 1993 zahlreiche europiiische Staaten, Anfang 1994 auch die USA mit Makedonien diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten, verhiingte Griechenland ein Embargo, das von Februar 1994 bis zum Abkommen yom September 1995 wiihrte. Makedonien sagte darin die AndefWlg der Fahne und bestimmter Verfassungsartikel zu, wiihrend die Frage des Namens offen blieb. Griechenland erkannte Makedonien offiziell an, und der Weg in die OSZE, den Europarat und das NATO-Programm ,,Partnership for Peace" war frei. 1m April 1996 erkannten sich Makedonien und die Bundesrepublik Jugoslawien gegenseitig an. Nationalistischen Anfechtungen ist Makedonien nicht nur von auBen ausgesetzt. Doch auch wenn es im Land Kriifte gibt, deren Programme auf nationaler und religioser AusschlieBlichkeit basieren und die den Reichtum der Vielfalt nicht begreifen, scheint
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die Gnmdlage fUr das Zusammenleben aller ihrer V6lker noch nicht verloren. 1m Dezember 1994 ergab eine von der OSZE und der EU unterstiitzte Volks:zlihlung tiber zwei Millionen Einwohner, zwei Drittel davon Makedonier, 23 Prozent Albaner. Die zahleruniiBigen Veriinderungen der kleinen Nationalitliten im Vergleich zu 1981 und 1991 waren geringfiigig. Dieses Resultat wurde albanischerseits mit der Behauptung angefochten, tiber ein Drittel der Bev6lkerung bestehe aus Albanem. Die Albaner kritisierten, dass nur die liinger als fiinfzehn Jahre in Makedonien lebenden Einwohner ge:zlihlt wurden. Dadurch blieben viele Albaner unberiicksichtigt, die aus dem Kosovo stammten. Dorthin hatte es nach Gewiihrung der Autonomie 1974 zunlichst eine starke Bewegung makedonischer Albaner gegeben, der nach dem Beginn der serbischen Repressionen eine Migration in umgekebrter Richtung folgte. Die Albaner hatten 1991 wie die Serben bereits das Referendum fUr die Unabbiingigkeit boykottiert. 1992 ergab ein inneralbanisches Referendum bei 90 Prozent Beteiligung 99 Prozent Zustimmung zur Autonomie, worauf im April 1992 eine ,,Albanische Autonome Republik Ilirida" im Westen Makedoniens proklamiert wurde.1m November 1992 enttamte der makedonische Geheimdienst eine albanische Untergrundgruppe, die angeblich das Verteidigungsministerium unterwandert hatte. 1m Herbst desselben Jahres fiihrten albanische Proteste in Skopje zu Ausschreitungen. Als albanische Dozenten im Februar 1995 in Tetovo eine albanische Universitlit griindeten, wurde diese fUr illegal erkliirt. Die Auseinandersetzung fiihrte zu weiteren Zusammenst6Ben zwischen Demonstranten und Polizei. Ende 1996 gab es bei den Kommunalwahlen Stimmenzuwachs fUr die radikalen Parteien der Albaner. Autonomieforderungen wurden laut, worauf die Regierung unter anderem mit dem Verbot der albanischen Flagge reagierte. Bei den in der Folge eskalierenden Unruhen wurden in Gostivar mehrere Demonstranten von der Polizei getotet. Bis heute ist Makedonien nicht als gemeinsamer Staat der Makedonier und Albaner mit zwei Staatssprachen konstituiert, auch wenn albanische Parteien im politischen Leben eine wichtige Rolle spielen. Politisch ist Makedonien heute ein Staat mit Mehrparteiensystem, in dem sich Prozesse der Demokratisierung entwickeln und erlemt werden miissen. Mit Kiro Gligorov und dem Premier Branko Crvenkovski iibernahmen Repriisentanten der alten kommunistischen politischen Strukturen die Macht, wonach es zunlichst zum Stillstand der begonnenen Demokratisierung kam. Crvenkovski regierte mit einer Koalition aus der Albanischen Partei der demokratischen Prosperitlit, den Liberalen und der Sozialdemokratischen Union. Die oppositionelle Demokratische Partei von Petar Gosev und die bis dahin stlirkste Partei, die VMRO-DPMNE unter dem Dichter Ljupee Georgievski, boykottierten unter Fiilschungsvorwiirfen im Dezember 1994 den zweiten Wahlgang bei den zweiten Parlamentswahlen. Diese brachten die "Union fUr Makedonien" aus Sozialdemokraten, Libera1en und Sozialisten an die Macht. Gleichzeitig wurde Gligoroy mit 52,4 Prozent als Priisident wieder gew3hJ.t. Danach regierte vier Jahre ein Parlament, in dem die Koalition der "Union fUr Makedonien" mit mehr als 90 von insgesamt 120 Mandaten dominierte, obwohl sie nur etwa 30 Prozent der Wahlerschaft vertrat.1m Oktober 1995 wurde Priisident Gligorov bei einem Bombenanschlag in Skopje verletzt und konnte erst im Januar 1996 in sein Amt zuriickkehren. Als Tater wurden extreme Nationalisten vermutet, die jede Einiglmg mit Griechenland ablehnten.
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1m Sommer 1998 feierte Makedonien, dass seit der Begriindung der staatlichen Selbstiindigkeit unter Samuel nun tausend Jahre vergangen seien. Nach den Parlamentswahlen Anfang November mussten die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Sozialdemokraten der populistischen VRMO-DPMNE die Macht abtreten. Georgievskis Partei kam zusanunen mit ihrem Partner, der Demokratischen Alternative unter Vasil Tupurkovski auf 58 von 120 Parlamentssitzen, die Sozialdemokraten unter Crvenkovski verloren die Halfte ihrer Mandate, deren Zahl 1994 noch 61 betragen hatte. Die beiden verbiindeten albanischen Parteien errangen 25 Sitze. Die bislang radikalere der beiden, die Demokratische Partei der Albaner (DPA), war vor den Wahlen auf gem1i.l3igtere Positionen eingeschwenkt. So hatte das Biindnis der bisher national polarisierenden Parteien VMRO und DPA, das der Albanerpartei fiinfMinisterposten einbrachte, eine stabilisierende Wirkung - vor allem angesichts des Kosovo-Konflikts, der schon vor der Vertreibung der Kosovaren und der Nato-Intervention fUr Makedonien bedrohliche Auswirkungen annahm. Schon Ende 1997 und Anfang 1998 hatten albanische Extremisten Bombenanschlage auf staatliche Einrichtungen in Makedonien veriibt. 1m Januar 1998 erschien ein Kommunique der im Kosovo kampfenden U<;K, das die Ausdehnung des Krieges auf eine ,,zone 2" ankiindigte. Dem drohenden Ubergreifen der Kriegshandlungen begegnete die makedonische Regierung unter anderem durch eine Koordinierung der Kosovopolitik mit dem griechischen Nachbam im April und Juli 1998. 1m Juni 1998 fand das erste Nato-Luftmanover iiber Makedonien statt, im September folgten Ubungen mit Landstreitkrliften. Diese Politik gegeniiber den Nachbarlandern und dem Westen setzte die neue Regierung fort. Anfang Marz 1999 endete allerdings das UN-Mandat fUr die UNPREDEP-Einheiten am chinesischen Veto im Sicherheitsrat, da Makedonien in Hoffnung auf massive Investitionen Beziehungen zu Taiwan aufgenommen hatte. Mit Beginn der Intervention gegen Jugoslawien iinderte sich die Rolle der mehreren Tausend Nato-Soldaten (urspriinglich 1.800, darunter 500 von der Bundeswehr), die seit Beginn des Jahres in Makedonien als ,,Extraction Force" (Exfor) stationiert waren, eigentlich urn im Krisenfall die OSZE-Beobachter aus dem Kosovo evakuieren zu konnen. Bei den Ereignissen urn das Kosovo konnte keine stabilisierende Rolle mehr spielen, dass Makedonien seit Januar 1999 gemeinsam mit Italien, der Tiirkei, Griechenland, Albanien, Bulgarien und Rurnanien eine 4.000 Mann starke ,,Multinationale Friedensstreitmacht Siidosteuropa" aufbaut, die hurnanitare Hilfsaktionen und Waffenstillstande sichern solI. Immerhin ist die Partnerschaft auch mit Nachbam, die bisher Makedoniens Existenz angefochten haben, ein wichtiger Schritt fUr denjungen Staat. Diesem Fortschritt steht als ernorme Erschwernis gegeniiber, dass Makedonien einen groBen Teil der von den serbischen Truppen aus ihrer Heimat vertriebenen Kosovo-Albaner beherbergte. Aus den darnit verbundenen sozialen Belastungen drohen politische zu werden, wenn die internationale Gemeinschaft Makedonien nicht massiv unterstiitzt.
Deutsch von Samir Delii: Texterganzungen von Matthias Vetter
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Literatur
Das Problem der makedonischen Geschichtsschreibung ist der Mangel an Gesamtdarste11ungen. Die Historiographie Bulgariens ist umfangreicher, aber politisch tendenziOs in der Behandlung Makedoniens als Teil Bulgariens. Bei makedonischen Historikern dominiert das Bestreben, die nationale Identitllt zu beweisen, wobei oft die wissenschaft1iche Sorgfalt vernachliissigt wird. Hervorragend nachgezeichnet und bibliographisch enasst ist der historiographische Kampfbei Stefan Troebst: Die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien: 1967-1982, Mfinchen 1983. Standardwerk aus jugoslawischer Zeit ist die dreibllndige [storija na makedonskiot narod, Skopje, 1969 (Geschichte des makedonischen Volkes). Einen relativ aktuellen und zugleich historisch weitausgreifenden Oberblick bietet: Hough Poulton, Who are the Macedonians?, Bloomington, Indianapolis 1995; knapp und zuverl!issig auch: Katrin VOlkl, ,,Makedonien/Mazedonien", in: Michael Weithrnann (Hg.), Der ruhelose Balkan, Miinchen 1993, S. 218--252; ,joumalistischer" ist: Wolfgang Libal, Mazedonien zwischen den Fronten. Junger Staat mit alten Koriflikten, Wien, ZUrich 1993. FUr die rnittelalterliche Geschichte kann - neben den in Kap. I genannten Werken - neuerdings herangezogen werden: Hans-Joachim Hllrtel und Roland ScMnfeld, Bulgarien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 1998. Zur osmanischen Splltphase unverzichtbar: Fikret Adanir, Die Makedonische Frage. [hre Entstehung und Entwicldung bis 1908, Wiesbaden 1979; ergilnZend: Duncan M. Perry, The Politics of Terror - The Macedonian revolutionary movements, 1893-1903, Durham, London 1988. Den internationalen Kontext beleuchtet Katrin Boeckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan, Mfinchen 1996. Zur IMRO im Zwischenkriegsjugoslawien viele Details in: Stefan Troebst, Mussolini, Makedonien und die Miichte 1922-1930, Koln, Wien 1987. Ober die Makedonen im ersten und dem frilhen zweiten Jugoslawien sind die beiden Bilcher von Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, New York 1984 (1992 2) und With Stalin against Tito. Comiriformist Splits in Yugoslav Communism, Ithaca, London 1988, heranzuziehen. Die Entstehung des unabhllngigen Makedonien fasst Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde, Mfinchen 1995, S. 318--347, zusarnmen. Zur ersten halben Dekade der makedonischen Unabhllngigkeit: Frank Hoffmeister, ,,oas souverllne Makedonien. Oase des Friedens oder Pulvenass auf dem Balkan?", in: Jiirgen E1vert (Hg.) Der Balkan. Eine europiiische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1977, S. 210-222. Viel Lob fOr die Politik der makedonischen Regierung enthalten die von Wolf Oschlies verfassten Berichte des Bundesinstituts flir ostwissenschaft1iche und intemationale Studien, KOln, Nr. 48/ 1993, Nr. 10/1994, Nr. 14/1994 und Nr. 39/1998. Umfassende Daten bietet der Sonderband der Osterreichischen Osthefte Nr. 14 von Walter und Peter Jordan (Hg.), Makedonien: Geographie - ethnische Struktur - Geschichte - Sprache und Kultur - Wirtschaft - Recht, Wien, Frankfurt usw. 1998. Aktuelle Analysen enthiilt der Sarnmelband von Christophe Chic1et und Bernard Lory (Hg.), La Repub/ique de Macedonie, Paris 1998. Anregend und mit zahlreichen Hinweisen auf weitere Aufslltze versehen sind die beiden Beitriige im Sarnmelband von Valeria Heuberger, Arnold Suppan und Elisabeth Vyslonzil (Hg.), Der Balkan. Friedenszone oder Pulverfass?, Frankfurt, Wien usw. 1998: Max Demeter Peyfuss, "Gedanken zur Konfliktzone Makedonien" (S. 113-126) und Stefan Troebst, "Von der ,Makedonischen Frage' zur ,Albanischen Frage'" (S. 127-138). Zu letztgenanntem Aspekt auch: Michael Schmidt-Neke, "Makedoniens Albaner: Konfliktpotential oder Stablilisierungsfaktor?" in: Siidosteuropa 48 (1999), H. 3-4, S. 191-212.
10. Jugoslawien 1918-1941 IvoBanac
Die Bezeichmmg Jugoslawien bildete sich stufenweise im 19. Jh. heraus, und zwar uber die adjektivische Form. Das Attributjugoslawisch konnte damals noch weniger als spliter fUr sich alleine stehen. Seine AbMngigkeit von realen nationalen Bezeichnungen, die eigentlich zu den historischen Nationen Bulgariens, Kroatiens und Serbiens gehOrten, war offenkundig. Diese Nationen hatten ebenso wie die staatenlosen Slowenen und die umklimpften Bosniaken, Montenegriner und Makedonier vieles gemeinsam, doch es gab auch triftige Unterschiede zwischen ilmen. Das jugoslawische Dilemma llisst sich auf die Wahl zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen reduzieren. Wie jede Idee, die eine Interessengemeinschaft verkUndet, etwa die Idee der europliischen Einheit, ging auch die jugoslawische Idee auf reale oder eingebildete liuBere Bedrohungen zuriick; als die Bedrohungen von innen kamen, geriet sie hingegen ins Wanken. Bei genauerer Betrachtung des jugoslawischen Projekts zeigt sich, dass die Idee der sudslawischen Einheit und Wechselbeziehung oft unbewusst von Nichtslawen vorangetrieben und von den Sudslawen selbst hintertrieben wurde. Um erfolgreich zu sein, musste die Idee der sUdslawischen ZusammengehOrigkeit das gewaltige Hindernis der religiosen und kulturellen Trennung zwischen orthodoxen und katholischen Slawen uberwinden. Dies tiel der katholischen Seite leichter, besonders auch in Anbetracht des nachreformatorischen Interesses an einer Vereinigung mit der Orthodoxie. Das religiose, politische und sprachliche Projekt des Juraj KriZanic (1618-1683), eines Herolds des Slawentums aus dem 17. Jh., war ein typisches Beispiel fUr die Vorstellung des kroatischen Barock von einer Umkehr jahrhundertealter Stromungen zugunsten einer ,,korrigierten" einheitlichen Geschichte. FUr den kroatischen nationalen Diskurs war die Vorstellung charakteristisch, dass getrennte sudslawische Nationalitliten zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt werden konnten. Der Illyrismus der kroatischen Wiedergeburt, der Jugoslawismus Josip Juraj Strossmayers und (in gewisser Weise) SOgar der kroatische nationale Radikalismus Ante Starcevics beruhten allesamt auf integrationistischem Gedankengut, allerdings mit einer wichtigen Einschrlinkung. Die integrativen Tendenzen kroatischer Nationalideologien befanden sich stets in einem SpannungsverMltnis zur Geschichte der kroatischen Eigenstaatlichkeit, zu deren Grundlagen eine stark besitzbetonte Theorie des Staatsrechts gehOrte. (7 Kap. 3) Fehlte die Tradition des kroatischen Staatsrechts in einer kroatisch geprligten Nationalideologie, so war deren Tendenz nicht mehr kroatisch im eigentlichen Sinne. Den Kroaten der Wiedergeburts-Generation wiihrend der dreilliger und vierziger Jahre des 19. Jhs. war es moglich, die Benennung Illyrer als allgemeinen Namen fUr aIle Sudslawen zu verwenden und zugleich das Konigreich Kroatien als politischen Ausdruck der illyrischen Nation zu verteidigen. Im Kreise Strossmayers und seines Mitstreiters Franjo Racki wiederum konnte man nach Franz-Josephs Oktoberdiplom von
10. Jugoslawien 1918-1941
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1860, das viele Benachteiligungen wieder einfiihrte, fUr die ,Jugos1awische" sprachliche Unifizierung eintreten und zugleich Kroatiens Anspruch auf einen Teil der ungarischen Krone verteidigen. In Starcevics Kreis nationaler Jakobiner schlieBlich fand man nichts dabei, im Zeitalter des Dualismus und eines nach dem kroatisch-ungarischen Ausgleich reduzierten Kroatien die Existenz der Serben zu leugnen und sie gleichzeitig zu einer Integration innerhalb eines kroatischen Staatsgebildes zu drlingen. Ausgeschlossen war nur, auf nationaler Ebene ein Integrationist (lllyrist, Jugoslawe) zu sein und sich nicht auf das Konigreich Kroatien und dessen althergebrachte Verfassung zu berufen. Daher stellte der politische Jugoslawismus einen revolutionaren Bruch - nicht etwa eine Ziisur - im politischen Denken der Kroaten dar. 10.1. Vorgeschichte uod Staatsgriioduog
Der politische Jugoslawismus nahm seinen Ausgang genau besehen mit der Generation der ,,Nationalistischen Jugend" (1909--1914), und zwar vor allem in Kroatien einschlieBlich Slawoniens und Dalmatiens, doch auch in den slowenischen Landem und in Bosnien-Herzegowina; er beruhte auf der Theorie der ,,nationalenEinheit" (narodno jedinstvol, d.h. dem Gedanken, dass Serben, Kroaten und Slowenen eine einzige jugos1awische Nation bildeten. Der integrationistische Aspekt dieser Nationalideologie, deren korrekte Bezeichnung jugoslawischer Unitarismus ist, war nur zu einem gewissen Grade neu. Die eigentliche Neuerung bestand bei den Kroaten zweifellos in der antihistorischen Ausrichtung. Die Unitaristen glaubten aufrichtig daran, dass die auf getrennten sprachlichen und staatlichen Traditionen sowie religiosen Bindungen beruhenden Unterschiede durch beharrliches, yom Willen zur Einheit bestimmtes Wirken iiberwunden werden konnten. Dies bedeutete die bewusste Aufgabe des kroatischen Staatsrechts und aller politischer Institutionen. Es bedeutete den endgiiltigen Bruch mit dem Habsburgischen Staatsgefiige. Der politische Jugoslawismus, nicht die Idee der slawischen "Wechselseitigkeit", wie die Illyristen oder Strossmayer sie pflegten, hat das Land mit dem Namen Jugoslawien geboren. Das serbische Muster war vollig anders und hatte wenig mit Integrationsstreben zu tun. Nicht dass die Serben dem Slawismus fern gestanden hiitten, doch ihr Slawismus war von einer besonderen, orthodoxen Priigung und berief sich auf eine von Russland angefiibrte Gemeinschaft aller orthodoxen Slawen. Der serbische Schriftsteller Milos Cmjanski (1893-1977) hat diese Mentalitiit in seinem historischen Roman Seobe (deutsch: Panduren 1929) eingefangen; dessen Hauptfigur Vuk Isakovic legt in NeuSerbien, einer Fliichtlingssiedlung im weitriiumigen Reich der Zarin Elisabeth, eine kindliche Sehnsucht nach der erlosenden "SiiBe der Orthodoxie" an den Tag. Einem traditionellen orthodoxen Serben standen die Russen, mit denen er die Kultur und dieselbe Variante der kirchenslawischen Koine teilte, unendlich viel nither als die "lateinischen" Slawen. Das Wirken der Aufkliirung untergrub zwar diese Tendenz, brachte sie aber nicht zum Verschwinden. Zaharija S. Orfelin (1726-1785), einer der ersten serbischen Aufkliirer, konnte bei aller Verehrung fUr Peter den GroBen nicht umhin, westliche Darstel-
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lungen der Russischen Kirche zu verdammen: "Wo sie sich bemUBigt fiihlten, tiber die Russische Kirche zu schreiben, Histerten und beschlimten sie alle nicht nur die russische Priesterschaft, sondem sogar den Griechisch-russischen Glauben selbst, iiberdies in solcher Weise, dass diese Darstellungen nicht obne ein Gefiihl des Ekels gelesen werden konnen." Die wahre Revolution im serbischen Denken ereignete sich wlihrend der antiosmanischen Aufsmnde (1804-1815) und in der Epoche der Romantik, die auf diese folgte. Die Aufsmnde schufen die Rahmenbedingungen fUr die Expansion des serbischen Staates in drei Schiiben ("die sechs Nahijas" - nach der osmanischen Verwaltungseinheit Nahiye - 1830-39; Siidserbien mit NiS, Pirot, Toplice und Vranje 1878; und schlieBlich ,,Altserbien" und Makedonien 1912-13), wodurch das Modell fUr eine serbische, d.h. tatsiichlich siidslawische Vereinigung geschaffen wurde. 1m weiteren Verlaufkollidierte die serbische Staatspolitik mit den bulgarischen Ambitionen, die ihrerseits auf einem iihnlichen Expansionsschema beruhten (Slivnica 1885; Bregalnica 1913). Infolgedessen wurde Bulgarien konsequent von fast allen spiiteren Pliinen fUr eine siidslawische Einheit ausgeschlossen. Es sollte erwiihnt werden, dass eine Entislamisierung und Abwanderungen von "Tiirken" ("gebiirtigen Muslimen") zu den Begleiterscheinungen der staatlichen Expansion Serbiens gehorten, wenn man von den Erwerbungen 1912-1913 absieht. Wiihrend die Habsburgische Expansion nach Bosnien-Herzegowina bewusst keine Entislamisierung fOrderte, lief das Schema der ,,Befreiung der Balkanhalbinsel" sehr wohl daraufhinaus. Dies war ein Reflex der antiosmanischen Kriege des 17. und 18. lahrhunderts und wiederholte sich auch in Griechenland und z.T. in Bulgarien. Die Aufsmnde wurden von einer Reform und Siikularisierung der serbischen Kultur begleitet, deren Grundlage die von Vuk KaradZie (1787-1864) interpretierten Ideen der deutschen Romantik bildeten. Sein bleibender Beitrag war die Sakularisierung der serbischen Nation: Er definierte diese niimlich nicht tiber ihre ZugehOrigkeit zur Orthodoxie, wie das zuvor der Fall gewesen war (7 Kap. 5), sondem tiber den Gebrauch des zentralen stidslawischen Dialekts (des Stokavischen). Karadfies "Sprach"-Nation schufindes neue Probleme. Orthodoxe Gliiubige (Bulgaren, Makedonier, Albaner, Wlachen), die bislang kraft ihrer ZugehOrigkeit zur kirchlichen Organisation der Serben, des Patriarchats von Pee (1557-1766), innerhalb der serbischen Nation assimiliert wurden, stellten nicht liinger das Hauptziel der Assimilation dar. Vielmehr wurden nun die Sprecher des Stokavischen zunehmend zum Hauptziel, was bedeutete, dass die meisten kroatischen Katholiken und aIle bosnischen Muslime von Belgrad immer hiiufiger als Serben betrachtet wurden. Kurzum, die Entstehung des serbischen Staates und die neue, "sprachliche" Definition des Serbentums lieferten den Grund fUr permanente Auseinandersetzungen zwischen den Serben und ihren westlichen Nachbam. Nicht die Religion, sondem siikularisierte Nationalideologien wurden zum Zankapfel. Doch wiihrend sich die Kroaten und in gewisser Hinsicht auch die Slowenen durch den integrationistischen Zug ihrer Nationalideologien vor der Logik des Zwists schiitzten, besaBen die Serben kein solches Auffangnetz. Die Logik der serbischen Nationalideologie fand ihren deutlichsten Ausdruck in dem vom damaligen serbischen Innenminister Ilija Garasanin (1812-1874) entworfenen Programm serbischer staatlicher Expansion. In seinemNacertanije (,,Entwurf", 1844) postulierte Garasanin, die Grenzen des neuen
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Serbien miissten auf aIle Gebiete ausgedehnt werden, wo Serben leben, Wid diese Grenzen seien laut KaradZic sprachliche. Wie also konnten die assimilatorische serbische Nationalideologie Wid die integrative kroatische Nationalideologie auf den gemeinsamen Nenner der jugoslawischen Idee gebracht werden? Die Antwort ist, dass das jugoslawische Projekt tatsachlich immer ein viel zu kleiner gemeinsamer Nenner war, den man aus Bruchstiicken etablierter Muster national en Denkens gebildet hatte. Mit Ausnahme der Nationalistischen Jugend traten weder die Kroaten noch die Slowenen vor dem Jahr 1914 fUr eine politische Vereinigung der Siidslawen ein. Was sie betraf, konnte die Vereinigwtg innerhalb der Grenzen der Habsburger Monarchie verwirklicht werden, das hieB, dass das von ihnen ersonnene Jugoslawien den siidslawischen Besitzungen der Habsburger entsprach, wenn diese auch yom osterreich-Wigarischen Ausgleich 1867 ausgenommen waren. Dies lief auf so etwas wie eine trialistische LOSWig hinaus: Damit waren alle siidslawischen Nationen der Monarchie emanzipiert worden Wid neben Ungarn hatte sich als Korrektur des Ausgleichs auch ein Staat der Siidslawen in der Monarchie konstituiert. Fiir Serbien freilich war das keine wirkliche Option. In irgendein Habsburger ,,Jugoslawien" einverleibt zu werden, hatte den Verlust der Unabbiingigkeit bedeutet. (Dies war Wiens Absicht nach der Besetzung Serbiens 1915.) Mehr noch, die Expansion des serbischen Staates hatte die Vereinigwtg der Serben, nicht aller Siidslawen zum Ziel, und dies war ohne den Zusammenbruch Osterreich-Ungarns unmoglich. Nach 1903, als der serbische Staatsmann Nikola PaSic (1845-1926) die neue Richtung der serbischen Expansion festlegte, erkannte man, dass der siidwiirts nach Makedonien gewandte Weg aussichtsreicher Wid weit weniger riskant war als bosnische Plane, die nach der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Osterreich-Ungarn chancenlos waren. Diese Strategie kam in den Balkankriegen 1912 Wid 1913 klar zum Ausdruck. Mit Beginn des Krieges, den serbische Kreise provoziert hatten, die viel Wigeduldiger als PaSic waren, wurde Serbien vor die Wahl gestellt, seine Ziele unter serbischer oder unter jugoslawischer Fahne zu verfolgen. Der Unterschied zwischen der ,,kleinen LoSWig" (Vereinigwtg aller Serben) Wid der "groBen" LOSWig (Vereinigwtg aller Siidslawen) war im Wesentlichen taktischer Natur. Die alten und noch heute verbreiteten Behauptungen serbischer Wortfiihrer, Serbien habe seine eigenen Interessen selbstlos auf dem Altar der jugoslawischen Vereinigung geopfert, stehen im Widerspruch zu PaSics Diplomatie wiihrend der Kriegszeit, die stets unzweideutig serbisch war. Genauer gesagt, die ,,Befreiung" und "Vereinigwtg" der Serben, Kroaten und Slowenen bedeutete tatsachlich eine serbische Vereinigwtg. In der Tat hat Pasic zwischen den rhetorisch definierten Anspriichen auf die von Serben bewohnten Gebiete und den Forderungen seiner Regierung nach rein kroatischen und slowenischen Gebieten klar Witerschieden - d.h. zwischen den aus seiner Sicht unverzichtbaren Anspriichen eines vergroBerten Serbiens und den untergeordneten Anspriichen einer siidslawischen Vereinigwtg. Obwohl er wiederholt Serbiens Anspruch geltend machte, alle Habsburger Siidslawen anzugliedem, blieben die Alliierten nie im Zweifel dariiber, was Pasic fUr wesentlich hielt Wid was er gegebenenfalls wegzutauschen bereit war. Pasic fUrchtete hauptsachlich, die Alliierten konnten ein unabhangiges Kroatien unterstiitzen, das alle - oder doch die meisten - siidslawischen Besitzungen der Habsbur-
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ger umfassen wiirde. Geriichten tiber Sympathien der Alliierten fUr ein katholisches GroBkroatien begegnete er, indem er betonte, dass groBserbische Ansichten publik gemacht werden mtissten. Auch sollten, falls die Alliierten bei ihrer Entscheidung fUr einen kroatischen Staat blieben, diesem nicht nur Bosnien-Herzegowina und Dalmatien, sondern auch Slawonien und die ehemaligen Gebiete der Militiirgrenze verweigert werden. Die wirkliche Herausforderung fUr Pasic aber war es, jene politischen FUhrer der Kroaten zufrieden zu stellen, die eine siidslawische Vereinigung - nicht eine kroatische Unabhiingigkeit - wollten, allerdings mit Serbien als Partner, nicht als Hegemon. Dies war fUr Pasic, der glaubte, die Kroaten und Slowenen sowie diesbeziiglich die Serben Osterreich-Ungarns kannten nur eine passive Rolle im Kampfurn die Vereinigung spielen, kaurn zu erreichen. Die Fiihrungsrolle in diesem Prozess war das ausschlieBliche Vorrecht Serbiens. Eine Vereinigung der Siidslawen konnte somit nur durch eine ,,Piemontisierung" verwirklicht werden. Pasic erfuhr bald Widerspruch durch Frano Supilo und Ante Trumbic, die kroatischen FUhrer des im Exil wirkenden Jugoslawischen Komitees, die zwar mit der serbischen Regierung zusammenarbeiten wollten, nicht aber als bloBes serbisches Prop agandaorgan, wie Pasic es sich vorstellte. (7 Kap. 3) Supilo und TrumbiC vertraten den Standpunkt, der Anspruch der Siidslawen auf einen eigenen Staat sei durch die Prinzipien des nationalen Rechts auf Selbstbestimmung und nicht einfach durch Serbiens Kriegstaten begriindet und die Gestalt des Staates im Einzelnen miisste in einer Vereinbarung zwischen dem Jugoslawischen Komitee und der serbischen Regierung ausgehandelt werden. Die Annahme der Gleichheit, von der serbischen Regierung als Affront gegen ihre Fiihrungsrolle aufgefasst, schuf von Anfang an gewisse Probleme, doch Supilo und Trumbic beeindruckte dies nicht. Sie fanden, in den siidslawischen Uindem auBerhalb der Habsburger Monarchie habe Serbien ein Anrecht auf die FUhrungsrolle bei der siidslawischen Vereinigung, nicht jedoch innerhalb der Monarchie, wo diese Rolle Kroatien zustehe. Daher kanne die Vereinigung nicht durch die militarische Expansion Serbiens vollendet werden. Supilo setzte seine Ansicht durch, Serbien habe als Geste des guten Willens einjugoslawisches Freiwilligencorps aufzustellen und ein Mitglied des Jugoslawischen Komitees in sein Kabinett aufzunehmen. Kurz, Supilo und Trumbic kiimpften fUr ein neues Staatsgebilde, wahrend es Pasic lediglich urn die Ausweitung serbischer Macht auf neue Gebiete ging. Was die noch unter Habsburger Hoheit stehenden Kroaten, Slowenen und Serben betraf, so standen ihren Politikem verstiindlicherweise andere Handlungsspielraurne offen. Nach Franz-Josephs Tod im November 1916 verlegten sichjedoch die siidslawischen Politiker in der Donaurnonarchie zunehmend aufF orderungen nach einem vollig autonomen, auf dem national en Prinzip und dem kroatischen Staatsrecht beruhenden Status. Ais der Krieg dann eskalierte und in Russland die Revolution ausbrach, radikalisierte sich die innere Situation auch in Osterreich-Ungarn. Dies trug angesichts der Aufiosung der Monarchie zu einer nationalen Sammlungsbewegung bei, deren Ziel nun zunehmend ein unabhiingiger siidslawischer Staat war. Als die Fronten zusammenbrachen und Osterreich-Ungarn seinen Gegnem einen Waffenstillstand anbot, riickten serbische Truppen das Moravatal hinaufbis nach Belgrad und weiter vor. Anfang Oktober 1918 bildeten Delegierte kroatischer, slowenischer und serbischer Parteien, die
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einen WIabhangigen siidslawischen Staat forderten, eine oberste politisch-reprlisentative Korperschaft, den Nationalrat der Slowenen, Kroaten WId Serben. Am 29. Oktober brach der kroatische Sabor (Parlament) alle BeziehWIgen zu Ungarn WId Osterreich ab WId verkiindete WlZWeideutig die VereinigWIg der kroatischen Lander (Kroatien, Dalmatien, Slawonien WId Rijeka) in einem Wlabhangigen Staat. Der Sabor beschloss auBerdem, dass der neue vereinigte kroatische Staat WIverziiglich in den neuen souverlinen Staat der Slowenen, Kroaten WId Serben einzugehen babe, der aus den siidslawischen Gebieten des WItergegangenen Osterreich-Ungarn zu bilden seL In seiner letzten Sitzung vor den vierziger Jahren iibertrug der Sabor schlieBlich seine Machtbefugnisse auf den Nationalrat in Zagreb. Der 29. Oktober 1918 markierte das Ende der kroatischen politischen Ara. Keine der an diesem Tag vorgenommenen HandlWIgen ware ohne die BilligWIg des Sabor legal gewesen. Durch die UbertragWIg der Befugnisse auf den Nationalrat WIterwarf sich der Sabor jedoch dem Willenjener politischen Klasse Kroatiens, die sich damals vollig der VereinigWIg mit Serbien verschrieben batte. Besorgt iiber die revolutionliren Unruhen WIter den Bauem WId aufgeschreckt von den UbergrifIen der italienischen Armee, die mit der Besetzung Istriens, Rijekas, Zadars WId der lnseln eifrig ihre Anspriiche auf die Kiistengebiete Kroatiens absteckte, fassten die FUhrer des Nationalrates ihre Rolle strikt als vOriibergehend auf. Die MeinWIg der Mehrheit, die im Zentralkomitee des Nationalrates yom einflussreichsten serbischen Politiker in Kroatien, Svetozar Pribicevic (1875-1936), WId dem Vorsitzenden der Serbisch-Kroatischen Koalition (HSK) angefiihrt wurde, neigte einer einseitigen VereinigWIg mit Serbien zu. Stjepan Radic (18711928), der FUhrer der Kroatischen Bauempartei (Hrvatslca seljaclca stranlca, HSS), stimmte am 24. November als einziges Mitglied gegen den Vorschlag zur VereinigWIg. Vor der AbstimmWIg hielt er seine oft als ,Jetzte WarnWIg" zitierte Rede gegen den leichtsinnigen SpfWlg des Nationalkomitees ins Ungewisse ("wie trWlkene Glinse in den Nebel"), der seiner Ansicht nach dem Willen der iiberwliltigenden Mehrheit des kroatischen Volkes widersprach. Sein Kampf gegen die WIvorbereitete WId bedingWIgslose VereinigWIg, die ohne formelle ZusichefWlg einer Gleichheit WIter den konstituierenden Landem WId Volkem vollzogen wurde, begann somit noch vor der formellen GriindWIg des jugoslawischen Staates am 1. Dezember 1918 wlihrend eines TrefIens zwischen der Delegation des Nationalrats WId dem serbischen Regenten Aleksandar Karadordevic (1888-1934).
10.2. Das "Konigreich der Serben, Kroaten und Siowenen" Die uberlegene Macht des serbischen Staates fiihrte dazu, dass bei der VereinigWIg nicht einmal die gfWldlegenden FordefWlgen jener beriicksichtigt wurden, die einen foderativen Staatsaufbau wiinschten. Es gab keine Garantien gegen eine Dominanz Serbiens, dessen Armeen sogleich darangingen, friihere sUdslawische BesitZWlgen der Habsburger sowie Montenegro zu besetzen, WId so den Traum von einer serbischen VereinigWIg verwirklichten. In Anbetracht der Rolle des serbischen Staates bei der Schaffimg Jugoslawiens WId des tatsiichlichen, mitWlter auch formalen Fortbestehens
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serbischer staatlicher Institutionen nach der Vereinigung konnten sich die Serben auf die neuen Umstande einstellen, ohne das Gefiihl zu haben, ihrer nationalen Individualitat beraubt zu sein. FUr die anderen Volker war die Vereinigung nicht so einfach. Die Kroaten und Slowenen sahen sich kawn einen Monat nach dem Ende ihrer langwahrenden Bindung an die Habsburger Monarchie in einen Einheitsstaat mit Serbien und Montenegro eingegliedert. Die Entscheidung, sich mit Serbien zu vereinigen, wurde fUr sie durch die Umstiinde und von einer Klasse von Politikern getroffen, die im Erlangen und Ausiiben politischer Macht keine Erfahrung hatte. Keine der siidslawischen nationalen Gruppen, die Serben eingeschlossen, hatte die Moglichkeit, ihren Vorlieben in einer Volksabstimmung Ausdruck zu verleihen; bei den Kroaten hatte eine demokratische Befragung des Volkswillens vermutlich ein erhebliches Widerstandspotential zutage gef6rdert. Als die Eigenschaften des neuen Staates schlieBlich fest etabliert waren, machten sich in den nichtserbischen Gebieten allerlei F ormen "bodenstandigen" Widerstandes bemerkbar, sogar innerhalb der gebildeten und wohlhabenden Klassen, vor allem in dem von Italien bedrohten ostadriatischen Kiistenland. Besonders unter den Kroaten galt der Vereinigungsgedanke einerseits als eine Moglichkeit, die regionale Zersplitterung der kroatischen historischen Siedlungsgebiete zu beenden. Andererseits beinhaltete das unitaristische Konzept eine allgegenwiirtige Gefahr fUr die endgilltige Festigung des kroatischen Staatswesens, zumal es von den heimischen Eliten gepflegt wurde und anziehend auf die stadtischen Bevolkerungsteile wirkte. Da der Unitarismus auf der Idee siidslawischer ZusanunengehOrigkeit beruhte, konnte er allerdings nur dann Bestand haben, wenn diese ZusanunengehOrigkeit wirklich wechselseitig empfunden und anerkannt wurde. Als im neuen jugoslawischen Staat die nationale Frage auikam, im Wesentlichen als Ergebnis der dominanten Position serbischer Institutionen (Monarchie, Armee, Verwaltungsapparat, Orthodoxe Kirche) und der wirtschaftlichen Ausbeutung des entwickelten Sloweniens und Nordkroatiens durch Serbien, verlor die unitaristische Ideologie viel von ihrer urspriinglichen Anziehungskraft. Eine neue Welle nationalen Selbstbewusstseins, verbunden mit der kroatischen Bauernbewegung (HSS) unter Stjepan Radic und Vladko Macek (1879-1964), erreichte die entlegensten kroatischen Flecken. Anders als Starcevics Bewegung, die niemals bis in die Kopfe der einfachen Menschen vordrang, konstituierte sich die neue, von der HSS ausgehende Bewegung im Volke. Radics Ansehen bei den kroatischen Massen beruhte auf seinem hartnackigen Widerstand gegen eine Form der Vereinigung, die ohne die Zustimmung der kroatischen Wahlerschaft erfolgt war. Zwei Hauptelemente seiner Agitation waren die Weigerung, den Vereinigungsakt anzuerkennen, und die Forderung nach einer kroatischen konstituierenden Versammlung, die eine kroatische Bauernrepublik hervorbringen sollte. 1m Februar und Miirz 1919 sanunelte Radics Partei mehr als 115.000 Unterschriften zugunsten dieser Forderungen. Dieser organisatorische Erfolg, gepaart mit dem wachsenden Einfluss der HSS auf die kroatische Landbevolkerung, veranlasste die BehOrden zu einer repressiven Gangart. 1m Miirz 1919 verhafteten sie Radic und einige seiner engsten Mitarbeiter und hielten sie bis Februar 1920 gefangen, als Stojan Protic, ein gemii.l3igtes Mitglied von Pasics Partei (Radikale, Narodna radikalna stranka), eine
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neue Regierung bildete. Doch selbst in dieser gewissennafien entspannteren Periode beschlossen die Vertreter des Konigs Aleksandar im Marz 1920 eine emeute Verhaftung Radics und stellten ibn im Juli 1920 wegen Sezessionismus vor Gericht. Er wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt und durch koniglichen Gnadenerlass am Vorabend der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung im November freigelassen. In der Zwischenzeit erlebte die kroatische Provinz am 20. September an beiden Ufem der Save, von Turopolje bis Bjelovar, einen Bauemaufstand, der fiinfzebn Opfer aufSeiten der Bauem kostete, wiihrend die BehOrden fiinfzehn Soldaten und Beamte verloren. Radics republikanische Losungen hatten den Geist der kroatischen Landbevolkerung erfasst. Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, die am 28. November 1920 abgehalten wurden, hatten kein eindeutiges Ergebnis. Die beiden groBen zentralistischen Parteien (GroBserbische Radikale und unitaristische Demokraten) erlangten zusammen nur eine relative Mehrheit (37 Prozent aller Stimmen). Die verschiedenen antizentralistischen Parteien (besonders die HSS, slowenische und kroatische Autonomisten, die Jugoslawische Moslemorganisation, JMO usw.) gewannen 33 Prozent aller Stimmen, wahrend die Kommunisten, die kleinen marxistischen Parteien und die Agrarier, die allesamt die Wichtigkeit der nationalen Frage gering schiitzten, 24 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten. Radics HSS und die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) schnitten mit 14 bzw. 12 Prozent aller Stimmen iiberaus gut abo Statt dass dies den Zentralisten zu denken gegeben hiitte, waren die Radikalen und die Demokraten nun nur noch entschlossener, die zentralistische Verfassung durchzupeitschen. Sie nutzten Radics Boykott der Konstituierenden Versammlung sowie den Auszug der Kommunisten und verschiedener Autonomisten fUr eine Abmachung mit den bosnischen Muslimen, der tiirkisch-albanischen Partei des Kosovo (Dzemijet, Cemiyet) und einer kleinen Splittergruppe der slowenischen Agrarier, urn eine fadenscheinige Mehrheit herbeizufiihren. Die zentralistische Verfassungsvorlage wurde am 28. Juni (dem in der serbischen Geschichte verhangnisvollen Veitstag oder Vidovdan) mit 223 Stimmen bei 35 Gegenstimmen und in Abwesenheit weiterer 161 Abgeordneter angenommen. Die Veitstagsverfassung sanktionierte die unhaltbare zentralistische Losung der nationalen Frage Jugoslawiens. Erzielt obne die Beteiligung - und gegen den Willen der meisten nichtserbischen Parteien, trug sie die Saat fUr weiteren Hass in sich. Als historische Schwelle trennte sie zwei Schliisselphasen des entstehenden jugoslawischen Parlamentarismus voneinander: Die Periode vor der Annahme der Veitstagsverfassung kann als Testphase fUr Verwaltungspraktiken gelten, die durch dieses Dokument legalisiert wurden. Vor dem 28. Juni war die nationale Frage trotz systematischer Einfiihrung des Zentralismus fUr andere, gerechtere und pluralistische Losungen offen. Nach diesem Tag waren solche Losungen weniger wahrscheinlich und hiitten dariiber hinaus offene Kampfansagen gegen die Verfassung an sich bedeutet. Verschiedene antizentralistische BlOcke, innerhalb welcher Radics Partei stets die Fiihrungsrolle iibemahm, griindeten ihr Tun und Lassen weiterhin auf die Forderung nach Revision der Veitstagsverfassung. Als die Bewegungen an Starke gewannen, begannen die Parteiganger des Zentralismus, unter ihnen besonders Konig Aleksandar, ihrerseits die Verfassung als unnotiges Hindernis zu sehen. Andere Zentralisten wiederum, wie etwa Ljubomir
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Davidovie, der FUhrer der unitaristischen Demokraten (Demokratska Stranka), erkannten in der gewaltigen politischen Spaltung Jugoslawiens zunehmend die Gefahren fUr die parlamentarische Demokratie und bemilhten sich, eine KompromisslOsung zu finden. Unter den antizentralistischen Kraften spieiten die wichtigsten Parteien der Slowenen und der bosnischen Muslime eine vermittelnde Rolle. Obwohl diese Parteien fUr die Autonomie ihrer national en und konfessionellen Gruppen kiimpften und sich somit Radies harter Opposition annaherten, akzeptierten sie zugleich Jugoslawiens staatlichen Rahmen und glaubten daran, dass ihre Situation, aber auch die Positionen ihrer zentralistischen Gegner, sich zum Besseren verandem konnten. Anton Korosecs (1872-1940) Slowenische Volkspartei (Slovenska ljudska stranka SLS) trat fUr wirtschaftliche und kulturelle Autonomie ein, die, obgleich nicht im Sinne einer auf einer eigenstiindigen Nation beruhenden foderalen Einheit defmiert, zweifellos Slowenien als selbstiindige Einheit hervorgebracht Witte. Und da ein solches Programm keine wirkliche Bedrohung fUr Belgrad darstellte, wurden Korosecs Ausfliige in Regierungskoalitionen mit verschiedenen serbischen Parteien am Ende der zwanziger Jahre Wiufiger. Auf diese Weise begrenzte Korosecs SLS, die eine katholische Sozialpartei war, den Einfluss der slowenischen Liberalen (tatsachlich Antiklerikalen), die unitaristisch und mit der Demokratischen Partei verbunden waren. Mehmet Spahos Jugoslawische Moslemorganisation (Jugoslavenska muslimanska organizacija JMO), eine eindeutig konfessionelle Partei, war der organisierte Ausdruck zweier Sorgen der bosnischen Muslime: Die erste betraf die antimoslemische Gewalttatigkeit vorwiegend christlicher - hauptsachlich orthodoxer serbischer - Pachtbauem, die zweite die potentielle ethnische Zersplitterung der bosnischen Muslime durch nationale Integration in die serbische bzw. kroatische Volksgruppe und/oder deren politische Parteien. Die JMO wehrte sich gegen Anschuldigungen, sie fOrdere eine ,,riickschrittliche" pranationale konfessionelle Identitat, indem sie denjugoslawischen Unitarismus als ihr nationales Programm annahm. Ihr unitaristisches Image jedoch, wie feierlich man es auch immer propagierte, wurde durch das Beharren auf Autonomie und Unteilbarkeit Bosnien-Herzegowinas untergraben. Dies war das Feld, wo ein Abkommen mit Pasi6 und seinen verschiedenen Nachfolgem unter Umstanden platzen konnte. Wahrend allerdings die oppositionellen Parteien der Slowenen und Bosniaken zu ausgleichendem Verhalten neigten, konnte die nationale Frage im Falle der Montenegriner, Kosovo-Albaner und slawischen Makedonier zumeist nicht in legalen politischen Parteien oder gem1illigten Aktionen verarbeitet werden. Der Grund liegt z. T. in der bewussten Entnationalisierungspolitik, die von den verschiedenen Belgrader Regimes gegeniiber diesen im Prozess nationaler Integration befindlichen Gruppen betrieben wurde. Ein anderer Grund ist in der bedeutenden Rolle der Kommunisten am Siidrand Jugoslawiens zu sehen. Damit hangt zusammen, dass die Opposition in Montenegro, im Kosovo und in Vardar-Makedonien zum bewaffneten Widerstand neigte. Die montenegrinischen Autonomisten, sog. Griine (Zelenasi), die Aufstandischen im Kosovo (Kayaks) und die Mitglieder der Inneren Makedonischen Revolutionaren Organisation (lMRO) waren ebenso wie die Kommunisten, die diese meist eigenstandi-
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gen Gruppen Wld Bewegoogen zu beeinflussen suchten, stlindig polizeilicher Wld militlIrischer Gewalt ausgesetzt. Doch in der Gegenwehr gegen die Repression gelangten motenegrinische, albanische Wld makedonische Nationalbewegoogen zu einem hohem MaB an Gemeinsamkeit, die sich in nur bedingt als jugoslawisch zu bezeichnenden Plattformen ausdriickte. In diesem Sinne spiegelt ihre EntfremdWlg von dem Staat, den sie seinem Charakter nach zu Recht als serbisch betrachteten, die Situation in der einflussreichen kroatischen Bewegoog wider, obschon mit einer gewalttiitigen Komponente, die Radic vermied. Jugoslawiens innere Schwierigkeiten boten den Kommunisten nicht nur in den siidlichen Regionen Chancen. Obwohl der (seit 1921) illegale Status der KPJ das Potential der Partei schwiichte, bestand ein viel grol3eres Hindernis in der WeigerWlg ihrer FiihTWlg, die Nationalitiitenfrage als WafIe gegen den Staat einzusetzen. Erst auf Stalins direkte Intervention gegen die ,,rechte" Fraktion urn Sima Markovic (im Miirz 1925) bin Wlterdriickte die KPJ den Einfluss derer, die Biindnisse mit den nationalen Bewegoogen fUr zutiefst bourgeois hielten. Ende der zwanziger Jahre, als sich die jugoslawische Krise verschiirfte Wld die kommunistische Bewegoog kontinuierlich nach links driftete, brachten militante Mitglieder der Zagreber Parteiorganisation (darWlter Josip Broz, der spiitere Tito) Aufrufe fUr eine kommunistische FiihTWlgsrolle im national en Kampf in Umlauf. Wiihrend dieser Periode Wld weiter bis 1935 riefen die Komintern und die KPJ zur Zerschlagoog Jugoslawiens und zur Griindung eines unabhiingigen Kroatien, Slowenien, Montenegro und Makedonien auf. Bis zum Jahre 1923 war Radic damit gescheitert, den Zentralisten durch parlamentarischen Boykott und Blockbildung mit der SLS und der JMO Zugestlindnisse abzuringen. Er beschloss, sein Anliegen ausliindischen RegierWlgen vorzutragen, passierte illegal die Grenze nach Ungarn Wld untemahrn eine zunehmend enttiiuschende Tour durch europiiische Hauptstiidte. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Unterstiitzung demokratischer Staaten zu gewinnen, wagte er sich nach Moskau, wo er dem Beitritt der HSS zur Roten Bauern-Internationale (Krestintern) zustimmte. Nach einjiibriger Abwesenheit kehrte er in der Uberzeugoog heim, dass eine parlamentarische Losung gesucht werden miisse. Seine Deputierten wurden angewiesen, wieder ins Parlament einzuziehen, wo sie zunehmend mehr mit dem aus SLS, JMO und Davidovics Demokraten bestehenden Oppositionsblock zusammenarbeiteten. Dies beschleunigte die Spaltung der Demokratischen Partei, die nun von Pribicevics hartniickigen Unitarlsten, im Wesentlichen Serben aus Kroatien, verlassen wurde, welche die Unabhiingige Demokratische Partei (Nezavisna demokratska stranka NDS) griindeten. Diese wiederum begann mit PaSics Radikalen zu kooperieren. Konig Aleksandar, der mehr und mehr auf militiirische Kreise (die Offiziersgruppe der Weillen Hand) angewiesen war, stellte die Stiirke des Gespanns Pasic-Pribicevic (des ersten sog. P-P-Kabinetts yom Friihjahr 1924) auf die Probe und liel3 dann im Sommer und Herbst 1924 das Kabinett des oppositionellen Blocks urn Davidovic zu. Davidovics Zugestiindnisse an die HSS und die wachsende Stiirke von Radics Agitation unter den kroatischen Bauem in Dalmatien und Bosnien-Herzegowina veranlassten den Konig, sich fUr das zweite Pasic-Pribicevic-Kabinett zu entscheiden, das die HSS als bolschewistische Organisation verbot. Die RegieTWlg nutzte die Verbindung der
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HSS zur Krestintem als Vorwand, urn die antikommunistischen Gesetze von 1921, die das Verbot der KPJ zur Folge gehabt hatten, auf Radics Organisation anzuwenden. Radic und mehrere andere Schliisselfunktionare der HSS wurden wegen ,,kommunistischer" Aktivitaten verhaftet. Trotz Verfolgung und Verhaftungen zeigten die Wahlen yom Februar 1925 dennoch die anhaltende Stlirke von Radics Partei. Nach der Einberufung des neuen Parlaments blieb Radic in Haft, wiihrend sein Mandat fUr ungiiltig erklart wurde. Die angedrohte Auflosung seiner Bewegung brachte Radic dazu, die dynastische Ordnung, die staatliche Einheit und die zentralistische Veitstagsverfassung anzuerkennen. In einem vernichtenden Schlag gegen die Opposition stimmte er femer der Bildung einer Koalitionsregierung mit PaSics Radikalen zu, wobei er diesen bis dahin undenkbaren Schritt von der Losung der Verbindung Pasics mit Pribicevics NDS abhangig machte. Radic wurde am 18. Juli 1925, am Tage, als vier seiner Abgeordneten dem Kabinett Pasics beitraten, aus der Haft entlassen. 1m November wurde er selbst Erziehungsminister. Die Zusammenarbeit mit den Radikalen wurde selbst nach dem Riicktritt des Kabinetts Pasic im April 1926 fortgesetzt. (Der Patriarch der serbischen Politik selbst starb im Dezember 1926.) Die Periode des Abkommens zwischen Radic und den Radikalen (die sog. R-R-Kabinette), die fUr die Kroaten keine Erleichterung brachte, endete, als Radic im Januar 1927 eine neue Runde des Opponierens einleitete und die jugoslawische Krise verschiirfte. Diesmal schlossen sich Radic die kroatischen Serben unter deren FUhrer Svetozar Pribicevic, dem einstmals extremen Zentralisten, in einer Front gegen Belgrad an. Bis zum Juni 1928 heizten sich die Spannungen derart auf, dass Radic und mehrere seiner Mitstreiter von einem serbischen Deputierten wiihrend einer Debatte im Sitzungssaal des Belgrader Parlaments niedergeschossen wurde. Zwei der Deputierten waren auf der Stelle tot. Radic selbst, todlich verletzt, starb im August. Dieses politische Verbrechen, das auf die Enthauptung der kroatischen politischen Fiihrung abzielte, verschlimmerte die kroatisch-serbischen Beziehungen noch weiter und fiihrte zur Forderung nach der Unabhangigkeit Kroatiens. Am 6. Januar 1929 schaffie Konig Aleksandar die Verfassung, das Parlament und die politischen Parteien ab, wobei er seine Entschlossenheit verkiindete, fiber die nationale Einheit von Serben, Kroaten und Slowenen und die staatliche Integritiit ohne Mittler zu wachen.
10.3. Die Konigsdiktatur Die Diktatur Aleksandars machte den jugoslawischen Unitarismus als Staatspolitik zum unangreitbaren Dogma. Die Verfechter des Unitarismus hatten nun freie Hand bei dem Versuch, die spezifischen nationalen Traditionen der Jugoslawien konstituierenden Nationen zu zerstoren, obwohl in der Praxis die Bekiimpfung des "Separatismus" nur aufNichtserben abzielte. Die neuen Verwaltungseinheiten, die Banschaften, waren erdacht worden, urn historische Grenzen aufzubrechen, doch in drei von insgesamt neun Fallen auch, urn serbische Mehrheiten zu vergroBem. Nach den Worten Viktor Novaks, eines Unitaristen kroatischer Herkunft, bedeutete dies: ,,Die zukiinftigen Generationen
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konnen, befreit von atavistischen Noten und mit Hilfe bewusster nationaler Erziehung, in ihren Herzen eine grofiartige und heilige Idee tragen, die die Menschen vor iiuBeren und inneren F einden schiitzen wird. Diese Idee ist die jugoslawische Idee und nur sie." Wahrend der Zeit der Diktatur wandelte sich der jugoslawische Unitarismus tatsachlich zu einer totalitiiren Ideologie faschistischer Auspriigung. Er nahm zahlreiche Ziige faschistischer Ideologie einschlieBlich des Antimarxismus, Antiliberalismus, Antikonservatismus (in Jugoslawien besonders Antikatholizismus) und Antiurbanismus an. Die kommunistische Formel von der ,,monarcho-faschistischen" Diktatur ist daher im ideologischen Sinne durchaus berechtigt. Dies hinderte den jugoslawischen Unitarismus freilich nicht daran, zum einzigen ,,hauseigenen" Bestandteil des kommunistischen Totalitarismus nach der kommunistischen Machtergreifung zu werden, besonders in der Zeit zwischen 1950 und 1966. Die Konigsdiktatur loste keine Probleme, sondem trug vielmehr zur Entstehung zahlreicher aufstiindischer Bewegungen bei, ganz besonders der Ustaschas (Aufstiindischen) Ante Pavelics (1889-1959), eines exilkroatischen Nationalisten, der hoffte, mit Hilfe Mussolinis und (spiiter) Hitlers einen unabbiingigen kroatischen Staat errichten zu konnen. Die Ustaschas schiirten im Jahre 1929 einen lokalen Aufruhr in der Lika, ihre profaschistische Ausrichtung verhinderte allerdings, dass sie breite Unterstiitzung erlangte. Die Kommunisten, 1928 bis 1935 gleichermafien militant in der Frage kroatischer, slowenischer, makedonischer und montenegrinischer Unabbiingigkeit, waren eine weitere kleine, doch einflussreiche Sekte. Die Kroatische Bauempartei genoss, obwohl verboten, noch immer die Loyalitiit der meisten Kroaten und zunehmend auch die Unterstiitzung aller gegen die Diktatur gewandten Gruppen, einschliefilich der demokratischen Krafte in Serbien, die von der Demokratischen Partei Ljuba Davidovics (18631940) angefiihrt wurden. Vladko Macek (1879-1964), Radics Nachfolger am Ruder der Kroatischen Bauempartei, der wahrend der Diktatur mit Hunderten von kroatischen Militanten verhaftet wurde, lehnte den bewaffueten Kampf zwar prinzipiell ab, doch war sein Einfluss auf die kroatische Nationalbewegung unendlich viel grofier als der von den Abenteuem der Ustaschas oder der Kommunisten entfachte Enthusiasmus. Dies waren die dunklen Jahre des Polizeiterrors und des Gegenterrors der Ustaschas. 1m Oktober 1934 wurde Konig Aleksandar in Marseille durch einen von der UstaschaOrganisation gedungenen makedonischen Revolutioniir ermordet. Die darauf folgende Regentschaft Prinz Pauls stellte eine langsame Abkehr von der Diktatur dar, die das Land zu einer Zeit wachsender faschistischer Bedrohung in Mitteleuropa geschwiicht hatte. Der Aufstieg Hitlerdeutschlands Mitte der dreiBiger Jahre veriinderte das intemationale Kriiftespiel in den Gebieten Mittel- und Siidosteuropas. Der Wettstreit der von Italien unterstiitzten revisionistischen Staaten (Ungam, Bulgarien) gegen die franzosischen Schiitzlinge (,,Kleine Entente": Tschechoslowakei, Rumiinien, Jugoslawien und Polen) entwickelte sich nun bedenklich zu Gunsten der ersteren. Bis 1935 hatte Deutschland zwar keinen einzigen offiziellen Verbiindeten in der Region, doch war sein Einfluss injeder Hinsicht spiirbar. Dies veranlasste auch die Sowjetunion, ihre Gangart zu iindem, ihre prorevisionistische AuBenpolitik aufzugeben und Entschlossenheit durch die Stiirkung des geschwiichten Systems franzosischer Osteuropa-Allianzen zu demon-
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strieren. Das bewegte Politiker der Region, nWl auch Briicken zu Deutschland zu bauen Wld Aspekte seines ideologischen Systems nachzuahmen. Diese Tendenz war in Jugoslawien nach dem Attentat von Marseille dominant, besonders als Milan Stojadinovic (1888-1961), ein serbischer Radikaler, nach den hastig anberaurnten Wahlen yom Mai 1935 an die Macht kam. Sein Regime war gleichzeitig offener als das seiner Vorganger (tatslichlich stellte er ein Koalitionskabinett mit der SLS Wld der JMO auf), doch war seine AuBenpolitik nachgiebig gegeniiber den faschistischen Staaten. Vor allem handelte Stojadinovic in seinem Versuch, Maceks HSS zu Wltergraben, ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl aus, urn so die Gunst der Katholischen Kirche, aber auch Italiens zu gewinnen. (7 Kap. 15) Obwohl Mussolini Stojadinovics Avancen erwiderte, setzte das In-Kraft-Treten des Konkordats Stojadinovic den vereinten Angriffen WlZUfriedener serbischer Nationalisten Wld der Linken aus. Dies beschleunigte das Ende seines pseudoparlamentarischen Regimes. Evident wurde die Abkehr von autoritlirer Herrschaft wlihrend der Parlamentswahlen im Dezember 1938. Diese Wahlen, die letzten im Vorkriegsjugoslawien, waren ein Schliisselereignis im langsamen Prozess der WiederherstellWlg parlamentarischer Demokratie Wld der UberwindWlg der Kluft zwischen Kroaten Wld Serben nach einem Jahrzehnt der Diktatur. Die von Macek Wld seiner Partei angefiihrte vereinigte Opposition war eine Koalition aus allen gegeniiber Stojadinovics Regime feindlich eingestellten Krliften, die serbischen eingeschlossen. Obwohl auch bei diesen Wahlen die Ergebnisse manipuliert waren, gewann Maceks Liste 44,9 Prozent aller Stimmen. Zwar hatte Stojadinovic rechnerisch gesiegt, doch war seine Position so geschwlicht, dass Prinz Paul ihn im Februar 1939 entlieB. Der Prinz verfolgte nWl in wachsendem Maile eine Politik des Kompromisses mit Maceks HSS. Zu diesem Zwecke emannte er einen neuen Premierrninister, DragiSa Cvetkovic (1893-1969), Wld beauftragte ihn damit, einen Weg zu finden, die kroatische Opposition zu beschwichtigen. Das war auch die FordefWlg der Westmlichte, die noch immer Prinz Paul beeinflussten Wld die im FaIle einer Konfrontation mit Hitler ein stabiles Jugoslawien wiinschten. Damit hatte man eingerliurnt, dass der jahrzehntelange Kampf gegen die Opposition der Kroaten Wld anderer Nationalitliten gescheitert war. Das Abkommen zwischen Cvetkovic Wld Macek, der sog. Sporazum, wurde am 26. August 1939, drei Tage nach UnterzeichnWlg des deutsch-so~etischen Nichtangriffspakts verkiindet. Das Abkommen schuf eine autonome kroatische Banschaft (Banovina), deren Territoriurn Kroatien einschlieBlich Slawonien (ohne die Teile Ostsyrrniens), Dalmatien (ohne die Bucht von Kotor) Wld jene Distrikte Bosnien-Herzegowinas urnfasste, wo die katholischen Kroaten zahlenmliBig die orthodoxen Serben iibertrafen. Macek wurde Vizepremier im Kabinett Cvetkovic, Wld die Kroatische Bauempartei iibemahm die regionale Wld ortliche VerwaltWlg in der Banschaft. AIle Bereiche der Staatspolitik auBer militlirischen Wld liuBeren Angelegenheiten sowie den gemeinsamen Finanzen wurden der autonomen kroatischen VerwaltWlg Wlter der LeitWlg des Banus Ivan Subasic (1892-1955) iibertragen. Dies war der erste wirkliche Versuch einer fOderalen OrdnWlg vor der ,,FoderalisiefWlg der FOderation" Wlter den Kommunisten in den sechziger Jahren. Das Abkommen befriedigte die meisten FordefWlgen der kroatischen NationalbewegWlg Wld isolierte die Ustaschas. Wahrend allerdings das Regime von Cvetkovic Wld
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Macek fUr die Kroaten ein hohes MaB an biirgerlichen und nationalen Freiheiten bedeutete, wurden den anderen Nationalbewegungen diese Vergiinstigungen noch immer weitgehend vorenthalten, der politische Status Sloweniens und Serbiens blieb unbestimmt und die Ustaschas und Kommunisten in der illegalitlit. Und obwohl Cvetkovic die Interessen eines gewissen Segments der serbischen politischen Elite reprasentierte, lehnten viele nationalistische Zirkel in Serbien - in der Orthodoxen Kirche, in der Annee, in politischen Parteien und bei den Intellektuellen (namentlich Dragisa Vasics und Slobodan Jovanovics einflussreicher Serbischer Kulturverein) - das Abkommen als serbische Interessen schlidigend abo Obwohl also das Abkommen den kroatischen Fiihrern einen Anschein von Macht verschaffie und den Beginn von Jugoslawiens Umbau einleitete, mobilisierte es zugleich die serbischen Hardliner. Die Zeit Ende der dreiBiger Jahre war auch wegen der wachsenden Stalinisierung der KPJ unter der Fiihrung des neuen Generalsekretars der Partei, Josip Broz Tito (18921980) bemerkenswert. Seit 1937 hatte Tito mit dem eisemen Besen in dem Bestreben gekebrt, eine vollig bolschewisierte Partei zu etablieren. Der Konflikt urn die Strategie in der KPJ von 1938 bis 1940 bedeutete somit viel mehr als nur eine Beseitigung von Uberbleibseln verschiedener fiiiherer Splittergruppen, wenngleich dies die vordringliche Aufgabe war. Tito entledigte sich verschiedener FUhrer, doch seine bei weitem wichtigste Sauberung richtete sich gegen die Dissidenten in der kommunistischen Intelligenzija und gegen verschiedene parteiinterne Tendenzen, die fUr eine wirkliche Volksfront eintraten, in welcher die KPJ ihre Untergrundmanieren abstreifen und die Rolle eines loyalen Partners der demokratischen und national gepragten Opposition spielen sollte. Titos Entscheidungsschlacht gegen die linke Intellingenzija wurde gegen eine urn Miroslav KrleZli, den fortschrittlichsten kroatischen Schriftsteller, gescharte Gruppe geschlagen, der 1940 aus der KPJ als "Trotzkist" ausgeschlossen wurde. (7 Kap. 18) Krleias Vielseitigkeit - er schrieb Theaterstiicke, Romane, Gedichte sowie literarische und politische Essays - war eines der Hauptmittel, die dem Marxismus intellektuelles Gewicht nicht nur in Kroatien, sondem in ganz Jugoslawien gaben. Krleia, Parteimitglied seit 1919, brachte beinahe im A1leingang alle traditionellen Werte und Denkweisen ins Wanken. Er hegte, moglicherweise weil sein Kommunismus noch der Friihzeit der Bewegung angehOrte, eine personliche und doch sichtbare Abneigung gegen Stalins Politik. Sein Widerstand wurde am deutlichsten in asthetischen Fragen sichtbar. Krlezas Marxismus, ein Produkt mitteleuropaischer kritischer Tradition, konnte nicht in die pragmatische Zwangsjacke des sozialistischen Realismus gepresst werden. Seine Zeitschriften waren offen fUr die fiihrenden, zum Kommunismus neigenden Surrealisten. Mit der Zeit verband er sich eng mit jiingeren kritischen Kommunisten verschiedener heterodoxer Neigungen, die den Freudianismus und modeme naturwissenschaftliche Theorien verbreiteten bzw. viele Postulate marxistischer Historiographie in Zweifel zogen. Krlezas Opposition gegen den Stalinismus wurde bis zum Ende der dreiBiger Jahre zunehmend politisch. Obwohl er sich nie in der Offentlichkeit von den Moskauer Scbauprozessen distanziert hatte, machte er sich keine illusionen fiber die Sauberungen und verurteilte sie. Dariiber hinaus akzeptierte er keine Verengung der Volksfront; 1935 trat
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er in einer internen Parteidebatte fUr eine breite Zusammenarbeit mit der nationalen Opposition, d. h. mit Maceks HSS ein. Nach dem Sporazum und, was noch wichtiger war, nach dem deutsch-sowjetischen NichtangrifIspakt stellte die Komintem ihre Volksfrontpolitik ein. Das Abkommen zwischen Cvetkovic und Macek wurde als Abkommen zwischen der serbischen und der kroatischen Bourgeoisie verurteilt. Wer sich wie KrleZa einer ofIeneren kommunistischen Linie verschrieb, wurde verstoBen. Die Vorteile der Dogmatisierung und Disziplin wurden allerdings urn einen hohen Preis erkauft. Die KPJ war nun zwar organisatorisch starker, doch politisch isolierter. Viele ihrer Mitglieder, besonders in Kroatien und Slowenien, warteten auf bessere Zeiten und eine Riickkehr der Volksfront. Und so geschah es, dass sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, noch bevor im Miirz 1941 der Druck der Achsenmachte zunahm, eine Fortsetzung der einseitigen Feindschaft gegen die Demokratien als unmoglich erwies. 10.4. Der Untergang
Als die Regierung von Prinz Paul, der home, einen Beitritt zum Dreierpakt zwischen Deutschland, Italien und Japan vermeiden zu konnen, ins Wanken geriet, verbanden Teile der serbischen Elite ihre Opposition gegen den Sporazum mit ihrem Widerstand gegen das italienisch-deutsche Diktat. Als die Regierung Cvetkovic-Macek schlieBlich einer Unterzeichnung des Paktes zustimmte, wodurch Jugoslawien am 25. Miirz 1941 Mitglied der Achse wurde, stiirzte am 27. Miirz eine Gruppe serbischer Armeeverschworer die Regierung. Sie entthronten auBerdem Prinz Paul, hoben die Herrschaft des Prinzregenten auf und riefen den minderjahrigen Petar II. Karadordevic zum Konig aus. Dennoch belieBen sie Macek und die iibrigen Kroaten im neuen Putschistenkabinett unter General DuSan Simovic und bestiitigten die Giiltigkeit des Dreierpakts, mit der Absicht, einstweilen ihre errungenen Ziele zu sichern. Hitler war dadurch nicht beschwichtigt. Am 16. April 1941 grifIen Deutschland, Italien, Ungam und Bulgarien Jugoslawien an. Die konigliche Regierung Jugoslawiens einschlieBlich mehrerer f'iihrender Mitglieder von Maceks Kroatischer Bauempartei (unter ihnen Ivan Suba§ic und Juraj Kmjevic) flohen aus dem Land und etablierten sich schlieBlich in London als Alliierte Exilregierung. Nach der Kapitulation der jugoslawischen Streitkriifte vor Deutschland am 17. April wurde das Territoriurn Jugoslawiens entweder direkt unter den Achsenmachten (Deutschland, Italien, Ungam, Bulgarien) aufgeteilt oder besonderen Besatzungszonen einverleibt (Serbien, Banat). Die serbische Zivilverwaltung wurde schlieBlich General Milan Nedic, einem serbischen Petain und Vorkriegs-Verteidigungsminister, anvertraut, dessen Stellung von der serbischen Faschistenpartei, dem Zbor (Versammlung) Dimitrije Ljotics, sowohl angegrifIen als auch gestiitzt wurde. Die unbesetzten Teile Kroatiens (einschlieBlich Bosnien-Herzegowinas) wurden formell zu einem Verbiindeten der Achse - dem Unabhiingigen Staat Kroatien (Nezavisna driava Hrvatska). Dieser war tatsachlich ein italienisch-deutsches Kondominiurn, das von den beiden Siegermachten besetzt war. Deutschlands Wunsch war es, dass die nominale Regierungsgewalt Vladko Macek iibertragen werde. Dieses Angebot wurde
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yom FUhrer der Bauernpartei abgelehnt. Macek, lebenslang ein Demokrat, sagte spater, dass er sich herausgewunden habe "aus der Situation, so gut [er] konnte durch Betonung [seiner] Reputation als unverbesserlicher Pazifist, der kein Verlangen nach irgendwelcher politi scher Aktivitat wiihrend des Krieges habe". (Macek 1957, S. 230) Die Besatzer gingen dazu iiber, durch Ante Pavelic und seine Ustaschas zu herrschen, der eine Reihe von antiserbischen MaBnahmen bescWoss, die von Terror und Massakern begleitet wurden. Die Geschichte des Jugoslawien der Zwischenkriegszeit war von groBen Vorhaben und gewaltigen Enttiiuschungen gepragt. Das Hauptproblem lag in der Unfahigkeit, die richtige Mischung zwischen wirklichen Unterschieden und gemeinsamen Punkten zu finden. Die Unitaristen wUnschten die unterschiedlichen Nationalgeschichten der konstituierenden VOlker auszuloschen, und die GroBserben wollten den gemeinsamen Staat als Besitztum fUr ihre Vorherrschaft benutzen. Infolgedessen wurden aus der Sicht der nichtserbischen Nationalitaten die Unterschiede zwischen den Unitaristen und den serbischen Hegemonisten rein akademisch. Der Unitarismus wurde de facto zu serbischem Nationalismus. AIle Alternativen wurden fUr ungesetzlich erkliirt oder unterdriickt und hatten iiberdies nur begrenzten gemeinsamen Nutzen. F Oderalismus wurde bis zur Schaffung der kroatischen banovina im Jahre 1939 verrnieden, doch selbst diese Ubereinkunft wurde nicht als normativ vorgestellt. Der erste jugoslawische Staat war fUr das groBere siidslawische Drama wichtig, weil er das Element des Stillstandes einfiihrte, der auch nach 1944 die be~t1indigste Eigenschaft der kommunistischen F Oderation blieb. Auf dem jugoslawischen Schachbrett waren alle Figuren bekannt, doch hatte das Spiel ein offenes Ende. Es gab eine zusatzliche Einschriinkung. Man konnte Jugoslawien haben oder eine politische Demokratie. Nicht beides.
Deutsch von Robert Hammel
Literatur
Eine Einfuhrung in die Geschichte der siidslawischen nationalen Ideologien und der Politik irn ersten jugoslawischen Staat gibt Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia: Origins, History, Politics, Ithaca, N.Y. 1984. In dern Buch fmdet sich eine ausfuhrliche Bibliographie insbesondere neuerer Forschung; es liegt auch in kroatischer Ubersetzung vor (Nacionalno pitanje u Jugoslaviji, Zagreb 19952). Ferner: Wolf Dietrich Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie, Miinchen 1980. Zurn Ersten Weltkrieg: Robert A. Kann, Das Nationalitatenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen yom Vormarz bis zur Auflosung des Reiches im Jahre 1918, 2 Bde. Graz, Koln 1964; Hugh Seton-Watson, R W Seton-Watson and the Last Years oj Austria-Hungary, Seattle 1981; Dirnitrije Djordjevic (Hg.), The Creation ojYugoslavia, 1914-1918, Santa Barbara und Oxford 1980. Uber die Geschichte des Jugoslawischen Kornitees: Milada Paulovit, Jugoslavenski odbor, Zagreb 1925. Zurn ersten Jugoslawien ist - abgesehen von Gesamtdarstellungen der westlichen Siidosteuropa-Historiker - das Gros von Einzelstudien rneist nur in Kroatisch oder Serbisch zuganglich. Daraus urnfassen auch einen weiteren geschichtlichen Abschnitt: Dragoslav Jankovic, "Ni§ka deklaracija. Nastajanje programa jugoslovenskog ujedinjenja u Srbiji 1914". Godine, Istorija XX veka: zbornik radova 10, Belgrad, 1969
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Ivo Banac
(S. 8-21); Bogdan Krizman, lWspad Austro-Ugarske i stvaranje jugoslavenske driave, Zagreb 1977 sowie ders.: Hrvatska u Prvom Svjetskom ratu: Hrvatsko-srpski politicki odnosi, Zagreb 1989; femer: Vanjska politikajugoslavenske drZove 1918-1941, Zagreb 1975; besonders zu ernpfeh1en ist die lebhaft geschriebene Chronologie der Ereignisse ab der Mitte des 19. Jh. - mit dem Schwerpunkt Kroatien - bis 1929 von Josip Horvat, Politicka povijest Hrvatske, 2 Bde. Zagreb I 99()2. Uber die Slowenische Volkspartei: Momcilo Zeeevic, Slovenska ljudska stranka i jugoslovensko ujedinjenje 1917-1921. Od Majske deklaracije do Vidovdanskog ustova, Belgrad 1973; Uber die (bosnischen) Muslime: AtifPurivatra, Jugoslavenska muslimanska organizacija u politickom iivotu Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca, Sarajevo 1974, sowie Mustafa Imamovie, Historija Bosnjaka, Sarajevo 1997. Ein Kurzportrait von Stjepan Radie: Dunja Melcie, "Stjepan Radie", in: Politische Morde. 17 Faile des 20. Jahrhunderts, hg. von Werner RaithlThomas Schmid, Gottingen 1996. Zur Konigsdiktatur: Svetozar Pribitchevitch, La dictature de roi, Paris 1933 (in kroatischer Obersetzung: S. Pribieevie, Diktatura kralja Aleksandra, Zagreb 1990.); Aufschlussreich sind die Erinnerungen, die Vladko Macek in der amerikanischen Emigration geschrieben hat: V. MaCek, In the Struggle for Freedom, New York 1957. Speziell zu den Anfllngen der Ustaschabewegung: Bogdan Krizman, Ante Pavelic i ustase, Zagreb 1978; Kenntnisreich und gut dokumentiert: Ljubo Boban, Macek i politika HSS, 19281941,2 Bde. Zagreb 1974. Uber die Zeit nach der Ermordung A1eksandars: J.8. Hoptner, Yugoslavia in Crisis, 1934-1941, New York 1963. Speziell zum Abkommen zwischen Cvetkovie und MaCek: Ljubo Boban, Sporazum CvetkovicMacek, Belgrad 1965. Ober die Kommunisten und deren innere Konflikte: Ivo Banac, With Stalin against Tito: Comir1!ormist Splits in Yugoslav Communism, Ithaca, NY 1988; iiber die Kontroversen innerhaIb der Iinken Intellektuellen: Stanko Lasie, Sukob na knjiievnoj ljevici 1928-1952, Zagreb 1970.
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Die Aufteilung Jugoslawiens Bach dem Aprilkrieg 1941
11. Der Zweite Weltkrieg
11.1. Verlauf uod Akteure Slavko Goldstein
11.1.1. Eroberung und Aufteilung Unmittelbar nach den ersten Nachrichten von den Putschereignissen und den antideutschen Demonstrationen in Belgrad yom 27. Miirz 1941 erlieB Adolf Hitler die "Weisung Nr. 25", in der es hieB: ,,Der Militiirputsch in Jugoslawien hat die politische Lage auf dem Balkan geandert. Jugoslawien muss auch dann, wenn es zunachst Loyalitatserkliirungen abgibt, als Feind betrachtet und daher so rasch als moglich zerschlagen werden." 1m letzten Augenblick bemiihte sich die Regierung unter General Simovic, den Krieg noch mit der Anerkennung des Beitritts zum Dreimachtepakt zu vermeiden. Deutschland versetzte in kurzer Zeit 24 hervorragend ausgeriistete Divisionen in Angriffsbereitschaft, dazu kamen 23 italienische sowie einige ungarische und bulgarische Divisionen. Insgesamt kamen 2.200 Kampffiugzeuge zum Einsatz. Dieser Streitrnacht stellte sich die jugoslawische Armee mit insgesamt 30 unzureichend ausgeriisteten Divisionen entgegen, die zumeist mit Ochsengespannen statt mit Kraftfahrzeugen ausgestattet waren. Die Grenze zu Griechenland ausgenommen, befand sich Jugoslawien in totaler feindlicher Einkreisung. Der Angriffbegann ohne Kriegserkliirung in den friihen Morgenstunden des 6. April mit einem beispiellosen Bombenangriff aufBelgrad, bei dem nach vorsichtigen Schatzungen 4.000 Belgrader den Tod fanden (nach einigen Quellen sogar 10.000). Zugleich stiitzte sich der Uberfall auf die deutschen Panzerdivisionen, die aus Bulgarien in Richtung Skopje und NiS, aus Rmnlinien in Richtung Belgrad und spater aus Ungarn und bsterreich in Richtung Zagreb und Bosnien vorstieBen. Der Widerstand war schwach und kam praktisch schon in den ersten zwei bis drei Tagen zum Erliegen. Die Kampfmoral der Verteidiger war niedrig, da die Mehrheit der Soldaten und viele Offiziere, insbesondere nichtserbischer Nationalitat, nicht bereit waren, fUr das Konigreich Jugoslawien zu kampfen. An allen Fronten kam es zum vollstandigen Zusammenbruch. Konig Petar floh mit groBem Gefolge am 14. April im Flugzeug aus Montenegro nach Griechenland, und einen Tag spater folgte ihm auf demselben Weg seine Regierung mit Ministerprasident General Simovic an der Spitze. Schon am 14. April begann der neue Generalstabschef, General Kalafatovic, die Unterhandlungen fiber die Kapituiation, die am 17. April in Belgrad unterzeichnet wurde. Insgesamt gerieten 6.298 Offiziere und 337.863 Unteroffiziere und Soldaten in Kriegsgefangenschaft, davon ca. 90 Prozent Serben. Die AngehOrigen der fibrigen Nationalitaten hatten die Deutschen meist sofort nach der Entwaffnung nach Hause entlassen. Es war ein vollendeter deutscher ,,Blitzkrieg".
II. Der Zweite Weltkrieg
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Der Krieg war noch nicht beendet, als Hitler am 12. April die "Vorliiufigen Richtlinien fur die Aufteilung Jugoslawiens" herausgab. Keiner der italienischen, ungarischen und bulgarischen Verbiindeten war durch die Bestimmungen Hitlers zufrieden gestellt, jeder forderte fur sich mehr Territoriurn. Nach liingerem Verhandeln und Feilschen urn Grenzen und Gebiete nahm die deutsche Seite schlieBlich folgende Aufteilung vor: Slowenien. nordlicher und westlicher Tei!. annektiert von Deutschland
Flache in krn': 9.620
Einwohner: 775.000
Slowenien. sudlicher Tei!. annektiert von Italien
Flache in krn': 5.242
Einwohner: 380.000
Teile Dalmatiens und des Kroatischen Kiistenlandes sowie die Bucht von Kotor, annektiert von Italien Flache in krn': 5.381 Einwohner: 380.000 Unter italienischer Verwaltung: Kosovo und das westliche Makedonien (beide vereinigt mit Groj3-Albanien) und der groj3te Teil Montenegros Flache in krn': 28.000 Einwohner: 1.230.000 Makedonien (die zentralen. ostlichen und sudlichen Gebiete) annektiert von Bulgarien Flache in krn': 28.250 Einwohner: 1.260.000 Serbien (reduziert auf die Grenzen von 1912) unter der Verwaltung des deutschen Militiirbefehlshabers Flache in krn': 51.1 00 Einwohner: 3. 81 0.000 Banat unter der Verwaltung des deutschen Militiirbefehlshabers. zivile Verwaltung durch die ansiissigen Volksdeutschen Flache in krn': 9.776 Einwohner: 640.000 Backa. Baranja. Zwischenmur- und Ubermurgebiet annektiert von Ungarn
Flache in krn': II. 60 I
Einwohner: 1.145.000
Unabhiingiger Staat Kroatien (das heutige Kroatien. Bosnien-Herzegowina und Syrmien ohne die von Italien und Ungarn annektierten Gebiete) Flache in krn': 98.572 Einwohner: 6.300.000
Uberall wurden repressive Regime oder Militiirdiktaturen errichtet, die mit GewaltmaBnalnnen die ,,neue Ordnung" einfiihrten. Auch wenn die neuen Herren mit den einzelnen Landesteilen unterschiedlich verfuhren, wurde das gesamte Gebiet des zerschlagenen Jugoslawien in den Dienst der Politik der Achsenmiichte und ihrer Kriegsanstrengungen gestellt. Die Kosten der Besatzung mussten aus lokalen Ressourcen bestritten werden. Die Folge war eine plOtzliche Verarmung der BevOlkerung, in einigen Gebieten traten sogar Hungersnote auf. Deutschland bemUhte sich, seiner Kriegsmaschinerie insbesondere die Nutzung der reichen jugoslawischen Erzvorkommen, der Landwirtschaftsprodukte und der billigen Arbeitskriifte zu sichem. (Fast 400.000 iiberwiegend zwangsmobilisierte Einwohner aus den jugoslawischen Liindem wurden bis 1944 zur Arbeit nach Deutschland deportiert.) Als das Gebiet mit dem mutmaBlich groBten Feindpotential wurde Serbien unter die strenge Verwaltung des deutschen Militiirbefehlshabers gestellt. Drastische repressive MaBnalnnen wie Massenverhaftungen, die Errichtung von Konzentrationslagem und
11.1. Verlauf und Akteure
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die ,,rassische Sauberung" von Juden und Roma wurden eingeleitet. Die mitgliederschwache serbische faschistische Bewegung ,,zbor" (Versammlung) arbeitete unter der Filluung von Dimitrije Ljotic (~ Kap. 10) bereitwillig mit der Besatzungsmacht zusammen. Bald erschienen mit einer Gruppe vormaliger jugoslawischer Politiker und Generale weitere Kollaborateure auf der Bildflache. Sie sahen in Deutschland den sicheren Gewinner des Krieges. Dernzufolge widersetze sich das kleine Serbien vergeblich, vielmehr miisse es sich Deutschland zuwenden, urn sein Yolk vor weiterem Blutvergiefien und dem Untergang zu bewahren. Aus diesen Kreisen emannte der deutsche Militarkommandant am 1. Mai einen ,,Kommissarischen Rat" als Hilfsorgan fur zivile Angelegenheiten und beauftragte am 29. August Armeegeneral Milan Nedic mit der Bildung einer ,,Regierung der nationalen Rettung". Die neue Regierung sollte den Deutschen bei der Aufstandsbekiimpfung und der Stabilisierung des unruhigen Serbien behilflich sein. 1m Banat legte der Militiirbefehlshaber die zivile Verwaltung in die Hiinde der ansassigen Volksdeutschen, die etwa ein Fiinftel der BevOikerung ausmachten. Das nazistische Politik- und Herrschaftsmodell diente uneingeschriinkt als Vorbild. Schon im August 1941 wurden alle Banater Juden in Konzentrationslager deportiert und das Banat zum ersten ,judenfreien" Gebiet Europas ausgerufen. In allen annektierten Gebieten wurde eine Politik durchgefiibrt, die die unterworfenen Nationalitaten in ihrem Bestand angriff. In der Steiermark und in Kiimten wurden die slowenische Sprache, slowenische Publikationen und Vereinigungen verboten, alleinige Amtssprache wurde das Deutsche. Auf dem Kosovo und im westlichen Makedonien fiibrten die albanischen Irredentisten unter italienischem Patronat eine gewaltsame Albanisierung durch. Ungam magyarisierte "seine" Gebiete unter Einsatz von mancherorts barbarischen Mitteln. Bulgarien erkliirte die Mazedonier schlechthin zu Bulgaren und sandte in den angeschlossenen Teil Mazedoniens Beamte, Lehrer und Priester, die das Land bulgarisieren sollten. Italien verfuhr etwas diplomatischer und gab den angeschlossenen Provinzen ,,Lubiana" und Dalmatien einen zweisprachigen Sonderstatus. Mit Hilfe besonderer Beratungsorgane bemiihten sich die Italiener, die Bevolkerung zur Mitarbeit zu gewinnen, doch erzielten sie damit keine nennenswerten Erfolge. Ebenso erfolglos blieb das Bestreben, Montenegro in ein Vasallen-Konigreich unter italienischem Patronat zu verwandeln, obwohl das italienische Besatzungsregime dort relativ mild war. Radikalere Formen der Entnationalisierung stellten die Massendeportationen und andere MaBnahmen zur Vertreibung der BevOikerung dar. Bis zum Herbst 1941 hatten die deutschen Machthaber mehr als 60.000 Siowenen zur Flucht aus Siowenien getrieben. Ca. 17.000 waren "freiwillig" nach Ljubljana und in die siidlichen Teile Sioweniens unter dem weniger brutalen italienischen Regime ausgewandert. (Hitler verlangte am 28. April in Maribor: ,,Machen Sie mir die Steiermark wieder deutsch!") Die grofialbanischen VerwaltungsbehOrden verjagten die serbischen und montenegrinischen Bewohner aus dem Kosovo. Die Bulgaren vertrieben die Serben aus Mazedonien nach Serbien. Dort trafen in grofier Zahl auch serbische Fliichtlinge aus der Backa ein. Die grofiten AusmaBe nahmen die Massendeportationen im Unabhiingigen Staat Kroatien (Nezavisna DrZava Hrvatska, NDH) an. Gegen Ende Juli 1941 registrierte die deutsche Besatzungsmacht in Serbien schon 137.000 serbische Aussiedler und Vertriebe-
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ne vor allem aus dem NDH. Ende August belief sich die Zahl der Fliichtlinge bereits auf ca. 180.000. Dies bereitete den Besatzem erhebliche Schwierigkeiten, vor allem in Anbetracht des Aufstandes, der im Sommer 1941 Serbien erfasste. Auf Verlangen der deutschen BehOrden wurden dann "bis auf weiteres" die Deportationen von Einwohnem in allen Teilen des zerschlagenen Jugoslawien eingestellt.
11.1.2. Der Unabhangige Staat Kroatien (NDH) In dem Augenblick, als die Vorhut der deutschen Wehrmacht am 10. April 1941 in Zagreb einmarschierte, rief der pensionierte k. u. k. Oberst Slavko K vatemik iiber Radio Zagreb die Griindung des Unabhiingigen Staates Kroatien mit den Worten aus: "Gottes Vorsehung und der Wille unseres groBen Verbiindeten sowie der jahrhundertelange Kampf des kroatischen Volkes und die groBe Opferbereitschaft unseres FUhrers Ante Pavelic und der Ustascha-Bewegung in der Heimat und im Ausland haben es gefiigt, dass heute vor der Auferstehung des Gottessohnes auch unser Unabhiingiger Staat Kroatien aufersteht." Dem Empfang nach zu urteilen, der der deutschen Wehrmacht in Zagreb und anderen Stiidten bereitet wurde, wie auch nach anderen offentlichen Bekundungen dieser Tage nahm die Mehrheit der kroatischen BevOikerung die militiirische Niederlage Jugoslawiens und die Errichtung des NDH mit Genugtuung auf. Die Ustascha-Organisation war bis dahin ausgesprochen mitgliederschwach gewesen. Sie bestand aus ca. 300 U stascha-Emigranten unter der Fiihrung von Ante Pavelic in Italien und noch einmal so vielen Mitgliedem in Deutschland und anderen Liindem. Dazu kamen ca. 2.000 illegal organisierte "vereidigte" Ustaschas innerhalb des Landes. Sie stellten das Grundgeriist der neuen Herrschaft dar. Sofort traten der Ustascha-Bewegung in groBer Zahl neue Mitglieder bei, so dass die Organisation nach einem Monat an der Macht schon iiber mehr als 100.000 Mitglieder verfiigte, die den Schwur der Ustaschas abgelegt hatten. Organisation und Durchsetzung der neuen politischen und staatlichen Herrschaft verliefen schnell und reibungslos. Pavelic und seine engsten Mitarbeiter hatten im Laufe der langen Emigrationsjahre das politische Programm, die wichtigsten Gesetze und die Form der staatlichen Administration griindlich vorbereitet. Pavelic folgte in allem dem italienischen und deutschen Modell der ,,neuen Ordnung" und huldigte dem Kult von Nation, Staat und FUhrer. Die Muslime, von denen es auf dem Territorium des NDH ca. 700.000 gab, wurden von der Ustascha-Fiihrung heftig umworben. Die Ustaschas betrachteten sie als Angehorige der kroatischen Nation. Die Muslime galten als ,,Bliite des kroatischen Volkes" und Bosnien als "das Herz Kroatiens". Dem Muster des Dritten Reiches folgend, wurde die politische Propaganda, die radikal nationalistisch und chauvinistisch gegeniiber Serben und Juden war, forciert. Auch der Kultur maBen die Ustaschas eine besonders groBe Bedeutung bei und versuchten Schriftsteller, Kiinstler und andere Kulturschaffende fUr sich einzunehmen. Dem nationalen Geist sollte Auftrieb gegeben werden. Die totalitiire Idee dokumentiert am eindrucksvollsten ein programmatischer Text des emeuerten Organs der Ustascha-Bewegung, "Ustascha", yom 13. Juni 1941: ,Jm
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Ustascha-Staat, den der Poglavnik [der FUhrer, d. h. Pavelic, Anm. d. Obers] und seine Ustaschas begriindet haben, denkt man wie ein Ustascha, redet man wie ein Ustascha und - vor aHem - handelt man wie ein Ustascha. Mit einem Wort, das ganze Leben im Unabhiingigen Staat Kroatien wird nach Art und Weise der Ustaschas gestaltet sein." AIle politischen Parteien und regimefeindliche Zeitungen Wlll"den verboten, aIle Drukkereien verstaatlicht. In allen Institutionen Wlll"den Gewahrsmanner der Ustascha mit fast unbegrenzten Vollmachten eingesetzt. Das System des politischen Terrors erhielt seine rechtliche Form mit der "Gesetzlichen Verordnung zum Schutz des Volkes und des Staates" yom 17. April, also nur einen Tag, nachdem Pavelic in Zagreb seine erste Regierung eingesetzt hatte. In der Einleitung dieser Verordnung heiBt es: ,,1. Wer, aufwelche Art und Weise auch immer, die Ehre und das Lebensinteresse des kroatischen Volkes verletzt oder verletzt hat, oder wer, aufwelche Art und Weise auch immer, die Existenz des Unabhiingigen Staates Kroatien oder der Staatsautoritat bedroht, macht sich, auch wenn die Tat nur Versuch bleibt, des Verbrechens des Hochverrats schuldig." ,,2. Wer sich des unter Punkt 1 angefiihrten Verbrechens schuldig macht, wird mit dem Tode bestraft." Diese Verordnung schuf die Grundlage fUr die Errichtung der Konzentrationslager, fUr die massenhafte Ermordung von Geiseln und fUr die Einsetzung von Standgerichten, die fUr das bloBe Horen des Londoner Rundfunks und der Partisanensender stets die Todesstrafe verhiingten. Auf der Grundlage fiiiher eingegangener Verpflichtungen war Pavelic gezwungen, am 18. Mai die ,,Romischen ProtokoIle" zu unterzeichnen, nach denen groBe Teile Dalmatiens mit den Stadten Split und Sibenik sowie des Kroatischen Kiistenlandes mit den K varner Inseln Italien iiberlassen Wlll"den. In einem weiteren Vertrag zwischen Deutschland und Italien Wlll"de das Territorium des NDH durch eine Demarkationslinie in eine nordliche deutsche und eine siidliche italienische Operations- und Einflusszone geteilt. Seit der Griindung der Ustascha-Bewegung zu Beginn der dreiBiger Jahre basierte die gesamte Ideologie und Politik der Ustascha auf Intoleranz gegeniiber den Serben. Die Bewegung propagierte einen kroatischen Staat mit ,,reinem Lebensraum". Das antisemitische und das rassistische Programm Wlll"de spater, unter dem Einfluss des Biindnisses mit dem Dritten Reich, hinzugefiigt und konsequent nach nazistischem Modell im ND H umgesetzt: Von 39.000 Juden Wlll"den 31.000 iiberwiegend in Lagem der U stascha, zum Teil auch in Lagem der Deutschen ermordet. Den iibrigen 8.000 gelang es, sich durch Flucht in die italienische Besatzungszone, nach Italien oder in andere Liinder zu retten. Fast die Halfte von ihnen kampfte an der Seite der Partisanen gegen ihre Verfolger. Die AngehOrigen von Mischehen Wlll"den in der Mehrzahl Dank des Einsatzes des Zagreber Erzbischofs Stepinac und der katholischen Kirche vor dem Tode bewahrt. Fast aIle Roma auf dem Gebiet des NDH (ca. 30.000) fielen den Verfolgungen zum Opfer. Die Ustascha-Behorden konnten sich zunachst aufkeinen genauen und offiziell angeordneten Plan zur Behandlung der zwei Millionen Serben stiitzen. Der gemiiJ3igte Teil der Ustascha-Fiihrung trat fUr Massendeportationen nach Serbien und fUr die
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Konversion zwn Katholizismus ein. Der ,,harte Kern" der Ustascha-Bewegung mit Ante Pavelic und den Emigranten an der Spitze hatte 1932 "die Anwendung aller Mittel, auch der furchtbarsten" gefordert, also die Ermordung. Die Organisation der Vernichtung vertraute Pavelic dem Sondergeheimdienst bei der Direktion fUr offentliche Ordnung und Sicherheit und dem Ustascha-Abwehrdienst, der dritten Abteilung des Ustascha-Aufsichtsdienstes, an. Beide Organisationen wurden von Eugen Dido Kvaternik, dem Chef der Sicherheitsdienste, befehligt. Den ersten Massenmord an Serben veriibten die Ustaschas am 27. April 1941 bei Bjelovar. Der zufiillige Tod eines kroatischen Landwehrsoldaten diente als Anlass fUr die ErschieBung von 196 serbischen Bauern. Am 9. Mai folgte ein Massaker an ca. 400 serbischen Bauern aus Dorfem im Kordun, am 13. Mai die Ermordung von 260 Serben in Glina (was der Anlass fUr den ersten Protest von ErzbischofStepinac in einem Brief an Pavelic war). 1m Juni und Juli hliuften sich die Massenmorde, nun schon an Frauen und Kindem, in den serbischen Dorfern der Lika, des Kordun und der Banija, im Dalmatinischen Bergland (Dalmatinska Zagora) und besonders in der Herzegowina. Auf den sich organisierenden serbischen Widerstand antworteten die Ustascha-BehOrden im Juli mit noch riicksichtsloseren Repressalien. Der Terror gab dem serbischen Aufstand neue Nahrung und fiilirte das Land immer tiefer in den Kriegszustand. In ihrer Einflusszone versuchten die italienischen BehOrden die Situation zu stabilisieren und verhinderten die schlimmsten GewaltmaBnahmen der Ustaschas. 1m August und September weiteten sie ihre Besatzungszone aus und stellten Teile der Herzegowina, des Dalmatinischen Berglandes, der Lika, des Gorski Kotor und des Kordun unter ihre direkte militlirische Kontrolle. In der deutschen Besatzungszone im nordlichen Teil des Landes errichteten die Ustascha-BehOrden im September das Massenkonzentrationslager Jasenovac, das zwn Hauptschauplatz des weiteren Terrors der Ustaschas wurde. Unterdessen beschwerten sich der deutsche Militiirbevollmiichtigte fUr den NDH Glaise von Horstenau und andere fUr das Gebiet des zerschlagenen Jugoslawien zustiindige Wehrmachtskommandeure immer hliufiger in ihren Berichten fiber die Ustascha-BehOrden. Mit ihren "Griiueltaten" wOrden sie "gewaltige Ziindstoffe anhliufen und in der niichsten Zeit schwer einzudiimmende Unruheherde schaffen". Aus diesem Grund musste Pavelic im Laufe des Jahres 1942 vor allem auf deutschen Druck hin seine Politik gegenfiber den Serben revidieren. Er entfernte Dido Kvatemik und einige von dessen engsten Mitarbeitem. Die Serben erklarte er zu ,,Kroaten orthodoxen Glaubens", versprach ihnen Sicherheit und griindete die kroatisch-orthodoxe Kirche auf dem Gebiet des NDH. Zu diesem Zeitpunkt war das Ustascha-Regime jedoch schon endgiiltig kompromittiert und hatte seine urspriingliche UnterstUtzung bei der groBen Mehrheit des kroatischen Volkes verloren. Die Politik der Ustascha zur massenhaften Gewinnung der Muslime war von Beginn an erfolglos. Die Mehrheit der Muslime hat den ganzen Krieg hindurch versucht, sich aus den Auseinandersetzungen der Kriegsparteien herauszuhalten. Ihre angesehensten PersOnlichkeiten wandten sich mehrfach mit Beschwerden gegen die terroristische Politik der Ustascha-BehOrden an die Deutschen und ersuchten urn Autonomie bzw. Neutralitat Bosniens innerhalb oder auBerhalb des NDH. Nur zwei extreme und relativ kleine Minderheiten der Muslime wandten sich den Ustascha bzw. den Partisanen zu.
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Sehr viele Mitglieder der Kroatischen Bauernpartei (HSS), der bis zum Krieg einflussreichsten politischen Organisation der Kroaten, unterstiitzten anfanglich die Errichtung des Ustascha-Regimes. Der populiire FUhrer der HSS, Vladko Macek, lehnte jedoch eine personliche Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern ab und leistete passiven Widerstand, rief aber die Bevolkerung am Tag der Machtiibernahme zur Loyalitat dem neuen Regime gegenllber auf. Die Ustaschas stellten ibn bald unter Hausarrest und lieferten ibn im Herbst 1941 ins Lager Jasenovac ein. Auch die llberwiegende Mehrheit der Mitglieder der HSS distanzierte sich bis Ende 1941 von der UstaschaBewegung. 1942 und insbesondere 1943 schloss sich eine betrachtliche Zahl von ibnen den Partisanen an. Die Mehrheit der Fllhrung der HSS vertrat eine Politik des Abwartens, hegte heimliche Sympatbien fUr die westlichen Verbllndeten (GroBbritannien und die USA) und trat mit diesen llber verschiedene Kanlile in Kontakt. Thr Ziel war es, der Partei einen Rllckhalt fUr die Einflussnahme auf die Nachkriegsordnung des Landes zu verschaffen. FUr die katholische Kirche drllckte ErzbischofStepinac schon am 12. April offentlich ihre Zufriedenheit mit der Errichtung des NDH aus. Einige Priester waren schon zuvor Mitglieder der Ustascha-Organisation gewesen. Mit der Machtiibernahme 1941 wurden viele Geistliche aktive Parteiganger der Bewegung. Die katholische Kirche verwahrte sich jedoch gegen die gewaltsamen Zwangskonversionen, die das UstaschaRegime durchfiihrte, und protestierte 1941 mehrfach offiziell dagegen. Kardinal Stepinac personlich drllckte zunlichst in Gesprachen und in Briefen an Ustascha-Funktionare, schlieBlich auch in offentlichen Predigten Missbilligung und Protest gegen die Ustascha-Polititik der Gewalt und der rassischen Intoleranz aus. Oft konnte er verfolgte Einzelne und Gemeinschaften durch seine personlichen Interventionen schlltzen, manchmal auch mit Hilfe von Vertretern des Vatikans. Unter anderem rettete er einjlldisches Altersheim vor dem Holocaust. Die fiinfundfiinfzig Insassen erhielten Asyl auf einem Kirchenbesitz bei Zagreb, wo sie den Krieg llberlebten. Zugleich hielt Stepinac unbeirrt an seinem radikalen Antikommunismus und seiner nationalistischen, kroatischen Orientierung fest. Er distanzierte sich trotz seiner Kritik am Ustascha-Regime niemals yom NDH als Staat. In der von den Kommunisten gefiihrten Partisanen-Bewegung sab er den ,,Antichrist" und betrachtete sie als Hauptfeind. Eine lihnliche Entwicklung durchlief in ihrer Haltung die Mehrzahl der katholischen Priester im NDH. Nur eine Minderheit hielt der Ustascha-Bewegung unerbittlich die Treue, eine noch kleinere Zahl arbeitete von 1943 und 1944 an mit den Partisanen zusammen. 11.1.3. Die Tschetniks
Die Unterdrllekungspolitik in allen Teilen des zersehlagenen Jugoslawien braehte breite Sehiehten der Bevolkerung in einen unllberbruckbaren Gegensatz zu den neuen fasehistisehen und profasehistisehen Regimen und rief innerhalb kilrzester Zeit verschiedene Widerstandsformen hervor. Bereits am 26. April 1941 kamen zehn Vertreter ehristlieher Sozialisten, Kommunisten und einiger sloweniseher Kulturorganisationen in Ljubljana zu einem konspirativen Treffen zusammen und grllndeten die Antiimperialistisehe
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Front Sioweniens. Sie ging spater in die BefreiWlgsfront (Osvobodilna Fronta) tiber Wld wurde zu einem wichtigen Faktor in der Organisation des bewaffueten Aufstandes. Zuerst griff, zu Beginn vollig Wlorganisiert, die serbische BevoIkeroog an einigen Orten des NDH, insbesondere in der ostlichen Herzegowina, zu den Waffen. Aus diesen vereinzelten Ansatzen, die sich durch lokale Motive Wld Intensitaten stark voneinander Wlterschieden, kristaIlisierten sich schon im Sommer 1941 die zwei Hauptgruppen des Widerstandes heraus: die Tschetniks (von ceta, bewaffuete Bande) Wld die Partisanen. Den Kern der Tschetnik-Bewegung bildetenjene serbischen Offiziere der zerschlagenen jugoslawischen Armee, die nach dem ApriIkrieg die Kapitulation abgelehnt hatten. Sie zogen sich in kleinen, WlZUSammenhiingenden Gruppen zum Kampf in die Bergregionen Serbiens zuriick. Die starkste dieser Gruppen, ca. fiinfzig Offiziere, Unteroffiziere Wld Soldaten Wlter dem Kommando von Oberst DraZa Mihajlovic, rief sich am 16. Mai in Ravna Gora in West-Serbien zum ,,Kommandoquartier der TschetnikAbteilWlgen der koniglichen Armee" aus. In der Zeit der serbischen Aufstande Wld der BefreiWlgskriege gegen die Tiirken hatten sich Guerillaeinheiten als "Tschetniks" bezeichnet. Zur Zeit des Konigreichs Jugoslawien ging das Tschetniktum in der radikalen serbischen nationalistischen Bewegung auf Wld wurde von einigen Eliteeinheiten in der koniglichen jugoslawischen Armee als Tradition gepflegt. Vor diesem HintergI'Wld verbreitete sich die Tschetnik-Bewegung mit enormer Schnelligkeit im engeren Serbien, etwas spater in Montenegro, Wlter der serbischen BevoIkeroog der ostlichen Herzegowina, in Ost-Bosnien, in der Kniner Krajina und in einem kleineren Teil der Lika. AIle Tschetnik-Kommandeure vor Ort erkannten den Oberbefehl Mihajlovics an, bewahrten sich aber gro.f3e Unabhangigkeit bei Entscheidungen und Vorgehensweisen. Die lockeren VerbindWlgen, die Undiszipliniertheit und die haufige WiIIkiir waren eine allgemeine Schwache in der Organisation der Tschetnik-Bewegung. Thr unmittelbares Ziel war der Schutz der serbischen BevoIkeroog vor den Ustascha-Massakem und nicht ein groB angelegter Aufstand. ,,Der Aufruf zum nationalen Aufstand erfolgt in einem giinstigen Augenblick, wenn die Zeit dafiir reif ist!", lautete ihre Parole. Die Tschetniks organisierten ihre Verbindungen, sammelten Waffen und stellten ,,Mobilmachungslisten von Reservisten" auf. Nach einer deutschen Schatzung vom 29. Oktober 1941 betrug die Zahl der bewaffueten Tschetniks unter dem Kommando von DraZa Mihajlovic zum damaligen Zeitpunkt etwas weniger als 10.000. AuBerhalb Serbiens waren hOchstens noch einmal so viele aktiv. In den Reservisten-Listen waren allerdings noch fiinfmal so viele eingeschrieben. Die Tschetniks gaben in ihrer Propaganda ihre Gesamtzahl mit 200.000 an, was mit Sicherheit stark tibertrieben war. Auf dem Hohepunkt der Tschetnik-Bewegung zu Beginn des Jahres 1943 schatzten die Italiener die Zahl der bewaffneten Tschetniks in ihrem Einflussgebiet auf tiber 80.000. Das bedeutet, dass sie insgesamt nicht mehr als 120.000 Mann gewesen sein konnen. Am Ende desselben Jahres, als die Tschetniks ihre groBte Verfallsphase erlebten, gaben die Deutschen ihre Zahl mit insgesamt 31.000 bewaffueten Tschetniks an. Die langfristigen Ziele der Bewegung benannte Drw Mihajlovic zusammenfassend in einer ,,Anweisung" an zwei seiner Kommandanten am 20. Dezember 1941: ,,1. Der Kampffiir die Befreiung unseres ganzen VoIkes unter dem Zepter von Konig Petar ll. 2. Die Errichtung eines GroB-Jugoslawien und als Bestandteil davon eines
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etlmisch reinen GroB-Serbien. Serbien (einschlieBlich Mazedoniens) soll Montenegro, Bosnien, die Herzegowina, Synnien, das Banat und die Backa umfassen. 3. Der Kampf fUr den Anschluss aller noch nicht befreiten, unter der Herrschaft Italiens und Deutschlands stehenden slawischen Territorien (Triest, Gorz, Istrien, Kiimten) an unseren Staatsverband, ebenso der unter bulgarischer Kontrolle stehenden Gebiete, sowie Nordalbaniens mit Skutari. 4. Die Siiuberung des Staatsterritoriwns von allen nationalen Minderheiten und nichtnationalen Elementen. 5. Die SchafIung einer unmittelbaren gemeinsamen Grenze zwischen Serbien und Montenegro, wie auch zwischen Serbien und Slowenien durch die Siiuberung [c;st:enje] der muslimischen Bevolkerung aus dem Sandfak und der muslimischen und kroatischen Bevolkerung aus Bosnien." Volksdeutsche, Kroaten und Muslime trugen in den Augen der Tschetniks die Hauptschuld an der Niederlage im Aprilkrieg, an den Massenmorden und der Unterdriickung des serbischen Volkes. Aus diesem Grund war jede Diskriminierung ihnen gegenfiber gerechtfertigt. In den Ausarbeitungen des umfassenden Planes fiber die etlmisch sauberen Gebiete war die Vertreibung von 2.675.000 Menschen aus GroB-Serbien vorgesehen, 1.310.000 Menschen sollten aus anderen Regionen nach GroB-Serbien fibersiedeln.
11.1.4. Die Partisanen
Nach dem Zerfall Jugoslawiens waren die Kommunisten die einzige Partei, die ihre Organisation in allen Teilen des Landes aufrechterhalten konnten. Zu dieser Zeit ziihlte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) 6.000 bis 8.000 Mitglieder. Sie waren kampfbereit, an die illegale Arbeit gewohnt und unter einem fiihigen FUhrer, Josip Broz Tito, gut organisiert (~ Kap. 10). Hinzu kamen noch mindestens 30.000 organisierte Mitglieder und aktive Sympathisanten der kommunistischen Jugend. Nachdem Deutschland die UdSSR fiberfallen hatte, rief die Ffihrung der KPJ aus ihrem Belgrader Versteck im Untergrund am 4. Juli zum bewaffueten Aufstand auf: "Volker Jugoslawiens! [... ] Die Zeit ist gekommen ... , wn sich zum Kampf gegen die Besatzer und ihre einheimischen Helfershelfer, gegen die Henker unserer Volker zu erheben!" Vier oder fiinfTage zuvor war fiber Funk eine Botschaft der Komintern aus Moskau eingetroifen. Darin hieB es, dass es sich "in der jetzigen Etappe wn die Befreiung yom faschistischen Joch, nicht wn die sozialistische Revolution" handele. Diese Aussage deckte sich mit der Position der KPJ. Man wollte sich an die Spitze des Widerstandes auf nationaler Grundlage stellen. Daher sind weder ,,Klassenkampf", "Sturz der bfugerlichen Ordnung" noch die Parole yom Sozialismus in den damaligen propagandistischen Verlautbarungen der KPJ und ihrer Organisationen zu finden. Der Aufruf zum Aufstand versprach eine bessere staatliche Ordnung als die vorangegangene, Demokratie und gerechtere zwischennationale Beziehungen. Entsprechend wurde in einer Bekanntmachung des Zentralkomitees der KP Kroatiens (KPH) yom 13. Juli 1941 die Errichtung "eines neuen demokratischen Jugoslawien freier und gleichberechtigter Volker, in dem auf der Basis der Selbstbestimmung auch ein freies Kroatien aufgebaut werden wird", proklamiert. Gut organisiert, stellten sich die Kommuni-
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sten auf dem Gebiet des NDH an die Spitze des Widerstandes der serbischen Bevolkerung. Mit patriotischen lUld demokratischen Parolen sowie lUlermiidlichem Aktivismus vermochten sie in vielen Teilen des Landes bedeutende nicht kommunistische, national lUld demokratisch eingestellte Krafte zu vereinen. Sie formierten bewaffnete Truppen, die sie ,,Partisanen" nannten, lUld fiihrten einen Guerillakrieg, der von Sabotageakten in den Stiidten lUld an den Verkehrsadem begleitet wurde. In Montenegro, im westlichen Serbien lUld in den Gebirgsregionen Bosniens lUld Kroatiens nahmen sie schon 1941 einige kleinere Smdte ein. GroBere militiirische Aktionen lUld Einheiten wurden zumeist von erfahrenen kommunistischen Klimpfem geleitet, die als republikanische Freiwillige am spanischen Biirgerkrieg teilgenommen hatten (ca. 150). Mit Waffen lUld Munition versorgten sie sich hauptsachlich durch Uberfalle lUld BeraublUlg des Feindes. 1m August lUld September 1941 ordneten die Partisanen systematisch ihre Befehlsstrukturen in sechs nationale Generalsmbe lUld in den Obersten Stab fUr ganz Jugoslawien mit Tito als oberstem Befehlshaber lUld benannten sich in VolksbefreilUlgsarmee (NOV) urn. Nach eigenen Angaben verfiigten die Partisanen gegen Ende 1941 schon iiber ca. 80.000 Klimpfer lUlter Waffen, was eine iibertriebene SChiitZlUlg darstellte. Zweifellos stieg die Zahl der Partisanen lUlauihorlich, so dass sie vor der Kapitulation Italiens 1943 auf 100.000 lUld bis Ende 1944 aufmehr als 300.000 Soldaten anwuchs. In den Partisanen-Einheiten iiberstieg die Zahl der Kommunisten, die Spezialeinheiten ausgenommen, fast nirgendwo zehn Prozent, aber sie besetzten stets die Kommandopositionen lUld hatten die entscheidende Kontrolle iiber die ganze Bewegllllg lUld die Armee.
11.1.5. Befreiungskrieg und Burgerkrieg 1m Sommer 1941 klimpften Tschetniks lUld Partisanen auf dem Gebiet des NDH Seite an Seite gegen die Ustascha lUld in Serbien in getrennten Einheiten gegen die Deutschen lUld ihre Verbiindeten. Dabei waren die Partisanen allerdings militiirisch bedeutend aktiver. Hitler befahl am 16. September 1941 mit der WeislUlg 31 a die "Niederschlagllllg der Aufstandsbewegllllg im Siidostraurn" lUld lieB OKW-Chef Keitel die brutalsten MaBnahmen gegen die ,,kommunistische Aufstandsbewegllllg in den besetzten Gebieten" anordnen: Fiir jeden getoteten deutschen Soldaten sollten 100 Geiseln erschossen werden, fUr jeden verwundeten 50. 1m September lUld Oktober 1941 stellte Draza Mibajlovic eine stiindige FunkverbindlUlg mit der koniglichen Exilregierung in London her, die ihn als legitimen ,,Befehlshaber aller Widerstandskrafte im Lande" anerkannte lUld seine Taktik des Abwartens "bis der gUnstige Augenblick eintritt" billigte. Tito lUlterhielt FunkverbindlUlg mit der Komintem lUld wurde zu noch energischeren bewaffneten Aktionen aufgefordert. Die in Serbien stationierten deutschen Truppen befolgten am 16. Oktober in Kraljevo Hitlers AnweislUlg iiber die GeiselerschieBlUlg mit aller Riicksichtslosigkeit. Nach deutschen Quellen wurden in der Stadt 1.736 Manner lUld 19 Frauen erschossen. In Kragujevac wurden am 21. Oktober nach deutschen Quellen 2.300 Einwohner erschossen,
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nach einheimischen Quellen mindestens 3.000, wiihrend andere sogar von 7.000 Erschossenen berichten. Ahnliche terroristische Vergeltungsmethoden wandten die U stascha-Behorden im NDH und auch die italienischen, ungarischen und bulgarischen BesatzungsbehOrden auf ihren Territorien an. Die obersten Kommandanten Tito und Mihajlovi6 trafen sich zweimal in West-Serbien, urn die Gegensiitze auszuriiurnen, erzielten aber keine Ubereinkunft. Obwohl beide offiziell auf der Seite der Antifaschistischen Koalition standen, sah der eine im anderen seinen realen Hauptfeind im Kampf urn die Macht nach dem Krieg. Die Konflikte zwischen Tschetniks und Partisanen intensivierten sich gegen Ende des Jahres und entwickelten sich im Friihjahr 1942 zu einem unversohnlichen Biirgerkrieg. In der italienischen Interessenzone schlossen die lokalen Tschetnik-Kommandeure Abkommen mit den italienischen BehOrden und kiimpften unter ihrem Schutz gegen die Partisanen, arbeiteten also mit der Besatzungsmacht zwecks Vernichtung "des zukiinftigen Hauptfeindes" zusammen. In der deutschen Besatzungszone, einschlieBlich der nordlichen Teile des NDH, verblieben die Tschetniks weiterhin zuriickgezogen in den entlegenen Gebirgsregionen. In diesen Gebieten befolgten sie einen lokal sogar in Vertriigen fixierten und unterzeichneten, ansonsten ungeschriebenen Nichtangriffspakt mit den Deutschen, den Ustascha- sowie den Nedi6-BehOrden und gingen 1edig1ich gegen die Partisanen vor. Zwei deutsche Kampfdivisionen vertrieben im Dezember 1941 mit ort1icher Unterstiitzung der bu1garischen Besatzungstruppen, des ,,Freiwilligenkorps" von Ljoti6 und der "Serbischen Staatswacht" von Nedi6 die Hauptkriifte der Partisanen aus Serbien Wld rieben die Tschetniks von Draza Mihaj1ovi6 auf. Die Italiener verdriingten die Partisanen mit urnfassender Hilfe der Tschetniks aus Montenegro und der ostlichen Herzegowina. Daraufhin verlagerten die Partisanen das Zentrum ihrer Aktivitaten und den Obersten Stab auf das Gebiet des NDH. Die mi1itarischen Krafte des NDH (im Sommer 1942 ca. 30.000 Mitglieder der sehr kampfstarken Ustascha-Einheiten und 95.000 weniger verliissliche, zwangsrekrutierte Landwehrsoldaten) reichten nicht aus, urn die Partisanen ohne Hilfe der Deutschen und Italiener zuriickzuschlagen. 1m Sommer und Herbst des Jahres 1942 besetzten die Partisanen den mittleren, tiberwiegend gebirgigen Teil des Landes (und zeitweise einige wichtige Stiidte wie Drvar, Biha6, Prijedor, Jajce, Livno, Slunj, Otocac). 1m SandZak und in Stidost-Bosnien (F oca, Visegrad) wurden Muslime von den Tschetniks verfo1gt und unter dem Vorwand der Rache fUr die Ustascha-Massaker ermordet. Dahinter verbarg sich das Bestreben, die Grenzgebiete zwischen Serbien, Montenegro und die Herzegowina "ethnisch zu siiubem". In den befreiten Gebieten errichteten die Partisanen eine zivile Verwaltung, die "Volksbefreiungsausschiisse". Sie wurden von den Kommunisten dominiert, und so kam es mancherorts schon wahrend der Kampfphase auf diesen Gebieten zum Terror gegentiber ZivilbevOlkefWlg Wld angeblichen ,,Abweichlem" in eigenen Reihen. Diese Praxis nahm in Montenegro besonders extreme Formen an, wesha1b die Partisanen dort seit 1942 ihre Unterstiitzung bei der Mehrheit der BevolkefWlg verloren. Die entscheidenden Niederlagen Deutschlands und Italiens im Laufe des Jahres 1943 bewirkten eine VeriindefWlg der milit1irischen und politischen Krafteverhiiltnisse im
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jugoslawischen Raum. Mit dem Niiherriicken des mediterranen Kriegsschauplatzes an die Kiisten der Adria wurden die immer weiter erstarkenden Partisanen und die unberechenbaren Tschetniks zu einem emsthaften militarischen Problem fUr die deutsche Kriegsplanung. Schon im Herbst 1942 gab Hitler emeut Anordnungen zur endgiiltigen Vernichtung des kommunistischen Widerstandes aus. Die Wehrmacht versuchte diese Anordnung von Januar bis Juni 1943 in zwei groI3en militarischen Aktionen in die Tat urnzusetzen. Sie sind in der jugoslawischen Geschichtsschreibung als "vierte und f'iinfte Offensive", in der deutschen als "Untemehmen Weill" und "Schwarz" bekannt geworden. Deutschland zog fUr diese Aktion drei Kampfdivisionen und eine Reservedivision, die aus Volksdeutschen bestehende SS-Division ,,Prinz Eugen", die 369. kroatische Legionsdivision und ausgewiihlte Armee-Einheiten des NDH zusammen. Italien nahm mit drei kompletten Divisionen teil, denen sich Teile dreier weiterer Divisionen anschlossen. In einer Phase der Schlacht an der Neretva nahmen auf italienischer Seite ca. 15.000 Tschetniks teil. Insgesamt griffen 120.000 Soldaten die Partisanen an, die fast 40.000 Soldaten unter der unmittelbaren Fiihrung Titos und des Obersten Stabes umfassten. Die Deutschen driingten die Partisanen sehr schnell aus dem mittleren Kroatien und aus Bosnien zurUck und fiigten ihnen schwere Verluste zu, weshalb Tito durch seine Emissare den Deutschen einen Waffenstillstand anzubieten versuchte und gleichzeitig ankUndigte, nur noch gegen seinen Hauptfeind, die Tschetniks, kl:impfen zu wollen. Hitler befahl jedoch personlich die Einstellung dieser Verhandlungen, und es fand lediglich ein Gefangenenaustausch statl. Die Partisanen vermochten dank der Guerillataktik dennoch die Tschetnik-Front an der Neretva zu durchbrechen und entzogen sich unter weiteren schweren Verlusten (ca. 7.000 Gefallene allein in den Endoperationen im Mai und Juni am Fluss Sutjeska) der deutschen Einkreisung in Siidost-Bosnien. Wahrend diese entscheidenden Schlachten im zentralen Teil des Landes anhielten, gelang es den Partisanen in Siowenien, Nordkroatien, Synnien, in der Vojvodina und sogar in Mazedonien sowie auf dem Kosovo, wo sich die Partisanen-Bewegung am langsamsten verbreitete, ihren Einfluss auszuweiten und ihre militarische Schlagkraft zu starken. Bis zum Sommer kehrten sie in die Gebiete Zentral-Bosniens und Kroatiens zurUck, weil die deutschen Kampfdivisionen an anderen Fronten unentbehrlich geworden waren. Nach der Niederlage an der Neretva verloren die Tschetniks einen bedeutenden Teil ihres Einflusses in diesen Landesteilen und hielten starke Positionen einzig noch im mittleren Serbien, in Teilen Montenegros und in der Kniner Krajina. Die Kapitulation Italiens bezeichnete einen weiteren Wendepunkt zu Gunsten der Partisanen. Sie waren am schnellsten und erfolgreichsten bei der Entwaffnung der italienischen Armee auf dem gesamten Gebiet von Slowenien bis nach Montenegro und erbeuteten riesige Mengen an italienischen Waffen, Munition, Verpflegung und Ausrustung. Bis zum Ende des Jahres 1943 verfiigte die Volksbefreiungsarmee schon iiber II Korps mit insgesamt 34 Divisionen zu je 3.000 Soldaten, dazu iiber noch einmal so viele Soldaten in selbstiindigen Brigaden, Hilfsdiensten und lokal operierenden Einheiten. Zeitweise gelang ihnen die Befreiung des groI3ten Teils von Dalmatien und aller Inseln sowie des groI3eren Teils von Istrien und des kroatischen Kiistenlandes. Ihre Gebiete in Siowenien, der Herzegowina, in Montenegro, auf dem Kosovo und im west-
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lichen Mazedonien erweiterten sie erheblich. In Anbetracht der unmittelbaren Gefahr einer anglo-amerikanischen Invasion an der Ostkiiste der Adria waren die Deutschen geZWWlgen, von anderen Fronten sieben Kampfdivisionen abzuziehen, die, Wlterstiitzt von den militlirischen Kriiften des NDH, Ende 1943 Wld Anfang 1944 die Partisanen aus Istrien Wld dem kroatischen Kiistenland sowie aus dem groBten Teil Dalmatiens Wld von der Mehrheit der Inseln wieder vertrleben (in der GeschichtsschreibWlg der Partisanen "die sechste Offensive"). 1m November 1943 tagte zwn zweiten Mal das hOchste politische Organ der Widerstandsbewegwtg, der Antifaschistische Rat der VolksbefreiWlg Jugoslawiens (AVNOJ). Von den 268 Delegierten, die zuvor in den politischen Korperschaften der Partisanen gewahlt worden waren, erreichten nur 142 den Tagwtgsort - die bosnische Stadt Jajce. Unter der Federfiihrung von Josip Broz Tito Wld seinen engsten Mitarbeitern aus dem Politbiiro des Zentralkomitees der KPJ (Kardelj, Pijade, Dilas, Rankovic, Zujovic) fiillte der AVNOJ in der Sitzung vom 29. und 30. November politische Entscheidungen von weit reichenden Auswirkungen auf die Konstituierung und die weitere Entwicldung Nachkriegsjugoslawiens: Er rief sich zwn hOchsten gesetzgebenden Organ Jugoslawiens aus und definierte den jugoslawischen Nachkriegsstaat als FOderation von sechs gleichberechtigten Republiken, deren gemeinsame Grenzen er prinzipiell festlegte (7 Kap. 12). Der AVNOJ ernannte das Nationalkomitee fOr die Befreiung Jugoslawiens zwn Exekutivorgan mit den Vollmachten einer provisorischen Regierung und kiindigte an, dass fiber das Schicksal der Monarchie nach dem Krieg allgemeine Wahlen (oder ein Referendum) entscheiden wOrden. Josip Broz Tito erhielt die weit reichendsten Vollmachten und wurde zwn obersten Befehlshaber, zwn Verteidigwtgsminister im Range eines Marschalls und zwn Ministerpriisidenten ernannt. Beschlossen wurden auch MaBnahmen gegen sog. Volksfeinde (Deutsche, Kollaborateure) wie Enteignung und Einschriinkung der Biirgerrechte. Obwohl im AVNOJ Delegierte verschiedener politischer Parteien aus allen jugoslawischen Republiken vertreten waren, wurde immer deutlicher, dass die Kommunisten nach dem Krieg nichts unversucht lassen wOrden, um allein an der Macht zu bleiben.
11.1.6. Die Politik der Alliierten Nachdem die jugoslawische konigliche Regierung im April 1941 geflohen war, brachte sie sich fiber Athen, Jerusalem und Kairo nach London in Sicherheit. Sie unterstiitzte offiziell bis zwn Friihjahr 1944 die Tschetniks und DraZa Mihajlovic, den sie im Januar 1942 zu ihrem Kriegsminister emannte, obwohl unter den Mitgliedem der Exilregierung diesbeziiglich groBte Differenzen bestanden. Auch die Englander sahen von Herbst 1941 bis Friihling 1943 in DraZa Mihajlovic und seinen Tschetniks die legitime Fiihrung des Widerstandes. Sie entsandten etwa zehn Verbindungs- und Militiirmissionsoffiziere in die serbischen Berge, gaben Mihajlovic fiber die BBC und andere Medien Raum in der Offentlichkeit und lieBen ibm durch einige Fallschirmjiiger-Operationen Waffen und Ausriistung zukommen. Als sie aber von der passiven militlirischen Haltung der Tschetniks den Deutschen gegen-
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iiber, ihrer Zusammenarbeit mit den Italienern und dem erfolgreicheren bewaffneten Kampf der Partisanen erfuhren, gewannen allmiihlich die militiirischen Argumente zu Gunsten der Partisanen die Oberhand, trotz der Sympathie fUr die Monarchisten. Die erste englische Militaraufkllirungsmission bei den Partisanen sah in ihnen einen bemerkenswerten militiirischen Faktor bei den moglichen alliierten Offensiven an der Adriakiiste. Nach ltaliens Kapitulation errichteten die Englander von ihrer neuen Basis im italienischen Hafen Bari aus eine standige Seeverbindung zu den Partisanen. Von diesem Zeitpunkt an versorgten sie die Partisanen ausgiebig mit Waffen und anderem Material. Zu Beginn des Jahres 1944 zogen sie ihre letzte Mission von den Tschetniks zuriick. Auf der zweiten Sitzung des AVNOJ in Jajce im November 1943 war eine britische Militarmission anwesend, jedoch keine sowjetischen oder amerikanischen Vertreter. Die sowjetische Fiihrung betrieb gegeniiber den jugoslawischen Ereignissen eine heuchlerische Politik. Als Generalsekretar der KPJ unterhielt Tito ununterbrochen eine Funkverbindung mit der Komintem-Zentrale in Moskau, aber er bekam bis 1944 keinerlei reelle Unterstiitzung. Vielmehr erhob die sowjetische Fiihrung ihre Gesandtschaft bei der koniglichen Exilregierung in London zur Botschaft. Zwar ermoglichte Moskau im Kaukasus die Arbeit der Radiostation ,,Freies Jugoslawien", die regelmaBig, wenn auch zensiert, iiber die militarischen Erfolge der Partisanen berichtete. Die sowjetische Fiihrung behandelte Tito aber weiterhin wie einen bloBen kommunistischen Agenten und begriff nicht, dass er mit den errungenen Erfolgen auf dem Kriegsschauplatz tiber seine urspriingliche Bestimmung hinausgewachsen war. Ihre erste Militiirmission entsandte die Rote Armee zum Obersten Stab der Volksbefreiungsarmee erst im Februar 1944, fast ein Jahr nach den Englandem. Von allen drei Hauptalliierten verhielten sich die USA gegeniiber den innerjugoslawischen Ereignissen am gleichgilltigsten und iiberlieBen den Englandem den Vortritt. Auf der Konferenz der GroBen Drei in Teheran wurde auf Initiative von Winston Churchill unter anderen vertraulichen militarischen Entscheidungen am 1. Dezember 1943 festgelegt, dass "den Partisanen in Jugoslawien in groBtmoglichem MaBe Unterstiitzung an Ausriistung und Verpflegung zu gewiiliren ist." Obwohl es sich klar abzeichnete, dass die von den Kommunisten gefiihrten Partisanen nach dem Krieg versuchen wiirden, ein Regime nach sowjetischem Vorbild zu errichten, war fUr Churchill nur entscheidend, "wer von beiden, Tito oder Mihajlovic, Hitler den groBten Schaden zufiigen kann." Demnach zu schlieBen hatten die Tschetniks spiitestens 1943 aIle ihre Chancen bei den Alliierten verspielt. Im Mai 1944lieBen die Deutschen am Sitz des Obersten Stabes in Drvar Fallschirmjiigereinheiten abspringen, urn das Zentrum der Partisanen-Bewegung zu zerschlagen ("Unternehmen Rosselsprung" bzw. "die siebte Offensive"). Doch Tito fand Zuflucht auf der Insel Vis, wo er unter britischem Schutz die Schlussoffensive der Partisanen vorbereitete. Nach einigen missgliickten Anliiufen gelang es den Partisanen-Divisionen im Verlauf des Sommers 1944 endlich, aus Bosnien nach Zentral-Serbien durchzubrechen und die dortigen Tschetniks zu zerschlagen. Inzwischen stieBen Truppen der Roten Armee aus Rurniinien in die Vojvodina vor, vertrieben die Deutschen und befreiten am 20. Oktober Belgrad, wiilirend Partisanen-
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Divisionen mit Hilfe alliierter Waffen und gelegentlicher Luftunterstiltzung in Dalmatien Insel fUr Insel und Stadt urn Stadt und vor Ende 1944 ganz Dalmatien befreiten. Wegen des Voniickens der Alliierten auf den anderen Kriegsschaupliitzen zogen die Deutschen im Sommer 1944 schrittweise die Heeresgruppe E (ca. 350.000 Soldaten) von der Balkanhalbinsel abo Bulgarien kiindigte sein Biindnis mit Deutschland auf und wechselte auf die Seite der Antifaschistischen Koalition iiber. Die bulgarischen Besatzungstruppen in Mazedonien und Serbien stellten die Feindseligkeiten gegen die Partisanen ein und schlossen sich mancherorts dem Kampf gegen Tschetniks und Deutsche an. Da sich die Deutschen zusammen mit Resten der Tschetniks und verschiedenen Kollaborationstruppen in Richtung Kroatien und Bosnien zuriickzogen, errichteten die Partisanen im Herbst 1944 in ganz Mazedonien und Serbien, auf dem Kosovo, in Montenegro und im SandZak ihre Verwaltung mit Volksbefreiungsausschiissen (NOO) an der Spitze. Gegen Ende 1944 hielten sie schon mehr als drei Viertel des jugoslawischen Territoriurns besetzt. Mit den Niederlagen und dem Riickzug der deutschen Wehrmacht zerfielen auch die Kollaborationsregime in allen Landesteilen. Ein Teil der iibrig gebliebenen Tschetniks zog sich mit den Deutschen bis nach Osterreich und Italien zuriick, der andere Teil verblieb unter dem Kommando von DrliZa Mihajlovic als Antipartisanen-Guerilla in Bosnien. Am liingsten leistete der albanische ,,Balli Kombetar" der neuen kommunistischen Macht Widerstand, der unter den Albanem auf dem Kosovo sehr starke Unterstiltzung genoss. Den Widerstand der Albaner, emeut in einen siidslawischen Verband getrieben zu werden, konnten die iibenniichtigen militiirischen Kriifte der Partisanen erst im Sommer 1945 zerschlagen. In Kroatien formierten sich unter Beteiligung einiger HSS-Politiker und Offiziere der Landwehr im Sommer 1944 kleinere konspirative Gruppen, an deren Spitze zwei gemlilligte Minister der Ustascha-Regierung (Vokic und Lorkovic) standen, mit dem Ziel, die kompromittiertesten und radikalsten Ustaschas von der Macht zu entfemen und zu den westlichen Alliierten iiberzuwechseln. Mit Hilfe der Deutschen erstickte Pavelic das Komplott, lieB die fiihrenden Verschworer hinrichten und blieb dem Dritten Reich bis zu dessen Zusammenbruch treu ergeben. Der Oberste Stab der Volksbefreiungsannee rief am 30. August 1944 eine Amnestie fUr diejenigen gegnerischen Soldaten aus, die bis zu einer bestimmten Frist zu den Partisanen iiberliefen. Viele Tschetniks, Mitglieder der slowenischen Landwehr und eine groBe Zahl Landwehrsoldaten des NDH nutzten diese Chance. In den von den Partisanen befreiten Gebieten gingen die von kommunistischen Parteikomitees beherrschten Volksbefreiungsausschiisse (NOO) bald dazu iiber, eine Diktatur nach sowjetischem Modell zu errichten. Sie verhafteten massenweise politische Gegner und beschuldigten sie der ,,zusammenarbeit mit den Besatzem". Viele wurden ohne Gerichtsurteil urngebracht, nach dem Belieben der miichtigen politischen Polizei, Abteilung zum Schutz des Volkes (OZNA). Obwohl noch 1945 die Proklamationen und Entscheidungen der zustiindigen politischen Organe (einschlieBlich des AVNOJ) versicherten, Privateigentum und Untemehmertum zu achten, vollzog sich im Bereich des Eigentums und der okonomischen Strukturen der Gesellschaft ein radikaler Umbruch: AIle Volksdeutschen, die geflohenen feindlichen Soldaten sowie die wirklichen
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und angeblichen Kollaborateure wurden enteignet. Alle Untemehmen und Betriebe der Schliisselindustrien wurden der Verwaltung der Annee oder der Volksbefreiungsausschiisse unterstellt. Dies bedeutete die Ubemahme der wichtigsten Teile der Wirtschaft noch vor dem Ende des Krieges. Die jugoslawische Geschichtsschreibung verldlirte diesen Terror als "Ubergang der Etappe der Volksbefreiung in die Etappe der Revolution". Wo die Kommunisten nach der Eroberung ihre Macht gefestigt hatten, gingen sie ,,zu revolutionaren Veriinderungen im Bereich der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Beziehungen iiber" (Branko Petranovie, lStorija Jugos/avije J918-1978, Belgrad 1981, S. 361). Die britische Politik, die am meisten zur intemationalen Anerkennung der Partisanen beigetragen hatte, untemahm im Verlauf des Jahres 1944 den Versuch, die jugoslawische Monarchie zu retten und den iibermachtigen Einfluss der Kommunisten zuriickzudriingen. Churchill traf sich am 12. August mit Tito in Neapel und lieB sich von ibm die Zusicherung geben, Grundprinzip der Partisanen seien Demokratie und individuelle Freiheit und sie hegten keineswegs die Absicht, ein sO\\jetisch-kommunistisches System zu errichten. Beim Treffen mit Stalin am 9. Oktober 1944 in Moskau erwirkte Churchill die Bekraftigung frUherer diplomatischer Vereinbarungen. Jugoslawien sollte demnach einer Sphare zufall en, in der sich GroBbritannien und die So\\jetunion den Einfluss im Verhliltnis von 50:50 teilten. Auf der Drei-Machte-Konferenz von Jalta im Februar 1945 wurde diese Entscheidung nochroals bestatigt. (7 Kap. 12) Als am 7. Mai 1945 in Belgrad nach zlihen Verhandlungen endlich die Zusammensetzung der provisorischen Regierung bekannt gegeben wurde, war deutlich, dass Tito die Bedingungen fUr den Kompromiss diktiert hatte. Ivan Subasie, Konig Petar und die nicht kommunistischen Politiker besaBen nur die sehr zuriickhaltende UnterstUtzung der britischen und amerikanischen Diplomatie. Von 27 Mitgliedem der provisorischen Regierung des Demokratischen FOderativen Jugoslawien (wie nach dem Vertrag TitoSUbasie der Staat eine Zeit lang hieB) waren schon damals 13 Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die Mehrheit der ubrigen hatte im Krieg mit der Partisanen-Bewegung auf irgend eine Art zusammengearbeitet. Nur drei Regierungsmitglieder vertraten ausdriicklich biirgerlich-demokratische Optionen und somit eine eindeutige Gegenposition zu den Kommunisten. AuBer dem erwlihnten Subasie waren dies Juraj Sutej, ebenfalls Mitglied der HSS, und Milan Grol (1876-1952), einer der bedeutendsten demokratischen Politiker Serbiens. In den letzten Tagen des Krieges, als sich die deutsche Wehrmacht iiberall auf dem Riickzug befand, marschierten die Partisanen-Divisionen, ohne aufWiderstand zu stoBen, in Zagreb und Ljubljana ein. In schweren Klimpfen und mit groBen Opfern durchbrachen sie die Front bei Istrien und im slowenischen Kiistenland und nahmen Triest ein. Die Annee des NDH mit der gesamten Fiihrung der Ustascha und vielen Zivilisten, slowenische Landwehrsoldaten und andere slowenische Kollaborateure, Ljoties ,,Freiwilligenkorps", die Uberreste von Nedies "Staatswache" und zwei Korps der Tschetniks zogen sich zusammen mit der deutschen Wehrmacht bis zur osterreichischen und italienischen Grenze zuriick. Sie hegten die Hoffnung, dass die Armeen der westlichen Alliierten, denen sie sich ergaben, sie besser behandeln wiirden als die Partisanen oder die Rote Armee. Doch die britische Armee iibergab sie fast aIle den Partisanen. Nach
11. 1. Verlauf und Akteure
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anniihemden SchlitZlUlgen handelte es sich urn mindestens 80.000 ausgelieferte Soldaten, einige SchlitZlUlgen liegen wesentlich bOher. Die Partisanen entlieBen die Zivilisten mehrheitlich nach Hause. Mit den Soldaten und Politikem der Kollaboration aber verfuhren sie erbarmungslos. Militarische Standgerichte faIlten gegen die fiihrenden Personen Todesurteile. Die slowenischen Landwehrsoldaten wurden fast aIle (ca. 9.000) in einer Massenaktion in Kocevski Rog urngebracht. Die Tschetniks, die Ljotic-Faschisten und die Nedic-Kollaborateure wurden massenweise meist sofort nach der Gefangennahme getOtet, wiihrend die Soldaten des NDH (ungesicherte Zahl, wenigstens 50.000) - Ustascha und Domobranci, Kroaten und Muslime - unter furchtbaren Bedingungen den Weg in die entfemteren Gefangenenlager antraten. Auf dem Weg dorthin wurden viele getOtet (der so genannte ,,Kreuzweg"), oder sie fanden in den Lagem den Tod. Die Massaker der Partisanen lassen sich zum einen als unkontrollierte Racheorgie einer siegreichen Armee charakterisieren, zum anderen handelte es sich schlechthin urn die Liquidierung des imaginaren ,,Klassenfeindes" und anderer potentieller Feinde des Nachkriegsstaates. Der Krieg, der auf jugoslawischem Territoriurn von April 1941 bis Mai 1945 gefiihrt wurde, fand damit sein Ende. In ibm iiberlagerten sich mehrere Kriege und verschmolzen zu einem allgemeinen Krieg: 1) der von Beginn an gefiihrte Selbstverteidigungskrieg gegen den politischen Terror und den Volkermord auf dem Territoriurn des NDH und der patriotische Abwehrkrieg gegen die brutaIe Fremdherrschaft und die Unterdriickung in den iibrigen Landesteilen; 2) der interethnische Krieg, der von konkurrierenden staatlichen und nationaIistischen ZielsetZlUlgen geleitet wurde, und der Kampf urn "gesiiuberte Lebensriiume" mit gegenseitigen Rachefeldziigen; 3) der Biirgerkrieg urn die Erhaltung oder Veranderung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung und um die Macht im Nachkriegsstaat. All dies fiigte sich in den allgemeinen Weltkonflikt und bildete einen 10kaIen Schauplatz des Weltkriegs zwischen den faschistischen Miichten und der Antifaschistischen KoaIition, dessen Ausgang entscheidend fur das Ergebnis der AuseinandersetZlUlgen innerhalb Jugoslawiens war. Die von den Kommunisten gefiihrten Partisanen reihten sich militiirisch und politisch erfolgreich in die SiegerkoaIition ein. Die Tschetniks hatten sich durch eine Politik des Genozids und des Terrors bloBgestellt, mehr noch aber durch ihre gescheiterte, von vornherein illusionare Taktik, den F eind, der sie als Kollaborateur zurUckgewiesen hatte, zu unterstUtzen und dabei "ausZlUlutzen". Die Ustascha-Nationalisten und die anderen Kollaborateure, die ihre Regime unter die Schutzherrschaft der faschistischen Miichte gestellt hatten und bis zum Ende an deren Seite Krieg fiihrten, waren allein durch diesen Umstand zum Untergang verurteilt. Die Hoffuungen, die sie darein setzten, dass eventuell zu erwartende Konflikte zwischen den westlichen Verbiindeten und der So~etunion auf irgendeine Art und Weise ihre Rettung bedeuten konnten, erwiesen sich als triigerische Selbsttiiuschung. Sie beruhten auf der Unkenntnis der Prozesse im Lager der Alliierten sowie aufmangelndem Begreifen ihrer eigenen Stellung innerhalb der weltweiten Ereignisse.
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Es war das groBe Verdienst der Partisanen-Bewegung, dass sie mit ihrem antichauvinistischen Programm und Handeln den interethnischen Krieg entscharft und den geplanten Rachegenozid der Tschetniks gegen Kroaten, Bosniaken und Albaner vereitelt hat. Bei Kriegsende griffen die Partisanen jedoch selbst zum Mittel des politischen Terrors. Zwar hatten sie das Land von der Herrschaft fremder Besatzungsarmeen und von den einheimischen faschistischen Regimen befreit, aber sie brachten dem Land weder die Freiheit noch die Demokratie, wie sie es versprochen hatten. Eine neue Diktatur nahm ihren Anfang. Deutsch von Heiko Hansel
11.2. Menschenverluste Igor Graovac Mit dem Ermitteln der Zahl der Kriegsopfer begann man teils schon zu Kriegszeiten: Der Antifaschistische Rat (AVNOJ) beschloss 1943 die Griindung einer Staatskommission, deren Aufgabe die Untersuchung der Verbrechen der Besatzer und ihrer HeIfer war. Diese 1948 aufgelOste Kommission sammelte ebenso wie die spiiter gegriindeten Kommissionen auf Republik- und Landesebene Daten und Beweismaterial tiber Kriegsverbrechen. Die gesammelten Daten betrafen - den Richtlinien entsprechend nur einen Teil der Opfer, niimlich jene, die den Besatzem und ihren Kollaborateuren bzw. den Quisling-Regierungen anzulasten waren. Die Opfer der Partisanen und Tschetniks sowie jene der AlIiierten blieben hingegen unberiicksichtigt. Die ermittelten Zahlen wurden nie veroffentlicht. Dadurch wurde die Frage der Menschenverluste von Anfang an mystifiziert, und willkiirlichen Einschiitzungen der Opferzahl war Tiir und Tor geoffnet. Die erste inoffizielle Schatzung (1.700.000) gab J. Broz Tito bereits im Mai 1945 bekannt. Sie wurde durch die Angaben der Staatskommission beim Intemationalen Militiirgerichtshof in Niimberg 1947 (niimlich 1.650.000) und der offiziellen Schatzung der Kommission fUr Wiedergutmachung, die im selben Jahr der Intemationalen Wiedergutmachungskommission in Paris vorgelegt wurde, bestiitigt. Dernzufolge gehOrte Jugoslawien zu den Liindem mit den meisten Kriegsopfem. 1.706.000 Menschenleben ergaben einen Verlust von etwa 11 Prozent der Gesamtbevolkerung. Diese Zahl umfasste 73 Prozent (1.251.000) als Opfer des faschistischen Terrors, 18 Prozent (305.000) als gefaIlene Soldaten des Widerstands und 9 Prozent (150.000) als AngehOrige der Verbiindeten der Besatzer. Mit dieser Zahl war aIlerdings ein fundamentaIer Irrtum in die Welt gesetzt. Die Schatzung bezog sich namlich auf den sog. demographischen Verlust und wurde falschlicherweise als geschiitzte Zahl der realen Kriegstoten ausgegeben. Demographische Hochrechnungen sind Schatzungen des Bevolkerungswachtums anhand eines Wachstumsquotienten, der den mittleren Wert der durch friihere Volksziiblungen gewonnenen Zuwachsrate der Bevolkerung darstellt. Demographischen Verlust nennt man eine statistische Schiitzung der Differenz zwischen der zu erwartenden und der lebenden Bevolkerung. Darin sind enthalten: die geschiitzten Toten und natiirlich Verstorbenen, die
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gescbiitzte ausgewanderte Bevolkenmg und der zu erwartende Bevolkenmgszuwachs, d.h. die Zahl der ungeborenen Kinder. Splitestens nach der Volkszlihlung von 1948 hiitte diese Angabe der Kriegstoten als Irrtwn aufgekllirt sein miissen. Tatslichlich hat ein Mitarbeiter des statistischen Bundesamtes in Belgrad anhand der Ergebnisse der Volkszlihlung geschlossen, dass die Kriegstotenzahl wesentlich geringer sein miisste (D. Tasic 1951: 1.400.000). Durchgesetzt hat sich aber die umgekehrte Schlussfolgenmg, die der damalige Direktor desselben Instituts, D. Vogelnik, angestellt hat: Um die bereits mythologisierte Zahl der Kriegstoten nicht aufgeben zu miissen, errechnete er methodologisch unhaltbar - einen erheblich hoheren demographischen Verlust von 2.854.000 Menschen. Diese falsche Zahl gefiel ideologisch und politisch so sehr, dass man sie weiterhin behauptete und als giiltig ausgab, obwohl sie mitsamt der Methode ihrer Gewinnung durch einen anderen Mitarbeiter im Institut sofort widerlegt und auf 2.100.000 demographische und eine Million reale Opfer korrigiert wurde (I. Lah, 1952). Inzwischen (1950) hatten die Ausschiisse des Verbandes der Widerstandsklimpfer (auf Bundes- und Republikebene) Verzeichnisse von Opfem "der Besatzer und ihrer Verbiindeten" angelegt, deren Ergebnisse nie veroffentlicht wurden. Das weckte Misstrauen und fiihrte zu Verdlichtigungen. 1964 stellte das statistische Bundesamt ein erneutes Verzeichnis der Zivilopfer und der gefallenen Partisanen zusammen - also wiederum ohne die Opfer aufSeiten des ,Jdeologischen Gegners" zu beriicksichtigen. Dabei war das Ziel, mit den Daten Verhandlungen mit der bundesdeutschen Regienmg iiber Kriegsscbiiden und Wiedergutmachung zu fiiliren. Die Resultate dieser Zlihlung riefen eine regelrechte Panik hervor und fielen sofort unter Geheimhaltungsptlicht. Die Verzeichnisse wurden allerdings im Archiv Jugoslawiens in Belgrad aufbewahrt und die Ergebnisse in 10 Kopien vervielfliltigt, die nur von ,,Auserwlihlten" als "streng vertrauliches" Material benutzt werden konnten. Auf diesem Wege kam es dann doch zur Veroffentlichung der Ergebnisse dieser Zlihlung, wenn auch erst mehr als 20 Jahre spliter (in der Zeitung Danas 1989 und in der wissenschaftlichen Auswertung von M. Sobolevski 1993). Das Verzeichnis umfasste - nach Sobolevski - 1,1 Mio Kriegsopfer, feststellen konnte man aber ,,nur" 597.323 TodesfaIle. Man schloss daraus, dass 25-40 Prozent der Opfer in dem Verzeichnis nicht erfasst worden waren und scbiitzte die Gesamtzahl auf 800.000. Demnach, so folgert Sobolevski, miisste es unter Hinzurechnung der 200.000 Opfer auf der Feindesseite insgesamt etwa eine Million Tote durch Kriegseinwirkung gegeben haben. Die Wende im Umgang mit den Zahlen der Kriegstoten wurde durch die demographischen Untersuchungen der Bevolkenmgswissenschaftler Bogoljub Kocovic (1985) und Vladimir Zerjavic (1989) eingeleitet, die mit den tiblichen demographischen Standardmethoden, wenn auch auf anderen Wegen, zu fast identischen Resultaten tiber den demographischen und tatslichlichen Menschenverlust kamen. Beide Wissenschaftler haben dabei keine ideologische Selektienmg der Kriegsopfer vorgenommen. Gemii/3 den Ergebnissen beider Studien betriigt der errechnete Realverlust an Menschenleben (Kocovic 1.014.000, Zerjavic 1.027.000) mehr als 50 Prozent des demographischen Verlustes (1.985.000 bzw. 2.022.000). Diesen Scbiitzungen zufolge veri oren 6,4 % der Bevolkenmg Vorkriegsjugoslawiens ihr Leben durch Kriegseinwirkung. Der demographische Verlust betrligt 5,8 %
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Menschenverluste bei den Viilkergruppen 1941-1945 nach Kocovic und Zerjavic Nation
Albaner Bulgaren Italiener luden Kroaten Makedoner Montenegriner Muslime Polen Roma Rumanen!Walachen RussenlUkrainer Serben Slowenen TschecheniSlowaken Tiirken Ungarn Volksdeutsche Andere Gesamt
B.Koeovic
6.000 1.000 1.000 60.000 207.000 7.000 50.000 86.000 2.000 27.000 4.000 5.000 487.000 32.000 4.000 3.000 5.000 26.000 1.000 1.014.000
v. 2erjavic
18.000
57.000 192.000 6.000 20.000 103.000 1.000 18.000 5.000 530.000 42.000 1.000 2.000 2.000 28.000 2.000 1.027.000
Auf Republiken gerechnet, hatte Bosnien-Herzegowina die hOchsten Verluste, gefolgt von Montenegro, Kroatien und Serbien (ohne Vojvodina und Kosovo). Die Verluste bei den nichtslawischen Minderheiten sind weitaus hoher als bei den slawischen VOlkern. Die relativ meisten Opfer gab es unter der Roma-Bevolkerung, gefolgt von den luden. In den slawischen Volksgruppen hatten die Montenegriner die hOchsten Verluste, gefolgt von den Serben und Muslimen. Demographische Verluste sowie jene durch Kriegseinwirkung in den RepubUken (nach Zerjavic)
Gesarnter demograph. Verlust Im Krieg getOtete Menschen
(Davon im Ausland) Emigrierte und Vertriebene Ausgebl. BevOlkerungszuwachs
Gesarnter demograph. Verlust Im Krieg getOtete Menschen
(Davon im Ausland) Emigrierte und Vertriebene Ausgebl. BevOlkerungszuwachs
BosnienHerzeg.
Montenegro
Kroatien
480.000 328.000 (12.000) 51.000 101.000
53.000 37.000 9.000 7.000
502.000 295.000 (24.000) 157.000 50.000
Makedonien
Slowenlen
Serbien
63.000 24.000 (7.000) 26.000 13.000
76.000 40.000 (7.000) 31.000 5.000
848.000 303.000 (30.000) 395.000 150.000
11.2. Menschenverluste
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Diese spater konstituierten Repub1iken decken sich nicht mit den Gebi1den, die es wahrend des 2. We1tkrieges gab, aber entsprechen teilweise einigen Zonen des damals zerstiicke1ten Landes. Die Kriegsver1uste der Serben betrugen im Gebiet des Ustascha-Staates, der aus einem amputierten Kroatien und dem annektierten Bosnien-Herzegowina bestand, 295.000 (131.000 in Kroatien und 164.000 in Bosnien-Herzegowina). Mit 530.000 statistisch errechneten Kriegsopfem insgesamt (davon 190.000 in Serbien) und d.h. mehr als der Halfte der Gesamtzahl der Kriegsopfer in Jugos1awien hatten die Serben in abso1uten Zahlen die hOchsten Verluste. Kroatische Verluste betrugen in Kroatien 106.000 und in Bosnien-Herzegowina 64.000 und insgesamt 192.000. Von der Gesamtopferzahl der muslimischen Bosniaken (103.000) ist die Mehrheit in BosnienHerzegowina urngekommen (75.000). Wenn es heifit, dass Menschen im Aus1and ihr Leben verloren haben, dann handelt es sich in den meisten Fallen urn Opfer der nazistischen Konzentrations1ager. Die obige Zahl von 7000 in der Rubrik Mazedonien bezieht sich auf Juden und ist keine Schiitzung. Die mazedonischen Juden wurden in den 1etzten Tagen des Krieges von den Nazis nach Auschwitz verschleppt, wo niemand von ihnen iiberlebte. 9000 Juden wurden in Bosnien-Herzegowina, 10.000 in Kroatien, 14.000 in Serbien und 24.000 "im Aus1and" urngebracht. 15.000 Roma wurden in Kroatien urngebracht und damit die dortige Roma-BevOlkerung fast ausge1oscht. Wenn man beim errechneten demographischen Verlust die Zahl des erwarteten BevOlkerungszuwachses, d.h. die der ungeborenen Kinder ausk1ammert, bekommt man nach Zerjavi6 die Zahl eines ,,rea1en" demographischen Verlustes von 1.696.000. Diese Zahl entha1t also nur die geschiitzten Kriegstoten und die geschiitzte ausgewanderte Bevolkerung ohne den geschiitzten BevOlkerungszuwachs. Sie deckt sich weitgehend mit jener, die die Kommission fUr Wiedergutmachung der Konferenz in Paris 1947 vorge1egt hat. Wenn man von dieser Zahl die Million Kriegstoten abzieht, ergibt sich daraus, dass rund 669.000 Personen das Territoriurn Vorkriegsjugos1awiens verlassen haben. Dieser BevOlkerungsveriust bezieht sich auf die im ehema1igen Jugos1awien beharr1ich verschwiegene Vertreibung der Deutschen (Vo1ksdeutschen oder Donauschwaben) und Ita1iener. Die hOchsten demographischen Verluste gab es niimlich unter der deutschen und der italienischen Bevolkerung Jugos1awiens, d.h. jener, die das Land nach dem Krieg verlassen hat. Bei der deutschen Volksgruppe waren von rund 500.000 aus der Vorkriegszeit 453.000 in der Nachkriegszeit nicht mehr im Lande. 425.000 wurden oder ge1ten zumindest a1s ausgesiedelt, und zwischen 28.000 und 50.000 kamen urn - durch Totung oder unmenschliche Verhii1tnisse in den Sammellagem. Die Angaben von 63.308 in der ,,Bonner Dokumentation" oder gar die 135.000 Getoteten und Verschollenen nach 1. Beer sind mit Vorsicht zu behandeln. Der italienische Exodus - worunter sich aber auch nicht-italienische Volksgruppen befanden - umfasste mehr a1s 220.000 Menschen (P.F. Rocchi zufo1ge gar 350.000), wobei es nach G. Bartoli 4500 Getotete oder Verschollene gab. Bei den Ungarn, die nicht systematisch vertrieben wurden, siede1ten insgesamt 7000 nach Ungam urn, wiihrend ungefdhr 14.000 von Kroatien in die Vojvodina zogen.
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11. DeI Zweite Weltkrieg
Zusammenfassend ist zu sagen, dass man allein mit demographischen Methoden den ganzen Komplex der Kriegsopfer nicht in den Griff bekommt. Die offensichtlichen Unterschiede in Methoden Wld Resultaten der erwiihnten UntersuchWlgen sind ein Beweis dafiir. Es gibt auBerdem eine Reihe von Faktoren, die man anhand demographischer UntersuchWlgen iiberhaupt nicht ermitteln kann - wie soziaIe Strukturen Wld sonstige Eigenschaften der Opfer sowie Gruppen Wld soziaIe Profile der Tater. Die Kriegsverluste sollten deshalb interdisziplinlir erforscht werden. Dabei ist selbstverst1indlich der geschichtliche Gesamtkontext zu beriicksichtigen. Unabdingbar aber fUr die genaue ErforschWlg ist, die Opfer mit der Methode der einzelnen Wld personlichen IdentifizierWlg zu erfassen. Bislang liegen allerdings nur Ergebnisse von TeilWltersuchWlgen vor, die mit dieser Methode vom Kroatischen Institut fUr Geschichte seit 1991 Wlternommen werden. Auf das gesamte hier behandelte Gebiet werden solche UntersuchWlgen hOchstwahrscheinlich nie angewendet werden konnen, weil die Ereignisse in immer femere Vergangenheit entschwinden Wld ein integriertes Vorgehen in den neuen Staaten eher Wlwahrscheinlich ist. Einen interessanten Hinweis bilden die Ergebnisse der erwiihnten TeilWltersuchWlg. Das ForschWlgsteam hat im Auftrag der Kommision der Republik Kroatien fUr ErmittIWlg der Kriegs- Wld Nachkriegsopfer im 2. Weltkrieg bislang 100.000 Opfernamen gesammelt Wld diese Daten nach Geschlecht, Geburtsort, Alter, Nation, Konfession, politischer Aktivitlit sowie ZugehOrigkeit zu milit1irischen Verbanden ausgewertet. Es wurden auch Daten ausgewertet, wie die Betroffenen zu Tode kamen, wobei auch das Profil der Tater beriicksichtigt wurde. Das Segment, fUr das die UntersuchWlg abgeschlossen werden konnte, bezieht sich auf die Opfer der Tschetniks in Kroatien (19411945). Die Wlterschiedlichen Zahlen, die bis dato iiber diese Opfergruppe verhandelt wurden (in einem Faile 1372 Wld in anderem 1729) konnten durch namentliche Identifikation erheblich korrigiert werden, die 2.845 Opfer feststellte. Bei der Struktur der Opfer konnten ebenfaIls erhebliche Unterschiede zur gangigen MeinWlg festgestellt werden, weil n1imlich die Mehrheit dieser Opfer gar nicht kroatischer Nationalitat war. Auch wenn es sich nur urn eine partielle UntersuchWlg handelt, sind die AbweichWlgen bei einer tatsachlichen IdentifizierWlg von Opfern gegeniiber Ergebnissen, die aufwissenschaftlichen statistischen SchatZWlgen beruhen, bezeichnend.
Deutsch von Dunja MelCic Literafur I. Zur Vor- und Anfangsphase des Krieges: Klaus Olshausen, ZWischenspiel aufdem Balkan. Die deutsche Politik gegeniiber Jugoslawien und Griechenland von Miirz bis Juti 1941, Stuttgart 1973. Umfassend iiber die KriegsplAne und -strategien der dritte Band der yom Militargeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Reihe ,,Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg": Gerhard Schreiber, Bernd Stegemann,
Detlev Vogel, Der Mittelmeerraum und Siidosteuropa. Von der ,,non belligeranza" Italiens bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, Stuttgart 1984; wichtige Dokumente im sechsten Band der noch in der DDR begonnenen, dann yom Bundesarchiv herausgegebenen Reihe ,,Europa unterm Hakenkreuz": Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungam (1941-1945), Dokumentenauswahl und Einleitung Martin Seckendorf, Berlin, Heidelberg 1992; sowie: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941-1945, zusam-
11.2. Menschenverluste
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mengestellt und er111utert von Tone Ferenc, Maribor 1980; altere jugoslawische Arbeiten in: Les Systemes d'occupation en Yougoslavie 1941-1945, Belgrad 1963; einen brauchbaren Dberblick bietet immer noch: Josef Mati, "Jugoslawien im Zeiten Weltkrieg", in Osteuropa-Handbuch, Bd. 1, Jugoslawien, hg. v. Werner Markert, Kiiln, Graz 1954, S. 99-121. Zum Unabhllngigen Staat Kroatien (NOH) immer noch unersetzlich: Ladislaus Hory und Martin Broszat, Der kroatische Ustascha-Staat, 1941-1945 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte fur Zeitgeschichte, Bd. 8), Stuttgart 1964, ergllnzt urn: Gert Fricke, Kroatien 1941-1944. Der "Unabhiingige Staat" in der Sieht des deutschen Bevollmiichtigten Generals in Agram, Glaise v. Horstenau, Freiburg 1972, sowie: Holm Sundhaussen, Siidosteuropa in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft am Beispiel des "Unabhllngigen Staates Kroatien", in: Siidosteuropaforschungen, XXXII (1973), S. 233-266; Bogdan Krizman, Ante Pave/ic i Ustase, Zagreb 1978. Zum Aufbau des Regimes, rechtlichen Grundlagen und Jnnenpolitik grundlegend und sehr gut dokumentiert: Fikreta Jelic-Butic, UstaSe i nezavisna driava Hrvatska 1941-1945, Zagreb 1977. Grundlegend iiber die Tschetniks: Jozo Tomasevich, The Chetniks: War and Revolution in Yugoslavia, 1941-1945, Stanford 1975 sowie Matteo 1. Milazzo, The Chetnik Movement and the Yugoslav Resistance, Baltimore 1975; Reich an Details fiber die Tschetniks in Kroatien: Fikreta Jelie-Butic, Cetnici u Hrvatskoj 1941-1945, Zagreb 1985 (1941-1945). Zur deutschen Politik: Karl-Heinz Schlarp, Wirtschaft und Besatzung in Serbien 1941-1944. Ein Beitrag zur nationalsozia/istisehen Wirtschaftspolitik in Siidosteuropa, Stuttgart 1986; besonders aus der Perspektive der Holocaust-Forschung wichtig: Walter Manoschek, "Serbien ist juderifrei ": Militiirische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941142, Miinchen 1995, 2. Auflg.. Dber Partisanen, Befreiungskrieg und Bfirgerkrieg ist heranzuziehen die offizielle Quellensammlung zum "Volksbefreiungskrieg der jugoslawischen Viilker": Zbornik dokumenta i podataka 0 narodnooslodilackom ratujugoslovenskih naroda, Belgrad 1949 ff.; dazu der zweite Band der Erinnerungen von Milovan Dilas, Der Krieg der Partisanen. Jugoslawien 1941-1945, Wien usw. 1978, weit offiziiiser das Tagebuch von Vladimir Dedijer, Dnevnik, Belgrad 1945-50 und seine autorisierte Biographie: Tito, Berlin 1953; femer Vlado Strugar, Der jugoslawische Volksbefreiungskrieg 1941 bis 1945, Berlin (DDR) 1969. Zu Aspekten der deutschen "Volkstumspolitik", der Partisanenbewegung sowie der Kollaboration seitens Volksdeutscher und serbischer Freiwilliger: Gutaehten des 1nstitutsfiir Zeitgeschichte, Bd. II, Stuttgart 1996, S. 225-235, S. 292-309. Umfassend zur Politik der westlichen AIliierten: Hans Knoll, Jugoslawien in Strategie und Politik der Alliierten 1940-1943, Miinchen 1986; Walter R. Roberts, Tito, Mihajlovic and the Allies, 1941-1945, New Brunswick 1973; Mark C. Wheeler, Britain and the War for Yugoslavia. 1940-1943, New York 1980; vorwiegend militllrische Aspekte bei: Michael McConville, A Small War in the Balkans. British Military Involvement in Wartime Yugoslavia. 1941-1945, London 1986; femer die Aufslltze in: Phyllis Auty u. Richard Clogg, British Policy towards Wartime Resistance in Yugoslavia & Greece, London 1975. Wichtige Dokumentation iiber Kroatien und die jugoslawische Exilregierung sowie die Politik der westlichen AIliierten: Ljubo Boban, Hrvatska u diplomatskim izvjestajima izbjeglicke vlade 1941-1943, II, Zagreb 1988. Zur sowjetischen Politik knapp: OtIunar N. Haberl, Die Emanzipation der KP Jugoslawiens von der Kontrolle der KominternlKPdSU 1941-1945, Miinchen 1974; wichtigjeweils die ersten Teile bei: Ivo Banac, With Stalin against Tito. Cominformist Splits in Yugoslav Communism, Ithaca, London 1988 und in der Dokumentensammlung Yugoslavia and the Soviet Union. 1939-1973. A Documantary Survey, hg. v. Stephen Clissold, London usw. 1975. II. Altere jugoslawische Untersuchungen zu den Verlusten: 1zvestaj jugoslavenske Driavne komisije za utvrtlivanje zloCina okupatora i njegovih pomagaca Metlunarodnome vojnom sudu u Niirnbergu, Belgrad 1947 (Bericht der jugoslawischen Staatskommission zur Erhebung der Verbrechen der Besatzer und ihrer Helfer an das Niimberger Tribunal); Ljudske i materijalne irtve Jugoslavije u ratnom naporu 1941-1945, Beograd 1947 (Menschliche und materielle Opfer Jugoslawiens); Konacni rezultati popisa stanovnistva od 15.3. 1948, 1-2, Beograd, 1951 (Endergebnis der Volkszllhlung von 1948, mit einem Vorwort von D. Tasic); I. Lab, "Istinski demografski gubici Jugoslavije u Drugome svetskom ratu", Statisticka revija, Belgrad, 2-3, 1952 (Reale demografische Verluste Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg); ders., "Metod izracunavanja buduceg stanovni~tva", ebd, 1, 1951 (Die Methode der Berechnung der kiinftigen Bevii1kerung).
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11. Der Zweite We1tkrieg
Revision der bisherigen Angaben: B. KoWvic, ,,irtve Drugoga svetslwg rata uJugoslaviji ", London 1985, 2. Auflage Sarajevo 1990 (Opfer des Zweiten We1tkriegs in Jugos1awien); V. ~avic, Gubici stanovniStva Jugoslavije u Drugome svjetskom raw, Zagreb 1989. (BevOlkerungsverluste Jugoslawiens im Zw. We1tkrieg, englische und franzOsische Ausgabe Zagreb 1997), ders., The Losses ofYugoslav Population in the Second World War, Geographical Papers 8, University of Zagreb 1991; ders., Opsesije i megalomanije oIcoJasenovca i Bleiburga. Gubici stanovniStva Jugoslavije u Drugome svjetskom raw, Zagreb 1992 (Obsessionen und Megalomanie urn Jasenovac und Bleiburg); M. Sobolevski, ,,Pre§ueena istina -:lJ1ve rata na podrucju biv~e Jugoslavije 1941-1945 premapopisu iz 1964", in Casopiszasuvremenupovijest, 2-3,1993 (Verschwiegene Wahrheit - Kriegsopfer auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien 1941-1945 nach der Erhebung von 1964); S. Bogosavljevic, ,,Der unaufgeklarte Genozid", in: Th. Bremer, N. Popov, H.-G. Stobbe (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg, Berlin 1998, S. 63-74. Zu den jiidischen Opfern: 1. Romano, Jeweji Jugoslavije 1941-1945. trtve genocido i ucesnici narodnooslobodilackog rata, Belgrad, 1980 (Jiidische Genozidopfer und Teilnehmer am Volksbefreiungskampf); H. Sundhaussen, "Jugoslawien", in: Wolfgang Benz (Hg.), Dimensionen des V6lkermords. Die Zahl der jiidischen Opfer des Nationalsozialismus, Moochen 1991, S. 311-330. Zur Vertreibung der ltaliener und Deutschen: G. Bartoli, n martilogio delle genti adriatiche. Le deportazioni nella Venezia Giulia, Fiume e Dalmazia, Triest 1961; P.F. Rocchi, ,,L 'esodo die 350 mila giuliani, fiumani e dolmati", Rom 1990; J. Beer, Donauschwiibische Zeitgeschichte aus Erster Hand, MOOchen 1987; Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OSI-Miiteleuropa. Dos Schicksal der Deutschen in Jugoslawien, Band V, Moochen 1984 (Bonner Dokurnentation); H.U. Wehler, Nalionaliliilenpolilik in Jugoslawien, Gottingen 1982.
12. Zwischen Aufbruch und Repression: Jugoslawien 1945-1966 Ludwig SteindorfJ
12.1. Grundlegungen wiihrend des Zweiten Weltkrieges
Wie in anderen Uindem Ostmittel- und Siidosteuropas war der Sieg iiber die Achsenmiichte und den von ihnen getragenen Faschismus auch in Jugoslawien mit der Durchsetzung des sozialistischen Gesellschaftsmodells verbunden. Als Griindungsakt des sozialistischen Jugoslawien gilt die 2. Sitzung des ,,Antifaschistischen Rates der Volksbefreiungsbewegung" (AVNOJ) im mittelbosnischen Jajce am 29. November 1943. Hier wurde die Wiederherstellung Jugoslawiens als FOderation beschlossen. Der im Londoner Exillebende Konig Petar erhielt Riickkehrverbot, und die Exilregierung wurde fUr nicht kompetent erkliirt. Als provisorische Regierung wurde ein Nationalkomitee unter dem Vorsitz von Josip Broz Tito eingerichtet. Zur Erinnerung an die Tagung in Jajce wurde spiiter der 29. November als Staatsfeiertag begangen. Die damals noch schwache Partisanenbewegung in Serbien war auf der Tagung in Jajce nicht vertreten. Das war fUr die serbische politische Fiihrung Ende der achtziger Jahre Grund, die Legitimitiit der Republiksgrenzen in Jugoslawien zu bestreiten. Die Beschliisse von Jajce bedeuteten fUr die So~etunion eine Provokation; denn wiihrend iiberall sonst der kommunistisch dominierte Widerstand unter so~etischer Kontrolle stand, hatte das AVNOJ selbstandig gehandelt. Die britische Politik nahm eine pragmatische Haltung ein; ihr lag unter den gegebenen Umstanden an einem baldigen Arrangement von Partisanen und Exilregierung, wei! anderenfalls eine giinzliche Ausschaltung der Exilregierung zu befUrchten war. Auf das Drangen von Churchill hin schlossen Tito im Namen des AVNOJ und SUbasic im Namen der Exilregierung am 16. Juni 1944 auf der Adriainsel Vis ein Abkommen. SubasiC, Politiker der Kroatischen Bauempartei (HSS), war 1939-41 Banus in der teilautonomen Banovina Kroatien gewesen. Das Abkommen, das bei den Exilpolitikem durchaus umstritten war, beinhaltete die Verpflichtung der Exilregierung, die Untersrutzung der "Volksbefreiungsarmee" von auJ3en zu organisieren. Uber die Staatsform so lite nach Kriegsende in einem Referendum entschieden werden. Kollaborateure und Verriiter, zu denen nun auch Draza Mihajlovic gerechnet wurde, waren vor Gericht zu stellen. Damit war die Bewegung der Tschetniks politisch gescheitert. Beim Besuch von Churchill in Moskau im Oktober 1944 einigten sich Stalin und sein Gast auf einen Interessenanteil in Jugoslawien von je 50 %, wiihrend fUr die anderen Lander Siidosteuropas klare Dominanten vereinbart wurden. Wenn man auf die Machtverhiiltnisse im Lande zu dieser Zeit sieht, war der Weg zur Durchsetzung des sozialistischen Systems bereits weiter fortgeschritten, als von Stalin intendiert. 1m zweiten Abkommen zwischen Tito und Subasic, das am 1. November 1944 im schon befreiten Belgrad geschlossen wurde, verwirklichte man scheinbar ein Kriiftegleichgewicht. Die Rechte des Konigs wurden suspendiert; Ziel war die Schaffimg
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einer gemeinsamen Regierung. In diesem Sinne verlangte auch die Konferenz der Alliierten in Jalta, das AVNOJ solle urn Politiker aus der Exilregierung erweitert werden. Am 7. Mlirz 1945 wurde eine provisorische Regierung gebildet, in der Tito das Amt des Ministerprasidenten iibernahm und SUbasic AuBenminister wurde.
12.2. Die Zeit des "administrativen Sozialismus" In der Gruppe der Lander, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg ein sozialistisches System eingefiihrt wurde, nahm Jugoslawien von Beginn an eine Sonderstellung ein. Nur hier war die Befreiung weitestgehend ohne die Hilfe fremder Truppen erfolgt, und die Kommunisten waren nicht erst mit so\\jetischer Hilfe an die Macht gelangt. Deren erhOhtes Selbstbewusstsein zeigte sich darin, dass sie ohne Riicksicht auf die Vorgaben der Alliierten in kurzer Zeit andere politische Krafie im Land ausschalteten. Die "innere So\\jetisierung" bzw. der Autbau des einstweilen ganz am so\\jetischen Vorbild orientierten sozialistischen Systems verlief deutlich schneller als in Staaten, die von der UdSSR abhangig waren. Die vor den Wahlen 1945 gebildete "Volksfront" aus Parteien und Massenorganisationen stand klar unter der Fiihrung der Kommunistischen Partei. Die Oppositionsparteien, die auBerhalb der Volksfront Kandidaten aufgestellt hatten, wurden wlihrend des Wahlkampfes so stark behindert, dass sie schlieBlich zum Wahlboykott aufriefen. Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im November 1945 fielen 90,5 Prozent der Stimmen fUr den Bundesrat, 88,4 Prozent fUr den Nationalitatenrat an die "Volksfront". Erster Akt des neugewlihlten Gremiurns war die Aufhebung der Monarchie und die Proklamation der ,,FOderativen Volksrepublik Jugoslawien". Schon 1947 gingen alle Einzelparteien auBer der KP in der "Volksfront" auf, so dass es, anders als beispielsweise in der DDR oder Polen, keine "Blockparteien" gab. Die Verfassung yom 20. Januar 1946 war eng an die so\\jetische Verfassung von 1936 angelehnt. Die schon 1943 in Jajce beschlossene foderale Ordnung konnte so zum einen auf das so\\jetische Vorbild blicken, zum anderen auf die bereits 1937 von den Kommunisten iibernommenen Konzepte der biirgerlichen Opposition iiber eine fOderale (foderative) Neuordnung Jugoslawiens. Es wurden die Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Makedonien mit den autonomen Gebieten Vojvodina und Kosovo-Metohija innerhalb Serbiens gebildet. Die Grenzen der Republiken waren keineswegs, wie in den spaten achtziger Jahren serbischerseits behauptet, einfach "administrativ" festgelegt worden. Die meisten Grenzen waren historisch legitimiert und griffen auf die Abgrenzung der historischen Territorien vor 1918 zuriick. Explizit ethnisch definiert wurde die kroatisch-serbische Grenze zwischen Donau und Save, die historische Grenze wurde zugunsten Serbiens korrigiert. Von Bosnien-Herzegowina abgesehen, war jeder Nation innerhalb Jugoslawiens eine Republik zugeordnet, oder anders gesagt: Jede Republik bildete den Kern einer Nation. Die makedonische Regionalidentitat wandelte sich erst im Rahmen der vorgegebenen staatlichen Ordnung zur nationalen Identitat.
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Das jugoslawische Staatsgebiet wurde gegeniiber der Zwischenkriegszeit im Nordwesten um Istrien und die Gebiete bis ungefahr an die Soca (Isonzo) erweitert, zuerst 1945 via facti, dann offiziell auf den Pariser Friedensverhandlungen 1947. Die Stellung der Stadt Triest und ihres siidlichen Umlands, die seit 1947 auf dem Papier den ,,Freistaat Triest" bildeten, real aber schon Italien bzw. Jugoslawien zugeordnet waren, wurde erst 1954 dauerhaft geklart. Das Stadtgebiet, die friihere Zone A, ging an Italien, das Umland, die Zone B, an Jugoslawien. Entsprechend der nationalen Siedlungsverteilung wurden die Gebiete Kroatien bzw. Slowenien zugeordnet. Die Verstaatlichung der Wirtschaft erfolgte in Jugoslawien sehr schnell. Ende 1945 waren bereits 80 Prozent der gro13eren Untemehmen verstaatlicht; Anfang 1948 war der Prozess abgeschlossen. 1m Juli 1946 wurde ein Gesetz iiber die Planwirtschaft verkiindet. 1947-51 lief der erste Fiinfjahresplan; sein Schwerpunkt lag auf der forcierten Industrialisierung. In der Agrarpolitik vermied man radikale Schritte. Durch die Agrarreform von August 1945 wurde je nach Bodenertrag ein Maximum zwischen 25 und 35 Hektar festgelegt. 1,6 Mio. Hektar wurden enteignet; rund 41 Prozent davon war Besitz von Angehorigen der deutschen Minderheit gewesen, die man nach 1945 gro13teils vertrieben hatte. Auf den enteigneten Uindereien in der Vojvodina wurden zumeist serbische Kolonisten aus landwirtschaftlich unproduktiven Gebieten angesiedelt. Sie erhielten allerdings nur kleine Parzellen von durchschnittlich 2,5 Hektar, denn man rechnete schon mit der baldigen Kollektivierung. Vertreibung der Deutschen und Kolonisierung fiihrten zu einer deutlichen ErhOhung des serbischen Bevolkerungsanteiles in der Vojvodina (Volksziihlung 1931: 37 Prozent; 1948: 50,5 Prozent). Zur "inneren So\\jetisierung" gehOrte auch das Streben nach Marginalisierung und Diskriminierung der Religionsgemeinschaften, wobei man in der katholischen Kirche die silirkste Gegenkraft gegen das neue System sab. Erst als diese sich gegen die Verstaatlichung des kirchlichen Schulwesens und die weitgehende Enteignung des kirchlichen Grundbesitzes wehrte und sich weigerte, die Bindungen an Rom zu lOsen, wurde dem Zagreber Erzbischof Alojzije Stepinac Kollaboration und Beihilfe zu den Verbrechen des Ustascha-Regimes vorgeworfen. In einem Schauprozess wurde er 1946 zu 16 Jabren Haft verurteilt. 1951 wurde er zum Hausarrest im Heimatort Krasic bei Karlovac begnadigt; hier starb er 1960. Dass Tito damals das Begrabnis von Stepinac in der Zagreber Kathedrale gestattete, brachte dem Regime im Westen erheblichen Sympathiegewinn. (~Kap. 15)
12.3. Der Bruch mit der Sowjetunion Jugoslawien war der einzige Staat in Ost- und Siidosteuropa, der nach 1945 zu einer aktiven AuJ3enpolitik fahig war. Es gelang, Albanien in immer silirkere Abhangigkeit zu bringen, und ein Anschluss dieses Staates an Jugoslawien wurde denkbar; erst der Bruch zwischen der So\\jetunion und Jugoslawien 1948 fiihrte auch zur Losung der engen Bindungen Jugoslawiens und Albaniens. Es entstanden 1947 Plane einer jugoslawisch-bulgarischen FOderation; diese stie13enjedoch auf Ablehnung bei der So\\jetunion, weil sie ihre eigene Hegemonialrolle dadurch gefahrdet sab. Am 10. Februar
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1948 tadelte Stalin bulgarische und jugoslawische Delegationen in Moskau. Die bulgarische Seite verzichtete sogleich auf die FOderationspliine; die jugoslawische hingegen protestierte und verlangte Gleichberechtigung aller kommunistischen Parteien. Daraufhin wurden am 18. M!lrz alle so~etischen Militlir- und Zivilberater aus Jugoslawien abgezogen. In einem Briefwechsel zwischen den Zentralkomitees warf die KPdSU den jugoslawischen Kommunisten Selbstgerechtigkeit und eine falsche Politik der Stiitzung auf das Bauerntum statt auf die Industriearbeiterschaft vor. Die jugoslawische Seite beschwerte sich fiber die ungiinstigen Konditionen der Wirtschaftsvertrlige und die Arroganz der so~etischen Berater; sie bezweifelte den FOhrungsanspruch der KPdSU. Um der Rolle des Angeklagten zu entgehen, weigerte sich die jugoslawische KP, an der Kominform-Konferenz in Bukarest im Juni 1948 teilzunehmen. Die Kominform war im September 1947 anstelle der 1943 aufgelosten Komintem gegriindet worden; eigentlich war als Sitz Belgrad vorgesehen gewesen. Die Kominform verurteilte am 28. Juni 1948 die Haltung der KP Jugoslawiens und schloss die Partei aus. Damit verbunden war die Errichtung einer Wirtschaftsblockade und der politischen Isolierung. Einstweilen folgte darauf im Inneren eher eine Verhlirtung des Kurses, urn die Kontinuitlit der Ziele unabbiingig yom Konflikt mit der So~etunion zu dokumentieren. Das so~etische Modell der zentralen Planwirtschaft wurde beibehalten und die Kollektivierung eingeleitet. Die Ausschaltung von Skeptikem gegenfiber der Konfrontation mit der So~etunion seit 1947 weitete sich zu einer groBen "Sliuberung" der Partei aus. Zahlreiche Verurteilte kamen auf die Insel Goli otok zwischen den Inseln Krk und Rab; der Ort mit dem sprechenden Namen ,,kahle Insel" blieb bis Anfang der achtziger Jahre als Geflingnis in Benutzung. Eines der Opfer des Machtkampfes 1948/49 war Andrija Hebrang. 1943-44 Parteichef der kroatischen Kommunisten, war er damals wegen ,,separatistisch-nationalistischer Tendenzen" abgelost worden und hatte nur noch untergeordnete Funktionen wahrgenommen. 1948 wurde er verhaftet; seine Ermordung im Gefangnis wurde als Selbstmord inszeniert. Der Bruch mit der So~etunion zwang Jugoslawien geradezu zu einer Anniiherung an den westlichen Block. Jugoslawien war nun bereit, Hilfe aus dem Marshall-Plan und amerikanische Riistungslieferungen anzunehmen. Das Schwergewicht des AuBenhandels verlagerte sich yom "Ostblock" aufWesteuropa. 1953 schloss Jugoslawien mit der Tiirkei und Griechenland den Balkanpakt. Zur Normalisierung der Beziehungen mit dem Westen trug auch die Losung der Triestfrage 1954 beL
12.4. Der Ausbau des Selbstverwaltungssozialismus Die Ablosung der auBenpolitischen Bindung an die So~etunion fiihrte bald zur Bereitschaft, auch nach Alternativen in der Umsetzung des sozialistischen Gesellschaftsmodells zu suchen. Bereits 1950 wurden die Grundsteine zur ,,ArbeiterselbstverwaItung" gelegt. Diese, in den folgenden Jahrzehnten institutionell zum "SelbstverwaItungssozialismus" immer weiter ausgebaut, brachte zwar keine reale Beteiligung der Arbeiter an Entscheidungsprozessen; doch das System ermoglichte die wirtschaftliche
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Dezentralisierung und schuf den Freiraurn zur Herausbildung einer Wirtschaftselite. Die Betriebe verfiigten fiber einen Teil ihres Gewinnes selbst, auch waren Angebot und Nacbfrage teilweise marktreguliert. 1952 wurde das Ziel der landwirtschaftlichen Kollektivierung aufgegeben; die meisten Bauern nahmen das Angebot wahr, aus den Produktionsgenossenschaften wieder auszutreten. Das Landmaximurn wurde jedoch auf 10-20 Hektar beschriinkt, was sich schlieBlich als Bremse der Modernisierung erwies. In Entsprechung zur Abkehr yom "administrativen Sozialismus" sowjetischen Typs und von der zentralistischen Parteiorganisation erhielt 1952 auch die Partei formal einen dezentralen Aufbau und nannte sich fortan ,,Bund der Kommunisten"; die Volksfront hieB nun "Sozialistischer Bund des werktiitigen Volkes". 1953 erhielt Jugoslawien eine neue Verfassung. Der bisher als zweite Kammer selbstandige Nationalitatenrat wurde zwecks Abschwiichung der nationalen Komponente im politischen Entscheidungsprozess in den Bundesrat integriert. Bundes- wie auch Republikparlamente erhielten stattdessen als zweite Kammer einen Produzentenrat, der die Interessen der sich selbst verwaltenden Betriebe vertreten sollte. Das Wahlrecht zum Bundesrat war an den Wohnort gebunden, das zum Produzentenrat an den Arbeitsplatz. Die dritte Verfassung von 1963 trug der weiteren Dezentralisierung und dem Ausbau des Selbstverwaltungssozialismus Rechnung; der Staat erhielt nun den Namen, den er bis zu seinero Untergang behielt: "Sozialistische FOderative Republik Jugoslawien". Nach Stalins Tod 1953 verbesserten sich die Beziehungen zur Sowjetunion wieder; Chruschtschows Besuch in Belgrad 1955 glich geradezu einem BuBgang. Doch Jugoslawien kehrte dadurch keineswegs in den sowjetisch dominierten Block zuriick. Die Isolierung bzw. Sonderstellung zwischen den beiden Blocken in Europa wurde nun auch von der Sowjetunion allmiihlich akzeptiert und positiv gewendet. Auf seiner Indienreise 1956 erkliirte Tito die ,,Blockfreiheit" erstmals zum Programm. Da sich nach der Entkolonialisierung der Dritten Welt die meisten neuen Staaten der Blockfreienbewegung anschlossen, erlangte Jugoslawien in der Weltpolitik ein beachtliches Gewicht. In der Nationalitatenpolitik brachten die sechziger Jahre eine wichtige Neuerung: Die Volksziihlung von 1961 bot erstmals die Moglichkeit, sich als ,,Muslim im ethnischen Sinne" zu bekennen. Allerdings machten damals noch relativ wenige BUrger hiervon Gebrauch. 1963 wurden die Muslime als eines der Volker von Bosnien-Herzegowina in der Priiambel der Republik-Verfassung genannt. 1965 definierte das Zentralkomitee der Partei auf Bundesebene die Muslime als eigene Nation; 1968 wurden sie auf Bundesebene verfassungsrechtlich offiziell als Nation anerkannt. Bei der Volksziihlung von 1971 nutzten sie erstmals in groBem MaBe die Moglichkeit, sich national als Muslime zu deklarieren. Innerhalb der Partei kam es auch nach der Kominformkrise immer wieder zu Spannungen. Konflikte urn politische Ausrichtungen verbanden sich mit der Ausschaltung von politischen Rivalen. Einer der einst engsten Kampfgeflihrten Titos, Milovan Dilas, wurde wegen seiner Kritik an Fehlentwicklungen innerhalb des Systems 1954 politisch entmachtet; erst in der Haft schrieb er dann Die neue Klasse. Dilas stellte in seinen Werken keineswegs das Ziel des Sozialismus in Frage; vielmehr sah er dieses durch die Ausbildung neuer Netze von Privilegierung und Machtkonzentration bedroht. Mehrere Faktoren fiihrten zur Entmachtung des Sicherheitschefs und stellvertretenden Priisi-
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denten Aleksandar Rankovic 1966. Ein die Autoritat Titos eventuell bedrohender ,,Kronprinz" wurde damit ausgeschaltet. Es war ein Sieg des reformfreudigen Parteifliigels iiber die Konservativen. Rankovic stand fiir den Unitarismus, der zugleich groBserbische Ziige trug; seine Entmachtung offilete den Weg zur Dezentralisierung und Stlirkung der Eigenkompetenz der Teilrepubliken. Dem entsprach, dass dank einer Verfassungsfulderung 1968 der Nationalitiitenrat wieder als selbstfuldige Kammer neben Bundesrat und Produzentenrat trat. Der Sturz von Rankovic markierte auch eine Wende in der Politik gegeniiber den Albanem, die nun im Rahmen der Autonomie des Kosovo breitere Moglichkeiten der Entfaltung nationalen Lebens erhielten.
12.5. Jugoslawien - (k)ein Sonderweg zurn Sozialisrnus AbschlieBend sei nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten des sozialistischen Gesellschaftsmodells in Jugoslawien und in Lfuldem der so\\jetischen Hegemonialsphlire gefragt. Allein in Jugoslawien hat es einen nicht nur formalen Prozess der Dezentralisierung gegeben; das Modell der Arbeiterselbstverwaltung und die Ansiitze von Marktwirtschaft waren ein Spezifikum. Allein Jugoslawien hatte seit den sechziger Jahren offene Grenzen. Statt Repression gegen Dissidenten war damit zugleich der Weg in die Emigration leicht gemacht. Charakteristisch war das stark ausgepriigte Bewusstsein der Eigenstfuldigkeit Jugoslawiens; es war abgeleitet aus der zum Mythos erstarrten Erinnerung an den "Volksbefreiungskrieg", aus den vergleichsweise besseren Lebensbedingungen als in anderen sozialistischen Lfuldem und aus der auBenpolitischen Sonderstellung in der Blockfreiheit. Mit dem intemationalen Prestige Titos und seiner Popularitiit im Lande konnte sich kein Staatsoberhaupt eines anderen sozialistischen Staates messen. Doch Jugoslawien hatte auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit den Staaten im so\\jetischen Machtbereich: Die weltanschauliche Priimisse des Sozialismus und das Einparteiensystem setzten dem gesellschaftlichen Diskurs enge Grenzen. Es gab keinen institutionalisierten Pluralismus; die Rechtssicherheit war chronisch gefahrdet. AIle Freiheitsrechte waren nur "aufWiderruf" gewiihrt, solange sie nicht den Interessen von Partei und Armee widersprachen. Unabhfulgig vom fehlenden Zentralismus litt auch das jugoslawische Wirtschaftsmodell an Ineffizienz, mangelnder Rationalisierungs- und Innovationsfahigkeit. Das Streb en nach alliibergreifender Normierung und Kodifizierung f'iihrte zur Ausbildung einer hypertrophen Biirokratie. Es bestand eine groBe Diskrepanz zwischen dem formal erfilliten Anspruch, der gesamten Gesellschaft Partizipation an der politischen Willensbildung zu sichem, und der Praxis des Entscheidens in einem engen, durch personiiche Beziehungen gestalteten Machtkreis. Der fehlende Pluralismus und das Privilegiensystem verzogerten den Generationswechsel des Personals in der Elite und bedingten die Uberalterung der politischen Fiihrung. Wie die So\\jetunion hatte Jugoslawien scheinbar eine Losung der Nationalitiitenfrage gefunden. Das Bestehen der alten nationalen Identitiiten wurde nicht in Frage gestellt und fand in der fdderalen Gliederung seinen Ausdruck. Die Gemeinsamkeit der sozialistischen Lebensformen, der Staatserfahrung und der gesellschaftlichen und politischen
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Ziele sollten zugleich ein iibergreifendes Gemeinsamkeitsbewusstsein schaffen. Hier wie dort gab es die Ambivalenz zwischen fonnaler G1eichberechtigung aller Nationen und faktischem Ubergewicht einer Nation. Bis Mitte der sechziger Jahre hatte sich das sozialistische Gesellschaftsmodell in Jugoslawien konsolidiert, und das System hatte seine Identitat gefestigt. Die fUr aile sozialistischen Staaten charakteristische Spannung zwischen Bereichen forcierter Modernisierung und Bereichen der Modernisierungsblockade war noch durch die Erfolge des jugoslawischen Weges iiberdeckt. 1m Vergleich zum Jugoslawien der Zwischenkriegszeit wirkte das titoistische Jugoslawien viel stabiler und in sich gefestigter; die nationale Frage schien angemessen gelost. Der Staat hatte sich mit der FUhrungsrolle in der Blockfreienbewegung einen respektablen Platz in der Weltpolitik gesichert. In den zwanzig Jahren des Sozialismus war zwar das Nord-Siid-GefaIle im Lande nicht aufgehoben worden, doch waren ErhOhung des Lebensstandards, Ausbau des Bildungswesens, verbesserte medizinische Versorgung und soziale Sicherheit unbestrittene Errungenschaften. Und schlieBlich waren die gesellschaftlichen Freiriiume im Vergleich zu den Staaten der sowjetischen Hegemonialsphiire verhiiltnismiiBig groB. In den westlichen Liindem wurden die Selbstverstiindlichkeiten der Nachkriegsordnung erstmals in der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre hinterfragt, der Prager Friihling bedrohte 1968 die "aIte Ordnung" des Ostblocks. In diese Zeit des (versuchten) Generationswechsels fielen auch die ersten groBen Herausforderungen an die Tragfahigkeit des jugoslawischen Systems: die innerjugoslawische Studentenbewegung und der kroatische Friihling.
Literator
Werner Markert (Hg.), Jugoslawien, Killn-Graz 1954 (Osteuropa-Handbuch); Herwig Roggemann, Dos Modell der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, Frankfurt am Main 1970; Rudolf Bicanic, Economic Policy in Socialist Yugoslavia, Cambridge 1973; Klaus-Detlev Grothusen (Hg.), Jugoslawien, GOttingen 1975 (Siidosteuropa-Handbuch I); Dennison Rusinow, The Yugoslav Experiment 1948-1974, London 1977; Handbuch der europiiischen Geschichte, Bd. vn, 2, Stuttgart 1979, § 30, IT.; Alexander Stella, Church and State in Yugoslavia since 1945, Cambridge etc. 1979; Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918-1980, Stuttgart etc. 1982; Du§an BilandZic, Historija SFRJ. Glavni procesi 1918-1985, Zagreb 1985 (Geschichte der SFRJ. Wichtigste Prozesse 1918-1985); Peter Bartl, Grundzuge der jugoslawischen Geschichte, Darmstadt 1985; Ivo Banac, With Stalin against Tito. Cominform Split in Yugoslav Communism, Ithaca, London 1988; Sabrina P Ramet, Nationalism and Federalism in Yugoslavia, 19621991, Bloomington, Indianapolis 1992.
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13.1. Auf dem Weg zur Liberalisierung Die Absetzung des Verantwortlichen fUr innere Sicherheit, Aleksandar Rankovic, Anfang Juli 1966 oiInete in Jugoslawien den Weg zu breit gestreuten liberalen Refonnversuchen. Neben Edvard Kardelj und dem in Zagreb fiihrenden Vladimir Bakaric gaben dabei auch andere Rankovic-Gegner wie Mijalko Todorovic, Milentije Popovic, der friihere AuJ3enminister Koca Popovic oder Veljko Vlahovic in den entsprechenden Gremien von Staat und Partei den Ton an. Der Einmarsch der Sowjets und ihrer Verbiindeten in der Tschechoslowakei im August 1968 liell zusatzlich wieder das Gefiihl der auJ3eren Bedrohung aufkommen und brachte Bevolkerung und Regime enger zusammen. Die HoiInungen richteten sich auf mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie auf die Verwirklichung der im Prinzip schon auf dem Achten Parteikongress von 1964 verkiindeten Wirtschaftsrefonnen. Auch wenn Titos Praferenz fUr die zentrale Machtausiibung einige dieser liberalen Tendenzen nach 1971 wieder versiegen lieB, so sind doch injenen Jahren die Weichen fUr Jugoslawiens kiioftige Entwicklung bis hinein in die Zeit des Zerfalls gestellt worden. Aligemein gesprochen wurden die Kompetenzen der Republiken und Regionen gestiirkt. Freilich muss man hinzufiigen, dass sowohl die Liberalisierung wie die Stiirkung der Eigenstiiodigkeit in allen Landesteilen, auch in Serbien, Hand in Hand ging mit einem Hervortreten nationaler und sogar nationalistischer Gefiihle. Von den drei Machtfaktoren, auf denen Titos Herrschaftssystem beruhte - Partei, Polizei und Annee -, blieb keiner von den Entwicklungen der spiiten sechziger Jahre unberiihrt, und zwar ebenfalls auf Dauer. Das Parteigeschehen verlagerte sich zusehends in die Republiken und Regionen; die Fiihrungen in den Republiken bestimmten allmiihlich immer deutlicher die nationale Politik. Noch konnte damals unter Tito nicht von einer Umwandlung der zentralen Pru1:ei- und damit auch der Staatsgewalt in eine Reprasentanz der Republiken gesprochen werden, aber diese spatere Entwicklung bereitete sich vor. Die politische Polizei verwandelte sich nach dem Fall Rankovics in dezentralisierte Machtapparate der Republikfiihrungen. Das machte diese Polizei insgesamt nicht besser, aber zumindest abhangig von den konkreten Verhiiltnissen in den einzelnen Republiken und Regionen. Die Annee (JVA) schlieBlich, das privilegierte Liebkind Titos, fiihlte sich durch den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zwar in ihrer Wichtigkeit bestatigt, aber ihre strategische und riistungstechnische Ausrichtung an der Sowjetunion, die sich nach der Versohnung zwischen Tito und Chruschtschow 1955 angebahnt hatte, wurde gravierend gestort. Der Hauptvertreter dieser Richtung, Verteidigungsminister Ivan Gosnjak, musste gehen. Die neue Gefahr fUr Jugoslawien brachte breite politische Kreise und auch die Offentlichkeit auf den Gedanken, im Rahmen einer neuen Doktrin der
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"allgemeinen Volksverteidigung" den Partisanenmythos wieder zu beleben. Trager dieser neuen Verteidigungsstrategie wurden die Organisationen der Territorialverteidigung (TO), die weitgehend unter die KontroUe der Republikfiilirungen kamen. Schon damals passte diese Sache den fiihrenden Armeekreisen nicht; auch Tito, dessen foderalistische Gefiihle man nicht fiberschatzen soUte, musste sie offensichtlich eher miihsam abgerungen werden. 1973 hatte man versucht, dem gestiirzten liberalen slowenischen FUhrer Stane Kavcic einen Prozess anzuhiingen, wei! er angeblich versucht hatte, Waffenkaufe zwecks Bildung einer eigenen slowenischen Armee zu tiitigen. Der Geheimdienst der Armee, genannt "Gegenspionage-Dienst" (serbokroatisch abgekUrzt KOS), sab es allgemein als seine Aufgabe an, die nach 1966 unter den Einfluss der Republikfiihrungen geratenen politischen Polizeiapparate zu fiberwachen. Es wurde schon damals klar, dass die Armeefiihrung immer ein Hort dogmatischer und zentralistischer Tendenzen sein wiirde. Nirgends kam der Aufbruch nach 1966 kriiftiger und in all seinen Kombinationen umfassender zum Ausdruck als in Kroatien. Wiihrend der Jahre 1967 und 1968 stiegen sukzessive neue, jiingere Leute in die maBgebenden Partei- und Staatsamter auf, wie Mika Tripalo, Savka Dabcevic-Kucar oder Pero Pirker. Zuerst wurden sie von Bakaric gefordert, bis sie fUr seine und Titos Begriffe zu weit gingen. Nationale Gefiihle spielten von Anfang an eine wichtige Rolle. 1m Marz 1967 unterzeichneten 130 Intellektuelle und einige kulturelle Organisationen eine ,,Deklaration fiber Namen und Rolle der kroatischen Sprache", in welcher sie das ,,Abkommen" von Novi Sad aus dem Jahre 1954 fiber die gemeinsame "serbo-kroatische" oder ,,kroatisch-serbische" Sprache aufkiindigten und nur noch eine ,,kroatische Sprache" als die ihre anerkennen wollten. Mit dem maBgebenden Einsatz der neuen kroatischen Fiihrung wurden 1967 und 1968 Zusatze zur gesamtstaatlichen Verfassung angenommen, welche die Eigenstiindigkeit der Republiken und auch die Stellung des Parlamentes starkten. Die kroatische Reformbewegung erreichte 1970 und 1971 ihren Hohepunkt; sie ergriff Schichten weit fiber die Parteireihen hinaus und entwickelte sich zu einer richtigen Massenbewegung, genannt ,,Maspok" (fUr masovni pokret). Unter den fiihrenden auI3erparteilichen Exponenten befand sich Vlado Gotovac, der die Redaktion des von der ,,Matica Hrvatska" gestiitzten Hrvatski Tjednik leitete. Wichtig war die Rolle von Franjo Tudman, einem friiheren General und Historiker, der freilich Parteimitglied war. Nach der Niederwerfung des ,,kroatischen Friihlings" beabsichtigten die FUhrer der Zagreber "Gegenreformation", Tudman in einem groBen Schauprozess als Hauptangeklagten auftreten zu lassen, doch verbot ihnen Tito dies. Es ist schwer zu sagen, wo der ,,kroatische Friihling" genau hinzielte. Zuerst war vom Kampf gegen denjugoslawischen "Unitarismus" die Rede und von der Respektierung der kroatischen Tradition und Eigenstiindigkeit. In den spiiteren Phasen wurden Dinge wie die formale Wiederherstellung des kroatischen Staatsrechts verlangt, das heiBt, so etwas wie staatliche Selbstiindigkeit. Besonders die lebhafte studentische Opposition forderte eigenes Geld, einen eigenen UN-Sitz und iihnliches. Aber es war nie kIar, ob diese Forderungen zu einem "anderen Jugoslawien", zu einer Konfoderation oder letztlich aus Jugoslawien hinaus fiihren sollten. Manches wirkte als bloBe Emotion, wie ein "Sich-Luft-Machen"; manches zielte ins Leere, und manches rannte
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offene TOren ein. Wirtschaftliche Momente spielten eine gewisse Rolle, vor allem das Argument, Kroatien miisse wie Slowenienjedes Jahr groI3e Mittel in die unterentwikkelten Republiken abfUhren und werde deshalb in seiner eigenen Entwicklung behindert. Die in Kroatien lebenden Serben, rund 600.000 an der Zahl, fiirchteten schon damals urn ihre Rechte, die freilich oft Privilegien waren. All dies machte es Tito, der sich auf seine Armee voll verlassen konnte, schlieI3lich leicht, die Bewegung auf einer am 1. Dezember 1971 nach Karadordevo einberufenen kroatischen ZK-Sitzung zu eliminieren, indem er mit Unterstiitzung Vladimir Bakarics die Trager der Bewegung in der kroatischen Parteifiihrung zum Riicktritt zwang und deren Gegner an die Macht brachte. Es hatte zum Schluss oft so ausgesehen, als ob Tripalo und Frau DabcevicKucar bereits eher Getriebene als FUhrer waren. Vieles am ,,kroatischen Friihling" blieb ungekliirt, so zum Beispiel das lange Zuwarten sowohl Titos wie Bakarics. Tito nahm lange Zeit die kroatische Fiihrung gegen Angriffe aus anderen Republiken oder seitens der zentralistisch eingestellten Elemente in Schutz. Umso weniger verstandlich wirkte die Brutalitat, mit der die aktiven Anhanger d~r Reformbewegung nach Karadordevo dann verfolgt wurden. Rund 32.000 Leute, so hieI3 es spater aus amtlichen Quellen, seien damals verfolgt, diskriminiert (meist durch Entlassung) oder schikaniert worden. Gegen 1156 Personen (nach Tripalo ca. 2000) leitete man Strafverfahren ein, so gegen Tudman, Gotovac und den StudentenfUhrer Drazen Budisa. Tripalo und Frau Dabcevic-Kucar freilich blieben unbehelligt. Die "liberale Welle" zeigte auch in den anderen Republiken Wirkung. In Slowenien verband der Regierungschef der Republik, Stane Kavcic, ebenfalls politischen Liberalismus mit der Betonung nationaler Eigenstiindigkeit. Kardelj und Titos Giinstling in der slowenischen Parteifiihrung, France Popit, brachten ibn 1972 zu Fall, wobei Kardelj wohl eher das nationale Moment und Popit wohl eher den Liberalismus im Auge hatte. In Makedonien wurde der dortige ,,Liberale" Krsto Crvenkovski im gleichen Jahr gestiirzt. Dieser Akt brachte die alte Gruppe urn Lazar KoliSevski wieder voll an die Machthebel zuriick. Daraus ergab sich spater die enge Bindung Makedoniens an Serbien und an die Dogmatiker, die erst in den letzten Monaten Jugoslawiens wieder gelockert wurde. Die Folgen wirken jetzt noch nach, nicht zuletzt in Bezug auf das Verhiiltnis zu den makedonischen Albanem. Die nach Kroatien wichtigsten Umgruppierungen vollzogen sich in Serbien. AhnIich wie in Zagreb hatte sich nach Rankovics Fall, den iibrigens viele Serben aus nationalen GrUnden schon damals ungem sahen, eine Gruppe jiingerer und liberal eingestellter Leute in die oberen Parteietagen hinaufgearbeitet, voran der ehemalige AuI3enminister Marko Nikezic und die Historikerin Latinka Perovic. Diese Fiihrung hatte schon 1968 gleich zwei Stiirme zu bestehen: die Belgrader Studentenunruhen und die Unruhen im Kosovo. 1m Kosovo handelte es sich damals, wie auch Tito meinte, eher urn ein "Offnen der Ventile". Die Demonstrationen bahnten den Weg zur Bestatigung der Albaner in Politik und Verwaltung der Region; die serbisch-montenegrinische Vorherrschaft im Kosovo ging zu Ende. Von allen sogenannten "liberalen" Fiihrungen jener Zeit zeigte diejenige in Serbien am wenigsten die damals charakteristische Verbindung von Liberalismus und Nationalismus. Es war deshalb fiir Tito besonders leicht, sie 1972 zu stiirzen. Sie hatte inner-
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halb der serbischen Struktw-en wenig Riickhalt. Der von Tito als Nachfolger eingesetzte oder doch gefOrderte DraZa Markovic benahm sich zwar keinesfalls als blindwiitiger Unterdriicker, auch unter ihm herrschten in Serbien relativ liberale Verhaltnisse. Dafiir verstiirkte sich nach 1972 die nationale Komponente im serbischen Fiihrungsstil, wenn auch bei weitem nicht so wie spiiter unter Slobodan Milo§evic. Westliche Beobachter behaupten gelegentlich, mit der Absetzung von Nikezic und Perovic babe alles Ubel in Serbien begonnen. Sie iibersehen dabei, dass angesichts der zunehmenden nationalistischen Fixierungen diese Fiihrung sich wohl auch ohne Titos Zutun nicht lange hlitte halten konnen. So war Mitte 1972 der liberale Aufschwung ins Gegenteil umgeschlagen. Tito war bei dieser Gegenbewegung zweifeUos aktiv und fiihrend, wahrend er vorher dem ,,Liberalismus" eher passiv Raum gegeben batte. Unterstiitzt wurde Tito maBgeblich vom Exekutivsekretiir des Parteipriisidiums, dern Slowenen Stane Dolanc, der sich damit eine spiitere Karriere in Slowenien verbaute. Wieder einmal fielen damals retrograde Entwicklungen innerhalb Jugoslawiens mit einer Verbesserung des sowjetisch-jugoslawischen Verhaltnisses zusammen. Wie gewisse Errungenschaften der liberalen Epoche Wirkungen bis hinauf in die Spiitzeit Jugoslawiens zeitigten, so kann man riickblickend das gleiche, wenn auch im negativen Sinne, fUr gewisse Erscheinungen der Gegenbewegung sagen. Besonders schlimm wirkte sich die "antikroatische Politik in Kroatien" aus, das heiBt die Unterdriickung a priori aller als ,,national kroatisch" zu bezeichnenden Dinge. In dieser Beziehung muss man von einer Art Sonderrecht fUr Kroatien sprechen, denn in den anderen Republiken war man gegeniiber nationalen Besonderheiten ungleich offener. Diese Politik, getragen in Zagreb von Leuten wie Jure Bilic, Josip Vrhovec oder auch Milka Planinc, iiberlieB damit die nationale Repriisentanz anderen Institutionen, vor allern der katholischen Kirche. Sie diskreditierte den jugoslawischen Gedanken in Kroatien griindlich und definitiv. Dass diese Politik auch von zwei serbischen Politikern aktiv getragen wurde, von DuSan Dragosavac und insbesondere Milutin Baltic, machte die Sache alles andere als besser. 13.2. Die neue Verfassung
Nach all diesen Vorgiingen muss es verwunderlich wirken, dass nach einigen Diskussionen schon 1974 jene neue jugoslawische Verfassung angenommen wurde, welche das Land erst recht in ein fOderalistisches und zum Teil sogar konfOderalistisches Gebilde verwandelte. Sie soUte bis zum Zerfall Jugoslawiens giiltig sein. Sie war im Wesentlichen das Werk Edvard KardeIjs; nach dessen Intentionen soUte sie wohl vor allem eine Charta der Selbstverwaltung werden. Tatsachlich wurde sie mehr zu einem ideologischen Traktat statt zu einern brauchbaren Staatsgrundgesetz. Juristisch war sie voU von Unklarheiten und sogar Widerspriichen. Diese wirkten sich denn auch von dem Augenblick an verheerend aus, als die neue Verfassung sich mit wirklichern Leben erfiiIlte und ernst genommen wurde. Ihre politische Hauptbedeutung bestand darin, dass sie erstmals die Republiken konkret als "Staaten" definierte (Art. 3) und sogar ihre Grenzen garantierte. Daraus lieB sich die Souveriinitat der Republiken herleiten, samt
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ihrem Anspruch auf die bestehenden Grenzen. Beim Zerfall Jugoslawiens erwies sich dies auch international als von groBter Bedeutung. Ein Prozedere fUr den Austritt aus dem gemeinsamen Staat war indessen nicht festgelegt; nur in der Praambel war von dem leninistischen Prinzip des Rechtes aufLostrennung die Rede, freilich nicht fUr die Republiken, sondern fUr die VOlker, und auch dies ohne Verfahrensregeln. Die Freiheitsrechte der BUrger fanden sich in der Verfassung von 1974 nicht so wortreich behandelt wie die Rechte der Republiken und Regionen. Trotz ihrer Mangel hatte diese jugoslawische Verfassung die Grundlage fUr eine stabile Entwicldung auf foderalistischer wie auf demokratischer Grundlage abgeben konnen, unter der Bedingung, dass sie von allen ihren Gliedstaaten, auch von Serbien, respektiert worden ware. (-7Kap. 14) Es ist richtig, dass die serbische Fillmmg unter Draia Markovic schon in der Diskussion ihre Bedenken auBerte und sie in einem ,,Blaubuch" zusammenfasste. Es ging Serbien erstens um zu viel FOderalismus im Allgemeinen und insbesondere um die starke Stellung der beiden autonomen Regionen Kosovo und Vojvodina, beide innerhalb Serbiens gelegen. Diese beiden Regionen blieben zwar Teile Serbiens, aber ihre Autonomie war jetzt von der Bundesverfassung garantiert, und auf Bundesebene waren sie voll- und gleichberechtigte ,,konstitutive Faktoren" Jugoslawiens; sie hatten den gleichen Status wie die Republiken, also auch das sogenannte faktische Vetorecht, und ihre Vertreter stimmten in den Bundesgremien ohne Instruktion und ohne Abstimmung mit der Republik Serbien. Man kann diesen Status als "partielle Souverarutat" bezeichnen, und man wird ihn beriicksichtigen miissen, wenn nach einer endgilltigen Losung fUr die Kosovofrage gesucht wird. Einen formellen Status als "Staaten" hatten die Regionen freilich nicht. Es scheint deshalb unrealistisch, wenn 1986 im ,,Memorandum" der serbischen Akademie der Wissenschaften behauptet wurde, die verfassungsmiiBige Stellung der Regionen habe die Republik Serbien sozusagen ihres Staatscharakters beraubt und in eine "ungleichberechtigte Stellung" versetzt. Auch das Argument, wonach die Verfassung von 1974 ,,kommunistisch" und "undemokratisch" zustandegekommen sei, vermag kaum zu iiberzeugen. Die Verfassung ware wohl noch um einiges foderalistischer und demokratischer ausgefallen, wenn sie einer freien und gesamtjugoslawischen Abstimmung ausgesetzt gewesen ware. Die serbische Fillmmg und die serbischen Abgeordneten stimmten im iibrigen, nachdem ihre Bedenken nicht gehort worden waren, der Verfassung von 1974 ausdriicklich zu. Die starke Stellung der Republiken und Regionen griindete sich vor allem auf die Verankerung des Konsensprinzips im Parlament. Dessen beide Hauser, der proportional zur BevOlkerungszahl bestellte Bundesrat (Savezno Vece) wie der gleichmiiBig aus Vertretern der foderalen Einheiten zusammengesetzte Rat der Republiken und Regionen (Vece Republika i Pokrajna) waren delegierte Vertretungskorper dieser foderalen Einheiten. Sogar im Bundesrat, wo an sich Mehrheitsentscheide moglich waren, besagte Art. 294, dass Gegenstande, die "von allgemeinem Interesse" fUr eine Republik oder Region seien, ebenfalls dem Konsensprinzip und damit dem faktischen Vetorecht unterstellt werden miissten. Das Konsensprinzip konnte indessen auch unterlaufen werden, erstens durch Dringlichkeitsbeschliisse im Parlament oder NotmaBnahmen der Regierung, zweitens im hOchsten Staatsorgan, der Prasidentschaft der SFRJ, wo es nur bedingt galt, und drittens
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uber die Organe der Partei, wo es gar nieht galt. Das Staatspriisidiurn war, solange Tito lebte, ohnehin dureh die Priirogativen des Priisidenten der Republik in seinen Befugnissen eingesehr3nkt; spiiter traten die entspreehenden Verfassungsbestimmungen auBer Kraft. Aueh das Staatspriisidiurn war naeh Art. 330 eigentlieh an das Konsensprinzip gebunden; es bestand aus je einem Vertreter der Republiken und Regionen, dazu bis 1988 noeh aus dem jeweiligen Vorsitzenden des Bundesparteiprlisidiums. Aber es gab sieh noeh unter Tito eine Gesehliftsordnung, die davon abweiehend aueh in wiehtigen Fragen Mehrheitsbesehlusse erlaubte, sowohl solche mit einfaeher wie solehe mit qualifizierter Mehrheit. Die fiilirenden Parteigremien in Bund und Republiken arbeiteten nieht nur naeh dem Mehrheitsprinzip, sondern aueh naeh demjenigen des "demokratisehen Zentralismus". Das bedeutete, dass aIle Parteimitglieder, die in irgendwelehen Organen von Partei oder Staat saBen, verpfliehtet waren, sieh die BesehlUsse ihrer Parteigremien zu eigen zu maehen. 1m Grunde stand dieses System bereits im Widersprueh zur Verfassung von 1963, gesehweige denn zu deIjenigen von 1974. Naeh Titos Tod verlor der "demokratisehe Zentralismus" raseh an Bedeutung, aber es wurde bis hoeh in die aehtziger Jahre immer wieder versueht, damit Druck aufRepubliken und Regionen auszuuben. Die Zustimmung des ruter und krlinklieh werdenden Tito zur Verfassung von 1974 moehte wohl der Einsieht entspringen, dass er der foderalistisehen Grundtendenz in den meisten Republiken Konzessionen maehen mUsse. Zugleieh sehien er zu glauben, dass seine personliche Autoritlit und die verbliebenen zentralen Maehtapparate, besonders Partei und Armee, ausreiehen wfuden, urn die Wirkungen des staatliehen FOderalismus zu kompensieren. Diese Hoffnungen erfiillten sieh nieht. In den folgenden Jahren und dann besonders naeh Titos Tod foderalisierte sieh aueh die Partei. Schon in seinen letzten Lebensjahren konnte Tito seine Autoritat nur noeh bedingt ausuben. Dafiir wurde von den Leuten, die sieh naeh der Siiuberung unter den ,,Liberalen" urn ihn seharten, ein immer grotesker werdender Tito-Kult aufgezogen, der zusehends die Verbindung mit dem noeh lebenden Prlisidenten verlor. "Titova Jugoslavija" - das umfasste alles, was als Ausdruek jugoslawisehen Selbstgefiilils gelten sollte, yom Partisanenmythos uber die sozialistisehe Selbstverwaltung und den Vielvolkerstaat bis zur bloekfreien AuBenpolitik und zum Ansehen in der Welt. Als Tito dann Anfang Mai 1980 starb, hinterlieB er aueh eine gewisse Leere im gesamtjugoslawisehen Gefiilil. Die Jahre von 1974 bis zu Titos Tod waren Jahre der Stagnation. Immerhin hatte Tito, da aus den mittelmliBigen Jasagem in seiner Umgebung ein vollwertiger Naehfolger ohnehin nieht zu finden war, mit der VerkUndigung der ,,kollektiven FUhrung" und mit dem "einjlihrigen Mandat", das fUr alle hohen Bundesfunktionen gelten sollte, noeh, wie er meinte, gewisse Weichen fUr die Zukunft gestellt. Hier erfiillten sieh die Erwartung en ebenfalls nieht. Diejenigen Funktioniire, die sieh unter Titos Sonne auf eine Naehfoigerrolle in der FOderation vorbereitet hatten, Dolane etwa oder einige Leute aus Kroatien, erlitten ohne Ausnahme frUher oder spliter Sehifibrueh, und das maBgebende politisehe Leben verlagerte sieh in die Republiken. In die Intrigen urn die Naehfolge hatte sieh aueh Titos Frau Jovanka eingesehaltet. 1977 trennte sich Tito von ihr. Jugoslawiens AuBenpolitik in den siebziger Jahren sehwankte und vermoehte dem Land nur bedingt in der Welt einen Platz zuzuweisen. Die prowestliehe und europlii-
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sche Orientierung, wie sie nach Nikezic auch dessen Nachfolger als AuBenminister, Mirko Tepavac, versuchte, lehnte Tito abo Auch in seinen letzten Lebensjahren zeigten sich bei Tito die Sehnsiichte des friiheren Komintemfunktioniirs, der sich im Grunde nie gegen die Sowjetunion, sondern gleichberechtigt an ihre Seite stellen wollte. Diese Stellung aber hatten ibm nach 1955 die Sowjets weder im Balkan noch in Osteuropa und schon gar nicht innerhalb der kommunistischen Weltbewegung allgemein zubiIligen wollen. Breshnew verweigerte sie ibm auch innerhalb der Bewegung der Blockfreien. Es dauerte freilich bis zu dem Blockfreientreffen von 1979 in Havanna, bis Tito die Konsequenzen zog. In den Siebzigerjahren hatte Jugoslawien zunehmend Probleme mit seinen Emigranten, mit Kominformisten ebenso wie mit Antikommunisten. Die Altemigranten hatten Nachwuchs aus den Reihen der Gastarbeiter erhalten. Jugoslawien versuchte sich gegen die Aktivitiiten dieser Leute zu wehren, indem es seinerseits ungesetzliche Akte in westlichen Staaten unternahm, so in der Bundesrepublik Deutschland. Vnter der Bonner sozialdemokratisch-liberalen Koalition waren die Beziehungen zu Jugoslawien lange eine Art interne sozialdemokratische Parteisache gewesen, getragen von nicht zu brechender Sympathie. Diese flaute selbst dann nicht ab, als offene Verbindungen zwischen der jugoslawischen VDBA (Sicherheitsdienst) und dem internationalen Terrorismus zutage traten. Tito besuchte 1978 nochmals die Vereinigten Staaten; der Besuch brachte eine Art "Normalisierung", aber aufDistanz und ohne Festlegung Jugoslawiens. Nach den erfolgreichen Sechzigerjahren brachte die Erdolkrise in der ersten Hiilfte der Siebzigerjahre erste ernsthafte Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Bereich. Der Grund dafiir mochte darin liegen, dass die jugoslawische Fiihrung, statt die hOheren Erdolpreise und andere Preissteigerungen auf dem Weltmarkt an die eigene Bevolkerung weiterzugeben, aus politischen GrUnden so weiter wirtschaftete wie bisher. Das fehlende Geld begann man mit auslandischen Krediten abzudecken. Schon 1976 betrug Jugoslawiens auslandische Schuld 5,7 Mrd. Dollar. In der Zeit des von 1976 bis 1980 laufenden Gesellschaftsplanes wurde so verfahren, dass Bund und Republiken ihren ,,Bedari" anmeldeten; was nicht aus eigenen Quellen gedeckt werden konnte, nahm man im Ausland auf. Als Tito starb, standen die Auslandsschulden Jugoslawiens bereits bei 15 Mrd. Dollar und bewegten sich rasch auf die rund 20 Mrd. zu, die sich bis zuni Ende Jugoslawiens halten sollten und von denen ruinose Wirkungen ausgingen. 13.3. JugosJawieo ohoe Tito
Nach Titos Tod am 4. Mai 1980 hatte die kollektive Nachfolgefiihrung die Moglichkeit gehabt, sich demokratischen Wegen und wirtschaftlichen Reformen zu ofi"nen. Statt dessen untemahm sie das Gegenteil; sie verwickelte sich bewusst in neue Konfrontationen, we1che alte Probleme noch verschiirften. In Kroatien wanderten Tudman, Gotovac, Marko Veselica und andere wieder ins Gefangnis, und der Streit mit der katholischen Kirche urn den Erzbischofwiihrend des Zweiten Weltkrieges, Kardinal Alojzije Stepinac, wurde - statt in den Handen der Historiker zu landen - wieder auf die politi-
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sche Biihne gezerrt. Wer demokratische OfInung veriangte, wurde als Staatsfeind behandelt, sogar im damals noch relativ liberalen Serbien. 1983 holte das Regime in Sarajevo zu einer Abrechnung mit dem erstarkenden Islam aus; zu den im Rahmen eines stalinistisch aufgezogenen Prozesses verurteilten Angeklagten gehorte auch der spatere Prasident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegovic. 1m wirtschaftlichen Bereich lieB sich die Refonnfeindlichkeit des nachtitoistischen Regimes selbst durch Katastrophen nicht erschiittem. Das von Kardelj 1976 ausgearbeitete Betriebsverfassungsgesetz hatte die wirtschaftlichen Untemehmen weitgehend atomisiert, mit den entsprechenden Folgen fUr Wettbewerbsfahigkeit und Investitionspolitik, und sie zugleich, je nach GroBe, unter die Kontrolle der Republiken, Gemeinden oder sogar des Bundes gestellt. Manager und Banken sollten keine "entfremdeten Zentren der Macht" sein, Konkurrenz fUr die Funktioniire. Kein Wunder, dass dieses System den politischen Machthabem auf allen Ebenen gefiel. AufhOherer Ebene und vor allem unter unabbiingigen Wirtschaftswissenschaftlem, wie Branko Horvat und Marijan Korosic in Zagreb, Alexander Bajt in Ljubljana oder dem spateren Prasidenten Makedoniens Kiro Gligorov, sab man die Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Refonnen, aber in den politischen Rangen blieb es bis zur Endphase Jugoslawiens bei Lippenbekenntnissen. Ende 1981 wurde unter der Leitung des damaligen Vorsitzenden der Staatspriisidentschaft, des Slowenen Sergej Krajgher, eine breite Kommission fUr Wirtschaftsrefonnen eingesetzt, die spater noch durch eine Kommission fUr politische Refonnen ergiinzt wurde. Aber ihre Arbeit versandete zwei oder drei Jahre spiiter. Charakteristisch war, dass sich die politischen Fiihrungsgremien, sowohl das Parteiprasidium wie das Zentralkomitee und sogar das Staatsprasidium, mit Wirtschaftsfragen moglichst wenig belasten wollten. Diese iiberlieBen sie der Regierung, Bundesexekutivrat genannt. Deren Stellung im jugoslawischen Verfassungssystem war indessen ausgesprochen schwach; sie war ein ausfiihrendes Organ und praktisch beschriinkt auf die Wirtschaftspolitik. Es machte wenig Sinn, wenn spater die westIichen Diplomaten im letzten Regierungschef Ante Markovic den Retter Jugoslawiens sehen wollten. 1m Mai 1982 kniipften sich einige HofInungen an die neue Regierung unter der kroatischen Politikerin Milka Planinc, aber deren Refonnversprechen, gemacht wohl unter der Drohung eines offenen Staatsbankrottes, zerflossen bald in nichts. Stattdessen gab es neue administrative MaBnahmen wie eine Gebiihr fUr Auslandsreisen, rigorose Zollvorschriften und zentrale Devisenbewirtschaftung, alles Dinge, die besonders in den westlichen Republiken zunehmend Jugoslawienverdrossenheit erzeugten. Mit der im Mai 1986 eingesetzten Regierung unter dem kroatisch-bosnischen Politiker Branko Mikulic gewannen die reformfeindlichen und sogar retrograden Tendenzen vollends die Oberhand. Mikulic dachte administrativ und zentralistisch; er hatte schon die Regierung Planinc in diese Richtung zu lenken versucht. Ober die Empfehlungen des Wiihrungsfonds setzte er sich zwei Jahre lang hinweg. Fiir ibn waren sie Ausdruck "fremden Druckes". 1m Friihsommer 1988 waren die Verhiiltnisse freilich wieder einmal so, dass auch Mikulic einsehen musste, dass es auf den bisherigen Wegen nicht weitergehen konnte. Er brauchte neue Kredite, und der Wiihrungsfonds wollte sie ohne marktwirtschaftliche Refonnen weder geben noch empfehlen. AuBerdem forderten Slowenien und Kroatien seinen Riicktritt. Als sich Mikulic indessen endlich zu Refonnen
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entschloss, war es Serbien, das ibm einen Strich durch die Rechnung machte. Ende 1988 musste er zuriicktreten. Sein Nachfolger, der reformistisch eingestellte Kroate Ante Markovic, kam zu spat. Die Verhaltnisse in Jugoslawien waren fixiert; Serbien unter Milosevic war staatskapitalistisch geworden, und die anderen Republiken mussten jetzt angesichts der politischen Entwicklungen im Gesamtstaat in erster Linie auf ihre eigenen Interessen sehen. MaBgebender Trager der reformfeindlichen Tendenz in den Jahren nach Titos Tod war die Armeefiihrung. Das von Tito verwohnte Armee-Establishment betrachtete sich sozusagen als kollektive Nachfolgeinstitution und als Gralshiiter der reinen Lehre. Die Armeefiihrung hatte einen Sitz im Bundesparteiprasidium und sorgte sehr dafiir, dass dieses oberste Parteigremium - im Gegensatz manchmal rum Zentralkomitee - einer ausgesprochen dogmatischen Linie verpflichtet blieb. Die Armee war somit nicht nur ein militarischer, sondem auch ein politischer und, wegen der Riistungsbetriebe, so gar ein wirtschaftlicher Faktor. In der Offentlichkeit fiihrte der Altpartisanenverband (SUBNOR) eine oft verleumderische und erpresserische Kampagne gegen neue Meinungen und ihre Trager. Die Vertreter der Armee in Parteiprasidium und Zentralkomitee konnten, mit oder ohne Berufimg auf den formalen demokratischen Zentralismus, stets mit Drohungen und Druckmitteln arbeiten. Eine fiir das Schicksal Jugoslawiens folgenschwere Konfrontation freilich wurde der nachtitoistischen Fiihrung ohne deren eigenes Zutun aufgezwungen: die Revolte im Kosovo. Am 11. Marz 1981 kam es in der Universitatsmensa von Pristina zu einer Demonstration, die immer weitere Kreise zog und schlieBlich das ganze jugoslawische System erschiitterte. Bis rum heutigen Tage ist nicht ganz klar, was die jungen, meist intellektuellen albanischen Demonstranten wollten. Ihre vordergriindige Parole war "Kosova-Republika". Objektive Griinde fiir Proteste bestanden aber kaum. Das albanische Element hatte sich im Kosovo durchgesetzt, die Autonomie war gesichert und die wirtschaftlichen Verhaltnisse, obschon zuriickgeblieben, besserten sich, mit Zuschiissen aus dem iibrigen Jugoslawien. Man muss annehmen, dass die Gruppen, die hinter den Demonstrationen standen, aus einer Mischung von nationaler Vereinigungsromantik mit Vorstellungen eines Steinzeitkommunismus, wie er im Albanien Enver Hodschas herrschte, handelten (7 Kap. 8). Es waren indessen letzten Endes nicht die Demonstrationen der Albaner, we1che das Kosovo rum Krebsgeschwiir und zur tOdlichen Wunde fiir Jugoslawien machten, sondem die serbischen Reaktionen und die Art, wie die Kosovofrage ab etwa 1985 angegangen und danach von der neuen serbischen Fiihrung unter Milosevic politisch ausgeschlachtet wurde. Zu Beginn noch verlangten die Vertreter der Serben im Kosovo, unterstiitzt aus Belgrad, dass die verantwortlichen BehOrden des Kosovo fiir "Ordnung" sorgten. Azem Vllasi, typischer Vertreter der jiingeren, jugoslawisch orientierten albanischen Fiihrungsschicht, versuchte mit einer Repressionspolitik gegen die angeblichen ,,Nationalisten" das Kosovo wieder ,Jugoslawienfahig" zu machen. Aber spatestens bei seiner Emennung rum Parteichef des Kosovo im Friihling 1986 musste er einsehen, dass nunmehr die serbische Seite gar nicht mehr an "Ordnung" im Kosovo interessiert war, sondem nur noch daran, dass sie wieder die Ziigel in die Hand bekam. Jetzt war es Belgrad, das die Serben des Kosovo instrumentalisierte. Es ging um die Beseitigung der Autonomie, die dann auch 1989 gewaltsam abgeschafft
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wurde. Damit hatte sich das Serbien Milosevics offen deklariert, und Jugoslawien, reprasentiert durch eine schwachliche Bundesgewalt, hatte nicht nur im Kosovo, sondem allgemein in Bezug auf wichtigste Staatsgrundsatze wie FOderalismus und VerfassungsmiiBigkeit abgedankt. Literatur
Fur den behandelten Zeitabschnitt sind besonders folgende Studien zu empfehlen: Du§ko Doder, The Yugoslavs, New York 1978, eine aus guter Einsicht in Land und Leute geschriebene Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Verhaltnisse Jugoslawiens. Speziell zurn politisch-iikonomischen Hintergrund: Marijan Koro§ie, Jugos/avenska Kriza, Zagreb 1988; und Harold Lydall, Yugoslavia in Crisis, New York: Oxford University Press 1989 und das Standardwerk: Dennison Rusinow, The Yugoslav Experiment, London 1977. Von den Gesamtdarstellungen unter anderem zu empfehlen: als eine kurze nutzliche Einfiihrung, Christine v. Kohl, Jugoslawien, MUnchen 1990; Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurcie, MUnchen 1995, mit der Analyse der jugoslawischen Wirtschaftskrise in den achtziger Jahren; Jou Pirjevec, Jugoslavija, Koper 1995; Sabrina P. Ramet, Balkanbabel, Boulder 1996. Von den inliindischen Gesellschaftsanalysen zu empfehlen: Jovan Mirie, Sistem i Kriza, Zagreb 1984; Latinka Perovie, Od centralizma do jederalizma, Zagreb 1984 (Vom Zentralismus zurn Fiideralismus); Zarko Puhovski, Socijalisticka konstrukcija zbilje, Zagreb 1990 (Die sozialistische Konstruktion der Wirklichkeit); Vesna Pusie, Vladaoci i upravljaci, Zagreb 1992 (Die Machthaben und die Regierenden); Josip Zupanov, Margina/ije 0 druStvenoj krizi, Zagreb 1983 (Marginalien uber die gesellschaftliche Krize); Ljubomir MadZar, Suton socijalistickih privreda, Beograd 1990 (Die Diinunerung der sozialistischen Wirtschaft). AuBerdem zu empfehlen sind die Erinnerungen uber die Ereignisse der 70er Jahre von Savka DabCevie Kucar, '71: hrvatski snovi i stvarnost, Zagreb 1997 ('71: Die kroatischen Triiume und die Wirklichkeit)
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1m Europa des ausgehenden achtzehnten und vor allem des neunzehnten lahrhunderts strahlte der nationale Gedanke von den fiihrenden nationalpolitischen Zentren (Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Bohmen, Ungarn) auch in den siidslawischen Raum aus. Bedingt durch die historisch-politische Lage der siidslawischen Volker, die in fremden Reichen nur wenige oder gar keine eigenen politischen Institutionen und auch keine Moglichkeit der politischen Integration hatten, wurde zunachst hauptsachlich die deutsche nationale Ideologie, also die Ideen des Volkstums und der Volkssprache, rezipiert. In dieser Phase des so genannten Sprachnationalismus (Miroslav Hroch) spielten Herders Vorstellungen iiber die Urspriinglichkeit der Volker und der Volkssprachen sowie seine "Ideen zur Philo sophie der Geschichte der Menschheit" eine Rolle, wenn auch keine geradlinige und eindeutige. Dominant war in der Griindungsphase der nationalen Integration der Gedanke der Konstituierung einer Kulturnation und einer Schriftsprache, wobei sich die Idee eines "Volksorganismus" in der Auffassung von einem ,,Erwachen" oder einer "Wiedergeburt" (preporod) des Volkes spiegelt. Als es dann in einer spateren Phase um die Ausformulierung des politischen Nationalismus ging, der die Ideologie der nationalen Identitat mit nationaler Emanzipation, politischer Selbstandigkeit, Sezession und Griindung eines eigenen Nationalstaats in den Vordergrund riickte, kam der Einfluss der (franzosischen) politischen Auffassung von der Nation zumZuge.
14.1. Der IlIyrismus und seine Grenzen In dem zum Habsburgerreich gehorenden siidslawischen Raum waren Modernisierungsund Integrationsideen von Anfang an durch besondere Komplexitat gekennzeichnet. Geschichtlich gepriigt war dieser Raum namlich nicht nur durch die ZugehOrigkeit zu Osterreich-Ungarn, sondem auch durch die osmanische Herrschaft, die groBe Diskontinuitiiten und ethnische Verschiebungen hervorgebracht hatte. Die nationalen Integrationsbewegungen waren immer von den jeweiligen Beziehungen zu den beiden Reichen beeinflusst. So standen die ersten Vorstellungen von den Siidslawen als einer autochthonen Balkanbevolkerung mit in die Antike zurUckreichenden Wurzeln unter dem Einfluss der Renaissance und der humanistischen Tradition. Aus dieser Zeit stammt der Name Illyrer fUr die Siidslawen und den von ihnen bewohnten Raum (erstmals 1441, " ... sermone illiriacho seu Sc1avonico"). Der aus Hvar stammende Humanist, Historiker und Theologe Vinko Pribojevic (Vincentus Priboevius), der in seinem Werk De origine successihusque Slavorum (Venedig 1532) auch die vorslawischen Volker (samt Alexander dem GroBen und den romischen Kaisem aus dem Illyricum) zu Slawen erkliirte, gilt als
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Vorlaufer der siidslawischen Einigungsidee. Die Ideen der sUdslawischen Gemeinsamkeit ("Wechselseitigkeit" - uzajamnost) sind vor dem Hintergrund der osmanischen Eroberungen und der dadurch bedingten Unterbrechung der Kommunikation zwischen den siidslawischen Volkem zu sehen. Hinzu kam der Einfluss des Protestantismus, dessen "Sprachpraxis" sich nicht nur in den ersten Bibeliibersetzungen auBerte, sondem auch im Bemiiben, die Bevolkerung in deren Sprache zu erreichen, vor allem die Slawen unter osmanischer Herrschaft. GroBe Wirkung ging von den kurzlebigen napoleonischen Illyrischen Provinzen aus, die am Anfang des 19. Jahrhunderts von Osterreich abgetrennt und Bestandteil des franzosischen Kaiserreiches waren: Westkiimten, Krain, Gorz, Triest, Fiurne, Dalmatien und ein Teil Nordwestkroatiens. Die Ideen der Aufkliirung und der Franzosischen Revolution beeinflussten die sich im Umbruch befmdlichen kroatischen und die sich erst bildenden slowenischen und serbischen Eliten. Mit der Ablosung des F eudalsystems und den zaghaften biirgerlichen Entwicklungen bekamen die Bemiibungen urn eine kulturelle und sprachliche Integration ihre programmatische Ausrichtung. So entstand in den Jahren 1835-1848 in Kroatien die illyrische Bewegung der nationalen Wiedergeburt zur Abwehr des magyarischen Drucks. Sie hatte ihre Anhiingerschaft unter dem verarmten Adel und den allmiihlich erstarkenden Biirgerschichten. Schon die Vorkiimpfer der Bewegung erkannten, dass die Affirmation der Volkssprache als offizielle Schriftsprache ein Bollwerk gegen die Magyarisierung sein konnte. Die GrUnder des Illyrismus Ljudevit Gaj (1809-1872) und Graf Janko Draskovic (1770-1856) standen unter dem Einfluss panslawistischer Vorstellungen der westslawischen Sprachwissenschaftler Jan Kollar und Pavel 1. Safarik iiber eine "slawische Wechselseitigkeit", die zu einer Integration der Slawen nach vier Sprachen bzw. Volksgruppen - einer russischen, polnischen, tschechischen und serbischen bzw. illyrischen - fiihren sollte. Die Idee einer sprachlichen und ethnischen Verwandtschaft der Siidslawen war bereits durch die kroatische Tradition vorgepragt, mit der der Illyrismus als vereinbar galt. Der illyrische Name als ein gemeinsamer BegrifIfUr aile Siidslawen widersprach nicht dem kroatischen Namen, und man ging davon aus, dass auch Serben mit einem ,,gemeinsamen Familiennamen" neben ihrer Bezeichnung als Serben einverstanden sein konnten. (~ Kap. 3) 1830 schlug Gaj in seiner Schrift Kurze Grundlage der kroatisch-slawischen Rechtschreibung vor, eine einheitliche Orthographie fUr aile Siidslawen unter Verwendung des lateinischen Alphabets zu bilden, womit fUr diese der Weg zu einer einheitlichen Schriftsprache gebahnt werden sollte. DraSkovic legte 1832 in der Flugschrift Disertacia, die Ratschlage fUr die kroatischen Abgeordneten im ungarischen Landtag enthielt, in stokavischer Sprache die politischen Ziele des Illyrismus (Idee von einem "GroBillyrien" bzw. einem illyrischen Konigreich) erstmals programmatisch dar. 1m Hintergrund der Ideologie des Illyrismus und des Strebens nach einer vereinheitlichten Sprache auf der stokavischen Grundlage standen reale historische Probleme, die besonders die Kroaten betrafen, denn sie hatten bis dahln drei Literatursprachen entwickelt (neben der stokavischen die cakavische und kajkavische) und im politischen Sinn unter groBer Zersplitterung und in regionalem Partikularismus gelebt. (~ Kap. 16) Das Endziel der Illyristen, niimlich die Bildung einer einheitlichen ethnisch-sprachlichen Ge-
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meinschaft der Siidslawen auf der Grundlage einer gemeinsamen Schriftsprache und eines einheitlichen "illyrischen" Nationalbewusstseins scheiterte sowohl im politischen als auch im iibergreifenden ideologischen Sinne. Gleichwohl trug die illyrische Ideologie wesentlich zur Schaffimg der modemen kroatischen Kultumation bei. Der Illyrismus breitete sich auch unter bosnischen Kroaten und etwas spater in Istrien aus; unter anderen siidslavischen Volkem hatte die illyrische Bewegung wenig Anhanger. Die slowenische Wiedergeburt begann als Widerstand gegen die starken Germanisierungstendenzen und setzte mit der Erforschung der Sprache und Geschichte sowie der Sammlung von Volksliedem ein. Die zweite Phase stand unter dem Einfluss des Sprachforschers Jemej Kopitar (1780-1844), der sich aktiv urn die Vermittlung Herders und urn das Sammeln von Volksliedem bemiihte, wozu er auch Vuk Karadzic ermunterte. Kopitar war F orderer einer siidslavischen Einigung, die sprachlich in einer slowenisch-kajkavischen (-kroatischen) und einer serbisch-stokavischen (-kroatischen) Variante standardisiert werden sollte. Doch iiber so1che Ideen war die Zeit schon hinweggegangen. In Ljubljana, das als kurzzeitige Hauptstadt der Illyrischen Provinzen in rasantem Tempo Stromungen aus dem Westen, vor allem aus der deutschen Romantik und dem italienischen Risorgimento aufnahm, etablierte sich die slowenische Volkssprache als Schriftsprache und fand ihren Ausdruck in der Dichtung des France PreSeren (1800-1849), der bis heute als der groI3te slowenische Dichter bezeichnet wird. Zwar gab es zwischen Preseren und der illyrischen Bewegung eine rege Beziehung, vermittelt vor aHem durch den slowenischen Illyrismus-Anhanger Stanko Vraz (der sich der ,,illyrischen", d. h. stokavischen Sprache bediente), sie beschrankte sich aber letztendlich auf die Orthographie und filhrte hier zur Ubemahme der kroatischen Vorschlage. (7 Kap. 2) Auch bei den Serben konnte sich der Illyrismus nicht etablieren. In Ungam entwikkelte sich Ende des 18. Jahrhunderts ein serbisches Bildungsbiirgertum, das fUr die Einfliisse des Westens offen war und sich von der iibermachtigen Autoritat der orthodoxen Geistlichkeit allmahlich abwandte. Zaharia S. Orfelin (1726-1785) aus Siidungam (Vojvodina) gab die erste Zeitschrift heraus (Slaveno-serbskij magazin, 1768), die sich allerdings noch des Kirchenslawischen bediente. In Wien erschienen Ende des 18. Jahrhunderts mehrere serbische Zeitungen, Vorboten eines kultureHen Aufschwungs, der Anfang des 19. J ahrhunderts seinem Hohepunkt zustrebte, zumal nachdem 1826 in Buda die zentrale nationale Kultureinrichtung - die Matica srpska - gegriindet wurde. Von diesem Gebiet in Siidungam aus, das Verbindungen in das sich entwickelnde Nordserbien hatte, bildete sich eine modeme serbische nationale Identitat. Jedoch standen die damaligen Eliten, zogerlich in der Aufnahme westlicher Einfliisse, der Erhebung der Volkssprache in die Schriftsprache ablehnend gegeniiber. Auch nachdem der Sprachreformator Vuk Stefanovic Karadzic (1787-1864) mit der kirchenslawischen Tradition gebrochen und durch die Standardisierung der serbischen Volkssprache (1818 erschien sein Serbisches Worterbuch) den Weg fUr die volkssprachliche Literatur freigemacht hatte, gab es noch lange Widerstand gegen diese Sprachpraxis. Die integrativen Impulse, die KaradZic von seinem Mentor Kopitar iibemahm, bekamen in seiner Sprachideologie eine andere Wendung. Wahrend bei anderen Integrationisten das Stokavische als gemeinsamer Nenner einer Standardsprache fUr verschiedene siidslawische
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Volker begriffen wurde, erkliirte KaradZie aIle Stokavisch sprechenden Siidslawen zu Serben. So zielte eine einheitliche Schriftsprache auf die Ausbildung einer nicht mehr konfessionell, sondern national-emanzipativen Identitlit der Serben und fiihrte zum nationalen Projekt der serbischen Staatsbildung. Schon bei den Wegbereitem der modemen serbischen Nation, dem Metropoliten Jovan Rajie (1726-1801) und dem ersten weltlich orientierten (und im Westen ausgebildeten) serbischen Aufkllirer Dositej Obradovie (1739-1811) waren die Einheitsvorstellungen gesamtsiidslawischer Art instrumentell an die engeren serbischen Nationalziele gebunden. 14.2. Jugoslawismus zwischen Gro8serbentum und erneuertem Dlyrismus So wie in der Illyrischen Bewegung eine ideologische Doppelstruktur zu beobachten ist, war auch die jugoslawische Idee von zwei Tendenzen geprligt: der siidslawisch integrativen einerseits und einer die nationale Besonderheit bewahrenden andererseits. Die ideologischen Entwiirfe standen, von ihrem Anfang im 19. Jahrhundert an, zu den jeweiligen nationalen Problemen in einem bestimmtenVerhliltnis und wurden als Instrument fUr deren Losung begriffen. Impulse des Panslawismus bzw. der siidslawischen Einigungsideale wurden von den serbischen Eliten zwar aufgenommen, aber vor dem Hintergrund anderer historischer Faktoren als bei Kroaten und Slowenen. Das betraf ebenso die Serben in der Donaumonarchie, deren Neuansiedlung nach der Migration aus dem Osmanischen Reich auBerhalb der historischen serbischen Gebiete unter besonderen rechtlichen Bedingungen erfolgte. Vor allem die Erringung der politischen Unabhlingkeit in Serbien selbst, das ab 1830 ein Ffu"stentum unter osmanischer Oberhoheit war, spielte bei den integrativen Projekten eine groBe Rolle. So waren die serbischen Konzepte zur siidslawischen Integration schon Teil der nationalstaatlichen Politik, bei der auch die so genannte "orientalische Frage" und die Politik der GroBmlichte, die sich urn die Verteilung der Erbmasse des Osmanischen Reiches rissen, von Bedeutung waren. Vor diesem Hintergrund entstand in Kreisen der polnischen Emigration der Plan zur Schaffung eines siidslawischen Staates auf den osmanischen Ruinen der Balkanregion. Er bestand ursprunglich aus einem Konzept fUr die AuBenpolitik des Ffu"stentums Serbien (Plan za slovensku politiku Srbije), das sich die Sammlung siidslawischer Llinder urn Serbien als Ziel gesetzt hatte. Aus diesem geheimen Entwurf machte der serbische Innenminister Ilija Garasanin (1812-1874) im Jahre 1844 eine zunlichst ebenfalls unveroffentlichte Fassung, die unter dem Namen Nacertanije als das erste groBserbische Projekt bekannt geworden ist. Nach diesem Entwurf sollte sich Serbien in seinem Vereinigungswerk hauptsachlich aufjene "Siidslawen" beschrlinken, die noch unter tiirkischer Herrschaft waren; die Serben in der Donaurnonarchie sollten im kulturellen Sinne integriert werden. In Garasanins Konzept kamen territoriale Wiinsche klar zum Ausdruck: nicht nur Bosnien-Herzegowina, Montenegro, ,,Altserbien" (Kosovo und Sandschak), sondem auch - wegen des Zugangs zum Meer - Nordalbanien wurde zum Expansionsraurn gerechnet. Uberall, wo im ursprunglichen Text von "Siidslawen" die Rede war, spricht Garasanins Version von "Serben". (~ Kap. 6, ~ Kap. 10). Abweichend auch von
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der anti-russisch intonierten urspriinglichen FassWlg nahm Garasanin Russland gegeniiber eine freWldliche HaltWlg ein. Sofem also die integrativen siidslawischen Ideale in den serbischen national-politischen Raurn Eingang fanden, erfuhren sie eine programmatische UmwandlWlg im Sinne der serbischen ,,Machtrason" Wld eine "charakteristische serbisch nationalistische Reduktion" (SchOdl). Auch Svetozar Miletic (1826-1901), einer der hervorragendsten serbischen Politiker im 19. JahrhWldert Wld FUhrer der Serben in Ungam, wurde von den Ideen des Allslawenturns beeinflusst. 1m Rahmen seiner politischen Wld kulturpolitischen Tatigkeit in der Donaurnonarchie hatte er ausgehend von den Idealen der Franzosischen Revolution ein konfoderatives Konzept fUr Osterreich entwickelt, demgemaB aIle seine 11 Nationen gleichberechtigt sein sollten. Doch dieses Jugendkonzept, in dem die Gleichberechtigung der Slowenen, Kroaten Wld Serben postuiiert war, wich bald einer irredentistischen Idee der Vereinigung Wlter national-serbischem Vorzeichen als Zusammenschluss mit Serbien Wld den Serben aus Bosnien-Herzegowina. Dieses Projekt der Vereinigung des Serbenturns, das Miletic zum Gegner der konstitutionellen politischen Konzeptionen der siidslawischen Vereinigung in der Donaurnonarchie (Trialismus) machte, miindete im ,,hegemonialen GroJ3serbismus", der wiederurn "flieJ3end in den unitarischen Jugoslawismus iiberging" (Behschnitt). Eine Korrektur der hegemonistisch groBserbischen AusrichtWlg der jugoslawischen Idee kam yom linken Fliigel des serbischen politischen Spektrums, das von Miletic angefiihrt wurde. Der sozialistische Theoretiker Wld Politiker Svetozar Markovic (1846-1875) entwarf in seinem Werk Serbien im Osten (1872) eine Konzeption der ,,Foderation der VOlker". Der Nationalismus Markovics, der als erster den Begriff GroBserbien ("Velika Srbij a") im Zusammenhang mit Gebietsanspriichen in Bosnien-Herzegowina gebraucht hatte, war funktioneller Art, weil er den nationalen BefreiWlgskampf als den Anfang einer EntwicklWlg begriff, die beschleunigt zum Sozialismus fiihre. Deshalb war er ein Gegner der groBserbischen Politik des Fiirsten. Die Vereinigung des gesamten Serbenturns sollte nach Markovic ein Katalysator der sozialen Revolution sein, die als Ziel eine egalitiire Gesellschaft und eine Balkanfoderation hatte, in die das vereinigte Serbenturn nach den Prinzipien der GleichberechtigWlg mit anderen VOikem eingebWlden werden sollte. Mit den Konzeptionen einer iibergreifenden siidslawischen Integration des einflussreichen Bischofs von Dakovo, Josip Juraj Strossmayer (1815-1905), Wld seines Mitstreiters, des wichtigsten kroatischen Historikers des 19. Jahrhunderts, Franjo Racki (1828-1894), erlebten die GrWldgedanken des Illyrismus eine modemere Neuauflage. Es handelte sich dabei urn eine "qualitativ neue ErscheinWlg" (Gross). Der von Racki eingefiihrte Begriff des Jugoslawismus (Jugoslovjenstvo) erhielt seine klassische FormuliefWlg als kulturelles Modell gesamtsiidslawischer Integration. Durch die geistigkulturelle AnnabefWlg der Kroaten Wld Serben ohne AusloschWlg ihrer geschichtlich gewachsenen Besonderheiten sollte eine geistige Einheit der Siidslawen, eine nationalpolitische Uberdachung der Regionalismen Wld die allmiihliche Integration der Slowenen erreicht werden. Die Projektionsflache dieser Integrationsprozesse war fUr Racki Wld Strossmayer auf die Habsburger Monarchie begrenzt. Ihre jugoslawische Konzeption beruhte zwar auf dem Prinzip der Gleichberechtigung, setzte aber voraus, dass die
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Kroaten als Trager des - historisch verankerten - staatspolitischen Rechts zur Geltung kommen. Aus diesem zunachst immanenten Primat der kroatischen Nation kam es allm1ihlich zu unterschiedlichen ,,Kroatisierungen" des Jugoslawismus. Strossmayer verfolgte auBerdem besonders leidenschaftlich das Ziel einer Versohnung zwischen der romisch-katholischen und der Ostkirche. Strossmayer und Racki untersrutzten die osterreichischen Tendenzen zu einer Ausweitung der Monarchie in die ostlichen Gebiete nicht. Das Ziel, das sie verborgen hielten, war eine FOderation, die nach einer Zeit der kulturellen Annaherung auch die unter tiirkischer Herrschaft stehenden Siidslawen sowie Serbien und Montenegro einschlieBen sollte. FUr die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts war der Umstand bedeutend, dass sich im Rahmen der politischen Konzepte zur Losung der nationalen Frage der siidslawischen Volker stets zwei Auffassungen gegeniiberstanden: die unitaristisch-hegemonistische auf der einen Seite, die das Prinzip der siidslawischen Gleichberechtigung und Solidaritat begriindende autonomistisch-foderalistische auf der andem. 1m Prozess der Ausbildung der Nationen hatten die integrativen Ideologien eine Doppelstruktur: Sie verdichteten sich in der nationalen Homogenisierung oder weiteten sich auf die Moglichkeit der "siidslawischen Wechselseitigkeit" aus. Aus der Kombination beider Integrationslinien entstand nicht nur das groBserbische, sondem auch das groBkroatische Konzept. Die Gegenkonzeption zur Idee der siidslawischen Vereinigung wurde yom Politiker und Theoretiker Ante Starcevic (1823-1896) und seinem Mitstreiter Eugen K vaternik (1825-1871) entwickelt. Starcevic, der miitterlicherseits serbischer Herkunft war, entfaltete ausgehend von der Idee des kroatischen politischen Volkes als Trager des unteilbaren Staatsrechts (hergeleitet aus der mitte1alterlichen Staatlichkeit) eine synkretistische Theorie des exldusiven politischen Kroatentums (sog. PravaStvo). Diese Ideo1ogie griindete die kroatische Nation nach dem Vorbild der politischen Doktrin der Ungam auf das Prinzip des historischen Staatsrechts, das auf dem Gebiet eines Staates nur eine einzige politische Nation anerkannte. In diesem FaIle war dies das kroatische Yolk, weswegen Starcevic auch die in Kroatien lebenden Serben zu dessen integral en Bestandteilen z1ihlte. Starcevic erkannte die Serben als Nation nicht an und hielt die serbischen nationalen Gefiihle fUr ein Produkt der erfolgreichen antikroatischen Propaganda Wiens (und Petersburgs). Er polemisierte gegen Vuk Karadzics Behauptung, dass aIle stokavisch sprechenden Siidslawen Serben seien, woraus sich eine nachwirkende Debatte entwickelte. Starcevics ,,nationalstaatlicher" Kroatismus entwickelte sich in eine pankroatische Richtung, die im ganzen Raum nur zwei siidslawische Nationen und folglich kiinftig auch nur zwei Nationalstaaten - Kroatien und Bulgarien - anerkannte. Die Slowenen waren dabei lediglich als alpine Kroaten bedacht. Der hauptsachliche Impetus von Starcevics Ideologie war allerdings gegen die Habsburger Monarchie bzw. die deutsch-ungarische Hegemonie gerichtet. Er erreichte immerhin die Durchsetzung und allgemeine Akzeptanz der Bezeichnung ,,kroatisch" fUr Sprache und Nation. Starcevics scharfe Gegnerschaft den Habsburgem gegeniiber hatte - vor allem unter der Jugend - nachhaltige politische Wirkung und strahlte, zumal nach der Opposition gegeniiber dem ,,Ausgleich" von 1867, bis nach Dalmatien und Slawonien aus. In dieser Phase bekam der Pankroatismus Ziige des Jugoslawismus.
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14.3. Der politiscbe Jugoslawismus
Urn die Jahrhundertwende bekam der Jugoslawismus im Zusammenhang mit verschiedenen einschneidenden politischen Ereignissen politische Bedeutung und, ausgehend von der Zusammenarbeit kroatischer und serbischer Politiker der jungen Generation (sog. "Neuer Kurs") auch eine programmatische Plattform; so entfaltete er vor dem Hintergrund des sozialen Wandels eine gewisse Mobilisierungskraft, wenngleich nur regional und schichtspezifisch begrenzt. Zwar ist in den programmatischen Schriften der Politiker des Neuen Kurses, besonders bei dem agilen Publizisten und Politiker Fran Supilo oft von der sudslawischen Gemeinsamkeit und der Gleichberechtigung "der Stfunme" als wesentlichen Elementen des jugoslawistischen Projektes die Rede, doch handelt es sich dabei keineswegs urn eine lineare Fortsetzung des StrossmayerlRacki-Konzepts einer kulturellen Annaherung. Die kroato-serbische Koalition als die tragende Saule des jugoslawistischen Projekts stieB schon vor dem Ersten Weltkrieg an ihre Grenzen, und auch der Jugoslawismus bot keine politische Perspektive in der Doppelmonarchie, deren Krise sich zugespitzt hatte. Nach dem Scheitern der ursprunglichen Strategie der Kroatisch-Serbischen Koalition (HSK) betrieb Supilos Nachfolger Svetozar Pribicevic (1875-1936), d. h. der serbische Flugel der Koalition eine rein opportunistische Politik gegenuber der Monarchie, und zwar auch wahrend des Ersten Weltkriegs, bis kurz vor dem Zusammenbruch 6sterreich-Ungarns. (7 Kap. 3) Parallel dazu tauchten unter dem Einfluss der aufkommenden Jugendbewegung neue jugoslawistische Ideen auf, die den ideologischen Hintergrund bei der politischen Vereinigung der "drei sudslawischen Stfunme" bildeten. Begleitet und verstarkt wurden diese Stromungen durch die Annexion von Bosnien-Herzegowina 1908, die Krise des (osterreichisch-ungarischen) Dualismus und die Verschiirfimg der ungarischen Repression. Die Radikalisierung der Jugend in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien ging mit der Begeisterung fUr den Ersten Balkankrieg 1912, d.h. fUr die serbische Befreiungsideologie einher. Diese Art des Jugoslawismus zeichnete sich vor allem durch seine Aktions- bzw. Mobilisierungspotentiale aus, wahrend seine die Vereinigung betreffenden Vorstellungen sehr vage waren und im Grunde einer ,Jugoslawischen Staatsbildung" auch ohne ,Jugoslawische Integration" (Schadl) zuneigten. Ausdruck dieser Stromungen war die 1912 gegrlindete "Nationalistische Jugend" (Nacionalisticka omladina). Sie propagierte die Ideen eines unitaristischen Jugoslawismus, der oft durch "das Gefiihl der Einheit" begrlindet wurde. (7 Kap. 10) Das Aufkommen dieses revolutioniir angehauchten und von eskapistischem Unionismus getragenen Entwurfs einer "serbo-kroatischen und slowenischen Einigung" steht auch im Zusammenhang mit den verbesserten Mobilitiits- und Kommunikationsmoglichkeiten zu Beginn des Jahrhunderts. In der GrUndungsphase dieser national-unionistischen Jugendbewegung (Fortschrittsjugend) spielten die Gedanken Svetozar Miletics eine bedeutende Rolle, auBerdem der Jugoslawismus des serbischen Literaturhistorikers Jovan Skerlic (1877-1914) sowie - in geringerem MaBe - jener serbisch betonte des Geoanthropologen Jovan Cvijic. Skerlics Nationalismus war ein f6deralistischer, in Bezug auf Serb en und Kroaten aber unitarisch ausgerichteter Jugoslawismus. Vor all em mit seiner Interpretation
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der nationalen Ideologie Starcevics begeisterte und beeinflusste er die junge Generation in Kroatien. Starcevic sei "der grofite Jugoslawe" gewesen, er babe nur den serbischen Namen nicht anerkannt, doch offensichtlich waren "Serben und Kroaten fUr ihn eine Nation" gewesen. In diesen politischen Spielarten der strukturell undifferenzierten siidslawischen Einigungsideologie spielten Uberlegungen zwn Staatsaufbau keine Rolle. Das ursprungliche politische Konzept einer rechtsstaatlichen fdderativen Einigung, das von den kroatischen Politikern Frano Supilo (1870-1917) und Ante Trumbic (18641938) bzw. dem von ihnen angefiihrten Jugoslawischen Komitee in London (einer Organisation siidslawischer, aus der osterreichisch-ungarischen Monarchie emigrierter Politiker) bei den Yerhandlungen vertreten wurde, war in deren Yerlauf immer mehr an den Rand geddingt und schlieBlich vollig ausgeschaltet worden. Nachdem Supilo aus dem Komitee ausgetreten war, vertrat Trumbic zwar weiterhin eine fdderative jugoslawische Staatengemeinschaft, doch der Charakter der Yereinigung wurde durch das Projekt des serbischen AuBenministers Nikola Pasic im Sinne der serbischen Staatsidee als Vereinigung "serbischer Gebiete" bestimmt, das im Verlauf der Ereignisse und Verhandlungen mittels eines "sekundiiren", ,,machtpolitisch instrumentalisierbaren Jugoslawismus" erweitert wurde. Die Staatsgriindung am 1. Dezember 1918 in Belgrad wurde "unter Umgehung maJ3geblicher Politiker in den nordlichen Landesteilen" und im Namen der ,Jdeologischen Fiktion einer ,dreinamigen Nation' vollzogen" (vgl. Sundhaussen). Seitdem sich die slowenischen und kroatischen Politiker im Jahre 1870 zwn Jugoslawischen Kongress in Ljubljana versammelt batten, war die Idee einer nationalen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Einheit der Siidslawen in der Habsburger Monarchie im Sinne einer Umstrukturierung der Doppelmonarchie zu einem dreiteiligen Staat (Trialismus) bei den slowenischen Eliten lebendig geblieben. Nachdem die Differenzen zwischen slowenischen und osterreichischen Politikern uniiberbriickbar geworden waren, vollzog die slowenische Politik Ende 19. Jahrhunderts eine Abkehr von den traditionellen Biindnissen in Osterreich, und es kam zur Zusammenarbeit mit den kroatischen Rechtsparteien auf der Grundlage des historischen kroatischen Staatsrechts. Der jugoslawische unitaristische Gedanke beeinflusste auch die slowenische Jugend. Einerseits war man in allen slowenischen politischen Lagem, dem katholischen wie dem liberalen und dem sozialistischen gleichermaJ3en bemiiht, die bestehenden Unterschiede zu tilgen, doch gab es gegen den jugoslawischen Unitarismus auch deutlichen Widerspruch, etwa vom sozialdemokratischen Theoretiker und Politiker Albin Prepeluh (1880-1938), vom Publizisten und Politiker Henrik Tuma (1858-1935) sowie vor aHem vom bekannten slowenischen Schrlftsteller Ivan Cankar (1876-1918), die sich fUr einen fdderativenjugoslawischen Staat aussprachen. Ivan SuStersic (1863-1925), lange Jahre der FUhrer der slowenischen katholischen Bewegung, d.h. der Slowenischen Volkspartei (Slovenska ljudska stranka SLS), focht fUr das kroatisch-slowenische Konzept des Trialismus, war aber ein entschiedener Gegner des siidslawischen Einigungsprojekts jenseits der k.u.k. Monarchie sowie dessen Unitarismus. Dies fiihrte zu seiner Abspaltung von der Volkspartei, die unter Anton Korosec (1872-1940) fUr die jugoslawische Vereinigung eintrat.
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14.4. Das erste Jugoslawieo: Uoitarischer Staat uod fdderative Gegeobeweguog
Mit der Proklamation des gemeinsamen siidslawischen Staates der Slowenen, Kroaten und Serben (Konigreich SHS) brach eine neue Epoche in der historischen Entwicklung der jugoslawischen Idee an. Sie stand fortan bis zum Zerfall Jugoslawiens 1991 fUr zwei unterschiedliche, ja einander widersprechende Stromungen - was durch die Instrumentalisierbarkeit des Jugoslawismus allerdings von Anfang an als Moglichkeit angelegt war. Einmal wurde sie im Sinne einer staatspolitischen Ideologie als Instrument der Unifizierung und Zentralisierung benutzt, auf der anderen Seite berief man sich auf die jugoslawische Idee der Gleichberechtigung der vereinten Volker, urn eigene nationale Interessen (Kultur, Sprache, Rechtstraditionen usf.) zu schiitzen. Der erste jugoslawische Staat hatte beziiglich seiner verfassungsrechtlichen Grundlage (Veitstagsverfassung von 1921 und Oktroyierte Verfassung von 1931) einen strikt unitaristischen und zentralistischen nationalstaatlichen Charakter. Beide Verfassungen nahmen den einzelnenjugoslawischen Volkern ihre nationale und sprachlich-kulturelIe Identitat und definierten sie als "Stamme" eines fiktiven einheitlichen jugoslawischen Volkes, das sie in einen streng zentralistischen staatsrechtlichen Rahmen spannten. Die Anblinger des dahinter stehenden unitaristischen Jugoslawismus, die verschiedener nationaler ZugehOrigkeit und politischer Couleur waren, einte die Uberzeugung, die jugoslawische nationale Einheit sei der Iogische Abschluss der nationalemanzipatorischen Anstrengungen der einzelnen Volker, die in einem zentralistischen Staat, der alle historischen, kulturellen und staatspolitischen Unterschiede zwischen ihnen wettmache, endlich ihre ganzheitliche nationale Selbstverwirklichung finden wiirden. In den ersten Jahren des neuen Staates war der Widerstand gegen den zentralistischen Unitarismus unter den jugoslawistisch orientierten Parteien aus Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina noch schwach. Man betonte die groBe ethnische Gemeinsamkeit der jugoslawischen Volker. Nach Einfiihrung der Konigsdiktatur 1929, deren ideologische Basis ein integraler jugoslawischer Nationalismus war, bekamen die f6deralen Konzepte immer mehr Zulauf. Mit Ausnahme der Jugoslawischen Demokratischen Partei, in der sich (bis 1924) liberale Parteien aus unterschiedlichen Landsteilen zusammentaten, und einiger kleinerer jugoslawisch-nationalistischer Initiativen und Organisationen waren die meisten Parteien ohnehin national gebunden, auch wenn sie eine grundsatzliche jugoslawische Orientierung vertraten. Selbst die Jugoslawische Muslimische Organisation war eine regional-konfessionelle und keine transnationale Partei. Bis zum Jahre 1923 wurde ein unitaristischer Jugoslawismus von der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) verfochten, danach aber unter dem Druck der Komintern die Existenz einzelner Nationen anerkannt, in denen man die Basis fUr den realen Klassenkampf sehen wollte. Jugoslawismus, Unitarismus und Zentralismus stellten fUr das groBserbische Vormachtsdenken eine wirkungsvolle ideologisch-politische Einheit dar, mit der sich die serbischen nationalpolitischen Interessen verwirklichen lassen sollten. 1m Rahmen der jugoslawischen Idee wurde das groBserbische Konzept von der Radikalen Volkspartei durchgesetzt, die in der zweiten Hlilfte der dreiBiger Jahre innerhalb der Jugoslawischen Radikalen Gemeinschaft wirkte. Die groBserbische Instrumentalisierung der ju-
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goslawischen Idee diskreditierte die Ideologie des integralen Jugoslawismus vollends. Sogar der einflussreichste Verfechter des jugoslawischen Unitarismus, Svetozar Pribicevic (1875-1936), der als Minister in den erstenjugoslawischen Regierungskabinettenjede nationale AuBerung (vor allem in Kroatien) drakonisch bestrafte, wandte sich yom Unitarismus ab und kampfte danach ebenso leidenschaftlich fUr einen fdderalistischen Umbau des Gesamtstaates und gegen die Konigsdiktatur. Auch der bekannte kroatische Bildhauer, Mitglied im Londoner Jugoslawischen Komitee und biiufiger Gast des serbischen Konigshauses, Ivan Me~trovic (1883-1962), der zahlreiche Denkmiiler mit heroischen Motiven aus der serbischen Geschichte schuf, gehOrte zur Plejade der enttiiuschten Jugoslawisten. Die Ideologie des Jugoslawismus spielte bei den stiirksten politischen Gruppierungen der Kroaten und Slowenen, wenn iiberhaupt, dann im Sinne der politisch autonomistisch-fdderativen Umgestaltung desjugoslawischen Staates eine Rolle. Bestrebungen antizentralistischer Emanzipation artikulierten FOderalisten in Montenegro, Makedoni en und vor allem in Bosnien-Herzegowina in der JMO, daneben brachte die Cemiyet die sozialen, religiosen und nationalen Interessen der Muslime Makedoniens, des Kosovo und des SandZak zum Ausdruck. Das Wirken dieser antizentralistischen und antihegemonistischen politischen Nationalparteien verstiirkte die weitere nationale Homogenisierung der nichtserbischen Volker. Damit verfestigte sich der politische Jugoslawismus zwiefach: Einmal als staatspolitischer Unitarismus, der nationale Besonderheiten unterdriickte und von verdecktem oder manifestem GroBserbismus instrumentalisiert wurde, auf der anderen Seite als politische Idee einer fdderalen Ordnung gleichberechtigter Volker im Rahmen historisch gewachsener Regionen. In der Kommunistischen Partei, einer der wenigen alljugoslawischen politischen Organisationen, verfocht ihr FUhrer Sima Markovic (1888-1939), ein vielseitiger kommunistischer Theoretiker in Belgrad, den integralen Jugoslawismus. Er wurde deshalb auf direkte Kritik Stalins abgelOst, da Stalin in den emanzipativen nationalen Bewegungen, vor allem der starken kroatischen Bewegung unter der Bauernpartei die Moglichkeiten der revolutioniiren Volksfrontstrategie sab. Seitdem setzte sich die KP J konsequent fUr das fdderalistische Prinzip ein. Zwar hatte fUr die Kommunisten nationale Emanzipation bloB instrumentellen Wert, doch der fdderative Gedanke und das Postulat der Gleichberechtigung der Volker hatten enorme Bedeutung fUr die Mobilisierung aller Ethnien fUr den Befreiungskampf im Zweiten Weltkrieg. Ihre Dogmen hatten die Kommunisten zuniichst hintangestellt und in die Ideologie der Volksfront demokratische Prinzipien aufgenommen. Der Kampf der Tito-Partisanen galt den Okkupanten, den Ustaschas, anderen Kollaborateuren und dem GroBserbentum. (~ Kap. II) Die Widerstandsbewegung war dezentral von den autonomen militiirisch-politischen Volksbefreiungsriiten und Vertretem verschiedener verschiedener Parteien organisiert, freilich unter Fiihrung der jeweiligen nationalen Komitees der Kommunistischen Partei. Bereits 1943 wurde in Jajce durch den Antifaschistischen Volksbefreiungsrat Jugoslawiens (AVNOJ) als oberster Korperschaft die Emeuerung des jugoslawischen Staates und seine Neuordnung auf fdderativer Basis entworfen und spiiter im Sinne der Rechte gleichberechtigter Volker und Minderheiten (mit Ausnahme der Deutschen und Italiener) priizisiert und bekriiftigt.
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14.5. Das zweite Jugoslawien: Foderativer Anspruch und unitarische Tendenzen Unter den Kommunisten wurde nach deren Machtiibemahme der Jugoslawismus an die Ideologie des Klassenkampfes angepasst und als Legitimationsersatz instrumentalisiert. AuBerdem wurde der Jugoslawismus als Mittel- in Form der Formel ,,Briiderlichkeit und Einheit" - zur Verdriingung der Folgen und Traumata, die der Biirgerkrieg mit seinen Ausrottungsexzessen gegen ganze Volksgruppen geschaffen hatte, eingesetzt. Der foderale Gedanke verkam im Parteistaat, der keine biirgerlichen Rechte kannte, zur Ideologie der Dezentralisierung nationaler Kollektive. Da statt der postulierten nationalen Gleichheit eine ungeschriebene Hierarchie der Volker herrschte, an deren Spitze wieder die Serben standen, wahrend am FuB dieser Skala die Kosovo-Albaner (und Roma) geblieben waren, gab es reichlich Anlasse zu nationalen Rivalitaten und genug Grund, eine echte Gleichheit anzustreben. Die Ideologie des Jugoslawismus bekam einen zusatzlichen Schub, nachdem Stalin Titos Jugoslawien 1948 aus dem sozialistischen Biindnis verstoBen hatte und das Land bedroht war. Dies erschiitterte die ideologischen Grundlagen des Kommunismus, dessen Stelle ersatzweise der jugoslawische Patriotismus einnehmen konnte; der wurde in Konflikten mit den Nachbarn moblisiert (Triestkrise mit Italien nach dem Zweiten Weltkrieg, Nichtanerkennung Makedoniens durch Bulgarien Ende der sechziger Jahre, Streit um die slowenische Minderheit in Osterreich Ende der siebziger Jahre) Der jugoslawische Staats- und Parteichef Josip Broz Tito (1892-1980) war sich der mangeloden Kohasionskrafte in der Vielvolkergemeinschaft und der Gefahren fUr den Bestand der FOderation bewusst. Da aber in seinem Weltbild die "biirgerliche" Demokratie als Mittel zur Integration und Uberwiodung der Partikularismen nicht existierte, unterstiitzte er unitaristische und zentralistische Tendenzen in Staat und Gesellschaft, die immanent immer proserbisch waren, obwohl Tito sonst entschiedener Gegner des GroBserbentums und wohl als einziger in der Lage war, diese Gefahr fUr Jahrzehnte im Zaum zu halten. Die dennoch groBserbische Tendenz driickte sich teilweise auch in den Beschliissen des 7. Kongresses des Bundes der Kommunisten (SdKJ) aus dem Jahre 1958 aus und fand merkliche Unterstiitzung in der serbischen Politik, die iiber das unitaristische Konzept erneut versuchte, die jugoslawische Gemeinschaft zu dominiereno Seitens der Parteiideologen aus anderen nationalen Zentren regte sich Widerstand. So verwarf der politische Theoretiker Edvard Kardelj (1910-1979) bereits im Jahre 1957 (Die Entwicklung der slowenischen Nationalfrage) die Vorstellung von einer Verschmelzung der VOlker und bemerkte, dass sich diese Volker nicht einfach mit iibernationalen ideologisch-politischen Konzeptionen beseitigen lieBen. Die Kluft zwischen unitaristisch-zentralistischen und national-foderalistischen Auffassungen iiber die weitere Entwicklung des jugoslawischen Staates und die Idee des Jugoslawismus trat auch in der ofIentlichen Polemik zwischen dem serbischen Schriftsteller und Politiker Dobrica Cosic (1921) und dem Literaturtheoretiker und vormaligen Fiihrungsmitglied der Kommunistischen Partei Sloweniens, Dusan Pirjevec (1921-1977) zutage. Diese Debatte fand im gesamten Jugoslawien Widerhall, eine Antwort auf die Fragen, die sie aufgeworfen hatte, gab aber Tito, indem er auf dem 8. Kongress des BdKJ im Jahre 1964 die Idee der SchafIung eines einheitlichen jugoslawischen Volkes verwarf.
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Das immanente Dilemma des Jugoslawismus - integrativer Unitarismus versus Gleichberechtigung der Vielfalt - verschiirfte sich unter den undemokratischen Umstiinden und der Schwache des Individualismus zum hauptsiichlichen ideologischen Konflikt. 1m Zuge des Generationswechsels im kommunistischen Kader kam es zu einem ideologischen Paradigmawechsel in den Republikfiihrungen. 1m Ambiente begrenzter Liberalisierung und Offoung zum Westen hatte sich in den sechziger Jahren in Serbien eine Garnitur junger Funktioniire etabliert, die gegen das GroBserbentum gefeit und offen fUr eine Reform der Gesellschaft waren. Zum ersten Mal wurde der Jugoslawismus in Belgrad nicht im Sinne des hegemonialen Machtmechanismus instrumentaiisiert, sondern im Sinne einer gemeinsamen und solidarischen Entwicklung des Landes verstanden. 1m Umgang mit der kommunistischen Doktrin waren die jungen Funktioniire Latinka Perovic und Marko Nikezic, die von dem Altkommunisten Koca Popovic unterstUtzt wurden, flexibel, was ihnen die Bezeichnung "Serbische Liberale" einbrachte. (7 Kap. 13)
Die neuen kommunistischen Eliten in Kroatien und Slowenien erweiterten den foderalistischen Kern des Jugoslawismus in Richtung einer moglichst groBen Dezentralisierung von Belgrad. Vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Legitimationskrise des Sozialismus und der durch ideologischen Zwist verschiirften Wirtschaftskrise nach den marktwirtschaftlichen Reformen der spiiten sechziger Jahre tauchte ein Amalgam aus sozialistisch-nationalistischen Vorstellungen auf, das besonders in Kroatien explosiv wirkte. Es wurde von der Mehrheit der Kroaten als Befreiungsbewegung verstanden, von den Serbenjedoch als Aufkiindigung eines stillschweigenden Vertrags aufgefasst, wonach die Kroaten nach den Verbrechen der U staschas im Zweiten Weltkrieg es nie wagen wiirden, ihr Haupt zu erheben. Parallel zu den Versuchen einer sozialistischen Selbstverwaltung wurde in den sechziger Jahren verstiirkt der Umbau zentralistischer Machtstrukturen betrieben. Den Prozess umfassender Dezentralisierung unterstrich man durch den Slogan der "Stiirkung der Republiken". Oft war von "Demokratisierung" die Rede, was eine Aufweichung des kommunistischen Prinzips des sogenannten "demokratischen Zentralismus" meinteo Da diese Reformprojekte inkonsequent blieben, waren sie voller Widerspruche und Reibungsfliichen. Was z.B. nicht "dezentralisiert" war, aber in demokratischen Bundesstaaten in der Regel dezentral gehandhabt wird, waren die Finanzen. Erschwerend zur ausschlieBlich zentralen Steuerung der Finanzen kam hinzu, dass es ohnehin keinen Kapitalmarkt gab, d.h. das Kapital wurde yom Staat fiber die staatlichen Banken verwaltet. Die radikaleren ReformbefUrworter wollten die freie Kapitalbewegung ermoglichen und durch Aktien und Wertpapiere der Betriebe reguiieren. Dies Witte bedeutet, dass das Privateigentum wieder eingefiihrt und das sozialistische System in seinem Fundament getroffen worden ware. Grundsatzprobleme dieser Art nahmen die politische Klasse gefangen, die sich in ihren Reformbestrebungen im Kreis drehte. Eine Umgehungsstrategie wurde in der sog. ,,Reform der FOderation" gefunden. Durch groBere verfassungsmiiBige Befugnisse sollten die Republiken die Entscheidungs- und Verfiigungsgewalt fiber Uberschiisse und Wirtschaftsstrategien (inklusive Infrastruktur) erlangen. De facto blieb aber der vorige dirigistisch-sozialistische Mechanismus auf nun dezentrale Art und Weise in Betrieb. Exponenten dieser Politik waren kommuni-
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stische Funktionare wie Stane Kavcic in Slowenien oder Savka Dabcevic-Kucar und Mika Tripalo (1926-1995) in Kroatien. Die beliebte slowenische und kroatische Parole lautete ,,Politik der sauberen Buchfiihrung" (poUtika Cistih racuna) zwischen den Republiken. Das dem Jugoslawismus immanente Spannungsverhaltnis zwischen Zentralismus und Unitarismus einerseits und der Autonomie und Gleichberechtigung der FOderationssubjekte andererseits bekam durch die sHindig scheitemden Wirtschaftsreformen eine neue ideologische Gestalt. Der Streit zwischen der unitaristischen und dezentralistischen Richtung tobte am heftigsten in Kroatien, wo sich der jungen kommunistischen Riege urn die temperamentvolle Savka Dabcevic-Kucar die Reformgegner entgegenstell ten, angefiibrt von Milos Zanko, einem kroatischen Serben, der damals stellvertretender Vorsitzender der Bundesversammlung in Belgrad war. Die latente nationale Spannung wurde dadurch manifest. Zanko griff die kroatische Fiihrung als Schirmherrin des kroatischen Nationalismus an und wurde selbst als Unitarist angegriffen, hinter dem sich die Belgrader GroBserben verbergen. Die kroatische Fiihrung fand breite Unterstiitzung in der Bevolkerung, in der sich eine nationale Bewegung (,,Kroatischer Friihling") ausbreitete, deren Ziele und Strategien allerdings ziemlich verschwommen waren. Die starksten Impulse kamen aus der Opposition gegen die serbische Gangelung in vielen Bereichen des Alltags und der Kultur und gegen die unterschiedlich geschickt verpackten Unterstellungen der kroatischen Kollektivschuld im Zweiten Weltkrieg. Aber auch die wirtschaftlichen Themen mobilisierten die BevOikerung, die - wie in Slowenien auch - im Zusammenhang mit der ,,Ausbeutung" aus Belgrad, der serbischen (zentralistischen) ,,Blockade der Reformen" oder der Verhinderung des Ausbaus sinnvoller StraBenverbindungen (Zagreb - Kiiste) gesehen wurden. Nachdem die Exponenten der Reformbewegung von den Republikspitzen beseitigt waren, wurde dennoch 1974 eine Verfassungsreform durchgesetzt, mit der die f6deralen Einheiten groBe formelle Selbstandigkeit erhielten. Federfiihrend war der slowenische Altkommunist Kardelj, dessen Leitlinie einerseits die Starkung des "selbstverwalteten" Sozialismus und andererseits die Festschreibung der Souveranitat der VOlker als ,,modemer Nationen" war. Diese Ideologie setzte die kommunistische Tradition yom Selbstbestimmungsrecht der VOlker einschlieBlich des Rechts zur Sezession fort, die als Grundsatz in allen friiheren Verfassungen enthalten gewesen war, jetzt aber bestarkt, wenn auch nicht prazisiert wurde. Die Formel des Selbstbestimmungsrechts der VOlker in "ihren Republiken" wurde iibemommen, aber ebenso die Unklarheiten beziiglich jener f6deralen Einheiten, die keine nationale Mehrheit hatten. Die Albaner wurden in dem Status der "Nationalitat" belassen, d.h. eben nicht als gleichberechtigtes Volk in der FOderation anerkannt. Diese Verfassung, die einigen VOikem Souveranitat zuschrieb und andere aus diesem Status ausschloss, konnte nur im slowenischen Fall reibungslos urngesetzt werden. Die politisch-territoriale Gestaltung der f6deralen Einheiten 1945 war an Vorstellungen der biirgerlich-demokratischen FOderalisten aus der Zwischenkriegszeit angelehnt, die nicht nur dem nationalen Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts folgten, sondem auch den historisch-regional gewachsenen Gebilden Rechnung trugen und generell von individuellen Rechten und der Gleichheit der Biirger ausgingen. Die Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Ser-
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bien, Makedonien, Montenegro und die zwei autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo wurden im Range von Staaten durch die Verfassung von 1974 gestiirkt. Aber da in der national und sozialistisch bestimmten Verfassung nur von Volkem und "Volkerschaften" (narodnosti) und von arbeitenden Menschen (Arbeiterklasse) die Rede war und die Rechte des einzelnen BUrgers nur beilaufig erwiihnt wurden, lag die Losung des jugoslawistischen Dilemmas in der Formel, der gemeinsame Bundesstaat sei Produkt der freiwilligen Entscheidung der Volker und Volkerschaften, sich auf der Grundlage der Gleichberechtigung in einem foderalen Staat zusammenzutun, und zwar ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht, welches auch das Recht aufLoslosung aus der freiwilligen Gemeinschaft einschlieBt. Das Selbstbestimmungsrecht wurde allerdings in einer unklaren Formulierung an die Republiken gebunden, die nicht eindeutig ausschloss, dass die Staatlichkeit der Teilrepubliken ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht der Volker angefochten werden kann. Dies geschah spater iiberall dort, wo Serben auBerhalb Serbiens bedeutende Anteile an der Bevolkerung hatten. Die in der Verfassung von 1974 festgelegten Prinzipien stiirkten zwar die Staatlichkeit der autonomen Provinzen, deckten sich aber nicht mit dem jugoslawistischen Selbstbestimmungsrecht: 1m Volkergemisch der Vojvodina gab es kein Volk, das "sein Recht" in den Grenzen dieser Einheit verwirklichen wUrde, und im Kosovo wurde den Albanem das Recht, ein Volk zu sein, verweigert. Die Bestrebungen nach rechtlicher Gleichstellung und Anerkennung des Kosovo als Republik wurden mit allen Mitteln als Separatismus kriminalisiert.
14.6. Die Diskussionen um den Zerfall Jugosiawiens Die labile Kompromisslosung, die in der Verfassung von 1974 ihren Ausdruck fand, sollte durch die politische Institution des ,,kollektiven Prasidiums" unterstiitzt werden, die auf Initiative Titos 1971 geschaffen wurde und einer der ersten Schritte im Prozess der Verfassungsreform war. Dieses Priisidium war als oberstes Organ des Bundesstaates gedacht, das gleichsam als ein kollektiver Staatschef die Funktion Titos als Staatspriisidenten auf Lebenszeit iibemehmen sollte und sich aus je einem Mitglied aus den Republiken und beiden autonomen Provinzen zusammensetzte. In der politischen Praxis sollte das Funktionieren der gesamten Gemeinschaft und deren Teile durch das Prinzip der "Verstiindigung" zwischen den Republikfiihrungen gewiihrleistet werden. Es war aber schon offensichtlich geworden, dass der Jugoslawismus j egliche Substanz verloren hatte, Kohiision kam nur noch aus der Parteipolitik, deren ideologische Basis ("der jugoslawische Weg des selbstverwalteten Sozialismus") jedoch dahinschmolz. 1m Zuge der Repression gegeniiber den national-liberalen Regungen der siebziger Jahre, flackerte im Rahmen der ideologischen Redogmatisierung wieder der jugoslawistische Unitarismus auf. In diesem Sinne war besonders der slowenische Funktioniir Stane Dolanc aktiv, der auch mit allen Mitteln daran arbeitete, Titos Nachfolge anzutreten. Aggressiver Vertreter und Vordenker einer orthodox-kommunistischen Restauration Jugoslawiens war der kroatische Chefideologe der siebziger und achtziger Jahre Stipe Suvar. Er hielt unterschiedliche Positionen auf der Republik- und Bundesebene inne
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und tat sich durch Repression gegen Intellektuelle und Schriftsteller hervor. Er vernichtete die Reste des biirgerlichen Schulsystems und machte die hahere Schulbildung von Vertragen der Schiller mit Betrieben abhiingig. Diese soziale Egalisierung, die sich zunachst in Kroatien durchsetzte, war ideologisch mit der Einfiihrung eines gesamtjugoslawischen kulturerzieherischen Lehrplans und der Perspektive einer spateren nationalen Unifizierung verbunden. Solche Entwiirfe wurden im gesamten serbisch-kroatischen Sprachraum unterstiitzt, oder es wurde ihnen nicht widersprochen, wahrend die slowenische Offentlichkeit sich ihnen heftig widersetzte. Damit fand die jugoslawische Idee ihr Ende in Gestalt einer Farce, und dies in Kroatien, wo sie anderthalb Jahrhunderte zuvor entstanden war. Dies halt Suvar nicht davon ab, noch heute fUr seine Ideologie - etwa in der parteieigenen Zeitschrift Hrvatska ljevica (Die kroatische Linke) zu werben. Dazu passt, dass er als Prasident des kollektiven Prasidiums 1989 Milosevic bei seiner Strategie der Auflosung der Autonomie des Kosovo unterstiitzte, und auch einer der ersten war, der die Nato-Intervention 1999 als Aggression gegen Serbien verurteilte. Dennoch erstarkten in den achtziger Jahren dissidente Kreise, die sich mehr und mehr an den westlichen Demokratiemodellen orientierten. Besonders im entwickelteren Norden reifte die Uberzeugung, dass man ohne Demokratie und Marktwirtschaft die permanente Krise und den wirtschaftlichen Rlickstand im Lande nicht wlirde lOsen konnen. Damit war in Slowenien und Kroatien die Abkehr yom ideologischen und politischen Jugoslawismus in die letzte Phase getreten. Das letzte Modell, das noch in der Auflosungsphase 1989-1991 seitens slowenischer und kroatischer (nunmehr demokratisch legitimierter) Politiker angeboten wurde, war das Modell der asymmetrischen (Kon)FOderation. Demnach sollten Slowenien und Kroatien in einem losen Verbund mit anderenjugoslawischen Republiken mit nur wenigen gemeinsamen Ressorts und dem ungehinderten Recht auf den eigenen Weg in einem politischen und wirtschaftlichen System verbunden bleiben. Der Jugoslawismus als ideologische Formel und das fOderative Konzept als Grundlage der staatspolitischen Ordnung waren vorteilhaft fUr jene sudslawischen VOlker, die von den national-ideologischen Bewegungen des 19. Jh. weitgehend abgeschnitten waren und deren nationale Integration mit Verspatung einsetzte. Das gilt auch fUr die Kosovo-AIbaner. Die ,jugoslawischen" Grundsatze ermoglichten die Entwicklung von integrativen Prozessen der Makedonier, der bosniakischen Muslime und Albaner, die im ersten Jugoslawien nicht nur nicht anerkannt, sondem starker Repression und serbisch-unitaristischen Assimilation ausgesetzt waren. Ihre Eliten sorgten fUr eine rasche kulturelle Entfaltung, durch die man sich der eigenen besonderen nationalen Identitat vesicherte, hegten andererseits den Jugoslawismus als ein Dogma. Jugoslawismus, durchmischt mit sozialistischer und antifaschistischer Ideologie, bot fUr die verspateten Nationen Schutz und zum Teil Ausweg aus dem nationalen Identitatsdilemma. Sie bzw. ihre Eliten blieben dennoch bloBe Rezipienten der ideologischen Inhalte des Jugoslawismus. Die Idee der inter-ethnischen Gleichberechtigung wirkte sich positiv fUr die zahlreichen ethnischen Minderheiten - Italiener, Ungam, Slowaken usf. - Jugoslawiens aus, die ihre Sprachen, Brauche und Kultur pflegen konnten. Freilich spielte sich dieser folkloristische Minderheitenschutz im engen Raum einer undemokratischen Ge-
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sellschaft ab, die ideologisch vom Kollektivismus gepragt war, der keine politischen Minderheitenpositionen duldete. Die groJ3e jugoslawische Population der Roma blieb trotz formeller Anerkennung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens diskriminiert. Nach der Absetzung des liberalen Fliigels der serbischen Kommunisten 1971 folgte eine Garnitur titotreuer Funktioniire, die offizielle Offentlichkeit Serbiens war durch Stagnation und Redogmatisierung gekennzeichnet. Unter dieser Oberflache brodelte es allerdings starker als in anderen Teilrepubliken. Man kann folgende Stromungen ausmachen: die Neomarxisten, die der sog. Praxis-Gruppe angehOrten oder nahe standen, die wie ihre Zagreber Kollegen den realen jugoslawischen Sozialismus von links kritisierten. Die ,,Praxis"-Theoretiker (die es auch in Ljubljana und in anderen Zentren Jugoslawiens gab) bezeichneten sich selbst als liberal, doch meistens waren sie bereit, einen Meinungspluralismus nur in engen Grenzen des Marxismus zu dulden. In Belgrad kam es aus diesem Umfeld und unter studentischer Beteiligung 1968 zu Protesten und Demonstrationen, die sich gegen die sozialen Differenzierung als F olge der ersten Wirtschaftsreform richteten. Neben dieser egalitaren Bewegung, die bis in die achtziger Jahre bestehen blieb, gab es die klandestine serbische Opposition, die sich gegen die Absetzung des serbischen Geheimdienstchefs Aleksandar Rankovic richtete, eine weitere FOderalisierung des Landes kritisierte und iiberall die Schwachung der serbischen Positionen sab. Als dann Anfang der achtziger Jahren demokratische Ideen an Attrakti vitat gewannen, nachdem Tito gestorben war und in ganz Jugoslawien sich eine allgemeine Stagnation unter der Herrschaft subaltemer Parteifunktionare verbreitete, fingen die serbischen Intellektuellen an der neuen Agenda der serbischen bzw. jugoslawischen Zukunft zu arbeiten. Das beinhaltete die Revision des Jugoslawismus durch Riickbesinnung auf den politischen Anfang im Jahre 1918, als in der serbischen Lesart der Geschichte Jugoslawien nach serbischen Siegen aus Territorien entstanden sei, die durch Serbien befreit worden seien. Der FOderalismus wurde als Instrument Titos kritisiert, Serbien kleinzuhalten, sowie als Quelle der Wirtschaftskrise "entlarvt". Eine zentrale Person in diesem Zusammenhang war der Schriftsteller Dobrica Cosic, der wegen seiner antialbanischen Tiraden 1966 aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen und 1992 - erfolgloser - Priisident von Restjugoslawien wurde. Als Ausweg aus der Krise bot man ein starkes und zentralisiertes Jugoslawien an. Aus dem Kreis der Neomarxisten waren einige zu groJ3serbischen Nationalideologen geworden (Mihajlo Markovic, Ljuba Tadic, Dragutin Micunovic), wiihrend andere - Theoretiker wie Nebojsa Popov und Zagorka Pesic-Golubovic - zu den wenigen echten Oppositionellen von Milosevics Kurs zu rechnen sind. Die Konzepte und Diskussionen, die urn diese Fragen kreisten, wurden vor allem in den Kulturzeitschriften Knjizevne novine und Knjizevna ree publik gemacht. Viele Autoren zeigten sich mehr oder minder offen kritisch gegeniiber dem Establishment und bekundeten Sympathien fUr Liberalismus und Demokratie. Dazu kamen jedoch immer offener nostalgische Reminiszenzen an Konigsjugoslawien, das man vom Makel der groJ3serbischen Diktatur rein waschen wollte. Wiihrend die Befiirworter der Demokratie im Norden des Landes darunter die Verhaltnisse in Westeuropa der Nachkriegzeit verstanden, wollten die Belgrader Intellektuellen die Demokratie des alten Jugoslawi-
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en oder des serbischen Konigsreichs davor aufwerten. Zwei riickwarts gewandten Zielvorstellungen kursierten in den intellektuellen Kreisen Serbiens: Die stiirkere orientierte sich an das System im Ersten Jugoslawien und setzte sich fUr einen Parteienpluralismus in einem mehr oder minder zentralisierten Jugoslawien ein, also einem, in welchem der F Oderalismus weitgehend aufgehoben ware. Die andere revisionistische Richtung war dabei, Jugoslawien als Idee ganz aufzugeben. Zwar wurde dieses Thema in den achtziger Jahren nicht emsthaft politisch diskutiert, war aber stark in der Literatur prlisent - etwa in den historischen Romanen von Dobrica Cosie. (~ Kap. 18) Es blieb zunachst der Sphare der Fiktion vorbehalten, die Frage zu ventilieren, ob Pasies urspriingliche Idee der Vereinigung von "serbischen Liindern" nicht besser fUr die Serben gewesen ware. Das Buch uber Milutin von Danilo Popovic, ein Bestseller in Serbien der achtziger Jahre, behandelt den angeblichen fatalen FeWer der Serben, "andere befreien zu wollen" und mit den "befreiten Briidern" einen gemeinsamen Staat zu grunden. Diesen fatalen FeWer habe das serbische Yolk zur Zeit des Ersten Weltkrieges begangen und nach dem Zweiten wiederholt. Das Fazit der tragischen serbischen Geschichte liege darin, dass ,jahrhundertelanges Befreien der Bruder" den Serben nur Schwierigkeiten bringe. Starke Emotionen beherrschten die serbische Diskussion iiber Jugoslawien in den achtziger Jahren: Man fiihlte sich von anderen "betrogen" und "ausgeniitzt"; statt Achtung und Mitgefiihl ernte man Undankbarkeit und Benachteiligung. Das politische Anliegen war stets gleich: Eine Rekonstruktion der jugoslawischen Verfassung mit dem Ziel der Abwertung der fOderalen Ordnung, dabei in erster Linie die Abschaffimg der Autonomie des Kosovo, die der serbischen Elite dringlicher war als die Demokratie. Aufsehen erregte eine Reihe politischer Essays des jungen Philosophen und spateren prominenten Politikers Zoran Bindie, dessen Kehrtwendungen zwischen Nationalismus und Liberalismus man allerdings nicht mehr zlihlen kann. Etwas vereinfacht liefen seine Thesen iiber die so genannte Verfassungskrise daraufhinaus, dass Jugoslawien erst ein ,,moderner Staat" werden miisse, urn demokratisiert zu werden. Jugoslawien, das er "einen unvollendeten Staat" nannte, das keinen Pluralismus der Individuen und "autonomen Interessengruppen", sondem nur dezentraiisierte Kollektive unter der Einparteienherrschaft kannte, miisste sich erst als biirgerliche Gesellschaft konstituieren, wofUr aber erst die "Voraussetzungen geschaffen werden miissen". Die Argumentation drehte sich im Kreise. Was hier theoretisch in einen modernen Diskurs iiber Institutionen der Demokratie verpackt wurde, bedeutete nichts anderes als das, was man in anderen Formen vertrat, nlimlich die Uberzeugung, dass die Einfiihrung einer Demokratie unter Beibehaltung der foderalen Ordnung den serbischen Interessen nicht entsprechen wiirde. Gleichzeitig wurde auch die slowenische Demokratiebewegung verhOhnt, die in dem gleichen Zeitraurn erstarkt war. Auch wenn einige Aspekte von Bindies Analyse der Bereitschaft und Fiihigkeit fUr eine Demokratisierung zutreffend waren, fallt auf, dass sie die unverkennbare 01fuung gegeniiber dem Westen, die in Slowenien und Kroatien herrschte, ebenso beharrlich ignorierte wie das allgemeine sozio-okonomische Gefiille zwischen dem Norden und dem Siiden, das iibrigens die elementare Erkllirung fUr die Unterschiede im Verhaltnis zur Demokratie bietet: Wo es eine stark differenzierte Gesellschaft, ein Biirgertum und biirgerliche Kultur gibt, ist auch die demokratische Option
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das Naheliegende. Bei den theoretisch weniger beschlagenen Autoren konnte man oft die These bOren, die Serben seien an sich ein demokratisches Yolk und hatten fiiiher in der Demokratie gelebt als andere Volker. Diese Behauptung, an die massiv geglaubt wurde und wird, hat viele Implikationen. Die wichtigste war zu jener Zeit, dass als erste Aufgabe die Veriinderung der fOderalen Staatsordnung auf der serbischen Agenda stand, denn die Demokratie wiirde ja dann qua serbische Natursache ohnehin kommen. Der Ausfiihrende dieser Philo sophie betrat in Person von Slobodan Milosevic die Biihne und wurde von der gesamten damals engagierten dissidenten Szene begriiBt, weil sie in ihm jemanden erkannte, der gegen die foderale Verfassung des jugoslawischen Staates vorgehen werde. Dass er als strammer kommunistischer Kader Ausdruck all dessen war, wogegen sich die Dissidenten politisch all die Jahre aufgelehnt hatten, schien ihnen nebensiichlich, ja sogar ganz praktisch: Eine freiheitlich-demokratische Ordnung auf dem Kosovo hatte automatisch das Ende des serbischen Herrschaftsanspruchs in der Provinz bedeutet. Jugoslawien, das hier noch als ideologische Formel benutzt wurde, stand in der Tradition von "Jugoslawien als imperiale Idee" (Latinka Perovic). Die serbischen Versuche, die jugoslawische Krise fiber eine Reform der Verfassung zu losen, wurden fiberall sonst im Lande als mehr oder minder versteckte Bestrebungen nach einem zentralistischen Staat mit serbischer Vormacht verstanden. In einer demokratisch gewiihlten Bundesversammlung hatten die serbischen Abgeordneten die Mehrheit, und es war klar, dass sie nach national-serbischen - und eben nicht nach demokratisch individuellen oder sonstigen pluralen politischen - Interessen entscheiden und die Macht ausfiben wiirden, wie eine spiitere Analyse der jungen serbischen Historikerin Dubravka Stojanovic darlegte. Deshalb waren alle Beteiligten gegen eine Reform der Bundesverfassung und auch gegen die - faktisch nur hypothetische - Moglichkeit, freie Wahlen fUr die Bundesversammlung noch vor den freien Wahlen in den Republiken abzuhalten. Denn die serbischen Machthaber und Milosevic hatten ja auch ihre Griinde, gegen eine Demokratisierung des Gesamtstaates zu sein. Nur eine kleine Gruppe Intellektueller gab es, die eine gesamtstaatliche Demokratisierung befiirwortete und darin eine Perspektive sab, den nationalistische Tendenzen in den Republiken entgegenzuwirken. Die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe, die sich auch als politische Partei - UIDI (Ujedinjena jugoslavenska demokratska inicijativa, Vereinte jugoslawische demokratische Initiative) - organisierte, Zarko Puhovski (Zagreb), Nebojsa Popov (Belgrad) und BoZidar Gajo Sekulic (Sarajevo) konnten fUr das beschriebene Dilemma der Majorisierung durch Serbien keine theoretische Losung bieten. Der Begriff des Jugoslawismus, wie er von den serbischen Intellektuellen in den achtziger Jahren und am Vorabend des Krieges instrumentaiisiert wurde, war nichts anderes als ein Etikettenschwindel fUr groBserbische Ziele. Diese Instrumentalisierung hat zu den serbischen Kriegen und zu den Vertreibungsverbrechen im Kosovo im letzten Jahr dieses Jahrtausends gefiihrt.
Nach einer Vorlage von Juri} Perovsek, Institutfor Zeitgeschichte, Ljubljana
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Literatur Siidslawische Ideen zur Zeit des Illyrismus: Niksa Stancic Hrvatska nacionalna ideologija preporodnog pokreta u Dalmaciji: Mihovil Pavlinovic, i njegov krug do 1869., Zagreb 1980 (Die kroatische Nationalideologie der Wiedergeburtsbewegung in Dalmatien: Mihovil Pavlinovic und sein Kreis bis 1869), ders., Gajeva "Jos Horvatska ni propala" iz 1832-33. Ideologija Ljudevita Gaja u pripremnom razdoblju hrvatskog narodnog preporoda, Zagreb 1989 (Gajs "Jos Horvatska ni propala" aus 1832-33 und die Ideologie des Ljudevit Gajs in der Vorbereitungsphase der kroatischen Wiedergeburt); E. M. Despalatovic, Ljudevit Gaj and the lllyrian Movement, Colorado 1975. Zum 19. Jahrhundert und der Zeit vor 1918: Wolf Dietrich Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie, Miinchen 1980 (Siidosteuropaische Arbeiten 74); Uber Entwicklung und Einfluss nationaler Ideologien in Bosnien-Herzegowina: Srecko M. DZlija, Bosnien-Herzegowina in der asterreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie, Miinchen 1994; ferner: Wolfgang Kessler, Politik, Kultur und Gesellschaft in Kroatien und Slawonien in der ersten Haljie des 19. Jahrhunderts. Historiographie und Grundlagen, Miinchen 1981 (Siidosteuropaische Arbeiten 77) sowie: Holm Sundhaussen, Der Einj/uss der herderschen Ideen auf Nationsbildung bei den Valkern der Habsburgermonarchie, Miinchen 1973; ders., "Nation und Nationalstaat auf dem Balkan. Konzepte und Konsequenzen im 19. und 20. Jahrhundert", in: Jiirgen Elvert (Hg.), Der Balkan. Eine europaische Krisenregion, Wiesbaden 1997; Ferner: Dimitrije Djordjevic, Revolutions nationales des peuples balkaniques 1804-1914, Belgrad 1965, und speziell zu Serbien: Charles Jelavich, Tsarist Russia and Balkan Nationalism. Russian Influence in the Internal Affairs of Bulgaria and Serbia, 1879-1886, Berkeley, Los Angeles 1958; Wayne S. Vucinch, The First Serbian Uprising 1804-1813, Boulder 1981; David Mackenzie, Ilija Garasanin: Balkan Bismarck, New York 1985. Zu Kroatien: Mirjana GroB, "Die, Welle': Die Ideen der nationalistischen Jugend in Kroatien vor dem I. Weltkrieg", in: Osterreichische Osthefte, 10, 1968. Unverzichtbar zum politischen Jugoslawismus: Ivo Banac, The National Question in Yugoslavza: Origins, History, Politics, Ithaca, N.Y. 1984, mit einer ausfiihrlichen Bibliographie, insbesondere zur neueren Forschung iiber einzelne Personen, Probleme und Aspekte; auch in kroatischer Obersetzung: Nacionalno pitanje u Jugoslaviji, Zagreb 1995 2 Zum Zerfall: Mirko Djordjevic, "Die Literatur der populistischen Welle", in: T. Bremer, N. Popov, H.-G. Stobbe (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg, Berlin 1998, S. 225-242; Dubravka Stojanovic, "Der traumatische Kreis der serbischen Opposition", in: ebd., S. 379-398; Zoran Dindic, Jugoslavija kao nedovrsena driava, Belgrad 1990 (Jugoslawien als unvollendeter Staat); Zarko Puhovski, Socijalisticka konstrukcija zbilje, Zagreb 1990 (Die sozialistische Konstruktion der Wirklichkeit); Branka MagaS, The Destruction of Yugoslavia. Tracking the Break-Up 1980-92, London, New York 1993; Latinka Perovic, Zatvaranje kruga, Sarajevo 1991 (Das SchlieBen des Kreises); Ursula Riitten, Am Ende der Philosophie? Das gescheiterte "Modell Jugoslawien ". Fragen an Intellektuelle im Umkreis der PRAXlS-Gruppe, Klagenfurt 1993. Die letzte Ausgabe der philosophisch-soziologischen Zeitschrift Praxis International (Vol. 13, No.4, Jan. 1994) war dem Krieg und dem Zerfall Jugoslawiens gewidmet, darin: Dunja Melcic, "Communication and National Identity: Crotian and Serbian Patterns", Latinka Perovic, "Yugoslavia was Defeated from Inside", Slobodan SamardZic, "Democracy in Postcommunism - the Case of Serbia".
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15.1. Bis zur Staatsgriindung 1918 Rudolf Grulich
Nach der Volkszahlung des Jahres 1953 hatte die jugoslawische Regierung erstmals wieder bei den Volkszahlungen 1991 nach der ReligionszugehOrigkeit der Einwohner des Landes gefiagt. Die Ergebnisse fUr den Gesamtraum sind aber nicht mehr verOffentlicht worden (nach der Veroffentlichung des kroatischen statistischenAmtes fUr die Republik Kroatien (1991) betrugen sie: 78,5 Katholiken, 11,1 Orthodoxe, 0,4 Protestanten, 1,2 Moslems, 09 andere, 3,8 Konfessionslose). In der Zeit nach 1953 war man aufWeiterschreibungen und Schiitzungen angewiesen. 41,4 Prozent gaben damals an, orthodox zu sein, 31,9 Prozent waren katholisch. Die Muslime machten 12,3 Prozent der Bevolkerung aus und die Protestanten 0,9 Prozent. 1953 bekannten sich in Jugoslawien 12,3 Prozent der Bevolkerung als Atheisten oder als religionslos. Vor allem dieser Prozentsatz hat sich durch die Sakularisierung der Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten gewaltig erhOht und macht mit dem unterschiedlichen BevOikerungswachstum der einzelnen Volker und Volksgruppen sowie der unterschiedlichen Auswanderung und Binnenwanderung viele Angaben fiber die zahlenmlillige Starke der einzelnen Konfessionen zu vagen Schatzungen. Die traditionelle Zuteilung einzelner VOlker zu Religionen, am deutlichsten in der Gleichsetzung Kroate = Katholik und Serbe = Orthodoxer erfasste meist nicht die ZugehOrigkeit zu einer Kirche als Glaubensgemeinschaft, sondem nur die Bindung an einen religios gepragten Kulturkreis. AhnIich kann man die Montenegriner und Mazedonier als Orthodoxe bezeichnen, die Slowenen wie die Kroaten als katholisch. Neben den ,,Muslimen im ethnischen Sinn" waren vor allem auch die nationalen Minderheiten der Albaner (zu fiber 90 Prozent) und der TUrken islamisch. Diese religios-politische Zuordnung ist Ergebnis einer komplizierten zweitausendjahrigen Geschichte, die im Folgenden in Umrissen nachgezeichnet werden solI. Es waren die Traumata dieser Geschichte und das Erbe einer leidvollen Vergangenheit, die im Krieg 1991 bis 1995 immer wieder zum Vorschein kamen und von allen Seiten als ideologische Waffe eingesetzt wurden.
15.1.1. An/tinge des Christentums Das Christentum fiihrt seine Anfange auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien auf den Apostel Paulus zuriick, der auch in Illyrien gepredigt haben soli. Tatsachlich gab es auf dem Gebiet einer jeden jugoslawischen Teilrepublik in spatantiker Zeit christliche Bischofssitze. In Slowenien waren dies Poetovio (Ptuj), Celeia (Celje) und
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Emona (Ljubljana), auf dem Gebiet Kroatiens der Metropolitansitz Salonae (Solin) und die Bistfuner Parentiurn (poree), Pola (Pula), Arba (Rab), ladera (Zadar), Pharos (Hvar), Epidaurus (Dubrovnik), im Landesinneren Siscia (Sisak), Mursa (Osijek) und Cibalae (Vinkovci). Auf dem Gebiet Bosniens und der Herzegowina lagen Bistue Nova (in der Nahe von Zenica) und Bistue Vetus (bei Bugojno), die ,,Ecc1esia Martariensis" (Martari), Sarsenterum (ZitomisliCi), Delminiurn (Duvno) u. a. FUr Montenegro sind Risiniurn (Risan) und Doc1ea (Duklja) bezeugt, fUr das Gebiet Serbiens die Metropolen Synniurn (Sremska Mitrovica) und Justiniana Prima (Caricin Grad) sowie Singidinurn (Belgrad), Naissus (NiS), Ulpiana und Remesiana. In Makedonien liegen schriftliche Zeugnisse und Ausgrabungen vor, dass Stobi Metropolitansitz war und es Bischofssitze in Lychnidus-Achrida (Ohrid), Herac1ea Lyncestis (Bitola) und Scupi (Skopje) gab. GroBe Personlichkeiten der alten Kirchengeschichte entstammen dem Christentum dieses Raurnes: Viktorin von Pettau, der hi. Hieronymus oder Nicetas von Remesiana sind hier als christliche Schriftsteller zu nennen, femer die Martyrer von Sisak, aber auch groBe Kaiser wie Konstantin (aus Naissus) oder Justinian I. (aus Justiniana Prima). In Synniurn wurden bedeutende Synoden (347/49, 357 und 359) abgehalten. Die EinfaIle der Hunnen zerstOrten einige dieser Bistfuner, im Jahre 441 auch Synniurn; die Awaren vernichteten zwei Jahrhunderte spater Salonae, dessen Bewohner in den leerstehenden Diokletianspalast flohen und damit Split griindeten. Der byzantinische Kaiser und Autor Konstantin Porphyrogennetos berichtet in "De administrando imperio", dass die Kroaten unter Kaiser Heraklios I. (610-641) vom ostromischen Kaiser gerufen worden waren, urn gegen die Awaren zu kampfen. Bereits unter Papst Johannes IV. (t642) hatten sie das Christentum angenommen, also mehr als zwei Jahrhunderte vor den anderen Slawen, deren Christianisierung erst auf die Slawenapostel Kyrill und Method oder noch spatere Zeiten zuriickgeht. Von groBer Bedeutung fUr das spatere Schicksal der Volker in diesem Raurn war die Teilung des Romischen Reiches durch Kaiser Theodosius im Jahre 395 in eine ost- und eine westromische Reichshalfte. Aus ihr resultiert letztlich die Auseinanderentwicklung beider Reichshalften, die infolge kirchenpolitischer, theologischer, aber auch kultureller Faktoren zur Kirchenspaltung des Jahres 1054 in die orthodoxe und die katholische Kirche fiihrte. Die damalige Trennungslinie des Theodosius in die partes orientis und die partes occidentis verlief auf einer Linie von Belgrad an der Donau zur Adria bei Skutari. Auch die Serben wurden von Byzanz her christianisiert, wobei die erste Etappe auch bereits unter Heraklios I. erfolgte, die Christianisierung aber erst unter Kaiser Basilios I. (867-886) abgeschlossen wurde, als die Differenzierung in einen romisch-lateinischen und einen byzantinisch-griechischen Teil erheblich weiter fortgeschritten war als zur Zeit der Christianisierung der Kroaten. Porphyrogennetos schreibt, dass Kaiser Heraklios Priester aus Rom zu den Serben schickte, auch die alte serbische Kirchenterminologie gibt Zeugnis, dass die erste Missionierung von Rom aus erfolgt ist. Unter Basileos I. wurde dann der byzantinische Ritus eingefiihrt, als Kyrill und Method bereits die kirchenslawische Ubersetzung der Liturgie geschaffen hatten. Jahrhunderte lang blieben die Serben den Einfiiissen der Westkirche offen. Erst das 13. Jahrhundert brachte durch den hi. Sava die Entscheidung zugunsten von Ostrom-Konstantinopel.
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15.1.2. Kroatien und Bosnien im Mittelalter Bereits im 7. Jahrhtmdert hatten die christianisierten Kroaten tmter PapstAgathon (678681) Kontakte zu Rom. 1m 9. Jahrhtmdert erwalmt Papst Johannes VIII. ein kroatisches Staatswesen. Der Briefvom 7. Jtmi 879 an den Ffirsten Branimir ist erhalten, der dem Papst "ein lieber Sohn, in allem dem hI. Petrus gehorsam" sein will. Obgleich es damals bereits lateinische Benediktinerkloster in Kroatien gab, setzt sich im 9. Jahrhtmdert die slawischsprachige Liturgie in einigen Gebieten Kroatiens durch, tmd zwar mit der glagolitischen Schrift, die als Vorlauferin der kyrillischen Schrift gilt. ObwohI die beiden vom byzantinischen Kaiser ins GroBmlihrische Reich gesandten Slawenapostel Kyrill tmd Method wahrscheinlich durch Kroatien gereist sind, sich dort aber sicher nicht aufgehalten haben, hat sich die kyrillomethodianische Liturgie in altslawischer Sprache tmd mit glagolitischem Alphabet in Kroatien bis ins 20. Jahrhtmdert erhalten. Zwar wandten sich Kirchenversammltmgen in Split 925 tmd 1060 gegen das Slawische im Gottesdienst, konnten es aber nicht tmterdriicken. Papst Innozenz IV. erlaubte 1248 auf Bitten des Bischofs Philipp von Senj sogar ausdriicklich die slawische Liturgie, deren Sprache tmd Schrift man falschIicherweise dem aus Dalmatien stammenden hI. Hieronymus zuschrieb. 1689 schrieb der slowenische Historlker Valvasor von vielen Orten, wo man die "Crainersche oder Slawonische Messe" lese. Letztmals wurde das Messbuch in glagolitischer Schrift 1905 in Rom gedruckt, 1927 erschien es noch einmal in altslawischer Sprache, ntm aber in lateinischer Transkription. 1m Jahre 925 taucht erstmals der Titel eines ,,Episcopus Chroatensis" auf, den Gregor von Nin auf dem Konzil von Split fUr sich in Anspruch nimmt. Schon 923 war Kroatien tmter Tomislav I. ein Konigreich geworden. Einige Stadte an der Kiiste tmterstanden zwar kirchIich und politisch noch Byzanz, aber durch einen Sieg Tomislavs iiber die Bulgaren stand Kroatien damals auf dem Hohepunkt seiner Macht. Gegen Ende des 10. Jahrhtmderts geriet Kroatien in die Wirbel byzantinisch-bulgarischer Kampfe. 1090 starb mit Konig Stephan II. die kroatische Herrscherdynastie aus. Es begann eine Zeit fremder Herrscher, ZWlachst mit dem tmgarischen Konig Ladislaus. Dieser griindete 1094 das Bistum Zagreb, das dem Erzbistum Gran tmterstellt war. Kroatien blieb bei Ungarn tmter den Arpaden bis zu deren Aussterben, dann tmter der Dynastie der AnjOUS.(7 Kap. 3) Seit Bela dem Blinden (1131-1141) fiihrten die tmgarischen Konige auch den Titel Konige von Rama, d. h. Bosnien. In dieser Zeit der endgiiltigen Trenntmg von Ost- tmd Westkirche (1054) setzte sich in Kroatien die Reformbewegtmg von Cltmy durch tmd groBe BischOfe wie Erzbischof Laurentius von Split tmd Johannes Orsini von Trogir erneuerten die Kirche. 1m Jahr 1177 besucht Papst Alexander III. Zadar. 1m 13. Jahrhtmdert lassen sich die neuen Bettelorden der Franziskaner tmd Dominikaner auch in Kroatien nieder. Die Franziskaner iibemehmen die Rolle der Benediktiner, die langsam zuriickgehen. Es entstanden damals die prachtigen Kirchen tmd Dome in Dubrovnik (durch das Erdbeben 1667 zerstort), Trogir, Zadar, Krk tmd Rab. Eine Sonderstelltmg hatte bereits im Mittelalter Bosnien inne. Von den oben erwlihnten antiken Kirchenorganisationen (ecclesia Bestoensis) lassen sich nach Einwandertmg der Slawen keine Spuren nachweisen. Erst im 11. Jahrhtmdert (nach dem Schis-
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ma) wird das Bistum Bosnien als romisch-katholische DiOzese erwiihnt, die der kirchlichen Oberhoheit des Erzbischofs von Split unterstellt war. Seit Mitte des 12. Jahrhunderts nannte sich der Herrscher Bosniens ,,Ban", der zwar die Oberhoheit Ungarns anerkannte, aber das Land wie ein unabhiingiger Herrscher verwaltete. W1ihrend der langen Herrschaft von Ban Killin (1180-1204), der das Bistum des Landes statt dem Erzbischof von Split dem von Ragusa (Dubrovnik) unterstellte, wurden die ersten Anschilldigungen wegen Haresie erhoben. Der Charakter der Bosnischen Kirche war und ist seit dem 19. Th. in der Forschung urnstritten. W1ihrend serbische Forscher versuchten, durch den Bezug auf das bulgarische Bogumilentum oder auf die Sekte der Paulikaner den ostkirchlichen Charakter der Bosnischen Kirche nachzuweisen, betonten die kroatischen Wissenschaftler die westkirchliche Herkunft dieser Kirche (etwa als Variante der oberitalienischen oder franzosichen Katharer). Viele damals aufgestellte Thesen tiber die Bosnische Kirche sind inzwischen aufgrund quellenkritischer Arbeiten widerlegt. Offenbar hat es sich bei der Bosnischen Kirche urn eine selbstiindige Kirchenorganisation mit wenig ausgepragter Hierarchie gehandelt, die beim bosnischen Adel groBen Anklang gefunden hatte. Ungaro f'iihrte im Auftrag Roms mehrere Kreuzziige gegen Bosnien. Zunachst wurden von Rom Dominikaner zur "Untersuchung" (Inquisition) und Mission der Bosnischen Kirche ins Land entsandt. Als diese in ihrer missionarischen Arbeit gescheitert waren, gelang es den Franziskanem 1340, ein eigenes ,,Bosnisches Vikariat" zu griinden und durch Predigt und Seelsorge bis zum Jahre 1400 viele Krstjani ("Christen", wie sich die Glaubigen selbst nannten) zur Rechtglaubigkeit zu bekehren. Als 1463 Sultan Mehmed II. Bosnien eroberte, verbfugte der Silltan den Franziskanem freies Leben und Besitz, wenn sie ihm treu blieben. (-7 Kap. 4)
15.1.3. Die Reformation bei den Sudslawen Angesichts der Tatsache, dass die Slowenen und Kroaten bis heute in ihrer tiberwaltigenden Mehrheit katholisch sind, iibersieht man oft die Bedeutung der Reformation in diesem Raurn. Die Protestanten entwickelten im Gebiet des heutigen Slowenien eine rege Tatigkeit, insbesondere auf schriftstellerischem Gebiet. Der Katechismus von Primoz Trubar (1508-1586), der fiihrenden Personlichkeit der slowenischen Reformation, war 1550 das erste gedruckte Buch in slowenischer Sprache iiberhaupt. Er tibersetzte bis 1555 auch das Neue Testament und bis 1577 verschiedene Schriften Luthers und Melanchthons ins Slowenische. Von Juraj Dalmatin (1547-1589) stammt die slowenische Ubersetzung des Alten Testamentes, die 1583 gedruckt wurde. Adam Bohoric (1520-1600) veroffentlichte den Psalter, kirchliche Lieder, Schulbiicher und 1584 eine Grammatik in slowenischer Sprache. In der Gegenreformation wurde aber der Protestantismus wieder zuriickgedriingt, vor allem durch den Bischof von Ljubljana Thomas Hren (1597-1630). Nur im Ubermurgebiet (Prekmurje), das zu Ungaro gehorte, hielten sich evangelische Gemeinden. AlmIich war es mit der Reformation in Kroatien, deren groBte Personlichkeit Mathias Flaccius Illyricus (Vlasic) ist. Dieser ,,Achilles des reinen Protestantismus" stammte
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aus Istrien und kam als 21jahriger nach Wittenberg, wo er der entschiedenste Anhanger Luthers wurde und gegen das Augsburger Interim eintrat. 1562 erschien das kroatische Neue Testament. AuI3er in Istrien und den Kvamer-Inseln war die protestantische Lehre vor aHem in Slawonien verbreitet. Von rund 120 evangelischen Gemeinden konnte sich wahrend der Gegenreformation nur eine einzige, in Tordinci, behaupten. Trager der Gegenreformation waren in Kroatien insbesondere die Jesuiten und Kapuziner, die eine rege literarische Tatigkeit entfalteten.
15.1.4. Die Ostkirchen Die kirchenslawische Kultur, welche die aus Mahren vertriebenen SchUler des hi. Methodius 885 nach Siidosteuropa brachten, fand von Ohrid her auch im rnittelalterlichen Serbien Eingang. 1m 11. Jahrhundert gab es selbstandige serbische Fiirstentiimer im heutigen Montenegro, die auch zu Rom kirchiiche Beziehungen hatten. Der mittelalterliche serbische Staat der Nemanjiden (seit 1183) unterstand groBtenteils dem Erzbistum Ohrid, nliherte sich aber immer wieder auch Rom an. Stefan Prvovencani empfmg im Jahre 1217 yom Papst die Konigskrone, was ilm aber nicht hinderte, seinen Bruder Rastko mit dem Monchsnamen Sava zwei Jahre spater nach Nizaa zu senden, urn ihn zum Bischof weihen zu lassen und die Unabhangigkeit der serbischen Kirche zu prokiamieren. (Konstantinopel befand sich damals in der Hand der Kreuzfahrer, so dass der Okurnenische Patriarch am Kaiserhof in Nizaa residierte.) Sava ist bis heute der groBte Heilige der Serben, und "Svetosavlje" (etwa ,,Leben nach den Grundsatzen des hi. Sava") ist ein zentraler Begriff der serbischen Orthodoxie geworden. (7 Kap. 6) Sava organisierte die serbische Kirche, griindete DiOzesen und machte das Kloster Zica zu seinem Erzbischofsitz, der spater nach Pee auf das Amselfeld (Kosovo) verlegt wurde. Das Wachsen des serbischen Staates stlirkte auch das Ansehen der autokephalen serbischen Kirche, die 1346 zu einem eigenen Patriarchat wurde und den Konig Dusan in Skopje zum Zaren kronte. Die Niederlage auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389 und der Eroberungszug der Tiirken schwachte die orthodoxe Kirche der Serben. Dem Okurnenischen Patriarchat von Konstantinopel gelang es 1459, bei den neuen tiirkischen Machthabem die Aufhebung des Patriarchates in Pee durchzusetzen. Erst 1557 wurde es durch den GroBwesir serbischer Herkunft Mehmed Pascha Sokolovie wiedererrichtet, der seinen Bruder Makarije zum Patriarchen machte. Die ganze nationale Widerstandskraft der Serben lag nun im Bereich der orthodoxen Kirchen und Kloster, die das Uberleben der serbischen Kultur ermoglichten. In Montenegro war seit 1485 das Kloster Cetinje Residenz eines orthodoxen Metropoliten, der seit 1516 auch weltlicher Herrscher unter tiirkischer Oberhoheit war. Da die serbische Kirche wegen ihrer Untersrutzung serbischer Aufstande das Misstrauen der Osmanen erfuhr, konnten die griechischen BischOfe in Konstantinopel 1766 beim Sultan emeut die Authebung des Patriarchates von Pee erreichen und ihren Einfluss in der serbischen Kirche vor aHem durch die Besetzung vakanter Bischofsitze durch ethnische Griechen geltend machen. Durch die gefliichteten Serben in Ungam, wo Patriarch Arsenije 1695 durch ein kaiserliches Privileg anerkannt und die Stadt Karlowitz
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IS. Die Religionsgemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien
in Syrmien 1716 Residenz der Patriarchen wurde, gab es aber weiterhin eine nationaIe serbische Kirche. Als sich seit 1830 das autonome, spiiter selbstiindige Fiirstentum Serbien konstituierte und schlieBlich die tiirkische Besatzung 1867 Belgrad riiumte, erhielt die serbische Kirche nach dem Krieg gegen die Tiirken 1877/78 am 20. Oktober 1879 die Autokephalie. Die noch unter osmanischer Herrschaft stehenden Gebiete Makedoniens unterstanden dem 1870 gegriindeten bulgarischen Exarchat.
15.1.5. Die osmanisehe Eroberung und der Islam Seit der osmanischen Eroberung Bosniens 1463 setzte fUr Kroaten und Serben eine Peri ode stiindiger Auswanderung ein, die Serben zogen von Altserbien nach Ungarn und die Kroaten ins Burgenland, in die Slowakei und zahlreiche Komitate Ungarns, aber auch nach nach Niederosterreich, Miihren und Italien. Nur ein kleiner Teil Kroatiens geriet nicht unter osmanische Herrschaft. Ganze Gebiete wurden von den Habsburgem, die seit 1526 Konige Ungarns und Kroatiens waren, unter militiirische Verwaltung gestellt und bildeten die Militiirgrenze (auch Confin). Diese Zeit hat die konfessionelle Landkarte Siidosteuropas entscheidend gepriigt. Zwar verschwanden in den lahren nach der Zuriickdriingung der osmanischen Herrschaft (1683) die Minarette und Kuppeln der Moscheen aus Slawonien und der ungarischen Tiefebene, doch die Fliichtlingsstrome und Wanderungen orthodoxer und katholischer Christen aus dem Herrschaftsgebiet des Sultans hatten neue Bevolkerungsverhiiltnisse geschaffen, die bis heute von Bedeutung bleiben. Dazu gehOrt vor allem die Nordwanderung der Serben, die bis in die Gegend des heutigen Budapest fiihrte und Ofen zu einem Zentrum des Serbentums machte. (7 Kap. 5) Die orthodoxen Bischofssitze in der heutigen Republik Kroatien gehen auf diese Wanderungen zurUck: Die Eparchie Pakrac in Westslawonien hatte 1991 125.000 serbische Orthodoxe und 118 Gemeinden, Karlovac war eine Diozese mit 315.000 Gliiubigen und 144 Pfarreien. Die Zuriickdriingung der Tiirken und die hauptsiichlich im 18. lahrhundert erfolgte Neubesiedlung der den Osmanen entrissenen Gebiete brachte u. a. slowakische Lutheraner, deutsche Katholiken und unierte Ruthenen (Ukrainer) in Gebiete der schrittweise aufgehobenen Militiirgrenze. Dadurch wurden manche Teile Slawoniens und vor aHem der Vojvodina zu den ethnisch und konfessionell am meisten gemischten Gebieten in Europa. Eine bleibende und uniibersehbare Erinnerung an die Miltiirgrenze waren auch die Katholiken des byzantinischen Ritus: die griechisch-katholischen Kroaten in Zumberak (Sichelberg). Die rusinischen Gliiubigen (Ruthenen) entstanunen der Neubesiedlung des 18. lahrhunderts. Die orthodoxen Serben (und teilweise auch Wlachen), die als Valaehi, Useoeehi, Mor/aeci, Raseiani und Serviani in den Quellen auftauchten, kamen als Fliichtlinge aus dem Osmanenreich (Uskoken) im Habsburgergebiet fiiih in Beriihrung mit der katholischen Kirche. 1m Grenzraum wurde die Orthodoxie geduldet, da unter den besonderen Umstiinden und Prioritiiten auf die Religionspolitik des Landesherren sowie auf die konfessioneHen Vorstellungen des Adels keine Riicksicht genommen werden musste. Hinzu kam, dass im 16. lahrhundert auch in den habsburgi-
15.1. Religionsgemeinschaften: bis 1918
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schen Landem durch die Ausbreitung reformatorischen Gedankengutes die konfessionelle Einheit sich aufzuUisen schien. So gab es in der Militiirgrenze auch evangelische Fe1dprediger bei den dort stehenden deutschen Truppen, zum Arger des katholischen Ade1s in Kroatien und Slawonien. Doch iihnlich wie die Ans!itze einer katholisch-orthodoxen Kirchenunion hatten auch die Protestanten wenig Erfolg. Als die Osmanen l354 fiber die Dardanellen setzten, gab es bereits kleinere islamische Bevolkerungselemente auf der Balkanhalbinsel. Petschenegen und Kumanen waren in Bosnien, Serbien und Makedonien ansiissig, unter ihnen war der Islam bereits vor dem Einfall der Osmanen verbreitet. Entgegen der bei den christlichen BalkanvOlkern bis heute weit verbreiteten Ansicht, fUr den Balkan sei die Tiirkenherrschaft eine geschichts10se Zeit gewesen, bliihte is1amisch-tfukisches Kulturwesen in diesen Teilen des Tiirkischen Reiches. Obgleich die meisten slawischen Muslime ihre Muttersprache bewahrten und das Slawische auch mit arabischen Buchstaben schrieben, gebrauchten dennoch muslimische Dichter, Schriftsteller, Theologen, Historiker und Rechtsgelehrte in ihren Werken die osmanisch-tfukische Sprache. Dichter wie Ahmed ibn Ali Gurbi (Ahmad ibn Ali Ghurbi, 18. Jahrhundert) aus Novi Pazar und Bosnavi Baba (zweite Hiilfte des 19. Jahrhunderts), ein Bektaschi-Sufi, "dessen Meisterschaft in der Dichtkunst von niemandem angezweifelt wurde" (Mustafa Safayi), schufen ihre Diwane in dieser Sprache. Dasselbe gilt fUr einen der letzten Klassiker der osmanischen Literatur, ArifHikmet (1839-1903), mit dem Beinamen Hersekli, also "aus der Herzegowina", und fUr den Historiker Ahmed Nesimzade, der u. a. eine Geschichte des OsterreichischTiirkischen Krieges von 1736-1739 verfasste. AuBerhalb der Garnisonen und Verwaltungen blieben aber die Balkanlander zum allergroBten Teil slawisch bzw. im Sfiden albanisch. Nur in den drei mazedonischen Vilayets bildete sich eine stiirkere tfukische Landbevolkerung heraus. In Albanien und Kosovo waren dagegen die Albaner, in Bosnien und Herzegowina einheimische Slawen Vertreter des Osmanentums und erreichten hOchste Staatsstellen. Die standigen Gebietsverluste seit dem gescheiterten zweiten tiirkischen VorstoB 1683 nach Wien lieBen die in den Stadten ansassige tfukische Bevolkerung zuriickfluten. Der Abwanderung schlossen sich slawische und albanische Muslime an, obwohl auf dem Papier Serbien und auch Montenegro den Muslimen Religionsfreiheit garantierten. Dabei wurden viele Moscheen und muslimische Einrichtungen wie Koranschulen, Armenkiichen oder Kloster nach dem Ruckzug der Tiirken aufgehoben oder vernichtet, weil manjede Erinnerung an die Tiirkenherrschaft ausloschen wollte. Bis 1910 wanderten rund 300.000 Muslime aus Bosnien-Herzegowina aus, nachdem es 1878 unter osterreichisch-ungarische Verwaltung gestellt worden war. Die Osterreicher fiihrten in Bosnien die Institution eines Reis-ul-ulema ein, eines in Sarajevo residierenden Oberhauptes der Muslimgemeinde. Ibm unterstanden bis 1992, als der Krieg in Bosnien begann, aile Muslime Jugoslawiens. Die osterreichisch-ungarische Verwaltung hatte bis 1912 fUr Sarajevo aile Aufschriften auch in arabischer Schrift vorgeschrieben. Als liturgische Schrift existiert sie bei den Muslimen noch heute.
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15. Die Religionsgemeinschaften im ehemaiigen Jugoslawien
15.1.6. Die katholisehen Gebiete in Baroek, Aujklarung und im 19. Jahrhundert In den unter habsburgischer und venezianischer Herrschaft stehenden Gebieten Kroatiens und in der Republik Ragusa nahm, wie schon in der Renaissance, auch im Barock das kulturelle Leben einen gewaltigen Aufschwung. 1669 griindeten die Jesuiten eine Akademie in Zagreb, die mit ihrer Theologischen Fakultat den Beginn des kroatischen Universitatswesens darstellt, da sie auch akademische Titel vergab. In Lepoglava errichteten die Pauliner ein "Studium Generale". Zahlreiche barocke oder barockisierte Kirchen Kroatiens (aber auch Sloweniens) erinnem an diese Zeit. Die Theologen Kroatiens setzten sich in einer ausgepragten Kontroverstheologie auch mit nichtkatholischen Konfessionen auseinander, dies oft im versohnlichen unitaristischen Geist. Marko Antun de Dominis (1560-1624) wird zu einem "Theologen der Aussohnung von anglikanischer, protestantischer und katholischer Kirche", Juraj Kriianic (1618-1683) schlagt eine Briicke zu den Orthodoxen. Enge kirchliche Bindungen bestehen zu Italien, wo in Loretto bei Ancona eine kroatische Priesterausbildungsstatte besteht. 1m 18. Jahrhundert erlebt die Kirche Kroatiens die Reformen des Josefinismus, verbunden mit zahlreichen Klosteraufhebungen, deren Giiter in den Religionsfond flieBen. Aus ihm werden die Pfarrer besoldet, deren Zahl durch die Neugriindung von Pfarreien wachst. Nach dem Ende der Republik Venedig 1797, der franzosischen Besetzung Istriens und Dalmatiens und der Aufhebung der Republik Dubrovnik 1808 schufNapoleon die Illyrischen Provinzen mit der Hauptstadt Ljubljana. Die Franzosen verbesserten zwar durch den Ausbau von StraBen und Wirtschaft die Infrastruktur dieser Gebiete, sie errichteten Volksschulen, aber durch die Aufhebung kirchlicher Bruderschaften, die Reduzierung der Kloster und die Beschriinkung der Seminare riefen sie auch den Widerstand der Geistlichkeit hervor. 1828 hob Papst Leo XIII. mit der Bulle ,,Locum beati Petri" die alte kirchliche Metropole Split aufund machte sie zu einem gewohnlichen Bistum; auch Dubrovnik verlor die erzbischOfliche Wiirde und wurde Zadar unterstellt. Verschiedene Bistiimer wurden ganz aufgehoben. Auf Bitten des Bans Josip JelaCic errichtete Papst Pius IX. 1852 eine Kirchenprovinz Zagreb. Bischof Josip Juraj Strossmayer von Dakovo (1815-1905) investierte all seine intellektuellen Krafte und materiellen Moglichkeiten in die kirchliche, kulturelle und politische Einigung der Siidslawen. Er tat dies aus okumenischen Griinden, weil er viele orthodoxe Christen in seiner slawonischen Diozese hatte und weil er als Apostolischer Administrator auch fUr die wenigen Katholiken im Fiirstentum und spateren Konigreich Serbien zustiindig war. Die von ibm erbaute Kathedrale in Dakovo sollte eine Synthese von Ost- und Westkirche sein. Gegen den Liberalismus des 19. Jahrhunderts griindete Erzbischof Haulik von Zagreb 1849 die Zeitung "Katolicki List", die katholische gesellschaftliche Standpunkte verteidigen sollte, und die Gesellschaft des HI. Hieronymus. In ihr sammelten sich katholische Intellektuelle, um katholisches Schrifttum zu verbreiten. 1874 entzog der Sabor der Kirche die Aufsicht iiber die Volksschulen. Durch ihre feudale Struktur und ihren reichen Grundbesitz geriet die katholische Kirche in den Stadten auch in Gegensatz zur Arbeiterschaft. Erst in Verbindung mit lnitiativen Papst Leos XIII. entstand nach einem ersten Katholischen Kongress 1900 in Zagreb die Kroatische Katholische Bewegung. Bischof Anton Mahnic von Krk war ihr Promotor.
15.2. Religionsgemeinschaften: nach 1918
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15.2. Nach der Griindung Jugosiawiens 1918 Thomas Bremer
15.2.1. Die orthodoxen Kirchen
Die Serbische Orthodoxe Kirche (SOK) war von der Zahl ihrer Glliubigen her in allen jugoslawischen Staaten die groBte Glaubensgemeinschaft. Unmittelbar nach der Griindung des Konigreichs 1918 bemiihten sich die orthodoxen BischOfe des neuen Staates, ihre bisher getrennten Jurisdiktionen zu vereinen. Kirchenorganisationen der serbischen Orthodoxie gab es bislang im Konigreich Serbien, in Montenegro, in Ungam (Metropolie von Sremski Karlovci) und in Osterreich (Bosnien, Dalmatien). Nach einigen Vorbereitungstreffen wurde am 12. September 1920, genau 154 Jahre nach der Aufhebung des serbischen Patriarchats von Pee durch die Tiirken, in einem feierlichen Akt beschlossen, die wieder vereinigte Kirche in den Rang eines Patriarchats zu erheben. Der Patriarch fiihrte den Tite1 ,,Erzbischofvon Pee, Metropolit von Belgrad-Karlovci und Serbischer Patriarch". Oberstes Organ der Kirche war die Vollversammlung der BischOfe. Zwischen ihren Treffen leitete ein Synod aus vier BischOfen und dem Patriarchen die laufenden GescMfte und fiihrte die Entscheidungen der Vollversammlung aus. Die Laien hatten relativ wenig Einfluss in der Kirchenleitung. Diese Struktur ist der SOK im Grundsatz bis heute zu eigen. Wie der erste jugoslawische Staat in Armee, Polizei, Regierung und diplomatischem Dienst serbisch dominiert war, so hatte auch die orthodoxe Kirche eine bevorzugte Stellung. So wurde etwa an der Universitat in Zagreb eine Fakultiit fUr orthodoxe Theologie errichtet. Doch blieb die Kirche zunachst auch in deutlicher Abhangigkeit yom Staat, der alle Emennungen von BischOfen und die Wahl eines neuen Patriarchen genehmigen musste. Zu einer groBen Auseinandersetzung kam es Mitte der dreiBiger Jahre, als die Regierung ein Konkordat mit dem Vatikan abschlieBen wollte. Als das Abkommen yom Parlament trotz groBer, zum Teil in blutigen Demonstrationen ausgetragener Proteste gebilligt wurde, exkommunizierte die SOK alle orthodoxen Abgeordneten, die dafUr gestimmt hatten, und verhinderte so das Konkordat. In der Zeit zwischen den Weltkriegen gab es innerhalb der SOK eine auBerst bedeutende Laienbewegung, die so genannten ,,Bogomoljci" (etwa: Beter zu Gott). Ihr geistlicher FUhrer war BischofNikolaj Velimirovie, eine der wichtigsten Gestalten der SOK im 20. Jahrhundert, der heute als heilig verehrt wird. Er hatte in seinen Werken die Idee yom einfachen serbischen Bauem als dem idealen Christen entwickelt. Die Bewegung sorgte vor allem fUr ein Aufbliihen des serbischen Monchtums. Wiihrend des Zweiten Weltkriegs wurde Bischof Velimirovie ebenso wie Patriarch Gavrilo von den Deutschen interniert und schlieBlich in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Beide erlebten das Kriegsende auBer Landes. Wiihrend der Patriarch im Herbst 1946 wieder nach Jugoslawien zuriickkehrte, starb BischofNikolaj 1956 im amerikanischen Exil. 1m "Unabhiingigen Staat Kroatien" (NDH) begann sehr schnell nach dessen Griindung 1941 eine Verfolgung aller Serben, was auch die orthodoxe Kirche in schwere
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15. Die Religionsgemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien
Mitleidenschaft zog. (~ Kap. II) Zahlreiche GUiubige und Priester wurden urngebracht oder vertrieben. Viele Kirchengebiiude wurden zerstort. Drei der orthodoxen BischOfe und mehr als 170 Priester (von 577 auf dem Gebiet dieses Staates) wurden ermordet, die iibrigen BischOfe und 334 Priester nach Serbien deportiert. Die Regierung versuchte eine Ideologie von "orthodoxen Kroaten" zu entwickeln und lieB durch einen russischen Emigrantenbischof eine ,,Kroatische Orthodoxe Kirche" grUnden, die jedoch nur eine kirchengeschichtliche Episode blieb. Auch in Serbien war unter deutscher Verwaltung eine nonnale kirchliche Tiitigkeit nicht moglich. Nach der Internierung des Patriarchen iibernahm Metropolit Josifvon Skopje die Kirchenleitung. Auch nach dem Krieg konnte sich die SOK nicht konsolidieren. Sie war zuniichst ihres Oberhauptes und vieler BischOfe beraubt, zahlreiche Priester und Gliiubige waren urns Leben gekommen, ihr fehlten die notwendigsten materiellen Voraussetzungen, und iiberdies sab sie sich noch einem kirchenfeindlichen Regime gegeniiber. Dieses verbinderte nicht nur die Nonnalisierung des kirchlichen Lebens, sondem sorgte durch Schauprozesse (BischofVarnava 1948) und die Verfolgung von Gliiubigen fUr weitere Schwierigkeiten. So wurde praktisch der gesamte Kirchenbesitz (his auf Gebiiude, die gottesdienstlichen Zwecken dienten) verstaatlicht. Erst ab den sechziger Jahren hOrte die direkte Verfolgung auf. Allerdings gab es fUr praktizierende Gliiubige auch weiterbin eine Reihe von Einschriinkungen. Sie konnten bestimmte Berufe (Lehrer, Regierungsbeamte) nicht ausiiben und in anderen keine Karriere machen. Schikanen gegen die Kirchen lagen meist in der Willkiir der lokalen BehOrden. Kirchlicher Religionsunterricht und die Prasenz der Kirchen in offentlichen Einrichtungen (Krankenhiiuser, Annee, Gefangnisse) war selbst dann nicht moglich, wenn das von betroffenen Gliiubigen ausdriicklich gewiinscht wurde. Vor allem aber bemiihte sich der Staat mit einigem Erfolg darum, die Kirche von allen anderen gesellschaftlichen Bereichen fern zu halten. So wurden etwa kirchliche Ereignisse in den Medien verschwiegen. Die Feiertage waren nonnale Arbeitstage. Die SOK wurde somit erfolgreich marginalisiert. Ein groBes Problem war fUr die SOK die Orthodoxie in Makedonien. Nachdem im Verlauf des Zweiten Weltkrieges die Makedonen als Nation anerkannt worden waren, stellte sich bei ibnen die Frage nach einer Makedonischen Orthodoxen Kirche (MOK). Solche Bestrebungen wurden auch von den staatlichen BehOrden massiv unterstiitzt, wohl weniger, urn die serbische Nation zu schwiichen, wie das von serbischer Seite oft unterstellt wurde, als vielmehr zur Abwehr auslandischer Anspriiche aufMakedonien. Die SOK betrachtete die makedonischen Diozesen als die ihren und Makedonien als Siidserbien. Aufgrund staatlicher Bebinderungen gab es kaurn Kontakte zwischen dem Patriarchat und den Diozesen in Makedonien, bis man sich 1958 darauf einigte, dass die MOK unter dem serbischen Patriarchen autonom, aber nicht ganz selbstiindig sein sollte. 1967 proklamierte sich die MOK einseitig als unter dem Erzbischof von Skopje autokephal. Dieser Schritt ist bisher weder von der SOK noch von sonst einer Kirche anerkannt worden. Die SOK hat ihren Anspruch auf die orthodoxen Christen in Makedonien nie aufgegeben, konnte ibn allerdings seither nicht mehr realisieren. Auch die Theologie der SOK litt unter den eingeschriinkten Moglichkeiten seit Kriegsende. Der bedeutendste Theologe dieser Zeit, Justin Popovic, wurde der Universitiit verwiesen und musste bis zu seinem Tod 1979 in einem abgelegenen Kloster leben,
15.2. Religionsgemeinschaften: nach 1918
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von wo er al1erdings durch seine schriftstellerische und pastorale Tiitigkeit bedeutenden Einfluss entfaltete. 1953 wurde die Theo10gische Fakultlit Be1grad von der Universitlit getrennt und gilt seither als private Bildungseinrichtung, was betriichtliche finanzielle Fo1gen fUr die Kirche hatte. Abso1venten der Fakultlit konnten auJ3erhalb der Kirche keine Besch1iftigungsmoglichkeiten finden. Doch er1angte in der SDK eine Gruppe jiingerer Theo10gen wachsende Bedeutung, die stark unter dem Einfluss von Popovic standen. Zwneist Monche, spiiter oft Professoren an der Theo10gischen Fakultlit und BischOfe, priigten sie durch ihren konsequenten Riickgriff auf die orthodoxe theo10gische Tradition, durch ihr offentliches Wirken und auch durch ihre Betonung der spezifisch serbischen Be1ange stark die Theo10gie und auch die Erscheinungsfonn der SDK in den 1etzten Jahren. Die Lage der SDK iinderte sich grundsiitzlich in den achtziger Jahren. Zuniichst waren es Stimmen innerha1b der Kirche (unter ihnen die genannten Popovic-Schiller), we1che die Lage der serbischen Nation vor al1em auf dem Kosovo und in den Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina kritisierten und von Kirchenleitung und Republiksregierung stiirkeres Engagement ZlUll Schutz der Serben verlangten. Nach der Machtiibemahme von Slobodan Milosevic wurde eine solche Position auch von der serbischen Politik unterstiitzt, sofem es wn Fragen der nationalen Konsolidierung ging. So durfte etwa die Kirche des HI. Sava in Belgrad weitergebaut werden: 1m Stadtzentrwn, an der Stelle, wo die Tiirken die Reliquien des GrUnders der SDK verbrannt hatten, entstand eine riesige Kirche, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg geplant und begonnen, jedoch aus politischen GrUnden nicht errichtet worden war. Weitere Kirchenbauten, die pastoral notwendiger gewesen w11ren, etwa im Neubauviertel Novi Beograd, wo Hunderttausende von Menschen lebten, wurdenjedoch nicht genehmigt. Die iibereinstimmende Haltung von SDK und serbischer Republiksfiihrung in der nationalen Frage wurde in der Kosovo-Thematik deutlich. Seit Jahren wurden in den kirchlichen Medien Berichte iiber Untaten von Albanem gegen Serben publiziert. In 1ihnlicher Weise wurde iibrigens auch immer wieder an die Untaten erinnert, die wiibrend des Zweiten Weltkrieges von kroatischer Seite an Serben begangen worden waren. Die Publikationen 1ihnelten einander bis in die Terminologie ("Genozid an den Serben"). An der 600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld im Juni 1989 nahmen auch kirchliche Vertreter teil. Dies war der letzte offentliche Auftritt des greisen Patriarchen Gennan, dessen Nachfolger im Dezember 1990 Patriarch Pavle wurde. Die SDK verhielt sich gegeniiber der Regierung auch deshalb kritisch, weil ihr die Erfiillung elementarer Forderungen wie Religionsunterricht, Militiirseelsorge oder die Riickgabe beschlagnahmten Kirchenbesitzes versagt blieb. Auch kam die monarchistische Grundhaltung weiter Kreise der Kirchenfiihrung, in den Jahren vor Kriegsausbruch immer deutlicher zutage.
15.2.2. Die katholische Kirche Die katholische Kirche in Jugoslawien umfasste den groBten Teil der Kroaten (in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina), die Slowenen (von denen ein kleiner Teil evange-
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lisch war) sowie kleinere Gruppen von Ungarn in Slawonien und der Vojvodina, einige Albaner auf dem Kosovo und andere kleinere Gruppen. Wegen der groBen Bedeutung der nationalen Frage bliebenjedoch die kroatischen Katholiken die wichtigste und einflussreichste Gruppe im jugoslawischen Katholizismus. 1m Konigreieh Jugoslawien gab es zwar eine formale Gleichstellung von Orthodoxie und Katholizismus, de facto aber wurde die katholische Kirche erheblich benachteiligt. Das betraf vor allem die katholische Presse sowie das ausgepragte katholische Verbandswesen, besonders die unter italienischem Einfluss entstandene ,,Katholische Aktion". Die ursprungliche Begeisterung fUr einen gemeinsamen jugoslawischen Staat, die ja auch im katholischen Klerus zu finden gewesen war, wich sehr bald der Enttauschung fiber die Realitat dieses Staates. Der Versuch einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche durch ein Konkordat Mitte der dreiBiger Jahre wurde, wie oben dargestellt, durch die SOK verhindert. Ais 1941 der jugoslawische Staat unterging und der "Unabhiingige Staat Kroatien" gegriindet wurde, fand dieser Schritt zunachst Zustimmung innerhalb der katholischen Kirche. Der Erzbischofvon Zagreb, Alojzije Stepinac, begriiBte ausdriicklich die Griindung des Staates. Schnell allerdings wich diese Zustimmung einer kritischeren Haltung, insbesondere als die Verfolgung von orthodoxen Serben zunahm. Da die bisher zugiinglichen Quellen zur Haltung der katholischen Kirche in Kroatien wiihrend des Krieges nicht fUr eine endgiiltige Bewertung ausreichen, lasst sich nur so viel sagen: Die Kirche hat sieher nicht, wie es ihr nach dem Krieg von den neuen Machthabem und bis heute von weiten Kreisen in Serbien vorgeworfen wurde, das System ohne Vorbehalte unterstiitzt und die TerrormaBnahrnen gegen die serbische Bevolkerung mitgetragen. Es gab allerdings BischOfe und Priester, die sich offen auf die Seite der herrschenden faschistischen Ideologie gestellt haben. Ebensowenig lasst sich aber sagen, dass die Kirche alles ihr Mogliche getan habe, urn gegen die Verfolgungen und den Terror einzuschreiten. Besonders urnstritten sind in dieser Frage die so genannten "Umtaufen": Serbische Glaubige, die den Katholizismus annahmen, waren in der Regel vor VerfolgungsmaBnahmen einigermaBen geschiitzt. Serbischerseits wurde und wird diese Praxis (deren zahlenmiiBiger Umfang urnstritten ist) als ,'proselytismus" bezeichnet: Die katholische Kirche habe die Notsituation der serbischen BevOikerung ausgenutzt, urn die Zahl ihrer Glaubigen zu erhOhen. Das Argument der katholischen Kirche lautet, dass kirchenrechtlieh eine "Umtaufe" ohnehin nicht moglich ist; die Ausstellung von Bescheinigungen, dass bestimmte Personen katholisch seien, habe diesen geholfen, die Verfolgungen zu fiberleben. Es gibt Zeugnisse von Serben, die nach dem Krieg etwa Erzbischof Stepinac bescheinigten, er habe sich personlieh eingesetzt, urn ihnen zu helfen. Es gibt ebenso Zeugnisse fiber Verfolgungen, an denen katholische Priester aktiven Anteil hatten. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist einer der Hauptstreitpunkte zwischen der SOK und der katholischen Kirche bei den Kroaten. Wiihrend Erzbischof Stepinac bei den Serben irn Allgemeinen als Kriegsverbrecher gilt, hat Papst Johannes Paul II. ihn auf Bitten des Erzb: .lUllS Zagreb im Oktober 1998 selig gesprochen. Nach dem Krieg kam es zu mehreren Begegnungen zwischen Tito und fiihrenden Personliehkeiten der katholischen Kirche, darunter auch Erzbischof Stepinac, mit dem Ziel, den Kirchenffusten dazu zu bringen, die Kontakte mit dem Vatikan abzubrechen
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und eine nationale kroatische Kirche zu griinden. Als Stepinac sich weigerte, wurde er unter der Anldage des Hochverrats 1946 einem Schauprozess unterzogen und zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach einigen Jahren wurde er begnadigt und konnte bis zu seinern Tod 1960 im Hausarrest in seinem Heimatdorfleben. Als Papst Pius XII. den Gefangenen 1952 rum Kardinal ernannte, diente das der jugoslawischen Regierung rum Anlass, die diplomatischen Beziehungen rum Vatikan abzubrechen. Die weiter oben beschriebenen Einschriinkungen des kirchlichen Leben im sozialistischen Jugoslawien galten grundsiitzlich auch fUr die katholische Kirche. Aufgrund der Vorwiirfe rum Verhalten des Klerus wiihrend des Zweiten Weltkriegs war die Toleranz gegeniiber der katholischen Kirche noch geringer. Die Verstaatlichung nach dem Krieg traf vor allem die sozialen Einrichtungen der katholischen Kirche (Schulen, Krankenhiiuser, Kindergiirten u.a.). Auch die Theologische Fakultiit in Zagreb wurde aus der Universitat ausgeschlossen und konnte nur als Prlvateinrichtung weiter existieren. (Dieser Beschluss wurde 1991 riickgiingig gemacht.) FUr die Ausiibung der Staatsmacht war es ein Storfaktor, dass die katholische Kirche ihr Oberhaupt auBerhalb Jugoslawiens hatte. Das bedeutete rum einen, dass es immer groBe intemationale Solidaritiit mit der Kirche bei VerfolgungsmaBnahmen gab, andererseits, dass man die Kirche nicht so leicht und so erfolgreich unterdriicken konnte wie etwa die orthodoxe. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen rum Vatikan war ein Versuch, die Katholiken im eigenen Lande zu isolieren. Die Kirche ihrerseits erkannte viele der staatlichen MaBnahmen nicht an. So wurde bis rum Tode von KardinaI Stepinac kein Nachfolger fUr ibn als Erzbischof von Zagreb ernannt, sondem nur ein Administrator fUr das Amt: FUr die Kirche blieb Stepinac der legitime Erzbischof, auch als er im Zuchthaus saB. Eine Verlinderung der Situation ergab sich im Zusammenhang mit dern 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965), das eine Offuung der Kirche zur Welt mit sich brachte. FUr Jugoslawien bedeutete dies, dass 1966 die Unterzeichnung eines ,,Protokolls" zur Regelung offener Fragen und 1970, nach einem Besuch Titos bei Papst Paul VI., die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen moglich war. Die katholische Kirche hat jedoch im Rahmen der Moglichkeiten immer ihre Unzufriedenheit mit den Verhiiltnissen in Jugoslawien deutlich artikuliert und war daher auch biiufig den staatlichen BehOrden ein Dom im Auge, rumal sie es vermochte, zu kirchlichen Ereignissen Hunderttausende von Gliiubigen zu versammeln. Die Wochenzeitung "Glas Koncila" (Stimme des Konzils) war wichtigstes Organ der Verlautbarungen der Bischofskonferenz und wurde mehrmals verboten. Die Beschwerden der Bischofskonferenz betrafen zwar oft Anliegen der kroatischen Nation (etwa im Zusammenhang mit dem ,,kroatischen Friihling" 1971), aber auch grundsiitzliche Fragen von Glaubensfreiheit. Aus diesern Grund war die katholische Kirche viel biiufiger als die SOK Ziel von Angriffen aus Staat und Partei. Der Vorwurf des ,,Klerikalismus" meinte fast immer katholische Kleriker. Innerkirchlich konnten sich die Neuerungen des 2. Vatikanwns nicht so schnell durchsetzen wie in anderen katholischen Ortskirchen. Obgleich eine Gruppe von Theologen die Gesellschaft ,,Krscanska sadasnjost" (Christliche Gegenwart) griindete, die vor allern durch ihre Publikationen wirkte und die hOchste Autlagenzahl unter den kirchli-
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chen Publikationen in den sozialistischen Uindern erreichte, lie13 die Umsetzung der Beschliisse des Konzils in vielen DiOzesen auf sich warten. Eine aktivere Beteiligung der Laien wurde nur sehr langsam entwickelt, auch aufgrund objektiver Probleme. Durch die Ausbildung vieler Theologen im Ausland (ltalien, Deutschland, Frankreich) und durch zahlreiche Kontakte in diese Lander war eine Anbindung an die katholische Weltkirche gewiihrleistet. In der Theologie war neben den historischen F1ichern (Erforschung des Glagolismus, des Bogumilentums) vor aHem die Systematik (Tomislav SagiBunie) von groBer Bedeutung. Neben den Kroaten sind auch die Slowenen iiberwiegend katholisch. Die Kirche dort hat haufig eine leicht differenzierte Haltung eingenommen. So wurde die Bedriickung im ersten jugoslawischen Staat von den Slowenen nicht so stark empfunden wie von den Kroaten. Ein katholischer Priester, Anton Korosec, war sogar zeitweise jugoslawischer Innenminister. Auch nach dem Krieg gab es in Slowenien nach anfanglichen schweren Verfolgungen weniger Schwierigkeiten fur Katholiken als in Kroatien oder Bosnien-Herzegowina. Der Erzbischofvon Ljubljana, Joze Pogacnik, sagte 1972, dass auch das schlechteste Jugoslawien fur die Slowenen die beste Losung sei. Nachdem der Vatikan 1968 eine slowenische Kirchenprovinz mit dem Erzbistum Ljubljana als Metropolie errichtet hatte, wurde auch innerhalb der Bischofskonferenz Jugoslawiens eine Teilkonferenz fur die slowenischen BischOfe geschaffen. In Jugoslawien gab es auch eine Gruppe von Katholiken des ostlichen Ritus ("Vnierte"). Sie waren zumeist entweder seit langem kroatisierte Serben oder aber Ruthenen. Da ihre Zahl gering war und da es keine Versuche von katholischer Seite gab, weitere Vnionen durchzufiihren, stellten sie fur die Beziehungen zwischen den Kirchen keine groBe Belastung dar. Auch waren sie wiihrend der kommunistischen Zeit nicht wie in anderen Staaten verboten. Wenn die SOK in den letzten Jahren der katholischen Kirche "Vniatismus" vorwarf, waren damit eigentlich die "Vmtaufen" aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges gemeint. Eine wichtige Rolle im Katholizismus Jugoslawiens spielten die Ordensgemeinschaften. Zahlreiche Frauenorden und -kongregationen waren vor allem auf sozialem Gebiet aktiv; so weit das moglich war, auch wiihrend des Kommunismus. Vor allem in Bosnien-Herzegowina waren Franziskaner in der Seelsorge Uitig; diese seit der Tiirkenherrschaft bestehende Tradition setzte sich auch nach der Errichtung einer Hierarchie 1881 fort. Das fiihrte haufig zu Konflikten zwischen den Franziskanern und den BischOfen, vor allem im Bistum Mostar, wo viele Gemeindenjahrzehntelang praktisch ohne Kontakt mit dem Bistum existierten. Die angeblichen Marienerscheinungen im DorfMedugorje lassen sich in diesem Kontext interpretieren. Die Kirche hat mehrfach autoritativ die Authentizitat dieser Erscheinungen verneint.
15.2.3. Der Islam Zum Islam bekannten sich in Jugoslawien vor aHem die Bosniaken ("bosnische Muslime") sowie die Albaner auf dem Kosovo und in Makedonien. Bis in die 60er Jahre, als der Begriff der ,,Muslimani" (',Muslime" als ethnische Bezeichnung fur die slawische
15.2. Religionsgemeinschaften: nach 1918
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Bevolkerung islamischer Tradition, von der religiosen Bezeichnung ,,muslimani" nur durch die GroBschreibung unterschieden) geschafIen wurde, galten die Muslime in Bosnien-Herzegowina meistens als Serben oder als Kroaten. Viele von ihnen pflegten sich vor aHem nach dem Zweiten Weltkrieg auch als ,,Jugoslawen" zu bezeichnen, urn die Bezeichnungen "Serben" oder ,,Kroaten" zu vermeiden, die ja jeweils auch durch eine eindeutige religiose Pragung gekennzeichnet waren. 1m Jugoslawien der Zwischenkriegszeit, das sich zunachst als Staat der Serben, Kroaten und Slowenen konstituiert hatte, wurde den Muslimen nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet, rumal sie ihre Religion von den Tiirken angenommen hatten, einem der historischen Hauptfeinde Serbiens. Zwar wurden die Muslime nicht systematisch unterdriickt, doch gab es auch keine besondere Forderung des Islam, dessen zivilisatorisches Niveau man uberdies noch fUr auBerst gering hielt. Muslime hatten kaurn die Chance, fiihrende SteHungen im Staat zu erlangen. Innerhalb des Islam selbst gab es zwei VorstoBe fUr eine Modernisierung und Europaisierung, von denen der zweite gelang. Insgesamt war die muslimische Bevolkerung in Bosnien-Herzegowina ihrem Glauben vor dem Zweiten Weltkrieg fest verbunden. Allerdings hatten sich bereits einige Reformen durchgesetzt, so etwa die Abhaltung des Religionsunterrichts in der Muttersprache (statt in Arabisch) und die zunehmende Tendenz, dass Frauen in der OfIentlichkeit ohne Schleier auftraten. Doch haben sich beim ersten dieser Vorst08e die F orderungen des Vorsitzenden der Islamischen Gemeinschaft Bosniens, Mehmed Dzemaludin Efendi Causevic, gegenuber dem eigenen Gemeinderat und den Glaubigen nicht durchsetzen konnen. Bei der Kontroverse, die CauSevic 1927 losgetreten hatte, ging es vor aHem urn Fragen wie die Schleierpflicht fUr Frauen und die sinnvoHe Nutzung der religiosen Stiftungen, aber auch urn das Therna, ob Muslime Hilte tragen diirften. Obgleich der Vorsitzende der Islamischen Gemeinschaft letztlich nachgeben musste, wurden seine Forderungen nach und nach urngesetzt. Zehn Jahre spater gelang es dem nachsten Vorsitzenden der Islamischen Gemeinschaft, Fehim Spaho, die Vereinbarkeit islamischer Prinzipien und modemer geseHschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen deutlich zu machen. So konnte sich in Bosnien eine Form des Islam entwickeln, die die schrittweise Modernisierung der GeseHschaft akzeptierte. Ubrigens zeigt sich ein interessanter Aspekt der religiosen Praxis der bosnischen Muslime darin, dass Spaho von ihnen verlangte, sie sollten die Verehrung des serbischen Nationalheiligen Sava einstellen und katbolische Kirchen nur noch dann besuchen, wenn sie dabei ihren Fez auf dem Kopf behalten diirften. Ganz ofIensichtlich war es also fUr die Muslime ublich, auch religiose Brauche der mit ihnen lebenden Orthodoxen und Katboliken zu ubemehmen. Wahrend des Zweiten Weltkriegs gehorte Bosnien rum "Unabbangigen Staat Kroatien". Die Ideologie dieses Staates betrachtete die Muslime als Kroaten islamischen Glaubens, so dass der Islam unbeheUigt blieb. Muslime, die ebenso in den kroatischen Verbmden als auch bei den Partisanen kampften, wurden vor allem von serbischen Tschetniks blutig bekampft. Da sich das Kriegsgeschehen aufbosnisches Territoriurn konzentrierte, hatten die Muslime nach seriosen Berechnungen im Verbaltnis zu ihrem Bevolkerungsanteil die gro8ten Verluste zu tragen.
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15. Die Reiigionsgemeinschaften im ehemaiigen Jugosiawien
Nach dem Krieg wurde auch der Islam yom neuen Regime unterdriickt. Die BehOrden in Bosnien-Herzegowina galten als die strengsten gegeniiber den Religionsgemeinschaften. Die ohnebin nicht fest strukturierte islamische Gemeinschaft wurde dadurch noch erheblich geschwacht, ebenso durch einige politische Prozesse in den Jahren nach dem Krieg, in denen islamische Aktivisten, darunter die Gruppe der "Jungmuslime", hart bestraft wurden. Zu beachten ist auch, dass in der ersten Halfte des Jahrhunderts mehrere Hunderttausend Muslime in die Tiirkei emigriert waren, so dass ein groI3er Teil der religios bewussten und aktiven Bevolkerung das Land bereits verlassen hatte. Die Sakularisierung ging so weit, dass der Islam unter den bosnischen Muslimen nur noch wenige Anhanger hatte, die sich tatsachlich an die Glaubensregeln bielten. Auch auf dem Kosovo war es nicht viel anders. Nirgends in Jugoslawien gab es Tendenzen zum sog. "Islamismus" oder ,,Fundamentalismus", also zu Versuchen, die Gesellschaft nach rigoros verstandenen islamischen Prinzipien umzugestalten. Die Marginalisierung von Religion in Jugoslawien war beim Islam am erfolgreichsten. 1m Jahr 1977 wurde in Sarajevo eine islamische Theologische Fakultat gegriindet. Bislang hatte der theologische Nachwuchs im Ausland (vor allem in Kairo) studiert. Jetzl konnte langsam eine breitere Scbicht islamischer Intellektueller entstehen. In ihren Publikationen ist hiiufig das Bemiihen sichtbar, die Prinzipien des Islam mit den Anforderungen einer modernen Gesellschaft zu vereinbaren. Mit dem Beginn der politischen Krise im Land begannen sich auch im Islam Tendenzen verstiirkter Hinwendung zu den Wurzeln des Glaubens zu zeigen. Zu einer Gruppe politisch aktiver Muslime gehOrte der spatere Staatsprasident Alija Izetbegovic. Er war bereits Ende der 40er Jahre als einer der "Jungmuslime" verurteilt worden und nun erneut 1983, da er in seinen Schriften, vor allem der viel zitierten (und wenig gelesenen) "Islamischen Deklaration", versucht hatte, die Grundlagen eines yom Islam gepragten Staates darzustellen, die natiirlich nicht mit denen des sozialistischen Jugoslawien iibereinstimmten. Doch kann sein Werk weniger als Sarnmlung revolutioniirer Schriftten gelten als vielmehr religiOs-mystisch gepragter staatstheoretischer Abhandlungen. Gegen Ende der achtziger Jahre kam auch der Islam wieder zu groI3erer Bedeutung, obgleich er nicht so einflussreich wurde wie Katholizismus und Orthodoxie bei Kroaten und Serben. Auch die nationale Konsolidierung der bosnischen Muslime (Bosniaken) wiihrend des Krieges brachte nur eine bedingte Hinwendung zum Islam. Versuche strengerer Religionsfiihrer oder auslandischer Muslime, einige wichtige Vorschriften des Islam durchzusetzen, sind haufig gescheitert. Das bier fUr Bosnien-Herzegowina Gesagte gilt grundsatzlich auch fUr die Muslime albanischer Nationalitat auf dem Kosovo. Zwar verlaufen die Trennlinien zum ethnischen Gegner, den Serb en, auch bier entlang der religiOsen Unterscheidungen, doch hat in den vieWiltigen Spannungen und Konflikten zwischen beiden Volksgruppen auf dem Kosovo die Religion nie eine sonderliche Rolle gespielt, und es wurde hochstens von politischer Seite versucht, sie zu instrumentalisieren. Tatsachlich bekennen sich die Kosovo-Albaner zwar zum groI3ten Teil zum Islam, doch spielt die Religion bei ihnen kaum mehr als eine traditionelle Rolle, insofern sie eben die Kultur gepragt hat. Politischer Einfluss lasst sich dem Islamjedenfalls nicht zuschreiben.
15.2. Religionsgemeinschaften: nach 1918
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15.2.4. Die iibrigen Religionsgemeinschaften 1m fiiiheren Jugoslawien waren andere Religionsgemeinschaften als die bisher genannten nur von marginaler Bedeutung. Die beiden wichtigsten von ihnen, die evangelischen Kirchen und das Judentum, seien dennoch bier aufgefiihrt. Andere Religionen spielen keine Rolle, andere christliche Gemeinschaften nur eine iiuBerst kleine. Hier lieBen sich am ehesten die Adventisten nennen, die eine rege Tiitigkeit zwischen den Weltkriegen entwickelt hatten. Auch heute gibt es noch Gruppen von Adventisten in den einzelnen Nachfolgestaaten. Sekten hatten in Jugoslawien kaum Einfluss.
15.2.4.1 Die evangelischen Kirchen
Vor allem in den Gebieten, die vor 1918 zu Ungarn gehOrten, also in der Vojvodina und in Slawonien, gibt es relevante Gruppen von evangelischen Christen, sowohl Lutheraner als auch Reformierte. Sie sind zumeist mit der ZugehOrigkeit zu einer ethnischen Minderheit verbunden, vor allem Ungarn und Slowaken. Doch ist auch bei den Slowenen, wo die Reformation schon sehr fiiih FuB gefasst hatte, ein (kleiner) Teil der Bevolkerung evangelisch. Durch Migrationsbewegungen und Missionsarbeit gibt es inzwischen auch kleinere evangelische Gemeinden in anderen Gebieten. Nach dem Ersten Weltkrieg organisierten sich die evangelischen Christen im neuentstandenen Staat als lutherische und als reformierte Kirche. Die lutherische Kirche, die alle nationalen Gruppen umfasste, war in "Seniorate" eingeteilt. Die slowakischen Lutheraner allerdings bildeten (aufgrund ihrer GroBe) eine eigene, unabbiingige Kirchenorganisation mit drei Senioraten, nach 1930 auch die in Jugoslawien lebenden Deutschen, die dann zum groBten Teil nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Nach dem Krieg war die slowakische evangelische (lutherische) Kirche in der Vojvodina und Slawonien die groBte der evangelischen Kirchen. Ihr Bischof hat seinen Sitz in Novi Sad. AuBerdem gab es eine reformierte ungarische Kirche (ebenfalls in der Vojvodina, Sitz in Subotica), eine lutherische Kirche in Slowenien und ein selbstiindiges Seniorat in Zagreb. Die reformierten Christen sind fast ausschlieBlich ethnische Ungarn. Sie hatten eine Kirchenorganisation mit Sitz in Slawonien. Nach dem Zerfall Jugoslawiens haben sich in den meisten Nachfolgestaaten eigene evangelische Kirchenorganisationen gebildet. Die Tatsache, dass die evangelischen Kirchen so eng mit den Minderheitennationen verbunden sind, ist der Grund dafiir, dass sie einerseits kein groBes Gewicht in Jugoslawien besaBen, andererseits aber auch nicht in die wachsenden Probleme zwischen katholischer und orthodoxer Kirche verwickelt wurden. Die evangelischen Kirchen hatten auf lokalem Niveau oft groBen Anteil an okumenischen Begegnungen (wenn auch gegen den Widerstand der orthodoxen und der katholischen Amtstriiger).
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15. Die Religionsgemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien
15.2.4.2 Das Judentum
Auf dem jugoslawischen Gebiet gab es eine signifikante Zahl von Juden (neben kleineren Gemeinden, die schon friiher bestanden), vor allem seit 1492, als die im Rahmen der reconquista aus Spanien vertriebenen (sephardischen) Juden im Osmanischen Reich Aufnahme fanden und sich vorwiegend in Bosnien ansiedelten. In den Orten der ehemals ungarischen Landesteile lebten auch Aschkenasi. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren in Sarajevo sowie in Novi Sad, Belgrad und Zagreb die bedeutendsten Gemeinden. Wie fiberall in Europa, so war auch in Jugoslawien der Zweiten Weltkrieg fUr die Geschichte der Juden von einschneidender Bedeutung: Sie wurden fast alle ermordet. 1m "Unabhlingigen Staat Kroatien" bezogen sich die VerfolgungsmaBnahmen nicht nur aufSerben, sondem ebenso auf Juden und aufRoma, die in Lager gebracht und getOtet wurden. Doch auch in Serbien verfolgten die deutsche Besatzungsmacht und ihre serbischen Helfer die Juden mit groBer Brutalitiit, in Makedonien lieferten die bulgarischen Besatzer die dortigen Juden den Deutschen aus. Das Ergebnis war, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg von einst ca. 76.000 nur noch etwa 1.400 Juden in Jugoslawien gab. Gemeinden bestanden in einigen groBen Stlidten, der einzige Rabbiner lebte in Belgrad. In den Jahren nach dem Krieg und wlihrend der wirtschaftlichen und der politischen Krise der achtziger und neunziger Jahre wanderte ein Teil der Juden nach Israel aus, obgleich der jugoslawische Staat keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhielt. Aufgrund ihrer kleinen Zahl spielten die Juden im religiosen Leben Jugoslawiens keine Rolle. Viele Juden erwarben allerdings groBes Ansehen als Schriftsteller, Musiker oder Publizisten. Die jfidische Gemeinde von Sarajevo hat wlihrend der Belagerung der Stadt eine enorme soziale und karitative Aktivitiit entfaltet, die weit fiber die eigene kleine Gemeinde hinausreichte und intemationales Ansehen erlangte. 15.2.5. Okumenische Beziehungen und die Kriege der neunziger Jahre
Jugoslawien war der einzige Staat, in dem es in der Mehrheitsbevolkerung in signifikanter Zahl sowohl Orthodoxe als auch Katholiken gegeben hat. Das Mtte erwarten lassen, dass es rege okumenische Kontakte gegeben Mtte. Tatslichlich war das Gegenteil der Fall: Die Kirchen und Religionsgemeinschaften hatten kaum Verbindungen miteinander. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war das insofem nicht ungewohnlich, als die katholische Kirche strikt gegen alle okumenischen Verbindungen war. Da nach traditioneller katholischer Auffassung der einzige Weg zum Heil im katholischen Glauben lag, wurden okumenische Kontakte fUr scMdlich gehalten, da sie ja eine implizite Anerkennung der anderen Christen bedeuteten. Erst mit Papst Johannes XXill. (1958-1963) linderte sich diese Einstellung der katholischen Kirchenspitze, die ja an der Basis oft schon nicht mehr befolgt wurde. Die SOK hingegen hatte vor allem mit der Kirche von England im Rahmen der Okumenischen Bewegung Kontakte. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges machte nicht nur okumenische Beziehungen unmoglich, sondem prligte auch die folgenden Jahrzehnte. Die Serben sahen eine Mitschuld der
15.2. ReJigionsgemeinschaften: nach 1918
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katholischen Kirche an ihren Leiden wahrend des Krieges, wahrend man in Kroatien die SOK fUr eine Stiitze des Systems hielt, das im ersten Jugoslawien den Kroaten das Leben so schwer gemacht hatte. Diese gegenseitigen Vorwiirfe konnten aber kawn artikuliert und nicht aufgearbeitet werden. Dazu kamen die politischen Verhiiltnisse in Jugoslawien, wo man eine Annaherung zwischen den Kirchen nicht unterstiitzte, und das allgemein ungiinstige okwnenische Klima, so dass Kontakte praktisch immer vom guten Willen einzelner Personen abhingen. Eine giinstige Konstellation gab es etwa in Banja Luka, wo die Oberhiiupter der drei groBen Religionsgemeinschaften gut zusammenarbeiteten. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der katholischen Kirche bahnte sich eine Anderung an, als auch in Kroatien die Umsetzung der Konzilsbeschliisse hinsichtlich der okwnenischen Beziehungen begann. 1967 setzte die Bischofskonferenz eine okumenische Kommission ein. 1968 kam es zur ersten offiziellen Begegnung zwischen dem serbischen Patriarchen German und dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Kardinal Franjo Seper. Danach gab es einige informelle Begegnungen bei anderen Anlassen, doch kein offizielles Treffen mehr. Das nachste fand erst zwischen den Nachfolgem beider Kirchenoberhiiupter im Mai 1991 statt. Ebenso gab es Begegnungen von katholischer und von orthodoxer Seite mit den Vertretem der islamischen Glaubensgemeinschaft. Besonders durch das Engagement slowenischer katholischer Theologen fanden seit 1978 im Zweij ahresabstand okwnenische Symposien zwischen den Vertretem der theologischen Fakultaten von Ljubljana, Zagreb und Belgrad statt. Dennoch gab es praktisch keine gegenseitige Rezeption theologischer Gedanken zwischen den beiden Kirchen. Das lasst sich auch anhand der theologischen Zeitschriften beider Kirchen zeigen: Obgleich es ja kein Problem der sprachlichen Verstiindigung gab, wurden die Publikationen der je anderen Kirche fast nur in (den wenigen) polemischen Arbeiten zitiert. Auch zwischen muslimischen und christlichen Theologen gab es praktisch kein formelles theologisches Gesprach. An den okwnenischen Symposien waren islamische Theologen entweder gar nicht oder als Beobachter beteiligt. Allerdings gab es vor allem in Bosnien eine alte Tradition guter Beziehungen zwischen katholischen Priestem, ganz besonders den Franziskanem, und islamischen Geistlichen. Hier fand ein Austausch statt, der jedoch nicht die Form institutionalisierter okwnenischer Dialoge hatte. 1m Jahr 1982 schlug die Bischofskonferenz dem Synod der SOK vor, eine gemischte okwnenische Kommission einzurichten, wie sie ja auch in anderen Liindem besteht. Der Synod stimmte zu, wegen verschiedener Differenzen zwischen den Kirchen kam dieses aber nicht zustande. Ein langdauemder Briefwechsel zwischen Bischofskonferenz und Synod schloss sich an, in dem beide Seiten die gegenseitigen Beschuldigungen (erstmals) artikulierten. Die Kommission ist das erste Mal in geiinderter Zusammensetzung im Januar 1992 in St. Gallen (Schweiz) auf Druck intemationaler okwnenischer Organisationen zusammengetreten. Die Religionsgemeinschaften haben in den Kriegen weitgehend die politischen Optionen vertreten, die auch die Fiihrungen ,,ihrer" Republiken artikuliert haben: Die SOK war der Meinung, die Serben in den anderen Republiken seien bedroht und hiitten das
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15. Die Religionsgemeinschaften im ehemaiigen Jugoslawien
Recht, sich zu verteidigen, wahrend die katholische Kirche das Recht der Kroaten (und Slowenen) auf Selbstiindigkeit betonte. FUr die (zum Teil neu gewlihlten) Republiksregierungen waren die Kirchen somit willkommene Biindnispartner. Beide Kirchen versuchten auch, intemationales Verstiindnis fiir ihre Positionen zu erreichen. W1ihrend sich die kroatische Bischofskonferenz vor allem an die katholischen BischOfe in der Welt wandte, adressierte die SOK ihre Stellungnahmen an die anderen orthodoxen Kirchen und an die intemationalen Grernien, in denen sie Mitglied war, nlimlich den Weltkirchenrat und die Konferenz Europiiischer Kirchen. Gleichzeitig aber kam es zu einer iiberraschenden Verstiirkung der okumenischen Begegnungen. Auf Initiative von Patriarch Pavle traf sich der Erzbischof von Zagreb, Kardinal Franjo Kuharic, mit dem Oberhaupt der SOK im Mai 1991, angesichts der eskalierenden Spannungen. Das Treffen erregte in Jugoslawien betriichtliche Aufinerksamkeit, zumal so1che Begegnungenja keine Tradition hatten. Ein von beiden gemeinsam verabschiedeter Appell forderte eine friedliche Losung. Ein weiteres Treffen fand im August 1991 statt, als der Krieg in Kroatien schon entbrannt war. Die Kirchenfiihrer verlangten emeut eine friedliche LOSWlg. Bei diesem Treffen kam es zu einer MeinWlgsverschiedenheit, als beide Seiten den Ausdruck "dieser Krieg, der uns aufgeZWWlgen wurde" fiir sich beanspruchten. Auch in den weiteren Jahren fanden eine ganze Reihe BegegnWlgen Wld Treffen statt, allerdings meistens im neutral en Ausland (zumeist in Ungam oder in der Schweiz). Die gemeinsamen Appelle dieser Treffen sind eindeutig und fordem trotz der unterschiedlichen Interpretation der Griinde fiir den Krieg einen sofortigen Waffenstillstand. W1ihrend des Krieges haben die Kirchen einzeln eine Reihe von ErkliirWlgen abgegeben. Vor allem die Texte der SOK sind dabei stark kritisiert worden, da ihre DarstelIWlg der Ereignisse abwich von dem, was die anderen Beteiligten Wld der groJ3te Teil der WeltOffentlichkeit wahrnahmen. So wird darin immer wieder die Ungerechtigkeit bedauert, die den Serben die ganze Geschichte hindurch widerfahren sei und der sie auchjetzt wieder ausgesetzt seien. Das Recht der Serben wird betont, in einem Staat zu leben; die SOK hat auJ3erdem die serbischen Staatsgebilde in Kroatien Wld in BosnienHerzegowina als legitim anerkannt, Wld so wohnten auch serbische Kirchenvertreter den SitZWlgen des ,,Parlaments" in der bosnischen Serbenrepublik bei. Alle Kriegsopfer werden beklagt. Neben der ZerstOrung von orthodoxen Kirchen wird auch die von Moscheen und katholischen Kirchen verurteilt. Bei den katholischen ErkliirWlgen werden ebenfalls die unschuldigen Opfer des Krieges bedauert. Die Bischofskonferenz betont hiiufig, dass Kroatien unschuldig in den Krieg gezogen worden sei. Ais der Krieg in der Herzegowina zwischen Kroaten Wld Muslimen eskalierte, stellte sich Kardinal Kuharic eindeutig auf den Standpunkt der Anerkennung der territorial en Integritiit des bosnischen Staates. Damit widersetzte er sich nicht nur den Fiihrem der bosnischen Kroaten, sondem auch der faktischen Politik des kroatischen Priisidenten. Der katholische Erzbischofvon Sarajevo, Kardinal Puljic, vertrat gleichfalls die Position eines Wlteilbaren Bosnien, was ihm den Respekt der bosnischen Bevolkerung und den Widerstand kroatischer Nationalisten einbrachte. Zudem kam es zu einer weiteren Verschiirfimg der BeziehWlgen zwischen der Amtskirche Wld den herzegowinischen Franziskanem, die eher die Option einer Angliederung
15.2. Religionsgemeinschaften: nach 1918
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der westlichen Herzegowina an Kroatien vertraten. Die Franziskaner der bosnischen Provinz hingegen teilten in dieser Frage die Meinung von Kardinal Puljic. Mit Beginn des Krieges in Kroatien haben die dortigen orthodoxen BischOfe ihre Sitze verlassen und sich in Gebiete zuriickgezogen, die unter serbischer Kontrolle standen. Auch die meisten orthodoxen Priester folgten diesem Beispiel. Nach der Riickeroberung der Krajina und Westslawoniens durch kroatische Truppen 1995 ist kaum ein orthodoxer Priester in Kroatien geblieben. Das Gleiehe gilt fUr Bosnien, wo alle serbischen BischOfe und fast alle Priester sich in die ,,Republika Srpska" zuriickzogen, oft mit ihren Gemeinden. Die katholischen Bischofe sind in ihren Diozesen geblieben, auch die Priester, so weit es ilmen moglich war. Die schwierigste Lage hatte sieher der katholische Bischof von Banja Luka, Franjo Komarica, der wahrend des ganzen Krieges unter schwerster Bedr1ingung dort aushielt, obwohl der grofite Teil seiner Gliiubigen aus dem Nordteil Bosniens, wo es keine Kriegshandlungen gab, vertrieben wurde. Einige katholische Priester und Ordensfrauen wurden ermordet oder sind verschollen. Bei den Muslimen hat der Krieg zu einer gewissen Konsolidierung ihrer Gemeinde gefiihrt. Die islamische Glaubensgemeinschaft hat angesiehts der schweren Bedrohung ihrer Gliiubigen zuerst zum Schutz der bosnischen Muslime aufgerufen. Gleichzeitig erfolgte eine gewisse Verhiirtung der Linie in der Leitung der Glaubensgemeinschaft; ihr als gespriichsoffen bekanntes Oberhaupt wurde durch Mustafa Ceric, den Vertreter einer strengeren Haltung abgelOst. Der Krieg verhinderte im September 1992 seine Teilnahme an dem Treffen in Bossey (bei Genf) mit dem Patriarchen und dem Kardinal, spiiter jedoch geweigerte er sich, an Begegnungen teilzunehmen, solange sich die SOK nicht fUr ihre Rolle im Krieg entschuldigt habe. Viele Muslime in der islamischen Welt haben den Krieg als Vernichtungskrieg der Christen gegen den europiiischen Islam interpretiert. Die Tatsache, dass das (christlich gepriigte) Ausland jahrelang nicht wirksam interveniert hat, gab einer solchen Interpretation Nahrung. Die logische Folge dieser Siehtweise war die Suche nach UnterstUtzung in der islamischen Welt und eine zunehmende Distanzierung yom Christentum und vor all em von den Werten der westliehen Gesellschaft, die man als christlich gepriigt verstanden hat. Eine Stiirkung des Islam in Bosnien-Herzegowina durch den Krieg ist leieht zu verstehen. Der Krieg hat somit eine doppelte Wirkung auf die Glaubengemeinschaften gezeigt: zum einen eine Konsolidierung, eine grofiere Akzeptanz in den einzelnen Gesellschaften, zum anderen aber auch eine Stiirkung der gegenseitigen Beziehungen. Die Einsicht, dass der Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften gerade in solchen Krisensituationen notwendig sei, ist sieher gewachsen, aber auch die grundsiitzlich unterschiedliche Auffassung fiber den Krieg, seine Hintergriinde und fiberhaupt fiber die ganze gemeinsame Geschichte ist deutlich geworden. Solange jedoch diese unterschiedlichen Auffassungen nicht zur Sprache gebracht werden, ist auch zwischen den Religionsgemeinschaften eine Versohnung nicht moglich.
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15. Die Religionsgemeinschaften im ehemaligen Jugos1awien
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16. Jugoslawien im Lichte seiner Sprachen Radoslav KatiCic
16.1. Dynamische Vielfalt Das Staatsgebiet Jugoslawiens umfasste den westlichen und den mittleren Teil des siidslawischen Sprachgebiets, wahrend dessen ostlicher Teil im Staatsgebiet Bulgariens liegt. Der im Namen Jugoslawien, d. h. Siidslawien implizierte Anspruch, Staat der Siidslawen zu sein, wurde daher nie verwirklicht, und doch war siidslawische Sprache und Ethnizitat das Grundprinzip, nach dem dieser Staat errichtet wurde. Tatsachlich war die Sprache der groJ3en Mehrheit seiner Bewohner (87 Prozent nach der Volkszahlung 1981) siidslawisch, andere Sprachen wurden von verhaltnismaBig kleinen Minderheiten gesprochen. Dieses eindeutige statistische Verhaltnis, das die allgemein verbreiteten Vorstellungen beherrscht, sagt iiber die wirklichen sprachlichen Verhaltnisse im jugoslawischen Staat jedoch nur wenig aus. Denn weder hat die enge Verwandtschaft siidslawischer sprachlicher Varietaten die durch ihre fast neunzigprozentige Mehrheit suggerierte Einheitlichkeit erbracht, noch waren die nichtslawischen Sprachen mit ihrem kaum etwas iiber dreizehnprozentigen Anteil so unbedeutend und marginal, wie das bloJ3e Zahlenverhaltnis dies zunachst erscheinen lasst. Urn hier die wirkliche dynamische Vielfalt zu erkennen, muss ein komplexes raumliches und historisches Kraftefeld in Betracht gezogen werden. Das kompakte siidslawische Sprachgebiet innerhalb der Grenzen des jugoslawischen Staates ist das Ergebnis einer Reihe von historischen Entwicklungen, Angleichungen und Migrationen, in denen eine urspriinglich viel buntere Sprachlandschaft eine iiberwiegend einheitliche siidslawische Physiognomie bekommen hat. Dabei sind mehrere Zeithorizonte zu unterscheiden. Schon in vorgeschichtlichen Zeiten scheint es auf diesem Gebiet eine beachtliche sprachliche Vielfalt gegeben zu haben. Dariiber weiJ3 man jedoch nur wenig. Die von den antiken Autoren iibemommene Bezeichnung illyrisch iiberdacht iiblicherweise in unserem Geschichtsbild die wirkliche sprachliche Situation dieser Vorzeit. 1m Romischen Reich setzen dann - nur im auBersten SUdosten - die Hellenisierung und im ganzen iibrigen Gebiet die Romanisierung ein. Dennoch ist die Kontinuitat autochthonen altbalkanischen Sprachguts nicht ganz unterbrochen worden. Urn das Jahr 600 hat die slawische Landnahme ein neues und iibermachtiges sprachliches Element ins Spiel gebracht, das Slawische, das sich auf altern romischem Reichsgebiet zum Siidslawischen fortentwickelte. Zunachst bestanden neben den slawischen auch autochthone romanische und albanische Sprachgemeinschaften von Gebirgshirten, die in Symbiose mit den slawischsprachigen Ackerbauem lebten. Romanisch waren Sprache und ethnische Tradition in den Stiidten lstriens und in denjenigen Dalmatiens, in denen die romische Ordnung bewahrt geblieben ist. 1m Hinterland der Agais war die Sprache der verbliebenen urbanen Lebensformen griechisch. In der weiteren Entwicklung sind aus dieser bunten sprachlichen Vielfalt die heute bestehenden kom-
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Radoslav Katicic
pakten Sprachgebiete entstanden: das Sudslawische, das Rurniinische und das Albanische. Allerdings war dem Zusammenwachsen kompakter Sprachgebiete das Einsickem alloglotter (anderssprachlicher) Elemente gegen1iiufig. Die GroBreiche, die urn die Herrschaft uber das Gebiet rangen, das nachher Iugoslawien gehOren sollte, beeinflussten es auch sprachlich durch Einwanderer einerseits und durch ubergreifenden kulturellen Einfluss andererseits. Insbesondere in den Stadten war im Lauf der Geschichte je nach Region die Gegenwart und der Einfluss des ltalienischen, Deutschen und auch Ungarischen, des Tfukischen und Griechischen stark und zeitweilig iibermiichtig. Im Lauf der Iahrhunderte wurden nach einer langen Zeit des Bilinguismus auch die Gebirgshirten im siidslawischen Raurn slawischsprachig. Ihre urspriingliche sprachliche ZugehOrigkeit ist meistens nur noch an spiirlichen Spuren zu erkennen. So benutzen ihre Nachfahren zum Teil beim Ziihlen der Schafe rumiinische Zahlworter. Die Bewegungen dieser Volkerschaften im Zusammenhang mit diversem Kriegsgeschehenhaben yom 15. bis zum 18. Iahrhundert einschneidende Veriinderungen in der arealen Verteilung der Sprachvarietiiten bewirkt. Einige sudslawische Dialekte haben sich stark verbreitet, andere sind in Riickzugsgebieten zusammengedriingt, iiberschichtet und weitgehend anderen angeglichen worden, wiihrend wieder andere ins heutige Grenzgebiet Osterreichs, Ungams und der Slowakei, oder aber nach Siiditalien verpflanzt worden sind. Die StoBrichtung dieser Bewegungen verlief von Siidosten nach Nordwesten und wurde im osmanischen Ansturm ungemein verstiirkt. Daneben gab es aber auch eine yom gebirgigen und kargen Siidwesten nach Nordosten gerichtete Bevolkerungsbewegung, in der sich das Streben nach besseren Lebensbedingungen abzeichnet. Auch diese Verlagerungen haben sprachliche Spuren hinterlassen. Im Gefolge dieser Vorgiinge entstand eine zerklUftete Mundartenlandschaft, in der die Abgrenzungen unregelmiiBig verlaufen und eher sinnlos anmuten, solange man nicht gelemt hat, an ihnen die Spuren der Geschichte abzulesen. Dann leuchten sie plOtzlich ein. Fast uberall handelt es sich urn Sprachlandschaften, die im Lauf der Geschichte nicht zur Rube gekommen sind. Mehrsprachigkeit ist dabei eher die Regel als die Ausnahme: sowohl in der alltiiglichen Sprachkommunikation wie auch als sprachliche Akkulturierung in iibergeordneten Gemeinschaften. Letzteres vollzieht sich auf der urngangssprachlichen ebenso wie auf der schrift- und kultursprachlichen Ebene. Erst die Betrachtung dieser Ebene der Akkulturation macht deutlich, wie stark die Sprachenwelt auf dem ehemaligen jugoslawischen Staatsgebiet von Mehrsprachigkeit gepriigtist.
16.2. Die Mundarten Ein Blick auf diesen Sprachraurn kann bei aller Vielfalt der Sprachen und Sprachfamilien die Bedeutung der Mundarten nicht iibersehen. Im Westen, wo sich Ostalpen und Adria beriihren, sind die alpinen siidslawischen Mundarten beheimatet, die zusammen mit pannonischen Mundarten die organische Grundlage der slowenischen Sprache abgeben. Sie haben ihre Priigung von der langwiihrenden und engen Beriihrung mit dem
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Deutschen oder dem Italienischen, unter UmsHinden auch mit beiden. In den hohen Alpentalem des aufiersten Nordwestzipfels treffen auf dem Verbreitungsgebiet dieser Mundarten die drei groBen europaischen Sprachfamilien zusammen: die romanische, die germanische und die slawische. Weiter ostlich werden kroatische Mundarten gesprochen, die cakavischen Richtung Adria, die kajkavischen Richtung Drau; die Benennung folgt der charakteristischen Form des Fragepronomens ,was?', das in den einen ca, in den anderen kaj lautet. Die sprachliche Abgrenzung stimmt nicht in ihrem ganzen Verlauf mit der politischen eindeutig iiberein, doch hat die tiefgezogene und stabile Grenze, die urspriinglich die osterreichischen Erblander Krain und Steiermark von den Konigreichen Kroatien und Slavonien im Verband der Ungarischen Krone trennte, auch die Ausformung der Mundarten, die ihr entlang gesprochen wurden, beeinflusst. Nur an einigen Abschnitten haben Grenz- oder Bevolkerungsverschiebungen die urspriingliche Trennlinie etwas verwischt. Die beiden westlichen kroatischen Mundarten werden in Riickzugsgebieten gesprochen und sind dort bis zu einem gewissen Grad durchmischt oder iiberschichtet, haben sich zu einem gewissen Teil wechselseitig abgeschliffen und einander angeglichen, dabei bewahren sie jedoch viel an Urspriinglichem. Das Cakavische weist die Spuren alter und enger Kontakte mit dem Italienischen auf, mit dem es sein Gebiet mancherorts auch teilte, das Kajkavische wiederum hat ein altes Nahverhaltnis zum Ungarischen und einjiingeres, sehr intensives zum Deutschen. Angrenzend folgen die stokavischen Mundarten, ebenfalls nach dem Fragepronomen 'was?', das hier sto lautet benannt. Urspriinglich handelte es sich dabei urn zwei gleichgewichtige Mundartengruppen, die man praktischerweise als das West- und das OstStokavische bezeichnen kann. Der Unterschied ist an Lautungen wie gradiscelgradiste (Burgstatte), zvizaatilzviidati (pfeifen), meja/meaa (Grenze) und bestimmten charakteristischen Unterschieden inWortschatz und Betonung zu erkennen. Zwischen dem Slowenischen und dem Cakavischen bzw. Kajkavischen war der Unterschied immer schon weit deutlicher als zwischen diesen und dem WestStokavischen, wie auch der Ubergang yom WestStokavischen zum OstStokavischen gleitend war. Dieser verlief im heutigen Grenzland zwischen Serbien und Kroatien und zwischen Serbien und Bosnien, wobei ein bedeutender Teil der heutigen ostlichen Herzegowina zum Gebiet des OstStokavischen gehorte, wogegen das WestStokavische an der Adriakiiste, wie es scheint, weiter nach Siidosten reichte. Die volle Entfaltung dieser beiden Mundartengruppen wurde jedoch durch die einsetzenden Migrationen gestOrt. Zunachst kam es im Zusammenhang mit der Slawisierung von urspriinglich rumanischsprachigen Gebirgshirten im Gebiet, wo heute Serbien, Montenegro und die Herzegowina aneinander grenzen, zu stiirmischen sprachlichen Neuerungen, woraus ein eigener Dialekttypus hervorging, den man iiblicherweise Neustokavisch nennt. Danach wurde dieser Dialekttypus im Zuge der yom osmanischen Ansturm ausgelosten Bevolkerungsverschiebungen weit nach Nordwesten gebracht. Er drangte die westlichen Mundarten in ihre Riickzugsgebiete zuriick, iiberschichtete und beeinflusste sie, zerbrach die areale Kontinuitiit des Weststokavischen, glich es sich an und keilte sich mancherorts unter die cakavischen und kajkavischen Mundarten ein. Die netiStokavischen Mundarten breiteten sich auch nach Norden und Nordosten aus, ins heutige westliche Serbien und in die heutige Vojvodina. So entstand
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ein weitgehend einheitliches Gebiet neustokavischer Mundarten, deren recht eingeschrankte Vielfalt durch die Entsprechung von i: ijelje: e fUr einen urslawischen Vokallaut am deutlichsten gekennzeichnet ist (so mliko: mlijeko: mleko 'Milch' und vira : vjera : vera 'Glaube'). Daher wird von ikavischen, ijekavischen und ekavischen Mundarten gesprochen. Das ikavische Neustokavisch hat sich aus der westlichen Herzegowina weit nach Westen und Norden ausgebreitet. Es ist ein typisch kroatischer Dialekt und Wird heute nicht nur in der Westherzegowina und im angrenzenden siidostlichen Dalrnatien gesprochen, wo er sich anscheinend herausgebildet hat, sondem auch in Mittel- und Norddalrnatien, in der Lika, im Gebirgsland nahe an der Grenze zu Krain, aber auch in der Vojvodina. In Siid-, Mittel- und Westbosnien wird diese Mundart auch von Muslimen gesprochen. Teilweise ist zu erkennen, dass es sich bei diesem Typus urn iiberschichtete westStokavische Mundarten handelt. Auch sind sie nicht alle in gleich hohem MaBe neustokavisch. Das urspriingliche Gebiet des ijekavischen NeuStokavisch urnfasst die ostliche Herzegowina, das Kiistenland von Dubrovnik, das nordwestliche Montenegro und das siidwestliche Serbien. Von dort hat es sich, von Bevolkerungsbewegungen getragen, weit nach Nordwesten ausgebreitet: nach Bosnien, wo es im Westen des Landes aufweiten Flachen vorherrscht, nach Norddalmatien und nach Slawonien, nach Zentralkroatien ins Gebiet der ehemaligen Militargrenze und damber hinaus in Splittergruppen bis an die slowenische Grenze. Auf diese Weise entstanden in der siidslawischen Mundartenlandschaft die am schiirfsten gezogenen Grenzen, an denen recht verschiedene Mundarten unmittelbar aneinander stoBen. Von allen hier besprochenen Varietaten ist das ijekavische Neustokavisch am weitesten verbreitet. Es wird hauptsachlich von Serben gesprochen. Seine Ausbreitungjenseits des urspriinglichen Gebiets ist ein Abbild ihrer westwarts gerichteten Bewegung zu Zeiten der Tiirkenkriege. In der ostlichen Herzegowina wird es auch von Muslimen und Kroaten gesprochen. Dort und im Kiistenland von Dubrovnik ist es der sprachliche Ausdruck einer kompakten und autochthonen kroatischen BevOlkerung. Wo es sonst von Kroaten und in Bosnien auch von Muslimen gesprochen wird, handelt es sich eher urn einzelne Siedlungen, die von Serben urngeben sind, welche eben diese Mundartenvarietat sprechen und ihre Mundart beeinflussen. Das ekavische Neustokavisch wird im zentralen Serbien und in der Vojvodina gesprochen. Wie das Ijekavische ist auch das Ekavische auschlieBlich ostStokavisch, doch einigerorts etwas weniger konsequent neustokavisch. Weiter ostlich und siidostlich werden in Serbien und Montenegro ostStokavische Mundarten gesprochen, die von den neustokavischen Neuerungen nicht durchgreifend erfasst worden sind. In der Bucht von Kotor sprechen auch Kroaten solche ostliche altstokavische Mundarten. Im aufiersten Siidosten Serbiens, an der Grenze zu Bulgarien und Makedonien, spricht man serbische Mundarten einer recht eigenartigen Gruppe (in der Karte "Torlakisch"). Sie sind ganz in den Balkan-Sprachbund eingegliedert. In der Morphologie haben sie sich weitestgehend dem Bulgarischen und Makedonischen angeglichen, wodurch sich starke Unterschiede zu den westlicheren siidslawischen Mundarten ergaben. Die De-
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klination der Substantiva ist iiuBerst reduziert oder gar ganz verschwunden, dafiir wird der bestimmte Artikel mancherorts nachgestellt. So unterscheidet man zena (eine Frau) und zenata (die Frau) wie im Bulgarischen und Makedonischen. Daher neigt die bulgarische Forschung dazu, diese Mundarten zur bulgarischen Sprache zu rechnen. Eine solche Zuordnung setzt voraus, dass man ausschlieBlich typologische Kriterien beachtet. Von ihrem genetischen Grundstock her sind diese Mundarten aber eindeutig westlich siidslawisch, was in diesem Fall serbisch bedeutet. Die Abgrenzungslinien der relevanten Merkmale (Isoglossen) verlaufen in einem losen Biindel, wodurch eine breite Ubergangszone entsteht, die groJ3erenteils ostlich der politischen Grenze liegt. Die serbische Forschung ist geneigt, in diesen Mundarten nur balkanisiertes OstStokavisch zu sehen, das yom neuStokavischen Wandel iiberhaupt nicht erfasst wurde. Es gibt jedoch gute GrUnde, sie als eigenstandige Mundartengruppe zu klassifizieren, wie es in der kroatischen Schule iiblich ist. Die spiiturslawische Grundlage unterscheidet sich hier deutlich vonjener der westlicheren Mundartengruppen. Siidlich davon werden makedonische Mundarten gesprochen. Sie unterscheiden sich grundlegend von den serbischen, gehOren im Gegensatz zu diesen eindeutig dem ostlichen Siidslawisch an. Kennzeichnend fUr sie ist jedoch ein ziemlich ausgepriigter Einfluss alter Sprachkontakte mit dem Serbischen einerseits und dem Griechischen andererseits. Ahnlich stark wie in den balkanisierten siidostlichen serbischen Mundarten ist auch die traditionelle Akkulturierung an die orientalische Zivilisation des europiiischen Teils des Osmanischen Reiches. Doch ist der Einfluss dieses Zivilisationswortschatzes im gesamten stokavischen Bereich spiirbar, ganz besonders bei den Muslimen. An der Adria und in ihrem niiheren Hinterland weisen die stokavischen Mundarten auch einen mehr oder weniger ausgepriigten Einfluss der italienischen Zivilisationsterminologie auf, im Donauland hingegen vomehmlich der deutschen und daneben auch der ungarischen. Aus der hier gebotenen Ubersicht geht hervor, dass selbst Kroaten und Serben nicht durch tiefer gezogene mundartliche Unterschiede voneinander abzugrenzen sind, noch weniger die muslimischen Bosnier oder die Montenegriner von diesen. Dieses Bild wird insbesondere von der neuStokavischen Mundart bestimmt, an der aIle vier Volker teilhaben. Die iibrigen Mundarten bis zur makedonischen und der bulgarischen Sprachgrenze auf der einen und der slowenischen auf der anderen Seite konnen nach den iiblichen Kriterien nicht yom Neustokavischen als eigenstandiger siidslawischer Sprache abgegrenzt werden. Daher erscheint dieses weite und innerlich stark differenzierte siidslawische Sprachgebiet, das an aIle drei iibrigen angrenzt und als Ganzes keinem einzelnen siidslawischen Yolk entspricht, als eine einzige sprachliche Einheit. Diese Sicht der Dinge wird durch neuere Doppelbenennungen ohne lebendige historische Substanz ausgedriickt, von denen 'Serbokroatisch' am weitesten verbreitet ist, so dass weithin der Eindruck entstehen kann, als handle es sich dabei wirklich urn eine siidslawische Einzelsprache. Dabei wird die tatsiichliche Kommunikationsdynamik, auch auf rein mundartlicher Ebene, auJ3er Acht gelassen: dass urngangssprachliche Ausdrucksgestaltungen entstehen, welche die regionalen mundartlichen Grenzen iiberschreiten was zur Folge hat, dass verschiedene Mundarten sich u.U. gleichen und gleiche Mundarten sich verschiedenen schriftsprachlichen Traditionen angliedem. Die Benennung
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Serbokroatisch kann daher nur als streng sprachwissenschaftlicher Tenninus fUr die eben beschriebenen mundartlichen Gegebenheiten einwandfrei verwendet werden. Aber selbst in diesem Fall ist es schwer, die Bezeichnung von sprachpolitischen Konnotationen frei zu halten, die eine sprachpolitische Parteinahme im weiter unten behandelten Konflikt implizieren.
16.3. Die Minderheitensprachen Von den Minderheitensprachen, deren eigentliche Gebiete auI3erhalb Jugoslawiens lagen, ist im Westen das Italienische am bedeutendsten. Es wird neben dem Kroatischen und dem Slowenischen in Istrien gesprochen, in geringen Spurenresten auch in Rijeka (Fiume) und in den Stadten der nordadriatischen Inseln. Infolge der Abwanderung eines betrachtlichen Teils der italienischsprachigen Bevolkerung nach dem Zweiten Weltkrieg, als diese Gebiete zu Jugoslawien kamen, hat sich seine Prasenz stark verringert. In den dalmatinischen Stadten ist das Italienische heute nur noch in einzelnen Familientraditionen gegenwiirtig. In einigen Siedlungen Istriens sprechen fast ausschlieJ3lich Zweisprachige das dem Dakorumiinischen eng verwandte Istrorumiinisch. 1m Norden ist das Ungarische am bedeutendsten, es wird in slowenischen und kroatischen Grenzgebieten zu Ungarn von einem Teil der BevOlkerung gesprochen, in einigen Gebieten der Vojvodina mehrheitlich. Ebenfalls in der Vojvodina und im nordostlichen Kroatien war in der Zwischenkriegszeit das Deutsche der hauptsachlich im 18. Jahrhundert angesiedelten Donauschwaben stark vertreten, vor dem Zweiten Weltkrieg gab es rund 500.000 deutsche Muttersprachler in Jugoslawien. Durch Aussiedlung und Vertreibung nach dem Krieg sank diese Anzah! bis 1981 auf ganze 8712, wobei wegen der tief verwurzelten Ablehnung, die der deutschen Volksgruppe in Nachkriegsjugoslawien von Seiten des Staates und eines Teils der BevOlkerung entgegengebracht wurde, mit einer nicht unbetrachtlichen Dunkelziffer zu rechnen ist. Ebenfalls in der Vo} vodina, vor allem im siidlichen Banat, wird auch Rumiinisch gesprochen. Slawische Minderheitensprachen sind in der Vojvodina und im Nordosten Kroatiens das Slowakische und das Ukrainische - mit dem diesem akkulturierten Rusinischen, dessen Grundstock eine ostslowakische Mundart ist, nur erfuhr diese ihre kulturelle Ausformung in der Tradition der unierten ostkirchlichen Ukrainer (Ruthenen). Vornehmlich in Kroatien, und zwar in Westslawonien, wird auch das Tschechische gesprochen. All diese slawischen Minderheitensprachen wurden durch organisierte Ansiedlung vor 1918 in die Gebiete gebracht, wo man sie heute spricht. Siidlich von Save und Donau, im Nordosten Serbiens, spricht ein betrachtlicher Teil der BevOlkerung Wlachisch (Dakorumiinisch), doch es wurde nicht verschriftet und genoss keine Minderheitenrechte. 1m Siidosten Serbiens wird neben dem Serbischen auch Albanisch gesprochen, in der Provinz Kosovo von der iiberwaltigenden Mehrheit der Bevolkerung (1981 waren es 77,4 Prozent). Albanisch ist auch in den westlichen Teilen von Makedonien verbreitet und ist in mehreren Landkreisen fUr die Mehrheit der Bewohner Muttersprache. In der Provinz Kosovo und in der Republik Makedonien kommt vor allem in den Stadten auch das Tiirkische als erste Sprache eines allerdings
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immer geringer werdenden Teils der Bevolkerung vor. In Makedonien werden zwei balkanromanische Sprachen gesprochen, ebenfalls Wlachisch genannt, vom Dakorumiinischen aber deutlich verschieden. Es sind dies das Aromunische und das Meglenorumiinische, beides ohne kompaktes Territorium. Ein solches entbehrt auch die neuindische Roma-Sprache (Zigeunerisch), die nach der Volkszlihlung von 1981 ganze 168.197 Einwohner Jugoslawiens zur Muttersprache hatten. Bine Erscheinung besonderer Art ist das Bulgarische im Sudosten Serbiens. Dort waren zwei Landkreise (Caribrod und Bosilegrad) nach dem Zurlickdrangen des Osmanischen Reiches 1878 zu Bulgarien gekommen. Ihre Mundart unterscheidet sich in nichts Wesentlichem von jener der Serben in diesem Ubergangsgebiet. Dort waren dann bulgarische Schulen eingerichtet und die bulgarische Standardsprache eingefiihrt worden. Als nach dem Ersten Weltkrieg diese Kreise von den Siegermiichten Serbien zugesprochen wurden, bekannten sich ihre Bewohner auch weiterhin zur bulgarischen Sprache und bildeten fortan eine bulgarische Minderheit. 1m Sprachausbau halten sich die Gruppen, deren Sprachen verschriftet sind, an den Standard der Mutterlander. Auch die Albaner, deren Muttersprache der nordlichen (gegischen) Mundartengruppe angehort, haben sich der in Albanien erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogenen Standardisierung auf sudlicher (to ski scher) Grundlage inzwischen voll angeschlossen, wozu sie von der jugoslawischen Sprachpolitik zuniichst gar nicht ermutigt wurden.
16.4. Sprachgeschichtliche Prozesse 1m sudslawischen Bereich sind Sprachausbau und Standardisierung in mehreren Strangen verlaufen, die nicht nur chronologisch, was ihre relevanten Zeithorizonte betrifft, sondem auch typologisch eine beachtliche Vielfalt aufweisen. Die grundlegende Differenzierung tritt bereits bei Beginn der schriftsprachlichen Entwicklung em. Hier ist entscheidend, ob diese Entwicklung von der Tradition der kirchenslawischen Schriftlichkeit (die von den als Slawenapostel gefeierten Thessalonizenser Brudem KonstantinoslKyrillos und Methodios begrGndet wurde) ausgeht - wie es im makedonischen, serbischen, bosnischen und kroatischen Bereich der Fall ist - oder nicht, wie im slowenischen Bereich. Eine weitere und nicht weniger fiiihe und grundlegende Differenzierung ergab sich daraus, dass im kroatischen Bereich die Schriftkultur auf allen Verwendungsebenen, einschlieBlich Rechtsprechung lUld Gottesdienste, seit fiiihester Zeit lateinisch und kirchenslawisch war, wogegen sich eine solche kulturelle und literarische Zweisprachigkeit im makedonischen und serbischen Bereich nie ausgebildet hat. Ansiitze dazu sind in Bosnien und an der sudlichen Adria erkennbar. Des weiteren sind der slowenische und der kroatische Bereich dem westkirchlichen Kulturkreis, der makedonische und serbische dem ostkirchlichen zugefallen. Bosnien nimmt in dieser Hinsicht eine Mittelstellung ein, obwohl es der Jurisdiktion der Romischen Kirche unterstand. Die ostkirchliche Liturgie kirchenslawischen sprachlichen Ausdrucks scheint dort starken Einfluss auf die gottesdienstlichen Bucher ausgeubt zu haben.
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1m slowenischen Raum war die Volkssprache nach den in der Kirche des Frankenreichs geltenden Normen nur behelfsweise fur den Bedarf von Seelsorge und Andacht verschriftet, wobei ausschlieBlich das lateinische Alphabet verwendet wurde. Die Lage des Slowenischen entsprach grundsatzlich der des Deutschen. Kirchen- und Rechtssprache war nur Latein. Erst in der Reformation entstand ein anspruchsvolleres slowenisches Schrifttum, das tiber Gegenreformation, Aufkliirung und Nationalromantik in ungebrochener Kontinuitat die Grundlage fur die an der Wende yom 19. zum 20. lahrhundert endgilltig durchgesetzte Standardisierung abgab. Das Slowenische gehOrt, obwohl es die Sprache eines katholischen Volkes ist, zu denjenigen europiiischen Standardsprachen, deren Geschichte nach einer eher unscheinbaren Vorgeschichte auf die luthersche Reformation zuriickgeht. (7 Kap. 2) 1m kroatischen Raum war die slawische Schriftlichkeit in der kirchenslawischen Tradition verankert, hat sich aber bereits friih im Mittelalter der Volkssprache geoffnet, so dass einer Diglossie - d. h. der verfestigten Verwendung von zwei Sprachentypen im Schrifttum - die Voraussetzungen entzogen wurden, was wiederum dazu fiihrte, dass sich die kroatische Redaktion des Kirchenslawischen vonjenen im ostkirchlichen Kulturkreis deutlich unterscheidet (7 Kap. 15). Auch hat sich in dem Bereich, wo Latein liturgische Sprache war, das in der Volkssprache fur den Bedarf des einfachen Kirchenyolks verfasste Schrifttum immer an die kirchenslawische Tradition angelehnt. Bei der stark ausgepragten dialektalen Vielfalt im kroatischen Kulturraum hatte dieser Einbruch der Volkssprache in eine zwar weit verzweigte aber doch zusanunenhangende Textiiberlieferung die Notwendigkeit zur Folge, die uberlieferten Texte in verschiedenen Redaktionen mundartlich zu adaptieren. Die volkssprachlichen Elemente in der kroatischen Schriftlichkeit kirchenslawischer Tradition waren zunachst uberwiegend cakavisch, es sind aber bei redaktionellen Stilisierungen auch stokavische und kajkavische Elemente eingefiossen. So bekam die kroatische Schriftlichkeit eine dreidialektaIe Dimension, die ein Bewusstsein von der Zusanunengehorigkeit und schriftsprachlichen Wlirde der drei mundartlichen Stilisierungen erzeugte und bewahrte. Seit altester Zeit wurde das lateinische Alphabet fur das Schreiben slawischer Namen und Worter in lateinisch verfassten Texten verwendet. Mit den kirchenslawischen Texten wurde auch die glagolitische Schrift uberliefert, die nur im kroatischen Raum bis zum 18. lahrhundert und in der Liturgie noch langer in Verwendung blieb. Nachtraglich kam dann von Osten noch die kyrillische Schrift hinzu, die im Westen eigene Formen und Schreibungen auspragte und in manchen kroatischen Gebieten viel verwendet wurde. Somit kannte die kroatische Literatur im Mittelalter drei Schriften, von denen erst in der zweiten Halfte des 18. 1h. die lateinische endgilltig die Oberhand gewann. Auf der Grundlage dieser Tradition haben die kroatischen Reformatoren in Zusanunenarbeit mit den slowenischen in ihrem Buchdruck ein interessantes Schriftsprachenprojekt zu realisieren begonnen, konnten aber, weil ihre Aktion in den kroatischen Landem keinen bleibenden Erfolg hatte, darnit nicht auf den weiteren Sprachausbau einwirken. Dadurch ist die entscheidende Dominanz der cakavischen mundartlichen Stilisierung in der Schriftsprache verloren gegangen. In adriatischen Klisten- und Inselstadten war im 15,/16. lahrhundert eine reiche Renaissance-Literatur entstanden, mit lateinischen Buchstaben geschrieben und im sprach-
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lichen Ausclruck angelehnt an das volkstiimliche Schrifttwn splitmittelalterlicher Andacht. (7 Kap. 18) In diesem Zusammenhang ist es auch zu ersten tastenden grammatikalischen und lexikographischen Anslitzen gekommen. An aIle diese vorerst noch ganz elitiiren Bildungserrungenschaften hat die katholische Emeuerung, wie im kroatischen Bereich die Gegenreformation angemessener benannt werden kann, angeknupft. In ihrem Aktivismus war sie bestrebt, weite Schichten auch der ganz verwahrlosten Bevolkerung zu erreichen. Von ihr ging auch, nachdem die spontane mittelalterliche Entwicldung in den Wirren der Tfirkenkriege zusammengebrochen war, die bewusst angestrebte Entwicldung einer Standardsprache aus. Durch die inzwischen eingetretenen Veranderungen in der arealen Verteilung der Mundarten war die Ausrichtung auf eine stokavische Grundlage vorgegeben. Nur im Nordwesten des kroatischen Raurnes war der Sprachausbau zunachst kajkavisch orientiert. Diese Entwicldung verliefweder ziigig noch geradlinig. In ihrem Verlaufloste sich barockes, aufklarerisches und nationalromantisches Selbstverstandnis abo In der ersten Hlilfte des 19. Jahrhunderts weitete sich die stokavische Schriftsprache auch auf den Nordwesten aus und ist seither eine gesamtkroatische (7 Kap. 3, 7 Kap. 14). Wichtige Elemente der Standardisierung sind an ihr seit der zweiten Hlilfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten. Abgeschlossen wurde diese an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. Die serbische Redaktion des Kirchenslawischen wurde zunachst ab dem 13. Jahrhundert geregelt und funktionierte so als einzig anerkannte Schriftsprache. Allerdings war sie auf bestimmten Stilebenen und in bestimmten Lebensbereichen auch volkssprachlichen Elementen offen. Zur Zeit der Osmanenherrschaft wichjegliche innovative Tlitigkeit vor der Notwendigkeit zu verharren und zu bewahren zurUck. Erst unter dem Einfluss des westlichen Barock regt sich in der Tradition serbischer Schriftlichkeit neues Leben. Diese zaghaft sich anmeldende Entwicldung wurde aber Ende des 17. Jahrhunderts unterbrochen, als der osterreichische militlirische VorstoB gegen die Tfirken, der bereits den SMen Serbiens erreicht hatte, zurUckgeschlagen war und der serbische Patriarch mit der ganzen serbischen geistiichen und weltlichen Elite sowie bedeutenden Teilen des einfachen Volkes uber Save und Donau in den Habsburger Herrschaftsbereich fliehen musste. 1m katholischen GroBreich musste sich die serbische Kultur, wenn sie bestehen sollte, der barocken Umwelt schnell anpassen. Dies geschah zunlichst in der Predigt, in der sich die serbische kirchenslawische Tradition vorbehaltlos der Volkssprache offnete. Aber der Widerstand gegen den katholischen Druck suchte Ruckhalt im orthodoxen Russland. Dies fiihrte dazu, dass urn die Mitte des 18. Jahrhunderts Russisch-Kirchenslawisch zur Schriftsprache des gebildeten Serbentums im Habsburgerreich wurde (7 Kap. 5). Dadurch war eine voll ausgeprligte Diglossie gegeben, die den Weg zu einer sinnvollen Standardisierung verlegte. Man suchte dies zu uberwinden, indem man der Umgangssprache des gebildeten serbischen Bfirgertums schriftsprachlichen Status gab. Diese Schriftsprache wurde Slaweno-Serbisch genannt. Es war dies ekavisch-neustokavisches Serbisch, nach Belieben durchsetzt mit kirchenslawischem und russischem Wortschatz und ebensolcher Phraseologie. Dies hlitte zu einer der russischen vergleichbaren Entwicklung gefiihrt, in der ebenfalls disparate Elemente bestimmten Verwendungsbereichen stabil zugeordnet worden waren. Dafiir gab es aber in der ersten Hlilfte des 19. Jahrhunderts keine Zeit mehr, zumal es auch
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keine Kriifte gab, sie im ganzen serbischen Bereich und bei allen Volksschichten durchzusetzen. Es ist dann in einem revolutionaren Traditionsbruch zu einer streng puristisch an der miindlich iiberlieferten Volksliteratur orientierten Standardisierung gekommen, die mit der Person von Vuk Stefanovic KaradZic verbunden ist (-7 Kap. 6). Ihre mundartliche Grundlage stand jener der kroatischen sehr nahe. Auch hat Karadfics standardsprachliches Modell bei der Losung der letzten offenen Fragen der kroatischen Standardisierung als Vorbild gedient. So kommt es, dass man, unter Berucksichtigung aller darin enthaltenen Vielfalt, von einem StandardneuStokavischen sprechen kann. Nicht zuletzt dadurch ist eine ,Illusion der Nahe' entstanden (Auburger), die aus den Augen verlieren lieB, dass es sich dabei urn Ergebnisse zweier verschiedener schriftsprachlicher Ausgestaltungen handelt, jede mit ihrer eigenen Skala sprachlicher Ausdruckswerte und mit ihrem eigenen Selbstverstandnis. Die Auswirkungen dieser Gegebenheiten sind auch dadurch nicht unerheblich verstarkt worden, dass seit der Jahrhundertwende die endgilltige serbische Standardisierung nicht mehr die Folklore-Literatur zum Modell batte, sondem den Sprachgebrauch, der sich auf dieser Grundlage in gebildeten Belgrader Kreisen entwickelt hatte. Den Kroaten blieb dieses Modell vollig fremd. Es ist eine grundlegende empirische Tatsache, dass man das Standard-Neustokavisch weder so sprechen noch so schreiben kann, dass es Serben als Serbisch und Kroaten als Kroatisch akzeptierten. Dadurch aber erweist sich die Annahme, es giibe eine 'serbokroatische' Standardsprache, als falsch. Bei den Montenegrinem hat sich das volkssprachliche Modell eher miihelos durchgesetzt, doch war der Verlauf ihres Sprachausbaus sowie die mundartliche Grundlage anders, denn der serbische Kirchensitz im Habsburgerreich batte bei ihnen keine 1urisdiktion und somit auch keinen direkten Einfluss auf das Schulwesen. Das erkliirt die Unterschiede in der bei ihnen verwendeten Standardsprache und in der Skala ihrer Ausdruckswerte. In Bosnien wurden die mittelalterlichen Ansiitze einer schriftsprachlichen Entwicklung durch die Osmanenherrschaft zerstort. In der Bevolkerung, der zum Islam iibertrat, entstand auf der Grundlage von Umgangssprache und literarischer Folklore ein bescheidenes Schrifttum in arabischen Buchstaben. Anspruchsvolle Literatur wurde jedoch ausschlieBlich in Tiirkisch, Arabisch und Persisch gepflegt. Gleichzeitig integrierte sich das Schrifttum der katholischen Untertanen ganz in den kroatischen, das der orthodoxen ganz in den serbischen Kreis. Beide blieben seit dem 16. 1ahrhundert ihremjeweiligen nationalen Kontext verbunden und machten gleichwohl auch weiterhin einen unverzichtbaren Bestandteil der bosnischen Kulturlandschaft aus, was sie entsprechend prligte. Unter der osterreich-ungarischen Verwaltung nach 1878 war es nicht schwer, das Standardneustokavische auch in Bosnien anzuwenden, wobei sich die Serben eher nach der serbischen, die Kroaten nach der kroatischen Standardisierung richteten, die Muslime aber zu beiden einen gewissen Abstand hielten. Die makedonischen Slawen waren ursprunglich in die Tradition des kirchenslawischen Schrifttums im mittelalterlichen Bulgarischen Reich, das gerade am Ohrid-See eines seiner wichtigsten Strahiungszentren hatte, voll eingegliedert, erfuhren dann aber im Splitmittelalter einen starken und anhaltenden Einfluss der serbischen Tradition, die damals mit der bulgarischen weitgehend eine iibergeordnete Einheit bildete. Seit dem
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16. JahrhWldert dringen in dieses Schrifttum Elemente der Volkssprache ein. Eine konsequent volkssprachlich verfasste Literatur entsteht jedoch erst ito 19. JahrhWldert. Lange blieb Wlentschieden, ob man die nah verwandte bulgarische Standardsprache iibemehmen oder auf makedonischer mWldartlicher Grundlage eine eigene schaffen sollte. Eine solche LosWlg kam erst im Rahmen der jugoslawischen Widerstandsbewegung 1944 zustande, als bei der noch wahrend der Kiimpfe erfolgten Grundlegung der Republik Makedonien der rechtliche Rahmen fUr eine eigene makedonische Standardsprache gesetzt wurde. Die AnerkennWlg der makedonischen Sprache Wld die GriindWlg einer Makedonischen Republik wurden zu einem der Grundpfeiler des damals errichteten jugoslawischen FOderalismus, nachdem der vor dem Zweiten Weltkrieg Wltemommene Versuch, den makedonischen Slawen in Jugoslawien den Gebrauch des Standardserbischen aufzuerlegen, keine Akzeptanz gefimden hatte. Die neu geschaffene Standardsprache entwickelte sich sehr erfolgreich Wld verfiigt anscheinend iiber eine beachtliche Loyalitiit ihrer Muttersprachler. Der jiingste Verlauf der Zeitgeschichte hat das bisher nur bestiitigt (~Kap. 9). Der 1918 errichtete jugoslawische Staat berief sich auf die ethnische Wld sprachliche Einheit seiner siidslawischen Bevolkerung (~Kap. 10). Dies bestimmte auch seine Sprachpolitik. Die Minderheitensprachen konnten aus dieser Sicht nur als Wlerwiinschte Storfaktoren wahrgenommen werden Wld daher weder mit Verstlindnis noch mit F orderWlg rechnen. Die Montenegriner wurden einfach als Serben behandelt, die Makedonier Wld die muslimischen Bosnier auf keiner Ebene als Ethnien anerkannt. Man ging von der Existenz nur eines 'Volkes mit drei Namen' aus, dessen Sprache serbo-kroato-slowenisch war Wld zeitweilig auch offiziell so benannt wurde. In der Praxis jedoch wurde das Slowenische auf seinem Gebiet, das auch eine eigene VerwaltWlgseinheit bildete, Wlbehelligt gelassen Wld fimktionierte dort als lokale Standardsprache. Nur auf hOchster VerwaltWlgsebene, beito Militiir Wld ito Verkehr mit der Belgrader Zentrale wurde das Serbische verwendet. Vor der Tatsache, dass das Slowenische eindeutig eine andere Sprache war, verschloss man zunachst die Augen. Auch in den kroatischen Llindern, die aufverschiedene VerwaltWlgseinheiten aufgeteilt waren, wurde die schriftsprachliche Tradition bei denen, die sie anwandten, zunachst toleriert, war es doch nach der geltenden AnschauWlg 'dieselbe Sprache'. Es wurde aber in der offentlichen Kommunikation iiberhaupt keine Riicksicht auf sie genommen. Auch wuchs standig der Druck auf die Kroaten, ito Namen der Einheit das, was ihren standardsprachlichen Usus von dem serbischen Wlterschied, schrittweise aufzugeben, insbesondere dort, wo er amtlich festgeschrieben war. Das bewirkte jedoch nur, dass die Kroaten begannen, ihre Sprache ganz explizit als eigene, von der serbischen verschiedene zu empfinden Wld sich nWl bemiihten, das auch sprachwissenschaftlich zu artikulieren. Wahrend des Zweiten Weltkriegs wurde in Hitlers kroatischem Satellitenstaat der Versuch Wltemommen, das Kroatische gewaItsam dem Serbischen so Wl1ihnlich wie nur moglich zu machen, ito Glauben, dadurch die allgemeine AnerkennWlg seiner vollen Eigenstlindigkeit erzwingen zu konnen. In der Widerstandsbewegung, auf deren Seite mehr Kroaten kiimpften als in den Verblinden der mit dem Dritten Reich verbiindeten RegierWlg (~Kap. 11), wurde hiogegen in AnlehnWlg an die nach sowjetischem Muster proklamierte Nationalitiitenpolitik die volle AnerkennWlg Wld GleichstellWlg
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aller Sprachen verkiindet. Die Eigenstiindigkeit des Kroatischen wurde protokollarisch geachtet und eine entsprechende Kultur- und Schulpolitik eingeleitet - unter Ablehnung von allem, was nach den Erfahrungen der Kriegsjahre als iiberspitztes Absonderungsbestreben empfunden werden konnte. Doch bald machte sich der bereits aus der Zeit vor dem Krieg bekannte sprachliche Druck wieder bemerkbar. Die Standardsprache, die man in Kroatien, Bosnien, Serbien und Montenegro verwendete, wurde wieder mit Nachdruck fUr 'eine und dieselbe' erkliirt, die Verwendung des Doppelnamens verpflichtend vorgeschrieben, die bestehenden Unterschiede unterschlagen. Sprachliche Einheit wurde als das Wesentliche angestrebt, die Unterschiede wurden hingegen bestenfalls geduldet. Damit wurde das Kroatische zu einer provinziellen Norm, die nicht einmal formuliert werden durfte und selbst in Kroatien nicht verbindlich war. Unter den gegebenen Umstiinden war die einzige Zukunftsperspektive dieser Norm, vor dem Serbischen als dem wirklichen und allgemeinen, hOherwertigen 'Serbokroatisch' schrittweise zurUckzuweichen. Dies aber stieB bei den Kroaten auf zlihen und unbeugsamen Widerstand. Wenn Serbisch verwendet wurde, konnten sie nicht das Gef'iihl haben, dass sie in protokollarisch angemessener Weise angesprochen oder vertreten waren. Sie bestanden darauf, ihre schriftsprachliche Tradition bewusst zu pflegen, ihre Kinder darin auszubilden. Urn das widerspenstige kroatische Sprachbewusstsein zu brechen, wurden immer wieder die Serben in Kroatien ins Spiel gebracht. Es hieB, deren Rechte wfuden verletzt, wenn das Kroatische zur in Kroatien offentlich verwendeten Sprache erkliirt ware. War das Serbische also doch nicht ein und dieselbe Sprache wie das Kroatische? Auf die Unhaltbarkeit dieser Argumentation konnte man unter den damaligen Umstiinden ohne groBes personliches Risiko nicht hinweisen. All das liisst auch erkennen, warum die Sprachbenennung Serbokroatisch belastet und problematisch bleibt. Die politischen Krafteverhaltnisse waren so, dass keine der Seiten in diesem Streit die Oberhand gewinnen konnte. Es erwies sich als unmoglich, einen Konsens zu erreichen. Ais es klar wurde, dass der Widerstand der Kroaten nicht zu brechen war, und dazu noch ein Bosnisch und sogar ein Montenegrinisch sich immer deutlicher abzuzeichnen begannen, wurde das auch zum Ende Jugoslawiens. Das Slowenische hatte im foderativen Jugoslawien seinen gesicherten Freiraum gewonnen. Obwohl man sich in manchem zurUckgedriiugt, unbeachtet, nicht fUr vollwertig genommen und von schleichender sprachlicher Assimilation bedroht f'iihlen konnte, hat sich die slowenische Standardsprache behauptet und bewlihrt, als Instrument der Teilnahme an der iiberethnischen Zivilisation unserer Zeit immer weiter vervollkommnet (7 Kap. 2). Die Minderheitensprachen wurden im foderativen Jugoslawien offiziell anerkannt und ihre Pflege gefOrdert. Die einzige markante Ausnahme bildet das Deutsche. Italienisch, Ungarisch und Albanisch wurden auch an Universitaten als Unterrichtssprachen zugelassen. Dagegen regte sich allerdings unterschwellig Widerstand. Der muttersprachliche Bildungsboom bei den Albanem im Kosovo, die man nur als giinzlich ungebildet und riickstiindig zu sehen gewohnt war, beunruhigte viele Serben zutiefst. 1m Rahmen der Auflosung der Autonomie des Kosovo und der allgemeinen Entrechtung seiner albanischen Bevolkerung wurden bereits vor dem Zerfall Jugoslawiens Schritte unternommen, das Rad zurUckzudrehen (7 Kap. 8).
16. Jugoslawien im Lichte seiner Sprachen
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Literatur M. Aubin (Hg.), Vuk Stej Karadiic. Actes du Colloque international organise a /'occasion du bicentennaire de Vuk Karadiic les 5 et 6 octobre 1987 en Sorbonne, Paris 1988; L. Auburger, ,,Entwicklungsprobleme der kroatischen Standardsprache", in: L. Auburger und P. Hill (Hg.), Festschriftfiir Johannes Schropfer zum 80. Geburtstag, Miinchen 1991, S. 1-31; M. Clyne (Hg.), Pluricentric Languages. Differing Norms in Different Nations, Berlin, New York 1992, darin besonders: D. Brozovic, "Serbo-Croatian as a Pluricentric Language", S. 347-380; R. Katii!ic, "Undoing a ,unified language': Bosnian, Croatian, Serbian", S. 165-191; M. Clyne (Hg.), Undoing and RedOing Corpus Planning, Berlin, New York 1997; P. Garde, ,,Langue et nation: Le cas serbe, croate et bosniaque", in: P. Seriot (Hg.), Langue et nation en Europe centrale et orientale du XV1Ileme siecle Ii nos jours (Cahiers de I'ILSL No.8), Paris 1996, S. 123-148. C. Hagege, Le sou.ffle de la langue. Voies et destins des parleurs d' Europe, Paris 1994. A. Isakovic, Rjecnik bosanskogajezika (karakteristicna leksika) -A Dictionary ofthe Bosnian Language (characteristic words) Sarajevo 19954, S. XI-XXVII; P. Ivic, "L' evolution de la langue lineraire sur Ie territoire linguistique serbo-croate", in: Revue des etudes slaves 56 (1984), S. 313-344; R. Katii!ic, "Serbokroatische Sprache- Serbisch-kroatischer Sprachstreit", in: R. Lauer und W. Lehfeldt (Hg.), Dasjugoslawische Desaster. Wiesbaden 1995, S. 23-79, ders., ,,Die politischen Implikationen des Sprachbegriffs im Siidosten Europas", in: H. Schaller (Hg.), Sprache und Politik: Die Balkansprachen in Vergangenheit und Gegenwart (Siidosteuropa-Jahrbuch 27), Miinchen 1996, S. 25-46; R. I. Lencek, The Structure and History ofthe Slovene Language, Columbus 1982; W. W. Moelleken und P.1. Weber (Hg.), Neue Forschungsarbeitenzur Kontaktlinguistik, Bonn 1997, darin besonders: L. Auburger, ,,Der Status des Kroatischen a1s Einzelsprache und der Serbokroatismus: Ein Lehrstilck aus der kontaktlinguistischen Begriffsgeschichte", S. 21-29 und G. NeW&klowsky, ,,zur Geschichte der Schriftsprache der Serben, Kroaten und Muslime: Konvergenzen und Divergenzen" S. 382-391; R. Picchio und H. Goldblatt (Hg.), Aspects ofthe Slavonic Lanuage Question. Volume 1: Church Slavonic - South Slavic - West Slavic (Yale Concilium on International and Area Studies), New Haven 1984, darin besonders: I. Banac, ,,Main Trends in the Croat Language Question", S. 189-59 und R. Katii!ic, "The Making of Standard Serbo-Croat", S. 261-295.
Sprachenkarte von Dalibor Brozovic Die folgende Karte zeigt die Verteilung der siidslawischen Sprachen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Beim Siowenischen und Makedonischen werden die dialektalen Differenzierungen nicht beriicksichtigt. Auf dem zentralen sudslawischen Sprachgebiet hingegen sind die Dialektgruppen dargestellt, die von Kroaten, Bosniaken, Montenegrinem und Serben bis 1990 gesprochen wurden, also vor den kriegsbedingten Massenmigrationen. In den Dialekt- oder Mundartengruppen sind verwandte Dialekte zusarnmengefasst (die kajkavische Mundartengruppe beispielsweise besteht aus 6 Mundarten). FUr den Westteil dieser Karte diente a1s Grundlage: Dalibor Brozovic, "The Croatian Dialect Groups" in: A Concise Atlas of the Republic of Croatia & of the Republic ofBosnia and Hercegovina, Zagreb, 1993; fUr den Ostteil: Pavle Ivic, ,,Dijalektolo§ka karta Atokavskog narjei!ja" in: Enciklopedija Jugoslavije, 6, Zagreb 1990 (Karte der Atokavischen Mundarten). Auf der Karte ist auch der Verlauf der vorosmanischen Grenzen zwischen den zentralen siidslawischen Dialektgruppen eingezeichnet, deren ursprilngliche Verbreitung vor den osmanischen Eroberungen und den durch sie bedingten Massenmigrationen ersichtlich wird. Durch die Migrationen wurden einerseits diese Sprachgebiete stark reduziert, das Gebiet des heutigen Stokavischen hingegen erheblich ausgeweitet. In der Zeit vor den Migrationen handelte es sich dabei um zwei Atokavische Dialektgruppen, die urspriinglich ebenso stark verbreitet waren wie die drei anderen Dialektgruppen. 1m Laufe der Migrationen kam es zur Vermischung der west- und ostAtokavischen Dialekte, wahrend sich g1eichzeitig die sehr wichtigen newtokavischen Spracheigenschaften in erheblichen Teilen beider Dialektgruppen herausbildeten. Infolgedessen konvergierten sie, so dass wir heute die Atokavischen Dialekte a1s eine Dialektgruppe behandeln.
Torlak.ische Dialektgruppe
Slokavischt Dialektgruppe
Cakavische Dialelctgruppe
Kajkavische Dialelctgruppe
Siowenische Sprache
-
l Kajkavisch U. Cakavisch fll Wes~lokavisch IV. Os~lokaYisch V. Torlakisch
Grenzen zwischen den Dialeklgruppen YOr den h'Slorischen Migrationen:
:::::::::::: Makedonische Sprache
~
17. Die Entwicklung des Bildungswesens 1918-1991 Martin Mayer
Ein einheitliches Schulwesen gab es in Jugoslawien erst seit 1929. Bis zu diesem Zeitpunkt existierten nebeneinander verschiedene Bildungssysteme, die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammten und die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der einzelnen siidslawischen Teilregionen im 19. Jahrhundert widerspiegelten. Dabei bestand eine groBe Kluft zwischen den Liindem, die der Habsburger Monarchie angehOrten - Slowenien, KroatieniSlawonien, DaImatien und Vojvodina - und denen, die seit dem Mittelalter Bestandteil des Osmanischen Reiches waren, niimlich Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Makedonien. In der Habsburger Monarchie fiihrten die Reformen Maria Theresias und Josephs II. in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts zu einer Modernisierung und Sakularisierung des Schulwesens, von der auch die Slowenen, Kroaten und in Ungarn ansassigen Serben profitierten. Zur Steigerung der gewerblichen und landwirtschaftlichen Produktion entsprechend der merkantilistischen Wirtschaftstheorie sollte ein jeder ungeachtet von Religion, Stand oder Geschlecht ein MindestmaB an Elementarbildung erhalten und im Sinne des aufgekliirten Absolutismus zu einem niitzlichen, pflichtbewuBten Untertanen erzogen werden. So wurde ein einheitliches, staatliches und zentral verwaltetes Schulsystem mit allgemeiner sechsjahriger Schulpflicht geschaffen, in dem das Bildungsmonopol der katholischen Kirche beseitigt war. Allerdings war den Siidslawen der Habsburger Monarchie das Recht auf muttersprachlichen Unterricht lange Zeit verwehrt. Erst nach dem osterreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, als die Monarchie auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage gestellt und die Gleichberechtigung der Nationalitaten und ihrer Sprachen im offentlichen Leben gesetzlich verankert wurde, konnten sie iiber ihr Schulwesen frei bestimmen und den muttersprachlichen Unterricht auf allen Ebenen einfiihren. Fiir die Siidslawen unter osmanischer Herrschaft hingegen herrschten ungleich ungiinstigere Bedingungen. 1m Gegensatz zu West- und Mitteleuropa gab es im Osmanischen Reich bis ins 19. Jahrhundert kein sakulares staatliches Bildungswesen. Die Schulen wurden von den einzelnen Religionsgemeinschaften (millets) betrieben und dienten ausschlieBlich der Ausbildung der Geistlichkeit. Erst in der 2. Hiilfte des 19. Jahrhunderts wurde im Rahmen der Tanzimat-Reformen (1839-1876) der Versuch untemommen, ein staatliches Schulwesen aufzubauen. 1869 trat das erste allgemeine Schulgesetz fUr das Osmanische Reich in Kraft, wobei auch den nichtmuslimischen Untertanen das Recht auf eigene Schulen garantiert war. Die Bildungsreform hatte allerdings nur wenig Erfolg, weil bis ins 20. Jahrhundert weite Teile der Bevolkerung nicht erreicht werden konnten. Zwar gelang es, ein laizistisches Schulwesen einzurichten, doch blieb es de facto einer herrschenden Minderheit vorbehalten, so dass die Kluft zwischen Masse und Elite sogar noch groBer wurde, als es im bisherigen religiOsen System der Fall war.
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Martin Mayer
Obwohl Serbien und Montenegro sich bereits 1830 bzw. 1856 von der osmanischen Herrschaft befreit hatten und als autonome Fiirstentiimer ein eigenes Bildungswesen autbauen konnten, war dort das allgemeine Bildungsniveau kaurn hoher als bei den Siidslawen, die noch unter osmanischer Herrschaft standen. Es schien sogar, daB gerade die relativ friihe Eigenstaatlichkeit Serbiens und Montenegros urnfassenderen Bildungsanstrengungen entgegenstand, denn die Ausgaben fUr die Verwaltung und vor allem fUr die Armee belasteten das Staatsbudget in einem MaBe, dass fUr Investitionen im Schulwesen kaurn mehr Raurn blieb. Oberstes politisches Ziel bestand hier nicht in der Konsolidierung im Innem, sondem vielmehr in der Ausdehnung des Territoriurns, d.h der Befreiung Bosnien-Herzegowinas, Makedoniens und Kosovo-Metohijas yom "osmanischen Joch" und deren Eingliederung in einen gemeinsamen serbischen Staat. Umgekehrt lag ein nicht unwesentlicher Grund fUr das hahere Bildungsniveau in den nordlichen Landesteilen darin, daB sich die Slowenen und Kroaten in der k.u.k Monarchie mangels voller Souverlinitat auf die Entwicklung des Schulwesens konzentrierten, urn so ihre nationale Identitat gegeniiber Deutschen, Ungam oder Italienern zu behaupten. Ein Blick auf die Analphabetenrate verdeutlicht das enorme Bildungsgefalle zwischen den Siidslawen der Habsburger Monarchie und jenen des Osmanischen Reiches. Urn 1900 lag sie in Slowenien bei 18 Prozent, in der Vojvodina bei 35 Prozent und in KroatieniSlawonien bei 54 Prozent - in Serbien hingegen bei 79 Prozent und in Bosnien-Herzegowina gar bei 88 Prozent. Fiir Montenegro, Makedonien und Kosovo liegen fUr diese Zeit keine Erhebungen vor, doch diirfte die Analphabetenrate lihnlich hoch wie in Bosnien einzuschatzen sein (Mayer 1995). Die Bildungspolitik in dem 1918 gegriindeten Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen stand also vor der Aufgabe, aus den unterschiedlichen Traditionen der einze1nen Teilregionen ein einheitliches Schulwesen zu schaffen und vor allem das Bildungsniveau in den siidostlichen Landesteilen anzuheben. Doch angesichts der instabilen innenpolitischen Verhaltnisse wurde dem Bildungswesen kaurn Beachtung geschenkt. Der anhaltende Konflikt zwischen Slowenen und Kroaten einerseits und den Serben andererseits bzw. zwischen FOderalismus und Zentralismus iiberschattete alles andere und stellten die junge Demokratie vor eine schwere Belastungsprobe, an der sie schlieBlich zerbrach. 1929 hob der Konig die Verfassung auf und versuchte die Integration, die durch parlamentarische Demokratie nicht erreicht worden war, durch zentralistische Fiihrung von oben zu erzwingen. Unter diesen Umstanden wurde erst 1929 ein landesweit einheitliches Schulgesetz verabschiedet und die achtjlihrige Schulpflicht eingefiihrt. Dieses Gesetz blieb aber weitgehend auf dem Papier, da auJ3er in Slowenien und Kroatien nur die vierjlihrige Grundschule iiblich war. Auch die allgemeine Schulpflicht lieB sich in einigen Regionen aus Mangel an Schulen und Lehrem kaurn durchsetzen. In Montenegro und in Makedonien z.B. ging Anfang der dreilliger Jahre nur die Halfte der schulpflichtigen Kinder zur Schule, im Westen Bosniens sogar nur 35 Prozent (Mayer 1995). Folglich hatte Jugoslawien vor dem zweiten Weltkrieg mit iiber 44 Prozent (1931) eine der hachsten Analphabetenraten in Europa, und das Bildungsgefalle bestand nach wie vor (vgl. TabeIle). Nach dem Krieg hielt die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) folglich das Anheben des Bildungsniveaus, vor allem die Beklimpfung des Analphabetismus, fUr
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17. Die Entwicldung des Bildungswesens 1918-1991
eine wesentliche Voraussetzung zur sozialistischen Umgestaltung des Landes. 1946 startete die Regierung Witer EinbeziehWig der Massenorganisationen (Volksfront, Gewerkschaft, Genossenschaften, Antifaschistische Frauenfront, Jugendverbande) eine mehrjiibrige Alphabetisierungskampagne, die - gemessen an den Aktionen wlihrend der Zwischenkriegszeit - sehr erfolgreich verlief. Ungeachtet der schwierigen wirtschaftlichen Verh1iltnisse in den Nacbkriegsjahren wurden in nur sieben Jahren zwischen 1945 Wid 1952 beinahe zweieinhalb Millionen Menschen alphabetisiert. Die Kampagne wurde in dieser Form allerdings nicht mehr weitergefiihrt, obwohl 1953 noch mehr als ein Viertel der Bevolkerung weder lesen noch schreiben konnte. Vielmehr konzentrierte man sich angesichts der raschen Industrialisierung auf die funktionale Alphabetisierung der Arbeiter, meist Bauem, die von den Dorfem abgewandert waren Wid die fUr die neuen Produktionstechniken in der Regel uberhaupt nicht qualifiziert waren. Die Menschen sollten an ihrem Arbeitsplatz eine auf ihre jeweilige Tatigkeit speziell zugeschnittene, selektive GrundbildWig erhalten. Nach fijnf Jahren zentralistischer Planwirtschaft Wid enger AnlehnWig an die SowjetWlion setzte niimlich Anfang der fiinfziger Jahre allmiihlich ein Dezentralisierungsprozess ein, aus dem ein neues Selbstverwa1tungssystem hervorging, das zuerst in den Betrieben instaIliert Wid spiiter nach Wid nach auf alle staatlichen Wid gesellschaftlichen Organisationen ausgedehnt wurde. Dieses System der Selbstverwa1tung, durch das sich Jugoslawien grundlegend von allen anderen sozialistischen Liindem Osteuropas Witerschied, sollte nach dem Bruch mit der SowjetWlion 1948 einen eigenstiindigen Weg zum Sozialismus ermoglichen Wid vor allem den Witerschiedlichen regionaIen sozio-okonomischen Verhiiltnissen RechnWig tragen. Freilich blieb der Marxismus-Leninismus die einende Klammer Wid ideologische Grundlage fUr Unterricht Wid ErziehWig, Wid seit den siebziger Jahren war "Grundlagen des Marxismus Wid Selbstverwaltungssozialismus" Pflichtfach an allen Schulen in Jugoslawien (Bachmeier). Tabelle: AnalpbabeteD Dub RegioDeD (iD ProzeDt)
Jugoslawien Siowenien Kroatien Vojvodina Bosnien-Herzegowina Serbien Montenegro Kosovo Makedonien
1931
1953
1981
44,6 5,5 27,0 20,2 70,0 55,4 56,2
25,4 2,7 16,3 12,9 40,2 29,5 30,1 54,8 35,7
9,5 0,8 5,6 5,8 14,5 11,1 9,4 17,6 10,9
74,0
Quellen: 1931, eigene Berechnung anhand von Dejinitivni rezu/tati popisa stanovniStva 1931 god., Sarajevo 1937-38; 1953 Jugos/avija 1945--64, Be/grad 1965; 1981, Statisticki GodisnjakJugos/avije 1991.
Eine der ersten Mal3nahmen der kommunistischen Regierung bestand in der Einfiihrung des muttersprachlichen Unterrichts fUr die nationalen Minderheiten auf allen Ebenen. Dies war vor allem fUr die Albaner im Kosovo Wid fUr die Makedonier von
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Martin Mayer
Bedeutung, denen in der Zwischenkriegszeit jegliches Recht auf eigene Schulen verwehrt worden war. Urn dem rasch steigenden Bedarf an qualifizierten Fachkadern fUr den gesellschaftlichen Umbau und die Industrialisierung zu decken, wurde das Mittelschulwesen stetig ausgebaut. Dabei konzentrierte man sich insbesondere auf die Fachschulen, die bis rum Zweiten Weltkrieg so gut wie keine Rolle gespielt hatten. So stieg die Zahl der Mittel- und Fachschulen zwischen 1953 und 1989 von 437 auf 1216 (Jugos/avija 1945-64, Statisticki Godisnjak Jugos/avije 1991). Den groBten Aufschwung nahm jedoch der Hochschulsektor. 1m gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Studenten im Verhliltnis zur Bevolkerung mehr als vervierfacht. In den siebziger Jahren studierten sogar noch weitaus mehr, doch ging man angesichts der steigenden Akademikerarbeitslosigkeit in den achtziger Jahren dazu iiber, den Zugang zu den Hochschulen zu beschranken. Es war erkliirtes Ziel der jugoslawischen Selbstverwaltung, sowohl den StadtlLand-Gegensatz als auch das NordlSiid-Gefalle zu iiberwinden und die unterentwickelten Regionen besonders zu fordem. So lagen das Kosovo und zeitweilig auch Makedonien an der Spitze der Studentenzahlen im Verhliltnis zur BevOlkerung (SGJ 1991). Allerdings ist albanischen Studenten der Zugang zur Universitat Prishtina, der einzigen im Kosovo, seit einigen Jahren verwehrt, nachdem 1989 der Autonomiestatus des Kosovo abgeschafil: wurde. Angesichts der desolaten Verhliltnisse vor dem Zweiten Weltkrieg und des daraus resultierenden enormen Nachholbedarfs stell!en die Bildungsprojekte im sozialistischen Jugoslawien eine groBe Leistung dar. Innerhalb von knapp 30 Jahren konnte die Analphabetenrate von 25,4 Prozent (1953) auf9,5 Prozent (1981) gesenkt werden. Verfiigten 1953 noch 42 Prozent der Bevolkerung iiber gar keine oder nur minimale Schulbildung, so ging dieser Anteil bis 1981 auf 17 Prozent zuriick (SGJ 1991). Andererseits bleibt unbestreitbar, dass Jugoslawien mit knapp 10 Prozent Analphabeten immer noch weit unten auf der europaischen Skala angesiedelt war und fast die Halfte der BevOlkerung (44,1 Prozent), vor allem die alteren Jahrgiinge, keine vollstiindige achtjiibrige Grundschulbildung besaB. Die Konzentration auf die Ausbildung der Arbeiter in den Stadten brachte zwar ohne Zweifel Erfolge, 1988 absolvierten 49 Prozent der Beschiiftigten den Mittelschulabschluss und 8 Prozent besaBen sogar das Diplom einer technischen Hochschule oder Universitat (SGJ 1991). Doch wurde damit die Landbevolkerung vernachlassigt, obwohl diese bis in die sechziger Jahre die Hiilfte und 1981 immer noch etwa ein Viertel der Gesamtbevolkerung ausmachte. Auch konnte trotz aller Bemiihungen das NordlSiid-Gefalle nicht nachhaltig abgebaut werden (vgl. Tabelle). Obwohl die siidostlichen Teilregionen seit dem zweiten Weltkrieg unbestreitbar an Boden gut gemacht hatten, blieben vor allem Bosnien-Herzegowina und das Kosovo mit 14,5 Prozent bzw. 17,6 Prozent Analphabeten (1981) bildungspolitisches Notstandsgebiet.
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Literatur
Uwe Bach, Bildungspolitik in Jugoslawien von 1945 bis 1974. Darstellung und Dokumentation, Berlin 1977 Peter Bachrnaier, Aspekte der Bildungs- und Wissenschaftspolitik Jugoslawiens 1944-1979, Wien 1983 Charles Jelavich, South Slav Nationalisms, Textbooks and Yugoslav Union before 1914, Columbus, Ohio 1990 Martin Mayer, ,,Analphabetismus und Erwachsenenbildung in Jugoslawien seit dem Zweiten Weltkrieg", in: Deutsch lemen. Zeitschriftfiir den Sprachunterricht mit auslandischen Arbeitnehmem 1991, H. 1-2, S.170-183 ders., Elementarbildung in Jugoslawien 1918-1941. Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Modemisierung? Miinchen 1995 Norbert Reiter und Holm Sundhaussen (Hg.), Allgemeinbildung als Modemisierungsfaktor. Zur Geschichte der Elementarbildung in Sudosteuropa von der AujkJarung bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin 1994 Wolfgang Schmale und N. L. Dodde (Hg.), Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der AujkJarung (1750-1825), Bochum 1991
18. Literaturen und nationale Ideologien Alida Bremer
18.1. Die Literatur und das "nationaie Bewusstsein" Die Literaturen in den slawischen Sprachen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien entstehen unter den Bedingungen von Fremdherrschaft, als Teil des Versuchs, sich durch Sprache und Literatur national zu behaupten. Ein historischer Uberblick setzt daher eine klare Unterscheidung zwischen dem Wunsch nach nationaler und sozialer Befreiung einerseits und nationalistischen Ideologien andererseits voraus. Oft erkUiren sich die mythologischen und geschichtlichen Komponenten einer national en Ideologie aus authentischen Bediirfnissen, und diese auszudriicken, gehOrte zu den wichtigen Anliegen der Literatur. Doch abgesehen von der Funktion, Sprachrohr des Volkes zu sein, entwickelt jede dieser Literaturen auch spezifische kiinstlerische Verfahren, die ihre literarische Tradition bilden. Die umfangreiche Materie lasst es nicht zu, dass man sie auf nur eine Funktion reduziert; deshalb kann auch der gewichtige Aspekt der nationalen Ideologien nur bedingt isoliert betrachtet werden. In "archaischen Kulturen", so der kroatische Literaturwissenschaftler Velimir Viskovic, sei der Schriftsteller Trager mehrerer fiir das Gesellschaftsleben bedeutender Aufgaben. Er sei ,,Barde, Politiker, Historiker, Sprachforscher, in gewissem Sinne auch Psychotherapeut, der sein Yolk von den politischen Frustrationen zu befreien" versuche. In politisch unterdriickten Gesellschaften verharrt die Kultur oft aufihrer archaischen Entwicklungsstufe. Eine derartige Definition der Literatur setzt die Autoren standig der Gefahr aus, Ideologien zu dienen. Der Missbrauch literarischer Ausdrucksformen ist ein wesentliches Verfahren aller Ideologien. An diesem Missbrauch beteiligen sich Schriftsteller, sofern sie bestimmte Ideologeme schaffen, die von den Epigonen wiederum als Stereotypen verbreitet werden. In der Zeit des jugoslawischen Zerfalls griffen solche Prozesse urn sich. Die alten Themen, Strukturen oder Motive (wie etwa der in der serbischen Kultur gepflegte Kosovo-Mythos) wurden ihrer authentischen Entstehungsmomente beraubt und fiir die zeitgenossischen politischen Machtklimpfe instrumentalisiert - eine Trivialisierung der Literatur, die von den Massenmedien unterstiitzt wurde. Diese Umstande legen die Frage nahe, inwiefern eine instrumentalisierte Literatur und die sich in populistischen Banalitaten ergehenden Autoren uberhaupt noch als "die Literatur" zu betrachten sind. Besonders auffaIlig war die Wandlung literarischer Dissidenten der achtziger Jahre in serbische Nationalisten der neunziger, als viele von ihnen direkte Unterstiitzer des Regimes und des Krieges wurden (Gojko Dogo, geb. 1940, Rajko Petrov Nogo, geb. 1945, Dobrica Cosic, geb. 1921). Autoren, die sich von der nationalistischen Begeisterung distanzierten, wurden des Verrats beschuldigt - auch dies gehOrt zur Tradition, und zwar keineswegs nur in Serbien. So wurde die kroatische Literaturwissenschaftlerin und postmoderne Autorin Dubravka Ugresic (geb. 1949), deren Werke viele Uber-
18. Literaturen und nationale ldeologien
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setzungen in verschiedene Sprachen und ausgezeichnete Kritiken erfahren haben, wegen ihrer kritischen und als ,jugo-nostalgisch" diffamierten Haltung in Kroatien vielfach angegrifIen und ihre Erfolge verschwiegen. 18.2. Abgrenzungen und Grenzuberschreitungen
Durch die Bedeutsamkeit der gemeinsamen Sprache als konstituierendes Element einer Gruppe, kommt den Schriftstellem unter allen Kiinstlem eine gesellschaftlich herausragende Rolle zu. Wer die Sprache beherrscht, hat die Macht. Urn diesen Befund dreht sich zu einem guten Teil auch die kulturelle und politische Geschichte der siidslawischen Volker. Die Emanzipation der nationalen Sprachen und der Wechsel der Stilepochen berechtigen dazu, von getrennten Nationalliteraturen zu sprechen. Es ist in mehrfacher Hinsicht von Vorteil, die slawischen Literaturen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien komparatistisch zu betrachten. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Fiir die iilteren Literaturen schuf die sprachliche Verwandtschaft die Grundlage fUr ihre wechselseitige Beeinflussung. Die historischen Ereignisse im Verlauf der Jahrhunderte taten ein weiteres, urn die kulturellen, ethnischen, religiosen, politischen und dialektalen Grenzen durchliissig zu machen. Fiir die neuesten Literaturen ist auch die Tatsache ausschlaggebend, dass es fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch eine staatliche Einheit gab, in der sie verbunden waren, und sie daher ideologisch, soziologisch, wirtschaftlich und kulturell die priigende Auswirkung dieser Einheit erfuhren. 18.2.1. Gemeinsamkeiten
Mit der Entstehung und Verbreitung der miindlich iiberlieferten Volksdichtung war die Moglichkeit gegeben, dass Motive, Themen, Heldenfiguren, sprachliche Formen usw. iiber Grenzen hinweg wandem konnten. Ein interessantes Beispiel bieten jene Volkslieder oder -erziihlungen, die Konflikte zwischen Christen und Muslimen zum Gegenstand haben. Sie sind aufbeiden Seiten anzutrefIen und - wiihrend auf der einen Seite die HeIden christlichen und die Feinde islamischen Glaubens sind, ist es auf der anderen Seite natiirlich genau urngekehrt. Dabei bleiben Sujet, Stil und die vermittelte Emotion einer bitteren Lebenserfahrung beinahe identisch. An diesem Prozess gegenseitiger Beeinflussung der Volksliteraturen ist auch die bulgarische Literatur beteiligt, die einzige siidslawische Literatur auJ3erhalb des jugoslawischen staatlichen Verbundes. Parallel zur Geschichte der gegenseitigen Beriihrungen und Durchdringungen in diesem Raurn verlaufen die jeweils spezifischen Geschichten der ,,reinen" Nationalliteraturen; daraus ergibt sich im Bereich der Literaturgeschichtsschreibung eine Dynamik aus Abgrenzungen und Grenziiberschreitungen, eine Geschichte der DifIerenzen und Interferenzen. Ein iihnlicher volksliterarischer Hintergrund und iihnliche Lebensbedingungen haben zur Folge, dass vergleichbare Anteile kollektiver statt individueller Erfahrungen in die fiktionalen Werke bestimmter Epochen Eingang finden, wenn die Autoren unter bestimmten ideologischen und iisthetischen Pramissen schreiben, mogen
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Alida Bremer
sie auch verschiedepen Volksgruppen angehoren. Die patriarchalische Fonn des Familienlebens in groBen, hierarchisch bestimmten Verbiinden etwa spiegelt sich in der serbischen Literatur, aber auch in der durch ahnliches patriarchalisches Volksgut gepragten kroatischen Prosa in einem beharrlichen Muster wieder: dem ,,Recht" der Manner auf die Korper der Frauen. Die Tragik der traditionellen Rolle der Frau wird nur selten - etwa bei Dinko Simunovic (1873-1933) - tiefer reflektiert. Der seinerzeit hoch geschiitzte und sehr populare kroatische Erzahler Mile Budak (1889-1945, Minister in der faschistischen Regierung des kroatischen Marionettenstaates NDH, nach dem Krieg hingerichtet) beschreibt in seinem fur die rurale Heimatliteratur exemplarischen Roman Ognjiste (,,Herdfeuer", 1938) die psychischen Qualen eines Familienvaters, angesichts der erotischen Anziehungskraft seiner Schwiegertochter, die ihm nach der atavistischen patriarchalischen Ordnung der Welt hiitte gehOren konnen. Diese psychologische Motivation des miinnlichen Verhaltens finden wir auch bei einem der groBten Erzahler Serbiens, Borisav Stankovic (1876-1927), im Roman NeCista krv ("Unreines Blut", 1910). Bei beiden - ansonsten sehr unterschiedlichen Autoren - sind die Bilder von Herdfeuer und Blutbindungen Symbole der Gemeinschaft, wahrend erotische Beweggriinde die psychologische Erklarung fur das Verhalten des Einzelnen liefem, dessen Ausbruch aus der Gemeinschaft das Ende ihrer Ordnung bedeutet. Die Ubertragung patriarchalischer Stereotypen aus der Volksdichtung bis in die modeme Filmsprache hinein ist wenig erforscht; eine kultursoziologische Analyse des Patriarchats auf dem Balkan ware fur das Verstiindnis der nationalistischen Ideologien von groBer Bedeutung. (Die Studien von Gesemann, Burkhart und Colovic zeigen, wie die Werke der Literatur nach diesen Fragen untersucht werden konnen.) Aber auch die Literatur der ironischen Distanz, die sich in den urbanen Zentren entfaltete, hat ihre modeme Tradition gebildet. Das Herdfeuer-Stereotyp, das Ivan Slaming (geb. 1930) mit seiner Erzahlung Friiider (,,Der Kiihlschrank") bereits Ende der sechziger Jahre persiflierend aufgegriffen hatte, tauchte in der Kriegsberichterstattung der neunziger Jahre emeut auf, urn auf eigentiimliche Weise die Vertreibung der Menschen aus ihren Wohnungen zu kontrastieren. In zeitgenossischen Werken der Prosa aller Volker dieses Raurnes fmden sich altertiimliche Fonnen des historischen und des Heimatromans, die ihrer Poetik und Ideologie nach in das 19. Jahrhundert gehOren. Ivan Aralica (geb. 1930), der kroatische Erzahler, hat die Poetik des historischen Romans in den achtziger Jahren wieder belebt und sie fur eine Vision des Zusammenlebens zwischen Katholiken, Muslimen und Orthodoxen genutzt. Allerdings mutet bereits die Aufteilung der Protagonisten in diese religiosen Gruppen seltsam an, zumal die edelsten menschlichen Charakterziige in den patriarchalischen katholischen Familien gepflegt werden. Dobrica Cosic, der politisch bedeutendste Schriftsteller des heutigen Serbien, hat in seinem ersten Roman Daleko je sunce (,,Die Sonne ist fern") die Ideologie der Partisanenmoral bloBgestellt. Als begabter traditioneller Erzahler hat er mit seinem vierbiindigen Roman Vreme smrti (,,Die Zeit des Todes") ein Werk vorgelegt, das als verspatete serbische Variante von Tolstojs ,,Krieg und Frieden" verstanden werden mochte. Seine Montage von Originaltexten historischer Personlichkeiten und das Verfahren, diese "authentisch" sprechen zu lassen, sind ideologischen Zielen untergeordnet. Nikola Pasic, der serbische Politi-
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ker der Jahrhundertwende, der das Recht der Serben auf einen gemeinsamen Staat postulierte, urn die SchafIung Jugoslawiens zu begriinden, ist darin der unkritisch gestaltete, idealisierte Held. Bezeichnend ist auch, dass der Autor spiiter den tagespolitisch aktuellen Vergleich zwischen PaSic und Slobodan Milosevic gezogen hat. Cosic will in der Politik von Slobodan Milosevic jenen Pragmatismus PaSics erkennen, der stets im Dienste der gr06serbischen nationalen Interessen stand. Dass bereits der friihe Roman Koreni (der deutsche Titel von 1958, ,,Der Herd wird verlfischen", verriit die Herdfeuer-Tradition!) im Duktus der Ideologie der serbischen patriarchalischen Heiligtiimer geschrieben wurde, solI nicht unerwiihnt bleiben. In den spiiteren Werken, die immer wieder die Zeit des Ersten Weltkriegs vergegenwiirtigen, auch wenn sie detailliert fiber die stalinistische Epoche und den Partisanenkampfberichten, wird sein Ideal der serbischen Gesellschaft auBerhalb einer sfidslawischen Gemeinschaft, aber im vereinten Serbentum deutlich. Cosic gebiihrt so die Rolle des Erfinders der wichtigsten serbischnationalen Stereotypen, die von den Kriegspropagandisten unermfidlich wiederholt wurden. Danko Popovic (geb. 1928) schuf in Knjiga 0 Milutinu (,,Das Buch fiber Milutin") in Anlehnung an Cosic einen populistisch philosophierenden HeIden. Diese eindimensionale Figur, die in langen Monologen als Sprachrohr einer vermeintlichen "die Meinung des Volkes" auftritt, ware belanglos, hiitte das Buch am Vorabend des Kriegs nicht eine gleichsam hysterische Begeisterung hervorgerufen und sich durch zahlreiche Auflagen als einer der erfolgreichsten Bestseller der neueren serbischen Literatur erwiesen. Vuk Draskovic (geb. 1946), eine der schillemdsten charismatischen Figuren des heutigen Serbien, hat vor seinem politischen Aufstieg mehrere Romane geschrieben, die in ihrer nationalen Pathetik und mit ihrer Schwarzweill-Malerei - die Menschen sind entweder gute, ehrliche, idyllisch-familiiir (urn das Herdfeuer versammelt!) lebende Serben oder hinterlistige Muslime und Kroaten - hOchstens als Trivialliteratur gelten kfinnen. Mit ibm erreicht die Literatur der nationalen Stereotypen ihren vorliiufigen Hfihepunkt. Die multiethnische und multikulturelle Situation einiger Regionen spiegelt sich in den Werken vieler Autoren wieder, bei den besten unter ihnen freilich viel differenzierter als etwa bei Draskovic. So sind z.B. Nedjeljko Fabrio (geb. 1937) in der kroatischen Literatur und Aleksandar Tisma (geb. 1924) oder der viel jiingere Dragan Velikic (geb. 1953) in der serbischen Literatur diejenigen Autoren, die die Pluralitiit als mitteleuropiiisches (bei Fabrio und Velikic auch mediterrane's) Erbe in ihren Romanen zum iisthetischen Prinzip schlechthin erhoben haben. Der Bosnier Dzevad Karahasan (geb. 1953) rugt diesem Gebilde eine stiirkere orientalische Komponente hinzu.
18.2.2. Trennendes Nach der Epoche der (gemeinsamen) altkirchenslawischen Literatur, die auch fiir andere slawische Literaturen von Bedeutung ist, trennen sich die Entwicklungslinien, wofiir die Voraussetzungen schon im Rahmen dieser alten Schriftkultur geschaffen wurden, denn die jeweilige lokale Redaktion weist sprachliche und stilistische Besonderheiten auf. Die Namen russisches Kirchenslawisch, serbisches Kirchenslawisch etc.
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werden diesem Umstand gerecht, allerdings wird unter dieser Bezeiclmung auch weltliche Literatur gefasst. Zu den typischen Differenzierungsmerkmalen gehOren etwa die von der lokalen Mundart geflirbte glagolitische Schriftkultur der Kroaten oder das "Slawenoserbische" bei den Serben im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts. Die neuzeitlichen Literaturen in der jeweiligen Volkssprache entstehen zeitlich verschoben.( 7 Kap. 16) Wlihrend die slowenischen Literaturhistoriker diesen Prozess ab dem 16. Jahrhundert beschreiben, fiihren die kroatischen ilm auf das 14. Jahrhundert zuriick (in der Erscheinungsform der cakavischen Literatur), die serbischen wiederum zeigen eine groBe Ziisur zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert auf, die mit Volksdichtung iiberbrockt wurde - eine Entwicklung, die bei den Makedoniem iilmlich verlief. Mit der Bestimmung einer Literatur als ,,montenegrinisch", als "bosnisch-muslimisch" oder als ,,makedonisch" wird oft die Existenz einer politischen und kulturellen Nation bestiitigt bzw. es werden ihre territorialen Koordinaten umrissen. Die drei genannten Literaturen haben es insbesondere schwer in Bezug auf die schon profilierte kroatische, serbische und bulgarische Literaturgeschichte. Die kommunistische Ideologie im sozialistischen Jugoslawien war urn eine genaue Abgrenzung der politisch definierten "Volker" und "Volkerschaften" bemiiht und iibertrug diese Prinzipien auf die nationale ZugehOrigkeit der Literaturen. Insofem hat die marxistische Literaturwissenschaft stark zu nationalliterarischen Abgrenzungen beigetragen. Die Besonderheit der sozialistischjugoslawischen Einstellung zu den nationalen Literaturen besteht darin, dass die historische Selbstiindigkeit zwar anerkannt, ihre weitere Entwicklung aber gleichzeitig unterbunden wurde. Da die Geschichte in gewisser Hinsicht ab 1945 neu anzufangen hatte, wurden die nationalen Sonderwege nur insoweit geduldet, als sie die dominante Ideologie der ,,Briiderlichkeit und Einheit" nicht in Frage stellten. Diese Ideologie betraf vor allem den "serbokroatischen" Raurn - die Literaturen der Serben, Kroaten, bosnischen Muslime und Montenegriner - wiihrend die slowenische und die makedonische zwar Randpositionen innehatten, ihre Besonderheiten aber ausleben durften. Die kroatische Literatur wurde wegen der immer wieder beschworenen Gefahr des kroatischen Nationalismus unter besondere Aufsicht der Zensoren gestellt. Diese zeigten ein auBerordentliches Gespfu fUr die Rolle der Literatur als Triigerin der nationalen Selbstdefinition. Dies dokumentierte der Literaturkritiker Branimir Donat in seinem Schwarzen Dossier der Verhote in der kroatischen Literatur (1992). Die groBe Ahnlichkeit der kroatischen und der serbischen Sprache und die Dominanz der letzteren wurde von vielen kroatischen Autoren als Bedrohung empfunden; die Abgrenzung der makedonischen von der bulgarischen Literatur wurde im sozialistischen jugoslawischen Staat dagegen beschleunigt, da Makedonien ab 1945 das Recht auf eine eigene Literatursprache bekam. Ein spezifisches Problem der Nationalliteraturen dieses Raurnes ist die Bestimmung des Kanons der jeweiligen Literatur. Der Zerfall des jugoslawischen Staates hat eine Reihe von ,,zugehOrigkeitsfragen" emeut zu politischen Fragen gemacht. Da, wo die Verflechtungen komplex sind, sind zweifellos nur literarisch-iisthetische Kriterien in der Lage, die Spannungen abzumildem und die Toleranz zu entwickeln, ein Werk als Bestandteil mehrerer Nationalliteraturen zu betrachten. Die Ballade Asanaginica oder Hasanaginica, die von Goethe als ,,Klaggesang von der edlen Frau des Asan Aga"
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(WA 1., 2 (2)) nachgedichtet wurde, wird mit Recht sowohl von den Kroaten als auch von den Serben und bosnischen Muslimen "beansprucht". Dieses ,,Recht" wird sprachlich, formal, thematisch und rezeptionsgeschichtlich begriindet. Der einzige Nobelpreistrager aus dem ehemaligen Jugoslawien, Ivo Andri6 (1892-1975), "gehOrt" sowOhl der kroatischen als auch der serbischen und der Literatur der bosnischen Muslime .an, da seine Sprache, seine Motive, seine Weltanschauung und die Summe der literarischen Einfliisse sowie seine Wirkung in allen diesen Traditionen zu suchen sind. Seine politischen Ansichten, die ihn dazu bewegt haben, sich zur serbischen Literatur zu bekennen, sind nur ein Element in der Struktur, die seine ,,zugehorigkeit" ausmacht. Wahrend Andri6 einer Familie von katholischen bosnischen Kroaten entstammte, war Mesa Selimovi6 (1910-1982) - der zweite wichtige Nachkriegsschriftsteller, der sich als Serbe definierte - ein bosnischer Muslim. ,,Meine Familie ist moslemisch, aus Bosnien, aber der nationalen ZugehOrigkeit nach bin ich ein Serbe. Ich gehore der serbischen Literatur ebenso wie der bosnischen, da ich an meiner Herkunft genauso wie an meiner Entscheidung festhalte, und ich bin den beiden gleich stark emotional und geistig verbunden", schrieb er 1973. In seinem Meisterwerk Der Derwisch und der Tod werden existentielle Situationen des Menschen in der islamisch-orientalischen Tradition, die keine Dekoration ist, sondern das Wesen des Konflikts ausmacht, verarbeitet und auf die Ebene des Universellen transponiert. Der serbische Autor Danilo Kis (19351989), Sohn eines in Auschwitz ermordeten ungarischen Juden und einer Montenegrinerin, bezeichnete sich selbst als "den letzten jugoslawischen Schriftsteller". Sein Werk, das in allen Teilen des zerfallenen Landes rezipiert wurde und langst au.l3erhalb seiner Kulturen weitere Leser gefunden hat, ist das schOnste Vermachtnis einer ,Jugoslawischen" Literatur, die nie zustande kam.
18.3. Die Ideologie des "Jugoslawismus" Eine ,Jugoslawische" Literatur gab es zunachst als eine romantische Projektion, als ein politisches Pro gramm, das nie zur Vollendung gebracht werden konnte. In der Zeit der kroatischen ,,nationalen Wiedergeburt" (Preporod), bekannt unter dem Namen des 11lyrismus, in der die panslawische Idee erstmals programmatisch auf den siidslawischen Raum iibertragen wurde, stand die Integration im Mittelpunkt. Dies zeigt sich auch daran, dass neben kroatischen Illyristen (Janko Draskovi6, Ivan Kukuljevi6, Ivan Mafurani6) zahlreiche Nichtkroaten zu den Protagonisten der Bewegung zahlten. Bekannte "Illyristen" waren nicht etwa nur der Serbe Petar Preradovi6 (1818-1872) und der Slowene Stanko Vraz (1810-1851, Herausgeber der Zeitschrift ,,Kolo" von 18421853), beide polyglotte Ubersetzer, sondern auch der zweisprachige Autor Dimitrija Demeter (1811-1872), Sohn einer eingewanderten griechischen Familie, und der Bischof deutscher Herkunft Josip Juraj Strossmayer (1815-1905). Auch der bekannteste Wortfiihrer des Illyrismus, Ljudevit Gaj (1809-1872), war Sohn eines nach Kroatien eingewanderten franzosischen Apothekers. (7 Kap. 14) Ein solch multiethnisches Zusammenspiel in der Epoche der kroatischen ,,nationalen Wiedergeburt" bezeugt die Unmoglichkeit einer strengen Abgrenzung nach Herkunftskriterien und unterstreicht
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die Notwendigkeit, bei der Definition einer "Nationalliteratur" ideengeschichtlich zu argumentieren. Dass ausgerechnet die kroatische Literatur zur Tragerin einer Vereinigungsbestrebung bzw. des "Jugoslawismus" wurde, verdankt sich ihrer eigentfunlichen Zersplitterung. An ihrer Kontinuitat sind Werke beteiligt, die in cakavischer, kajkavischer, stokavischer und lateinischer Sprache verfasst und in lateinischer, glagolitischer und Bosancica-Schrift (der westkyrillischen Schrift) geschrieben wurden - teils in von verschiedenen fremden Machten beherrschten Liindem, teils in der freien Republik von Dubrovnik. Aus dieser Situation erwuchs der Wunsch, die Sprache als Definitionsmerkmal zu postulieren, tun so den Unterschied zu den ungarischen, deutschen, italienischen und tiirkischen Machthabem hervorzustreichen und sich den anderen sprachlich verwandten Volkem anzuniihem. Letztlich wirkte sich der "Illyrismus" vor allem auf die kroatische Nationalliteratur aus; die Wunschprojektion reichte nicht aus, tun eine ,Jugoslawische" Literatur zu erschaffen, ebenso wenig wie die spatere staatliche Einheitsideologie. Ein Merkmal als Folge dieser Ideologie bleibt fUr die literaturhistorische Polemikkultur bis heute dominant: der "Integrationismus" der serbischen Sprach- und Literaturwissenschaftler im Gegensatz zum "Separatismus" der kroatischen. Dieser Gegensatz der Positionen erkliirt sich aus einer radikalen historischen Wende. Die )llyrische" Utopie hatte wenig AhnIichkeiten mit der Realitat im ersten gemeinsamen siidslawischen Staat. Serbien, seit 1878 erstes freies Land in der Region, befand sich nach 1918 in einer Vormachtstellung. Diese Entwicklung wurde von einem leidenschaftlichen serbischen literarischen Patriotismus begleitet. Das von Vuk Stefanovi6 Karadzi6 (1787-1864) verkiindete Ideal der Volkssprache wurde als universelles Modell angesehen, Vuk KaradZie als iiberragendes Genie betrachtet (so der Linguist Aleksandar Belie, 1876-1960), dessen Sprach- und Literaturbegriff fUr die Kroaten, die j a gemeinsam mit den Serben ein Yolk seien, verpflichtend werden sollte. In der Tat hatte Vuk KaradZie in den Kreisen der "Illyristen" viele Sympathisanten; sowohl er als auch der Illyrismus gehOrten allerdings bereits der Vergangenheit an. Angesichts der langen eigenstiindigen Tradition der Kroaten musste die Glorifizierung von Karadzie auf viele abstoBend wirken. AuBerdem hatte Karadzie die gesamte "stokavische" Literatur fUr serbisch erkliirt. Diese romantische und wissenschaftlich wie politisch unhaltbare These hat in der neuesten Zeit viel Unheil gestiftet, da sie als Rechtfertigung fUr territoriale Anspruche missbraucht wurde. Eine besonders bizarre Polemik entziindete sich vor diesem Hintergrund im Zusanunenhang mit der Dubrovniker Literatur der Renaissanceund Barockzeit, da diese von den serbischen Literaturwissenschaftlem oft als "gemeinsames Erbe der Kroaten und Serben" beansprucht wurde. Obwohl dieser Anspruch hartnackig bis heute erhoben wird, fehlt ihm jede Grundlage. Die ragusanische Literatur, die dem westeuropaischen Kulturkreis zugerechnet wird, hatte ihre Bliitezeit in den katholisch gepragten Epochen der Renaissance und des Barock. Ihre stilistische und sprachliche Verwandtschaft mit der "cakavischen" Literatur Dalmatiens, mit der sie auch durch die ZugehOrigkeit zum Mittelmeerratun verbunden war, beschreibt den kroatischen Standort dieser Literatur und benennt dariiber hinaus die Unterscheidungsmerkmale zur serbischen Literaturtradition. Von einem "gemeinsamen Erbe" kann auch deshalb nicht gesprochen werden, wei! die ragusanische Lite-
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ratur durch ihre nachhaltige Wirkung auf die kroatische Literatur bis heute in dieser priisent ist, wiihrend sich in der serbischen Literatur keine traditionsbildenden Einfliisse nachweisen lassen. Diese Vereinnahmungsversuche hOrten auch nach der Belagerung und dem BeschuB Dubrovniks von 1991 nicht auf, bei der auch der Dubrovniker Dichter serbischer Herkunft Milan Milisic (1941-1991) urns Leben kam.
18.4. Kurzer Uberblick fiber die einzelnen Nationalliteraturen Fiinf Kulturriiume sind zu unterscheiden, denen diese Literaturen mehr oder weniger deutlich angehOren: 1. der westeuropiiische Kulturkreis mit der Dominanz der katholischen Tradition - wobei zur Zeit der Reformation allerdings wichtige protestantische Einfliisse zu vermerken sind; 2. der mitteleuropiiische Kulturkreis, der sich in der Donau-Monarchie herausbildete; 3. der osteuropiiische Kulturkreis mit der Dominanz der russischen Literatur und der christlich-orthodoxen Tradition slawischer Priigung; 4. die byzantinische Kultur mit der griechisch-orthodoxen Tradition und 5. der orientalische Kulturkreis mit dem Islam und den dazu gehOrenden Elementen tiirkischer, arabischer und persischer Kultur. Begrenzt auf einen politisch definierten Raum liiuft dementsprechend eine auf das ehemalige Jugoslawien fixierte Komparatistik Gefahr, sich auf unproduktive Abgrenzungen einzulassen. FUr die Geschichte der kroatischen Literatur sind komparatistische Studien uber die Kontakte mit Italien teilweise von groJ3erer Bedeutung, als die einseitige Betonung des festen Bezugs zu den sudslawischen Literaturen. Dasselbe gilt fUr die serbischen Kontakte mit der alt- wie neugriechischen Literatur, was u.a. in der wichtigen Tradition der klassischen Philologie oder in den mythologischen Motiven aus der byzantinischen Vergangenheit zur Geltung kommt.
18.4.1. Slowenische Literatur Die slowenische Literatur, geographisch von allen sudslawischen Literaturen Westeuropa am niichsten, kann vor allem in der Dynamik zwischen den starken deutschen und italienischen Einflussen und dem kontinuierlichem Widerstand gegen diese Einfliisse verstanden werden. Es waren die Reformatoren, die zusammen mit den deutschen Landesherren eine Schriftsprache auf der Grundlage des unterkrainischen Dialekts geschaffen haben. Primoz Trubar (1508-1586) ubersetzte das Neue TestameT:lt und wurde damit zu einem entscheidenden Initiator fUr die Entwicklung des Slowenischen. Trubars Bedeutung ragt fiber seine Epoche weit hinaus; seine Ubersetzung diente als Vorbild fUr die Schaffimg einer modernen Literatursprache in' der Zeit des Aufschwungs, zu dem es im 19. Jh. kam, nachdem in der Epoche der Gegenreformation eine langere Stagnation eingetreten war. Der slowenische romantische Dichter France Preseren (1800--1849) vertlocht in seinem formvollendeten spiitpetrarkistischen Sonettenkranz (Sonetni vijenac) die tief empfundene Liebe zu einer Frau mit der Liebe zu seinem Land; dahinter stand die Uberzeugung von der mythischen Rolle des Dichters als SchOpfer von Kultur und Zivilisation. Kurzzeitig gab es unter den slowenischen Romantikern
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Uberlegungen, die aus Kroatien kommende Idee einer siidslawischen Vereinigung zu iibernehmen, aber atmlich wie in Serbien setzte sich die nationale Sprach- Wld LiteraturentwicklWlg durch. Fiir die Epochen des Realismus, der Moderne (Ivan Cankar, 1876-1918, Wld Oton Zupancic, 1878-1949), des ,,sozialen Realismus" (Prefihov Voranc, 1893-1950) Wld der Nachkriegsliteratur ist ein immer engerer Anschluss an die europiiischen Str6mWlgen kennzeichnend. bei steter Wahrung der nationalen Identitat. Die stalinistischen ,,Dachauer Prozesse" (Igor Torkar, geb. 1913) oder die Erfahnmgen des Lagers Goli otok (,,Kahle Insel") (Branko Hofinan, 1929-1981) geMren neben den Themen aus dem Krieg zu den wichtigsten Auseinandersetzungen mit der jugoslawischen Wirklichkeit. Eine erstaWlliche Bereitschaft, fUr die Freiheit ihrer nationalen Literatur zu kiimpfen, zeigte die gesamte slowenische Offentlichkeit im Streit tun den "gemeinsamen Kern", der fUr den Literaturwttericht in jugoslawischen Schulen in den achtziger Jahren ausgearbeitet werden sollte. Der Dichter Ciril Zlobec (geb. 1925) beschreibt dies in seinem Werk Slowenische Selbstbestimmung und der Schriflsteller (1986). Drago Jancar (geb. 1948), Tomaf SalamWl (geb. 1941) Wld Ales Debeljak (geb.1961) geMren zu den Autoren, die im Ausland als authentische Stimmen aus dem mitteleuropiiischen Kreis erkannt wurden. Eines ihrer wichtigen Themen ist die Zukunft der slowenischen Kultur jenseits der abgenutzten Klischees Wld der veralteten nationalen Mythen. ,,Nick nicht ein im / Zug Venedig - / Wien, lieber / Leser. / Slowenien ist so / WlScheinbar, du k6nntest es verfehlen! [... J" dichtet SalamWl. 18.4.2. Kroatische Literatur
Die kroatische Literatur kennt eine atmliche PeriodisierWlg wie die europaischen Literaturen. Auf der einen Seite ist dieser Zustand die Gnmdlage fUr ein ausgepragtes europiiisches ZugeMrlgkeitsgefiibl, auf der anderen ist die spiirbare MissachtWlg, die ,,Europa" iiber JahrhWlderte gegeniiber dieser seiner Grenzregion gezeigt hat, ein Gnmd fUr die fortdauernde Anstrengung gewesen, in den slawischen Kulturkreisen geistige Heimat zu suchen. Schon 1525 MIt der Htunanist Vinko Prlbojevic in Hvar eine Rede iiber die slawische Herkunft (De origine successibusque Slavorum), Wld der Benediktinerm6nch Mavro Orbini (l550?-161O) schreibt II regno degli Slavi (1601). Eine virtuose GratwanderWlg zwischen den kosmopolitischen Wld slawisch-nationalistischen Ideen wird somit zum Bestandteil der gesamten literarischen EntwicklWlg der Kroaten. Juraj Krifanic (1618-1683), der Erfinder einer russisch-tschechisch-kroatischen Koine Wld Vorkiimpfer eines panslawischen Okwnenismus, hat eine friihe Utopie der europiiischen Briiderlichkeit liber konfessionelle Wld politische Hiirden hinweg entworfen. Er versuchte, die westeuropiiische Komponente seiner kulturellen Herkunft mit den panslawischen HoffnWlgen zu verbinden. KriZanics Koine ist eine ErfindWlg ganz in der Tradition der kroatischen Sprachgegebenheiten. Die Reformer der Illyrismus-Epoche setzten fUr die Hochsprache zwar endgiiltig die einheitliche RegelWlg durch (besondere LeistWlgen vollbrachte Ljudevit Gaj, 1809-1872), aber die Priisenz verschiedener sprachlicher Schichten, verbWlden mit fremdsprachlichen Einfliissen, war immer schon die Gnmdlage eines innovativen Umgangs mit der Sprache. Nach der Sprach-
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refonn wird ein Teil der Tradition vemachlassigt. Diesem Zustand wirken einige Autoren entgegen, etwa Miroslav KrleZa (1893-1981) mit seinem Meisterwerk in kajkavischem Dialekt Ba/ade Petrice Kerempuha (Die Bal/aden des Peter Kerempuch). Die urspJiingliche Parallelitiit mit den Stilepochen der europiiischen Literaturen verdankte die kroatische Literatur vor allem der Renaissance. Der Renaissancedichter Marko Marulie (1450-1524), dessen Vorbilder Dante und Petrarca waren, wurde mit seinen lateinischen Werken zwar in ganz Europa bekannt, seine Judita aber schrieb er in kroatischen Versen. Das religiose Epos des aus Split stammenden hwnanistischen Autors war das erste in kroatischer Sprache gedruckte Werk (und zwar in drei aufeinander folgenden Auflagen, Venedig 1520 ff.). In Judita wird (anders als bei den anonymen Volksdichtem) die vorhandene Verstradition von einem selbstbewussten Autor eingesetzt, der die Regeln der klassischen Dichter (Vergil) anwendet und durch einen fiberlieferten biblischen Stoff die aktuelle Situation verarbeitet. Die jfidische Witwe Judith, die ihr Yolk vor den Unglaubigen rettet, sollte den unter den kriegerischen Tiirken leidenden Kroaten als Vorbild dienen. Marulie eroffuet in der Literatur die Reihe der mit der europiiischen Rezeption rechnenden kroatischen Klagen fiber die Tiirken und andere Eroberer, in der - freilich nie erfiillten - Hoffuung auf Unterstiitzung. Zu ihren patriotischen Zwecken verwenden die Gelehrtenjene Gattungen, die vor allem in Italien gepflegt werden. In der Zeit des Barock brachten die tiirkischen Eroberungen Ivan Gundulie (1589-1638) dazu, eine neue Stiitze zu suchen. In seinem Epos Osman machte er die Gestalt des polnischen Konigssohns Vladislav zum Trager der panslawischen Hoffuung. Spater, zur Zeit der nationalen Wiedergeburt, brachte Ivan MaZuranie (1814-1890) mit dem letzten bedeutenden Epos der kroatischen Literatur Smrt Smail-age Cengica ("Cengie Agas Tod") die tiirkische Problematik mit der sfidslawischen Vereinigung in Verbindung. 1m Gegensatz zu dem montenegrinischen Fiirsten und Dichter Njegos, der ganz der Tradition der Volksdichtung verpflichtet ist, steht MaZur-anie in der Nachfolge der Kunstdichtung Gundulies (kongenial ergiinzte er auch zwei fehlende Teile von Osman). SchlieBlich schrieb Antun Soljan (1932-1993) in der Epoche der Postmodeme seinen ludischen und ironischen Kroatischen Joyce und verdrehte diese alte Tradition, indem er seinen Anti-Dichter Simun Freudenreich fiber die ungerechte Behandlung der tiirkischen Heiden in der kroatischen Literatur klagen lieB, gleichzeitig die sfidslawische Utopie ebenso wie die von Europa erwartete Hilfe verspottend. Vor seinem Tod beschrieb Soljan das europiiische Jahr der Delphine in einem Essay, der das Engagement der europaischen Nachbam fUr den Tierschutz in der Zeit des Krieges in Kroatien mit bitterer Ironie schildert. Urn die Jahrhundertwende, in der Zeit des verstiirkten (vor allem ungarischen) Drucks aufKroatien, bedeutet in Europa die Forderung nach Freiheit der Kunst individuelle und nationale kiinstlerische Freiheit zugleich. Nach einem Tiefpunkt im 19. Jahrhundert - fremde Einfliisse galten als feindliche Erscheinungen, und die kroatische Literatur versank im Provinzialismus - begann die Epoche der ,,Kroatischen Modeme". Politische Beweggriinde wirkten bei der Fonnulierung der Asthetik mit, und wngekehrt spiegelte sich die Befreiungsbewegung vor dem Zerfall der Donau-Monarchie in der Asthetik der neuen Generation. Die modeme Literatur beteiligte sich an den ideologi-
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schen Vorbereitwlgen fiir den gemeinsamen Staat mit den "slawischen Briidem". Die unterschiedlichen AufIassungen davon - in den verschiedenen nationalen Zentren geben Aufschluss iiber das spatere Scheitem dieser Ideologie. Flammende patriotische Gefiihle, auch jugoslawische, findet man in der Lyrik (sowohl kroatische bzw. slowenische als auch serbische), bei vielen Autoren schlieBt der Nationalismus den lugoslawismus nicht aus, sondem ergfulzt ihn. 1m Unterschied zur Gegenwart bedeutet der ,,Nationalismus" injener Epoche auch einen progressiven und aggressiven lugoslawismus, der als Widerstand zur osterreichisch-ungarischen Herrschaft entsteht. "Ganz Kroatien schnarcht unfein: wach sind nur die Dichter und Attentater", schrieb Andric 1914. Viele kroatische Dichter sehen in Serbien ein Freiheitsideal und somit ein Beispiel fiir ihr eigenes Land. Der dithyrambische Dichter des Siidens und spatere Partisanenbarde Vladimir Nazor (1876-1949) schreibt seine "Slawischen Legenden" 1900 (Slawenske legende) und die ,,Kroatischen Konige" 1912 (Hrvatski kraljevi). Das bedeutendste Werk, das seine Inspiration in den slavischen Mythen gefunden hat, ist das von Ivana Brlic-Mafuranic (1874-1938), die durch ihre Marchen als ,,kroatischer Andersen" auch in Europa bekannt wurde. Ein nochjunger Dichter, der spater zum bedeutendsten kroatischen Lyriker der ersten Halfte des 20. lahrhunderts werden so Ute, Tin Ujevic (1891-1955), schreibt 1909 sein Sonett ,,Den Kroatischen Miirtyrem" (Hrvatskim mucenicima) und 1918 eine Ode an Serbien, das als "gottlich" und ,,heilig" gepriesen wird. Eine Zeit lang begeistert sich auch der wichtigste Autor der Modeme, Antun Gustav Matos (1873-1914), fiir Serbien. Dieser iiberzeugte kroatischnationale SchriftsteUer wurde auch in Serbien akzeptiert. Er beklagte die ungarische Unterdriickung und spiirte, we1chen geistigenAufschwung das freie Serbien erlebt hatteo Seine friihen Erfahrungen in Serbien (er lebte 1894-1898 und 1904-1908 in Belgrad) formulierte er in luziden und desillusionierenden Essays. Seine Kenntnisse der serbischen Kulturszene machten ihn zu einem bedeutenden Kritiker der serbischen Modeme, in der er sich vor aUem als Widersacher des einflussreichen und dem Realismus zugeneigten lovan Skerlic (1877-1914) hervortat. Matos gehOrte zu den Starcevic-Anhangem, die eine Gegenposition zu denjugoslawisch orientierten Literaten bezogen, mit ihnen aber in Zeitschriften zusammenarbeiteten. Der rege Austausch zwischen Belgrad und Zagreb, der urn die lahrhundertwende einsetzt und bis zum Zweiten Weltkrieg anhalt, bringt eine Fiille literarischer Kontakte (Zeitschriften wie ,,Danas" oder ,,lenit"), aber auch den Abschied von der Utopie. Die kroatischen Schriftsteller (Krleza, Simic, Ujevic, Cesaric), die Skerlics Vorschlag akzeptiert hatten, die "ekavische" Variante der neustokavischen Sprache zu verwenden, urn die jugoslawische Einheit voranzutreiben, brechen nach dem Attentat auf Stjepan Radic (1928) diese Praxis abo Miroslav Krleza (1893-1981), die zentrale Personlichkeit der kroatischen Literatur im 20. lahrhundert, besaB den avantgardistischen Mut, die nationalen Mythen kritisch zu hinterfragen und im gleichen Atemzug einen Bruch mit dem "ignoranten" Europa zu fordem. (7 Kap. 10). Seinem ffiuvre wurde nur in den engsten Slawisten-Kreisen der "groBen VOlker" die gebiihrende Aufmerksamkeit geschenkt. Seine Kreativitat bei der Entrnythologisierung der Ideologien und sein Kampf fiir die kiinstlerische Freiheit offnen paradigmatisch fiir das 20. lahrhundert die Perspektiven einer modemen Autono-
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mie der Literatur. In der langen Tradition der national, sozial und didaktisch gebundenen stidslawischen Literaturen bedeutete dies eine wesentliche Veriinderung. Dabei vertrat er keinen asthetischen Eskapismus, sondem ein leidenschaftliches Engagement mit kiinstlerischen Mitteln. Obwohl er in seinem historischen Referat auf dem Schriftstellerkongress in Ljubljana 1952 die Grundlagen fUr eine Abwendung von der sozrealistischen Doktrin im neuen Staat geschaffen hatte, blieb Krleza einer literarischen Auseinandersetzung mit dem jugoslawischen Sozialismus fern. Als er 1967 seine Unterschrift unter die ,,Deklaration tiber den Namen und die Lage der kroatischen Literatursprache" leistete, blieb dies sein radikalster politische Akt nach der Verwirklichung des sozialistischenjugoslawischen Staates. In der kroatischen Literatur hat Antun Soljan mit dem Roman Luka (,,Der Hafen") die Absurditaten der sozialistischen Wirklichkeit beschrieben. Soljan gehOrte zu dem Kreis urn die Zeitschrift Krugovi (Slobodan Novak, geb. 1924, Slavko Mihalic, geb. 1928), die nach dem Krieg einen eher stillen Widerstand gegen die offizielle Ideologie geleistet und sich teils hermetisch, teils verspielt in kiinstlerischer Freiheit geiibt hat. Dieser Kreis offnete sich Stromungen aus der ganzen Welt; viele seiner Mitglieder waren augezeichnete Ubersetzer. "Wir sind keine Aufriihrer. Wir gehOren ganz einfach weder zur Revolution noch zur Konterrevolution. Wir billigen nur nicht den allerorts herrschenden Terror", so Vlado Gotovac (geb. 1939) tiber ,,Krugovi". Gotovac war einer der prominentesten kroatischen Dissidenten. Eine intellektuell-philosophische Literatur wurde im Kreis urn die Zeitschrift Razlog gepflegt, die er zeitweise herausgab. Nach der Zerschlagung des ,,Kroatischen Friihlings" 1971 ist eine allgemeine Riickzugsbewegung und ein Verstummen vieler kroatischer Autoren festzustellen, darunter vor allem der zuvor politisch stark exponierten Autoren; viele andere wenden eine miiBige Form der Autozensur an und veroffentlichen in dieser Zeit wichtige Werke, etwa die bekannteste kroatische Dichterin Vesna Parun (geb. 1922).
18.4.3. Literatur in Bosnien-Herzegowina Die Literatur auf dem Gebiet von Bosnien-Herzegowina partizipiert an den benachbarten Nationalliteraturen, etwa die Literatur der bosnischen Franziskaner an der kroatischen Literatur. Dabei bilden ihre Schriften in vieler Hinsicht einen originellen Beitrag einer wie auch immer definierten bosnischen Literatur. Ihre Chroniken inspirierten spilter viele bedeutende Autoren des Landes, etwa Ivo Andric oder in der zeitgenossischen Literatur Ivan Lovrenovic (geb. 1945) und Dzevad Karahasan. Wie das Beispiel von fra Grgo Martic, 1822-1905, zeigt, fanden die Ideen der illyrischen Bewegung aus Kroatien Zustimmung in den Kreisen der Franziskanermonche. Die Anniiherung zwischen den Nationalzentren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fiihrte dazu, dass viele kroatische und serbische, aber auch einige muslimische Autoren sich an Zagreb oder Belgrad orientierten. Die bosnisch-serbischen Autoren, die gegen Osterreich-Ungam waren, wie Petar Kocic (1877-1916) und Aleksa Santic (18681924), wirken betont serbisch-national, wie Serbien iiberhaupt in dieser Zeit als Freiheitsideal angesehen wurde. Die ablehnende Haltung der serbischen Autoren gegen-
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iiber den osterreichischen Machthabem aufierte sich darin, dass sie die bedeutende, vom kroatischen Dichter Silvije Strahimir Kranjcevic in Sarajevo herausgegebene Zeitschrift ,,Nada" boykottierten, weil der osterreichische Statthalter sie unterstiitzte; dabei wurde die Zeitschrift urspriinglich kyrillisch und lateinisch gedruckt und ziihlte die bedeutendsten siidslawischen Autoren zu ihren Mitarbeitem. Es spricht fUr die Durchsetzungskraft und Eigenstiindigkeit der literarischen Stilmittel, dass Santic u.a. Autor eines der populiirsten Liebeslieder nach orientalischem Muster ist (Emina). Die Grundlagen fUr eine muslimische Nationalliteratur werden in der Volksdichtung orientalischer Pragung gesehen, wobei das Beispiel von Santics Lied belegt, dass diese Dichtung auch Nicht-Muslime inspiriert hat. Die in arabischer Schrift verfasste aljamiado-Literatur (vom Arabischen al-agamiah in der Bedeutung "fremd, nicht arabisch") gilt als Gelehrten-Literatur, die der Volksdichtung gegeniibersteht. Der bekannteste alj amiado-Dichter, Muhammad Hawa'i Dskiifi (gestorben 1651), bezeichnet seine Sprache als ,,Bosnisch". Vergleichbar - da nicht in der Volkssprache geschrieben - mit der Literatur der kroatischen Latinitat ist die bosnisch-muslimische Literatur in orientalischen Sprachen (Tiirkisch, Arabisch und Persisch). Die zeitgenossische Literatur der bosnischen Muslime vereint oft die Vielfalt der Traditionen. Der Dichter Abdulah Sidran (geb.1944) erlangte intemationales Ansehen mit seinen Filmszenarien; fUr seinen Gedichtband Sarajevski tabut (,,Der Sarg von Sarajevo", 1994) emtete er grolle Anerkennung. 1m Krieg entstand eine Reihe von Werken, die sich durch ihre Besinnung auf die orientalische Tradition als Selbstbestimmungs- und Widerstandsliteratur einordnen lassen. Eine Synthese der urspriinglichen bosnischen mittelalterlichen Elemente mit den christlichen, islamischen und hebraischen, wie sie von dem an der kroatischen Lyrik geschulten Dichter muslimischer Herkunft Mak Dizdar (1917-1971) geschaffen wurde, erhebt sich iiber die Frage nach der ethnischen Zugehorigkeit und zeugt von den Moglichkeiten einer bosnischen literarischen 1dentitat.
18.4.4. Montenegrinische Literatur Die montenegrinische Literatur wird allgemein dem Korpus der serbischen zugeschrieben. Der montenegrinische Fiirstbischof Petar II. Petrovic Njegos (1813-1851), bedeutendster Dichter des Landes, bezeichnete sich selbst als Serben. Da er in seinem Epos ,,Der Bergkranz" (Gorski vijenac) thematisch und sprachlich die Tradition der serbischen Heldenepik zur Vollendung gebracht hat, gehort er primiir in die serbische Literaturgeschichte. Auch heute noch beteiligen sich Schriftsteller aus Montenegro am Literaturbetrieb Serbiens, oft mit serbisch-nationalistischen Positionen (Miodrag Bulatovic, 1930-1991). Matija Beckovic (geb. 1939), der sich bewusst in die Tradition von Njegos stellt und sich als Dichter der patriarchalischenen montenegrinischen Stammesgesellschaft versteht, entwickelte eine makabre nationalistische Metaphorik zugunsten der serbischen Kriegspolitik. Aus Kosovo je najskuplja srpska rei (,,Kosovo ist das teuerste serbische Wort", 1989) zitierte Slobodan Milosevic in seinen Reden. Jevrem Brkovic (geb. 1933) dagegen setzt sich fUr eine montenegrinische Tradition ein.
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18.4.5. Serbische Literatur Nach der Epoche der mittelalterlichen Literatur, deren Besonderheit im 13. und 14. Jahrhundert die Viten der serbischen ErzbischOfe und Konige waren, in welchen sich eine Art Geschichtsschreibung entwickelte, kam es zu einer langen Stagnation in F olge der tiirkischen Eroberungen. Jovan Skerlic, der Begriinder der modernen serbischen Literaturgeschichte, erkannte die Werte der mittelalterlichen Literatur nicht, da er stark westeuropiiisch orientiert war. Auch die Volksliteratur interessierte ibn wenig, doch viele Eigenschaften der serbischen Literatur erklliren sich erst aus der genauen Kenntnis der miindlichen Uberlieferung. Dabei sind nicht nur die klangvollen stilistischen oder rhythmischen Eigenschaften von Bedeutung, sondern auch die Weltbilder und die archetypischen Situationen einer Gruppe, die stiindig urn ihr Uberleben kampft. Die Heldenlieder der Volksdichtung wurden zum Ersatz fUr die Historiographie und beeinflussten nachdriicklich die gesamte spatere Entwicklung der serbischen Literatur. Diese Wirkung ist pragend nicht nur fUr die Auswahl der Themen, sondern auch fUr ihre Funktion. Unter der osmanischen Herrschaft dienten diese Lieder zur Ermutigung und zur Selbsterhaltung, sie nahmen die Stelle von Morallehre, Sittenkunde, Genealogie und allgemeiner Bildung ein. Ihr patriarchalisches Weltbild, seltsam archaisch und zuweilen erstaunlich brutal, entspricht einer Mischung aus den iiberlieferten Mythologien, der Wirklichkeit und den Wunschprojektionen des von den Tiirken unterjochten serbischen Volkes. Da die serbische Volksdichtung "von Europa" (dank Jacob Grimm und Goethe) akzeptiert wurde, bekam sie bei einigen Kritikern einen so hervorragenden Platz in der serbischen Tradition, dass sie immer wieder mit Homers Epen verglichen wird. Schon Goethe, der die Liebeslyrik hoch eingeschlitzt hat, zeigte allerdings wenig Verstiindnis fUr den blutdiirstigen Umgang mit den Gegnern und mit den Frauen in der Heldenepik. Eines der schOnsten Lieder Banovic Strahinja, in dem der Held seinem tiirkischen Rivalen zwar die Kehle mit den eigenen Ziihnen durchtrennt, seiner Frau aber verzeiht, dass sie von einem Tiirken entfiihrt worden war, nannte er wegen der milden Haltung des HeIden ein untypisches Beispiel fUr den Kosovo-Zyklus. Neuere serbische Literatur entsteht zunachst unter den Serben in der Vojvodina, welche im Reich der Habsburger lebten. Ihre Tradition erreichte eine Bliitezeit in den Werken von Isidora Sekulic (1877-1958). Sie veroffentlichte Prosa (Romane und Erzlihlungen), Reiseberichte, Literaturkritiken und Essays. Als erste Literaturkritikerin erkannte sie die Werte der ,,Jungen", die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kulturelle und literarische Ver1inderungen durchsetzten. Auch die gebildete klassische Philologin Anica Savic-Rebac (1892-1953), die feinfiihlige Essays schrieb und als Briefj:>artnerin mit verschiedenen Personlichkeiten des europiiischen Literaturlebens (Rebecca West, Thomas Mann) kommunizierte, stammte aus der Vojvodina. Die Epochen der Aufldlirung, der Romantik und des Realismus ofIneten den Weg zu jenem literarischen und kulturellen Aufschwung, der im freien serbischen Konigreich am Ende des 19. Jahrhunderts zum Vorschein kam und zum AufblUhen der Literatur der Moderne fiihrte. Milos Crnjanski (1893-1977) begann lihnlich wie KrleZli als avantgardistisch-expressionistischer Lyriker und verarbeitete ebenso die traurnatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in seinem Werk. In seiner Antikriegs-Lyrik bricht er in einer
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bis dahin lll1bekannten Offenheit mit den serbischen nationalen Mythen lll1d bezeichnet die Tradition als Rumpelkammer der Geschichte, aus der man keinen adaquaten literarischen Ausdruck fUr das modeme Weltempfinden empfangen konne. Im Unterschied zu den linken Positionen Krlezas wurde Cmjanski spater ein konservativer Rechter, der sogar seinen Pazifismus revidierte, denn er meinte erkannt zu haben, dass das serbische Yolk seine Heiligtiimer (die Heldentaten der Vater) nicht aufgeben konne. Dass sich die zwei begabtesten Autoren unter den Kroaten und den Serben zwei entgegengesetzten politischen Lagem anschlossen, ist symboltrachtig fUr das 20. Jahrhundert. Nm wenige aus dem linken Lager besaBen allerdings den Antidogmatismus und die enzyklopadische Bildung KrleZas wie auch nm wenige aus dem rechten Lager iiber die Sensibilitat und die dichterische Begabung Cmjanskis verfiigten. Es war Krleza, der in dem ,,Konflikt an der linken Front" (ab 1933) die Position vertrat, dass "der Sinn der SchOnheit nicht ausschlieBlich darin lag, dass sie links oder rechts ist". Sehr nah in diesen Auffassungen war ihm der serbische Surrealist Marko Ristic (1902-1984), der noch radikaler modeme Poetiken eingefiihrt hat. In der serbischen Literattrr hat es vor allem im Rahmen der Avantgarde eine entscheidende Abkehr von den gesellschaftlich bedingten sprachlichen Stereotypen gegeben. Nach dem AufschWllllg der Modeme und der Zuwendung zu Westemopa, zu der die Kritiker Skerlic und Bogdan Popovic (1863-1944) wesentlich beigetragen haben, erlebte die serbische Literattrr einen Hohepunkt. Mit dem Surrealismus kniipfte sie an die emopaischen Entwicklungen an und offnete sich unterschiedlichsten Richtungen. Die Werke und literattrrtheoretischen Diskussionen der Surrealisten Marko Ristic, Dusan Matic (1898-1980), Milan Dedinac (1902-1966), Aleksandar Vuco (1897-1985) u.a. hinterlassen sichtbare Spmen auch in der serbischen Nachkriegsliterattrr. Der Dichter Vasko Popa (1922-1991) verarbeitet die serbische Folklore und Mythologie mit einer von beiden beeinflussten Diktion. Auch die Lyrik Miodrag Pavlovics (geb. 1928), der sich byzantinischen Motiven zuwendet, tragt die poetologischen Zeichen der Surrealisten. Bora Cosic (geb. 1932), ein experimentierender Nachfolger der serbischen surrealistischen Schule und ein groBer Verehrer von Miroslav Krleza, der in diesem ,,kommunistischen Voltaire" (so Kis) einen Schriftsteller des verschWlllldenen mittelemopaischen Biirgertums erkennt, setzt die beste humoristische Tradition der serbischen Literattrr fort. Seine Poetik des Katalogisierens von Stereotypen fiihrt zu deren grotesker Verdrehung. Schon Marko Ristic sah im Humor das wirksamste Mittel der Literattrr, um die Sinnlosigkeit der Wirklichkeit zu entlarven, verfestigte Meinungen zu desavouieren und Dinge in ungewohnliche Zusammenhange zu bringen. Eine wichtige Tradition der serbischen humoristischen Literattrr setzt gegenwiirtig Miodrag Stanisavljevic (geb. 1941) mit Den Gepanzerten kitzeln fort: die der politischen Satire. Radoje Domanovic (1873-1908) entwickelte ihre hochsten Formen noch in der Epoche der Modeme. Seine negativ-utopischen Bilder von Stradija (,,Das Leidenland"), in dem sich Menschen bereitwillig von den Regierenden Stempel auf die Stirn schlagen lassen und ein charismatischer FUhrer alle ins Verderben fiihrt, wobei erst zu spat erkannt wird, dass er selbst blind ist, wirken heute seltsam aktuell. Auch Radomir Konstantinovic (geb. 1928) mit seinem kulttrrsoziologisch-philosophischen Werk "Philosophie des
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Kleinbiirgertums" (Filozojija palanke) gehOrt in die Reihe der serbischen Autoren, die die nationalen Mythen killm und originell entblofiten. Der Kulturanthropologe Ivan Colovic leistet in seinen Untersuchungen der Mythen und der Sprache des Alltags eine iihnliche Auseinandersetzung mit der Banalitiit des Nationalismus, wobei er sicherlich eine schwierige historische Situation untersucht: die Milo~evic-Ara. (~Kap. 19) Die Tradition der Volksdichtung iiberf1utete die serbische Publizistik und Literatur am Vorabend des Krieges. W1ilirend das Beschworen der heldenhaften Vergangenheit bei Milan Rakic (1876-1938) oder Milutin Bojic (1892-1917) angesichts der nationalen Katastrophen berechtigt war, erscheint der Versuch, die schicksalhafte Situation aus dem Ersten Weltkrieg auf die achtziger Jahren zu iibertragen, vollkommen deplatziert. Auch die Exodus-Bilder aus der tiirkischen Zeit in den Bildem der "Vertreibungen" von Milan Komnenic (geb. 1940) rechtfertigen die gegenwiirtige kompromisslose Kosovo-Politik. Viel mehr Freiheit im "anti-ideologischen" Engagement zeigten zahlreiche serbische Autoren in der Beurteilung des kommunistischen Regimes. Nachdem dieSperren der Zensur durchbrochen wurden, tingen sie (nicht immer ohne Risiko) an, die Tabu-Themen aufzugreifen. Der Terror des Informbiiro-Lagers (Antonije Isakovic, geb. 1923, Slobodan Selenic, 1933-1995) oder die Geschehnisse und Einzelschicksale aus dem Zweiten Weltkrieg und der Revolution (Oskar Davico, 1909-1989, Mihailo Lalic, geb. 1914, Aleksandar Vuco, geb. 1897, Aleksandar Tisma) wurden intensiv behandelt und vermischten sich (wie bei Dobrica Cosic) mit der serbischen nationalen Problematik. Borislav Pekic (1930-1992), einer der bemerkenswerteren Autoren, der ein gewaltiges Opus geschafIen hat, ragt mit der Fiille seiner erzlihltechnischen und thematischen Innovationen aus der gesamten Literaturlandschaft heraus und lasst sich kaum in eine Gruppe einordnen. Nicht der Sozrealismus, sondem der Nationalismus war jedoch die vorherrschende Ideologie auch in der zweiten Hiilfte des 20. Jahrhunderts. Der Sozialismus hat zwar die traditionellen Prozesse der ofIenen nationalen Selbstbehauptung in der Literatur kurzfristig unterbrochen, aber gerade deshalb ist die Literatur wie schon oft in der Geschichte die einzige Hiiterin der nationalen Werte geblieben, freilich nicht nur in Serbien. Patriotismus durfte nur noch jugoslawisch sein bzw. sich in den Themen aus dem Partisanenkrieg ausleben. Auch hier war zu beobachten, wie eine Ideologie zur Abnutzung der kiinstlerischen Verfahren beitragt. Der produktivsten Dichterin der serbischen Literatur, Desanka Maksimovic (1898-1997), gelang die seltene Verbindung lyrischer, intimer und reflexiver Stimmungen mit sozialen und patriotischen Themen, wobei sie alle wichtigen Stilrichtungen der serbischen Dichtung in ihrem (Euvre vereinigte. Die Dichtung des antifaschistischen Widerstands wurde schnell zu einem plakativen und abgenutzten Schema, das bald parodiert und verfremdet wurde. Die Riickkehr zu nationalen Themen wurde als eine Art Revolte gegen solche Klischees erprobt, doch auch diese Geste der Befreiung verwandelte sich rasch in eine Ideologie, bewahrte aber sehr lange die Aura des Dissidententums. Mit dem zeitgenossischen literarischen Nationalismus hat am iiberzeugendsten Danilo KiS abgerechnet. 1m Unterschied zu dem kroatischen Literatur- und Kulturkritiker
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Predrag Matvejevic, dessen Offenheit und nationale Toleranz ibm sehr nahe stehen, hat er keine sozialistische Ideologie befiirwortet. Kis erkannte das oppositionelle Engagement vieler Autoren als nationalistisch und populistisch und verlangte nach individuellen moralischen und asthetischen Kriterien. Die Werke einiger anderer ,,Borgesianer", die von weltliterarischen Trends zeugen, wirken oft blass und nicht uberzeugend, da sie als artistischer Eskapismus in einer totalitaren Gesellschaft gedeutet werden konnen (die Schule der kroatischen Phantastik oder Filip David, geb. 1940 in Serbien. David setzte sich wahrend des Krieges fUr eine Analyse der sprachlichen Kriegspropaganda ein und verfasste viele Essays zu Antikriegsthemen). Nur Danilo Kis gelingt es, mit den poetologischen Mitteln der borgesianischen unendlichen Bibliothek die Wirklichkeit zu interpretieren, indem er die nationalsozialistischen und stalinistischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts postmodem als eine Wiederholung menschlichen Handelns darstellt und damit ihren universellen "Wert" bloBlegt. Die Borges-Mode wurde auch gewissermaBen in eine entgegengesetzte Richtung instrumentalisiert: Milorad Pavic (geb. 1929) bediente sich ihrer, urn seine groBserbischen Traurne literarisch zu verpakken. 1m Unterschied zu den altertiimlichen Autoren der Heimatromane hat er als einziger Autor mit einer ausgepragten nationalistischen Ideologie bemerkenswerten Erfolg in Westeuropa gehabt. Er wurde neben Kis zum meist besprochenen Autor im Ausland: Das ludische, enzyklopadistische Aufbaurnodell seiner Romane gefiel in der Form, man hat aber ihre politische Tendenz meistens verkannt, so die allegorische Anspielung auf das Leiden des serbischen Volkes, aber auch direkte Beschimpfungen der westlichen Demokratien, d.h. des Prinzips der Achtung von nationalen Minderheiten im Chasarischen Worterbuch. In Die inwendige Seite des Windes bietet er eine mythisierte politische Geschichte feil, die mit literarischen Mitteln serbische Anspriiche auf Bosnien ,,historisch" rechtfertigt. Die ideologischen Hintergriinde seiner Literatur oder der Literatur von Miodrag Bulatovic wurden von der ernst zu nehmenden Kritik im Lande erkannt, in Deutschland aber kaurn. Gegen Bulatovic richtete auch Kis seine beriihmte antinationalistische Polemik (Anatomiestunde).
18.5.6. Makedonische Literatur Die Entwicklung einer neueren makedonischen Literatur ist von der LoslOsung aus den bulgarischen und serbischen literaturhistorischen Zusammenhangen begleitet. Dabei war es das sprachliche Idiom der Slawen aus dem Gebiet des heutigen Makedonien, welches die Slawenapostel Konstantin-Kyrill und Method fUr ihre missionarische Tatigkeit benutzt haben. Sie legten die Grundlagen der gemeinsamen Kirchensprache, womit sie die kulturelle Entwicklung aller slawischen VOlker beeinflussthaben. Ihre Schiller Kliment und Naum von Ohrid griindeten in den Klostem am Ohrider See eine hohe Schriftkultur, die von groBer Bedeutung fUr die Literatur des makedonischen Mittelalters war. Der fiiihen kulturellen Blute, die durch die geographische Nahe zum byzantinischen Zentrum bedingt war, folgte die Zeit der Stagnation. Die KlOster bewahrten bis in das 19. Jahrhundert ihre Rolle im Bildungssystem; der Weg zum neuen literarischen Idiom wurde erst im 20. Jahrhundert gefunden. Erst dem Lyriker Koca
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Racin (1908-1943) gelingt der Durchbruch zum dichterischen sprachlichen Ausdruck, der sich in der zeitgenossischen Literatur entfaltet: etwa bei dem Lyriker BlaZe Koneski (geb. 1921) und dem Autor postmoderner historischer Romane mit makedonischen Themen Slavko Janevski (geb. 1920). Literatur Antun Barac, ein bedeutender kroatischer Literaturhistoriker, wird in seiner Geschichte der jugoslawischen Literaturen von den Arifiingen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1977, den Besonderheiten der Nationalliteraturen der Kroaten, Serben, Siowenen und Makedonier gerecht, er stellt sie Ilbersichtlich in kulturhistorische und politische Zusammenhllnge und vergieicht sie sowohi untereinander wie auch mit anderen europaischen Literaturen. Obersetzt und bearbeitet wurde die deutsche Ausgabe (die urn das Kapitel "Jugoslawische Gegenwartsliteraturen", das von mehreren Autoren stammt, erweitert wurde) von Rolf-Dieter Kluge. Eine muslimisch-bosnische und eine montenegrinische Literaturgeschichte werden bei Barac nicht gesondert betrachtet. Die Bibliographie von Reinhard Lauer, Serbokroatische Autoren in deutscher Ubersetzung. Bibliographische Materialien (1776-1993). Teill: Chronologischer Katalog, Wiesbaden 1995, ist ein wichtiges Nachschlagewerk, das schnelle Informationen iiber die literarischen Texte ermOgiicht, die in deutscher Sprache zugllngiich sind. Die Einieitung des Herausgebers (,,zur Obersetzungsrezeption serbischer, kroatischer und bosnischer Autoren im deutschen Sprachraurn") ist eine aktuelle Bestandsaufnahme, die deutschen Lesem die Benutzung der Bibliographie erieichtert und sie zugleich in die Produktion und Rezeption dieser Literaturen einfiihrt. Gleiches gilt fiir R. Lauer (Hg.), Sprachen und Literaturen Jugoslawiens, Wiesbaden 1985. Die neuesten Eintrage in Kindlers Neues Literatur Lexikon Band 20, Miinchen 1988, bieten kurze Informationen und weiterfiihrende Literaturangaben: A10is Schmaus (fortgefiihrt von Klaus Detlef Olof), "Die slowenische Literatur"; Marija Smolic, "Die kroatische Literatur"; A10is Schmaus (fortgefiihrt von Du§an Marinkovic), "Die serbische Literatur"; Borislav Pavlovski, ,,Die makedonische Literatur". Ivo Frange§, Geschichte der kroatischen Literatur von den Anfongen bis zur Gegenwart. KOIn, Weimar, Wien 1995, wird dem Anspruch gerecht, nicht nur chronologische Fakten aufzuzllhlen, sondem die Umrisse der Stilepochen komplex zu zeichnen und die Werke der einzelnen Autoren in Bezug auf ihre asthetische Bedeutung literaturkritisch zu hinterfragen (der Anhang listet bio- und bibliographische Daten auf). Smail Balic, Das unbekannte Bosnien. Europas Briicke zur islamischen Welt. Koln, Weimar, Wien 1992, bringt dem Leser die Literatur (neben der Geschichte und der Kultur) der bosnischen Muslime naher. Einzelne Aspekte der Literaturgeschichte: Zur serbischen Volkspoesie und ihrer Rezeption in Deutschland: Miljan Mojasevic, Jacob Grimm und die serbische Literatur und Kultur, Marburg 1990. Die Studie hebt die Bedeutung hervor, die fiir die Poerik Jacob Grimms seine Begegnung mit KaradZic und der serbischen Kultur hatte. 1m Sammelband von Reinhard Lauer (Hg.), Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanovic Karadiic, Wiesbaden 1987, wird KaradZic als zentra1e PersOnlichkeit der serbischen sprachiichen und kulturellen Entwicldung dargestellt. Eine kritische Auseinandersetzung mit der serbischen Volksdichtung bietet Lauer in seinem Aufsatz "Das Wllten der Mythen. Kritische Anmerkungen zur serbischen heroischen Dichtung", in: ders. und Werner Lehfeldt (Hg.), Das jugoslawische Desaster. Historische, sprachliche und ideologische Hintergriinde, Wiesbaden 1995. Die Modeme in einem geographisch breiten Kontext analysiert Reinhard Lauer (Hg.), Die Moderne in den Literaturen Siidosteuropas, Miinchen 1991. Eine wichtige Anthologie der Texte von Crnjanski, Ristic, Dedinac, Matic u.a.: Holger Siegel (Hg.), In unseren Seelenjlattern schwarze Fahnen. Serbische Avantgarde 1918-1939, Leipzig 1992. Diese Anthologie macht sichtbar, wie sehr die europaische Avantgarde ein internationales Phllnomen der Epoche war. Der Beitrag der serbischen Autoren zu dieser Epoche ist von groBer Bedeutung sowohl fiir die serbische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wie auch fiir die europaische Literatur im A1lgemeinen (wobei die bescheidene Rezeption dieser Literatur und ebenso dieses Bandes nicht viel Auskunft iiber ihre Bedeutung zu geben vermag).lnformativ zum serbischen Nachkriegsroman: Angela Richter, Serbische Prosa nach 1945: Entwicklungstendenzen und Romanstrukturen, Miin-
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chen 1991; im Uberblick von Dagmar Burkhart und Vladimir Biti (Hg.), Diskurs der Schwelle. Aspekte der kroatischen Gegenwartsliteratur. FrankfurtlM., Berlin u.a. 1996, werden die Gattungen der kroatischen Gegenwartsprosa in ihrer Verschiedenartigkeit vorgestellt: von den historischen Romanen Fabrios bis zu den Kriminalromanen oder den fantastischen, postmodernen und experimentellen Autoren urn die Zeitschrift "Quorum". Weitere Aufsiitze: Giga Gracan, Was heute anders ist. Der kroatische Essay A. D. 199()"'1991, (MostfThe Bridge, A Journal of Croatian Literature - Croatian Literature Series, Vol. 10), Zagreb 1991; Kresimir Nemec, Der kroatische Roman der achtziger Jahre, (Mostffhe Bridge, Vol. 3), Zagreb 1990; Velimir Viskovic, "Dossier Miroslav Krleza", in: Most/Die Brucke (Zeitschrift der Gesellschaft kroatischer Schriftsteller), Heft 1-2, 1996. Zu Serbien: Alida Bremer, "Neuere serbische Literatur: Zwischen Geschichte, Mythos und Nation", in: Die Neue Gesellschaft. Franlifurter Hefte, Nr. 511992, S. 457-462; Serbian Literary Quarterly. NO.4 (Belgrad 1986); und No. 3-4 (Belgrad 1987); Svetlana Slapsak, "Serbische Alternativen", in Alida Bremer, (Hg.), Jugoslawische (Sch)erben. Probleme und Perspektiven, Osnabrilck, MOnster 1993. Ferner: Neue Literatur, Nr. 1193 (Neue Folge, Themenheft: Grabreden. Literaturen im Krieg); Neue Literatur, Nr. 1195 (Neue Folge; Themenheft: Bucher sind Brilcken, Lyrik und Prosa aus Bosnien-Herzegowina und der Emigration). Aktuelle durch den Krieg angeregte Iiterarische Texte und Gedichte finden sich im Sammelband von Dunja Melcic (Hg.), Das Wort im Krieg. Ein bosnisch-kroatisches Lesebuch, Frankfurt 1995. Ferner: Miljenko Jergovic, Sarajevo Marlboro, Wien, 1996; Semezdin Mehmedinovic, Sarajevo Blues, Gottingen 1999. Kulturanthropoligische Studien: Die erste und bisher bekannteste kulturanthropologische Studie zu diesem Raum stammt von Gerhard Gesemann, Heroische Lebensform. Zur Literatur und Wesenskunde der balkanischen Patriarchalitiit, Berlin 1943, die in ihrer Analyse der Volkspoesie, der dokumentarischen und literarischen Texte zu erstaunlichen Erkenntnissen fuhrt, die - trotz Entstehungsjahr und -ort der Studie - auch heute noch von Interesse sind. Die Studie von Dagmar Burkhardt, Kulturraum Balkan: Studien zur Volkskunde und Literatur Sudosteuropas, Hamburg 1989, legt durch die Analyse der miindlichen Dichtung und der Volksbriiuche die Konturen der Gesellschaft eben so wie die poetologischen Voraussetzungen fur die Literatur dar. Eine (post)moderne Umwandlung der patriarchal-nationalistischen - schon von Gesemann beobachteten - Phiinomene beschreibt Ivan COlovic, Bordell der Krieger. Folklore, Polilik und Krieg, Osnabrilck 1994.
19. Nationale Symhole zwischen Mythos und Propaganda
19.1. Das politische Imaginarium der kroatischen Nationalgeschichte Iva Zanic Die symbolische Dimension der Politik steht immer in einem bestimmten Verhaltnis zur materiellen Grundlage der politischen Macht, illld deshalb ist es so gut wie illldenkbar, dass ein politisches System ohne diese Dimension existieren illld agieren kann. Weder kommt Politik ohne Symbole illld begleitende Rituale aus, noch kann ein politisches System ausschlieBlich auf rationale Prinzipien gegriindet beziehilllgsweise frei von symbolischen Konnotationen sein. Jede Gesellschaft besitzt ihre eigene Mythologie, jede Kultur verfiigt iiber ihr eigenes Fiillhom an Machtsymbolen, die von ihren Wurzeln zeugen illld ihre Nonnen bestimmen. Einige solcher Systeme oder politische Imaginarien drehen sich urn groBe Einzelpersonen, andere wieder urn beriihmte Ereignisse; die einen wie die anderen definieren sichjedoch, ob sie eine historische GrlUldlage haben oder nicht, iiber ein Netz symbolisch ausgepragter Inhalte. Solche Systeme sind niemals statisch, weder in ihrer Ganzheit noch in Teilbereichen, sondem illlterliegen standig Ausweitilllgen oder Verengilllgen, Sinnverschiebilllgen oder funktionalen Variationen, die wiederum von Veranderungen in den Machtverhaltnissen abhangen. Sie schlieBen in der Regel bestimmte Grundinhalte oder gewisse gemeinsame Komponenten ein, sonst konnten sie nicht politisch funktional, ganzheitlich illld semantisch produktiv sein. Meist handelt es sich urn folgende Elemente: 1. Die Gestalt des Griinders, des Protagonisten einer Urhandlilllg, mit der die Gemeinschaft aus dem Chaos in den Kosmos, in die Geschichte eintritt. Historisch gesehen ist dies fUr die Kroaten Konig Tomislav, fUr den der Titel rex im Jahr 925 n.Chr. urkillldlich bezeugt ist. (7 Kap. 3) Seine Kronilllg illld Herrschaft wurden spater jedoch von verschiedenen Ideologien mit zahlreichen, oft widerspriichlichen Inhalten ausgeschmiickt. 2. Das Motiv der Zwietracht, hliufig verbilllden mit dem Motiv der Naivitat, womit das kollektive Bewusstsein nachtraglich Missgeschicke aller Art wie BesatZilllgen, wirtschaftliche RiickschlagelEinbuBen, ja sogar Naturkatastrophen zu erklaren versucht. Die kroatische Legende verbindet ein solches unheilvolles Moment mit Konig Zvonimir: Auf Ersuchen des Papstes wollte er die Kroaten in einen Kreuzzug fiihren. Sie lehnten es jedoch ab, auBerhalb ihrer Heimat in den Krieg zu ziehen, illld wandten sich sogar erbittert gegen ihren ansonsten giitigen Konig. Da sprach dieser einen Fluch tiber sie aus, dass sie von nilll an stets einen Fremden zum Herrscher haben bzw. unfahig sein wfuden, einen eigenen, illlabhangigen Staat zu errichten. 3. Die Gestalt des Rebellen, die zur Griindergestalt sowohl komplementar wie auch entgegengesetzt sein kann. Wlihrend der Griinder einer Elite angehort illld deren Ergebenheit dem Volksinteresse gegeniiber bezeugt, stammt der Aufstandische aus dem Yolk illld symbolisiert dessen Willlsch nach einer gerechten Gesellschaft illld Gleich-
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19. Nationale Symbo1e zwischen Mythos und Propaganda
heit vor dem Gesetz, seinen Widerstand gegen fremde Herrscher sowie gegen ungerechte einheimische Herren. Soleh ein kroatischer Wilhelm Tell ist Matija Gubec, der 1573 den Bauernaufstand gegen die Grundherren in Nordwestkroatien anfiihrte. (~ Kap. 3) Derartige Modellgestalten bzw. die Ereignisse, deren Hauptakteure sie sind, gehen ein ins Bedeutungsgefiige des Konzepts einer historischen Mission oder in die grundlegende Fabel, anhand derer die betreffende Gemeinschaft ihren Platz im weiteren raumlichen und zeitlichen Rahmen definiert. Die Lehre von der Mission der eigenen Nation taucht in den friihen Konstituierungsprozessen der europaischen Nationen auf. 1m 16. Th. entsteht der Gedanke von der kulturellen Filhrungsrolle des franzosischen Volkes, im 17. Th. karen die Puritaner die Englander zum auserwiihlten Yolk und Beschiitzer der protestantischen VOlker. Ende des 18., Anfang des 19. Th. vertreten Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt die Ansicht, nur die Deutschen seien Kulturtriiger und als solehe den slawischen und romanischen Volkern iiberlegen. Vittorio Alfieri (1749-1803) und Giuseppe Mazzini (1805-1872) sehen die Mission der italienischen Nation darin, Avantgarde der iibrigen Nationen in puncto kulturelle Entwicklung und geistige Freiheit zu sein. Adam Mickiewicz (1798-1855) entwickelt in der historischen Situation der Teilung Polens das Bild von Polen als dem gekreuzigten Christus unter den VOikern, dessen Auferstehung die Menschheit erlosen wird. Der vorherrschende kroatische politische Mythos sieht die Kroaten und Kroatien als "Schutzwall" oder ,,Bollwerk des Christentums". Dieser Begriffversteht sich nicht nur im religiOsen Sinn, sondern als Verteidigung der kulturellen, politischen und ethischen Werte des westlichen Europa vor dem "aggressiven und primitiven" Osten. Historisch hat als erster Bernard von Clairvaux 1143 den Begriff antemurale christianitatis gebraucht, und zwar im Zusammenhang mit friinkischen Kriegern, die Edessa (heute die Stadt Urfu in der Siidtilrkei) vor den muslimischen Seldschuken verteidigten. In das kroatische politische Imaginarium eingegangen ist dieses Motiv erst dreieinhalb Jahrhunderte spater, mit dem Vordringen der Osmanen im Westen des Balkan. Der polnische und kroatisch-ungarische Konig Vladislav II. Jagello kannte 1496 Slawonien als "vorziigliches Schild oder vielmehr Schutzwall" (antemurale) Ungarns. Auf dem Reichstag der christlichen Lander 1522 in Niirnberg bezeichnete Ferdinand von Habsburg die Kroaten als Vormauer der christlichen Welt vor dem osmanischen, also islamischen Ansturm. Dieses Motiv iibernehmen sofort auch die kroatischen Adligen, Militiirkommandanten und Schriftsteller, und so wirkt es in verschiedenen Variationen bis heute in der kroatischen Literatur, im gesellschaftlichen Bewusstsein und im politischen Gedankengut fort, obwohl sich die historischen Umstande seiner Entstehung ebenso wie die politischen Kategorien, in denen es zum Tragen kam, langst verandert haben. Typologisch ist dieses Motiv weit verbreitet, denn nationale Ideologien haben bei Volkern, die Kriege gegen nichtchristliche Gegner fiihrten, regelmiillig das historische Abbild vom eigenen Yolk als dem ,,Retter des (christlichen) Europa" erzeugt. So war es in Polen und in Ungam, wo das Bewusstsein vom ,,Bollwerk" und das Bild des Landes als "Schild" und ,,Mauer" des Westens injiingerer Zeit, wiihrend des Aufstandes 1956, kriiftig wiederauflebte, ebenso in Serbien und Bulgarien. Gleiches finden wir in Spanien, wo diese Thematik vor dem historischen Hintergnmd der mittelalterlichen Reconquista insbesondere vom Frankismus forciert wurde, und in Portugal, wo nach
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dem Beitritt zur Europaischen Gemeinschaft 1986 das alte Motiv in der Variante wieder auftauchte, dass das Land als auBerster westlicher Punkt des Kontinents "Wachter" oder ,,Huter" vor lateinamerikanischen Einwanderem sei. Natiirlich entwickelte sich auch auf der anderen Seite der ehemaligen Frontlinie, bei den bosnischen Muslimen, das gleich geartete Thema yom Schutzwall oder Bollwerk und das Bewusstsein von den Verdiensten der Bosniaken fUr die Osmanen. Der Dichter und Dramatiker RizaBeg Kapetanovi6 legte 1907 einem seiner HeIden die Dberzeugung in den Mund, der Sultan werde wohl zu schiitzen wissen, "welches Schutzschild wir sind / an der Grenze zuEuropa". Urn 1700, als sich die osterreichisch-osmanische bzw. kroatisch-bosnische Grenze gefestigt hatte und die Kriege vorbei waren, verschwindet das Motiv yom Bollwerk des Christentums in seinem urspriinglichen Sinn aus der kroatischen Politik. Auch in der Literatur gibt es immer weniger gegen die Osmanen gerichtete Motive, dafiir aber urn so mehr Sympathie fUr die bosnisch-muslimische Welt. Die Illyristen, d.h. die Vorreiter der kroatischen nationalen Wiedergeburt, und das Biirgertum der dreilliger Jahre des 19. Jahrhunderts vertreten als erste im siidostlichen Europa die Ansicht, dass die Bosniaken keine Tiirken seien, die man zusarnmen mit dem Osmanischen Reich nach Asien zuriickdrangen musse. Und Ante Starcevi6, der Griinder und Ideologe der Kroatischen Rechtspartei, ist der erste europaische Politiker, der seiner Achtung gegenuber dem Islam Ausdruck gibt. (7 Kap. 3) Der Glaube allgemein war yom 17. bis zum 19. Jahrhundert von keinerlei Bedeutung fUr die kroatische Ideologie der nationalen Integration, denn die politischen Projekte, mit denen diese konfrontiert war, starnmten aus dem konfessionell gleichen, katholischen Umfeld: Osterreich, Ungam und Italien. Erst nach der Griindung Jugoslawiens erlangte der Katholizismus eine wichtige Rolle als unterscheidendes Element gegenuber den orthodoxen Serben. Die kroatische "postillyrische" Kultur hat keine ,,Kriegs"Modelle entwickelt, und in der kroatischen Literatur gibt es nur wenige Kriegsmotive. Auch der kroatische Historismus des 19. Jahrhunderts war nicht militant: 1m Mittelpunkt der Genremalerei stehen keine blutigen Schlachten gegen die Tiirken, sondem idyllische, nicht im geringsten kriegerische Szenen von der Ankunft der Kroaten am Adriatischen Meer oder von der Kronungsparade Konig Tomislavs. Die kroatischen nationalen Apologeten und Ideologen waren einseitig historistisch, aber ihnen blieb nichts anderes ubrig, als auf diese Art Anspriiche zu legitimieren. Denn auch der Habsburger Hof, Venedig, die ungarischen Rechtstheoretiker - sie aIle bedienten sich historischer Argumente, urn die sukzessive Verkleinerung des kroatischen Hoheitsgebiets zu rechtfertigen oder seine friihere munizipale Selbstandigkeit zu leugnen. Daher ist ein vorbildlicher kroatischer Patriot weniger ein Krieger, der den Feind auf dem Schlachtfeld besiegt, sondem eher ein Jurist, Schriftsteller oder Geistlicher, der in parlamentarischen Diskussionen oder bei einem offentlichen Meinungsstreit mittelalterliche Urkunden und Vertrage zitiert und den Beweis erbringt, dass sein Yolk das Recht auf einen selbstandigen Staat hat und es verdient, in seinem Bestreben die Untersrutzung aller demokratischen Lander zu genieJ3en. Solch legalistischer Historismus hatte auch seine Kehrseite: Da das mittelalterliche Kroatien bedeutende Teile des heutigen Bosnien-Herzegowina umfasste, reichte es zeit-
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weise bis an die Drina; Wld genauso weit soUte sich auch das "erneuerte Kroatien" erstrecken. Dieses Kriterium entsprach zudem den konfessionellen Wld kulturellen VorstellWlgen, denn die Drina bildete die Wlter Kaiser Theodosius gesetzte Grenze zwischen Ostromischem Wld Westromischem Reich, zwischen Byzanz Wld Rom bzw. - im Verstandnis der ortlichen Bewohner - zwischen orthodoxem Serbentum Wld katholischem Kroatentum. Nachdem in Belgrad im Jahre 1873 eine halboffizielle ,,historischethnographische" Karte der "serbischen Lander" gedruckt worden war, wonach in ganz Kroatien Serben Wld bei Zagreb einige wenige "Serbokroaten" lebten, antworteten studentische Anhanger der Kroatischen Rechtspartei 1876 mit einer Landkarte yom ,,kroatischen Staat", die man zu Ehren des ,,800. Jahrestags der KronWlg von Zvonimir, des Konigs aller Kroaten" drucken lie13. Dies war die erste konkrete VisualisiefWlg eines "Gro13kroatien" oder eines ,,Kroatien bis an die Drina", die nicht mehr innerhalb eines intellektuellen, rechtsphilosophischen Wettstreits eine Rolle spielte, sondem direkt eingebWlden war in aktuelle Tagespolitik. In spateren gro13kroatischen ideologischen Entwiirfen erlangte diese Karte, mit geringrugigen Variationen, Kultstatus. Eine so1che raumliche VorstellWlg konnte nur dazu dienen, das Motiv yom Bollwerk bzw. Schutzwall oder der Grenze zu verstarken Wld semantisch produktiv zu erhalten, auch nachdem es seinen urspriinglich gegen die Osmanen, faktisch aber gegen den Islam gerichteten Sinn verloren hatte. Graf Janko Draskovie, Autor des ersten kroatischen politischen Pamphlets von ausgepragt progranunatischer BedeutWlg, beschreibt Kroatien 1832 folgendermaBen: "Wir liegen in der Mitte Europas, WlS droht der Osten wie der Westen." Und einige Jahrzehnte spater meint Ante Starcevic, dass die Kroaten, indem sie fUr ihre Existenz kampfen, "seit fiinf JahrhWlderten dem Osten wie dem Westen trotzen". In Dalmatien, zur Zeit, als Kroaten l.IlJ.d Serben gemeinsam Widerstand gegen Osterreich Wld ltalien leisten, betont der Rechtsanwalt Wld katholische Geistliche Mihovil Pavlinovie den Gedanken, dass die Kroaten dazu berufen seien, dem serbischen Osten "eine Vorhut zum neidischen Wld zweifelhaften Westen" zu sein. Nachdem die serbischen Politiker jedoch eine proitalienische HaltWlg eingenommen hatten Wld es 1879 zur TrennWlg gekommen war (~ Kap. 3), weist er mit Stolz darauf hin, dass die Kroaten romisch-katholisch seien Wld zu Europa Wld dem Westen gehOrten, wahrend "das Yolk Wld der Staat der Serben das Merkmal besitzen, griechisch-katholischen oder byzantinischen Glaubens" zu sein. 1m Zeitalter der Romantik wird mit dem Motiv des Schutzwalls immer baufiger das Motiv der Undankbarkeit des Westens verbWlden bzw. als UmkehrWlg desselben die HaltWlg, dass die Kroaten ein gutmUtiges, Wlverdorbenes Yolk seien: Es habe daran geglaubt, dass sich Europa an sein Opfer erinnem, es dafUr belohnen Wld ihm in der Not Beistand leisten werde, was sich nWl in der rauhen Welt der Politik als verhangnisvolle Naivitat erwiesen habe. Der Dichter Wld hohe osterreichische Offizier Peter Preradovie hat diese kroatische EnttauschWlg 1851, im Zeitalter des Bachschen Absolutismus, zusanunengefasst, indem er auf das Motiv der legendaren Schlacht zuriickgriff, in der die Kroaten im 13. JahrhWldert die "wilden Horden" der Tataren zerschlagen Wld dergestalt mit ihrem Blut "den gesamten Westen" gerettet batten. Er fragte sich: "Und was hat der Westen WlS gegeben / FUr diesen Dienst? / Ew'gen Hass Wld schlechtes Beispiel, / Und bOse Gelehrsamkeit."
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Aus diesem Gnmd wandte sich der Dichter voll HofInung dem Slawentwn zu, in erster Linie dem groBen Russland, und rief die Kroaten dazu auf, ein "Schutzwall des Ostens" zu werden. Er beschreitet so den Weg in urngekebrter Richtung, wie wenig spater in Dalmatien auch Pavlinovic. Aus dem Motiv des Schutzwalls, aus der Beschworung einer Position der Mitte, des Grenzlands, entspringt wie selbstverstandlich ein anderes Motiv: das der Briicke, wobei diese beiden Motive einer stiindigen wechselseitigen Beeinflussung unterliegen. Nach 1918 sind die Befiirworter eines selbstiindigen Kroatien der Ansicht, dass die westlich ausgerichteten, katholischen Kroaten auf dem orthodoxen Balkan, der eine Domiine der Serben sei, nichts zu suchen, sondem ein Schutzwall des Westens zu sein hatten. Ihre Gegner vertreten die Idee, die Kroaten hatten eine allgemeine europaische Mission zu erfilllen, und zwar die einer Briicke zwischen Orient und Okzident, Rom und Byzanz. Ihre Aufgabe sei es - indem sie sich mit den Serben in einem Jugoslawien zusammenschlossen -, endlich diese zwei, seit Jahrhunderten einander entgegengesetzten Welten zu vereinen. Der groBte kroatische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Miroslav KrleZa, ironisiert 1919 das Bild yom Bollwerk und versucht, den Blickwinkel zu wechseln, indem er sich fragt: ,,'Europas Vorhut' zu sein, oder nicht zu seinwas bedeutet das wirklich? Wieviel von diesem ungliicklichen Europa gibt es heutzutage unter uns?" 1m Kriegsjahr 1944 zeigt er jedoch seine Enttauschung noch umfassender als Preradovic. Die Kroaten waren iiber Jahrhunderte ein antemurale, fUr Byzanz, fiir den Papst, fUr Venedig und ganz besonders fUr Osterreich, das der osmanische "Teufel schon im 16. Jahrhundert mitgenommen hatte, hatte er dafiir nicht in dessen Namen und auf dessen Kosten uns mitgehen lassen". Die Ideologie der Ustaschas nimmt das Motiv des Schutzwalls wieder aufund stellt die Kroaten als Grenzsoldaten dar, die Gott fUr diesen Platz bestimmt hat, urn weiterhin zwei uniiberbriickbare Welten voneinander zu trennen: Sie hatten sich "vor tausend Jahren" fUr die westliche Zivilisation entschieden, hattenjahrhundertelang die byzantinischen und osmanischen VorstoBe zum "Vorteil von ganz Europa" abgewebrt, und jetzt seien sie der starkste Wall Mitteleuropas gegen den Boischewismus. Die Kommunisten dagegen sprechen im Kontext des Kalten Krieges von Jugoslawien als einer Briicke: Jugoslawien ist weder Ost noch West, weder kommunistisch (aufso~etische Art) noch kapitalistisch, es ist gleichzeitig Europa in der Dritten Welt (in der Bewegung der Blockfreien) und Dritte Welt in Europa, also ein natiirliches Bindeglied und ein Treffpunkt der Welten. Unter diesem Blickwinkel werden auch die erwiihnten Rollen dreier reprasentativer Gestalten aus dem kroatischen politischen Imaginariurn neu definiert. Tomislav bleibt positiv besetzt, der Akzent verschiebt sich jedoch auf ein Ereignis aus dem Jahre 924 n.Chr., wodurch der kroatische Konig des Mittelalters als eigenartiger Vorlaufer der jugoslawischen Idee prasentiert wird. Damals hatten niimlich Fliichtlinge aus Serbien vor den bulgarischen Eroberem Schutz in Tomislavs Kroatien gefunden. Dies erlaubte, dass Tomislav auch imjugoslawischen, transnational en Kontext als Symbol des kroatischen Rechts auf einen eigenen Staat gelten konnte, mit der Erganzung freilich, dass dieser Staat nur Sinn habe, wenn er in "briiderlicher Zusammenarbeit" mit den anderen Siidslawen, insbesondere den Serben, gestaltet werde. Zvonimir wird vollig neu be-
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wertet: Aus kroatisch-nationaler Perspektive war er trotz seines verhangnisvollen Fluchs eine positive Gestalt, denn seine Ergebenheit dem Papst gegeniiber symbolisierte die ZugehOrigkeit des Landes zum westlichen politischen Kulturkreis, wahrend aus der Sicht der jugoslawischen Kommunisten genau dies sein groJ3ter Fehler war, ein Symbol dafiir, dass er sich an den Westen verkauft habe. Das Yolk habe gut daran getan, ibn wnzubringen, denn so habe es nicht zugelassen, von einem Vertreter auslandischer Interessen manipuliert zu werden. Matija Gubec jedoch erlebte eine Apotbeose: So, wie er die Bauem im Kampf gegen ihre Feudalherren anfiihrte, haben vier Jahrhunderte spater die Kommunisten die ,,Arbeiterklasse" in die Revolution gegen die "biirgerlichen Ausbeuter" gefiihrt, wobei die symbolische Identifikation tunso starker war, da Tito aus derselben Gegend wie Gubec stammte. 1m romantischen national en Kult ist Gubec weder ein kriegerischer Aufriihrer noch ein volkstiimlicher Heerfiihrer, sondem ein Idealist, der an die Gleichheit aller Menschen glaubt. Das bekannteste Gemalde zu dem Thema zeigt nicht die Schlacht der Bauem gegen die Armee der Feudalherren, sondem den Akt von Gubec' Hinrichtung: Es konzentriert sich also auf die einsame Gestalt, die ihre personliche TragOdie erlebt. Das groJ3e Schlachtengemalde zum Thema des Bauemaufstandes, ,,Die Schlacht bei Stubica" von Krsto HegeduSic, ist erst im Aufirag des kommunistischen Monumentalismus und seiner Kriegslust entstanden. Die Szene mit Tito am SChreibtisch, in der das erwiilmte Gemalde Hegedusics so gut wie die gesamte Flache hinter Titos Riikken einnimmt, ist eines der wichtigsten Elemente des jugoslawischen Imaginarituns und des Personlichkeitskults tun Tito. Die Nichtkommunisten betrachteten die Dinge selbstverstandlich mit kontrarem Blick. In den Augen des politischen Emigranten und Dichters Antun BonifaCic wurde Kroatien wiederum seine Grenzlage zum Verhangnis. Indem der Westen nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal die Neugriindung Jugoslawiens zugelassen und die Regierung Titos, eines Kommunisten und Verbiindeten der So\\jets, anerkannt habe, sei der eigensiichtige, undankbare Westen emeut zum Verrater der Kroaten geworden: "Grenze zum Osten sind wir nun, die Gruft hat der Westen uns gegraben 1.. JAm einen Gestade der Osten, am anderen der Westen, das groJ3te kroatische Blutbad haben sie bereitet". Das Motiv von Kroatien als Schutzwalllebte im jiingsten Krieg mit neuer Kraft wieder auf, zuerst wahrend der serbischen Aggression als Teil des Kontrasts yom zivilisierten Westen (Kroatien) und dem unzivilisierten Byzanz (Serbien), und spater, als der Konflikt mit den Bosniaken ausgebrochen war, auch im urspriinglichen Sinn der Verteidigung des christlichen Europa vor der muslimischen, "tiirkischen" Gefahr. Wie Kroatien einst "die klingende Bezeichnung Bollwerk des Christentums" erhalten hat, so ist es ,,heute ein Bollwerk der Demokratie, die es in den jetzigen Unbilden mit seinem Leben verteidigt", schrieb der Schriftsteller Dubravko Horvatic 1991, und sein Kollege Jozo LauSic fiigte im gleichen Jahr hinzu: ,,Der einzige Unterschied zwischen damals und heute besteht darin, dass fri.iher die Pforte ihren Sitz in Konstantinopel hatte und die Aggression im Namen Allahs ausgeiibt wurde, wahrend heute die Pforte in Belgrad sitzt und die Aggression im Namen des Marxismus stattfindet." Der politische Kommentator Danko Plevnik kehrte Europa gar zornig den Riicken und gab den Europaem 1994 enttauscht zu verstehen: "Sollen sie sich fUr die nachsten fiinfhundert
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Jahre doch einen anderen Schutzwall suchen." 1m Unterschied dazu glaubte der stellvertretende kroatische AuBenminister Miomir ZuZul 1992, dass der Westen dem bedrohten Kroatien wiederholt helfen werde, wenn auch erneut im Kontext von dessen Mission: "Ungliicklicherweise sind wieder wir der exponierteste Teil, wieder bekommen wir die historische Aufgabe, ein Schutzwall des Christentums zu sein. Wir ( ... ) liegen an der Grenze zweier Zivilisationen". So ist es nur natiirlich, dass im neuen politischen Blickwinkel der endlich gewonnenen Selbstiindigkeit auch die drei reprasentativen Kroaten neue Konnotationen erhalten. Bei Tomislav verlagert sich der Akzent auf die Kronung. So wie einst hinter Titos Riicken das Bild yom revolutionaren Akt des Gubec hing, zum Beweis, dass die Kroaten fahig seien, einen (ungerechten) Staat zu bekampfen, so ist heute bei protokoUarischen Anlassen hinter Prasident Tudman meist das Gemalde von Oton Ivekovic, die Kronung Konig Tomislavs zu sehen, zum Beweis, dass die Kroaten imstande sind, einen Staat zu griinden. Die Unterstiitzung des Konigs fiir die serbischen Fliichtlinge andererseits wird zum Nachweis dafiir, dass man mit Jugoslawien definitiv brechen miisse: Als kultiviertes und gutmiitiges, aber offensichtlich naives Yolk hatten die Kroaten den Serben geholfen, als diese ihre schwerste Stunde erlebten. Wie die Serben dies vergolten haben, konnte jeder im Herbst 1991 in Dubrovnik und in Vukovar sehen. Der Musikant und Volkssiinger Zeljko Simic bringt deshalb die gleiche Botschaft zum Ausdruck wie vor ihm Preradovic, Bonifacic und viele andere, wenn er beklagt, dass die Kroaten von den Serben statt Dankbarkeit nur Feindschaft und unfaire Angriffe emteten, obwohl Konig Tomislav sie doch vor der Aggression der Bulgaren bewahrt habe. Die groJ3te symbolische Umdeutung hat interessanterweise Matija Gubec erfahren, nicht einmal so sehr deswegen, weil er im jugoslawischen Kontext in eine Art Protokommunist verwandelt worden war, sondem eher deshalb, weil er die Tatsache vernachlassigt hatte, dass nicht die rechtliche innere Ordnung des Staates, sondem der Staat als so1cher den hOchsten Wert darsteUe. Der kroatische Parlamentsabgeordnete Hrvoje Sosic nannte Gubec 1993 einen "Vagabunden und Hochstapler", der einen ,,Aufstand gegen das kroatische Yolk angezettelt hat, anstatt an der tiirkischen Grenze zu kampfen". Fiir den armen Bauem konnte es keinen Platz mehr geben im neuen kroatischen Imaginarium, das voU und ganz von der Aristokratie ausgefilllt wird, die als Vertreterin der Staatsidee bzw. der militarischen Macht den Staat am eindrucksvoUsten veranschaulicht. AnsteUe der Kontinuitat Gubec - Tito wird nun die Kontinuitat Konig Tomislav - Tudman postuliert; Tito hat Gubec' Werk voUendet, Tudman dasjenige von Tomislav. Unter ihm ist, wie Tudman es nach den militarischen Erfolgen im Sommer und Herbst 1995 zur Jahreswende 1996 ausdriickte, "der selbstiindige kroatische Staat entstanden, zum ersten Mal seit Tomislavs und Kresimirs Zeiten, und musste als regionale Macht anerkannt werden". Urn das zu ermoglichen, war es notwendig, sich auch symbolisch auf Zvonimir zu beziehen bzw. zuallererst die Wirkung seines verhiingnisvoUen Fluchs aufzuheben: die Einheit zwischen Yolk und Herrscher aufzubauen und die pankroatische Eintracht zu emeuem. Denn, wie Prasident Tudman 1995 wiederholt betonte, "die Zwietracht war der Hauptgrund dafiir, dass wir friiher keinen eigenen kroatischen Staat hatten", und erst seine HDZ ,,hat die Versohnung aUer Generationen und Stiinde des kroatischen
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Volkes bewirkt" ood dann, logischerweise, auch die verlorene Unabhiingigkeit wiedergebracht. Seine Apotheose sollte der neue Herrscher bezeichnenderweise gerade in Knin erleben, am selben Ort, an dem vor neunhoodert Jahren der verbitterte Zvonimir seinen Fluch ausgesprochen hatte. Ein entsprechendes Huldigwgsgedicht an Tudman nahm 1995 im Parteiwochenblatt der HDZ als eine Art programmatischer Text eine ganze Seite ein: ,,zvonimir, wenn du nur auferstehen konntest, fdeinen Nachfolger betrachten konntest f ... lDer kroatische Konig, von neuem in Knin, /hat oosere Heimat befreit f ... lTudman hat oos die Freiheit gebracht food das kroatische Yolk versohnt.!" Die staatliche Unabhiingigkeit wird so nicht als politi scher Prozess in seinem realen historischen Kontext begriffen, sondern als Eingriff eines yom Schicksal auserwahlten Individuums in die Geschichte, als erlosender Akt der Aufheboog der Zeit ood der Ruckkehr in die ursprungliche Utopie von Eintracht, Harmonie ood Einheit. Genau dieses Konzept von Geschichte als einer StraBe, auf der das Yolk herumirrt, bis der Erloser erscheint, suggerierte auch eine FestinszeniefWlg im Nationaltheater Zagreb am 14. Juli 1997 zum 75. Geburtstag des kroatischen Staatsprasidenten. Yom Fernsehen direkt ubertragen, setzte sich das StUck aus literarischen Fragmenten, Opernarien mit patriotischen Motiven sowie Auszligen aus Originalreden kroatischer Politiker zusammen. Die InszeniefWlg sollte eine endgliltige, offizielle Interpretation der kroatischen Nationaigeschichte geben. In der ersten Szene erscheint nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen ware, Konig Tomislav, sondern gerade Zvonimir, der die Kroaten wegen ihrer Zwietracht dazu verdammt hatte, niemals wieder einen ooabhiingigen Staat errichten zu konnen. Nach vielen Opfern ood Misserfolgen wird zum ScWuss anhand von Zitaten aus verschiedenen Schriften ood Reden des gegenwiirtigen Prasidenten deutlich, wer ood aufwelche Art ood Weise bewirkt hat, dass am 15. Januar 1992 die Kroaten endlich den so ersehnten Augenblick der Unabhiingigkeit erleben konnten. Narurlich liegt das Problem des modernen Kroatien nicht darin, dass es seine politischen Mythen ood Imaginarien hat - denn Mythen haben aIle VOlker -, sondern darin, dass die mythische Thematik auch aufBereiche der offentlichen Kommunikation ubergegriffen hat, wo sie feW am Platz ist ood ihre WirkWlg auch einen Verlust an kreativern ood kritischem Verstiindnis der Wirklichkeit bedeutet. Denn die gegenwiirtige politische Elite hat es nicht verstanden - vielmehr: nicht gewollt -, einen Diskurs des politischen Denkens zu entwickeln. Deutsch von Barbel Schmidt-Sakic
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19.2. Zur Geschichte der bosniakischen Mythologie Ivo Zanic Die bosniakische Ideologie der nationalen Integration war von Aofang an mit besonderen Problemen belastet. Nicht nur, dass sie analogen Prozessen bei Serben WId Kroaten zuniichst hinterherhinkte, gravierend war vor allem, dass im kollektiven Gedachtnis WId im politischen Imaginariurn dieser beiden Volker, besonders der Serben, Gestalten WId Ereignisse aus dem Kampf gegen die Osmanen eine entscheidende Rolle spielten. So sahen die bosniakischen nationalen Erwecker WId Ideologen sich in eine DefensivhaltW1g gedrangt WId genotigt, den Verratsvorwurf gegen die Islamisierwtg zu widerlegen WId den Glaubenswechsel als eine rationale WId ethisch begriindete freie EntscheidWIg darzustellen. Zugleich mussten sie darauf achten, dass das Bekenntnis zum Islam die ZugehOrigkeit zum Slawentum nicht ausschloss. Sie mussten sich also ethnisch von der tiirkischen Identitat derjenigen abgrenzen, die Bosnien erobert WId den Islam nach Bosnien gebracht hatten. Anders ausgedriickt, diese ideologische Interpretation musste glaubwiirdig den Bruch von 1463 fiberbriicken WId zumindest symbolisch eine Anbindung an die vorosmanische Ara schaffen. Je mehr man das islamische Element betonte WId das politische Imaginariurn auf exemplarische Personlichkeiten aus der osmanischen Epoche reduzierte, desto mehr gefahrdete man die gewiinschte Kontinuitat WId entfernte sich von den symbolischen Legitimationen der vorislamischen Epoche - WId urngekehrt. So kam dem Verhiiltnis zum mittelalterlichen Konigreich Bosnien WId seiner religiosen Identitiit, insbesondere zur so genannten Bosnischen Hiiresie, bzw. zur Bosnischen Kirche eine SchliisselstellWIg im bosniakischen politischen Mythos zu. Diese Hiiresie wurde in verschiedenen ideologisch-politischen Konzeptionen, in WId au13erhalb Bosniens, wiihrend der letzten 150 Jahre als ein etabliertes WId doktriniir begriindetes Massenphanomen dargestellt. Als Grundlage dafUr dienten die Arbeiten des Historikers Franjo Racki (1828-94) WId sein Begriff der ,,Bogumilen", geformt im Kontext der kroatischen Romantik als "Jene schOne Hiiresie, aufwelche die Kroaten so stolz waren WId die mit dem tschechischen Hussitentum wetteiferte" (A. Vaillant). (~Kap. 4) Die serbische WId die kroatische Nationalbewegwtg rechneten die Bosnische Kirche der Orthodoxie beziehWIgsweise der katholischen Kirche zu WId leiteten daraus ihre Anspriiche aufBosnien WId seine Bevolkerwtg abo Die Muslime verwendeten das gleiche Motiv, allerdings urn sich damit von Serben WId Kroaten abzugrenzen WId die eigene Identitat mit dem Bogumilentum als natiirlicher Grundlage fUr die KonvertiefWlg zum Islam zu WItermauern. Safet-Beg Basagie (1870-1934), Publizist, Politiker (prasident des bosnischen Parlaments) WId Ubersetzer, spielte bei der EntstehWIg dieses Ideologems eine Schliisselrolle. Schon sein Vater Ibrahim-Beg hatte, unmittelbar nachdem Bosnien WIter osterreichisch-WIgarische Verwa1tW1g gekommen war, Artikel fiber Muslime WId islamisierte Christen aus Bosnien veroffentlicht, die sich in der osmanischen Verwa1tW1g, Armee WId im Kulturleben hervorgetan hatten. Der Ethnograph Mehmed-Beg Kapetanovie nannte die HeIden der muslimischen Epik Trager des bosnischen Ruhms, HeIdentums WId freiheitlichen Selbstbewusstseins. BaSagie war dann der erste, der patrio-
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tische Verse in der Volkssprache verfasste und eine geschlossene, nationale Ideologie ausfonnte. Er griff Schliisselmomente der Nationalgeschichte heraus und stellte ein Pantheon exemplarischer Gestalten zusammen. Diese Symbole driickten aus, dass die bosnischen Muslime ein slawisches Yolk, also keine Tfuken seien und dass "die Bogumilen und niemand anderes" den Islam "den Katholiken und Orthodoxen zum Trotz" ubemommen hatten. Erstmals tritt Basagics Konzeption der Kontinuitiit einer bosnischen Nationalitiit von den Bogumilen bis zur Gegenwart im Gedicht Innerhalb der Stadtmauern von Jajce zutage. Darin wird "unser heiB geliebter Banus Kulin" gezeigt, der dem Anfiihrer des autonomistischenAufstandes aus den dreilliger Jahren des 19. Jh., Husein-Beg Gradascevic, die patriotische Botschaft uberbringt. Die grundlegenden Ideologeme legte Basagic systematisch in seinem Buch Kurze Einfuhrung in die Geschichte Bosniens und Herzegowinas dar, das auf der Idee basierte, die Geschichte sei ein besonderer Vertrag zwischen den Verstorbenen, Lebenden und noch Ungeborenen eines Volkes. Er stiitzte sich dabei auf die handschriftliche Chronik des Salih Hadzihuseinovic, des ,,Astronomen" (Muvekit) der Beg-Moschee in Sarajevo, in der die Ereignisse in Bosnien von Banus Kulin bis zum Jahre 1878 vennerkt sind. Basagic zufolge waren die bosnischen Muslime legitime Nachfahren und Erben der Bogumilen, und der Adel, dem er selbst angehOrte, Huter der heimischen Traditionen, der Ethik und Freiheit des Volkes sowie der antiosmanischen Haltung der slawischen Bevolkerung. Vor der osmanischen Eroberung habe "die Blute des bosnisch-herzegowinischen Adels dem Bogumilentum angehOrt", urn dann "geschlossen zum Islam uberzutreten", aber nicht "aus Feigheit", sondem angesichts der Erfahrung "blutiger Verfolgungen und Kampfe" mit den aggressiven und intoleranten christlichen Nachbam. In dieser Erziihlung verkorpem drei Schliisselgestalten auch drei entscheidende politische Botschaften. Der Banus Kulin (12. Jh.) ist der erste authentisch bosnische Herrscher, Symbol der Staatlichkeit und nicht als Christ (Katholik) im Sinne der anderen, vorosmanischen bosnischen Herrscher zu identifizieren. Vielmehr sei dokumentiert, dass er die heterodoxe Bosnische Kirche geschutzt habe und ihr beigetreten sei. Erst unter der Drohung eines Kreuzzuges habe er dieser Lehre schlieBlich doch vor einem papstlichen Gesandten feierlich abschworen mussen. (7 Kap. 4) Die zweite Gestalt ist Mehmed-Pascha Sokolovic (16. Jh.), der es, aus einem ostbosnischen Dorf stammend, zum GroBwesir brachte und damit zum Symbol des militanschen Talents und Ruhms der Bosnier und ihres Beitrags zu den osmanischen Kriegserfolgen wurde. Nach Basagic "verdanken wir ihm die Fiihrungsrolle im VOlkergemisch des tfukischen Reichs" und "in ihm finden wir die Quelle unseres Stolzes, der drei Jahrhunderte lang dem Osten und Westen trotzen konnte". 1m Gedicht Der stolze Bosniake stellt er ihn mit folgenden Worten vor: ,,Auf den ersten Blick erkennst du in ihm / den beispielhaften Ritter des stolzen Bosnien, / mit einem Adlerauge, einem Heldenherzen, / das nie den Tod gescheut". Die dritte Gestalt ist Gazi Husrev-Beg (reg. 1521-1541), der als Heerfiihrer die Eroberung Bosniens vollendete. Er war der Emeuerer Sarajevos und wurde dreimal als Statthalter in Bosnien eingesetzt. Er gilt als Muster eines Bosniers, der nicht einmal vor dem Sultan zulasst, dass "irgendjemand Stolz und Ruhm Bosniens schwarz male."
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Zugleich verkorpem die beiden letztgenannten die Ambivalenz der Haltung der bosnischen Muslime zur Zentralmacht: Einerseits Identifikation mit der osmanischen imperialen Ideologie und ihrer Staatsidee, einschlieBlich der Verherrlichung des Sultans, mit dem man durch die Religion verbunden war, andererseits das dauerhafte Gefiihl einer Besonderheit und einer bosnischen Autonomie einschliefilich der Auflehnung gegen die Zentralmacht, sollte diese Bosnien vernachliissigen oder gering schiitzen. Zu der Zeit, als Ba§agics Konzeption entstand, entwarf die osterreich-ungarische Administration ein neues ideologisches Konzept fiir Bosnien als von Kroaten und Serben gesondertes Land. In diesem Sinne warb man fiir die "bogumilische Hypothese", derzufolge das vorosmanische Bosnien schon eine etablierte nationale Religion hatte. Deren Denkmiiler seien die steeci (Singular stecak, steineme Grabmiiler mit typischer Omamentik) gewesen; vor allem aber habe sie einerseits keinerlei Verbindung zum orthodoxen Serbien, andererseits sei sie von Rom scharf verurteilt und vom katholischen Kroatien angegriffen worden. Dieses Ideologem wird seither durch die bosnisch-moslemische Geschichtsschreibung und Publizistik systematisch gef6rdert. Obwohl sie urspriioglich interkonfessionell konzipiert war, so dass sie alle drei konfessionell-nationalen Gemeinschaften in ein und derselben politischen Identitiit erfasste, war damit gerade den Muslimen eine ideale Vorlage fiir die Abgrenzung von den Nachbam geboten, denn das zentrale Problem ihrer nationalintegrativen Ideologie - die Isiamisierung - erschien so gelost. Wie der bosniakische Soziologe Tarik Kulenovic schreibt, insistieren diese Ideologen auch heute noch unkritisch auf dem Gebrauch des Begriffes ,,(bosnische) Bogumilen", und zwar deshalb, weil der urspriiogliche Begriff krstjani (Christen) doch unangenehm an die christliche, vorislamische Vergangenheit erinnert ( ... ), zumal in Verbindung mit dem ungliicklich gewiilIlten ,Muslim' als nationaler Bezeichnung". Deshalb habe die zeitgenossische bosniakische Geschichtsschreibung unter dem Druck des Krieges das Bogumilentum als Echtheitszertifikat des Bosniakentums vereinnahmt. Die Parole "Wir waren Bogumilen" wurde nahezu so etwas wie ein Schlachtruf. Dieser Mythos bekam einen neuen und unerwarteten Schub durch den Bruch Titos mit Stalin 1948, als die offizielle jugoslawische Kulturpolitik begann, eine neue symbolische Identitiit des Landes zu formen. Wie Bosnien einst im Verhiiltnis zu den etablierten Kirchen ein refogium haereticorum war, wurde Jugoslawien ein ,,hliretisches Land" des Sozialismus; man griff die bosnische "bogumilische Formel" auf, wonach "alles, was aus Rom und Konstantinopel kommt, Satanswerk" sei, so der einflussreichste kroatische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, Miroslav KrleZa. Gerade Krleza unterstrich als SchOpfer der Konzeption der Jugoslawischen Enzyklopiidie und Autor einer Reihe kulturgeschichtlicher Essays das vorosmanische Bosnien als eigentiimlichen Vorliiufer des blockfreien Jugoslawien, eines Landes der wirklichen Revolution und stolzer Menschen, die fiir nichts in der Welt ihre Unabhiingigkeit hergeben wiirden. Gerade die ,,Bogumilen" hiitten, ,,frei von allen verlogenen Konventionen", eine Weltanschauung geschaffen, die "eine Negation aller religios-programmatischen Thesen aus Byzanz und Rom" gewesen sei. Sie seien "bei uns das Kontinuurn jener elementaren Urkriifte, die sich weder dem organisierten Terror der feudalen Barone, noch der Macht romischer und byzantioischer BischOfe beugen wollten", und
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19. Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda
sie hatten friiher und radikaler als Luther, Wyclif und Hus "aIle Moralautoritaten ihrer Zeit herausgefordert" und aIle Hierarchien in Frage gestellt. Diesem Konzept verlieh das dichterische Genie des Mak Dizdar (1917-1971) im Jahre 1966 herausragende kiinstlerische Gestalt. Sein Gedichtzyklus Der steinerne Schlafer war von Motiven der stecci und der Sprache mittelaIterlicher Aufzeichnungen inspiriert und stellte so eine kreative Verbindung zur Tradition her. Die Verse fiber das ,,magere und barfiiBige", aber auch "aus dem Traum heraus trotzige" Bosnien driickten ein neues kulturelles und politisches Selbstverstandnis aus. Auch die neue politische Elite unter der Fiihrung von Branko Mikuli6 und Hamdija Pozderac unterstiitzte in den 70er Jahren diesen Prozess. Bis zu dieser Zeit hatte die Republik im ideologischen Sinne durchweg kein eigenes Gesicht - ihre offizielle Heraldik bildeten ausschlieBlich Symbole der kommunistischen Ideologie und der Schwerindustrie. Diese neue Politik zielte zwar nicht nur auf die Bosniaken, sondem auch auf eine allgemeine Stlirkung der historisch-politischen Identitat von Bosnien-Herzegowina als einer f6deralen Einheit in Jugoslawien. Dazu wurde das mittelalterliche Bosnien als symbolischer Raum beschworen, in dem erst unter osmanischer Herrschaft an sich irrelevante religios-nationaIe Gegensatze und konkurrierende kollektive Erinnerungen entstanden seien. Mit diesem Rfickgriff auf die vorosmanische Zeit und besonders mit der Aktualisierung der ,,Bogumilen" als symbolische Vorlaufer der Tito-Partisanen gelang es der Politik, dieses Kemmotiv der bosniakischen politischen Mythologie durch den Kommunismus hindurch bis zu den ersten freien Wahlen am Leben zu erhalten. Das postkommunistische Bosnien-Herzegowina griindete seine symbolische Legitimation eindeutig auf die vorosmanische Staatlichkeit: Das zentrale heraldische Element war die stilisierte Lilie des Hauses Anjou aus dem Wappen des ersten bosnischen Konigs Tvrtko I. Kotromani6, und im Friihjahr 1992 erhob die bosnisch-herzegowinische Armee (ARBiH), als sie noch versuchte, aIle verteidigungswilligen Bosnier zu vereinigen, zum Dienstgrufi ein beriihmtes Motiv des Ste6ak von Radimlje - eine zum GruB geofInete linke Hand. Doch nachdem die muslimische Partei der demokratischen Aktion (SDA) in mehr oder weniger offener Zusammenarbeit mit den islamischen Wiirdentragem die Konstruktion der bosniakischen Identitat glinzlich vereinnahmt hatte, erfuhr die urspriingliche Basagi6-Konzeption des drei Religionen vereinenden Bosniertums bald eine wesentliche Veranderung und Reduktion. Wahrend Basagi6 zu den ,,ruhmreichen Ahnherren" sowohl Muslime als auch Christen zlihlte und sein Mehmed-pascha Sokolovi6 einer ,,Reihe von GroBen" entstammte, die sich aus christlichen "Vojvoden (Herzogen) und Fiirsten" und aus ,,Paschas, Begs und Ayans" zusammensetzte, schuf die SDA einen Kult um das goldene Zeitalter der osmanischen Epoche in Bosnien, auf deren Symbole allein sich ihr politisches Irnaginarium wie auch die Proklamation bosniakischer Identitat stUtzen. Die unter ihrem Einfluss stehenden Medien nennen die AngehOrigen der ARBiH haufig ,,Askeri" (Terminus fUr Soldaten der osmanischen Armee); eine Einheit wurde sogar nach dem Eroberer von Bosnien, Sultan Mehmed II. el-Fatih (1451-1481), benannt. Einige LokalgroBen (in Zenica, Vares) spielten in der Kommunikation mit dem katholischen Klerus ausdriickIich auf die Ausstellung einer ahdnama (Sultansurkunde) an bzw. flochten Zitate daraus in politische Bekanntmachungen ein.
19.2. Bosnien
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Damit riefen sie Erinnenmgen an Fatihs groJ3miitige Geste herauf, mit der er den besiegten Andersglaubigen Religionsfreiheit zusicherte, falls sie die osmanische Herrschaft anerkannten. Die zeitliche Zasur ist scharf und nahezu vollkommen. Nur eine Gestalt muss unberiihrt bleiben, wenn man die Verbindung zum vorosmanischen Bosnien nicht kappen will. Einzig Banus Kulin kann in diesem Mythenkonzept das Unvereinbare vereinbaren - und die Kontinuitat gleichzeitig verkleinem und bekraftigen. Als Herrscher verkorpert er die autochthone staatliche Tradition; als ,,Bogumile" und zudem Opfer der christlichen Militannacht steht er deutlich fiir die Abgrenzung der Bosniaken von den Kroaten und Serben, gleichzeitig macht er alle Vorwiirfe, die Islamisienmg sei Verrat am Christentum gewesen, hinflillig: Sie war namlich nicht nur eine logische und herbeigesehnte Entwicklung, sondem auch die Rettung vor dem christlichen Terror. Deshalb konnen sich alle islamischen Autoritaten auf ihn berufen: "Unser GroJ3vater ist Banus Kulin, wir sind seine Erben. Unser Vater ist Gazi Husrev-Beg. Unser Banus Kulin hat uns den Staat Bosnien beschert, und Gazi Husrev-Beg brachte uns Kultur und Zivilisation" - so der Reis-ul-Ulema Mustafa Cerie in seinem Buch Der Islam in Bosnien mit der Autoritat des Gelehrten (Behar, 4. 1. 1996); ,,Bosnien datiert aus Urzeiten und auch Banus Kulin war ein guter Bosniake. Die Bosniaken sind Muslime seit Banus Kulin, und wir miissen unsere Tradition an ihn und an den Islam binden" - so die programmatische Veroffentlichung des Stellvertreters von Cerie, Mustafa Spahie (Globus, 11.11.1994). Der Soziologe und hohe SDA-Funktionar Ismet Grbo, Autor des Lehrplans fiir das Schulfach Geschichte Bosniens, sieht fiir die Bans und Konige des Mittelalters, fiir Paschas und Wesire der osmanischen Epoche eine gemeinsame Unterrichtseinheit vor. Nur fiir zwei Gestalten ist eine eigenstandige Behandlung im Unterricht vorgesehen: fiir den Banus Kulin, "den GrUnder der bosnischen Staatlichkeit", und fiir Gazi Husrev-Beg, der fiir "die Einfiihrung der Bosniaken in die Kulturgeschichte" stehe (Behar, 10.1.1994). In diesem Zusammenhang bleibt nicht einmal der Stecak als Zeichen gesamtbosnischer Identitat bestehen. Als die Kroatische Kulturgesellschaft Napredak Ende 1992 im eingeschlossenen Sarajevo ihrer neugegriindeten Monatsschrift den Namen Stecak gab, bestritt ein Kommentar der Tageszeitung Oslobot1enje den ,,Erben derer, die die guten Bosniaken durchjahrhundertelange Verfolgungen, Glaubenszwang und Kreuzziige auf dem Gewissen haben", das Recht auf diese Position: denn "diese gebUhre nur den Bosniaken" (2.1.1993). Parallel arbeitet die SDA das Konzept programmatisch weiter aus, mit dem die islamisierte Bevolkenmg zum Basisvolk von Bosnien-Herzegowina erhoben wird. Am 27. September 1993, dem ersten Tag der Bosniaken-Versammlung in Sarajevo, wurde beschlossen, die bisherige nationale Bezeichnung ,,Muslime" durch ,,Bosniaken" zu ersetzen. Diese definierte das Akademiemitglied Muhamed Filipovie mystifizierend als "die Erben dessen, was Bosnien als Land, als Subjekt der Geschichte war und ist", als ,Jenen Teil unseres urspriinglichen bosnischen Volkes, der den Volkscharakter dieses Landes bewahrt hat und damit den geschichtlichen Sinn und Inhalt dieses Landes verwirklicht und so Trager seines geschichtlichen und staatlichen Rechts ist." (Behar, 8-9/1993). Spater schrieb er in seinem ,,Bericht iiber die Lage der Nation", dass "die
19. Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda
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Bosnier eines der iiltesten europaischen Volker sind" und ,,zu den europaischen VOlkern mit der altesten Staatstradition gehOren", weil "die Geschichte unseres Staates yom 7. Jahrhundert nach Christi an wahrt". (Dani, 16.02.1998) Diese Worte sind zum Teil als eine allgemeine Antwort auf kroatische (und serbische) politische Mythologeme aufzufassen und sollten ein symbolisches Gleichgewicht in diesem Legitimationsdreieck herstellen. Dies gilt besonders in Bezug auf das kroatische Lied "Vom siebten Jahrhundert an ... ", das seit 1991 yom staatlichen Rundfunk als eine Art ,)eichtes", pop-kulturelles Aquivalent zu den "schweren" historizistischen Explikationen verbreitet wird. Der von Prasident Tudman in seiner Rede anlasslich der Aufnahme Kroatiens in die UN zitierte Refrain lautet: "Wir sind hier seit langem, dies sollten alle wissen / yom siebten Jahrhundert an atmen hier Kroaten". Dieses Beispiel beweist, dass Mythen und Stereotypen, sind sie erst einmal in Bewegung, iiberall nach den gleichen inneren Gesetzen existieren.
Deutsch von Ranko Cetkovic
19.3. Das Paradoxon von Sarajevo OzrenKebo
19.3.1. Eine Stadt im ideologischen Dornroschenschlaf Die woW blutigste und schmerzhafteste Episode ihrer neueren Geschichte - vier Jahre Krieg und eine mittelalterlich anmutende Belagerung von 1992 bis 1996 - erlebte die Stadt injeder Hinsicht unvorbereitet. 1m Hintergrund von Sarajevos Belagerung stand auch ein Krieg urn Symbole. Die ZerstOrung von Sarajevo sollte nicht nur die materielIe Wirklichkeit treffen, sondern zugleich die symbolische Kraft der Stadt vernichten. Auch auf der symbolischen Ebene handelte es sich bei den Belagerern von Sarajevo und den Stadtbewohnern urn sehr ungleiche Kontrahenten. Die ersten besaJ3en eine schon eingeiibte und perfektionierte symbolische Kommunikation, Kontinuitat in Sachen verfestigter F eindbilder und massenmedial verbreiteter Folklore mit entsprechenden Stereotypen. Wenn sie ihre Stellungen bezogen, waren sie symbolisch ebenso gut mit "Kriegsfolklore" (Ivan Colovic) ausgeriistet wie mit den schweren Waffen, die sie auf den Bergen urn Sarajevo postierten, wahrend sie in epischer Tradition komponierte Lieder und etwa davon sangen, "Sarajevo mit seinen Moscheen in Schutt und Asche" zu legen. Yom Standpunkt des urbanen Miteinanderlebens her ist es auch durchaus verstandlich, dass die Sarajevoer mit symbolisch-kommunikativen Waffen kaurn ausgeriistet waren, denn die Produktion ethnischer Feindbilder durch Evozieren von Archetypen aus dem Arsenal der bosnischen Geschichte und Instrumentalisierung des Erinnerns erfasste man intuitiv als Bedrohung fUr das Zusammenleben in einer multi-
19.3. Sarajevo
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ethnischen Gesellschaft, die in einer so "widerspriichliche(n) Erinnenmgslandschaft" (w. Hapken) nur in noch tiefere Konflikte fiihren wiirde. Da es zu solchem mythisierenden, Feindbilder produzierenden Umgang mit der gemeinsamen bosnischen Geschichte keine Alternative im Sinne einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte gab, wie sie wirklich war, blieb die Verdrangung der Geschichte ein Ausweg. Das betraf im spezifischen und besonderen MaBe das bosniakische Yolk und seine kollektiven Erinnenmgen, denn die Archetypen wurden aus den serbischen Erinnenmgen an die Befreiung von den Osmanen als positive Komponenten in die jugoslawische Befreiungssymbolik iibernommen. Hier liegt vielleicht auch die Erklarung dafiir, dass die Sarajevoer und weite Teile der Bosniaken von den dramatischen, durch den Zerfall Jugoslawiens verursachten Ereignisse um sie herum oft eine verzerrte Wahrnehmung hatten. Nicht nur die Regienmg, sondern die ganze bosniakische Bevolkenmg war auf diese Ereignisse der Jahre 1991 und 1992 im Gnmde iiberhaupt nicht vorbereitet. Ja viele wussten gar nicht, dass der Krieg angefangen hatte, bis sie sich plOtzlich vollig hilflos im Belagenmgszustand wieder fanden. In dieser psychischen Verfassung suchte man die alte jugoslawische Symbolik und den Mythos Tito wieder zu beleben. 1m grotesken Beginn des Krieges in Sarajevo, April 1992, mit Hochrufen auf Tito und Jugoslawien einerseits und den Panzern der Jugoslawischen Volksarmee im Einsatz fur Karadzic und seine Serbische Demokratische Partei (SDS) auf den StraBen Sarajevos andererseits, zeichnete sich auch das Ende des bosniakischen nationalen und symbolischen Identitatsdilemmas abo Die politische Spitze in Sarajevo hatte auf den Krieg mit Symbolen und auf die nationalistischen Umpolungen von Erinnenmgsstrategien in der Vorkriegszeit keine angemessene Antwort. Konnte sie auch nicht, bestand doch die Regienmg, nach alten Regeln gemaB dem nationalen Proporzsystem konstituiert, aus Politikern mit voIlkommen entgegengesetzten Zielsetzungen. Nach dem Referendum jedoch, als die Unabhangigkeit des bosnischen Staates - gegen den mehrheitlichen politischen Willen der bosnischen Serben und mit iiberwiiltigender Mehrheit der Bosniaken und Kroaten beschlossene Sache war, entstand insbesondere fur die muslimischen politischen und sonstigen Eliten ein gravierendes ideologisches und auch politisches Legitimienmgsdilemma. Da musste auf der einen Seite eine Staatsideologie neu aufgebaut werden, die aIle drei Volker als gleichberechtigte Bestandteile des gemeinsamen Staates einbezog. Ais unabhangiger Staat musste Bosnien-Herzegowina also auf der gleichen Grundlage der Gleichheit seiner Volker neu, d.h. demokratisch konstituiert und legitimiert werden, zu einem Zeitpunkt, als diese Konstellation und dann auch die Staatlichkeit selbst zuerst von maBgeblichen serbischen Politikern und politischen Stromungen, dann auch von den kroatischen massiv in Frage gestellt wurde. Zum anderen war es notig, Merkmale einer moslemisch-bosniakischen Identitat in einer nationalen Ideologie zu biindeln, um sich der Vereinnahmungen durch die Nachbarn zu erwehren und letztendlich den national en Anspruch auf die Eigenstaatlichkeit zu rechtfertigen. Wenn es in einem Dilemma "einen Raum dazwischen" gibt, dann war die bosniakische Elite in diesen ,,zwischenraum" gefallen. Ihre Unschliissigkeit deckte sich mit dem allgemeinen Verhalten, wie es vornehmlich in Sarajevo sichtbar wurde. Auf der Ebene der symbolischen Kommunikation gibt es dafur eine Erklarung: Zwischen der Schaffung einer
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bosnischen Staatsidentitat und dem Aufbau einer nationalen Symbolik durch positive Erinnerung an die osmanische Herrschaft, durch die Verwendung moslemischer Heldensagen aus der osmanischen Zeit und Belebung alter Stereotypen im Sinne einer bosniakischen Identitat besteht ein direkter, kaurn aufhebbarer Widerspruch. So fand sich der Ausweg fUrs erste in Verlagerung und Verdrangung. Diese kollektiv-psychologische Strategie machte sich in den Sarajevoer Antikriegskundgebungen geltend, die von im Grunde unpolitischen Haltungen, von Wunschdenken und Realitatsfeme gepragt und so auch nur in Sarajevo moglich waren. Die inneren Widerspriiche in den symbolischen Identiftkationsmechanismen lieBen auch den Prozess der ,,Metamorphose des Volkes in eine fanatische Masse" (Emil Cioran) in Sarajevo trotz des Krieges nicht zu. Dass im Ergebnis des Krieges heute die Homogenisierung des bosniakischen Volkes stattfindet, kann nicht fibersehen werden. Dass dabei in der Offentlichkeit als bosnischmuslimische HeIden aus der osmanischen Zeit historische Figuren evoziert werden, die in den kollektiven Erinnerungen der bosnischen Serben und Kroaten als archetypische Erzfeinde fungieren (z.B. Smail-Aga Cengic), bedeutet, dass die bosniakische Elite zum ersten Mal eine klare symbolische, differenz- und identifikationsstiftende Antwort auf die sie bedrangende Symbolik der jugoslawischen Zeiten findet und ebenso wie die serbische und kroatische vor ihr das einst private, ,inoffizielle' oder ,dissidente' ,Gedachtnis' (HopkenIBurke) als einseitiges Erinnem in der Offentlichkeit etablieren will. Das ist noch kein nationaler Fanatismus der Massen. Doch zurUck zur Kriegssituation. 1m Bereich der symbolischen Kommunikation war die Unklarheit fiber die Opferdefinition bzw. die Benennung des Aggressors bezeichnend. Am Anfang des Krieges herrschte unter der Bevolkerung Sarajevos Unglauben und Entsetzen dariiber, dass man ungestraft und ohne einen einsehbaren Grund auf diese Stadt schieBen konnte, aber es gab noch keine Sprache, in der diese Vorgange angemessen hatten benannt werden konnen. Die ideologische Sprache der Massenmedien war unter anderem dadurch bestimmt, dass die Redaktionen paritatisch nach sog. ,,nationalem Schlfissel" besetzt waren. Die Joumalisten und Redakteure ordneten sich aber groBtenteils entweder den jeweiligen national-politischen Fronten oder einem hilflosen Jugoslawismus unter. Der Versuch, unter den Bedingungen eines mit ethnischer Symbolik gefiihrten Krieges eine ausgewogene Berichterstattung zu pflegen, fiihrte zu lauter Paradoxa. Das gipfelte in der Absurditat, dass die Parteiganger der SDS vom Trebevic und von anderen Bergen herab Sarajevo unter Granaten begruben, wahrend im bosnisch-herzegowinischen Femsehen in vollkommen falscher Sprachregelung "an die Krieg fiihrenden Parteien" appellierte wurde, die Feuerpause einzuhalten. Erst angesichts der erdriickenden Wirklichkeit verwarfen die Sarajevoer diese Rhetorik von gleichschuldigen "Konfiiktparteien", mit der sie den Krieg verdrangt hatten, bevor er Sarajevo erreichte. Die das Opfer verhOhnende Semantik der Gleichsetzung aber wurde im Ausland weiter gepflegt. Sarajevo kiimpfte urn das Uberleben und seine Offentlichkeit gleichzeitig urn Symbole, mit denen die wahre Natur des Krieges einen allgemein anerkannten Ausdruck bekommt. Da die Gewaltsituation der Belagerung die Bevolkerung zu einer "Schicksalsgemeinschaft" (Max Weber) machte, suchte man nach einer symbolischen Sprache, die der kollektiven Identitat des Opfers angemessen sei. Zwar ist Sarajevo in der
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AuBenwelt zum Symbol geworden, aber mit der symbolischen Selbstfindung einer Gemeinschaft im trawnatischen Zustand hatte dies naturgemiiB wenig gemein. Die symbolische Reprasentation einer gemeinsamen Identitat greift oft zu Mythen der Gewalt und stUtzt sich aufMythologisierungen geschichtlicher Umstande, wie die Erforscher ethnischer Identitaten darlegen. Die symbolischen Inhalte bekommen "iiberschieBende Symbolkraft", indem die in der Vergangenheit (der kollektiven Erinnerung) liegende "erlebte Gewalt" iibertrieben dargestellt wird. Aber die archetypische Situation der Sarajevoer liegt gerade in ihrer gegenwartigen Belagerung. Es gibt keine kollektive Erinnerung an vergangene Gewalt, die das AusmaB der "tatsachlichen" Gewalt iibertreffen konnte. Es ist hier alles fast genau wngekehrt wie in den westlichen wissenschaftlichen Typologien ethnischer Homogenisierungen. Gemeinsame Punkte konnten sich aus der Suche nach den GrUnden ergeben, warwn man zum Opfer geworden ist, und daraus, dass diese GrUnde eine Symbolik beinhalten, die zwischen dem Kollektiv der Angreifer und dem der Opfer eine groBe "ethnische" Differenz zum Ausdruck bringen muss. Urn diese Differenz zu statuieren, konnte die symbolische Kommunikation allerdings nicht einfach den kurzen ethnonationalen Weg nebmen, schon weil die gewaltsam zum Kollektiv verwandelte Stadt aus Personen und Gruppen mit multiplen Identitaten besteht, aber nicht nur deshalb. Dies zu erkliiren, miisste man auch die Entstehung der gegebenen Lage begreifen, wn so die Differenz mit der gemeinsamen Erinnerung zu verkniipfen. Doch das Erinnern an friiheres Leiden bedeutet in Sarajevo Erinnerung an ethnische und gerade geschichtlich gepragte Unterschiede. Will man verstandlicherweise - in der symbolischen Semantik den Unterschied von Angreifer und Opfer als groBtmogliche Differenz festlegen, so miissen die Unterschiede innerhalb der Opfergemeinschaft so weit wie moglich nivelliert werden, was in diesem Falle kawn die Klassen- und Standesunterschiede, sondem eigentlichjene verschiedener ethnischer Gruppen samt ihrer unterschiedlichen Erinnerungen meint. 19.3.2. Die symbolischen Strategien im Krieg
Die kollektiven, durch trawnatische Erlebnisse verursachten Stimmungslagen trugen zur Vereinheitlichung der Kommunikation in der Stadt bei. Doch obwohl die Stimmungslagen in der belagerten Sarajevoer Bevolkerung ethnisch iibergreifend vergleichbar waren - bei der symbolischen Verarbeitung des Trawnas tauchten jeweils andere kollektive Erinnerungen auf, was eine Koppelung des von der gesamten multikulturellen stiidtischen Gemeinschaft gemeinsam Erlebten mit einer fUr alle geltenden Symbolkultur verhinderte. Dieses Paradoxon wird ganz nebenbei und gerade deshalb sehr eindrucksvoll in den Briefen des Schauspielers und Journalisten Davor Koric (Briefe aus Sarajevo) deutlich. Koric schreibt seine Briefe aus der bedriickenden Situation der Belagerten an die Familie, der es gelang, Sarajevo gerade noch rechtzeitig zu verlassen, und er beschreibt den sozialenAlltag einschlieBlich der Diskussionen unter Freunden. Da werden die unterschiedlichen Perspektiven und die Einseitigkeiten der national gepragten Wahrnebmung bei Bosniaken, Serben und Kroaten in ihrem privaten Umgang geradezu dokwnentarisch belegt.
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1m offentlichen Umgang ist bei den Strategien der symbolischen Semantik der einge-
schlossenen Gemeinschaft zu beobachten, wie die Menschen einerseits wn Benenmlllg des aul3eren Unterschieds, andererseits wn die Verdrangung der internen Unterschiede bemiiht sind. So entstanden semantische Formeln, die alle Bereiche der offentlichen Meinung beherrschten, groBtenteils aber von lokaler Bedeutung blieben. 1m folgenden seien die wichtigsten symbolhaften Unterscheidungsformeln skizziert: 1. "Wer aus der Stadtfloh, ist ein Feigling!" Dies wurde zum stehenden Gemeinplatz in der Kommunikation unter Sarajevoem, vor allem wiihrend der ersten Monate der Belagerung. Die Semantik des Verrats ermoglicht mit ihrer dualen Struktur die Unterscheidung zwischen dem "Wir", den Verbliebenen mit einem gemeinsamen Opferschicksal, und den anderen, die den Mut nicht hatten, in der Stadt zu bleiben, doch angesichts der Komplexitat der beiden "Gruppen" war diese Formel eher geeignet, Diskussionen zu entfachen als symbolisch eine Identitat zu reprasentieren. Dem Gegensatzpaar Feigheit und Mut konnte die Erfahrung in der besetzten Stadt einfach nicht in einem Code subswniert werden, weil seine mitgemeinten Elemente viel zu verschieden waren: Zuerst wurden yom Bannfluch Frauen ausgenommen, die ihre Kinder aus der Stadt brachten. Wer in Lander des Westens gefiohen war, konnte bald mit stillschweigender Nachsicht rechnen. Die Formel wurde schlieBlich so weit eingeschriinkt, dass ,,F eigheit als eine legale und legitime menschliche Emotion" anerkannt wurde und der Bann nur noch jene traf, die die Seite gewechselt hatten, also die Stadt aus anderen Motiven und nicht aus ,,Feigheit" verlassen hatten. Die symbolische Reprasentation der "Verrater", die sich also dem ,,Feind" angeschlossen hatten, griffim Allgemeinen zu den historischen Stereotypen des "Tschetniks" als Feindbild, aber fUr die spezifische Lage in Sarajevo etablierte sich eine andere Semantik: 2. "Die ,Barbaren' sind ausgezogen, urn die Stadt zu beschieJ3en, die ,Raja'jedoch ist in der Stadt geblieben!" Diese Formel und ihre duale Unterscheidungsstruktur zwi-
schen der Opfergemeinschaft und dem Feind ist kultursoziologisch bedeutsam, weil ihr spezifische Erinnerungen aus der osmanisch gepragten Geschichte Bosniens immanent sind. Die duale Unterscheidungsstruktur ,urbane versus biiuerliche Bevolkerung' enthalt semantische Reminiszenzen an die osmanische Ordnung und verzerrt sie gleichzeitig. Das Stereotyp des ,Barbaren' (im Jargon "papak"; Plural: "papci" = Hu£'Klaue) bezieht sich auf die Mentalitat einer Bevolkerung, die, aus dem landlich-biiuerlichen Leben der Provinz in die Stadt verpfianzt, die Regeln des urbanen Lebens missachtet. Seine Semantik evoziert unterschiedliche historische Strukturen des osmanischen Bosnien, die in den etlmischen Erinnerungen unterschiedlich besetzt sind: so etwa die Rebellion gegen die offizielle Macht und den Klassenunterschied. Diese Unterschiede sind nur der Bezeichnung "papak" immanent. Eine ausdriickliche Erinnerung ware hingegen mit der traditionellen Bezeichnung der Heiducken evoziert, die fUr die islamische Bevolkerung Bosniens Rauber meinte und negativ konnotiert war, wamend sie in der serbischen Befreiungsideologie das Ideal des HeIden verkorperte. Diese Symbolik war aber fUr die Lage in Sarajevo vollig ungeeignet (wenngleich die Heiducken in den nationalistischen bosniakischen Medien manchmal in dieser alten Bedeutung vorkommen; Zanie). Mit der Bezeichnung ,,Raja", die eine bezeichnende Wandlung yom osmanischen Terminus fUr die zumeist nicht-islamischen Steuerpflichtigen zu einem zeit-
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genossischen Begriff fUr die urbane Bevolkenmg durchgemacht hatte, wurden die ethnischen Unterschiede henmtergespielt zugunsten einer gemeinsamen urbanen Identitat. Die semantische Strategie der symbolhaften UnterscheidWlg, die sich zum Feindbild der yom Berg Trebevic auf die in der Stadt verbliebene ,,Raja" schieBenden ,,Papci" verfestigte, verlor ihre GeltWlg, als man sich der Widerspriiche in den Stereotypen bewusst wurde: Die Granatwerfer auf den Bergen wurden von vielen bedient, die man zur stadtischen Bevolkenmg geziihlt hatte, ja die sogar hohe Posten in der modem organisierten Gesellschaft innegehabt hatten (Arzte, Hochschullehrer, Redakteure usw.), Wld das Ideal der urbanen Bevolkenmg wurde durch allerlei riiuberische Praktiken in der Stadt selbst gewaltig relativiert. 3. "Geistiger Widerstand gegen die Aggression!" war eine andere Formel, die Sarajevos Identitat Wlterstreichen sollte Wld gleichzeitig wieder ein Dilemma ausdriickte. Was war der Geist der Stadt, auf dem aufbauend ein erkennbarer Widerstand geleistet werden sollte? Wenn es etwas gab, was man den Geist von Sarajevo als einer modemen Stadt nennen konnte, dann war dies die spezifische Multikulturalitat. Aber Multikulturalitat ist am wenigsten geeignet, eine einfache Homogenisienmg zu schaffen, wie man sie in einer polaren Kommunikation braucht. Und gerade die Multikulturalitat wurde dadurch fundamental getroffen, dass ein betrachtlicher Teil der Sarajevo-Serben, d.h. der serbischen Eliten, die Stadt entweder verlassen hatten oder zu Hauptakteuren der Aggression wurden. Auch viele Kroaten verlieBen Sarajevo Wld so gut wie aIle Juden. Der Geist der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina wurde in allem, was eine Hauptstadt auszeichnet, getroffen. Nicht nur die Abgeordneten der SDS, sondem auch die meisten gewiihlten kroatischen Abgeordneten kamen nicht mehr zu den Parlamentssitzungen. Die Multikulturalitat Sarajevos war gleichsam ein passiver Zustand gewesen Wld im friiheren politischen Leben durch das nationale Proporzsystem geregelt worden; es gab wenig an gelebten Institutionen, worauf sich aufbauen lieB, Wld die einstigen Symbole des multiethnischen Miteinander waren durch das ,,Erinnenmgsmonopol der Partei" (Hopken) geschaffen Wld nunmehr vollkommen diskreditiert. Die aktive nationale Politik der Serben Wld Kroaten kiindigte diesen lauen Geist der multikulturellen Stadt sofort auf. Wenn es vor dem Krieg also einen passiven Konsens fiber den Geist der Stadt gegeben hatte, so war er im Belagenmgszustand schnell eine zweifelhafte Phrase geworden. Jede AusstellWlg, jeder Dichterabend, jedes Konzert Wld jede VeranstaltWlg wurden zum "groBartigen Akt geistigen Widerstands gegen die Aggression" proklamiert, wenig fehlte, urn auch jeden ZeitWlgsartikel zum Verteidigungsakt zu weihen. Als UnterscheidWlgsmerkmal stUtzte er sich auf den abstrakten Gegensatz zwischen geistigem Wld bewaffuetem Kampf. Dies aber Wltergrub einen wesenhaften Bestandteil in der kriegsgenerierten Struktur des Gemeinschafisgefiihls, namlich eine "Opfergemeinschaft der Kampfenden" (Max Weber) zu sein, Wld entlarvte den "geistigen Widerstand" als eine selbstbetriigerische Vokabel, die sich schnell abnutzte. Der Geist von Sarajevo war vielleicht dort im Entstehen, wo man ihm wenig Aufmerksamkeit entgegenbrachte. So hatte beispielsweise die TageszeitWlg "Os lobodenje" mehr symbolische Kraft in der AuBenwelt als in Sarajevo selbst. Dafiir versuchte der bekannte bosniakische Intellektuelle Muhamed Filipovic eine verklarende BegriffsbestimmWlg des "bosnischen Geistes": als "Geist der Gelassenheit", der "Gleich-
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gilltigkeit gegenfiber der Verganglichkeit, dem Diesseitigen und den materiellen Dingen". Der gelebte Zustand des angegriffenen und belagerten Sarajevo wurde nicht zum lebendigen Geist der Stadt. Seine muitikulturelle Substanz wurde ausgehohlt und auf eine Phrase der bosniakischen Rhetorik reduziert. Dariiber hinaus anderten sich auch die materiellen Voraussetzungen der multikulturellen Urbanitiit zuletzt durch den Zuzug der bosniakischen vorwiegend landlichen BevOlkerung aus Ostbosnien. Die Funktionalitat des Mythos vom "geistigen Widerstand" war schnell verbraucht. 4. Strategie des Opjers: Die Semantik des Opferseins eignete sich noch am besten fUr eine Mythologisierung und dauerhafte symbolische Identitatsstiftung. Da war einmal die tatsachliche Lage einer angegriffenen Stadt und der fOr ihre Bewohner unertragliche Zustand. Inmitten des groJ3en Sterbens ist man Opfer. Was hier geschieht, ist tatsachliches und nicht eingebildetes "UbermaJ3 an Gewalt". Hinzu kam, dass die politische Rhetorik in der Kommunikation mit der internationalen Welt und denjournalistischen bzw. politischen Vertretern des Westens einen Diskurs aufzwang, der die Bewohner von Sarajevo gleichsam zu einer Konfiiktpartei machte. (7 Kap. 29) Aufgrund der Situation, dass man nicht nur Opfer einer Aggression war, sondern dies der Welt auch erklaren musste, war man zweifach Opfer - physisch und durch die Strategie der Verleugnung seitens der AuJ3enwelt. Diese Absurditat dauerte den ganzen Krieg fiber an und fiihrte zu einer Absolutsetzung der Opjermetaphorik, und da sich diese, anders als die oben skizzierten semantischen Strategien, ausdriicklich aufBosniaken beschriinkte, erlangte die Semantik der Exklusivitiit des bosniakischen Opferseins, in der sich fast aIle Unterscheidungsmerkmale der eigenen nationalen Identitat biindelten, die starkste Symbolkraft fUr das bosniakische nationale Selbstbewusstsein. Dieser Kult des exklusiven Opfers war nicht mehr auf Sarajevo beschriinkt, er wurde Bestandteil der nationalen Identitat der Bosniaken fiberhaupt und zu einem absoluten Differenzmoment. Seine narrative Struktur baut auf der absoluten Schuldlosigkeit auf. Diese Verabsolutierung fand sich in der Sarajevoer Presse und Offentlichkeit haufig folgendermaJ3en ausgedriickt: "Wegen allem, was ihnen widerfahren ist, sind die Bosniaken von nun ab fUr die nachsten 100 Jahre im Recht, ganz gleich, worum gestritten wird." Auch wenn diese Homogenisierung sich auf eine nationale Projektion griindete, lief die Metaphorik des exklusiven Opfers auf die religiose Semantik hinaus, wonach "die Welt" die Bosniaker allein lasse, weil sie Muslime sind, wie sie als solche ja auch der Vernichtung durch "Christen" ausgesetzt seien. So erstarkte unter neuen Umstanden die Religion als das alte Unterscheidungsmerkmal im Allgemeinen bosniakischen Bewusstsein, obwohl man gerade bemiiht war, sich im nationalen Sinne fiber die Bezeichnung Bosniake statt wie frillier iiber die religiOse Bezeichnung ,,Muslime" zu definieren. Diese Uberzeugung, dass man gerade wegen des islamischen Glaubens zum Opfer wurde und ohne Hilfe aus der westlichen, d.h. christlich gepragten Welt sich selbst iiberlassen blieb, sitzt bis heute tief im kollektiven Bewusstsein und fmdet sich in zahlreichen theoretischen Abhandlungen. Der islamische Religionsphilosoph Rusmir Mahmutcehajic beispielsweise schreibt: "Der Islam und das Muslirnanenturn als die wesentlichsten Eigenschaften des Opfers dienten als Rechtfertigung fUr den Genozid, vertrauend auf die allgemeine Aversion des Westens ihnen gegeniiber." (Dobra Bosna Das gute Bosnien 1997).
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Die zu so1ch einseitiger Exklusivitat fiihrende Fragmentierung der symbolischen Rekonstruktion ignoriert, dass bei der ideologischen Feindkonstruktion serbischer- und kroatischerseits Katholizismus bzw. Orthodoxie ahnlich wie der Islam funktional eingesetzt wurden zur Ausgrenzung von Fremdem. Auch die Rolle des Westens im Krieg in Bosnien-Herzegowina wird in dieser symbolischen Kommunikation einseitig rekonstruiert als eine durch sein negatives Verhalten gegeniiber dem Glauben der Bosniaken bestimmte. Diese kommunikative Strategie lasst sich nur aufrechterhalten, wenn man dariiber hinwegsieht, dass Zogem und Verzicht auf direkte militarische Intervention das westliche Verhalten gegeniiber allen Kriegen Milosevics bis 1999 kennzeichneten. Das Bewusstsein der Exklusivitat lebt freilich auch von tatsachlichen Vorurteilen, die es in den Diskussionen zur Frage der Intervention im Westen zuhauf gab, aber eben nicht nur gegeniiber islamisch gepragten Identitaten, sondem gegeniiber allen beteiligten kleinen Volkem. Durch die symbolische Betonung des islamischen Glaubens als Bestandteil der exklusiven Opferrolle entledigt sich die Kommunikation der symbolischen Differenz eines Dilemmas, das sich aus der Vielzahl der Feinde (Serben, Kroaten, intemationale Welt) ergibt. Denn dadurch findet die Metaphorik wieder sicheren Boden in einer dual en Freund-Feind-Struktur: Islam versus Christentum. Ein iiber das religiOse Unterscheidungsmerkmal hinausgehendes spezifisch nationales Paradigma fanden Dichter, Literaten und Intellektuelle in der Gestalt des "guten Bosniaken" und des "guten Bosnien" bzw. einer stets leidenden, verfolgten BevOlkerung - kurzum in einem absoluten Gegensatz zum Bosen. So schreibt Mahmutcehajic in dem erwiihnten Buch: "Bosniaken sind Gefahrdungen und Erniedrigungen ausgesetzt. Obwohl ihre ganze Geschichte daraus besteht, beharren sie auf eigener Besonderheit ... Die Treue zum SchOnen und Guten fordert Anstrengung und Aufopferung." Die besonderen Motive fiir diesen Mythos diirfte man in einer Erwiderung auf die einseitige Erinnerung der serbischen Gedachtnistradition finden, die ja von der jugoslawischen Erinnerungskultur iibemommen wurde, wo die osmanische Herrschaft und ihre bosnischen Protagonisten ausschliel3lich als willkiirliche Gewaltherrscher und Peiniger dargestellt sind. Als "guter Bosniake" hat man sich au13erdem im Voraus von der Ptlicht befreit, seine Taten - und Untaten - zu rechtfertigen und sich gleichzeitig durch Verabsolutierung des Gegensatzes die Moglichkeit zum Dialog verbaut. Neben einem sachlichen Umgang mit dem Krieg und der Nachkriegssituation in Bosnien-Herzegowina, der sich auf wissenschaftliche Analysen der Ursachen und des Hergangs des Krieges zu stiitzen hiitte, ware heute in Sarajevo gerade eine Kultur des Dialogs notig, die auch einen offen ausgetragenen Streit zulassen und vor allem versuchen wiirde, ohne Einseitigkeiten die schwierige bosnische Geschichte aufzuarbeiten. Deutsch von Ranka Cetkavic Textergiinzungen von Dunja MelCic
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19.4. Symbolfiguren des Krieges. Zur politiscben Folklore der Serben Ivan Colovic In Serbien riickte die symbolische politische Kommunikation, die sich vor und wahrend des Krieges 1991-1995 herausbildete, den Mythos der nationalen Identitat in den Vordergrund. Es handelt sich dabei wn eine Reihe von Bildem und Geschichten iiber die imaginare Gestalt, die der ethnisch-nationalen Gemeinschaft der Serben - bezeichnet als das serbische Yolk, das Serbentwn oder die serbische Nation - zugeschrieben wird. ,,Lasst uns sein, was wir sind!" Auf diese knappe Formel konnte man das nationale Streben der Serben in seiner Zielrichtung bringen - ihr Ringen mit auJ3eren und die Abrechnung mit inneren Feinden, von denen dieser Mythos erzahlt. Die nationale Identitat gilt darin als eine grundlegende, stabile, leicht wieder erkennbare und selbstverstandliche Charaktereigenschaft der AngehOrigen des serbischen Volkes. Sie auJ3ert sich als spezifischer Unterschied in Kultur und Mentalitat und fungiert gleichzeitig als ,,natiirliches" Fundament der politischen Souverarutat des serbischen Staates, der Ethnonation. Diese selbstverstandliche und ,,natiirliche" Identitat verlangt einerseits, dass sich die Beziehungen unter den Serben auf der Grundlage der Ahnlichkeit, als verwandtschaftliche Beziehungen aufbauen, andererseits, dass das Verhaltnis der Serben zu anderen Nationen auf der Grundlage der biologisch-kulturellen Unterschiede, im Namen des Rechts aufUnterscheidung und des Rechts aufnationale Selbstbestimmung reguliert wird. Bereits an diesem Punkt bindet sich die mythische Identitatsrhetorik an den Krieg. Denn der angestrebten Behauptung der serbischen nationalen Besonderheit und der Souverarutat steht eine Wirklichkeit gegeniiber, die iiberall in der Welt und so auch auf dem Balkan und in Serbien durch Geschichte gepragt ist, also eine Wirklichkeit der gemischten VOlker und historisch festgelegten Grenzen. Da dem ,,natiirlichen" Recht der serbischen Ethnonation somit die Interessen der Weltmachte und vieler feindlich gesinnter Nachbam gegeniiberstehen, bedeutet seine Behauptung stetigen Kampf. 1m serbischen Identitatsmythos wird der Krieg als Kampfwn eine von Natur und Gott gegebene urspriingliche serbische Nation begriindet. Dieser Aspekt des Mythos erscheint in der Figur des kulturell-nationalen Individualismus. Ihr entspricht die Vorstellung von Serbien als einem Planeten und des Kosovo als seinem Satelliten, wie Matija Beckovic es in seinem Gedicht ,,Kosovo ist ein Trabant des Planeten Serbien" ausmalt (Sluiba 1990, S. 49). Allerdings begn\igt sich der serbische politische Mythos, wenn er sich auf die nationale Identitat bezieht, nicht mit dem Beharren auf Unterschieden. Er beschriinkt sich auch nicht darauf, die Unterschiede zwischen den VOlkem iibermaBig zu betonen und in unversohnliche Antagonismen und Quellen eines unvermeidlichen Krieges zu verwandeln. Die Forderung ,,Lasst uns sein, was wir sind!" reicht weiter. Mit ihr wird Serbien als etwas Besonderes dargestellt, als eine originare, mit nichts Bekanntem zu vergleichende, in der Welt einzigartige Existenzform einer Nation. Keine andere Nation ware demnach ihrem "Sein" bis zum auJ3ersten treu wie die Serben, keine besaBe wie diese die Fahigkeit, ihr Selbst als urspriinglich und in seiner Art einzig auszuleben. Deswegen wird im Mythos das nationale Schicksal Serbiens der Welt als Vorbild emp-
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fohlen, obwohl es aufiergewohnlich ist und immer im Widerspruch zur Welt steht. So taucht im Mythos von der IdentiUit die Figur des serbischen nationalen Messianismus auf. Wie einmal der Metropolit Nikolaj Velimirovic schrieb, "ist unser Yolk Trager eines fortschrittlichen und heilbringenden, eines biblischen und prophetischen Ideals, das schlieBlich yom ganzen Menschengeschlecht, welches jetzt durch aufgebliihte weltliche GroBen erschiittert und verstort ist, wird angenommen werden" (1939). Dem serbischen Mythos zufolge ist es nicht allen Volkem gegeben, eine authentische nationale IdentWit zu erlangen. Genauer gesagt, ist diese Identitat bei anderen VOlkem mehr oder minder unterentwickelt, weil man sie vergessen oder vemachlassigt hat. Die einen, wie etwa die Amerikaner, besitzen iiberhaupt keine nationale Identitat, da sie eine kiinstliche Gemeinschaft sind, ohne Wurzeln, Tradition, ohne kollektive Erinnerung und ohne Seele. Bei anderen befindet sich die nationale Identitat in einem schlechten, verkiimmerten Zustand. Die Westeuropaer, dem Materialismus, Humanismus und Kosmopolitismus verfallen, haben nur noch eine irgendwie kranke, schlaffe, faule Identitat. Drittens schlieBlich sind andere wie die Kroaten, Albaner, Makedonier, Muslime, Bulgaren oder Rumanen Trager nationaler Ersatzidentitaten, und zwar deshalb, weil sie ihre wahre, d.h. die serbische Identitat mehr oder weniger gezwungenermaBen aufgeben mussten und eine fremde, erfundene nationale Identitat angenommen haben. Ein bekannter serbischer Historiker erklarte 1989, wie es in den vergangenen Jahrhunderten dazu kam: ,,Fremde Namen - albanische, bulgarische und andere - machten sich in den serbischen Landem breit, sogar injenen, die seit Menschengedenken serbisch waren. So wurden serbische Viehziichter und Soldaten Wlachen genannt, serbische Grenzer nannte man Kroaten. Serben, die verschiedene Berufe ausiibten, etwa Fuhrleute, machte man zu Bulgaren; serbischen Leibwachtem aber, Panduren und Wanderarbeitem, die aus dem Herzstiick ihres Vaterlandes herkamen, gab man den Namen Arbanasi. (Radovan Samardzic, 1989) Der Mangel einer authentischen national en Identitat bei diesen Volkem, die angeblich von den Serben abstammen, ist gemaB dem serbischen Mythos kein so hoffnungsloses Problem wie bei anderen Volkem. Es sei ihnen heute moglich, heiBt es, zu ihrem urspriinglichen Serbentum zurUckzukehren, das sie in der Tiefe ihrer Seele alle mit sich triigen. Diese Riickkehr wiirde es Volkem ohne echte Identitat ermoglichen, zu den tiefsten Wurzeln ihres nationalen Wesens zurUckzufinden, und damit waren natiirlich alle Bedingungen fUr eine gerechte und friedliche Beendigung der zwischen-nationalen Konflikte und Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien erfillit. Waren die katholisierten Serben (Kroaten), und islamisierten Serben (Muslime) bereit gewesen, zu ihren serbischen Wurzeln in Jugoslawien zurUckzukehren, batte es auch keinen Krieg gegeben. Der Kampf der Muslime gegen die Serben sei nicht nur vergeblich, sondem auch tragisch, wie ein Teilnehmer auf dem Zweiten Kongress der serbischen Intellektuellen in Belgrad 1994 meinte, denn er sei selbstmorderisch: ,,Die bosnischen Muslime konnen den Kampf gegen sich selbst, gegen den Serben in sich, nicht gewinnen." - so Maksim Korac in seiner These iiber die ,,Entserbung" als "groBere TragOdie denn die Schlacht auf dem Amselfeld". (7 Kap. I) Der Mythos behauptet, die Serben hatten als einzige das gottliche Geschenk der national en Identitat in angemessener Weise empfangen, was vor allem besagt, dass sie
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es durch kriegerische Heldentaten gerechtfertigt haben. Nur die Serben hatten begriffen, dass das nationale "Wesen" wichtiger sei als das Leben, dass es nur mittels Selbst· aufopferung bewahrt werden kann und erst durch den Tod bestiitigt wird. Dass sie bereit sind, fiir "das, was sie sind", alles zu opfem, hebt die Serb en angeblich unter allen anderen Volkem hervor und macht sie zu Gottem, dem Geschlecht der Heroen vergleichbar. Der politische Mythos stellt die Geschichte der heroischen Nation der Serben als einen stfuldigen Wechsel von rituellen Toden und Auferstehungen, Versuchungen und Hfutungen, Absonderung und Auslese dar, wodurch aus dem rohen Stoff des Volkskorpers die gereinigte Substanz der nationalen Identitat gewonnen wird. Diese Technologie sukzessiver rites de passage aus dem banalen Leben eines national noch nicht erwachten Volkes hinfiber in die Reihe der heroischen Nationen birgt hohe Materialkosten, die in Millionen Menschenleben veranschlagt werden. Nach einer solchen wlihrend des Krieges in Bosnien aufgemachten Rechnung mfissen die Serben fiir "das, was sie sind", mit sechs Millionen Menschenleben zahlen. Dieser Preis erscheint nicht zu hoch, denn das Individuum wird im Identitatsmythos zum einen lediglich als ein leicht austauschbares Exemplar der Nation betrachtet; zum anderen gilt ein gewohniiches, unheroisches Menschenleben diesem Mythos ohnehin fiberhaupt nichts. Die Nation kann nur gewinnen, wenn der Einzelne sich opfert. Es gibt keine Auferstehung ohne Tod! Diese Gestalt des serbischen politischen Mythos, die Figur des Identitiits-Gambits, hat der angesehene serbischer Dichter (Matija Beckovic) bereits 1978 in folgenden Zeilen ausgedriickt: "Ware keine einz'ge Schlacht geschlagen worden, / ware das Yolk groBer, doch was fiir ein Yolk? / Und besser war's, doch fiir wen?" Hatten die Serben sich nicht bedingungslos fiir ihre nationale Identitat geopfert, waren sie heute wie die Tschechen. Laut einem bekannten Philosophen und einflussreichen Ideologen der herrschenden Partei in Serbien besitztjenes Yolk namlich weder Freiheit noch Mut, da es systematisch dem Krieg aus dem Weg gehe und nur daraufbedacht sei, in Wohlstand zu leben. Dies alles ist angeblich eine verhfulgnisvolle F olge der ,,realistischen Schritte, welche die tschechische Fiihrung 1938,1939 und 1968 untemommen haben ... Jedes Mal nach einer Losung suchend, die den geringsten Schaden anrichten wiirde, haben die tschechischen Regierungen dreimal innerhalb von drei Jahrzehnten kapituliert. Jedes Mal wurde physischer Schaden vermieden - doch um den Preis des Verlustes von Freiheit, Mut, Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Dabei lasst sich physischer Schaden vielleichter beheben als letzteres." (Mihajlo Markovic, 1994). Vor und wahrend der kriegerischen Auseinandersetzungen 1991-1995 wurde der Mythos der nationalen Identitat, insbesondere der Topos des angeblich traditionell heilbringenden und heroischen Charakters der Serben von der Kriegspropaganda benutzt. Diese aktivierte oft das gesamte Arsenal der Folklore, sei es in Form bekannter Heroen und Situationen aus Heldenepen, sei es durch die Verwendung sprachlicher und stilistischer Mittel, in denen sich typische Folklore-Genres wieder erkennen lassen. Urn die Lust am Krieg, die UberhOhung der eigenen Nation und den nationalistischen Hass zu stimulieren, wurden viele alte Volkslieder fiber den Krieg, hauptsachlich TschetnikFolklore aus dem Zweiten Weltkrieg, den heutigen Gegebenheiten angepasst. Es wurden aber auch Lieder fiber die serbischen FUhrer und Kriegshelden in folkloristischem
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Stillanciert. Solche Lieder entstandenEnde der achtziger Jahre oderwllhrend des Krieges und liefen in den Sendungen der meisten Rundfunkstationen Serbiens, wobei ein Sender, Radio Ponos (Radio "Stolz"), ausschliel3lich Titel dieser Art ausstrahlte. 'Ober Politik, Krieg, Heldentum und so genannte nationale Themen im folkloristischen Stil zu reden, blieb in Serbien nicht nur volkstiimelnden Randkulturen vorbehalten. Auch Politiker, Schriftsteller, Philosophen, Geistliche und verschiedene andere offiziell beauftragte (befugte oder selbst ernannte) Forderer des nationalen Interesses und der serbischen Kriegsziele pflegten diesen Stil und schmiickten mit Vorliebe ihre kampferischen Tischreden mit Zitaten aus der Volksepik, garnierten sie mit Volksweisheiten und beriefen sich auf Schriftsteller, die sich urn die Erhaltung der traditionellen Volkskultur verdient gemacht hatten (Vuk KaradZic, Njegos). Diese Gestalt der Propaganda kann als kriegspropagandistischer Folklorismus bezeichnet werden. Die Tiicke dieses F olklorismus liegt darin, dass allein schon die traditionelle Form der Botschaften (etwa die Verwendung des zehnsilbigen epischen Verses, einer kodifizierten "Volks"-Sprache oder verschiedener sprachlicher Archaismen) die Idee vermittelt, alles, was iiber solche Botschaften verlangt, gewiinscht oder angeboten wird, stehe im Einklang mit den tiefsten Empfindungen der Volksseele, hier spreche somit die Stimme des Volkes, vox populi, und nicht die Stimme seines Herrn, his master's voice. Anders gesagt, dieser kriegspropagandistische Folklorismus hat zur Illusion beigetragen, die partikularen Interessen der Propagandisten des Krieges seien in Wirklichkeit die des Volkes, also nationale Interessen. Synchron wurde die symbolische nationale Integration angeboten, als Versammlung aller Berufe, aller Klassen, aller Regionen, aller Dialekte Serbiens in einem einzigen kampferischen Volkskorper, in einem nationalen kriegerischen "wir". Der Krieg erforderte neben der Mobilmachung auch andere Formen der Partizipation der Serben. Die Gestalt des Folklorismus sollte mithelfen, den Krieg als etwas darzustellen, wofUr das Herz eines jeden Serben schlagt, als eine Idee, die dem serbischen Yolk nicht nur eignet, sondern die ibm geradezu entsprungen ist. Zu einer verwandten Art kollektiver symbolischer Integration - die jede nationalistische Politik benOtigt, zumal, wenn sie fUr einen Krieg riistet -, kommt es durch die Figur des kriegspropagandistischen Mythologismus. Hier besteht der Trick darin, den Krieg unter dem Aspekt der Ewigkeit darzustellen, das heillt, in der 'Obertragung politischer, okonomischer Konflikte in die zeitlose Sphare des Mythos. Der Krieg in Kroatien und Bosnien-Herzegowina wird den Serben als lediglich eine weitere Episode des ewigen Kampfes mit ihren mythischen Gegnern prasentiert. Die serbischen HeIden bleiben im Grunde immer die gleichen, sie inkarnieren sich von einem Krieg zum anderen in unterschiedlichen historischen Personlichkeiten, also konnen die Serben darauf hoffen, dass ihnen immer eine jeweils neue Ausgabe der Obilic, Hajduk Veljko, Karadordevic oder anderer HeIden der nationalen Mythologie zu Hilfe eilen werden. Gleiches gilt fUr die Feinde der Serben, denn auch sie sind alte Bekannte, ,,Paschas" und "Ustaschas", wie sie in einem Folkloreschlager zu Beginn des Krieges kernig benannt werden, nur dass sie nun unter neuen historischen Umstiinden, in neuem Gewand auftreten. Diese Figur des kriegspropagandistischen Mythologismus taucht am biiufigsten in der Verbindung von aktuellen Kriegsereignissen und ihren Protagonisten mit
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dem Kosovo-Mythos auf. Es handelt sich dabei urn eine mytho-politische Aufbereitung der Legende fiber den Kampf der Serben gegen die Tiirken auf dem Amselfeld 1389. Serbische Kriege, Heldentaten und Leiden, gestem, heute und morgen sind allesamt nur Fortsetzungen der ewigen Auseinandersetzung auf dem Kosovo, immer die gleiche Niederlage in dieser Welt und der gleiche Sieg im Jenseits. Die Erwalmung von ,,Kosovo", dieses, wie Matija Beckovic sagte, "teuersten serbischen Wortes", hat eine zusatzliche semiologische Funktion: Das Wort signalisiert, im Folgenden wiirde fiber die den Serben heiligen nationalen Dinge geredet. Es verkiindet den Beginn des mythischen Diskurses. Der Mythologismus in der serbischen Kriegspropaganda diente auch dazu, dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien universale Bedeutung zu verleihen. Die serbischen Krieger in diesem Krieg werden als Kampfer dargestellt, die sich nicht ausschlieBlich fUr die sakrosankten nationalen Werte schlagen (den serbischen ethnischen Raurn, die serbische Orthodoxie, das "serbische Wesen"). Ebenso wenig werden ihre Gegner als Kampfer nur fUr die Interessen der anderen Volker, der Kroaten oder Muslime, dargestellt. Die wichtigste Funktion dieser Figur des kriegspropagandistischen Mythologismus besteht darin, die Bedeutung der kriegerischen Konflikte auf die Ebene universaler Werte zu heben, so dass "unsere" Kampfer angeblich nicht nur fUr sich kampfen, sondem fUr den Menschen und die Menschheit, was bedeutet, dass die auf der anderen Seite nicht nur Gegner der Serben, sondem der gesamten Menschheit sind. Es verwundert nicht, dass in der gesamten mythologischen Erziihlung yom Krieg die Gegner als Tiere, Bestien und Monster bezeichnet werden. Also wurde der Krieg im ehemaligen Jugoslawien als Krieg fUr die Verteidigung der Nation vor ewigen Feinden oder als Verteidigung der Menschheit vor dem Ansturm tierischer oder hollischer Krafie dargestellt. In beiden Fallen ist der Krieg eine dramatische Konfrontation zwischen den "Unsrigen" und den "Ibrigen", voller Gefahren, Ungewissheiten, Dulden und Leiden des Volkes, ein Opfertod fUr die hehren Ideale der Nation und der Menschheit. Die Kriegspropaganda schreckte zu keinem Augenblick davor zuriick, in exhibitionistischer Manier Schauplatze von Morden und Leichenberge fiber die Grenze des Ertraglichen hinaus zu zeigen. Diese Bilder wie auch die Berichte fiber Folterungen, Vergewaltigungen, Massaker und andere Leiden des serbischen Volkes hatten die Funktion, die Serben als das weitaus groBte, im Grunde einzige wirkliche Opfer des Krieges darzustellen, das "leidende Volk", "den Uberrest eines abgeschlachteten Volkes", wie ein Dichter und Akademiemitglied diese morbide patriotische Idee formuliert hat. Die Serben erleben heute ein UnglUck, wie es seinerzeit die Juden oder Armenier erlebt haben. Diese Gestalt der serbischen Kriegspropaganda kann als kriegspropagandistischer Viktimismus, also als ein Kult des Opfers zu propagandistischen Zwecken bezeichnet werden. Doch eine weitere Variante der serbischen Propaganda hatte eine vollkommen andere Aufgabe, namlich das Morden und die Grauel des Krieges als etwas Spannendes, Vergnfigliches - oder zumindest als normale Aktivitaten darzustellen. Diese Variante hat ihre Grundlage in der Figur des kriegspropagandistischen Euphemismus. Sie kommt in den Versuchen zum Ausdruck, den Krieg als Freizeitgestaltung zu begreifen, voller SpaB, Teamgeist und sportlicher Herausforderungen. Die Bilder lachender, sich urnar-
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mender Kiimpfer in Gesellschaft tapferer Journaiisten - Flachmarm mit Rakija in der Hand und gegnerische Fahne unter den Hillen - sol1ten suggerieren, der Krieg sei "total super". Hoffentlich dauert er auch noch eine Weile! Diese Idee wurde beispielsweise von dem Kriegs-Comic ,,Kninjas, die Ritter der Kniner Krajina" (Belgrad 1991) iiber die Heldentaten der Kiimpfer um Knin forciert. In Wort und Bild werden die verschiedenen, immer Wcihrenden Annehmlichkeiten des Krieges fUr jeden Geschmack prasentiert: Das Leben in der Natur, FuBmiirsche, Heldenlieder, kumpelhafte Frotzeleien, die Gesellschaft attraktiver Madchen mit viel Sexappeal, vom Ferkel am SpieB und dem guten Tabak ganz zu schweigen. Die zweite Variante, bei der Krieg verharmlost und zu etwas Anziehendem wurde, bildeten Erziihlungen und Bilder vom Krieg, welche die Teilnahme am Krieg und die kiimpferischen Mutproben als Gelegenheit zeigten, die eigene M1innlichkeit unter Beweis zu stellen. Diese Gestalt des kriegspropagandistischen Erotismus verwandelt den Kampf fUr die nationale Sache in etwas, was nicht nur als patriotisch und human, sondern auch als sehr m1innlich gilt. Der Krieg ist nichts fUr Schwiichlinge, sondern etwas fUr richtige, groBe Manner, die vor Vrrilitat strotzen. Mut zu zeigen und die Bereitschaft, sich allen Gefahren auszusetzen, die der Krieg mit sich bringt, bedeutet die groBte aller Herausforderungen und den hOchsten Beweis der eigenen Miinnlichkeit. So wird beispielsweise in einer Reportage der bosnisch-serbischen Zeitschrift Javnost am 12. 9.1994 von einem fUr serbische Kiimpfer besonders geflihrlichen Stadtteil Sarajevos berichtet, den ,,nur jene Kiimpfer betraten, die wussten, was sie zwischen den Beinen tragen". Kriegspropaganda, vor allem aber die propagandistische Aufforderung, zur Fahne zu eilen, wurden oft mit diesem Argument begriindet: es stellte die Kriegsteilnahme der Initiation, der Aufuahme in die Welt erwachsener Manner gleich. Diejenigen, bei denen die Geschichten von Kriegsspass und kriegerischer Virilitat nicht gut ankamen, konnten ihren Glauben der Idee schenken, der Krieg sei - ExtremfaIle der eigenmachtigen Abweichung von Pliinen und Befehlen ausgenommen - eine geradezu hochtechnologische Angelegenheit, eine von Profis geleitete rationale Operation, bei der die Beherrschung und Steuerung bestimmter Instrumente im Mittelpunkt steht. Ein solches Bild des Krieges wurde durch die Figur des kriegspropagandistischen Professionalismus unterstUtzt. Diese kommt in der Gestalt des Kriegshelden Kapetan Dragan zum Ausdruck, der zu Beginn des Krieges gegen Kroatien in den serbischen Medien auftauchte. Ein Marm mit diesem Namen und obskurer Biographie, war Ende 1991 militiirischer Berater der kroatischen Serben in der Krajina gewesen. Die serbische Kriegspropaganda machte aus ibm einen tadellosen serbischen Offizier und Gentleman: Der Krieg sei zwar sein Beruf, doch er moge ihn nicht besonders, trage keine Waffen, habe nichts gegen Kroaten, nur seien die Serben eben im Recht, bei ibm gehe es nicht um Hass, er unterweise seine Leute nicht, den Feind zu toten, sondern ihn ,,zu neutralisieren", und auch das hOchst ungern, eben nur, wenn es wirklich sein miisse. Uber den ,,Kapetan" wusste die Propaganda zu berichten, der ideale Krieg sei fUr ihn der ohne Opfer, ein Krieg der Profis, in dem man fUr jeden Angriff eine effiziente Verteidigung finde, in dem es weder Verletzte noch Tote gebe, sondern alles mit Materialverlusten und dem verdienten Urlaub fUr die Krieger beendet sein werde. Dabei ist der Sieg natiirlich immer unser, nur handelt es sich dabei um einen Sieg nach Punkten.
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Die mythischen ErzahlWlgen fiber die kriegerische Identitat der Serben, die verschiedenen Figuren in der offentlichen Komml.lllikation fiber Krieg, Tod, Nation Wld Heroentum, die oben vorgestellt wurden, waren zur Zeit des Krieges im ehemaligen Jugoslawien nicht nur Element der Kriegshetze, Wld sie dienten nicht nur der MobilisiefWlg der Serben zur Unterstiitzung des Krieges. Sie dienten auch als Propagandamittel des Regimes in Serbien, das damit beschiiftigt war, seine Position im Land zu festigen. Wie fUr alle anderen ehemals realsozialistischen Staaten bedeutete der Zerfall des bisherigen Systems das Ende der GeltWlg eines bestimmten symbolischen Herrschaftsparadigmas und den Beginn des Kampfes urn die EtabliefWlg einer neuen Symbolik und deren Kontrolle. Andererseits lasst sich die symbolische Kommunikation in der politis chen und der militiirischen Propaganda, die hier in den Figuren kriegerischer Identitat und der Kriegspropaganda dargestellt wurde, nicht nur auf eine Reihe von Mal3na1nnen und Mitteln reduzieren. Sie existiert nicht nur zum Zwecke von etwas anderem - etwa der Verwirklichung pragmatischer, "greifbarer", politischer oder Kriegsziele, also zum Beispiel zur Erringung politischer Macht, territorialer ErweitefWlg, Kontrolle fiber okonomische Ressourcen oder zur BereichefWlg der neuen herrschenden Elite. Vorstellungen, Ideen, Phantasmen, Tabus und Fetische, we1che die symbolische politische Kommunikation in Gang setzt und inszeniert, sind Teil eines Reiches symbolischer Macht, urn die sich die politische Herrschaft nicht minder bemiiht. Die politische Herrschaft hat im GfWlde keine Wahl. Sie muss das irdische genauso wie das himmlische Reich beherrschen. Dies gilt auch fUr das Regime in Serbien und dessen Bediirfnis, nicht nur Armee, Polizei, Wirtschaft und Staat zu kontrollieren, sondem an seinem Schlfisselbund auch die Schliissel der symbolischen Macht zu tragen. Wiihrend des Krieges 19911995 formte sich diese Macht, wie uniiingst bemerkt wurde, zu einer Ethnokratie als Kontrolle fiber Symbole und Kultformen der Ethnonation.
Deutsch von Nenad Stefanov Literatur A1lgemein: Es gibt kaum umfassende und vergleichende Studien zur Thematik der politischen Mythen im siidslawischen Raum, wie es auch noch wenig Untersuchungen zu den Stereotypen des Westens iiber diesen Raum gibt. Die Grundmotive der politischen Mythologien beleuchtet Ivo Zanic in Prevarena povijest, Zagreb 1998 (Betrogene Geschichte). Verschiedene Aspekte behandelt in sehr strukturbezogener Weise Dagmar Burkhart, Kulturraum Balkan: Studien zur Volkskunde und Literatur Siidosteuropas, Hamburg 1989. Heranzuziehen ist femer: Klaus Roth, (Hg.), Siidosteuropiiische Popularliteratur im 19. und 20. Jahrhundert, Miinchen 1993. Zur Entstehung und Entwicklung von nationalen Ideologien: Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia, ComeIl University Press 1984 und: Charles Jelavich, South Slav Nationalism - Textbooks and Yugoslav Union before 1918, Ohio State University Press 1990, eine wichtige Ubersicht des symbolischen Kapitals, das die gebildeten Schichten der Slowenen, Kroaten und Serben in den gemeinsamen Staat einbrachten. Besonders wichtig sind Texte aus den kroatischen und serbischen Schulbiichem, die sich auf Bosnien-Herzegowina beziehen und die RoIle widerspiegeln, die die islamisierte Bevolkerung imjeweiligen nationalen Imaginarium hatte.
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Kroatien: Da das kroatische nationale Pantheon ziemlich diversifiziert ist, gibt es eine Reihe von Untersuchungen zu einzelnen Symbolfiguren. Ober den Wandel des Bildes Konig Tomislavs siehe Ivo Goldstein ,,0 Tomislavu i njegovu dobu", in: Radovi instituta za hrvatskupovijest 1811985 (Uber Tomislav und sein Zeitalter). Zur Errichtung des Tomislav-Denkrnals in Zagreb 1924-1947 siehe: Mira Kolar-Dimitrijevie, "Povijest gradnje spomenika kralju Tomislavu u Zagrebu", in: Povijesni prilozi 1611997 (Die Geschichte der Erbauung des Tomislav-Denkrnals in Zagreb). Ober Konig Zvonimir und die Legende seines F1uches siehe: Ivo Goldstein, "Kako, kada i zaSto je nastaia legenda 0 nasilnoj smrti kralja Zvonimira. Prinos proucavanju mehanizma nastajanja legendi u hrvatskom srednjevjekoVllom dru§tvu", in: Radovi instituta za hrvatsku povijest 1711984 (Wann, warum und wie die Legende iiber den gewaltsarnen Tod des Konigs Zvonimir entstanden war. Ein Beitrag zur Erforschung des Mechanismus der Legendenbildung in der kroatischen mittelalterlichen Gesellschaft). Aktuelle Variationen des Zvonimir-Themas behandelt Ivo Zanie, "Zvonimir na remontu. Politika kao pucka knjiZeVllost", in: Erasmus 1511996 (Zvonimir in der Reparaturwerkstatt. Politik als Volksliteratur). Ober die Entstehung des Mythos von Nikola Subie Zrinski siehe: Milivoj Srepel, "Sigetski junak u povijesti hrvatskog pjesnistva", in: Rad JAZU 14811902 (Der Held von Siget in der Geschichte der kroatischen Dichtung). Zu Matija Gubec: siehe Ivo Zanie, "Na§ najdraZi seljacki sin. Socijalno porijeklo kao izvor politickog legitimiteta", in: Erasmus 26/1998 (Unser liebster Bauemsobn. Die soziale Herkunft als Quelle der politischen Legitimation). Ober Kroatien als Schutzwall des Westens bzw. Briicke zwischen Ost und West in der ersten Hiilfte der Jahrhunderts siehe: Ivan Muzie, "Ideje Zapada i Istoka u Hrvata" (Ideen des Ostens und Westens bei den Kroaten) Kolo 9/1970. "Eine Obersicht der kroatischen kulturellen und politischen Mythen, die im Zusarnmenhang des letzten Krieges, vor allem unter dem Titel "Golgotha des kroatischen Volkes" entstanden sind, bietet: Aleksandar Flaker, Rijec, slika. grad, HAZU Zagreb 1995 (Wort, Bild, Stadt). Bosnien: Zu den bosniakischen nationalen Mythen gibt es bislang keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Das Thema wird - meistens im Zusarnmenhang mit der Bogumilen-These - in Gesarntdarstellungen mitbehandelt. Siehe: Noel Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt 1996; Ivan Lovrenovie, Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte, Wien, Bozen 1998; Smail Balie, Das unbekannte Bosnien. Europas Briicke zur islamischen Welt, Koln, Weimar, Wien 1992. In seiner Untersuchung iiber die Volksepik und den Heiduckenkult unter dem (oben angefiihrten) Titel "Betrogene Geschichte" behandelt Ivo Zanie parallel zu den kroatischen und serbischen auch die bosniakischen Traditionen. Zur nationalen Mythenbildung empfehlenswert: Muhsin Rizvie, Bosansko-muslimanska knjiievnost u dobapreporoda 1887 -1918, Sarajevo 1990 (Bosnisch-muslimische Literatur in der Zeit der Wiedergeburt). Wichtig zur Frage der Grabsteine (steeci) von Marian Wenzel, "Bosnian Tombstones - who made them and why", in: Siidost-Forschungen Bd. 21 (1962), S. 102-143. Aktuellere Themen bei: Rusmir Mahmutcehajie. Dobra Bosna, Zagreb 1997 (Das gute Bosnien); Muharned Filipovie, Bosnjacka politika, Sarajevo, 1996 (Bosniakische Politik). Serbien: In der serbischen Mythologie hat der Kosovo-Mythos eine iiberragende Stellung, so dass die historischen Legenden und ihr Personal fast ausschlieBlich urn ibn kreisen. Dariiber: Philip Cohen, Serbia 's Secret War: Propaganda and the Deceit of History, College Station, Texas, 1996; T.A. Emmert, Serbian Golgotha: Kosovo 1389, New York 1990. Noel Malcolm hat mit reichem Quellenmaterial die Mythen iiber die Kosovo-Schlacht und den "Massenexodus" der Serben griindlich in Frage gestellt: Kosovo. A Short History, London 1998. Fiir die Analyse der Entstehung des Kosovo-Mythos siehe: Miodrag Popovic, Vidovdan i casni krst. Ogled 0 knjiievnoj arheologiji, Belgrad 1976 (1973) (St. Veitstag und das ehrwiirdige Kreuz. Abhandlung iiber literarische Archilologie) Vgl. auch die Sarnmelbande: Kosovski boj u knjiievnom i kulturn om nasleilu. Naucni sastanak slavista u Vukove dane, Belgrad 1991 (Die Kosovo-Schlacht in der literarischen und kulturellen Tradition. Wissenschaftliche Tagung der Slawisten an den Vuk-Tagen.) und das von der serbischen orthodoxen Kirche herausgegebene Sveti knez Lazar- Spomenica 0 sestoj stogodisnjici kosovskog bOja 1389 -1989, Belgrad 1989 (Der heilige FOrst Lazar. Gedenkschrift zum 600. Jahrestag der Kosovoschlacht). Ober die Kosovo-Mythologie in der Tschetnik-Bewegung siehe: Jozo Tomase-
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19. Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda
vich, The Chetniks: War and Revolution in Yugoslavia, 1941 -1945, Stanford 1975. Wichtig sind die Beitrage des ursprllnglich in Belgrad 1996 unter dem Titel Srpska strana rata erschienenen Bandes von Th. Bremer, N. Popov, H.-G. Stobbe (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufriistung, Berlin 1998: iiber die Rolle des Kosovo-Mythos in der nationalistischen Mobilisierung: Olga Zirojevic, .,Das Amselfeld im kollektiven Gedlichtnis". ebd.• S. 45 -62. zur Emeuerung des Mythos durch die Kirche: RadmilaRadic••,Die Kirche und die .serbische Frage.... ebd.. 183 -203. sowie dort auch ober die wichtigste Tageszeitung Serbiens und ihre Hinwendung mID Populismus in den 80er Jahren: Latinka Perovic, .,Flucht vor der Modernisierung", S. 479 -489. AuJ3erdem: Ranko Bugarski, Jezik od mira do rata, Belgrad 1995 (Die Sprache vom Frieden zum Krieg) und Veselin Cajkanovic, Mit i religija u Srba, Belgrad 1973 (Mythos und Religion der Serben). Ober die moderne politische Folklore siehe die Studien: Ivan Colovic, Bordell der Krieger. Folklore, Politik und Krieg, Osnabrilck 1994; ders., Pucanje od zdravlja, Belgrad 1994, (Strotzend vor Gesundheit), ders., Politika simbola. Ogledi 0 politickoj antropologiji, Belgrad 1997 (Politik der Symbole. Beitriige zur politischen Anthropologie). Ferner: Neboj§a Popov. "Srpski populizam. Od marginalne do dominantne pojave" (Der serbische Populismus. Von einer marginalen ZII einer dominierenden Erscheinung), Sonderbeilage ZII Vreme, 24. Mai 1993. Eine Analyse des serbischen Opfermythos und der Gleichsetzung des jOdischen mit dem serbischen Schicksal bietet Pascal Bruckner, Ich leide, also bin ich, Weinheim, Berlin 1996, ausfOhrlicher in der Zeitschrift Esprit. August/September 1994. Schliisseltexte mID serbischen Nationalismus: Maksim Kome••,Rasrbljivanje - veea tragedija od kosovske pogibije", in: Srpsko pitanje danas, ,,Die Entserbung - eine grOBere TragOdie als die Schlacht auf dem Amselfeld". in: Die serbische Frage heute, Belgrad 1995), Mihajlo Markovic, "Na§e duhovne vertikale 1989", in: Osporavanja i angaiovanja, (Anfechtung und Engagement) Ausgewiiblte Werke, Belgrad 1994, Bd. 8. Radovan Samar~ic, 1deje za srpsku istoriju (Ideen zur serbischen Geschichte), Belgrad 1989.
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Die besondere Rolle der Medien Wcihrend der Kriege im zerfallenden Jugoslawien sprang friih ins Auge und wurde zum Gegenstand mehr oder minder systematischer Untersuchungen. Vergleichende Studien, wie vor allem in Mark Thompsons bekanntem Buch Forging the War, stellten bei den Konfliktparteien propagandistischen Missbrauch der Medien fest; von einer Parallelitat beider Seiten kann jedoch mitnichten gesprochen werden: Der Missbrauch der Massenmedien in Serbien erweist sich bis heute als singular. Einige folgenreiche Tendenzen in der jugoslawischen Offentlichkeit seien hier an wichtigen historischen Knotenpunkten dargestellt.
20.1. Massenmedien im Dienste des ideologiscben Konsenses Anders als in offenen Gesellschaften, wo die Funktion der Massenmedien yom Wesen der medialen Kommunikation und von kommunikativen Prozessen bestimmt wird, versuchen totalitare Herrscher die Medien als Herrschaftsinstrument zu benutzen, wodurch ebenjenes Wesen, welches in der Unterbrechung der direkten Kommunikation liegt, ins Gegenteil verkehrt wird. Durch das ,,zwischenschalten" des Mediums kann ,,keine Interaktion unter Anwesenden, zwischen Sender und Empfanger stattfinden" (N. Luhmann). In der unmittelbaren Kommunikation dagegen kann der Urheber der Mitteilung die Reaktion der Zuhorenden kontrollieren und beeinflussen. Auf dem Wege der technischen Herstellung des Mediums (Buchdruck usw.) verselbstandigt sich die Information gleichsam, Rezeption und Reaktion des Empfangers entziehen sich der Kontrolle durch den Sender. Das macht auch das Paradox der Massenmedien in totalitaren Gesellschaften aus: Einerseits unverzichtbar fur die Erlangung und Stabilisierung der Macht ohne demokratische Prozeduren, sind sie in ideologisch legitimierten Diktaturen andererseits ihrem Charakter nach immanent subversiv. In Jugoslawien kam durch den Bruch mit der So\\jetunion 1948 ein weiterer Widerspruch hinzu. Die jugoslawischen Massenmedien wurden von diesem ideologischen Erdbeben erschiittert und standen vor weitaus schwierigeren Problemen als die nach wie vor durchweg kanonisierten Medien in den iibrigen Landem des Ostblocks. Unter anderem musste auch die Abtri.innigkeit als eigentliche Rechtglaubigkeit interpretiert werden. Das alles hatte weit reichende Folgen fur aIle Medien bzw. fur die Kommunikation iiberhaupt. Jugoslawiens Exkommunikation aus dem Reich der kommunistischen Rechtglaubigkeit lieB im Land zwangsliiufig einen Meinungspluralismus bei der Deutung des kommunistischen Dogmas entstehen. Die Lehre des Marxismus-Leninismus musste dabei ohne "Stalinismus" auskommen und ihren Absolutheitsanspruch trotzdem bewahren. Schon 1953 erschien eine polemische Artikeiserie im kommunistischen Zentralorgan, der Tageszeitung Borba, worin der friihere Dogmatiker Milovan ·mIas,
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gewissermaBen a1s erster Dissident, aber noch a1s ZK-Mitg1ied die neue kommunistische Elite (,,neue Klasse") kritisierte, sie habe die Ideale der Revolution verraten. Es war weniger der Inhalt seiner Polemik als vielmehr das Faktum, dass er im eigenen Namen offentlich Kritik iibte, was zu seinem Ausschluss aus dem ZK und danach auch aus der Partei, zu Repressionen und Publikationsverbot fiihrte. Dilas, der erst danach begann, die kommunistische Idee zu kritisieren, war damit aus dem konsenspflichtigen System der Kommunikation ausgeschieden, ohne ,mit uns die Angelegenheit vorher diskutiert zu haben', wie Tito sich ausdriickte. Nach dem Bruch mit Stalin wurden kritische Beitriige iiber das sowjetische System, Berichte iiber dessen Lager und die "grofie Siiuberung" veroffentlicht. In der So\\-jetunion selbst mittlerweile geiichtete Literatur (etwa die friihen satirischen Romane von Hf und Petrow) wurde verlegt, ebenso polemische Aufsiitze gegen den Stalinismus (vor allem gegen die Asthetik des sog. Sozrealismus), aber auch Erinnerungsliteratur voll hochbrisanter Informationen (z.B. "Der Roman eines Romans" von Erwin Sinko, Novi Sad 1956). Diese antistalinistische Ara in der jugoslawischen Offentlichkeit stand im Zeichen der Verteidigung des Landes gegen die so\\-jetische Bedrohung. Der ,,kritische" Diskurs war streng ritualisiert, echte offentliche Diskussionen und eine freie Aussprache waren ausgeschlossen; und bald schon verschwanden die Themen samt ihrer potentiellen Subversivitiit fUr das eigene System in der Versenkung. Der einheitliche Diskurs blieb durch diese Scheinpluralitiit unberUhrt. Seit den sechziger Jahren wurden neue Hochschulen, Fakultiiten der politischen Wissenschaften - 1etztlich Kaderschulen der Partei - gegriindet und da auch Abteilungen fUr die Journalistenausbildung eingerichtet. Die Journalisten mussten eine gewisse Wendigkeit im Umgang mit Informationen entwickein, urn die Differenz zum Ostblock zu pflegen. Die Nachrichten - gerade westlicher Herkunft - wurden ideologisch priipariert, aber nicht so grobschliichtig wie im So\\-jetblock. Diese Gratwanderung war charakteristisch fUr alle Medien - von den Biichem iiber Zeitungen, Zeitschriften bis zu den elektronischen Medien. Eine grofie Rolle spieite die Griindung marktorientierter Abendzeitungen (1959 Veeerrifi list in Zagreb, die mit der Zeit die hOchste Auflagenzahl erreichte, danach iihnliche Bliitter in anderen Hauptstiidten; in Belgrad Politika ekspres 1963), die eine Abkehr von den "Bleiwiisten" der ideologisch ausgerichteten "seriosen" Parteipresse bedeuteten. Nicht nur fiel das Layout durch einen stiirkeren Bildanteil auf, auch die Thematik wurde abwechslungsreicher und die Sprache iiberwand streckenweise die Parteiphrasendrescherei. Doch blieb die offentliche Sphiire gekennzeichnet durch die Mischung aus dosierter Freiheit und steten Eingriffen der Obrigkeit, so dass eine echte Kommunikation und die geseHschaftlich notwenige Diskussion nie stattfinden konnten. Einen Versuch, den offentlichen Diskurs zu iindern, untemalnn man Ende der sechziger Jahre in Zagreb. Damit verband sich eine neue literarische Sprache, die sich an den zeitgenossischen Kunststromungen im Westen orientierte und neue MaBstiibe setzte. Diese Bewegung, die sich wiihrend des sogenannten ,,kroatischen Friihlings" vor aHem in der kurzlebigen Zeitschrift Hrvatski tjednik bemerkbar machte, wurde Anfang der siebziger Jahre politisch erstickt. Dabei fiihrte nicht nur Repression, sondem auch die Uberlagerung des Diskurses mit nationalen Themen dazu, dass diese Ansiitze auf die
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Strukturen nicht verandernd einwirken konnten. Ende der siebziger Jahre sickerte vor aHem in die slowenische und serbische Offentlichkeit ein neues Vokabular ein. Wichtig war dabei das sozialistische Phiinomen der Jugendpresse. Viele Jugendorganisationen (z.b.der Bund der Studenten oder der Jugoslawische Bund der Jugend) hatten ihre Presse, und diese Zeitungen oder Zeitschriften wurden am hliufigsten mit Verboten belegt, obwohl ihre redaktionelle Besetzung ganz streng von der Partei kontrolliert war.
20.2. Der Strukturwandel der slowenischen OtTentlichkeit Mitte der achtziger Jahre wurden in der slowenischen Jugendpresse Fragen gestellt, die von einem fundamentalen Perspektivenwechsel zeugten. Das fing mit der schlichten Frage an, warum es in Jugoslawien keinen Zivildienst gebe. Diese naiv wirkende Frage war Vorbote einer Zivilgesellschaft und traf die heiligste aller jugoslawischen heiligen Kiilie, die NA. Mit schlichten Fragen beginnt der Prozess der Entzauberung. Freilich waren auch handfeste Motive im Spiel: Der immer stiirkere Einfluss der serbischen Sprache auf das Slowenische wirkte zunehmend irritierend. In der Armee sprach die Dominanz des Serbischen alIer proklamierten sprachlichen Gleichberechtigung in krasser Weise Hohn. Wlihrend die als nationalistisch geltende Kulturzeitschrift Nova revija die Sprachenfrage entlang der verfassungsmiiBig garantierten Gleichberechtigung erl)rterte, widmete sich die immer aufinupfigere Mladina bald der Entlarvung von massiveren Missstiinden in der Armee. Ein legendares Editorial unter dem Titel Mamula go home hielt Verteidigungsminister Branko Mamula seinen Athiopienbesuch vor, bei dem er Waffen verkaufte, von denen anzunehmen war, dass sie in Eritrea eingesetzt wiirden. Kurz danach verl)ffentlichte Mladina ein Dossier fiber den Bau von Mamulas Villa durch NA-Soldaten. Solche Berichte wirkten wie Bomben. Die Armeefiihrung versuchte nach kurzer Lilhmung, den ,,konterrevolutionaren" Feind bloBzustellen, indem sie von ,,Angriffen auf die allgemeine Volksverteidigung, die NA und den Staatssicherheitsdienst" berichtete. Diese Angriffe seien nur "ein Etappenziel"; das Hauptziel aber sei die ,,zerschlagung Jugoslawiens" und seiner "sozialistischen Ordnung" (Ali Zerdin). Die autoritiire Rhetorik war entlarvend: ,,Es werden die schlimmsten Beleidigungen gegenuber dem Bundessekretar fiir Volksverteidigung geauBert". Statt zu argumentieren, wiederholte das Verteidigungsministerium die Charakterisierung Mamulas durch die Mladina, dieser sei "Verkaufer von Tl)tungsinstrumenten", ,,Militarist", ,,Handler mit dem Tod" etc. - in der Erwartung, dass das Publikum jede dieser Bezeichnungen als unerMrten Skandal empfinde. Diese Affare leitete in Slowenien eine kommunikative Wende ein, die auch dem sprachlichen Ungeschick der Armee- und anderer kommunistischer Sprecher zu verdanken war. Allm1ihlich wurde klar, dass der offizielle Diskurs nur in einem ideologischen Konsens galt, den man aber nicht mehr voraussetzen konnte. Der ideologische Konsens lieB sich nur unter Aufhebung der fiir Massenmedien eigentiimlichen Kommunikationsunterbrechung herstellen, durch direkte Kommunikation in den Schulen (oft ab dem Vorschulalter), an Hochschulen, in Betrieben, Parteiorganisationen und im Militiirdienst. Die allgegenwlirtige Parteikontrolle erzeugte in allen Schichten den ideo-
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logischen ,,Konsensus", d.h. eine Art Sinnkanon, der klarmachte, wie etwas zu verstehen ist, und verhindem sollte, dass gewisse Informationen subversiv wirkten. Plotzlich funktionierte das nicht mehr. So entstand fUr die kommunistischen Funktionseliten in Slowenien im System ein unlosbares Problem. Es wurde ihnen klar, dass ihre Glaubwiirdigkeit in rasendem Tempo dahinschwand, wobei zum ersten Mal in der Geschichte des real existierenden Sozialismus die Konstellation aufgetaucht war, dass die Glaubwiirdigkeit der Herrscher politische Bedeutung bekam. Die slowenischen Kommunisten versuchten die Offentlichkeit mit einer partiellen Liberalisierung zu beschwichtigen. Doch die Situation spitzte sich zu, weil das Verteidigungsministeriurn - jetzt unter seinem neuen ChefVeljko Kadijevic - den Druck verschlirfte. Kadijevic erklarte auf einer auBerordentlichen ZK-Sitzung, es handle sich in Slowenien urn eine ,,Konterrevolution" und zitierte dabei die Einschatzung der CIA, wonach man im Zusammenhang mit der Mladina von einer "emst zu nehmenden, der polnischen Solidarnosc vergleichbaren Bewegung" sprechen koone. Somit seien in Slowenien alle Voraussetzungen fUr die Verhangung des Ausnahmezustands erfiillt, folgerte Kadijevic. Der Diskurs iinderte sich also dadurch, dass man Informationen in die Offentlichkeit brachte, die das System nie als Information zu betrachten bereit war. Die Herrschenden im totalitaren System sind nicht etwas, woriiber informiert wird, sondem nur Objekte streng ritualisierter Huldigung. Ein anderes wichtiges Thema, das zum ersten Mal in der slowenischen Jugendpresse auftauchte, waren die politischen Gefangenen. Mit all dem wurde der Anspruch auf ein elementares Recht angemeldet: das Recht der BUrger, richtig und sachgemii13 informiert zu werden, damit aber zugleich der Anspruch des BUrgers iiberhaupt auf "das Recht, Rechte zu haben" (Hannah Arendt). Also scherten diese Medien aus der ritualisierten Konsenspflicht aus und begannen ein Bild der Realitat zu vermitteln, das nicht mehr durch leere Symbolik und Freund-Feind-Schemata verzerrt war. Nachdem Slowenien als selbstiindiger Staat anerkannt war, transformierten sich die dortigen fiihrenden Medien (die Tageszeitungen Delo, Ljubljana, Vecer, Maribor und die elektronischen Medien) ebenso erfolgreich und unspektakuliir wie die anderen Bereiche der Gesellschaft. 20.3. Die "Pressefreiheit" in Serbien
Die riihrigste Dissidentenszene gab es in den achtziger Jahren in Serbien, genauer: in Belgrad. Der dissidente Diskurs, der in den Kultur- und Jugendzeitschriften (Knjiievna rec, Knjiievne novine, Student) und mehr noch in den Belgrader Foren wie dem Studentenzentrum und dem Schriftstellerverband, der beriihmt-beriichtigten ,,Francuska(straBe) 7", urn sich griff, kritisierte alles mogliche - am liebsten den Tito-Kult, vor allem nach Titos Tod. Fragen des Militllrs, die Missstiinde in der Armee oder gar die Idee einer Alternative zum Wehrdienst, wie man sie in Slowenien diskutierte, wurden allerdings nie zum Thema. Diese Zuriickhaltung sollte bis in die Kriege der neunziger Jahre hinein gewahrt bleiben. Die iibermachtige NA, ihre verfassungswidrige Position im Staat und selbst die Einmischungen der Armeespitze in die Politik blieben von der Kritik in der Regel ausgenommen. Freilich war im Miirz 1991 die dann schon opposi-
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tionelle Szene entriistet, als der Verteidigungsminister Kadijevic im Einvernehmen und im Auftrag Milosevics und des Vorsitzenden des Staatspriisidiums Borisav Jovic in Belgrad bei Demonstrationen gegen das eigene Yolk Panzer einsetzte. Trotzdem teilten viele prominente Oppositionelle Milosevics Meinung, dass Biirgerproteste und Demonstrationen zu einer Zeit, da man gegen die "antiserbische Koalition" k!impfen mUsse, "die Lage destabilisieren". Als die Armee gegen Slowenien marschierte, identifizierte sich die Opposition weitgehend mit dieser Aktion, und als der populare Dichter Matija Beckovic wiihrend des Krieges in Slowenien im serbischen Fernsehen sagte, der Tod eines Slowenen "beriihre ihn nicht mehr als der Tod einer Robbe", emporten sich nur einige Intellektuelle wie der Schriftsteller Mirko Kovac, der fiber diese Sendung mehrmals berichtete (Vjesnik, 20.6.1992). Die grofite Aufmerksamkeit wurde in der serbischen Dissidentenszene neben dem Thema Kosovo dem Zweiten Weltkrieg und den Verfolgungen zuteil, die Titos tatslichliche oder vermeintliche Gegner erlitten, bis hin zu Haft und Folter im beriichtigten Gefangnis Goli olok, der ,,Kahlen Insel" in der Adria. Die Frage der Demokratie verband sich mit mehr oder minder revisionistischen Projekten. (~Kap. 14) Ab 1985 machte sich dieser Diskurs auch in der breiteren Offentlichkeit bemerkbar. Da die Themen zunlichst in miindlicher Kommunikation behandelt wurden, trugen sie deren Charakteristika - Autoritat des Redners und beschriinkte Uberpriifbarkeit der Information - in die schriftliche Version mit hinein. Die dissidenten Medien in Serbien sind nie zu Foren der offenen Diskussion geworden. Sie sind eigentlich auch nur bedingt als "dissident" zu bezeichnen; die meisten Redakteure und Autoren blieben weiterhin Parteimitglieder, machten aber den inoffiziellen Diskurs bzw. die nationalen Themen publik. Eine exemplarische Karriere veranschaulicht diesen Prozess: Milorad Vucelic, in den achtziger Jahren ein agiler Kulturfunktioniir, Journalist und Redakteur von Kulturzeitschriften, verstand es, die Parteilinie zu verteidigen und gleichzeitig anzuecken. Dabei zeigte er schon friih die Neigung, Polemiken mit anders denkenden Autoren wie skrupellose Abrechnungen mit dem Feind zu fiihren: So beantwortete er als Chefredakteur von Knjizevne novine den nfichtemen, auf solider Argumentation beruhenden Diskussionsbeitrag des kosovo-albanischen Soziologen Shkelzen Maliqi zu einem von den Nationalisten aufgebllihten Fall angeblich ethnisch motivierter Drangsalisierung (,,Fall Dorde Martinovic") mit einer unsachlichen Breitseite voller Unterstellungen und personlicher Beleidigung. Als schillemder Halbdissident fand Vucelic geeignete Posten im System Milosevic. Die Kronung seiner Karriere erreichte er als Chef des Serbischen Fernsehens (RTS) wiihrend des Krieges gegen Bosnien, und er bewerkstelligte die ibm aufgetragene Kriegspropaganda so gut, dass er nach Dayton von Milosevic entlassen und aus dem Vorstand der SPS ausgeschlossen wurde, da nunmehr Frieden angesagt war. Generelliasst sich sagen, dass sich die Medien der serbischen Dissidentenszene die Freiheit erklimpften, fiber so genannte Themen der Nation zu sprechen - oder eher zu lamentieren. Damit wurden sie zu Trligem der ,,serbischen Kulturrevolution" (paul Garde). Die eigentliche Wende in der serbischen Offentlichkeit kam mit der Gleichschaitung der wichtigsten Medien mit dem Kurs von Milosevic nach seiner putschartigen Machtergreifung. Zunachst benutzte er die Medien fUr die Abrechnung in den ei-
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genen Reihen zur Zeit der sogenarmten "antibtirokratischen Revolution", die in Wirklichkeit der Unterwanderung der Institutionen durch Milosevics Kader diente. Die wichtigsten Instrumente dabei waren die Tageszeitung Politika und das Fernsehen. Urn die rabiate Propaganda im Sinne Milosevics zur Wirkung zu bringen, griindete der Chefredekteur der traditionsreichen serbischen Tageszeitung und Direktor des gleichnamigen Verlagshauses Zivorad Minovic die neue Rubrik "Odjeci i reagovanja" (Echo und Reaktionen), wo - oftmals bestellte - Leserbriefe veroffentlicht wurden, die "den Zorn des serbischen Volkes" dokumentieren sollten. Zwischen Juli 1988 und Miirz 1991 diente diese Rubrik "einem chauvinistischen Feldzug ... gegen politische Gegner ... und ganze Volker" (Aleksandar Nenadovic). Wer im Hause Unmut auBerte, wurde gefeuert. So wurden bald auch andere Periodika (wie die Abendzeitung Politika ekspres, das Nachrichtenmagazin NIN, die Illustrierte Duga) gleichgeschaltet. Als Milosevic im Kosovo entdeckte, dass er mit nationalistischen Themen seine Macht ausbauen karm, wurden auch die offiziellen Medien in diesem Sinne umgepolt und in die propagandistische Offensive getrieben. (7 Kap. 21) So verschmolz der inoffizielle nationalistische Diskurs mit der kommunistischen Indoktrinationsstrategie zu einem machtigen Manipulationsinstrument, das den Dissens unmoglich machte bzw. total marginalisierte. Dabei ist der Umstand nicht ohne Belang, dass der so geschaffene Konsens auf Kommunikationssysteme ZUtiickgeht, die in direkter Interaktion entstehen; dies karm ebensogut der miindliche Umgang mit Intellektuellen und Schriftstellern von groBer Autoritat sein wie miindlich tradierte kollektive Erinnerung (in Erzliblungen und Neuvariationen populiirer Volkslieder). Der Belgrader Ethnologe Ivan Colovic hat die Struktur dieser Populiirkultur in Verbindung mit den elektronischen Massenmedien untersucht, in der Annahme, darin die Quelle der uniformen serbischen Offentlichkeit zu tinden, die immun zu sein scheint gegen jegliche Verunsicherung durch eine andere Sicht der Dinge. Es gibt dazu keine speziellen Untersuchungen, aber Beobachtungen legen nahe, dass das Verhliltnis, das zwischen den elektronischen, audio-visuellen Medien und der immanenten Suggestivkraft der Bilder auf der einen Seite und einer vorwiegend schriftlosen Kultur auf der anderen entsteht, so beschaffen ist, dass die mediale Unterbrechung der unmittelbaren Interaktion virtuell aufgehoben wird. Eine von der Soziologin Zagorka Golubovic geleitete empirische Untersuchung der Belgrader Universitat hat 1998 in Serbien einen 60%-gen funktionalen Analphabetismus festgestellt. Die Methode der medialen Verbreitung von Parteiwahrheiten blieb, ebenso jene der Feindbildproduktion und Verhinderung unabhangiger Meinungen im Bereich der Offentlichkeit. Die Inhalte anderten sich, freilich so, dass es den Menschen vorkam, als trate damit zum ersten Mal ihre "Wahrheit" in die DjJentlichkeit; denn der ,,neue", national-sozialistische Diskurs bediente sich der lang gehegten Mythen, der gangigen Stereotypen sowie einer bis dato inoffiziellen, nur miindlich tradierten kollektiven Erinnerung. So befand auch der Schriftsteller und Mitverfasser des Memorandums der Serbischen Akademie, Antonije Isakovic, das serbische Volk habe "sich selbst gefunden", es sei durch die "Suche nach der Ehre" in eine Phase der moralischen "Reinigung" eingetreten. Die Methoden der medialen Produktion von Wirklichkeit iibernahm man fUr die Herstellung der "serbischen Wahrheit" allerdings yom kommunistischen System, nur dass
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diesmal das Memorandum und ahnliche national-ideologische Texte mit ihren Stichworten, Ideen und VorschIagen die Richtung wiesen. Mit Gegnem rechnete man nach wie vor ab, indem man den ,,inkriminierten" Text zerpfliickte, ohne dass ihn die Leser je zu Gesicht bekamen, Personen prangerte man an, ohne ihnen die Moglichkeit zur Antwort zu geben. Die Kombination dieser Faktoren macht die Besonderheit der kollektiv geglaubten, medial hergestellten Liigen aus, die man die "serbische Wahrheit" nannte. Filip David stellte die hiiufigsten Stereotypen der serbischen Propaganda im Femsehen (1994) zusammen: Die Kroaten sind ein genozidales Volk; die Muslime inszenieren Angriffe aufsich selbst und ihre Glaubensstdtten, um die Intervention des Westens zu provozieren; Nachrichten uber Bombenabwurfe aufStddte sindfalsch; an Serbiens Isolierung ist eine internationale Verschworung schuld, angefuhrt von Deutschland, der Komintern, dem Vatikan und dem internationalen Zionismus; die Fuhrer oppositioneller Parteien dienen ausldndischen Geheimdiensten; die Sanktionen gegen Serbien sind ein Werk seiner Feinde und der Anfang vom Ende der Vereinten Nationen. In den Jahren danach wurden die Stereotypen aktualisiert: Wieder kamen die Stichworte aus den Kreisen der SANU - so entstammt etwa der Vergleich Madeleine Albrights mit Ribbentrop, in dem sich letzterer wie ein Gentleman ausnimmt, einem Vortrag des Soziologen Dusan NedeljkoviC von 1998, wie auch der Vergleich Clinton-Hitler, der ebenfalls giinstiger fUr den letztgenannten ausfiel. Die beiden Vergleiche erfreuten sich unerhorter medialer Verbreitung wahrend des Kosovo-Kriegs 1999, meist in Fonn beliebter Reimspiele von der Art: ,,Amerika ist eine Supennacht, aus Adolf hat sie Bill gemacht" (Amerika je super sila, Adolfa je klonirala u Bila, Ilustrovana politika, 17.4.1999). 1m Grunde hiitten die auffiilligen Unstimmigkeiten der Infonnationsverarbeitung Irritationen auslOsen miissen - etwa als in Politika ekspres eine Liste abgeschossener Nato-Flugzeuge fast die ganze Seite fiillte, das Femsehen dagegen nichts davon zu wissen schien; oder als die Albaner zur Riickkehr aufgerufen wurden, nachdem man wochenlang nichts von ihrer Vertreibung aus dem Kosovo berichtet hatte. Das Auslassen von Infonnationen, Ignorieren oder Marginalisieren wichtiger Ereignisse gehort als fester Bestandteil zur Propaganda. Die Meinungsmacher gehoren nicht nur der Nachrichtenagentur Tanjug an. Am wichtigsten fUr die mediale Realitat in Serbien ist vielleicht der Umstand, dass an ihrer Herstellung die Propagandabteilungen der Sicherheitsdienste maBgeblich mitwirken. Der beriichtigteste Fall einer engen Verbindung zwischen dem serbischen Femsehen und dem KOS war ein Film, der aus Geheimaufnahmen des kroatischen Verteidigungsministers Martin Spegelj geschnitten und im Januar 1991 ausgestrahIt wurde. Spegelj war bei einer Besprechung mit Mitarbeitem gefilmt worden, wo es um die illegale Einfuhr von Waffen und um mogliche Taktiken ging, wie man sich gegen den iibermachtigen Feind (die NA in Kroatien) wehren konne. Das Material war so geschnitten, dass es ,,Panik und Angste unter der serbischen Bevolkerung" erzeugt. (Tage spater analysierte der Belgrader Avantgarde-Regiseur Lazar Stojanovi6 die Technik des Propagandastreifens in der unabhangigen Wochenzeitung Vreme.) Gegen Spegelj wurde HaftbefehI erlassen. Zu jenem Zeitpunkt hatte der Direktor des Belgrader Femsehens (RTB) Dusan Mitevi6 alle Programme im Sinne Milosevi6s gleichgeschaltet und
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das Femsehen in eine Bastion der Kriegspropaganda verwandelt, wesha1b man es in Be1grad ,,Bastille" nannte. Willrrend der Miirz-Proteste zie1te eine der wichtigsten FordefWlgen der Opposition ood der Studenten auf die DemokratisiefWlg des Femsehens ood die Ab1osoog Mitevics. Doch die G1eichscha1tlUlgspolitik wurde auch ooter seinem Nachfo1ger Ratomir Vico fortgesetzt, ja die SaubefWlgen gegen "demokratische Krafte ooter Journalisten"gingen verschiirft weiter. Im Juli 1991 trat ein neues Roodfimkgesetz in Kraft, dessen Folge die Entlassoog weiterer Redakteure ood die ErrichtlUlg eines einheitlichen Femsehsystems Serbiens (RTS) mit drei Zentren in Belgrad, Novi Sad ood Prishtina waren. Alle Sender wurden verstaatlicht ood direkt der RegiefWlg ooterstellt. Wie Rade Veljanovski in seiner Analyse nachweist, war die neue Programmpolitik voll in die Kriegspolitik integriert: Sendoogen wurden nach den Regeln der Kriegspropaganda gemacht; Berichte ood Reportagen zeigten das bedrohte serbische Volk in Kroatien: zerstOrte (serbische) Hauser, (serbische) Opfer von Verbrechen. In einer Reportage mit dem Titel ,,Dort sind die Toten" wurde behauptet, die Kroaten hatten vor, "den Serben bis zum Tode Blut abzuzapfen", wofiir zahlreiche vorbereitete Flaschen den Beweis liefem sollten. Als einer der Einpeitscher agierte der populiire Dichter Brana Cmcevic, nach dessen Ansicht in einem Krieg zwischen Serben ood Kroaten ood zwischen Muslimen ood Serben im GfWlde doch immer Serben gegen Serben kampfen. Als Kolunmist der Illustrierten Duga variierte er diese These unziihlige Male: ,,Fremde Kriege ood fremde Zaren konnten oos nicht so entzweien" wie "dieser oogeschickte ood feige Frieden"; denn: ,,Autonomie - mit diesem Wort ist der Staat Serbien wie durch eine Bombe ooterminiert worden" (Snjeiana Milivojevic). Propagandistisch autbereitet waren die TV-Dokurnentationen tiber den Ustascha-Staat ood das Lager Jasenovac, die in dieser Zeit ausgestrahlt wurden ood ihre Wirkoog bei der serbischen BevolkefWlg in Kroatien nicht verfehlten. Die Sprachregeloog war in den audio-visuellen ood den Print-Medien gleich. Nach dem ersten groJ3en Zwischenfall im kroatischen Krieg im Vukovarer Vorort Borovo selo, wo kroatische Polizisten aus einem Hinterhalt niedergemacht wurden, berichtete die Politika dariiber, wie der ,,Friede aus den serbischen Dorfem verschWilllden" seL Die Formellautete: Die (oobewafIneten) Serben verteidigen ihre Heimstatten. Die Luftanschlage auf den kroatischen RegiefWlgssitz in Zagreb am 7. Oktober 1991 wurden in serbischen Medien als kroatischer Selbstangriff zu Propagandazwekken prasentiert. Nach den Verbrechen im ostbosnischen Zvornik zu Beginn des bosnischen Krieges (April 1992) mit unklarer Zahl an Toten ood 12.000 Vertriebenen meldete PoUtika ooter dem Titel ,,zvornik befreit", dass "serbische Krafte" die Stadt ooter Kontrolle hielten, willrrend Tags zuvor davon die Rede war, muslimische Extremisten hatten die serbische Gemeinde Zvornik angegriffen. In der AbendzeitlUlg Veeernje novosti war zu lesen, dass die ,,Befreier tiber die Lautsprecher des Minaretts ein serbisches patriotisches Lied ertonen lieJ3en", ood in einem anderen Bericht, dass "zu Bruch gegangenes Glas der einzige Schaden" in der Stadt seL Nach dem Massaker an den Menschen in Sarajevo, die am 27. Mai 1992 urn Brot anstanden, versuchte das Serbische Femsehen ZlUlachst, das Geschehene zu ignorieren, bis die offizielle Linie festlegte, es habe sich urn eine InszeniefWlg der bosnischen RegiefWlg gehandelt - nach Art des ,,Luftangriffs in Zagreb", urn eine Intervention des Westens zu provozieren. Die
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Agentur der bosnischen Serben (SRNA) behauptete, die Mehrheit der Opfer seien Serben gewesen, man hatte aber die serbischen Leichen durch verwundete Kroaten und Muslime ersetzt. Politika teilte wortkarg mit, es gebe ,,Beweise, dass die serbische Seite fUr das Massaker nicht verantwortlich" seL Von Zagreb bis Ra~ak im Kosovo im Friihjahr 1999 gehen die serbischen Medien mit den offensichtlichen, in der WeltOffentlichkeit urngehend bekannt gewordenen Verbrechen der serbischen Truppen gegen die Zivilbevolkerung auf die gleiche stereotype Weise urn. Das Massaker von Ra~ak wurde - in den Worten des kritischen Kolumnisten Miodrag Stanisavljevie - als ein Vorkommnis prasentiert, bei dem sich die U<;K-Kiimpfer zunachst gegenseitig erschossen und anschlieBend entwafInet und als Zivilisten verkleidet hatten (Republika). Trotzdem etablierten sich in den neunziger Jahren in Serbien mehrere unabbiingige Medien. Immer wichtiger werden in letzter Zeit die Lokalzeitungen und smdtischen Rundfunksender in der Vojvodina und in Zentralserbien. Diese kleinen Sender iibernehmen biiufig Programme der serbischen Redaktionen auslandischer Sender (BBC, Deutsche Welle). Der bekannte unabbiingige Sender B 92 war bis zu seiner SchlieBung im Friihjahr 1999 ein Belgrader Lokalsender. Ein wichtiges Forum ist die Zeitschrift Republika, mit sachlicher Information, politischen Analysen und kritischen Kommentaren. Dass die Redaktion Position bezieht "gegen den Hass", hat freilich keine Auswirkung auf die mediale Landschaft Serbiens, ebenso wenig wie das kleine Bulletin des Belgrader Helsiniki Watch Committees (Helsimka povelja), dessen Vorsitzende und Kolumnistin, Sonja Biserko, sich nicht nur mit tatkriiftigem Engagement urn die Opfer der Gewalt kUmmert, sondem auch die wohl mit Abstand besten politischen Analysen Serbiens liefert.
20.4. Der beginnende PluraIismus in Kroatien und seine Gefahrdungen In Kroatien waren die Medien im Vergleich zu Slowenien und Serbien viellanger von Dogmatismus und Parteiideologie beherrscht. Nach Milosevies Machtergreifung nahm langsam eine Verteidigungsstrategie gegen die Angriffe aus Serbien Gestalt an. Die wichtigste Rolle spielte dabei das Wochenblatt Danas, dessen Komentatorin Jelena Lovrie Milosevie und seine Riege als Gefahr fUr Jugoslawien anprangerte. Zwischen den Zeilen gab es Kritik auch fUr die kroatischen Spitzenpolitiker, sie wiirden vor Belgrad die Augen verschlieBen, in prekiiren Situationen Milosevic nachgeben und sich in den serbischen Medien beschimpfen lassen. Dem "Ustascha"-Vorwurf, der sich selbst gegen kommunistische Politiker serbischer Herkunft richten konnte, wagten nur eioige Journalisten verhalten kritisch entgegenzutreten, oft im Namen des Jugoslawismus. Auch Milosevics Kosovo-Politik und die nationalistische Hetze gegen die KosovoAlbaner wurden kritisiert, wenn auch nicht so klar wie in den slowenischen Medien. Die politische Spitze Kroatiens, allen voran Stipe Suvar, hat sich durch Schweigen und Nachgeben mitschuldig gemacht an Milosevics Politik, die zur Aufhebung der Autonomie des Kosovo fiihrte. Der kroatischen Offentlichkeit jedoch fehlte es nicht an unverflilschten Informationen fiber die Ereignisse im Kosovo und auch nicht an mutigen Kommentaren einiger Journalisten, so dass eine Solidarisierung der kroatischen
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Bevolkerung mit den geschWldenen Kosovaren zustandekam. Vor diesem Hintergrund diskreditierte sich die opportWlistische Politik der kommWlistischen Politiker von selbst. FUr eine raschere Abkehr yom Dogmatismus fehlte in Kroatien Wld seinen Medien ein echter demokratischer Impuls. (~Kap. 28) Kritische Journalisten wie Jelena Lovric oder die bekarmte Femsehredakteurin Gordana Grbic gehorten vorwiegend zu den ReformkommWlisten, die erst beginnen mussten, die Vokabeln ,,Demokratie westlichen Typs", ,,Mehrparteiensystem", "freier Markt" Wld "freie Presse" zu buchstabieren. So waren sie kaum in der Lage, zum einen Milosevic und den serbischen Nationalismus von der Position einer echten demokratischen Alternative anzugreifen und zum andern in denkroatischen Medien einen Wandeljenseits ideologischer Festlegungen einzuleiten. 1m Grunde kritisierte diese reformistische Gruppe erst Milosevic und danach den kroatischen Nationalismus von der gleichen Position aus - nfunlich von jener des (kommWlistisch-reformistischen) Jugoslawismus. Das Fehlen demokratischer Ansatze zeigt sich vor aHem im Vergleich mit der slowenischen Offentlichkeit, wo es in den noch kommWlistisch gepragten Strukturen allmlihlich zu Koordinatenverschiebungen kam. Die ersten freien Wahlen ergaben aber in beiden Republiken eine iiberwaltigende Mehrheit fiir die Demokratie. Wie im Falle der Medienlandschaft hatte der Dogmatismus der kroatischen KommWlisten der Demokratie auch in der Politik groBe Stolp ersteine in den Weg gelegt. Die Wahlen im April 1990 waren in Kroatien nicht weniger fair als in Slowenien, allerdings erlieBen die kroatischen KommWlisten - im Unterschied zu den slowenischen - ein Wahlgesetz, mit dem sie den erwarteten knappen Sieg in eine satte, wenn nicht absolute Mehrheit im Parlament umzuwandeln gedachten. Nur wurde die relative - und dank dieses Gesetzes darm absolute - Mehrheit von Turunans nationalistischer HDZ (,,Kroatische Demokratische Gemeinschaft") errungen. Und damit wurde letztlich auch den Medien der Weg zu einer echten demokratischen UmwandIWlg versperrt. Bei den eher auf Unterhaltung ausgerichteten Medien beherrschten den jugoslawischen Markt die - oft aus der kommWlistischen Jugendpresse kommenden - Zagreber Journalisten, d.h. praktisch das Haus Vijesnik mit seinen Illustrierten. Legendar wurde die Zeitschrift Start - durch Nacktfotos, aber auch durch sporadisches Praktizieren eines ernsthaften, halbwegs als unabhangig zu bezeichnenden Journalismus, der immer wieder mal brisante und tabuisierte Themen aufgriff. Diese Art Blatt, wofiir es im Deutschen keine Kategorie gibt, hat bis heute iiberlebt. Das gelungenste aktuelle Beispiel ist wohl das wochentlich erscheinende Magazin Globus, das seit seiner Griindung im Jahre 1989 eine Mischung aus investigativem Journalismus, Sensationberichten, emsten Reportagen und oft wichtigen Interviews pfiegt, aber auch den Intellektuellen ein Forum fiir Beitrage bietet, die man hierzulande im Merkur suchen wiirde. Starkolurnnistin des Magazins ist Tanja Torbarina, die, wie friiher in Danas die kommWlistische Nomenklatura, jetzt die neue Elite und den Prasidenten aufs Korn nimmt. In Kroatien sind in den letzten Jahren unzlihlige Konferenzen iiber die Pressefreiheit veranstaltet worden, systematische Untersuchungen der Medienlandschaft existieren aber bis heute nicht. Der Beobachter karm daher nur auf eigene jahrelange Leseerfahrungen und auf die Beschreibungen zurUckgreifen, die der Wirtschaftsjournalist Zivko Gruden von der Wende in den Medien geliefert hat: Ein fundamentaler Befund scheint
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die Verquickung der ideologischen Aspekte mit der wirtschaftlichen Grundlage der Massenmedien zu betreffen. So war das Verlagshaus Vjesnik marode, obwohl einzelne Produkte Profite einbrachten, und dies lag vor allem an der Uberzahl der Beschliftigten. Am Vorabend der ersten demokratischen Wahlen hatten die yom sozialistischem Selbstverstandnis als "gesellschaftliche Arbeiter" geprligten Berichterstatter versucht, der neuen politischen Lage und der Parteienkonkurrenz gerecht zu werden. Zum beliebtesten Wort wurde ,,Professionalisierung", und vielen schien diese schon dadurch erreicht zu sein, dass in den Medien ungehindert Politiker auftreten durften, die man jahrelang als Feinde behandelt hatte. Dabei gab es kaum Journalisten, die man nach westlichen Kriterien als ,,Profis" bezeichnen konnte, und das joumalistische Handwerk llisst bis heute zu wiinschen ubrig - unabhlingig von der politischen Tendenz. Die Vorstellung der Journalisten, mit der Einfiihrung des Handwerks als Hauptkriterium journalistischer Arbeit wiirden deren Ergebnisse konkurrenzfiihig, war naiv; nicht nur blieb dabei das AusmaB der finanziellen Katastrophe, in der sich die Betriebe befanden, vollig au13er Betracht, auch der Wandel, den die Offentlichkeit nach Einfiihrung der Demokratie durchmachte, und die neuen Bediirfnisse der Gesellschaft wurden nicht richtig verstanden. Einige Bllitter versuchten auf der Basis ihrer Erfahrungen am Vorabend der 1990er Wahlen ohne wesentliche Verlinderungen weiterzuarbeiten (Danas, spliter als Novi Danas, Slobodna dalmacija aus Split und Novi list aus Rijeka). Wlihrend die Regionalzeitungen sich zunlichst halten konnten, war das Schicksal von Danas besiegelt: die hohen Auflagen bis zu 200.000, die zu Zeiten der jugoslawischen Krise erzielt wurden, waren auf dem kleinen kroatischen Markt fUr ein uberregionales politisches Magazin unvorstellbar. Allerdings uberlagerte politischer Streit jeglichen Ansatz zu einer nuchternen Analyse der neuen Lage der Medien. Die neue Regierung hatte erkannt, dass die finanzielle Notlage der Presse ihr ein machtiges Instrument zur informationspolitischen Kontrolle der Massenmedien in die Hand gab. Die Sanierung der Presseunternehmen wurde darauf abgestimmt, dass sie unter der Kontrolle der Regierungspartei und des Prlisidenten blieben. Dazu wurden groBe Untemehmen (auch Banken) aus dem so genannten gesellschaftlichen Eigentum in Staatseigentum uberfiihrt, oder es fand eine Privatisierung statt, bei der die Klientel der HDZ weit bevorzugt das Kaufrecht selbst vor hOher bietenden Konkurrenten bekam, teilweise mit Krediten aus den staatlichen Banken. Nach der ersten Methode wurden Rundfunk und Fernsehen (TVZ) zu staatseigenen Medien, was sie de facto auch vorher waren. Eine undurchsichtige Personalpolitik fiihrte zu Entlassungen im groBen Stil. Von 3.500 Beschaftigten gelangten nach inoffiziellen Angaben (offizielle gibt es nicht) mehr als 600 auf eine "Warteliste". Wie in ganz Jugoslawien waren in Kroatien die groBen Medien bzw. alles, was mit Informationspolitik zu tun hatte, nicht nur durch Parteipersonal beherrscht, sondern von den Sicherheitsdiensten durchsetzt. Da es in Kroatien keine ,,Lustration" (-+ Kap. 28) gegeben hat und auch die Archive nicht freigegeben wurden, bleiben nur MutmaBungen darUber, wer von den heutigen Verantwortlichen in den Medien Mitarbeiter der Organe war. Offensichtlich ist dagegen, dass sich im Fernsehen und in den wichtigsten regierungsnahen Zeitungen die Wendehalse drangeln. Eine ernsthafte Strukturreform gab es nicht, die Schaffung einer offentlich-rechtlichen Institution blieb Entwurfund ist nun eine der wichtigsten Forderungen der oppositionellen Partei-
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en, aber auch des 1997 von TV-Journalisten gegriindeten Forum 21. Der kommunistische Funktionar und Fernsehdirektor Veljko Knezevic (seit der Aufuahme diplomatischer Beziehungen mit Jugoslawien dann jugoslawischer Botschafter in Kroatien!) wurde nach neuen Regelungen und der Namensiinderung des Fernsehens in HRT durch ein Griindungsmitglied der HDZ abgelost, ein Mann der richtigen neuen Gesinnung, aber ohne Erfahrung mit dem Medium und daher nicht lange im Amt. Sein Nachfolger: der durch Partisanenfilme popular gewordene Schauspieler und Regisseur Antun Vrdoljak, Griindungsmitglied und Sabor-Abgeordneter der HDZ. Durch ihn ist das HTV zur Bastion seiner Partei geworden, Vrdoljak aber bei allen Umfragen der unbeliebteste Politiker des Landes. Die Strukturschwache der kroatischen Medien liegt weniger an den fehlenden (weil entlassenen) Journalisten, als vielmehr anjenen, die nicht entfernt wurden; deren hervorragendste Eigenschaft namlich ist die Fahigkeit, der Obrigkeit zu dienen. Bei der traditionsreichen Tageszeitung Vjesnik wurden mehrere Chefredakteure ausgewechselt. Seit etwa 1996 halt der Journalist und ehemalige Deutschlandkorrespondent Nenad Ivankovic diese Stelle besetzt, ein Mann, der im friiheren Regime geradezu beriichtigt war wegen seiner antikroatischen und antikatholischen Hetze. 1m Friihjahr 1999 wurde der Redakteur Obrad Kosovac zum Chefredekteur des Kroatischen Fernsehens ernannt, er ist nicht weniger beriichtigt fUr seine Tatigkeit im friiheren System und seine radikale anti-kirchliche Propaganda. Wie seine Vorgiinger versteht er es, der Regierungspartei und vor allem Tudman den zentralen Platz im Programm zu sichern. Der politische Druck auf die Massenmedien und der Mangel an Professionalitat im Umgang mit Informationen waren besonders nachteilig im Kroatien-Krieg 1991 (7Kap. 23), der ja auch ein Krieg der Medien war. Tudman und seine Gefolgschaft bemiihten sich um einen ideologisch-nationalen Konsens durch die Medien, was tiberfltissig war, da in bezug auf die Verteidigung des Landes ohnehin breiter Konsens bestand - wenn man von einem GroBteil der kroatischen Serben und einigen kroatischen Linken absieht. Die kroatischen Medien orientierten sich von der abgelegten jugoslawistisch-kommunistischen Ideologie rasch um auf die Deutungsmuster aus Tudmans "Parteizentrale" und ordneten diesen jeglichen Informationswert unter. Ein skandalOses Beispiel war der Fall der Stadt Vukovar, nach drei Monaten Belagerung. Die Niederlage wurde von den Medien zwei Tage lang verschwiegen, danach hielt es der Prasident nicht fUr notig, sich tiber die Medien an das Yolk zu wenden. Dabei ware es sicherlich sehr wichtig gewesen, die Kriegswirklichkeit in den kroatischen Massenmedien angemessen darzustellen, vor allem auch, weil Kroatien gegen die Belgrader Propagandamaschine mit der damals und auch spater noch weltweit angesehenen Agentur Tanjug anzukampfen hatte. Doch die unter Tudman agierenden Medien, gleichermaBen von dessen anachronistischem Weltbild wie yom Dogmatismus ihrer national umgepolten Mitarbeiter beherrscht, wussten ihr wenig entgegenzusetzen. Wenn Wahrheitssplitter aus dem Kroatien-Krieg die WeltofIentlichkeit erreichten, so geschah dies nicht dank, sondern eher trotz der heimischen Medien. Freilich war es nicht nur der Einfluss von Tanjug, muss man betonen, der die vielen Einseitigkeiten in der Berichterstattung der westlichen Medien bewirkte. Erst im Kosovo-Krieg entschlossen sich diese Medien zu einer genaueren Sprache und getreueren Vermitthmg der Tatsachen.
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In Kroatien selbst ist es nach dem Krieg zu einer weitgehenden Polarisierung der offentlichen Meinung gekommen. Die Regierung versucht noch immer die Kontrolle tiber die machtigsten Medien zu behalten und die unabhiingigen unter ihnen durch wirtschaftlichen Druck zu ersticken. Die offizielle Berichterstattung tiber den Krieg in Bosnien-Herzegowina war an Tatsachenverdrehungen nicht zu tiberbieten; andererseits haben sich die unabbiingigen Medien (wie Feral Tribune, Globus und die Tageszeitung Novi list, ebenso der Zagreber Rundfunksender 101 und die allabendliche Femsehsendung Slikom na sliku ) mit ihrer Darstellung des Krieges und der kroatischen Verstrikkungen bei der ZerstOrung des Nachbarlandes hohes Lob verdient. (~Kap. 26) Bis zur Griindung der unabhiingigen, ideologiefreien und professionell gemachten Tageszeitung Jutarnji list (Morgenblatt) im Sommer 1998 war es die kleine Lokalzeitung Novi list aus Rijeka, die in Sachen unabhiingiger Information tiberregionale Bedeutung hatteo Fiir die Journalisten Kroatiens ist auBerdem der unabhiingige und engagierte Journalistenverband (HND) von groBer Bedeutung - sowohl in professioneller wie in berufsrechtlicher Hinsicht. Seit 1998 erschtittem Affaren und Skandale die kroatische Gesellschaft. Bisheriger Hohepunkt: die AbhOraffare 1999, die von der Wochenzeitung National enthillit wurde. Woche fiir Woche wurden Abhorprotokolle kroatischer Geheimdienste veroffentlicht, deren Opfer Journalisten, Politiker (auch aus der regierenden HDZ) und - was das Fass zum Uberlaufen brachte - Schiedsrichter waren. In diesem Zusammenhang sei auch die FuBball-Affare genannt, die in die Geschichte eingehen diirfte, denn Journalisten haben Indizien dafiir zusammengetragen, dass Tudmans Lieblingsverein "Croatia" tiber Manipulationen zum Meister gemacht wurde, wiihrend in den Augen aller kroatischen FuBballfans dieser Titel der Mannschaft ,,Rijeka" gebiihrte. Die Regierenden reagierten aufKritik auch mit massiven Klagen wegen Beleidigung und Ehrverletzung. Blatter wie die fimdamental-oppositionelle und satirische Wochenzeitung Feral Tribune aus Split sollten zur Zahlung von Entschiidigungssummen in Millionenhohe an die angeblich verleumdeten Politiker verurteilt werden. Bislang haben die Gerichte so1che Klagen allerdings in den meisten Fallen abgewiesen.
20.5. Anmerkungen zu anderen Medienlandschaften
Strukturell sind die Probleme in anderen Nachfolgestaaten und in den Regionen Jugoslawiens iihnlich wie in Kroatien. Eine Beherrschung der staatlichen Medien hat der bosnische Prasident Alija Izetbegovic allerdings nicht so zielstrebig verfolgt wie der kroatische Prasident. Dennoch kam es auch in Bosnien allmiihlich zur Dominanz der Kader aus der Partei des Prasidenten (SDA), vor aHem in den elektronischen Medien. Die angesehenste bosnische Tageszeitung Oslobocijenje wurde, anders als die vergleichbare kroatische Vifesnik, jedoch nicht in ein Sprachrohr der bosniakischen Regierungspartei umfunktioniert. SDA-nahe Medien sind das neugegriindete Wochenblatt Ljiljan lffid die Tageszeitung Dnevni avaz. Wiihrend des Krieges hat sich die frUhere Jugendzeitung Dani durch ihre unabhiingige Berichterstattung hohes Ansehen erworben lffid blieb unter Chefredakteur Senad Pecanin auch im Nachkriegsbosnien ein Medium der
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freien und kritischen Meinung. Ihre Mitarbeiter gehoren ebenso wie im FaIle des populiiren Sarajevoer Radio Zid allen ethnischen Gruppen an. Das gravierende Problem der bosnisch-herzegowinischen Medienlandschaft liegt in der nationalen Aufsplitterung: In der Republika Srpska und in den Gebieten unter Kontrolle der nationalistischen Kroaten gibt es so gut wie keine unabhiingigen Medien. Die Bemiihungen der internationalen Organisationen und des Hohen Reprasentanten, die Medienlage in BosnienHerzegowina durch Griindung eines Senders in eigener Regie zu verbessern, blieben bislang erfolglos, was zumindest teilweise mit ihren wirklichkeitsfremden Ansatzen zusammenhiingt. Die Medien der bosnischen Kroaten sind mehr in den kroatischen als in den bosnischen Informationsraurn integriert, ein Bild, das im serbischen Falle noch krasser ausfallt, wodurch groBe Spannungen wiihrend des Kosovo-Krieges entstanden. Allerdings ist daraufhinzuweisen, dass es so etwas wie einen "bosnisch-herzegowinischen" Informationsraurn gar nicht gibt, sondern sich nur der bosniakische (muslimische) fUr einen solchen ausgibt. Eine erfreuliche Entwicklung ist in Montenegro zu verzeichnen. Schon Anfang der neunziger Jahre wurde die unabhiingige Wochenzeitung Monitor gegriindet, deren Einsatz fUr die Tatsachenjenseits der serbischen Propaganda von groBer Bedeutung bleibt. Die montenegrinischen Medien haben wiihrend des Kosovo-Krieges der westlichen Berichterstattung Gehor ermoglicht und den Empfang von CNN, BBC und anderer internationaler Sender zugelassen. 1m sozialistischen Jugoslawien spielten die Medien in den Sprachen der nationalen Minderheiten eine besondere Rolle. So war die ungarischsprachige Tageszeitung Magyar Szo ("Ungarisches Wort") aus Novi Sad (ung. Ujvidek) nicht nur fUr die ungarische Minderheit in der Vojvodina wichtig, sondern auch durch ihre Wirkung im zu Zeiten weit repressiveren Ungarn. Ferner gab es (und gibt es noch immer) Medien in anderen Minderheitensprachen, etwa in Istrien La voce del popolo sowie Programme und Sendungen in Fernsehen und Horfunk. Bis zur Aufhebung der Autonomie im Kosovo 1989 gab es zahlreiche Medien in albanischer Sprache. Neben der Tageszeitung Rilindija (Wiedergeburt) waren das Wocherunagazin Zeri (Stimme) und albanischsprachige Programme in Fernsehen und Horfunk von groBer Bedeutung fUr die Konstituierung einer albanischsprachigen Offentiichkeit im Kosovo. Auch wenn diese giinzlich von der Partei beherrscht wurde, bot sie dennoch den Kosovo-Albanern die Moglichkeit zu einer bis dahin ungekannten kulturellen Entwicklung. Neben Bildungs- und Wissenschaftsanstalten mit entsprechenden Publikationen spielte die aufbliihende literarische Produktion in albanischer Sprache - die Prosa eines Rexhep Qosija und die Lyrik eines Ali Podrimija, urn die bekanntesten zu nennen - eine fundamentale Rolle fUr das moderne Selbstbewusstsein der Kosovaren. Nachdem Serbien das Regionalparlament des Kosovo im Juli 1990 aufgelOst hatte, wurden die Tageszeitung Rilindja sowie die albanischssprachigen Rundfunk- und F ersehprogramme eingestellt oder gleichgeschaltet. 1m Miirz 1997 griindete einer der fiihrenden kosovo-albanischen Intellektuellen, Veton Surroi, die unabhiingige Tageszeitung Koha Ditore <.,zeit"), die bald zum fiihrenden Blatt und Diskussionsforum der Kosovo-Albaner wurde. Unmittelbar vor Beginn der Luftanschlage der Nato am 24. Miirz 1999 iiberfielen serbische Sondereinheiten die Redaktionsraurne in Prishtina, erschossen einen Wachmann und zerstOrten
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die Einrichtung. Der Herausgeber, die Redakteure und Mitarbeiter versteckten sich wahrend des Kosovokrieges vor der serbischen Polizei und den partamilitlirischen Einheiten oder fanden - wie der Chefredakteur Baton Haxhiu - Zuflucht in Mazedonien, wo einen Monat spiiter (mit Hilfe der Soros-Stiftung) die Koha Ditore als Exilzeitung ihr Erscheinen wieder aufnahm. Unter Mitarbeit von Ali Zerdin (Ljubljana), Zivko Gruden (Zagreb) und Filip David (Belgrad) Literatur Zu den Medien im sozialistischen Jugoslawien: Gertrude 1. Robinson, Tito's Maverick Media. The Politics ofMass Communication in Yugoslavia, Chicago 1977; Pedro Ramet, "The Yugoslav Press in Flux", in: P. Ramet (Hg.), Yugoslavia in the 1980s, Colorado 1985. Zu den Medien im Krieg unverzichtbar sind: Mark Thompson, Forging War. The Media in Serbia. Croatia and Bosnia-Herzegovina, London 1994; Paul Garde, Vie et mort de la Yougoslavie, Fayard, 1992; speziell zu Serbien die Analysen im Sarmnelband Th. Bremer, N. Popov, H.-G. Stobbe (Hg.), Serbiens Weg in den Krieg, Berlin 1998 und zwar: A1eksandar Nenandovic, ,,Die Politika im Sturm des Nationalismus" (S. 279-298), Rade Veljanovski, ,,Die Wende in den elektronischen Medien" (S. 299-318), Zoran M. Markovic, "Die Nation: Opfer und Rache" (S. 319-338), Snjdana Milivojevic, "Die Nationalisierung des taglichen Lebens" (S. 339-358), Latinka Perovic. "Flucht vor der Modemisierung" (S. 479-490). AuBerdem: Ivan Colovic, Bordell der Krieger. Folklore. Politik und Krieg, Osnabriick 1994; wichtig auch: Ivo Zanic, Prevarena povijest, Zagreb 1998 (Betrogene Vergangenheit); Branko Matan, Domovina je tesko pitanje. Fragmenti dnevnika 1991-1993. Zagreb 1998 (Das Vaterland ist eine schwierige Frage. Fragmente aus dem Tagebuch 1991-1993); Ali H. Zerdin, Generali brez kape (GeneraIe ohne Mfitze), Ljubljana, 1997. Weitere Literatur ~Kap. 19. Rossen Milev (Hg.), TV auf clem Balkan. Zur Entwicklung des Fernsehens in Siidosteuropa, Hamburg 1996; ders. (Hg.), Radio aufdem Balkan. Zur Entwicklung des Horjimks in Siidosteuropa, Hamburg 1995; Du§an Reljic, ,,Medien im ehemaligen Jugoslawien". in: Siidosteuropa 8/1994. S. 509-516; Verica Spasovska, "Der Jugoslawienkonflikt als Medienereignis", in: Siidosteuropa-Mitteilungen, 1/1995, S. 8--17; Philip J. Cohen, Serbia's Secret War: Propaganda and the Deceit ofHistory, Texas 1996.
21. Jugoslawien unter Milosevic Matthias Rub
21.1. MachtantriU und Wende zum Nationalismus Am 23. September 1987 saB ganz Serbien vor dem Fernseher. Kein FuJ3ballspiel wurde geboten und auch kein Basketballmatch. Was die Menschen gebannt verfolgten, war das Achte Plenum des Zentralkomitees der Serbischen Kommunistischen Partei, eine zweitiigige Sitzung, auf der sich Slobodan Milosevic gegen seinen politischen Ziehvater und langjiihrigen Freund Ivan Stambolic durchsetzte - die entscheidende Station in einer bemerkenswerten politischen Karriere. Der moderate Fliigel der Partei, der eine Art Perestrojka angesteuert hatte, wurde ausgeschaltet, und Milosevic erlangte im Zuge der Siiuberungen, deren prominenteste Opfer neben Stambolic der Belgrader Biirgermeister Bogdan Bogdanovic und der Belgrader Parteisekretiir Dragisa Pavlovic waren, die Kontrolle iiber den Parteiapparat. Wiihrend in ganz Mittel- und Osteuropa die kommunistische Herrschaft schon yom Zusammenbruch gezeichnet war und im "annus mirabilis" 1989 schlieBlich zu Staub zerfiel, vermochte in Serbien ein Nachwuchspolitiker der Nomenklatura die gesellschaftlichen Grundlagen und die Machtstrukturen der kommunistischen Ara in die neue Epoche hiniiberzuretten. Vnter seiner Fiihrung entwickelte sich die serbische ,,Demokratur", fUr die ein Generationswechsel bei gleichzeitigem Erhalt von reformunwilligen Parteistrukturen und -apparaten charakteristisch ist. Das Achte Plenum des ZK der serbischen Partei kann als Schliisselereignis fUr die Methoden Milosevics gedeutet werden. Durch die Ubertragung im staatlichen Fernsehen wurde ein Massenpublikum ins Allerheiligste der Partei eingelassen, aber dies war nur scheinbar ein Akt der Demokratisierung und Transparenz. Denn die Fernsehiibertragung war kein objektiver Mitschnitt dieses Ereignisses, sondem folgte genauem Kalkiil. Der von Milosevic installierte neue Chef des serbischen Staatsfemsehens Dusan Mitevic sorgte dafUr, dass die Reden seiner Sympathisanten in aller Breite gezeigt wurden, wiihrend die Fraktion um Stambolic kaum zu Wort kam. Zudem zogen sich wiihrend der Sitzung die Getreuen Milosevics allmiihlich auf die hinteren Sitzreihen zuriick, so dass Stambolic und seine Fraktion am Ende allein und wie ein Angeklagter vor einem imaginiiren Richter saBen. Die Mobilisierung der Massen durch das Fernsehen ist das erste wichtige Merkmal der neuen Methode Milosevics. Die Auseinandersetzung zwischen Milosevic und Stambolic war kein gewohnlicher Machtkampf zweier Politiker, die um ein Amt konkurrierten, sondem politischer Vatermord und ein klassischer Fall von Verrat: Wenn es jemand gab, dem Milosevic Loyalitiit geschuldet batte, dann seinem Freund Stambolic, mit dem zusammen er Jura studiert batte. Dank Stambolic war Milosevic im Mai 1986 zu dessen Nachfolger als Parteichef in Serbien gewiihlt worden. Die personliche Verbundenheit vergaB Milosevic, als er die Chance sab, den durch Fraktionskiimpfe geschwiichten Stambolic von der
21. Jugoslawien unter Milo~evic
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Macht zu drangen. Das Prinzip Verrat als Maxime fUr das Leben und die Machtpolitik ist das zweite wichtige Charakteristikum, das sich beim Achten Plenum erkennen llisst. Der Konflikt zwischen den Fraktionen um Milo~evic und um Stambolic ww-de nicht als Wettstreit unterschiedlicher Konzepte, sondern als kompromissloser Kampf zwischen dem Richtigen und dem Falschen, zwischen dem Guten und dem Schlechten ausgetragen. Stambolic hatte mit seiner Kritik an der Ausschlie13lichkeit Milo~evics sein eigenes politisches Todesurteil unterschrieben. Das agonale Grundprinzip, die Reduzierung aller Differenzen auf das Freund-Feind-Schema ist das dritte wesentliche Moment von Milosevics Politik. In Umkehrung des Leitsatzes von Clausewitz betreibt Milo~evie Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Ein Nachgeben kommt fUr den, der den Kampfals Prinzip verfolgt, nur unter extremem Druck in Frage und bei unmittelbarer Gefahr der totalen Niederlage oder gar des Machtverlusts. Aufjener Sitzung des serbischen ZK-Plenums 1987, wo nach der alten Manier Solidaritlitsadressen aus ganz Serbien an Milo~evie verlesen ww-den, zeigte sich viertens, dass in demokratisch kaum entwickelten Gesellschaften die Methoden des Machtkampfes von grenzenloser Rucksichtslosigkeit und die Propaganda voller Verdrehungen und Lfigen sein diirfen und trotzdem zum Erfolg fiihren. Seinen Griff auf die Partei festigte Milosevic nach dem ZK-Plenum, indem er ein Netz von Giinstlingen mit Posten, Geld und ,,Bedeutung" versorgte und fiber seine treuesten "Soldaten" - Radmilo Bogdanovic, Mihalj Kertes und Jovica Stanisie - die Polizei und den Sicherheitsdienst unter seine Kontrolle brachte. Bald konnte sein Fiihrungsanspruch von niemandem mehr bestritten werden. Es sollte sich rasch zeigen, welche entscheidende Rolle der Person Milo~evie zukam. Vieles spricht fUr die These, in Jugoslawien ware manches anders verlaufen, wenn beim Achten Plenum statt Milo~evie ein Vertreter der gemlilligten Fraktion den Machtkampf gewonnen hlitte. Die Lebensgeschichte Milo~vics ist aufs engste verbunden mit der Zerfallsgeschichte Jugoslawiens, und sein Machtantritt markiert eine entscheidende Weichenstellung. Als Stambolie 1984 Parteichef Serbiens ww-de, machte er Milosevie zum Chef des Belgrader Parteikomitees. In dieser Funktion fiel Milosevic aber nicht aus dem Rahmen, nahm gegen den serbischen Nationalismus eher noch entschiedener Position als gegen die ,,liberalen Abweichungen" und folgte dadurch der Linie seines Ziehvaters. Zuvor hatte Milosevie zunachst eine Fabrik und spliter eine Bank geleitet und galt als Organisationstalent, das sich in straff organisierten Institutionen wie der Partei zu Hause fiihlte. Seiner Karriere war forderlich, dass in den friihen siebziger Jahren die so genannten "liberalen Krlifte" aus der Partei entfemt ww-den. Es gab zwar unter den serbischen Doktrinaren moderate Krlifte, die sich vor allem dem aufsteigenden serbischen Nationalismus widersetzten, sie entwickelten aber kaum Impulse zur Demokratisierung. Milosevie ww-de am 20. August 1941 in der mittelserbischen Kleinstadt Pozarevac geboren. Seine Eltem waren aus Montenegro zugewandert und vertraten offenbar diametral entgegengesetzte politische Ansichten. Der Vater schlug die Laufbahn eines orthodoxen Priesters ein, wahrend die Mutter fiberzeugte Kommunistin war. Beide schieden durch eigene Hand aus dem Leben, der Vater 1962, die Mutter 1972. Als Schiller, so berichtet Milosevies kritischer Biograph Slavoljub Dulcie, war er ein Einzelganger, der fast immer die besten Noten bekam, im Sport aber gar nichts zustandebrachte. Die
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SchliisselbegegnWlg fUr Milosevic war jene mit Mirjana Markovic, die er noch im Gymnasium kennen lernte. Ihre Mutter war wlihrend des Zweiten Weltkrieges erschossen worden; Vorwiirfe kursierten, sie habe die Partisanen an die Deutschen verraten. Mira Markovic wurde in einer Art Adelsfamilie der kommunistischen Bewegoog groB, doch brach sie spliter mit denjenigen Verwandten, die gewagt batten, Milosevics ,,nationalistische Wende" zu kritisieren. Milosevic Wld Mira Markovic verband Wld verbindet ein symbiotisches Verhliltnis Wld das Wlbedingte Streben nach Macht Wld Einfluss. Vielfach iiberliefert ist der Satz der Gymnasiastin, ihr "Slobo" werde einmal so beriihmt Wld bedeutend sein wie Tito. Mira Markovic blieb anders als ihr Mann, eine fiberzeugte, glaubige Kommunistin, fUr ibn "war Ideologie nie das, was sie fUr mich war" - solI sie selbst einmal gesagt haben (Dukic). Das Gespiir fUr den richtigen Augenblick, die Flihigkeit, StimmWlgen in der BevOlkefWlg zu erfiihlen Wld fUr die eigenen Interessen zu kanalisieren, sind Milosevics groBte politische BegabWlgen. Er erkannte, dass die nationale Renaissance in den Teilrepubliken in den achtziger Jahren mit ihrem latent antikommunistischen Impuls die Macht der Partei geflihrden konnte. Anstatt sich aber der Bewegoog, die allm1ihlich die Massen ergriff, entgegenzustelIen, stelIte sich Milosevic an ihre Spitze Wld zwar mit der ganzen Parteimacht Wld deren Monopol in Gesellschaft Wld Staat. Er griff auf die kursierenden nationalistischen Ideologien, bei Bedarf aber auch auf die alten kommunistischen Versatzstiicke zuriick. Der Politologe Aleksa Dilas, Sohn des bekanntesten jugoslawischen Dissidenten Milovan Dilas, nannte diesen Ideenverbrauch "politischen Kannibalismus" - jedenfalls bezeugt er riesigen Machtappetit. Viele Beobachter haben die Ansicht vertreten, fUr Milosevic sei auBer der Macht nie etwas wirklich von Bedeutung gewesen. Fiir diese EinschlitZWlg spricht, dass er immer wieder Prinzipien verwarf, die er kurz zuvor noch als Wlverriickbar bezeichnet hatte. Doch Milosevic traf nicht nur dank einer schauspielerischen Glanzleistung den nationalen Nerv so vieler seiner serbischen Landsleute. Aleksa Dilas ist der Ansicht, dass Milosevics "Sympathie fUr die FordefWlgen der Serben im Kosovo echt war". Auch der Balkan-Vermittler der Europliischen Union, Lord Owen, berichtet von heftigen Gefiihlsausbriichen Milosevics bei dem Thema. Milosevics offentlicher Wld fiber die Medien verbreiteter Einsatz fUr die KosovoSerben war die InitialziindWlg fUr seinen Aufstieg rum nationalen FUhrer der Serben. In der schleichenden AbwandefWlg vieler Serben aus der Sfidprovinz seit den sechziger Jahren sah man in Serbien die Gefahr, dass das "serbische Jerusalem" an die Albaner "verloren gehen" konnte. Der wegen geringer Geburtenzahien sinkende serbische Bevolkerungsanteil wurde als "demographischer Genozid" an den Serben im Kosovo gedeutet. Die Albaner wei sen Wlter allen Volkem Europas das bOchste BevOlkefWlgswachstum auf. So stieg der albanische Anteil im Kosovo von etwa 60 Prozent 1939 auf 77 Prozent 1981, zehn Jahre spater auf 82 Prozent, Wld Anfang 1998 diirfte er bei zwei Millionen Einwohnern der Provinz mehr als 90 Prozent betragen haben. Zugleich richtete sich der Protest der Kosovo-Serben gegen den "Verlust" der beiden autonomen Provinzen Vojvodina Wld Kosovo durch die jugoslawische VerfassWlg von 1974. Tief saB der Stachel aus der Tito-Zeit, in der die MeinWlg vorzuherrschen schien, dass "ein
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schwaches Serbien ein starkes Jugoslawien" bedeute. Mit seinem Versprechen, die ,,nationale Einheit" Serbiens wiederherzustellen, traf Milosevic den Nerv des serbischen Volkes. (~Kap. 13) Schon im beriichtigten Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften yom September 1986, dem Katecbismus des serbischen Nationalismus, hei.l3t es uber das Kosovo: ,,Das Schicksal des Kosovo ist eine Lebensfrage fUr die gesamte serbische Nation. Der physische, politische, rechtliche und kulturelle Genozid an der serbischen Bevolkerung in Kosovo und Metobija ist eine der schwersten Niederlagen seit den serbischenFreiheitskiimpfen von 1804 bis 1914". Ausdriicklich wird die ,,Herstellung der vollen nationalen und kulturellen Identitat des serbischen Volkes, unabhiingig in welcher Republik oder Region sie leben", gefordert. Milosevic selbst aufierte sich nur sehr vage zum zunachst offiziell als nationalistisch kritisierten Memorandum; doch spater setzte er dessen grofiserbische Ideologeme konsequent in praktische Politik um. Am 24. April 1987 sprach er in Kosovo Polje, einem Vorort der Provinzhauptstadt Prishtina, vor Parteidelegierten und mit Vertretem von Demonstranten. Die meisten Beobachter geben dieser direkten Begegnung entscheidende Bedeutung fUr Milosevics Wende zum Nationalismus. Er griffin seiner Rede die von den Kosovo-Serben angesprochenen Probleme auf und lieferte einen klassischen Fall der Dbertragung der kommunistischen Wahrheit-Luge-Dichotomie auf den ethnischen Konflikt zwischen Serben (Wahrheit) und Albanem (Luge): Es stiinden Fortschritt gegen Konterrevolution, der Geist von Briiderlichkeit und Einheit gegen Nationalismus und Separatismus und so weiter; danach schloss er mit der Aufforderung an die Kosovo-Serben zum Bleiben, denn "dies ist euer Land, bier sind eure Hauser, eure Felder und Garten, eure Erinnerungen". Aufierdem babe es ,,noch nie dem serbischen oder montenegrinischen Geist entsprochen, vor Hindernissen zuriickzuweichen, sich zuriickzuziehen, wenn Kampf gefordert ist, in schwierigen Zeiten die Moral sinken zu lassen". Wer in der agonal aufgebauten Rede der ungenannte Gegner und Feind war, verstand sich von selbst: die Albaner. Vor dem Gebaude dann sprach er zu den versammelten und gewalttiitigen Serben, die von der Polizei, in der es auch albanische Beamte gab, zuriickgedriingt worden waren, den beriichtigten Satz: ,,Niemand soIl es wagen, euch zu schlagen!" Diese Szene, in welcher der neue FUhrer der Serben zur Masse sprach und sie beruhigte, wurde spater immer wieder im Fernsehen iibertragen. Milosevic entdeckte bier die Macht des Populismus: Bei der kurzen Ansprache vor Fabrikarbeitem in Urosevac tags darauf spickte er seine kommunistischen Formeln der ideologischen Feindbezeichnung als "Separatisten und Konterrevolutionare" (gemeint sind die Urheber der Kosovo-Unruhen von 1981) mit den ,,neuen" Stereotypen aus den Massenmedien, die schon liinger den nationalen Hass auf die Albaner predigten: ,,1mmer wenn ein serbisches Kind vergewaltigt wird, fallt Schande auf aIle Albaner, wenn sie nicht fUr das Ende solcher Grausamkeiten sorgen." (Milosevic, Jahre der Entscheidung) Milosevic schiirte die Angst, um sich als Beschiitzer und Retter der Bedrohten anzubieten. Mit dieser Methode gelang es ihm, die moderaten Krafte aIlmiihlich in die Enge zu driingen und auf dem erwiihnten Plenum zu besiegen. Damit wurde Milosevic auch zum Liebling der nationalistischen IntellektueIlen, namentlich der Autoren des Memorandums, die ibm wie der Schriftsteller Dobrica Cosic
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und der fiihrende Kopf der Belgrader Sektion der Philosophengruppe ,,Praxis", Mihajlo Markovic, ihre Mitarbeit anboten. Auch sie sollte das klassische Schicksal vieler Milo§evic-Verbfuldeter ereilen: zuerst emporgehoben, dann verraten und schlieBlich gestiirzt. Cosic, Prlisident der neuen Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) von 1992 bis 1993, verschwand nach seiner Absetzung durch Milosevic ebenso in der Versenkung wie der zum Chefideologen der Serbischen Sozialistischen Partei (SPS) aufgestiegene Markovic nach dem Dayton-Frieden. Der Friedensvertrag machte die Vereinigung der parastaatlichen serbischen Gebilde mit Serbien unmoglich, womit die Exponenten dieses Projekts nicht mehr gebraucht wurden. 21.2. Von der Zerstorung der Provinzautonomie zur Aggression gegen die nordlichen Republiken Das Memorandrun, ein ,,Konglomerat von weinerlicher Selbstbemitleidung, gepaart mit Aggressivitlit und Feindseligkeit gegenuber allen anderen Mitbewohnem Jugoslawiens" (Y. Meier), beklagte die Benachteiligung des groJ3ten Volkes Jugoslawiens vor allem durch die Verfassung von 1974. Es lieB auJ3er Acht, dass die Serben imjugoslawischen Staat keineswegs unterreprlisentiert waren. In der Parteispitze, in Polizei und Geheimdienst stark vertreten, dominierten sie mit 65 Prozent des Offizierskorps auch in der Annee. Dies kam Milosevic bei seiner Strategie zugute, die Jugoslawische Volksarmee (JVA) zu einem Instrwnent seiner Politik zu machen. Ein wichtiger Gonner Milosevics am Anfang seiner Karriere war der frUhere langjlibrige Verteidigungsminister und einflussreiche General Nikola Ljubicic, der spliter (Dezember 1990) mit Mira Markovic den ,,Bund der Kommunisten - Bewegung fUr Jugoslawien" grfuldete. Bis zur Ablosung von Admiral Branko Mamula als Verteidigungsminister im Juni 1988 hatten in der Anneefiihrung nochjene Stromungen Einfluss, die die Rolle der JVA als kollektive Nachfolgerin Titos, als starkste und Ietzte Klammer Jugoslawiens, verstanden wissen wollten. Unter Mamulas Nachfoiger Veljko Kadijevic, der bis 1992 im Amt war, wurde die alte Rhetorik nach auJ3en bin beibehalten, aber die Annee, politisch den serbischen Dogmatikem nliher stehend als den Reformem in Kroatien und vor allem Siowenien, wurde Teil des Belgrader Machtgefiiges run Milosevic. In den Territorialverteidigungen (TO) der Republiken sah die JVA - vor allem in Kroatien und Siowenien - bald feindliche Kriifte, gegen die vorzugehen seL SchlieBlich ergriffdie JVA deutlich Partei fUr die serbische Seite und half bei der Versorgung und Aufriistung der serbischen Milizen - in Kroatien zunlichst aus den beschlagnahmten Bestanden der TO. Doch die ersten FeldzUge fiihrte Milosevic ohne Annee. Nach der ersten groBeren Versammlung in Kosovo Polje uberzog im Sommer 1988 eine Serie von scheinbar spontanen, in Wirklichkeit aber minutios geplanten ,,Meetings", sogenannten "VersammIungen der Wahrheit", ganz Serbien. In Gestalt von gedungenen Demonstranten aus dem Kosovo wurde die "serbische Wahrheit" nach ganz Serbien exportiert und als Kampfmittel gegen die Parteifiihrungen und Regierungen in den beiden Provinzen und der Teilrepublik Montenegro eingesetzt. Die Methode der Verkfuldung dieser Wahrheit offenbart ihre Herkunft aus der kommunistischen Wahrheit-Luge-Dichotomie. Als
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oberster Einpeitscher fungierte Miroslav Solevic, ein Serbe aus dem Kosovo, der schon bei der denkwUrdigen BegegnWlg mit Milo§evic in Kosovo Polje Regie gefiihrt hatte. (Zehn Jahre spiiter sollte sich Solevic, von Milo§evic abgehalftert, gegen seinen frUheren Befehlshaber wenden Wld ihm vorwerfen, er habe das Kosovo "verkauft" Wld sich mit einer klinftigen TeilWlg der Provinz abgefunden.) Die Massenbewegoog des "serbischen Sommers" 1988, d. h. der "antibiirokratischen Revolution" (auch "Joghurt-Revolution" genannt, weil die Demonstranten Joghurt-Becher als Wurfgeschosse verwendet hatten) erreichte ihre Ziele mit dem Sturz der montenegrinischen RegiefWlg im Januar 1989 Wld mit der GleichschaltWlg des Kosovo Wld der Vojvodina durch die weitgehende AufhebWlg der Autonomie in der neuen serbischen VerfassWlg Ende M1irz 1989. Zuvor waren die Demonstrationen der Kosovo-Albaner gegen den Angriff aufihre Autonomie Wld gegen die AbsetzWlg der ParteifUhrer des Kosovo, Azem Vllasi Wld Kaqusha Jashari, brutal bek1impft worden. Beim Vorgehen gegen die protestierenden Albaner Wld die streikenden Bergarbeiter (in den Minen von Trepca) griff man zu allen Mitteln; die Medien diffamierten die ,,Konterrevolution" der Kosovo-Albaner. (7 Kap. 8) Auf einer Demonstration von etwa 800.000 Serben am 19. November 1988 in Belgrad, bei der der Tod Vllasis Wld anderer nichtserbischer Politiker gefordert wurde, rief Milo§evic der Menge zu, Vllasi werde der Prozess gemacht werden, denn: "Wir fUrchten uns nicht. Wir gehen injeden Kampfmit der Absicht zu siegen." (Little /Silber) Hohepunkt Wld vorliiufiger Abschluss des Kampfes urn das Kosovo war Milo§evics Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1989, an der Gedenkstiitte Gazimestan nordlich von Prishtina. Milosevic geiBelte anjenem Vidovdan (Sankt-Veits-Tag) vor einer Million Serben Zwietracht Wld Verrat, die zur Niederlage gegen die Heere der Osmanen gefiihrt hatten, Wld hob die jiingste WiedergewinnWlg der nationalen Einheit als (eigene) groBe historische LeistWlg hervor. ,,Reute, sechshWldert Jahre spiiter", rief er der Menge zu, "stehen wir vor neuen Kiimpfen. Noch werden sie nicht mit Waffen gefiihrt, aber dies ist fUr die Zukunft nicht auszuschlieBen." (Milosevic) Nur westliche Beobachter verstanden nicht, dass damit nach den Siegen gegen die autonomen Institutionen in Serbien Wld Montenegro weitere AbrechnWlgen angekUndigt wurden. 1m Jubelschrei tiber die wiedererlangte ,,nationale Einheit" Serbiens verstummte die Klage dartiber, dass Serbien noch immer Wlter zwei autonomen Provinzen ,Jitt" Wld in den Gremien des BWldesstaates nicht mit einer Stimme sprechen konne. Denn die Stimmen der gleichgeschalteten ProvinzregiefWlgen sowie der ebenfalls abhiingigen FtihfWlg in der Teilrepublik Montenegro versetzten Milosevic in die Lage, das kollektive Staatspriisidiurn zu blockieren: Der Belgrader Block hatte mit vier Stimmen - Serbien, Vojvodina, Kosovo Wld Montenegro - das gleiche Gewicht wie die tibrigen vier Teilrepub liken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina Wld Makedonien. Damit waren die Institutionen des BWldesstaates Wld ihre GeschiiftsgrWldlage zerstort; Jugoslawien musste zu Bedingoogen fortbestehen, die Belgrad diktierte. Diese Marschroute der AushOhlWlg f6deraler Institutionen zu Gunsten des Belgrader Hegemonismus setzte allerdings die BeibehaltWlg der Einparteienherrschaft bzw. der zentralistischen Macht des BWldes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) voraus.
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Doch die ,,Losung" des Kosovo-Problems durch die Belgrader Fiihrung erregte in den Fiihrungen anderer Teilrepubliken Besorgnis. Wenn Serbien seine Verfassung einseitig iindern durfte, wollte dies auch Slowenien fUr sich beanspruchen. Schon im Januar 1989 hatte das ZK der slowenischen Partei die Einftihrung des Mehrparteiensystems beschlossen. Am 27. September 1989 beschloss das Parlament in Ljubljana durch mehrere Verfassungszusatze unter anderem die alleinige Zustiindigkeit Sloweniens fUr die Verhiingung des Ausnahmezustands. Das war ein Schritt in die Richtung einer "asymmetrischen FOderation" aIs kiinftiger Staatsform fUr Jugoslawien, ein von Ljubljana zu jener Zeit noch favorisiertes Konzept. (7 Kap. 2) In Belgrad reagierte man auf die Verfassungszusatze mit dem Abbruch aller Beziehungen zu Slowenien und einer Wirtschaftsblockade. Milosevic, der im November 1989 yom Parlament zum neuen Prasidenten Serbiens gewahlt worden war, ging zum offenen Kampfuber: ,,Diese slowenische Fiihrung ist ein Huter des Konservatismus in Jugoslawien ... ", weil sie sich den ,,Kraften des Fortschritts in Jugoslawien", d.h. den ,,fortschrittlichen okonomischen und politischen Veriinderungen in Serbien" widersetze (Little/Silber). Der Streit zwischen Ljubljana und Belgrad sollte kurz darauf zum Zerfall des BdKJ bei dessen 14. auBerordentlichen Kongress yom 20. Januar 1990 fiihren. Der Kongress lehnte - in der Manier des 8. Plenums des ZK Serbiens - aIle Vorschlage der slowenischen Abgeordneten rundweg abo Daraufhin verlieBen die Slowenen den Kongress, und nachdem auch die kroatischen Delegierten gingen, war die "antibiirokratische Revolution", also die Festigung der Macht der serbischen Partei auf Bundesebene gescheitert. Die Entwicklungen in Kroatien verliefen zunachst im Windschatten der Konfrontation zwischen Belgrad und dem Kosovo sowie zwischen Serbien und Slowenien. Die kommunistische Partei (SKH) war in mehrere Fraktionen gespalten. Ein Teil, reprasentiert durch den Dogmatiker Stipe Suvar, setzte aufLoyaIitat gegenuber der Bundespartei. Dies deckte sich mit den Vorlieben eines erheblichen Teils der serbischen Mitglieder und Funktionare der SKH und lief auf eine Unterstiitzung Milosevics hinaus. Angesichts der aggressiven Politik Milosevics und des passiven Verhaltens der Parteispitze unter Andjelko Stojcevic verbreitete sich in ihren Reihen Panik. Doch dann setzten sich die gemaBigten Reformer unter Ivica Racan und Zdravko Tomac durch, die das Parteimonopol aufhoben und freie Wahlen ankiindigten, da die demokratischen Stromungen im Lande unauthaltsam waren. (7 Kap. 28) Trotzdem herrschte Angst im Land, und neue Parteien wurden nur zogerlich gegriindet. Am entschlossensten war die Gruppe um Slavko Goldstein, Vlado Gotovac und DraZen Budisa, die die Sozialliberale Partei griindeten (HSLS). Die im Februar 1989 gegriindete Partei Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) unter Franjo Tudman wurde erst im Dezember 1989, wenige Monate vor den ersten freien Wahlen, legalisiert. Das Jahr 1990 erscheint in der Auseinandersetzung zwischen dem Machtblock in Belgrad um Milosevic und den anderen Teilrepubliken wie eine Atempause. Weil in allen Teilrepubliken die ersten freien Wahlen abgehalten wurden, mussten sich die neuen Machtverhaltnisse in den Teilstaaten erst herauskristallisieren. Nach Slowenien im April, Kroatien im Mai, Makedonien im November und Bosnien-Herzegowina im NovemberlDezember folgten Serbien und Montenegro als Schlusslicht mit Wahlen am
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9. und 23. Dezember 1990. In Slowenien und Kroatien gewannen die nicht kommunistischen Parteien, was fUr den Machtblock in Belgrad, wo Milosevies in Sozialisten urnbenannte Kommunisten (SPS) 194 von 250 Mandate im serbischen Parlament errangen, eine Herausforderung war. In Kroatien gelang der HDZ Tudmans, auch begiinstigt durch das Mehrheitswahlrecht, ein Erdrutschsieg. Tudman schien aber bereit, mit dem FUhrer der Serbischen Dernokratischen Partei (SDS), Jovan Raskovie, zusammenzuarbeiten. Raskovie, ein bekannter Psychiater aus Sibenik, war wie so viele kroatische Serben durch den drohenden Verlust des jugoslawischen Gesamtstaates innerlich gespalten. In Belgrad gehOrte er zum Kreis der intellektuellen GrUnder der Demokratischen Partei (DS), deren kroatischen Ableger (SDS) er 1990 ins Leben rief. Damit geriet er unversehens in den klandestinen Machtbereich, in dem Milosevie schon an der Destabilisierung Kroatiens arbeitete. Raskovie versuchte als legitimer Abgeordneter eine loyale und gleichzeitig kritische Position zur Republik Kroatien, wurde aber im Kreuzfeuer der nationalistischen Hetze aus Belgrad und dern instinktlosen Vorgehen der neuen Fillrrung in Zagreb aufgerieben. Vor allem wurde er, der gewisse kroatische Sympatbien und breite Unterstiitzung der dortigen serbischen Bevolkerung genoss, von Milosevie im politischen Kampf verheizt. Denn Belgrad war an serbischen Abgeordneten im kroatischen Parlament und an einer politischen Auseinandersetzung nach dernokratischen Regelo nicht interessiert. Die serbischen Abgeordneten wurden aus Belgrad unter Druck gesetzt, das Parlament zu verlassen, und die Politiker der SDS wurden zu Vollstreckern der Plane Milosevies. Der serbische Geheimdienstchef Jovica Stanisie organisierte bereits 1990 zusanunen mit den Serben in der kroatischen Filiale des Sicherheitsdienstes, dem Kommandanten der Kniner Garnison, Oberst Ratko Mladie, und anderen "Soldaten" wie Goran HadZie und Milan Martie ein Netz, mit dem nach dem Plan RAM - der Krieg fUr die "serbischen Territorien" vorbreitet wurde. Raskovie war noch vor seinem Tod durch den Radikalen Milan Babie ersetzt worden, der seine Befehle direkt von Milosevie bekam. (7 Kap. 22) Der Verteidigungsminister Kadijevie arbeitete 1990 entsprechende Plane aus, die vorsahen, dass man - seiner Dberzeugung nach - zum Einsatz der Armee bereit sein miisse, und zwar ,,in Slowenien bereits im September, in Kroatien vielleicht im Oktober und im Kosovo jederzeit". Die ,,Idee", dass man zunachst "die Unruhen nicht unterbinden, sondern sich ausweiten lassen" solIe, urn sie dann fUr die ,,Beseitigung" der verantwortlichen Fillrrung auszunutzen, passte genau zur Strategie Milosevies. Das Vorhaben der Armee beschrieb Kadijevie im Februar 1991 folgendermaBen: ,,In Kroatien ist die serbische Krajina politisch und institutionell zu swken und die Ablosung von Kroatien zu unterstiitzen (nicht in der Offentlichkeit, aber via facti)". Diese Einblicke in das Innere von Milosevies Liaison mit der Armeespitze lieferte 1995 Borisav Jovie mit der Veroffentlichung seiner Tagebuchnotizen. Am 15. Mai 1990 hatte er, einer der engsten Vertrauten Milosevies, turnusmiiBig den Vorsitz im jugoslawischen Staatsprasidiurn von dem Slowenen Janez Drnovsek iibernommen. Jovie stellte sich vor allern gegen den ,,BetrUger und Feind des serbischen Volkes", den neuenjugoslawischen Ministerprasidenten Ante Markovie. Dieser Wirtschaftsreformer galt bei seinem Regierungsantritt am 19. Januar 1989 vielen als Hoffnungstrager, der Jugoslawien aus der Krise und weiter nach Europa fiihren wiirde. Schnell
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wurde der Kroate Markovic zum Liebling der geml:iJ3igten Mittelschicht und besonders der westlichen Botschafter in Belgrad. Doch gegen die Wucht der Krise kam Markovies verspatetes Reformprogramm ebenso wenig an wie gegen die vor aUem von Milosevic geschiirte nationale Glut. Die Macht des Regierungschefs war im jugoslawischen System ohnehin auf den Wirtschaftsbereich beschriinkt; angesichts der politischen Krise zeigte sich Markovic bis zu seinem Riicktritt am 20. Dezember 1991 unf8hig, eine Wende in einem sich vor aller Augen entwickelnden Drama einzuleiten. 21.3. Von den Eroberungen in Bosnien zur Niederlage im Kosovo Noch besser als die Behinderung der Regierung funktionierte wlihrend der Amtsperiode Jovics das Einbinden von Geheimdiensten und Militlirapparat in die Kriegsvorbereitungen. Am besten aber funktionierte die Propaganda, die unter mal3geblicher Beteiligung der Sicherheitsdienste entwickelt wurde. Die Entwicldungen in Zagreb nach dem Machtwechsel waren willkommener Anlass, die Angst der Serben Kroatiens vor einer angeblich bevorstehenden Wiederholung der Ustascha-Herrschaft zu schiiren. Nach den Albanem und den Slowenen nahmenjetzt die Kroaten den Platz als schlimmste Feinde der Wahrheit, des Fortschritts und ganz allgemein des serbischen Volkes ein. Auch spater soUten immer wieder neue Wahrheits- und Serbenfeinde ausgemacht werden. Einmal der imperialistische Westen, dann die demokratische Opposition im eigenen Land, zwischendurch die Muslime im SandZak, schlieBlich die politische Fiihrung Montenegros. Es war eine stliodige Ablosung von Paradigmen ohne Wechsel des gnmdlegenden Paradigmas: Die Platzhalter kamen und giggen, die dichotomische Gnmdstruktur blieb. Da das agonale Gnmdpriozip den Gedanken an Kompromisse ausschlieBt, unterstiitzte Belgrad bei den Konflikten der kroatischen Serben mit der Regierung in Zagreb - und spater der bosnischen Serben mit der Zentralgewalt in Sarajevo - immer die radikale Fraktion. Es soUte nicht lange dauem, bis auch die ,,Feinde des serbischen Volkes" im Inneren ins Visier gerieten. Es waren die politische Opposition, die Studenten, die sich am 9. Mlirz 1991 zu einem Massenprotest auf dem Belgrader Platz der Republik gegen die Informations- und Kriegspolitik Milosevics versammelten. Die Demonstration, an deren Spitze der Vorsitzende der Serbischen Emeuerungsbewegung (SPO) Vuk DraSkovic stand, war zuvor verboten worden. Es kam zu StraBenschlachten, in der Nacht roUten Panzer durch Belgrad, DraSkovic wurde verhaftet. In einer Rede im Femsehen verteidigte Milosevic das Vorgehen der Armee: ,,Heute wurde das hOchste Gut, das unser Land und unser Yolk besitzen, in Gefahr gebracht. Unser Friede war in Gefahr." (Little/Silber) Milosevic, der sich offensichtlich bedroht fiihlte, empfing sogar eine Abordnung der Studenten, denen er zuhorte, aber keine Zugestliodnisse machte, denn: ,,Die Leute soUten die Dinge nicht destabilisieren in Zeiten, in denen wir versuchen, die wiederauferstehenden faschistischen Kriifte der Ustascha, der albanischen Sezessionisten und aller anderen Krafte der antiserbischen Koalition ... zu beklimpfen." (Little/ Silber) 1m intimen Kreis versicherte sich Milosevic der Unterstiitzung der Armee gegen die Opposition. Ermuntert von Kadijevics Zusage (Jovic, am 17. 3. 1991) sagte er
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vor 200 serbischen Biirgenneistem, die nach Belgrad eingeladen worden waren, um in die EinsatzpHine der Annee eingeweiht zu werden: "Wenn wir dazu gezwungen sind, werden wir kampfen". Hier fiel auch die seltsame Behauptung: "Ich hoffe, sie werden nicht so verriickt sein, gegen uns anzutreten. Denn wenn wir schon nicht wissen, wie man arbeitet und Geschafte macht, so wissen wir doch, wie man kampft." (Vreme, 15.4.1991) Auf diesen im Grunde fUr das serbische Volk beleidigenden Satz gab es in Serbien keine offentlichen Reaktionen. Die Tatsache, dass er die eigenen Landsleute als faul und unfahig, dafUr als kriegsliistem hingestellt hatte, wurde indes in den anderen Republiken geme polemisch aufgegriffen. Wie sich in den kommenden Jahren zeigen so lite, zerfiel unter der Fiihnmg Milosevies so gar die vorgebliche Kriegskunst des serbischen Militars zu Staub. Vier Kriege - 1991 gegen Slowenien und gegen Kroatien, 19921995 gegen Bosnien-Hercegovina und schlieBlich 1998/99 gegen die Albaner im Kosovo und gegen die Nato - zettelte Milosevie an und verlor sie aIle. (7 Kap. 34) Eine innenpolitische Krise jagte wahrenddessen die andere. Die Wirtschaft des Landes, fest im Griff der Nomenklatura, versank in einem Zustand der Dauer-Agonie. In den zehn Jahren von Milosevies Herrschaft ist in Serbien keine echte Refonn unternommen worden. Serbien ist das einzige Land des ehemaligen real-sozialistischen Blocks, in dem die wesentlichen Machtstrukturen des alten Regimes unverandert blieben. Neue Gesetze brachten meistens neue Restriktionen (so an Universitaten und in den Medien) oder schufen Moglichkeiten fUr die personliche Bereicherung der Familie Milosevie-Markovie und deren Giinstlinge. Ais Zoran Bindie, Vorsitzender der Demokratischen Partei (DS), wahrend seiner kurzen Amtszeit als Belgrader Oberbiirgenneister den katastrophalen Zustand des offentlichen Verkehrs durch Anschaffung von ausgemusterten Bussen aus deutschen St1idten zu beheben versuchte, wurden die Busse an der jugoslawischen Grenzen gestoppt. Selbst eine zaghafte Nonnalisierung der Gesellschaft scheint also fur das Machtsystem Milosevies Gefahr zu bedeuten. In den Monaten vor und unmittelbar nach dem Friedensschluss von Dayton im November 1995 zur Beendigung des Bosnien-Krieges schien sich Serbien aus der intemationalen Isolierung befreien zu konnen. Die im Mai 1992 verhangten Sanktionen der Staatengemeinschaft wurden aufgehoben, das Volk atmete auf. Wahrend fUr die meisten Nachbarrepubliken der Nationalstaat Ziel der Politik war, bestimmte der Nationalismus fUr MiloseviC kein Ziel, sondem war bloB Mittel zum Zweck des eigenen Machterhalts. So verhielt es sich anscheinend auch mit den Kriegen Milosevies, die durch seine Unfahigkeit zu politischen Kompromissen entfacht wurden. Milosevie gab sein Nachgeben als Sieg aus. Die immer eklatanteren und katastrophaIeren Niederlagen verwandelte er mit immer gleicher Rhetorik in Siege seines ,,Kampfes fUr den Frieden" und fUr das "Wohlergehen des serbischen Volkes". Fiir den Fall der ,,Krajina" und den Exodus der Serben aus Kroatien wurde Mile Martie verantwortlich gemacht. Den Dayton-Vertrag legte Milosevie als Rettung des serbischen Volkes in Bosnien-Herzegowina und somit als Sieg nach einem langen Kampf fUr die Rechte der Serben in der Nachbarrepublik aus. Die Schuld am Krieg wurde allein Radovan Karadzie zugeschoben. Schon zuvor hatte die traditionsreiche Belgrader Zeitung Politika, Sprachrohr der Regierung, den Kontaktgruppenplan, der die Existenz der "Serbi-
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schen Republik" in Bosnien sanktionierte, als ,,nicht antiserbisch" bezeichnet. Auch die Annahme der ,,militfuisch-technischen Vereinbarung" zum Riickzug aller serbischjugoslawischen Truppen aus dem Kosovo yom 9. Juni 1999 gab Milosevic als Sieg aus. Als batte man durch das Erdulden der Luftangriffe der Nato die territoriale Integritiit Jugoslawiens und das Kosovo als Serbiens Bestandteil bewahrt. Die Zukunftschancen Jugoslawiens hatte Milosevic in Wahrheit im Miirz 1999 bei den Friedensverhandlungen von Rambouillet zunichtegemacht und danach eine Gewaltaktion gegen die Kosovo-Albaner begonnen, was ihm am 27. Mai 1999 die Anklage als Kriegsverbrecher yom Haager Tribunal einbrachte. Die virtuelle Wirldichkeit von Milosevics Siegen in einem Krieg, in dem es keine Verluste und nur dann zerstOrte Briicken gibt, wenn Milosevic den Neuaufbau einweiht (so der Belgrader Journalist Petar Lukovic), wird in Serbien weiter verkiindet. Als 1995 der Friedensschluss fUr Bosnien gelang, trog der Schein einer moglichen Befriedung der Region. Die Nachkriegszeit von Dayton war zugleich Vorkriegszeit im Kosovo. Als Mitte Juni 1999 der Riickzug der geschlagenen serbisch-jugoslawischen Truppen und der Einmarsch der intemationalen Friedensstreitmacht begann, fing in Kosovo die Nachkriegszeit an, und es muss die Frage nach dem nachsten moglichen Opfer gestellt werden, dessen Vorkriegszeit damit eingelautet worden sein konnte. Milosevics Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln braucht immer neue Feinde. Das Staatsgebilde, zu dessen Prasident sich Milosevic Ende 1997 wahlen lieB, basiert auf einer seiner Finten. Als Bundesrepublik Jugoslawien (SRJ) wurde es im April 1992 aus den Teilrepubliken Montenegro und Serbien gegriindet, urn das Erbe der zerfallenen Sozialistischen FOderation Jugoslawien anzutreten. Spater sollten sich diesem Kemstaat die eroberten serbischen Gebiete in Kroatien und Bosnien-Herzegowina anschlieBen. Die SRJ (Flache: 102.173 km2, 10.574.000 Einwohner) war stets politischer und wirtschaftlicher Privatbesitz von Milosevic und seinen Gefolgsleuten. Nicht nur die Spannungen zwischen der Zentralgewalt und dem Kosovo wuchsen, sondem seit Mitte der neunziger Jahre auch mit der Vojvodina, wo Ungam und gemaBigte Serben mehr Selbstbestimmung und Unabhiingigkeit von Belgrad forderten. Die Aufhebung der Autonomie traf die Vojvodina ebenso wie das Kosovo, traf nicht nur politische, sondem auch kulturelle Institutionen, deren Verwaltung zentralisiert wurde. Die kleinere Teilrepublik Montenegro war seit dem Amtsantritt des reformfreudigen und westlich orientierten Prasidenten Milo Dukanovic im Januar 1998 permanent von einem Putsch aus Belgrad bedroht. Selbst die serbische Bevolkerung, sofem sie sich nicht fiigte und etwa bei den Kommunalwahlen yom November 1996 in den GroB- und Mittelstadten einschlieBlich Belgrads mehrheitlich das Oppositionsbi.indnis ,,zajedno" (Gemeinsam) wahlte, wurde mit innerer Belagerung belegt. Die Demonstrationen gegen die Fiilschung der Kommunalwahlergebnisse dauerten im "demokratischen Friihling" des Winters 1996/97 drei Monate, ehe Milosevic den Sieg der Opposition anzuerkennen bereit war, wenn auch nur formell. Belgrad ist freilich auch eine Bastion Milosevics, denn ein groBer Teil der Einwohner besteht aus aktiven oder pensionierten AngehOrigen des Machtapparates. In einigen Stadten (Kragujevac, Leskovac, Nis) und im serbischen Kernland (Surnadija) regten sich Proteste gegen Milosevic noch zur Zeit seines Kroatien-Krieges. Die
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Menschen konnten nicht verstehen, wofUr sie oder ihre Angehorigen in Gebieten auBerhalb von Serbien k1impfen und sterben sollten. Das deutet an, dass Milosevic nie ein Konzept hatte, das die Interessen der Serben in ihrem Kernland beriicksichtigte. Mindestens ein weiterer "ethnischer Krieg" ist noch moglich. In der Region SandZak blieb die Situation fUr die muslimische BevOlkerungsmehrheit unverandert schlecht. Dieses etwa 8.600 Quadratkilometer groBe Gebiet mit einer halben Million Einwohnem gehOrt jeweils zur Halfte zu den jugoslawischen Teilrepubliken Serbien und Montenegro. Die Bewohner des Sandzak (nach der Gebietshauptstadt auch Sandzak von Novi Pazar) sind zu knapp zwei Dritteln Muslime, die sich der Nation der Bosniaken zurechnen. Den Rest der BevOlkerung stell en im nordlichen Teil Serben und im stidlichen Teil Montenegriner. In Novi Pazar wurden die Kommunalwahlergebnisse vom November 1996 durch Belgrad faktisch aufgehoben. Der gewahlte muslimische Biirgermeister wurde durch einen serbischen ersetzt, selbstredend ein Parteiganger MiloseviCs. Das Streben der Partei der Demokratischen Aktion (SDA) nach lokaler und kultureller Autonomie des Sandzak fand in Belgrad kein Gehor. Da die Muslime im Sandzak Serbisch sprechen und historisch nicht als selbstandige Volksgruppe, sondem als Serben islarnischer Konfession betrachtet wurden, ist es fUr sie heute urn so schwieriger, eine begrenzte Selbstverwaltung zu erstreiten. 1m nationalen Furor des KosovoKrieges nahm auch die Bedrohung der Muslime im serbischen Sandzak deutlich zu. Wahrend des Luftkrieges der Nato und der beschleunigten "ethnischen Sauberung" des Kosovo von Ende M1irz bis Mitte Juni 1999 flohen mehrere Zehntausend aus dem Sandzak, die meisten nach Bosnien. 1m montenegrinischen Teil hingegen arbeitete die dortige SDA mit der Regierungspartei Dukanovics zusarnmen. Die Konflikte konnen sichjederzeit und tiberall dort zuspitzen, wo aus dem Kosovo abgezogene Soldaten, Sonderpolizei und Paramilitars massiert werden. Dazu kommt, dass sich Milosevic in seiner Grundhaltung treu blieb - bei hochster ideologischer "Flexibilitat", trotz Wandel vom Kommunisten rum Nationalisten, vom Kriegstreiber rum FriedensfUrst und jeweils zuriick. Dieses Grundprinzip einer zu Kompromissen unfahigen Gewaltpolitik nicht erkannt (oder verdrangt) - und deshalb nicht rechtzeitig mit Gewaltmitteln bek1impft zu haben, ist das Versagen des Westens. Milosevic hat aus jedem politischen Problem ein noch groBeres gemacht - das man dann mit politischen Mitteln nicht mehr lOsen konnte.
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22. Der Krieg an seinen SchaupUitzen Erich RathJelder
22.1. Der Auftakt In der alten Festungs- und Grenzstadt Knin, die in ihrer Gescbichte schon viele Soldaten beherbergt hatte, waren im Marz 1991 serbische Milizionare aufgetaucht. 1m Gespriich blieben sie Fremden gegenuber auf der Hut: Ein aus Zagreb stammender Polizist gab an, er habe seinen Job aufgegeben und sei mit der ganzen Familie bierher urngezogen, urn "seinem Volk zu dienen". Milan Babic, ein Zahnarzt aus der Region Knin, hatte schon im Sommer 1990 mehrheitlich serbische Gemeinden in der ,,Krajina" zu einem Verband zusammengeschlossen. Die ortlichen BehOrden stellten bald darauf ihre Zusammenarbeit mit der neuen kroatischen Regierung ein. Bereits im August 1990 wurden VerbindungsstraBen zwischen der Adria und der Landeshauptstadt mit Barrikaden aus Baurnstammen unterbrochen. Das Gebiet ,,Autonome Region Krajina", das sich im Marz 1991 fUr unabhangig erldiirte, umfasste zu diesem Zeitpunkt schon Teile der nordlich sich anschlieBenden Landschaften der Lika und des Kordun/Banija. Die am 19. Dezember 1991 gegriindete "Serbische Republik Krajina", die zusammen mit den im Herbst 1991 eroberten Gebieten Slawoniens dann fast ein Drittel des kroatischen Staatsgebietes umfassen sollte, nahm zu diesem Zeitpunkt Konturen an. Die ,,Autonome Region Krajina" steHte die gesamte Verwaltung nach den neuen Bediirfnissen urn. In den BehOrden hOrte man nur noch auf das Kommando von Milan Babic, nach dessen Vorstellungen "die Bundesgesetze in der Krajina" nicht angetastet, die neuen kroatischen aber abgelehnt werden sollten: "Wird Kroatien fUr unabhangig erkliirt, so werden wir Serben der Krajina nicht zogern, fUr unsere Rechte einen Krieg zu fiihren. " Der Kommandeur der serbischen Truppe, Milan Martie, lieB ebenfalls keine Zweifel autkommen: Wenn die ,,kroatische Miliz" bier eingriffe, urn die Hoheitsrechte der Republik Kroatien wiederherzustellen, kame es zum bewafIneten Kampf Zu der schon vorher existierenden Miliz in diesem Gebiet, die 300 Mann umfasste, wurden nach und nach Reservisten und Freiwillige fUr den Kriegsdienst in den MarticTruppen mobilisiert, bis sie die Starke von mehreren Tausend erreichten. Die JVA warnte die kroatische FUhrung auch, einen Angriff auf Knin zu versuchen, weil sie in diesem Fall den offenen Krieg riskierte. Am 31. Marz 1991 war es dann so weit: Bei Plitvice gellten die ersten Schlisse, als kroatische Polizei das Gelande sichem wollte. Und erstmals waren Tote zu beldagen, je einer aufjeder Seite. Auch in Slawonien hatten die Radikalen mit Untersrutzung von Se§eljs Tschetniks aus Belgrad das Gesetz des Handelns an sich gerissen. Als dann am 2. Mai in dem slawonischen Ort Borovo Selo mindestens 12 kroatische Polizisten von serbischen Freischarlem ermordet und 20 verletzt wurden, waren die Fronten verhartet. Anfanglich noch verdeckt, gab die Jugoslawische Volksarmee, die nach auBen bin
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den Eindruck der Unparteilichkeit zu erwecken versuchte, Waffen an diese Truppen aus. Die kroatische Fiihrung, die sich lediglich auf Polizeitruppen stiitzen konnte, gab vor, sich auf die Schiedsrichterrolle der Armee zu verlassen. Anders als in Kroatien bezogen in der Nachbarrepublik Slowenien, die sich am 25. Juni fUr unabhangig erkliiren wollte, die slowenischen territorialen Verteidigungsstreitkriifte (TO) am Vorabend der Unabhangigkeitserkliirung Stellung. Das slowenische Parlament hatte schon Ende September 1990 beschlossen, die rund 40.000 Mann starken territorialen Verteidigungsstreitkriifte unter den Befehl der slowenischen Regierung zu stellen, womit es sich den Planen der Generalitat der Jugoslawischen Volksarmee von 1989 widersetzte, die die TO bis zum Jahre 1992 restlos auflosen wollte. Bei der ersten Aktion der NA gegen Slowenien versuchten der jugoslawische Verteidigungsminister Veljko Kadijevic und sein StabsschefBlagoje Adfic noch den Anschein der Legalitat zu wahren. Als am friihen Morgen des 27. Juni 1991 die Einsatze zur "Sicherung der Grenze" begannen, hieB es, die Armee handle bei ihrem Angriff im Einklang mit Ministerpriisident Ante Markovic, der den Einsatz der Armee im Sinne einer "begrenzten Polizeiaktion" billigte - wozu er aber laut Verfassung nicht befugt war. Falls die Kontrolle tiber Slowenien nicht zuruckgewonnen werden konnte, sab der Altemativplan vor, "das Problem" unter ,,Einsatz aller verfiigbaren militarischen Mittel" zu lOsen. (7 Kap. 23) 22.2. Wie man die Staatsgrenzen siebert
Der Flughafen und 37 Grenziibergange wurden zum ersten Angriffsziel der Jugoslawischen Volksarmee. Uberall kam es zu SchieBereien, besonders heftig an der Grenze zu Italien und an einigen Grenziibergangen nach Osterreich. 1m Gegensatz zu den Erwartungen der Generalitat wehrten sich die slowenischen Territorialeinheiten, die Kasernen der NA wurden urnzingelt. Die Europrusche Gemeinschaft griff beschwichtigend ein. Als am 28. Juni die so genannte Troika der EG - Jacques Poos, Hans van den Broek, Gianni di Michelis nach Belgrad fuhr, wartete man in Ljubljana gespannt auf die Verhandlungsergebnisse. Die Beschltissen forderten den Riickzug der NA in die Kasemen, die Unabhangigkeit Sloweniens und Kroatiens wurde fUr drei Monate ausgesetzt. In einer Erkliirung forderte General Marko Negovanovic, der Kommandeur der militiirischen Gegenspionage (KOS) und Mitglied des Generalstabs, die slowenische Fiihrung auf, sich bedingungslos den Forderungen der Armee zu unterwerfen, andernfalls werde die Armee mit allen verfiigbaren Mitteln eingreifen. Aber Prasident Milan Kucan gab nicht nach, wusste er doch die BevOlkerung geschlossen hinter sich. Wahrend der vergangenen vier Tage des Krieges war ein Patt hergestellt worden, es gelang den Slowenen sogar, 700 Soldaten des Gegners gefangen zu nehmen. Die BevOlkerung verhielt sich ruhig, es kam weder zu Panik noch zu Fluchtbewegungen - obwohl in Osterreich schon Zeltstadte auf einen Fliichtlingsstrom warteten. Slowenien habe nichts zuruckzunehmen, konterte auch das slowenische Parlament in einer Erkliirung, die Okkupationsarmee miisse sich sofort zuruckziehen. Verteidi-
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gungsminister Janez Jansa wies in einer Erklarung daraufhin, dass sofort Waffenstillstandsverhandlungen aufzunehmen seien, wie es zwischen Krieg fiihrenden Parteien tiblich sei. Es gehe nur noch urn die Bedingungen fUr den Rtickzug der NA. Danach konne auch tiber das Schicksal der Gefangenen gesprochen werden. Am 6. Tag nach den Feierlichkeiten zur Unabhiingigkeit machten sich panzereinheiten aus dem kroatischen Stiidtchen Jastrebarsko, wo eine groBe Garnison der NA stationiert war, auf den Weg in Richtung Slowenien. Die Panzer tiberrollten eine aus Lastwagen gebildete StraBensperren an der kroatisch-slowenischen Grenze. Doch viel weiter wagten sich die jugoslawischen Truppen nicht vor. Der Angriff aufSlowenien IOste nfun1ich Auseinandersetzungen innerhalb der Volksarmee selbst aliS. Am gleichen Tag wurde der Oberkommandierende des 5. Armeekorps und bis dahin zustiindig fUr die Operationen in Slowenien, General Konrad Kolsek, selbst ein Slowene, durch den serbischen Panzergeneral Zivota Avramovic, der bisher das Kommando in Skopje und damit auch im Kosovo innehatte, ersetzt. Dennoch gab die Armee am 7. Tag nach der Unabhiingigkeitserklarung den Kampf urn Slowenien und damit urn Jugoslawien auf Die Bilanz der bewaffueten Auseinandersetzungen ergab 52 Tote, 280 verwundete Soldaten und Zivilisten. Von den 2.144 ,,Kriegsgefangenen", wie jetzt die Sprachrege1ung hieB - die meisten davon waren Uberlaufer - wurden viele sogleich in ihre Heimatrepubliken iiberstellt. Doch einige Gefangene, vor allem Albaner, iiberlegten sich, in Slowenien urn Asyl nachzusuchen. Anders als von vielen erwartet, hatte sich die serbische Fiihrung in Bezug aufSlowenien zuriickgehalten. Zwar griff Milosevic Slowenien offentlich an, insgeheim jedoch stimmte der Prasident Serbiens mit den Vorstellungen der serbischen Nationalisten iiberein, denen zufolge der serbische Staat an der Linie Karlobag-Karlovac-Vitrovica endete, die Kroatien urn drei Viertel seines Territoriurns amputierte. Die groBserbische Option war als Zielvorstellung von der NA tibemommen worden.
22.3. Der Krieg urn neue Grenzen und die UNO in Kroatien
Der kroatische Prasident Franjo Tudman hatte sich abwartend verhalten, da er einen Krieg mit der NA fUr Kroatien zu diesem Zeitpunkt fUr zu gefahrlich hielt. In den Regierungsgebauden in der Altstadt Zagrebs herrschte Unsicherheit und Konfusion. Mit wachsender Sorge sahen die Berater der Untatigkeit ihres Prasidenten zu. Kroatien miisse als okkupiertes Land angesehen werden, die Kasemen der NA sollten sofort von kroatischen Polizeieinheiten urnstellt und blockiert werden. Die Waffen seien an die Kroaten zu iibergeben, forderte nicht nur General Martin Spegelj, der schon Monate zuvor versucht hatte, Waffen nach Kroatien schmuggeln zu lassen und eine gemeinsame Strategie mit den Slowenen zu erarbeiten. Wlihrend die Slowenen schon ein Jahr vor der Unabhiingigkeit neue Gesetze, neue Formulare, Passe, eigenes Geld vorbereiteten, neue Polizeieinheiten aufstell ten und eine Armee aufbauten, sei in Kroatien bisher fast nichts passiert, kritisierten sie. Doch Tudman blieb bei seinem Kurs und setzte weiter aufVerhandlungen, wobei er die intemationale Gemeinschaft zu einer entschiedenen Stellungnahme fUr Kroatien
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bewegen woHte. Diesen Kurs suchte er durch eine Ubereinkunft mit den Oppositionsparteien abzusichem. Die Opposition stimmte Ende Juli zu, eine Regierung der Nationalen Einheit zu bilden, der neben der Volkspartei von Savka Dabcevie-Kucar die Liberalen (Drazen Budisa) und auch die Ex-Kommunisten (Zdravko Tomac) angehOrten. Zaghaft wurde versucht, eine kroatische Armee aufzustellen. Offiziere des Aufbaustabes saBen in diesen Julitagen 1991 in einem Bul'O, das nicht einmal uber genugend TelefonanschlOsse verfiigte. Die Mobilisierung der Bevolkerung in den Betrieben, die Urlaubssperren und die Mobilisierung der Territorialen Verteidigungseinheiten dienten mehr der psychologischen Beruhigung und sollten den Serben Kampfbereitschaft signalisieren. ,,Aber zu diesem ZeitpWlkt lagen wir am Boden, hatten der serbischjugoslawischen Kriegsmaschine lediglich die Polizeieinheiten entgegenzusetzen. Die Territorialen Verteidigungseinheiten verfiigtenkaurn uber Waffen; diese warenja schon Monate zuvor von der Armee beschlagnahmt worden," klagten spliter Mitglieder des Generalstabs. Kroatien, das wie ein Hufeisen aussieht, ist angesichts der strategisch ungiinstigen Gestalt sogar mit einer intakten Armee nur schwer zu verteidigen. "Wir wussten, dass der Gegner danach trachten wiirde, unser Territoriurn in einzelne StUcke zu zerschneiden, urn dann die Einzelteile zu uberroUen." Man bemiihte sich verzweifelt, die Krlifte an den entscheidenden Schnittstellen zu konzentrieren: Der Zugang zur KOste soUte den Serben abgeschnitten werden, Karlovac so Ute gesichert werden, urn einen DurchstoB der serbischen Truppen zu der ein paar Kilometer entfemten slowenischen Grenze zu verhindem, in Westslawonien musste der serbische Vormarsch urn jeden Preis gestoppt werden. Wlihrenddessen machte auch die serbische Fiihrung unter Milan Babic und Milan Martie Plline, wie sie ihre strategischen Ziele erreichen konnten. ,,Die schneUen Anfangserfolge so11ten uns nicht dazu verleiten, ins ofI'ene Messer zu rennen." WafI'en hlitten sie zu diesem Zeitpunkt zwar genug gehabt, erkllirte drei Jahre spliter einmal Milan Martie in Knin, "aber wir hatten nicht genugend Leute". AuBerdem war es - zum Gluck fUr die Kroaten - noch nicht gelungen, die Aktionen der serbischen Freischarler und der Armee auf dem gesamten Staatsgebiet Kroatiens zu koordinieren, was in der engeren ,,Krajina" schon reibungslos funktionierte. Denn mit Ratko Mladie, einem aus der Ostherzegowina stammenden Oberst, der zuvor ein Kommando im Kosovo innehatte, wurde ein Kommandeur fUr die Region Knin zustlindig, der schon lange ofI'en mit den Extremisten sympathisierte. Martie und Mladie entwickelten ein Modell, wie die Aktionen der Freiwilligen und der von Kroaten, Slowenen und anderen Nationalitliten gesauberten Armeeeinheiten zu koordinieren seien. Mit dem Angriff auf das kroatische Dorf Kijevo bei Knin am 26. August wurde diese Strategie erstmals durchgehend erprobt: Zuerst wurde die serbische Bevolkerung der ins Visier genommenen Region gewarnt und zur Flucht aufgefordert. Dann nahm die Armee mit schweren Waffen die Verteidiger unter Beschuss. Nachdem der Widerstand erloschen war, kamen die Freiwilligenverblinde des Milan Martie. Sie drangen in das Dorf ein und eroberten es. Von dem schon gesicherten Terrain aus wurde dann die Offensive fortgesetzt, ohne die eigenen Kriifte zu zersplittem. Mit dieser Strategie brauchte die Armee nicht einmal die direkte Verantwortung fUr das, was danach geschah, zu ubemehmen. Die Freischlir-
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ler ihrerseits konnten angesichts dieser Befehlsstruktur ohne Riicksicht vorgehen: Die Wertsachen und die Mobel, alles Verwertbare wurden abstransportiert. Diese Strategie sollte sich spater auch in Bosnien-Herzegowina durchsetzen. Und auch dort sollte sich wiederholen, was in Kroatien schon zu erfahren war: Nur wenige serbische Zivilisten waren bereit, ihre Nachbarn und Freunde vor dem bevorstehenden Angriffzu warnen. In Zagreb war die Unruhe iiber den serbischen Vonnarsch grol3. Es kam zu hektischen Aktivitaten: Aufgebrachte BUrger hatten sich rund urn die Kaseme in Zagreb postiert, manche organisiert in paramilit1irischen Verbiinden wie der HOS (Kroatische Verteidigungskr1ifte), die der ,,Partei des Rechts" nahe stehende Milizorganisation, und alle zusammen beobachtetenjede Bewegung der Annee. Putschgeruchte jagten durch die Stadt. FUr Tudman und die Regierung sah es schlecht aus. Die Verhandlungen iiber Waffenstillstiinde verliefen nicht ganz unerwartet im Sande. Jede Ubereinkunft war am nachsten Tag schon Makulatur, aber immerhin wurde etwas Zeit gewonnen. Der am 21. September 1991 neugegriindete kroatische Generalstab mit dem Luftwaffen-General Anton Tus als Oberkommandierendem nutzte sie und arbeitete fieberhaft weiter am Aufbau der Kroatischen Annee (Hrvatska Vojska, HV). Die Verteidigung Kroatiens trug bis weit in den September hinein noch die Ziige eines Volkswiderstandes. Gastarbeiter aus Westeuropa nutzten die laxen Grenzkontrollen und brachten Waffen und Munition in Privatautos in ihre Heimatorte. In manchen Hotels in Zagreb geniigte wahrend dieser Tage ein Stichwort und schon gingen Gewehre, Pistolen, Maschinenpistolen und Munition iiber den Tresen. Es gibt nicht vollig aus der Luft gegriffene Vennutungen, dass Waffen aus dem Fundus der demobilisierten Volksarmee der DDR auf dem einen oder anderen Wege nach Kroatien gelangt waren. Es kamen Waffen und Fahrzeuge aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn und natiirlich aus Slowenien. Ais mit dem Waffenembargo, das zuerst am 5. Juli von der EG und dann am 25. September yom Sicherheitsrat der UNO iiber das gesamte Ex-Jugoslawien verhiingt wurde, die Einfuhr der Waffen gestoppt werden sollte, musste die kroatische Regierung und die Anneefiihrung verdeckt operierende Strukturen nutzen. In dieser Grauzone turnmelten sich auch krirninelle Elemente, die sich die Gelegenheit nicht entgehen liel3en, in grol3em Stil Geld zu verdienen, und die spater grol3e Macht und Einfluss gewinnen sollten. In manchen Kampfgebieten Kroatiens waren die Bewohner bei der Verteidigung auf sich allein gestellt. In der dalmatinischen Hafenstadt Zadar hatten die Verteidiger anfanglich nicht mehr als 500 Gewehre zur Verfiigung. Wahrend die serbischen Angreifer von "Ustascha-Truppen" in Zadar redeten und deshalb mit Sturmangriffen auf die Stadt zogerten, "safien wir zittemd in den Schiitzengraben", erziihlte spater ein Student, der die Stadt verteidigen half. 1m September gelang es der Kroatischen Annee, die Verteidigung grol3er Frontabschnitte zu koordinieren und zu sichem. Zu diesem Zeitpunkt waren schon fast 200.000 Mann fUr die Annee mobilisiert. An allen Fronten wurde jetzt gekampft, und die NA war mittlerweile offen auf die Seite der Serben getreten. Erstmals wurde Vukovar mit Granaten angegriffen. Und seitdem kroatische Polizeieinheiten am 14. September den Befehl Tudmans erhalten hatten, aIle Kasemen der Volksarmee zu belagem, die noch in der kroatisch kontrollierten Zone lagen, kam es in den meisten dieser Stadte zu Kampfen.
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Am 7. Oktober wurde es auch fUr die Hauptstadt ernst, obwohl man gerade einen neuen Waffenstillstand geschlossen hatte. Die Sendeanlagen des Radios wurden bombardiert, die Textilfabrik der Firma DTR ging in Flarnmen auf, die Schule fUr grapbische Kunst und einige Wohngebaude, allesamt in Randgebieten, wurden getroffen. Der Regierungspalast in der Altstadt Zagrebs wurde gezielt angegriffen, wahrend sich dort Franjo Tudman, Stipe Mesic, der Chef des Femsehens Antun Vrdoljak und der immer noch amtierende jugoslawische Ministerprasident Ante Markovic aufhielten. Sie waren gerade yom Mittagessen aufgestanden und in einen anderen Raurn gegangen, als die Rakete einschlug. ,,Der Chef des Fernsehens hatte uns Witze erzahlt, die jeder schon kannte, deshalb wollte Tudman den Ort wechseln, urn zur Tagesordnung fiberzugehen," erzahlte Stipe Mesic spater. Die langweiligen Witze eines Teilnehmers hatten den Vieren das Leben gerettet. In manchen Regionen und Stadten gab es im Herbst 1991 schon mehr ZerstOrungen als wahrend des II. Weltkrieges. Die Eroberung der als "serbisch" deklarierten Gebiete in Kroatien wurde griindlich durchgefiihrt. Die gesamte kroatische BevOlkerung aus diesen Gebieten wurde systematisch vertrieben oder getotet, viele der Hauser wurden nach dem Raub von Wertsachen, Mobeln, Werkzeugen und Maschinen in Brand gesteckt. Fast alle katholischen Kirchen wurden in die Luft gesprengt, die Museen zerstOrt, die Friedhofe eingeebnet. Am Ende des Krieges waren es 325 Kirchen und 44 KlOster. Nichts sollte mehr anjene erinnem, die noch vor wenigen Wochen bier gelebt hatten. Dieser im "Namen der Nation" durchgefiibrte Vernichtungsfeldzug ging in seiner Radikalitat weit fiber ,,kriegerische" Ziele binaus. Systematisch und durchaus von oben gewollt wurden rechtsfreie Raurne geschaffen, in denen sich die durch nationalistische Phrasen aufgestachelten Kriminellen austoben konnten. Vor allem auf den Schlachtfeldem in Slawonien wiiteten paramilitarische Gruppen: die serbische Freiwilligengarde, auch bekannt als die "Tiger", unter dem Befehl vonZeljko Ramjatovic, genannt Arkan, mit mehr als 2.000 Mann, die "Tschetniks" von Vojislav Seselj, die "WeiBen Adler" unter Mirko Jovic sowie andere, kleinere Gruppen, die nur Raub und Mord auf ihre F ahnen geschrieben hatten. Am 2. August wurde in Dalj ein Massaker an Kroaten veriibt (80 Tote, Monnesland). Aber auch auf der kroatischen Seite kam es spater zu Ubergriffen und willkiirlicher Ermordung serbischer Zivilisten, so in GospiC (Lika) und in West- und Ostslawonien. Zu den Widerspriichen des Krieges gehorte, dass in Vukovar Kroaten und Serben gemeinsam in den Kellem saBen und serbische Mitbiirger ihr Leben bei der Verteidigung der Stadt gegen die angreifenden serbischen Extremisten und Militars lassen mussten. Aufkroatischer Seite wurden auslandische Freiwillige aktiv, rund 5.00 Mann, Franzosen, Briten, Deutsche, Osterreicher, Australier etc., die vor allem in der Region Vinkovci eingesetzt wurden. Es handelte sich zumeist urn Abenteurer und Ex-Soldner, aber auch Rechtsradikale suchten Kontakt zu dieser intemationalen Einheit. 1m November spitzte sich der Kampf urn Vukovar zu. Frische Truppen aus Serbien bei gleichzeitiger Reorganisation der Kommandostruktur, der Einsatz von Artillerie, die groBe Teile der Stadt dem Erdboden gleichmachte, fiibrte schlieBlich zum Sieg der Serb en in diesem ungleichen Kampf. Die serbischen Freischarler - Seselj-Tschetniks und Arkan-Truppen - zogen am 18. November zusarnmen mit den regularen Einheiten
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in die vollig zerstorte Stadt ein. Der von dem amerikanischen Nachrichtensender CNN aufgenommene Marsch der Serben mit dem Lied "Wir schlachten die Kroaten ab" schockierte die Offentlichkeit der Welt. Nach dem Massaker an mindestens 261 Patienten des Krankenhauses von Vukovar (Ovcara), der Verhaftung und Internierung von Tausenden, der Ungewissheit iiber deren Schicksal ging ein Ruck durch die Bevolkerung. Die Gruppen von veriingstigten Gesichtem, von Fliichtlingen aus den umk1impften Gebieten, von Frauen und Kindem aus Vukovar und Osijek, die bedriickenden Berichte iiber die Belagerung der ,,Perle der Adria", Dubrovnik, liellen die kroatische BevOlkerung zusarnmenriicken. Beunruhigende Fragen tauchten auf. Hiitte die Niederlage in Vukovar vermieden werden konnen? Warum waren manche Waffen und Verstiirkungen nicht in die geschundene Stadt gelangt? Mile Dedakovic, einer der Kommandeure Vukovars, beschuldigte die Regierung, Waffen fiir Vukovar zuriickgehalten zu haben. Angesichts des Falls von Vukovar und der damit verbundenen Verbrechen, der weiteren Angriffe auf die dalmatinischen Hafenstiidte Dubrovnik, Sibenik und Zadar hoffte die Regierung auf Unterstiitzung aus dem Ausland. An Tudman wird aber weiterhin der Verdacht haften bleiben, er habe aus diesen iibergeordneten Interessen heraus Vukovar geopfert. Dieser Vorwurf gewann urn so mehr an Gewicht, als es den kroatischen Streitkriiften nach dem Oktober 1991 gelungen war, an anderen Fronten die Lage zu stabilisieren und in Westslawonien sogar Terrain zuriickzuerobem. Die erfolgreiche Offensive wurde aufgrund einer politischen Entscheidung Tudmans vor der Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Okucani gestoppt.(Information des Generals Anton Tus) Beim Riickzug veriibten die Serben am 18. Dezember ein Massaker in Vocin und zerst5rten den barocken Kern des Stiidtchens vollkommen. Hinter den Kulissen hatten schon emsthafte Gespriiche stattgefunden, die in einen Waffenstillstand miinden sollten. Dem Krieg miisse jetzt ein Ende gesetzt werden, Serbien sei bereit zu verhandeln, hieB es nach dem Fall Vukovars irn serbischen AuBenministeriurn. Es sei durchaus moglich, eine Ubereinkunft zu erzielen, es konnte an einen Einsatz intemationaler Truppen gedacht werden. Truppen der Westeuropiiischen Union lehne man ab, UN-Truppen konnten aber fiir eine so1che Mission in Frage kommen. Auch in Zagreb war man bereit, intemationale Truppen ins Land zu holen. Zwar sei Kroatien jetzt in der Lage, sich zu verteidigen, an eine Riickeroberung der gesamten serbisch besetzten Gebiete sei zu diesem Zeitpunkt aber nicht zu denken. Friedenstruppen konnten kommen, wenn sie die Integritiit der AuBengrenzen sicherten, also vor aHem an den staatlichen Grenzen eingesetzt warden, erkliirte Tudman. Am 23. November erreichte der UN-Unterhiindler Cyrus Vance bei Verhandlungen in Genf die Bereitschaft der serbischen Seite, die NA aus Kroatien abzuziehen. Am 2. Januar 1992 wurde ein Waffenstillstand abgeschlossen, der erstmals eingehalten wurde. Nach dem Vance-Plan soHten UN-Truppen, die so genannten United Nation Protection Forces (UNPROFOR), in die von Serben besetzten Gebiete (United Nations Protected Areas - UNPAs) einriicken, deren Demilitarisierung durchsetzen und den Riickzug der NA iiberwachen. In einer Resolution yom 21. Februar 1992 wurde im Weltsicherheitsrat dieses Konzept gebilligt und fiir 12 Monate etabliert. Das Amt des Oberkommandierenden hatte als erster der Inder Satish Nambiar inne.
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1m Mfu"z erreichten die ersten Truppen der Vereinten Nationen Kroatien. Argentinier, Belgier, Briten, Danen, Franzosen, Jordanier, Kanadier, Nepalesen, Tschechen, Polen, Kenianer, Russen und Ukrainer bildeten mit den Unterstiitzungstruppen aus Norwegen, Holland, Indonesien, Slowakei, Schweden, Finnland und der USA die erste Mannschafi. Insgesamt waren 15.839 Mann eingesetzt. Zunachst waren die wichtigsten Ziele erreicht. Die Waffen schwiegen. Die meisten schweren Waffen wurden unter UN-Kontrolle gestellt. Die verbliebenen serbischen Truppen unter dem Befehl Milan Martics, die Armee der "Serbischen Republik Krajina", waren jedoch weiterhin hoch geriistet. Tudmans Forderung, die Grenzen nach Serbien und Bosnien-Herzegowina zu sichem, wurde durch die UNPROFOR-Truppen nicht erfiillt. Die im Vance-Plan enthaltene Bestimmung, die Souverarutat des kroatischen Staates herzustellen und die Riickkehr der Vertriebenen zu organisieren, wurde auch nicht durchgesetzt. Rund 28 Prozent des kroatischen Territoriurns waren fortan unter Aufsicht der UNPROFOR von serbischen Truppen besetzt. Zu dem unmittelbaren Verantwortungsbereich der UNPROFOR-Truppen gehOrten in Westslawonien auch Gebiete nordlich von Okucani und Pakrac, die von Kroaten verteidigt werden konnten. Ungelost blieb das Problem der so genannten ,,Rosa Zonen". Das waren Gebiete in der Lika und Dalmatien siidlich von Karlovac, nahe Gospic und siidlich Knins, die nach dem Vance-Plan den Schutzzonen urspriinglich nicht zugerechnet wurden, weil es dort vor der Eroberung eine kroatische Mehrheit gab. Dort sollten lediglich Beobachter der UN tatig werden, aber serbische Truppen weigerten sich, diese Gebiete zu verlassen. So wurden sie zu ,,Rosa Zonen" erklart, mit der F olge, dass sie unter serbischer Besatzung blieben, Kroatien sie aber nicht zuriickerobem durfie, bzw. scharfverurteilt wurde, wenn es dennoch (erfolgslose) Versuche diesbeziiglich untemahm (Plateau von Miljevac / Maslenica-Briicke, Medak-Tasche). Die Doktrin der Implementierung von UN-Truppen in Kroatien ging davon aus, die serbische BevOlkerung in den von ihr eroberten Gebieten gegen Dbergriffe der kroatischen Seite zu schiitzen. Letztlich sicherten die UN-Truppen den Status Quo in Kroatien.
22.4. Gro8serbische Expansion in Bosnien-Herzegowina Die politische Fiihrung der serbischen Nationalisten in Bosnien-Herzegowina hatte die Kontrolle iiber die "befreiten" landlichen Gebiete in den Regionen Drvar und Bosanski Petrovac, urn die westbosnische Stadt Banja Luka, in der Ostherzegowina und in den Bezirken Han Pijesak, Sokolac und SekoviCi - immerhin fast ein Drittel des Landes bereits 1991 weitgehend erreicht. Ausdriickliches Ziel von Radovan Karadzic war es, zwei Drittel des Landes militansch und politisch zu kontrollieren. Karadzic griindete im Juli 1990 die bosnische Serbische Demokratische Partei (SDS), nachdem im April die gleichnamige Partei von Jovan Raskovic in Kroatien (als Schwesterpartei der zuvor in Serbien entstandenen Demokratischen Partei DS) gegriindet worden war, wo sie allerdings keine bedeutende Rolle spielte, vor allem nach dem Tod von Jovan Raskovic. Schon im Mai 1990 wurden die schweren Waffen der Territorialverteidigung in Bosnien-Herzegowina noch griindlicher als in Kroatien und Slowenien eingesammeJt und
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FrontverlaufFebruar 1994 in die Kasernen der NA gebracht. In den "befreiten Zonen" jedoch wurden ab Sommer 1991 die serbischen Territorialeinheiten und serbische Freiwillige zur ,,Armee der Republika Srpska" umstrukturlert und mit eben diesen Waffen versorgt. Bis zum April 1992 war die dann offiziell gegriindete ,,Armee der Republika Srpska" auf 42.000 Mann ausgerusteter Soldaten aufgestockt. Gab es bis zum Riickzug der Truppen der NA aus Kroatien eine Mannschaftsstiirke von rund 50,000 Mann in Bosnien-Herzegowina, so waren hier schon im Miirz 1992 vier Armeekorps stationiert, Mit den sich aus Kroatien zurUckziehenden Truppen ka-
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men kampferprobte Einheiten ins Land Wld riickten in die Regionen wn Sarajevo, Mostar Wld in Westbosnien ein. Bihac verfiigte zudem tiber einen der modemsten Militarflughafen Europas, wo mehr als 100 Kampffiugzeuge stationiert waren. Kroatische Wld muslimische Soldaten verlieBen spatestens im Herbst 1991 rum groBten Teil freiwillig die NA. Trotz dieses Aderlasses z1ihlte die "Jugoslawische Armee" (VJ) - diese Militarformation wurde zu Beginn des bosnischen Krieges wnbenannt90-100.000 Soldaten, verfiigte tiber 800 Panzer, 1.000 gepanzerte Transporter, tiber Unmengen von Artillerie der Wlterschiedlichsten Kaliber Wld MehrfachausrfrstWlgen fUr jeden Infanteriesoldaten. (7 Kap. 24) Schon im Herbst 1991 gingen die Truppen daran, die StraBen in RichtWlg Serbien Wld Montenegro Wlter ihre Kontrolle zu bringen, ArtilleriestellWlgen wn die groBen Stiidte aufzubauen, Truppen Wld Material an die strategisch wichtigen Platze zu bringen. In den Bergen fWld wn Sarajevo wurden schon wn die Jahreswende 1991192 Panzer eingegraben. Die Kanonenrohre waren auf die Stadt gerichtet. Das Tor nach Zentralbosnien, der Kuprespass, wurde mit starken Einheiten Wld Artillerie gesichert. Hinzu kamen im Winter 1991/92 einige HWldert Spezialtruppen des serbischen Innenministers Petar Gracanin, die ,,Roten Barette". Und die Freischarlerverbande der Extremisten bezogen Position: Zeljko Ramjatovic (Arkan) mit seinen "Tigem" wie die ebenfalls schon in Kroatien aktiven "Tschetniks" von Vojislav Seselj, dem Chef der Serbischen Radikalen Partei. Die "WeiBen Adler" (Beli Orlovi) des Mirko Jovic, die ,,Monarchisten" (Rojalisti) des Mihailo Mladenovic, die "Serbische Garde" (Srpska Garda), die "Vukovarci" - Manner aus verschiedenen Einheiten, die in Vukovar gekampft hatten - Wld die "Marticevci" (die Einheiten Milan Martics aus Knin) suchten sich ihre Orte in Bosnien aus Wld warteten auf den Angriffsbefehl. Hinzu kamen noch kleinere Freiwilligeneinheiten aus Serbien Wld Montenegro. 1m Juni 1991 trafen sich Personlichkeiten Wld Organisationen der Muslime, wn tiber GegenmaBnahmen zu beraten. Die VersammlWlg rief alle BUrger Bosnien-Herzegowinas auf, die Souverarutat des Staates zu verteidigen. Konkret geschahjedoch nur wenig, da die Staatsfiihrung Wlter Alija Izetbegovic auf einen friedlichen Ausgleich setzteo Immerhin wurde die ,,Patriotische Liga" gegriindet, die GegenmaBnahmen vorbereiten sollte, jedoch nur illegal operieren konnte. Heimlich versuchten Mitglieder der Patriotischen Liga, an Waffen heranzukommen. Aus der "Patriotischen Liga" entstanden im Winter 1991/92 neben den "Griinen Baretten" Gruppen wie ,,Drina" Wld ,,Bosna". Bis rum Kriegsbeginn waren Handfeuerwaffen organisiert, aber lange nicht genug, wn alle Freiwilligen auszuriisten. Sie stammten von der hochgerusteten serbischen ZivilbevOlkefWlg Wld aus aus dem Ausland. In der Westherzegowina wurden schon im Sommer 1991 kroatisch-bosnische Truppen gebildet. Der ,,Kroatische Verteidigoogsrat" HVO, der wie die HOS-Truppen (Kroatische VerteidigWlgsstreitkrafte) militarische AusriistWlg in die Kroatengebiete der Westherzegowina Wld Zentralbosniens brachte, bereitete sich auf den erwarteten serbischen Angriff besser vor. Die kroatischen Truppen waren im Friihjahr 1992 besser ausgeriistet alsjene der Patriotischen Liga Wld auffWld 25.000 Mann aufgestockt. Als am 29. Februar Wld 1. Marz 1992 das von der Intemationalen Gemeinschaft verlangte Referendwn tiber die Unabhangigkeit Bosnien-Herzegowinas abgehalten wur-
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de, entschieden sich bei einer Wahlbeteiligung von 63,4 Prozent 99,4 Prozent fUr einen souveranen Staat. In den von KaradZic kontrollierten Gebieten Bosnien-Herzegowinas wurde die Abstimmung von den Behorden boykottiert. Hier hatte die Bevolkerung schon am 9. und 10. November 1991 mit einem ebenso eindrucksvollen Ergebnis fUr den Anschluss an Serbien pHidiert. An der Grenze zum kroatischen Slawonien, in Bosanski Brod und der PosavinaRegion urn Brcko hliuften sich im Mlirz 1992 die Schiefiereien. Am 2. April wurde eine Gruppe muslimischer Glliubiger in Bij elj ina von Arkantruppen iiberfallen. Am 3. April gingen auch Soldaten der Volksarmee gegen die nichtserbische BevOlkerung in dieser ostbosnischen Stadt vor. Tausende flohen in heller Panik in Richtung Tuzla. 1m ganzen Land kam es dennoch zu Demonstrationen fUr den Frieden. Am 5. April waren in Sarajevo Zehntausende auf der StraBe, als Schiisse aus dem Hauptquartier der serbischen politischen Fiihrung unter Radovan KaradZic, aus dem Hotel Holiday Inn, geUten. Wenig spliter wurden die Scharfschiitzen festgenommen oder erschossen. Radovan KaradZic und seine Gefolgsleute hatten das Holiday Inn schon vorher verlassen und sich nach Pale, dem Bergort bei Sarajevo, zuriickgezogen. Der offene Krieg begann. Mindestens zwei Drittel des Landes sollten von den serbischen Streitkrliften erobert werden, kiindigte Karadzic an. Die serbischen Militlireinheiten setzten sich in Bewegung. Sie hatten zunlichst den Auftrag, die fiinf getrennt voneinander liegenden serbisch kontrollierten Gebiete miteinander und mit Serbien und Montenegro zu verbinden. Von Serbien her wurden starke Verbande an den Grenzen zusammengezogen, urn die muslimisch dominierten Gebiete Ostbosniens auch von dieser Seite anzugreifen. Mit der Eroberung der Stadt Zvornik am 8. April soUte die StraBe nach SarajevolPale gesichert werden. Gleichzeitig wurde die ostbosnische Stadt Foca attackiert, urn die StraBenverbindung Ostherzegowina - Foca - GoraZde - Belgrad abzusichem. Die ostbosnischen Muslimgebiete urn Srebrenica bis Zepa sollten in einer Zangenbewegung eingeschlossen und dann militlirisch gesichert werden. Sarajevo wurde eingeschlossen, die JA kontrollierte schon nach wenigen Tagen die wichtigsten strategischen Stellungen im Land. Daran anderte auch die Ankiindigung der diplomatischen Anerkennung des Staates Bosnien-Herzegowina am 6. April durch die Europliische Gemeinschaft und am 7. April durch die USA nichts. Zwar befand sich seit Februar 1992 das Hauptquartier der UN-Truppen fUr Kroatien in Sarajevo, die Vereinten Nationen waren jedoch nicht bereit, dem Aufruf der bosnischen Fiihrung nach Truppenprlisenz zur Verhinderung des Krieges Folge zu leisten. (7 Kap. 30) Die Mlichte der Welt hielten sich zuriick und beobachteten genauso wie in Kroatien lediglich, wie sich die Dinge entwickelten. Die bosnische Regierungsseite rief erst danach die ortlichen Territorialen Verteidigungsstreitkrlifte auf, sich am 8. April 1992 zu einer regierungsloyalen Verteidigungsstreitkraft mit einem zentralen Kommando urnzustrukturieren. Von 110 Bezirken in Bosnien-Herzegowina entschlossen sich 73 regionale Kommandos fUr die Regierungsseite. Die meisten ihrer Mitglieder waren Muslime, es gab jedoch auch noch Serben und Kroaten, die sich fUr die Regierungsseite entschieden. In Sarajevo waren unter den 25.000 Freiwilligen, die sich sofort zum Dienst meldeten, 12 Prozent Serben und 18
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Prozent Kroaten. Bis zum 19. April WlU"den die Truppen der Patriotischen Liga, die "Griinen Barette" und andere Einheiten unter diesem Kommando zusammengefasst. Damit WlU"de die Bosnische Armee, die ARBiH, aus der Taufe gehoben. Erst im Juni gelang es aber, die unabhangig operierenden Gruppen vollstandig in diese neue ARBiH zu integrieren. Entsprechend ihrem multikulturellen Anspruch waren bosnische Serben und Kroaten in die Fiihrungsstruktur eingebunden. Der Serbe Jovan Divjak WlU"de unter dem muslimischen Oberkommandierenden Sefer Halilovie gleichberechtigt mit dem bosnischen Kroaten Stjepan Siber Vizekommandeur der Bosnischen Armee. Dass ein Serbe an fiihrender Stelle die Verteidigung Sarajevos organisierte, war fUr KaradZie und Mladie eine ungeheure Provokation. Angesichts des auch fUr Bosnien geltenden Waffenembargos der Europaischen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen waren die Verteidiger von vornherein benachteiligt. Das Waffenembargo wirkte auf die serbische Seite wie eine Einladung zum Angriff. In Bezug auf Handfeuerwaffen erreichten die Verteidiger zwar immerhin ein Drittel der Feuerkraft der serbischen Verbande, was die schweren Waffen jedoch betraf, nicht einmal 10 Prozent. Und damit war der Verlauf des Krieges vorgezeichnet. Zwar meldeten sich bis Juni 1992 urn die 200.000 Freiwillige fUr die Bosnische Armee, angesichts des Mangels an Waffen mussten jedoch viele wieder nach Hause geschickt werden. Die in den Kroatengebieten Bosniens aufgestellten rund 25.000 Mann starken kroatischen Truppen blieben anfanglich Alliierte der Bosnischen Armee. Am Datum der Angriffe Hisst sich der Plan der serbischen Seite rekonstruieren. Nach und nach riickten die Truppen in Ostbosnien vor, von Bijeljina und Zvornik aus sollten die Stral3en in Richtung Han Pijesak und Sarajevo gesichert werden. Der Bezirk Vlasenica mit 55 Prozent muslimischer und 41 Prozent serbischer BevOikerung WlU"de am 21. April urnzingelt. Gleichzeitig WlU"de Brcko angegriffen. (7 Kap. 24) Brcko war fUr die serbische Strategie von ausschlaggebender Wichtigkeit. Denn hier so lite der "ethnisch gesauberte Korridor" entstehen, der zu den Serbengebieten urn Banja Luka und in die ,,Krajina" in Kroatien fiihrt. Mit einer Bevolkerung von 44 Prozent Muslimen und 25 Prozent Kroaten war diese Aufgabe nicht leicht zu bewaltigen. Die Verteidiger - einige schlecht ausgerUstete Zivilisten, die sich zu diesem Zeitpunkt schon als Teil der Bosnischen Armee und der kroatischen HVO ausgeben durften - hatten zwar der gewaltigen Militarmaschinerie aus Arkantruppen, den serbischbosnischen Einheiten und der zur "Jugoslawischen Armee" konvertierten ehemaligen Volksarmee nur wenig entgegenzusetzen, sie kampften urn ihre Stadt, bis die serbischen Streitkrafte am 30. April die Oberhand gewannen. Die Spur der Angriffe riickte im Mai und Juni 1992 weiter nach Norden, urn dann in Richtung Westen abzubiegen. Die Bevolkerung des 33.000 Einwohner zahlenden Bezirks von Bosanski Samac, ebenfalls an diesem ,,Korridor" liegend, setzte sich aus 45 Prozent Kroaten, 41 Prozent Serben, 7 Prozent Muslimen und 7 Prozent Jugoslawen zusammen. Ende Mai waren nur noch 300 Nichtserben ubrig, nachdem serbische Militarformationen das Gebiet erobert hatten. Mit fast 200.000 Einwohnem ist Banja Luka nach Sarajevo die zweitgroJ3te Stadt der Republik Bosnien-Herzegowina. Und die nahe gelegene Stadt Prijedor hatte 1992 im-
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merhin noch 112.000 Einwohner. 55 Prozent der Einwohner des Bezirkes Banja Luka waren Serben, mit j e 15 Prozent waren Muslime, Jugoslawen und Kroaten in der Minderheit. Nach Westen hinjedoch verdichtete sich die muslimische BevOlkerung, Prijedor hatte bereits 44 Prozent Muslime, 6 Prozent Kroaten und 42 Prozent Serben, in Sanski Most war das Verhaltnis 47/4217 und in Bihac bestand die Bevolkerung zu mehr als 80 Prozent aus Muslimen. In dem siidlich Bihac gelegenen Karstgebiet urn Bosanski Petrovac und Drvar dagegen stellten die Serben 90 Prozent der Bevolkerung. Dort war das Land nur sehr dUnn besiede1t. An diese Umstande kniipften die militarischen Planer in Belgrad und Han Pijesak ihre Oberlegungen. Von Prijedor aus soIIten die serbischen Truppen nach Westen, nach Sanski Most, KJjuc bis Bosanski Petrovac vorstoJ3en, urn die StraJ3e in die serbisch dominierten Gebiete im Hinterland Dalmatiens und damit die Verbindung nach Knin zu sichem. Gleichzeitig soIIten die Truppen in das Gebiet urn Bosanski Novi und Bosanska Krupa vordringen, urn die Verbindung in die in Kroatien Iiegenden Serbengebiete ostlich und nordlich der muslimisch kontroIlierten Bihac-Tasche zu sichem. Der Vormarsch ging wie geplant voran. 1m Mai und Anfang Juni hatten die serbischen Militars ihre Ziele auch in Westbosnien im Wesentlichen erreicht. Nur die rund 200.000 Einwohner der Region urn Bihac und Velika Kladusa, der so genannten Bihac-Tasche, leisteten noch Widerstand. Die eroberten Gebiete umfassten rund 70 Prozent des Territoriurns Bosnien-Herzegowinas und waren fest in serbischer Hand. Wie schon in Kroatien waren paramilitarische Truppen fur die "ethnischen Sauberungen" verantwortlich. Sie besetzten die zuvor von den regularen Truppen sturmreif geschossenen Stadte und Dorfer. Der Terror gegen die nichtserbische Zivilbevolkerung war nicht eine Nebenerscheinung, sondem Ziel des Krieges. Die von gemischter Bevolkerung bewohnten eroberten Gebiete soIIten "ethnisch rein" gemacht werden. 1m Sommer wurde dieses Ziel erreicht. Mit der Errichtung der Konzentrationslager Manjaca, Omarska, Keraterm, Brezovo Polje, Luka (bei Brcko) und vielen anderen wurde die in den eroberten Gebieten ansassige nichtserbische BevOlkerung einem systematischen Terror unterworfen, so weit sie nicht in der Lage war zu fliehen.
22.5. Gegenwehr, Nebenkriege ond Nato-Intervention Von Duvno (Tomislavgrad) aus versuchten die Kroaten, die Frontlinie zur serbisch besetzten Krajina wie auch zum nahe gelegenen Kuprespass zu halten und die Kroatengebiete in der Westherzegowina zu sichem. Schon am 5. April 1992 war es am Kuprespass zu heftigen Kampfen gekommen, der Angriff der Kroaten auf die SteIIungen der IVA wurde jedoch zuriickgeschlagen. Andererseits gelang es den serbischen Streitkraften nicht, in der Westherzegowina Gelandegewinne zu erreichen. 1m Gegensatz zu anderen Gebieten Bosnien-Herzegowinas waren die zu diesem Zeitpunkt noch verbiindeten kroatisch-muslimischen Streitkrafte in Mostar in der Lage, die Stadt im Juni 1992 zuriickzuerobem. Den mit der Bosnischen Armee kooperierenden HOS-Truppen gelang es sogar, iiber Stolac hinaus weit in die Ostherzegowina vorzustoBen und Anfang August in die im Riicken Dubrovniks liegende Stadt Trebinje ein-
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Frontverlauf Dezember 1995 zudringen. Die beim Kampf urn Mostar erzielte erste serbische Niederlage im Krieg wurde jedoch durch einen Machtkampf im kroatischen Lager teilweise zunichte gemacht. Truppen des mit der Kroatischen Armee HV kooperierenden HVO stellten sich gegen die HOS. BlaZ Kraljevie, Kommandeur der HOS-Truppen, wurde am 9. August 1992 mit einem GroBteil seiner Unterfiihrer in der Niihe von Citluk in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. Trebinje fiel wieder an die Serben. Bosnien-Herzegowina war im Friihherbst 1992 in StUcke gescblagen, Bibae, Srebrenica und Zepa waren von serbischen Truppen urnzingelt, zu Enklaven geworden, nach
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GoraZde fiihrte nur noch ein Bergpfad. Sarajevo war eingeschlossen. Fiir Zentralbosnien und Ostbosnien mit den Stadten Zenica und Tuzla stellte ein Feldweg von der westherzegowinischen Stadt Duvno (Tomislavgrad) fiber Prozor die einzige Versorgungslinie dar, die Verbindung fUr eineinhalb Millionen Menschen zur AuBenwelt. Die kroatische Bevolkerung der nordbosnischen Landschaft Posavina war auf der Flucht, nur das Gebiet urn die Stadt Orasje konnte von HVO-Truppen gehalten werden. Die Westherzegowina jedoch war fest in der Hand kroatischer Truppen. Nachdem der Weltsicherheitsrat am 14. September 1992 griines Licht gegeben hatte, Bodentruppen der UNPROFOR in Bosnien-Herzegowina zu installieren, kamen britische und franzosische Truppen ins Land, einige Tage spilter auch Niederliinder, Jordanier, A.gypter, Schweden, Diinen, Norweger, Pakistani, Kanadier, Malaysier, spilter auch Spanier, Tiirken, Bangladeshi und Russen etc. mit einer Gesamtstiirke von knapp 22.000 Mann. Die deutsche Bundeswehr wurde erst nach dem 15. August 1995, zuniichst im Rahmen eines deutsch-franzosischen Feldlazaretts, spilter als logistische Einheit in Kroatien (Trogir, Sibenik) und ab Juni 1997 als Sfor-Truppen in Sarajevo eingesetzt. Die UN-Truppen hatten das Mandat, als ,,friedenserhaltende MaBnahmen" die Versorgungslinien fUr die hurnanitiire Hilfe nach Zentralbosnien und Sarajevo sowie den Flughafen in der Hauptstadt zu sichem. Es gelang den UN-Truppen bis zum 31. Januar 1993, erhebliche hurnanitiire Hilfe fUr die hungemde Bevolkerung bereitzustellen. 1m Winter 1992/93 waren die Frontlinien eingefroren. Die serbische Offensive war nach der Eroberung von Jajce am 30. Oktober 1992 zum Stehen gekommen. Der sich verstiirkende Widerstand der Bosnischen Armee lieB zudem die serbischen Truppen vorsichtiger agieren. Die serbische Seite reagierte mit Gelassenheit. Seit dem Fall von Jajce verstiirkten sich niimlich die Konflikte zwischen Bosnischer Armee und den kroatisch-bosnischen Streitkrilften des HVO. Das briichige Biindnis von HVO und Bosnischer Armee zerbrach Mitte April 1993, nachdem kroatische Truppen begonnen hatten, die muslimische Bevolkerung aus einer Reihe von gemischten Dorfem und Stildten wie Busovaca, Novi Travnik und Vitez zu vertreiben, urn in Zentralbosnien von Kiseljak bis Travnik ein zusammenhiingendes Kroatengebiet zu schaffen. Sie gingen mit iluBerster Brutalitat gegen die muslimische Zivilbevolkerung vor und veriibten ein Massaker, bei dem fiber 100 Menschen urngebracht wurden. Nach dem serbischen Beispiel wurden Lager eingerichtet, so in Busovaca und in Vitez, nach Ausbruch der Kiimpfe in Mostar am 8. Mai auch in einer Hubschrauberfabrik in Mostar (Heliodrom) und in Dretelj und Gabela bei CapIjina. Die mutmaBlichen Verantwortlichen wurden von dem Kriegstribunal in Den Haag angeklagt und gerichtliche Verhandlungen gegen einige dieser Personen eroffnet, einige wurden schon verurteilt. Die kroatisch-bosnische Fiihrung unter Mate Boban wollte sich ihren Anteil an Bosnien-Herzegowina sichem. Es wurde zwischen diesem Vorgehen und den vorausgegangenen Gesprilchen Bobans mit KaradZic fiber die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas in Graz ein Zusammenhang vermutet. (~Kap. 26). Die Kiimpfe fiammten nun in fast allen Gebieten Zentralbosniens und im NeretvaTal auf. 1m Juni gingen die bosnischen Truppen zum Gegenangriff fiber. Zur Uberraschung aller gelang es ihnen, 30 Prozent des von Kroaten kontrollierten Territoriurns zu erobem. Die Kroatengebiete Kiseljak, Busovaca und Vitez wurden zu Enklaven,
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Konjic und lablanica im Neretvatal wurden durch bosnische Truppen gesichert. Erstmals kam es auch seitens der Bosnischen Annee zu Ubergriffen auf die kroatische Zivilbevolkerung, so in Guca Gora und Dorfem urn das Kloster Kraljeva Sutjeska und einigen anderen Ortschaften in Zentralbosnien. Der Kampf urn Mostar wurde 1993/94 zu einem Brennpunkt im bosnischen Krieg. Wiihrend sich die serbischen Truppen weitgehend ruhig verhielten, steigerten sich die kroatischen Angriffe auf Ostmostar. In der Region urn Stolac wurde die nichtkroatische Bevolkerung im September von HVO-Truppen vertrieben. 1m Gegenzug mussten Kroaten aus dem ostlichen Neretvatal, Travnik und Bugojno ihre Heimat verlassen. Tausende zentralbosnischer Kroaten flohen aus Bugojno und aus Vares fiber serbisch kontrolliertes Gebiet in die Westherzegowina. Beim Abzug der Kroaten kam es im Oktober 1993 zu einem Massaker in dem muslimischen Dorf Stupni Do. Offen kooperierten die kroatischen Truppen in der Enklave Zepce mit serbischen Truppen und machten damit die zentralbosnische Region urn Maglaj zur Enklave. Gleichzeitig mit dem Angriff der kroatischen Truppen in Zentralbosnien gingen die serbischen Truppen gegen die ostbosnischen Enklaven Srebrenica und Zepa vor. Nach der Eroberung von Cerska und Konjevic Polje stand am 16. April 1993 Srebrenica vor dem Fall. Nach einem Besuch des Oberkommandierenden der UNPROFOR-Truppen Philippe Morillon in Srebrenica musste schlieI3lich eine Reaktion der Vereinten Nationen erfolgen. Der Weltsicherheitsrat beschloss auf US-amerikanischen Druck hin in der Resolution 819, sechs Gebiete in Bosnien zu "Sicherheitszonen" (safe areas) zu erklaren: Bihac, Gorafde, Srebrenica, Sarajevo, Tuzla, Zepa. Srebrenica und Zepa wurden demilitarisiert, die Waffen der bosnischen Truppen von UNPROFOR-Truppen gegen das Versprechen der serbischen Seite, diese Enklaven nicht mehr anzugreifen, (zum Teil) eingezogen. Nato-Flugzeuge begannen mit "air drops" Lebensmittel in die Enklayen abzuwerfen. 1m Oktober 1993 begannen Kiimpfe zwischen verfeindeten muslimischen Truppen in der Bihac-Tasche. Fikret Abdic, ein regionaler politischer FUhrer und erfolgreicher Manager des Nahrungsmittelkonzems ,,Agrokomerc" aus Velika Kladusa, erkliirte seinen Ministaat "Westbosnien" Anfang Oktober 1993 fUr unabhangig von Sarajevo. In Zusammenarbeit mit der kroatischen Fiihrung in Zagreb und den Krajina-Serben war es ihm gelungen, fiber einen Freihafen in Rijeka Handelsgiiter nach Velika Kladusa und in die serbisch kontrollierten Gebiete zu bringen und damit das Wirtschaftsembargo gegen Serbien zu unterlaufen. Zusammen mit serbischen Truppen aus der Krajina und aus Bosnien griffen die Truppen des Fikret Abdic (rund 10.000 Mann) fortan das 5. Anneekorps der Bosnischen Annee (Bihac) an. Bihac konnte sich aber halten. 1m Herbst 1993 waren die Fronten eingefroren. Nicht mehr nur die Enklaven unter Einschluss Sarajevos, sondem auch die bosniakisch (muslimisch) kontrollierten Gebiete Zentralbosniens waren von der AuI3enwelt abgeschlossen. Den intemationalen Hilfsorganisationen wurde sowohl von serbischer wie auch von kroatischer Seite der Zugang in diese Gebiete erschwert. Mit der "Waffe des Hungers" sollte die eingeschlossene Bev6lkerung zur Kapitulation gezwungen werden. Die indifferente Haltung der Vereinten Nationen fiihrte in der bosnischen BevOikerung zu Enttauschung fiber das "Verhalten der Welt". Die Vereinten Nationen verspielten einen Teil ihres Prestiges.
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Auf amerikanischen Wld deutschen Druck bin wurde die kroatische Filhrung Wlter Priisident Franjo Tudman veranlasst, den Krieg im Kriege zu beenden. Der kroatische Extremist Mate Boban wurde am 20. Dezember 1993 als Priisident des kroatischen Teilstaates ,,Herceg-Bosna" abgesetzt. Das am 2. Miirz 1994 Wlterschriebene Washingtoner Abkommen fiihrte zu einem Waffenstillstand im kroatisch-bosniakischen Krieg. Die StraBen nach Zentralbosnien wurden wieder geoffnet. In Mostar wurde eine EUAdministration eingerichtet, die den Wiederaufbau der Stadt voranbringen sollte. Fortan sollten Kroaten Wld Bosniaken in einer ,,FOderation" wieder zusammenleben. Dieser Vorgang spiegelte ein swkeres Engagement der USA im bosnischen Kriege wider. Der Granatenangriff auf dem Marktplatz von Sarajevo im Februar 1994 fiihrte schlieBlich zu einem Ultimatum der Nato. Wenn die serbischen Truppen bis zum 21. Februar ihre Waffen nicht mindestens 20 km von Sarajevo abzogen, wOrden ihre StelIWlgen durch Nato-Flugzeuge bombardiert, lautete die ForderWlg. Mit der Aktion der Nato urn Sarajevo wendete sich das Blatt im Krieg. Trotz der Angriffe der serbischen Truppen auf Gora.Zde im April 1994, den Brcko-Korridor im Herbst Wld aufBihac im NovemberlDezember 1994 gelang es den bosnischen Truppen in diesem Jahr, ihre Position zu konsolidieren Wld zu Gegenangriffen uberzugehen. Die AufhebWlg der Blockade Maglajs im Mai, Geliindegewinne bei Travnik, im Majevica- Wld Ozrengebirge bei Tuzla Wld vor allem die RiickeroberWlg des Kuprespasses im Oktober 1994 durch die HVO verbesserten die strategische Position. Auf der serbischen Seite war nach den Anfangserfolgen eine Kriegsmiidigkeit eingetreten. Die Grabenkiimpfe zermiirbten die Soldaten, der Uberlegenheit an Material stand der Mangel an Kiimpfern gegenuber. Die Korruption der Filhrung lieB die Moral weiter sinken. Nach dem erfolglosen Versuch im Dezember 1994, Bihac zu erobem, stimmten Mladic Wld KaradZic einem viermonatigen Waffenstillstand bis Ende April 1995 zu. Die Atempause wurde auf kroatischer Wld bosniakischer Seite genutzt. In Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Beratern war die Armee Kroatiens (HV) schon seit Ende 1993 reorganisiert worden. Andererseits wurde die Kooperation des HVO mit der Bosnischen Armee verbessert, was sich vor aHem im Waffenzufluss bemerkbar machte. Handfeuerwaffen Wld Munition, Panzerabwehrwaffen Wld Fahrzeuge, StahlheIrne Wld Uniformen erreichten Zentralbosnien Wld Sarajevo. Schwere Waffen allerdings erhielten die bosnischen Truppen nicht. Ein Vorlauf fiir die kommenden Ereignisse stellte der Angriff auf die von Serben gehaltenen Gebiete in Westslawonien (Kroatien) dar. Am 1. Mai eroberten kroatische ,,Polizeitruppen" Jasenovac, kurz daraufOkucani Wld Pakrac. Die serbischen Truppen leisteten nur geringen Widerstand Wld waren demoralisiert. Tausende von Menschen begannen die ,,Krajina" zu verlassen, nachdem es kroatischen Truppen gelWlgen war, sich von der Westherzegowina aus im Hinterland von Knin festzusetzen. Die strategischen Voraussetzungen fiir einen Angriff auf die serbisch gehaltenen Gebiete in der ,,Krajina" waren damit wesentlich verbessert. Am 15. Juni 1995 versuchte die bosnische Armee in einer groB angelegten Offensive, Sarajevo zu befreien. Einheiten des I., III. Wld IV. Armeekorps versuchten sowohl yom Berg Igman, von Visoko Wld von Olovo aus, den BelagerWlgsring urn Sarajevo aus eigener Kraft zu sprengen. Wegen der MaterialWlterlegenheit der bosnischen Trup-
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pen fiihrte die Offensive in eine Niederlage. Einigen Quadratkilometern Terraingewinn standen mehrere Hundert getotete Soldaten gegentiber. Am 6. Juli 1995 begannen serbisch-bosnische Truppen unter dem Befehl Ratko Mladies mit ihrem Angriff auf die Enklaven Srebrenica und Zepa. Die 43 000 in Srebrenica eingeschlossenen Menschen hatten diesem Angriff wenig entgegenzusetzen, zwnal sich der Kommandeur der bosnischen Truppen Srebrenicas, Naser Orie, mit seinen Unterkommandeuren in Tuzla befand. Die UN-Truppen verteidigten die UN-Schutzzonen Srebrenica und Zepa nicht, die Bitte urn Nato-Luftuntersrutzung wurde vom Oberkommandierenden der UNPROFOR-Truppen, General Bernard Janvier, und vom UN-Sonderbotschafter Yasushi Akashi wiederholt abgewiesen. Das folgende Massaker an der Zivilbevolkerung, der Tod von tiber 7000 Menschen in Srebrenica und Hunderten von Menschen in Zepa fiihrten schlieBlich zu einem offentlichen Druck, der die Nato veranlasste, bei einem Angriff auf Gorazde ernsthaft mit Luftschlagen zu drohen. Am 4. August schon trat die Kroatische Armee zu einem Angriff auf die serbischen Frontlinien in Kroatien an. Mehr als 200.000 kroatische Soldaten setzten sich in Bewegung. Die Serbenhochburg Knin wurde von Norden, Westen und Osten aus angegriffen, starke Einheiten stieBen von Karlovac aus in die Lika und den Kordun vor. Nato-Kampffiugzeuge zerstOrten zu Beginn der Offensive wichtige Kommunikationsanlagen der serbischen Seite. In nur 82 Stunden gelang es den Kroaten, in die bosnische Enklave Bihae einzudringen. (7 Kap. 24) Die serbischen Truppen setzten der kroatischen Offensive nur hinhaltenden oder geringen Widerstand entgegen. Die Bevoikerung floh in langen Trecks nach Bosnien und Serbien. Dem 5. bosnischen Armeekorps fie1en die erheblichen Waffenbestande der Truppen des Fikret Abdie in die Hande. Schon am 30. August bombardierten Nato-Flugzeuge Luftabwehrstellungen der bosnischen Serben, Radaranlagen, Briicken tiber die Drina, Artilleriestellungen urn Sarajevo. Am 10. September stieB das 5. Armeekorps der Bosnischen Armee von Bihae aus in Richtung Banja Luka und Prijedor vor, andere bosnische Truppen versuchten tiber Donji Vakuf nach Jajce zu gelangen. Nato-Flugzeuge untersrutzten die Aktion. Kroatische Truppen stieBen von Livno aus in Richtung Sipovo und Mrkonjie-Grad vor. Wie in Kroatien befanden sich die serbischen Truppen in Auflosung und leisteten nur geringen oder hinhaltenden Widerstand. Am 19. September wurde die Offensive - wie man allgemein annimmt, auf Druck der USA - gestoppt, nur in Sanski Most kam es noch zu Kampfen. Richard Holbrooke bezeichnet in seinen Erinnerungen diese Interpretation, die vor allem in den amerikanischen Medien verbreitet wurde, als nicht zutreffend. Am 10. Oktober 1995 wurde ein Waffenstillstand unterschrieben. Kroaten und Bosniaken kontrollierten nun 51 Prozent der Flache Bosnien-Herzegowinas. Der Weg fUr das Abkommen von Dayton war frei. Als dann am 19. Dezember 1995 die so genannte Implementation Force (lfor) ins Land kam, war das Mandat der UN-Truppen beendet. Die rund 34.000 Mann starken Ifor-Truppen hatten das Mandat erhalten, mit Waffengewalt gegenjene vorzugehen, die gegen das Abkommen von Dayton verstoBen wollten. Bosnien-Herzegowina besteht fortan aus zwei ,,Entitaten", der ,,Republika Srpska", den noch serbisch gehaltenen Gebieten (49 Prozent des Territoriurns), und der ,,Bosniakisch-kroatischen FOde-
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ration". Von intemationaler Seite wurde das Land in drei Sektoren aufgeteilt: Ostbosnien wurde zur US-amerikanischen, Westbosnien und die Westherzegowina zur britischen, Sarajevo sowie die siidlich gelegene Ostherzegowina zur franzosischen Zone. Unter einem US-amerikanischen Oberkommandierenden wurden jedoch auch Truppen anderer Liinder an der Friedensmission beteiligt, darunter auch Nicht-Nato-Liinder (z.B. Russland, Pakistan, Malaysia).
Literatur Wir empfeh1en hier einige Tite1, deren Autoren - Joumalisten, Publizisten, Politiker und Soldaten - in dem Gebiet tiltig waren und sich zu den Kriegsereignissen und -hintergriinden geiluBert bzw. Augenzeugenberichte geliefert haben bzw. deren Analysen und Schilderungen stark von eigener Anschauung gepragt sind. Zur Orientierung in der immens angewachsenen Literatur ist vomeweg eine Einschiltzung der Wissenschaftler uber einige Titel bis 1995 zu empfeh1en: Gale Stokes, John Lampe and Dennison Rusinow with Julie Mostov, "Instant History: Understanding the Wars of Yugoslav Succession", in: Slavic Review 55, Nr. I (FrOhling 1996). Mark Almond, Europe Backyard War: the War in Yugoslavia, London 1994; Martin Bell, In Harm Way. Reflection of a War-Zone Thug, London 1995; Ziatko Dizdarevic, Der AI/tag des Krieges. Ein Tagebuch aus Sarajevo, Frankfurt 1995; Siavenka Drakulic, Sterben in Kroatien. Vom Krieg mitten in Europa, Reinbek 1992; Paul Garde, Journal de voyage en Bosnie-herzegovine. Octobre 1994, Stra13burg 1995; Misha Glenny, Jugoslawien - der Krieg, der nach Europa kam, MOochen 1993; Roy Gutman, Augenzeuge des Volkermords. Reportagen aus Bosnien, Gottingen 1994; Brian Hall, The Impossible Country: A Journey through the Last Days of Yugoslavia, London 1994; Richard Holbrooke, Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, MOochen 1998; Tim Judah, The Serbs. History, Myth and the Destruction of Yugoslavia, New Haven/London 1997; DetiefKleinert, Inside Balkan. Opfer und Tater, MOochen, Wien 1993; Kemal Kurshpahic, As long as Sarajevo EXists, Connecticut 1997; David Owen, Balkan-Odyssee, Munchen, Wien 1996; Erich Rathfelder, Sarajevo und danach. Sechs Jahre Reporter im ehemaligen Jugoslawien, Munchen 1998; ders. (Hg.), Krieg auf dem Balkan. Die europaische Verantwortung, Reinbek 1992; Johann Georg ReiBmuller, Der Krieg vor unserer Haustiir. Hintergriinde der kroatischen TragOdie, Stuttgart 1992; David Rieff, Schlachthaus: Bosnien und das Versagen des Westens, Munchen 1995; David Rohde, Die letzten Tage von Srebrenica: Was geschah und wie es moglich wurde, Reinbek 1997; Laura Silber und Allan Little, Bruderkrieg. Der Kampfum Titos Erbe, Graz, Wien, K61n 1995; Marcus Tanner, Croatia. A Nation Forged in War, New Haven 1997; Mark Thompson, A Paper House: The Ending of Yugoslavia, New York 1992; Ed Vulliamy, Seasons in Hell: Understanding Bosnia s War, New York 1994; Warren Zimmermann, Origins of a Catastrophe: Yugoslavia and its Destroyers, New York 1996. M1aden Vuksanovic, Pale - im Herzen der Finsternis. Tagebuch 5.4.-15.7.1992, Wien 1997
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Die von den Kriegsparteien im jugoslawischen Auflosungskrieg angewandten Strategien zeichneten sich durch einen bemerkenswerten Grad an Undurchschaubarkeit aus - weit mehr, als dies aufgrund der traditionellen militiirischen Regeln, die auf eine Uberraschung des Gegners abzielen, erforderlich gewesen ware. Hier ging es vielmehr darum, die tatsachliche Absicht einer militarischen Untemehmung zu verbergen, und zwar in Situationen, wo die Offenlegung von Kriegszielen und strategischen Ambitionen das Risiko einer offenen Konfrontation oder eines Sympathieverlusts auf intemationaler Ebene bedeutet batte. Obwohl der serbische Feldzug in strategischer Hinsicht das Herzstiick des Krieges darsteUt, kann er nicht verstanden werden ohne Riickbezug auf das von den militarisch-politischen Fiihrem Sloweniens, Kroatiens und BosnienHerzegowinas gewahlte Vorgehen.
23.1. Serbische Kriegsziele, Strategieo uod Operatiooeo Der jugoslawische Krieg bestand im Versuch der serbischen Streitkrlifte, die Grenzen eines neuen Jugoslawien zu schaifen, das hauptsachlich, doch nicht ausschlieBlich von ethnischen Serben bewohnte Gebiete umfassen soUte, daneben allerdings auch kroatisches und bosnisches Territoriurn. Der Versuch, diesen Plan zu verwirklichen, wurde yom serbischen Geheimdienst und Teilen der Jugoslawischen Volksarmee (NA) geleitet. Obwohl es bereits vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten eine politische Zusammenarbeit zwischen den Kommandeuren der NA und der serbischen politischen Fiihrung gegeben hatte, scheint es dennoch so zu sein, dass beide ihre Krlifte erst vereinten, als die Auflosung der FOderation bereits begonnen hatte und die Kampfbandlungen ausgebrochen waren. So konnte die serbische Strategie, wiewohl bereits einige Zeit vorher entwickelt, erst zu Beginn des Krieges iiber ihre wesentliche militiirische Komponente verfiigen. Dennoch war die Zusammenarbeit mit Truppenteilen innerhalb der NA fUr die serbische Fiihrung die ganze Zeit iiber von Bedeutung.
23.1.1. Die politische Dimension der serbischen Kriegsziele Obwohl die militiirische Seite des serbischen strategischen Plans, zumal in den agressivsten und verbrecherischsten Momenten, das meiste Aufsehen erregte, lag seine eigentliche Bedeutung auf der politischen Ebene. Dabei ging es urn die allmlihliche Entstehung politischer Vereinbarungen, die das strategische Ziel zu untermauem hatten. Nach diesem Schema soUten schrittweise einzelne Gebiete zu serbischen proklamiert werden, urn sie dann von Kroatien und Bosnien-Herzegowina abspalten zu konnen. In
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Kroatien wurden zwei serbische autonome Regionen (Srpska autonomna oblast SAO) ausgerufen, die SAO Krajina und die SAO Ostslawonien, Westsyrmien und Baranja. Letztere wurde anschlieBend zu einer Republik Serbische Krajina mit der Hauptstadt Knin zusammengeschlossen, zum Bestandteil eines fOderativen Staatsverbandes mit Serbien und zugleich auch filr unabbiingig erkliirt. In Bosnien-Herzegowina lief dasselbe Schema ab, nur mit einer weiteren Vorstufe: 1m April 1991 erfolgte die vorbereitende Proklamation von Vereinigungen serbischer Gemeinden auf dem Gebiet von Bosnien-Herzegowina. Zwischen September und November 1991 erhob man das politische Projekt auf die Rangstufe autonomer Regionen: die Serbischen Autonomen Regionen ,,Herzegowina" (12. 9.), ,,Bosnische Krajina" (16.9.), ,,Romanija" (17.9.) und schlieBlich "Nordbosnien" (21. 11.). Am 9.1. 1992 wurden diese fiinf Gebiete zur Serbischen Republik in Bosnien-Herzegowina proklamiert, die Teil der jugoslawischen FOderation sein sollte. 1m Anschluss an die Anfang Mfu"z ausgerufene und am 7.4. 1992 international anerkannte Unabhiingigkeit Bosnien-Herzegowinas erkliirte sich die Serbische Republik Bosnien-Herzegowina filr unabhiingig und wurde im August in Republika Srpska (RS) urnbenannt. Sowohl in Kroatien als auch in Bosnien-Herzegowina wurden ortliche serbische Bevolkerungsgruppen durch die politischen Entwicklungen mobilisiert. Die erwillmten Proklamationen und andere MaBnahmen wurden unverziiglich yom Erscheinen offizieller Briefmarken und Briefbogen begleitet. Das AusmaB der getroffenen Vorkehrungen Hisst auf den serbischen Geheimdienst schlieBen, der zuvor unter serbischen Bevolkerungsgruppen sowohl in Kroatien als auch in Bosnien-Herzegowina aktiv gewesen war. Durch die Entstehung dieser politischen Strukturen waren die Rahmenbedingungen gegeben, urn Territoriurn von den beiden mit einer bedeutenden serbischen Minderheit besiedelten Republiken abzuspalten und mit Serbien zu f6derieren. Diese Strukturen schlieBlich lieferten das politische Ziel der strategischen Untemehmung. Der Sinn von Strategie ist es, Mittel und Zweck aufeinander abzustimmen. Um das gesamte Vorhaben umzusetzen, wandte Belgrad drei Mittel an: Zurn einen wurde der Kern der NA eingesetzt, dann kamen verschiedene paramilitarische Einheiten zum Einsatz und drittens schlieBlich setzte man auf die zentral gesteuerte Praxis ethnischer Sauberung.
23.1.2. Mittel zum Zweck: Serbische Strategie und die JVA
Die Filluung der N A scheint ihre Operationen in Slowenien nach dem 25. 6. 1991 auf zwei Fehlkalkulationen gegriindet zu haben. Erstens nahm die Armee offenbar an, eine bloBe Demonstration der Starke wiirde ausreichen, urn die slowenische Unabbiingigkeit zu verhindern; dabei gab es deutliche Hinweise, dass die slowenische Territorialverteidigung (TO) sich gegenjeglichen von der slowenischen Unabhiingigkeitserklarung ausgelosten Zug der NA zur Wehr setzen werde. Die zweite Fehleinschlitzung: der Jugoslawischen Volksarmee stiinde, falls sich die erste Annahme als falsch erweisen sollte, immer noch die Moglichkeit einer Eskalation offen, denn offentliche AuBerungen hochgestellter Personlichkeiten der diplomatischen Welt hlitten groBtenteils er-
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kennen lassen, dass mit Unterstiitzung dafUr zu rechnen sei. Die slowenische TO aber zeigte sich gegeniiber den beschr1inkt und konfus eingesetzten Verbanden der NA als wirkungsvoll. Und als sich die NA dann in eine Schlacht verwickelt sah, wurde auch sehr schnell klar, dass selbst eine Eskalation der Kampfuandlungen die Dinge nicht mehr ins Lot bringen wiirde. Es scheint die Dberzeugung vorgeherrscht zu haben, dass man mit einer iiberlegenen Streitmacht in der Lage sein wiirde, einen leichten Sieg zu erringen, einen ,,Balkansturm", vergleichbar den "Wiistensturm"-Operationen der von den USA angefiihrten Koalition gegen den Irak. Beim Ausbruch der bewaffneten Auseinandersetzungen nahmjedoch die intemationale Staatengemeinschaft in Gestalt der EG-Prasidententrojka aktiv Anteil am Geschehen, indem sie ihre Vermittlung anbot. Dies bewirkte ein konfuses und gehemmtes Vorgehen der NA, wenngleich die Situation zogerlich zu eskalieren begann, u.a. durch fiinfzehn hauptsachlich gegen zivile ZieIe in Slowenien gerichtete Bomber- bzw. Tieffiiegereinsatze. Gedemiitigt, unschliissig beziiglich des Einsatzes ihrer Feuerkraft zur Zerschlagung der schwacheren slowenischen Verbande, schlieBlich besorgt iiber die Situation in Kroatien, scheint die NA Slowenien aufgegeben zu haben, urn sich auf Kroatien zu konzentrieren. Zugleich setzte eine Periode der Neubeurteilung ein. Uberrascht von der Einmischung der EU, iiberdachte das Belgrader Militiir seine Position, wobei es die Wahrscheinlichkeit einer westlichen Militiirintervention in Rechnung zog. Die NA untemahm eine Reihe von Studien iiber die intemationale Einmischung in die jugoslawische Krise und iiber den Goltkrieg. Die Schlussfolgerungen wurden auszugsweise in der militiirtheoretischen Zeitschrift Vojno delo im Oktober veroffentlicht. In der redaktionellen Einleitung stellte Oberst Jovan Canak ausdriicklich eine Verbindung zwischen der jugoslawischen Krise und dem Golfkrieg her. Der Krieg im Golf sei ein "echtes Paradigma fUr den Einsatz modemer Technologie und ein glaubhaftes Modell fUr den Einsatz von Gewalt in einem hypothetischen Krieg unter 1ihn1ichen milit1irisch-politischen Umstanden, was uns (beziiglich unserer Krise und ihrer moglichen Intemationalisierung) nicht gleichgilltig lassen kann". "Der Goltkrieg", so fiigte er hinzu, ,,konnte ein Modell fUr die Instrumentalisierung der UN als System globaler Sicherheit sein, das der Verwirklichung globaler strategischer Interessen der groBen Weltmachte dient". Yom Standpunkt der NA-Fiihrung aus gesehen waren die Schlussfolgerungen dieser Neubewertung extrem wichtig. Die NA hielt eine rein europaische Milit1irintervention fUr wenig wahrscheinlich, raurnte jedoch ein, dass man vor einem milit1irischen Eingreifen des Westens auf der Hut bleiben miisse. Sie nahm weiterhin an, dass es aussichtslos war, die SFRJ erhalten zu wollen und dass die NA daher nach den Worten des letztenjugoslawischen Verteidigungsministers, Veljko Kadijevic, urn die Grenzen eines ,,neuen Jugoslawien" werde kampfen miissen. Obwohl General Kadijevic offensichtlich den Eindruck verbreiten wollte, man habe mit der Umsetzung dieses Plans im Oktober 1991 begonnen, erw1ihnt er in seinem Buch Moje viaenje raspada (,,Meine Sicht des Zusammenbruchs"), dass dies bereits im Miirz, d.h. vor den Unabhangigkeitserkliirungen Sloweniens und Kroatiens eine der beiden Optionen fUr Kampfeinsatze der NA gewesen und die erste Phase des Planes im Juli eingeleitet worden sei. Dies wird auch von Borisav Jovic in seinem Buch Poslednji dani SFRJ(,;Die letzten Tage der SFRJ", 1995) bestatigt. Es gibt gute Griinde
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fUr die Annahme, dass man bereits Mitte August 1991 daranging, den Plan umzusetzen. Zeitgleich mit dem Moskauer Putschversuch intensivierte die NA den Krieg in Kroatien, wo es seit der Unabhiingigkeitserkliirung in verschiedenen Gebieten schwelende Konflikte gegeben hatte. In dieser Phase traten Einheiten der kroatischen Nationalgarde und Spezialeinheiten der Polizei sowie paramilitiirische Gruppen kroatischer Nationalisten der NA sowie serbischen irreguliiren Verbiinden entgegen. In der zweiten Augusthiilfte steigerte sich die Intensitat des Konflikts merklich: Die NA verlegte gro13e Verbiinde von Banja Luka nach Westslawonien und unternahm von Montenegro und der serbisch dominierten Ostherzegowina aus jene Operationen, die schlie13lich in die Belagerung Dubrovniks miindeten, auJ3erdem nahm sie damals die dreimonatige Belagerung und Bombardierung Vukovars auf. Die prinzipiellen Angriffslinien nach dem 19. August entsprechen jenen, die von General Kadijevic festgelegt worden waren: ,,Die Sto13richtung der Offensiven der Hauptverbiinde der NA sollten auf die Befreiung serbischer Gebiete in Kroatien und der im Innern des kroatischen Territoriurns liegenden Garnisonen der NA abzielen und Kroatien entlang der Routen Gradiska-Virovitica, Bihac-Karlovac-Zagreb, Knin-Zadar und Mostar-Split durchschneiden - in dieser Reihenfolge. Der stiirkste Verband der motorisierten gepanzerten Einheiten sollte Ostslawonien befreien, urn seine Angriffe rasch in westlicher Richtung fortzusetzen, sich mit den in Westslawonien stehenden Verbiinden vereinigen und auf Zagreb und VaraZ
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seln: Lastovo und Vis.) Die Kontrolle iiber die Nordseite der Bucht war SOlnit lebenswichtig. Der militiirische Feldzug in Siiddalmatien und besonders in Dubrovnik ist fUr das Verstiindnis der Absichten der NA (sowie ihrer Nachfolger und paramilitiirischen Verbiindeten) im Konflikt in Kroatien und spiiter in Bosnien-Herzegowina von groBer Bedeutung. Nachdem man mit Leichtigkeit die Kontrolle fiber die Region erlangt hatte, verblieb Dubrovnik als Fleck auf der Landkarte. Ende August begann das Militiir die Adriastadt yom Lande und yom Wasser aus zu belagem. Marinefahrzeuge fuhren die Kiiste aufwiirts und zerstorten ein Haus nach dem anderen, wobei auch Granaten auf die Stadt selbst niedergingen. 1m Riickblick hatte das, was als bOswill[g und sinnlos erschien, dennoch Methode: Eine unerwiinschte und potentiell feindselige BevOlkerung war zu vertreiben - d.h. im Sinne der von der NA gem hervorgehobenen "zuverliissigen" Elemente der unzuverliissige Rest zu terrorisieren und hinauszujagen. Ware es der Armee darum gegangen, die Stadt einzunehmen, so hiitte sie dies an einem Nachmittag erreichen konnen, sie hatte nur ein Fallschirmjiigerbatallion innerhalb der Mauem der Altstadt absetzen miissen, wo es so gut wie keine Verteidigung gab. 1m Vergleich dazu war das zur selben Zeit belagerte Vukovar eine Stadt mit viel besseren Verteidigungsmoglichkeiten und somit ein schwieriges Eroberungsziel. Man kann daraus schlieBen, dass in keinem der beiden FaIle das Ziel darin bestand, die Stadte zu erobem, sondem darin, die Bevolkerung zu vertreiben und sicherzustellen, dass die strategische Kontrolle fiber das Territorium danach ungestort bleibt - d.h. dass es keinen potentiellen Widerstand gibt, der zu politischer Diversion, Terrorismus oder Guerillataktik iibergehen kann. Diese Strategie war seinerzeit noch nicht offensichtlich, kann aber im Lichte der tatsiichlichen Ereignisse rUckschlieBend erkannt werden. Gemeint ist die anhaltende Vertreibung nicht-serbischer Bevolkerung aus den unter UN-Schutz stehenden besetzten Gebieten in Kroatien nach dem Ende der dortigen Feindseligkeiten, wovon Mitglieder der EU-Beobachtungskommission und der UNPROFOR berichten. Das Etikett, mit dem man diese Praxis versah, war "ethnische Siiuberung". Der Plan der Serben und der N A betraf auch Bosnien-Herzegowina, fUr welches die Vorbereitungen im Spiitsommer und Herbst 1991 anliefen und wo die Praxis "ethnischer Siiuberung" und deren zentrale Stellung in der serbischen Strategie deutlicher wurde. Nach einem Jahr voll Unruhe und gewalttiitiger ZwischenfiUle trat BosnienHerzegowina Ende Februar 1992 in eine Phase weit verbreiteter Brutalitiit und einen Monat spilter, Ende Marz, in den Kriegszustand ein. Der bewaffnete Konflikt in Bosnien-Herzegowina scheint das Ergebnis einer Entscheidung bzw. ein Aktionsprogramm der N A und serbischer politi scher FUhrer gewesen zu sein, mit Waffengewalt die Grenzen eines neuen Staates zu errichten. Nach den Worten von General Veljko Kadijevic galt damals "aufpolitischer Ebene die Prioritat", dass "wir eine Gegenoffensive starten sollten, die die Zerstorer des alten Jugoslawien mit einem neuen Jugoslawien konfrontieren wiirde, einem Jugoslawien, das aus Volkem besteht, die in ihm leben wollen und seinen Zerfall nicht zulassen". Zur selben Zeit, als der Krieg in Kroatien verstiirkt wurde, begann die NA eine Reihe von Manovem und Truppenverlegungen quer durch Bosnien-Herzegowina. Dabei konnt~ sie Serben in Bosnien mobilisieren und gleichzeitig die Mobilisierung der
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Territorialverteidigung (TO) in serbisch dominierten Gebieten mit den serbischen politischen FUhrern koordinieren. Diese Vorgehensweise mit Manovern und Mobilisierungen wurde von General Kadijevic insofern als "von vitaler Bedeutung" fUr die NA beurteilt, als das ,,serbische Yolk in Bosnien-Herzegowina nach seiner geographischen Lage und GroBe eine der Stiitzen bei der Bildung eines gemeinsamen Staates fUr alle serbischen Menschen ist". In den darauf folgenden Monaten stellte die N A sicher, dass sie so weit wie moglich auBerhalb der Kasernen war und begann, sich durch stiindige Manover iiber das gesamte bosnische Gebiet verteilt einzurichten. In merklich wachsendem Umfang wurden Truppen und Ausriistung aus den sUidtischen Kasemen abgezogen und nur symbolische Besatzungen zurUckgelassen. An diesem Punkt lieB die Armee Einheiten an groBeren Verkehrsknotenpunkten aufmarschieren. In der Anfangsphase (September 1991) wurde dieses Vorgehen von Appellen serbischer FUhrer in Bosnien an die NA begleitet, sie moge die dortigen Serben schiitzen. Dem folgten groBe Truppenbewegungen sowohl aus Serbien und Montenegro nach Bosnien als auch ausgehend von Stiitzpunkten in Bosnien selbst. Darunter waren (am 20. September) eine Kolonne von 100 MiliUirfahrzeugen, die sich aufCapljina in der Westherzegowina zu bewegte, eine weitere, groBere iibemahm die Kontrolle iiber den groBen Verkehrsknotenpunkt bei Nevesinje in der Ostherzegowina, und 5000 Mann wurden aus Sarajevo westwlirts verlegt. Am selben Tag und nochmals in den darauffolgenden Wochen blockierten bosnisch-moslemische Zivilisten bei Vi§egrad in Siidwestbosnien gepanzerte Kolonnen aus UZice. 1m Ergebnis hatte das serbische Lager seine Krlifte in Bosnien-Herzegowina vorab positioniert, urn die Infrastruktur fUr ein Mini-Jugoslawien zu sichern, das aus der Republik herausgeschnitten werden sollte, urn im Osten an Serbien, im SOden an Montenegro und im Westen an die serbisch besetzten bzw. besiedelten Regionen Kroatiens angebunden zu werden. Bis zum 26. September hatte die NA bereits erfolgreich die Grenzen der "SAO Hercegovina" am Ostufer der Neretva errichtet und startete ihre Angriffe von Montenegro aus auf das siidliche Kroatien, wo Dubrovnik liegt. Nachdem der serbische Feldzug in Bosnien-Herzegowina einmal richtig begonnen hatte, waren im Friihjahr 1992 groBe Teile des Territoriurns schnell unter Kontrolle gebracht. Doch traf Belgrad in einem Anfang Dezember 1991 vorbereiteten Schachzug die Entscheidung, die NA im Mai 1992 in die ,,Armee der serbischen Republik Bosnien-Herzegowina" (Vojska Republike srpske VRS) und die ,,Armee Jugoslawiens" (Vojska Jugoslavije VJ) aufzuspalten. Dies erfolgte im Einklang mit der Ausrufung eines neuen Staates am 27. 4. 1992, in welchem Serbien und Montenegro f6deriert wurden (unter dem Namen ,,Bundesrepublik Jugoslawien"). Durch diese MaBnahmen versuchte Belgrad, die Weltoffentlichkeit davon zu iiberzeugen, dass es nicht in den bosnischen Konflikt verwickelt sei, urn drohenden UN-Sanktionen zu entgehen, die in der Luft lagen - was Milo§evic bereits einige Monate zuvor bedachte, als er und sein Vertreter im Staatsprasidiurn Borisav Jovic iibereinkamen, alle aus Bosnien-Herzegowina stammenden serbischen Soldaten in diese Republik zu verlegen und urngekehrt viele nicht von dort stammende Serben abzuberufen. Dies geschah in der Voraussicht, dass Belgrad fUr den Krieg verantwortlich gemacht und als auslandische Streitmacht betrachtet werden konnte, was sich nun abstreiten
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lie!3 mit dem Argument, die an den Kfunpfen Beteiligten seien ja bosnische Serben. Die Entscheidilllg zu diesem Schritt folgte einer diplomatischen Debatte nach der Resolution 757 des UN-Sicherheitsrates, we1che den Abzug der NA sowie von Truppenteilen der kroatischen Armee (Hrvatska vojska HV) forderte, da beide als ausl1indische in den Konflikt in Bosnien-Herzegowina verwickelte Streitkriifte ausgemacht worden waren. Belgrads Hauptverantwortilllg fiir den bewafIneten Konflikt in Bosnien-Herzegowina stand jedoch au!3er Zweifel. Nach ihrem Rfickzug aus Slowenien, Kroatien illld Makedonien, bei dem sie nichts zuriicklie!3 - die gesamte Ausriistilllg wurde entweder mitgenommen oder zerst5rt - teilte sich die NA auf illld fiberlie!3 der VRS, die im Wesentlichen aus ehemaligen AngehOrigen der N A aus Bosnien-Herzegowina bestand, ein gefillltes Waffenlager. General Kadijevic formulierte es so: ,,Die Einheiten illld Standorte der NA bildeten mitsamt vollsHindiger BewafInilllg illld Ausriistilllg das Rfickgrat der Serbenrepublik. Diese Armee, ausgestattet mit der Moglichkeit, sich notigenfalls an ihr Yolk zu wenden, illld dessen totaler Unterstiitzung gewiss, verteidigte das serbische Yolk illld schuf somit die militiirischen Vorbedingilllgen fiir eine angemessene politische Losilllg, die den serbischen nationalen Interessen illld Zielen gerecht werden wiirde, in dem Ma!3e natiirlich, wie dies die augenblicklichen intemationalen Umstande eriauben". Belgrad hOrte allerdings nicht auf, die serbischen Einheiten in Bosnien zu illlterstiitzen, sondem verringerte lediglich das Ausma!3 seiner Aktivitaten mit Rficksicht auf die Augen der WeltOffentlichkeit. Dariiber hinaus bewahrte es sich, wie es scheint, eine gewisse Kontrolle im weiteren Sinne durch den oberkommandierenden serbischen Offizier in Bosnien, Generaloberst Ratko Mladic, der mit den Verteidigilllgsministerien sowohl der bosnischen Serbenrepublik als auch Jugoslawiens in Belgrad engen Kontakt hielt. Es ist bemerkenswert, dass sich das Verteidigilllgsministerium der bosnischen Serbenrepublik in Belgrad illld nicht irgendwo auf dem von dieser beanspruchten Territorium befand. 1m Ubrigen wird von Offizieren im Feld berichtet, die erklart haben sollen, sie seien ohne Befehl aus Belgrad au!3erstande, das Feuer einzustellen. Alles in allem hielten die serbischen Streitkrafte ihre fiberwaltigende Uberiegenheit in der Ausriistilllg aufrecht, doch litten sie illlter dem verringerten Nachschub illld dem Ausbleiben von Verstarkilllgen, die Belgrad wegen der intemationalen Aufsicht illld den UN-Sanktionen nicht liefem konnte. 1m Veriauf des Krieges fibte die politische Fiihrung in Serbien, besonders der serbische Prasident Slobodan Milosevic, in wechselndem Ma!3e die Kontrolle fiber die N A illld schlie!3lich die VJ illld die VRS aus. Zum einen legten Milosevic nahe stehende militiirische FUhrer wie der Generalmajor der Luftwaffe Bozidar Stevanovic das Militar auf eine bestimmte Rolle fest, indem sie aktiv Unruhe illlter den serbischen Gemeinden in Kroatien illld Bosnien schiirten sowie ortliche paramilitarische Verbande mit Waffen illld sonstigem Nachschub versorgten. Zum anderen kontrollierte Milosevic anfanglich die NA fiber seinen Einfluss auf das kollektive jugoslawische Staatsprasidium, von welchem die NA ihre Befehle zu erhalten hatte, besonders fiber den Vizeprasidenten der FOderation Branko Kostic. Obwohl der Kriegsausbruch in Bosnien-Herzegowina von vielen Beobachtem mit dem Umstand in Verbindilllg gebracht wurde, dass sich die EG-Mitgliedstaaten illld die
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USA dazu entschlossen, die Republik am 7. April 1992 als vollwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft anzuerkennen, war der Krieg in der Tat schon Monate davor von der NA konzipiert, geplant und vorbereitet worden, und die Umsetzung dieser Plane hatte bereits begonnen. Ais der Krieg schlieBlich in vollem Gange war, versuchten die Serben, systematisch die direkte und offene Unterstiitzung aus Be1grad herunterzuspielen und zu verschleiem, wobei man der langst zuvor getroffenen Entscheidung folgte, einer eventuellen Beschuldigung durch Umgruppierungen innerhalb der Armee zu begegnen. Dies bedeutet, dass die serbische Strategie aus drei Ebenen der Undurchsichtigkeit bestand. Die erste lag in der Behauptung, dass die Truppen auf serbischer Seite angeblich entweder der Friedenssicherung (zu Beginn) oder spater der Verteidigung der Serben dienten, wiihrend die wahre Absicht in der Sicherung der Grenzen eines neuen Staatsgebildes durch ethnische Sauberung bestand. Zweitens wurde die Rolle Belgrads so weit wie moglich verschleiert, damit seine FUhrer behaupten konnten, der Konflikt sei eine innere Angelegenheit Bosnien-Herzegowinas, sie hatten lediglich die Moglichkeit einer gewissen Einflussnahme. Drittens wurde uber groBe Strecken des Krieges Unubersichtlichkeit erzeugt - sei es durch den Einsatz verschiedener offizieller Armeen oder durch eine Vielzahl paramilitiirischer Gruppen. So konnte von Griiueltaten stets behauptet werden, sie wiiren von einer anderen Streitmacht begangen worden. Obwohl dies auch fUr die direkten Gegner des Konflikts eine gewisse Bedeutung hatte, war es im Wesentlichen auf das intemationale Augenmerk gemiinzt. Die serbischen Plane klar zu formulieren, hatte bedeutet, den Weg freizumachen fUr eine klare Antwort auf einen offenen Versuch, intemationale Regeln zu verletzen. Obwohl all diese Bereiche der Undurchsichtigkeit ihre Effektivitat in dem MaBe verloren, wie die tatsachlichen Gegebenheiten mit der Zeit klarere Konturen annahmen, waren sie dennoch weiterhin von Nutzen. Das Fehlen einer offenen Deklaration der tatsachlichen serbischen Absichten und Handlungen hatte namlich zur F olge, dass jedem der intemationalen Akteure unvermeidlich eine zweifache Falle drohte. Die erste verleitete dazu, serbische Behauptungen von der Existenz einer antiserbischen Verschworung zu bestatigen. Die zweite und bedeutsamere lag in der Herausforderung zu einer offeneren und klareren westlichen Antwort - was unter den gegebenen komplexen Umstanden als unerwiinscht gelten musste. Weder die serbische Seite noch die intemationalen Akteure wollten das Kind beim Namen nennen. Vielmehr begegnete man der Zweideutigkeit mit Zweideutigkeit.
23.1.3. Mittel und Zweck: Paramilitdrische Verbiinde in der serbischen Strategie Ein Schlusselmoment des Krieges in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lag in der Beziehung zwischen den paramilitiirischen Gruppen und der NA. Radikale Serbenf'iihrer bestanden darauf, aus freiwilligen paramilitiirischen Verbanden den Nukleus einer neuen serbischen Armee zu bilden. Dieser Druck verstiirkte die MaBnahmen der NA, Nicht-Serben auszuschalten, wodurch eine serbische ethno-nationale ideologische Tagesordnung festgesetzt wurde, die sich mit den Bestrebungen der NA zur Ver-
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teidigtmg der auBerhalb Serbiens lebenden Serben und zur Schaffimg neuer Staatsgrenzen erganzend verzahnte. Die Einfiihrung paramilitfuischer Verbande war fur die NA wichtig, da die NA in ihrer Mannschaftsstarke durch Ubertritte zu den nichtserbischen Kriegsparteien, aber auch durch Desertion geschwacht wurde - es desertierten unter den Serben so1che, die gegen den Krieg waren, oder andere, denen das Vertrauen sowohl in das "Serbentum" der NA als auch in deren militfuische Kompetenz fehlte. Letztere wiederurn schlossen sich aus beiden GrUnden serbischen paramilitiirischen Verbanden an. Diese paramilitarischen Einheiten agierten wahrend der Operationen in Kroatien 1991 und spater in Bosnien-Herzegowina in vielen Fallen als spezielle, in die NA integrierte Infanterieeinheiten. Die NA arbeitete intensiv mit ortlichen Organisationen der Territorialverteidigung zusarnmen und setzte auBerdem in ihren Feldziigen Armeereservisten ein. Dennoch mangelte es ihr fur die Verwirklichung ihrer Ziele vielfach an Truppen, weshalb sie auf pararnilitarische Einheiten als brauchbare Infanterie zurUckgriff. Das Gros der paramilitfuischen Gruppen ist, so scheint es, unter Beteiligtmg des serbischen Geheimdienstes und dessen Chef Jovica StanisiC sowie des von Mihail Kertes (des stellvertretenden Bundesinnenministers) geleiteten proserbischen Bundesgeheimdienstes gebildet worden. Hilfreich war die Beteiligtmg des Geheimdienstes schlieBlich bei der auf dem ganzen Territoriurn der SFRJ organisierten Bewaffnung serbischer Gruppen. Auch die NA selbst war in vielen Fallen fur die Waffenversorgung serbischer paramilitarischer Einheiten wahrend des Krieges in Bosnien-Herzegowina verantwortlich. Urn die Zeit, als die bosnische Unabhangigkeit anerkannt wurde (am 7. April), gab es eine Reihe von Angriffen aufSchlfisselpositionen in Bosnien-Herzegowina, in die Einheiten der NA sowie irregulare Truppenteile verwickelt waren, etwa die TO in den serbisch dominierten Gebieten, wo die Manover des vorangegangenen Herbstes und Winters eine Mobilisierung ermoglicht hatten. Ein weiteres entscheidendes Moment bei der Vorbereitung der gegen Bosnien-Herzegowina gerichteten Operationen betraf wie bereits im FaIle Kroatiens pararnilitarische Einheiten, speziell die von dem beruchtigten ,,Arkan" Zeljko Rafujatovic angefiihrten "Tiger". Arkans Kampfer waren offiziell als "Serbische Freiwilligengarde" bekannt. Sie waren v.a. im kriminellen Umfeld rekrutiert worden und bildeten jene hocheffektiven StoBtrupps, die gegen Ende der Belagerung in Vukovar einriickten und die der Armee jene Art "professioneller", rein freiwilliger Infanterie stellten, die bislang der auf Wehrpflichtigen beruhenden NA nicht verfiigbar war. Die paramilitarischen Einheiten waren fur die Terrorkampagne des Blitzkrieges entscheidend, mit dem das serbische Lager im Friihjahr 1992 die Kontrolle fiber groBe Teile Nord- und Ostbosniens erlangte. Zwischen dem 27. Marz und dem 8. April fiihrten Arkans "Tiger" von serbischem Boden aus Schlage gegen Verkehrsknoten- und Versorgungspunkte bei Foca, Visegrad, Zvornik, Bijeljina, Bosanski Brod und Drventa, urn den Einmarsch in Bosnien-Herzegowina zu sichem. Dadurch wurden dem serbischen Nachschub die Zugangsmoglichkeiten offen gehalten und zudem sichergestellt, dass die Gegner mit Ausnahme der Westherzegowina keine Moglichkeit hatten, Verstarkung heranzufiihren.
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Gemeinsam mit iiberall in Bosnien-Herzegowina stationierten Einheiten der NA starteten sie dann eine Reihe von Angriffen auf die Stiidte an den groBen Verkehrswegen durch Nord- Wld Ostbosnien. Von Ende Miirz bis Ende Mai sicherten serbische VerMnde die Kontrolle iiber weite Teile Bosnien-Herzegowinas. Paramilitiirische Einheiten waren damals Bestandteil sowohl des Feldzugs der NA zur Schaffung neuer Grenzen als auch des ibn erglinzenden ethno-nationalistischen Programms eines rein serbischen Staates. Die HerleitWlg der beiden Programme mag Wlterschiedlich gewesen sein. Ihre Absichten deckten sich jedoch im Verlauf des bewaffneten Konflikts.
23.1.4. Serbische Strategie: Operationsschema und ethnische Siiuberung Die Angriffe im Friihjahr 1992 einschlieBlich der kombinierten Einsatze von NA Wld paramilitiirischen Gruppen, schlieBlich die Vorgehensweise der serbischen militiirischen und politischen Instanzen gegen die nichtserbische Bevolkerung folgten methodisch iiberall einem iihnlichen Schema. Die Geschwindigkeit und das hohe MaB an Koordination, das diese Angriffe erforderten, Machen deutlicll. dass sie zentral gesteuert und geplant wurden. Das Angriffsmuster hatte in der Regel folgende Merkmale: 1. VorbereitWlg, mit Ansammeln von Waffen, Entlassung von Nichtserben aus ihren Stellungen und Propaganda; 2. Provokation; 3. Einsatz von Gewalt; 4. Identifikation von Nichtserben; 5. Zusammentreiben von Nichtserben, demonstratives Morden und Verstiimmeln, Vertreibung, Terror und 6. Lager, Zwangsarbeit und Gefangenenaustausch. Uberall wurden Polizei, Rundfunk und zivile VerwaltWlg von ortlichen, ausschlieBlich aus Serben bestehenden Krisenstaben iibemommen, die man nach Anweisung der serbischen politischen Partei in Bosnien-Herzegowina (SDS) seit dem Dezember 1991 gebildet hatte. Die geheime VorbereitWlg erfolgte fiber ein Netzwerk des serbischen Geheimdienstes, das aus f'ilnfZentralen bestand, eines injeder der auszurufenden "Serbischen autonomen Regionen". In UbereinstimmWlg mit einer zentralen Anweisung, die von den Einheiten der NA enge Kooperation und UnterstUtzung verlangte, und unter dem Deckmantel der Staatsgewalt arbeiteten die ortlichen BehOrden mit paramilitiirischen Einheiten zusammen, urn nichtserbische Bewohner zu identifizieren, zu verhoren und schlieBlich aus ihren Hausem zu vertreiben. An diesen Standorten wurden nichtserbische Manner im webrfiihigen Alter und viele nichtserbische Frauen in Lagem und Geflingnissen inhaftiert. Einige dieser Lager wurden in Turnha1len eingerichtet und offensichtlich von ZivilbehOrden geleitet, wahrend andere in reguliiren MilitiireinrichtWlgen untergebracht und von Militiir- und Polizeieinheiten gefiibrt wurden. AusmaB und Beschaffenheit der zur Terrorisierung nichtserbischer BevOikerung in so vielen Regionen Bosniens genutzten Methoden konnten ebenso wenig wie die Eroberung und Sicherung von Hauptverkehrswegen und Schliisselpositionen aus einer spontanen Eruption ortlichen Volkszorns erwachsen sein. Allein schon die ErrichtWlg sowie die logistische und personelle Ausstattung der vielen Lager und Geflingnisse erforderte ein betrachtliches AusmaB an Koordination und Planung. Der Terror sollte sicher stellen, dass in der Region keine Bevolkerung verbleibt, die sich den Zielen des Serbenstaates entgegenstellen konnte.
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Die NA handelte in Kroatien sowie in den friihen Phasen in Bosnien-Herzegowina entweder allein oder in Verbindung mit verschiedenen Typen paramilitiirischer Gruppen. Nach der fonnalen Teilung im Mai 1992 wandelte sie sich von einer serbisch dominierten, jugoslawisch orientierten multiethnischen Streitmacht zu einer kleinen Ansammlung serbisch orientierter und von Serben gestellter bewaffueter Einheiten, die untereinander durch das Organisationsschemen der NA und das gemeinsame Vorhaben verbunden waren, ein ausschlieBlich fiir Serben bestimmtes Mini-Jugoslawien zu schaffen.
23.2. Kriegsziele, Strategien und Operationen der anderen Akteure Obwohl der serbische Plan, im Zuge des Auseinanderbrechens der SFRJ neue Grenzen zu schaffen, das Herzsruck des jugoslawischen Krieges bildet, sollten auch die von den fibrigen Konfiiktparteien gewlihlten Aktivitiiten im Krieg erwiilmt werden. Obschon diese mit der partiellen Ausnahme Sloweniens durch das strategische Vorgehen Serbiens bedingt waren, besaB jede von ihnen ihre eigenen hervorstechenden Merkmale. Der gemeinsame rote Faden, der sie durchzog, bestand darin, dass die angewandten Strategien diejenigen des Schwacheren waren. Dies war durch den Umstand bedingt, dass die relative Starke der serbischen Militiirposition fiber groBe Strecken des Krieges die Bedingungen festlegte, unter denen die iibrigen zu agieren hatten - Slowenien eingeschlossen. Wahrend der serbische Feldzug der Schaffung neuer Grenzen diente, bestand das Kriegsziel aller iibrigen Konfiiktparteien in erster Linie darin, die bestehenden Grenzen der einzelnen Republiken der SFRJ nach dem Erlangen international anerkannter Unabhiiogigkeit zu sichern. Allerdings hatten die Kriegsziele im Zusammenhang mit Kroatien und Bosnien-Herzegowina auch noch andere Dimensionen. Kroatiens Position enthielt ein Element der Ambivalenz. Obwohl seine Hauptsorge der Sicherung der Unabhiiogigkeit innerhalb der eigenen Grenzen galt, strebte es auch danach, die Kontrolle iiber bestimmte Gebiete Bosnien-Herzegowinas zu erlangen und diese in derselben Weise zu annektieren, wie die serbische Republik mit Serbien fOderiert werden sollte. Mit der sukzessiven Schaffung eines Gemeindeverbandes in ,,Herceg-Bosna" im November 1991 ahmten die Kroaten das Vorgehen der Serben nacho Es folgte die Ausrufung der ,,Kroatischen Gemeinschaft von Herceg-Bosna" im Juli 1992, die sich an die kroatischen Siege in Mostar anschloss. SchlieBlich wurde Herceg-Bosna zum Staat erklart. Diese Entwicklung lieB sich unter zweierlei Gesichtspunkten beurteilen - entweder im Sinne eines Ausgleichs fiir Gebietsverluste in Kroatien selbst oder, im "Idealfall", als Ergiinzung zu einem Kroatien, das seine Grenzen gegeniiber serbischen Amputationen verteidigen und wiederherstellen wiirde. Die Vielschichtigkeit dieser Position zeigte sich im Wesentlichen daran, dass Kroatien bei keinem moglichen Ausgang des Konflikts als volliger Verlierer dagestanden hatte: Waren Grenzverschiebungen hinzunehmen gewesen, so hatte jedes an die serbischen Einheiten verlorene Gebiet durch den Erwerb von Gebieten mit starker kroatischer Bevolkerungsminderheit in Bosnien-Her-
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zegowina kompensiert werden konnen. Ware der Bestand existierender Grenzen bestiitigt worden, dann hiitte Kroatien zwar kein Land von Bosnien-Herzegowina hinzugewonnen, doch immerhin die eigenen Grenzen gesichert. 1m giinstigsten Fall ware Kroatien gleichsam in die Lage versetzt worden, "die Kuh zu schlachten und obendrein auch noch zu melken" - und genau dieser Fall, so konnte man in Anbetracht des Kriegsausgangs argumentieren, ist tatsiichlich eingetreten: Kroatiens Unabhiingigkeit wurde innerhalb der vorgesehenen Grenzen bestiitigt, doch zugleich erlangte es groBen Einfluss in Bosnien-Herzegowina, wennschon formell ohne sein Territorium zu erweitern. Neben der Aussicht auf Territoriumszugewinne belegen Anbaltspunkte aus den Feldziigen im zentralen Bosnien-Herzegowina sowie in Kroatien selbst, dass "ethnische Siiuberungen" auch als kroatisches Kriegsziel angenommen werden miissen. Fiir die offizielle Regierung in Bosnien-Herzegowina wurde das primare Kriegsziel - Wahrung der territorialen Integritiit und des Fortbestandes des nunmehr unabbiingigen Staates - durch eine weitere, unausgesprochene Absicht ergiinzt: die Stellung der moslemischen Bevolkerungsgruppe zu schiitzen. Dies lag einerseits daran, dass die politischen FUhrer selbst vorwiegend MuslimelBosniaken waren (obwohl man stets den Anschein des Multikulturellen zu wahren suchte, indem man auch Vertreter anderer Bevolkerungsgruppen mit einbezog), andererseits daran, dass die MuslimelBosniaken zweifellos die primaren Opfer in diesem Konflikt waren, denn sowohl die serbische als auch die kroatische Seite hatte sie strategisch ins Visier genommen. Die Strategien aller nichtserbischen Kriegsparteien gleichen sich darin, dass durch die Betonung des Opferstatus in den Medien Einfluss auf die internationale Meinung genommen werden sollte. Doch gab es dabei erhebliche Unterschiede. Slowenien verwirklichte eine umfassende Strategie, in der Medienmanagement und der Einsatz von Streitkriiften zusammenwirkten. Kroatien verlieB sich zuniichst darauf, von der WeltOffentlichkeit als Opfer wahrgenommen zu werden, hatte also weder einen umfassenden Ansatz fUr ein Medienmanagement noch auch beruglich der Streitkriifte irgendeinen strategischen Plan, der mit einem solchen Management hiitte verkniipft werden konnen. Bosnien-Herzegowina zeigte einen koharenteren Ansatz fUr ein Medienmanagement, als es den Versuch machte, seinen Opferstatus gezielt so zu betonen, dass ein starkeres internationales Eingreifen die Folge sein musste. Sowohl Kroatien als auch Bosnien-Herzegowina iinderten die angewandten Strategien in spiiteren Stadien des Krieges im Einklang mit dem Ausbau der Streitkriifte und der Verschiebung des Kriifteverhiiltnisses. Die slowenische Strategie beruhte hauptsiichlich auf der in der SFRJ gilltigen Doktrin der allgemeinen Volksverteidigung. Deren Wesen bestand im Einsatz guerillaartiger Taktiken, die den Gegner daran hindern sollten, den Kampf zu seinen Bedingungen zu fiihren, womit man sich selbst der Welt zugleich als zur Landesverteidigung fiihig und entschlossen zeigte. Dies bedeutete, die Territorialverteidigung zu mobilisieren, urn die JVA in bewaffuete ZusammenstOBe, nicht aber in einen frontalen Kampf zu verwickeln. So wurde der Gegner gestort und der iibrigen Welt die Botschaft eines sich tapfer verteidigenden Volkes vermittelt. Dafiir richtete Slowenien noch vor dem eigentlichen Konflikt ein internationales Zentrum fUr Medienmanagement ein und machte den vormaligen stellvertretenden Verteidigungsminister zum Informationsminister,
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urn an die intemationale Presse regelm1illig Mitteilungen iiber Sloweniens bewaffueten Kampf auszugeben. Diese integrierte Strategie von bewaffueten ZusammenstOBen und Medienmanagement funktionierte im FaIle Sloweniens sehr wirkungsvoll. Kroatiens Strategie war es zu Anfang, sich als Opfer zu prasentieren. In den fiiihen Phasen des Konflikts klagten Joumalistenjedoch dariiber, dass es an Einrichtungen fur die Nachrichteniibermittlung mangelte und dass es keine Informationen aus Zagreb gab. Da somit aus offiziellen Quellen kein brauchbares Material floss, beschaffien viele intemationale Joumalisten sich selbst so1ches auf dem Schlachtfeld oder aus anderen Quellen - mit der Folge, dass die Berichterstattung nicht selten Zagrebs Interessen zuwiderlief (obwohl es auch viele wohlwollende Berichte in Deutschland und Osterreich gab). Beim Einsatz der Streitkrafte verfolgte Kroatien zwei Ansatze. Der schwachere bestand darin, in den angegriffenen Gebieten - beispielsweise urn Polizeistationen herum - befestigte Stellungen einzurichten, doch infolge personeller Unterlegenheit und mangels schwerer Waffen spielte man damit dem Gegner nur in die Hande. Der andere Ansatz zeitigte gemischte Ergebnisse: Man urnzingelte NA-Basen und schnitt sie von der Versorgung abo Obwohl damit in einigen Fallen erfolgreich Druck ausgeiibt werden konnte - die Truppen der NA zogen sich zurUck, wobei sie teilweise einer Ubergabe ihrer Waffen zustimmten -, wirkte dieses Vorgehen in anderen Fallen als Reizmittel und provozierte eine weitaus heftigere Reaktion, als es sonst der Fall gewesen ware (so geschehen z.B. in Split). Die Strafexpeditionen der NA richteten zuweilen mehr Schaden an, als erfolgreiche Belagerungen von Militareinrichtungen zuvor geniitzt hatten. Der Schliissel zu Kroatiens Opferstrategie lag in der Absicht, die intemationale Anerkennung der Unabhangigkeit zu forcieren. Je mehr kroatische Stadte angegriffen wurden, desto wahrscheinlicher wuchs auch die Bereitschaft des Auslands, Kroatien zu unterstiitzen. Die Opferstrategie zeigte sich am deutlichsten im Faile Vukovars in Ostslawonien. 1m Herbst 1991 stand Vukovar 89 Tage lang unter Belagerung und heftigem Beschuss. Wahrend es serbischerseits von bis zu 40.000 Mann urnzingelt wurde, waren in der Stadt etwa 1500 Mann zu ihrer Verteidigung eingesetzt. Diese kleine Streitmacht befehligten gemeinsam drei Kommandeure verschiedener in der Stadt befindlicher Gruppen. Einer dieser Kommandeure, Mile Dedakovic, enthiillte nach dem Fall der Stadt, dass Zagreb sie bewusst geopfert hatte. Der Nachschub und die Verstarkung, die versprochen worden waren, hatten Vukovar nie erreicht, und die dafur angegebenen Griinde seien unglaubwiirdig gewesen, da zwischen der Stadt und kroatisch kontrolliertem Gebiet immer ein Nachschubweg offen gewesen sei, wenn es sich gleich nur urn einen Feldweg handelte. Vukovar hatte also vermutlich verteidigt werden konnen, wenn der politische Wille zu seiner Verteidigung bestanden hiitte, denn bebaute Flachen sind angesichts entschlossener Verteidigung bekanntermaBen schwer einzunehmen. Die kroatische Strategie in Bosnien war direkter. Zunachst wurden Teile der Kroatischen Armee (Hrvatska vojska HV) in Verbindung mit dem Kroatischen Verteidigungsrat (Hrvatsko vijece obrane HVO) und paramilitarischen Gruppen eingesetzt. Die paramilitiirischen Gruppen neigten schnell zum Zerfall, wahrend der HVO de facto Bestandteil der HV wurde. Einheiten des HVO fillrrten im Laufe des Jahres 1993 in Zentralbos-
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nien ethnische Saubenmgsoperationen gegen Mus1ime durch, wodurch die Spannungen zwischen den friiheren Verbiindeten kritische Werte erreichten. 1993 wurden die kroatischen Verbande nach anfang1ichen Erfo1gen in der zweiten lahresha1fte von der bosnischen Armee zuriickgedrangt. 1m Anschluss hieran anderte Kroatien unter wachsendem Einfluss der USA seinen Kurs. Obwohl das AusmaB des amerikanischen Einflusses nicht exakt bestimmt werden kann, war seine offensichtliche Wirkung 1995 zu beobachten, als kroatische Einheiten in zwei Offensiven (Bljesak "Blitz" in Westslawonien im Mai und Oluja "Stunn" im August in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina) ihre klare strategische Tauglichkeit in Bezug aufEinsatzplane und Operationen ebenso unter Beweis stellten wie ihre Flihigkeit, diese mit einem Grad an taktischer Bewegung urnzusetzen, der, wie es heifit, an die modernen mobilen Einheiten der NATO-Mitgliedsstaaten, speziell der USA erinnerte. Ein wesentlicher Unterschied allerdings bleibt bestehen: Die kroatischen Streitkrafte beteiligten sich im Verlaufihrer Operationen an der ethnischen Saubenmg (wenngleich fast aIle Serben die Region Krajina in Kroatien noch vor dem Angriff der HV verlassen hatten). Das Vorgehen der bosnischen Regienmg resultierte ebenso wie das Sloweniens und Kroatiens aus einer Position der Schwache, daher benutzte man den Opferstatus vorrangig dazu, urn die internationale offentliche Meinung durch die Massenmedien zu beeinflussen. Die bosnische Medienpolitik hatte zwei Dimensionen. Zurn einen versuchte man den Vorteil zu nutzen, dass zur bosnischen Fiihrung einige in Amerika ausgebildete Politiker gehOrten, die in der Lage waren, Bosniens Positionen international kommunikationsfahig zu formulieren. Die kritische Lage Bosniens und das AusmaB, in dem 1992 besonders die Bosniaken (Muslime) Opfer des serbischen Plans wurden, machten die international en Medien empfanglich fUr Nachrichten, die Bosniens furchtbare Situation hervorhoben. In zweiter Linie wurden bosniakische Streitkrafte eingesetzt, urn entweder eigene oder Stellungen der UN anzugreifen, die von Beginn an einen Stiitzpunkt in Sarajevo unterhielten. Anders als in Slowenien, wo eine integrierte Medienmanagementstrategie darauf abzielte, die Story von der erfolgreichen Verteidigung zur Mobilisation internationa1er Untersrutzungsbereitschaft zu nutzen, hatte die bosnische Armee den gewissermaBen entgegengesetzten Ansatz strategisch urnzusetzen versucht. Es sollte sichergestellt werden, dass die Aufmerksamkeit der WeltOffentlichkeit durch bestimmte Angriffspraktiken wachgehalten wird, die man den Serben zuschrieb, auch wenn sie von bosnischen Stellungen ausgingen. Diese Strategie erwies sich letztlich als kontraproduktiv, da sie statt eines Zugewinns an Sympathie den deutlichen Verlust durchaus vorhandener Sympathien bei den Vertretern der internationalen Staatengemeinschaft bewirkte. Immerhin war diese Strategie des zum Teil inszenierten Opfers insofern wirkungsvoll, als in intemationalen diplomatischen Kreisen daraufhin die Debatte tiber den bosnischen Wunsch nach einer voUen Intervention durch ein grofieres intemationales Expeditionskorps begann; dass das Ergebnis dieser Debatten hinter dem von der bosnischen Regienmg erhofften stets zurUckblieb, ist eine andere Sache. Diese Strategie erfuhr ab 1994 Verandenmgen, die auf zwei Umstande zuriickgingen: den Einsatz von Radar zur Artillerieortung durch die UN-Trupp en in Bosnien,
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wodurch zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass die bosnische Annee auf ihre eigenen Stellungen und die der UN gefeuert hatte. Der zweite, positivere Umstand war der, dass sich die bosnische Annee nach ihren begrenzten Erfolgen gegen kroatische Truppen Ende des Jahres 1993 auf die Verbesserung ihrer taktischen Einsatzfahigkeit verlegte; auBerdem entwickelte sie ihre Moglichkeiten auf operativer und auch auf strategischer Ebene. Der Einfluss des US-amerikanischen militfuischen Denkens machte sich denmach nicht nur in Kroatien, sondem bis zu einem gewissen Grad auch in Bosnien bemerkbar. So verschob sich im miliUirischen Bereich der Schwerpunkt verstarkt von der Opferhaltung zur Demonstration von Wehrhaftigkeit - wahrend man in der politischen und diplomatischen Sphare weiterhin die Lage des Opfers vorfiihrte. Doch selbst dies geschah weniger betont, als der bosnische Prasident Alija Izetbegovic nachdrUcklich klarmachte, dass ungeachtet aller Vorbehalte seiner Regierung die Prioritat fUr Bosnien darin liege, britische und franzosische Truppen im Lande zu halten, urn die Situation zu stabilisieren. Unterdessen demonstrierte die bosnische Annee im Laufe des Jahres 1995 ihre Moglichkeiten und Grenzen. 1m Friihjahr scheiterte ein Versuch, die Belagerung Sarajevos zu durchbrechen. Dennoch zeigte sich dabei erstmals die Fahigkeit der bosnischen Annee, Operationen zu koordinieren, die gleichzeitige Kampfhandlungen im gesamten Umland von Sarajevo vorsahen. Diese Fahigkeit wurde auf operativer Ebene emeut in der Zusammenarbeit mit kroatischen Einheiten demonstriert, als es im Verlauf des Spatsommers und Herbstes gelang, der serbischen Herrschaft Gebiete zu entreiBen. Hier wurde das strategische Potential von kroatischen Einheiten eingebracht. Dies zeigte sich an der Art, wie bosnische Truppen kampften, urn Angriffsziele wie Prijedor zu erobem, nachdem Kroatien endgilltig darauf verzichtet hatte, einen gemeinsamen strategischen Plan zum Angriff von drei Seiten aufBanja Luka, das wichtigste Zentrum im serbisch kontrollierten Bosnien, zu verwirklichen. Wie beschrankt die Moglichkeiten der Streitkrafte in dieser Phase auch gewesen sein mogen, der gesamte Ansatz, d.h. in diplomatischer Hinsicht ebenso wie in Bezug auf die in den Medien eingesetzte Rhetorik, hatte sich doch von der Betonung der Rolle des ewigen Opfers, das fremder Hilfe bedarf, zur Selbsthilfe hin verlagert, wobei das Opfer nunmehr demonstrierte, dass es den Willen und den Ausbildungsstandard besaB, urn den Anforderungen derjenigen zu entsprechen, die helfen wiirden. Letztlich blieb Bosnien so oder so auf Hilfe von auBen angewiesen.
23.3. Der Kosovo-Konflikt bis Ende 1998 23.3.1. Serbische Strategie und Streitkraft Die serbischen Streitkrafte verfolgten im Kosovo in abgewandelter Form die Strategie der ethnischen Sauberung, wie sie in Kroatien und Bosnien-Herzegowina bereits zur Anwendung gekommen war. Ethnische Sauberung bedeutet den strategischen Einsatz von massiver Gewalt gegen Zentren mit ziviler BevOikerung, von demonstrativen Grausarnkeiten und Massenmord, urn diese Bevoikerung zum Verschwinden zu bringen.
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Zwar gehOrt das Toten in einigen Hillen dazu, doch zielt in anderen Fiillen die Absicht nicht darauf, aIle AngehOrigen einer ethnischen Gruppe umzubringen, sondem sie zu veranlassen, das urnstrittene Gebiet zu raurnen. Dies wird von der volligen Zersttirung des Eigentums begleitet, damit eine Ruckkehr ausgeschlossen ist. Strategisch geht es bei diesem Vorgehen neben dem ethno-nationalistischen Hintergrund urn die Vernichtung von Ansiedlungen, die terroristischen oder GueriIla-Widerstand untersrutzen konnten. Maos berUhmtes Diktum yom Guerillakampfer, der sich im Yolk bewege wie ein Fisch im Wasser, liegt diesem strategischen Ansatz zugrunde: ethnische Sauberungen beseitigen das Wasser, in dem der Fisch schwimmen kann. Der serbische Feldzug stand politisch seit den friihen neunziger Jahren auf der Tagesordnung, operationell gesehen mindestens schon ein Jahr vor Beginn der tatsachlichen Geschehnisse yom Marz 1998. Sowohl die serbische Sonderpolizei als auch die Armee Jugoslawiens (VJ) iibten den Emstfall und intensivierten die VorbereitungsmaBnahmen fi.ir diese Aktion, vestarkten sich und hielten sich einsatzbereit. Ais es losging, waren zunachst nur die Truppen der serbischen Spezialpolizei beteiligt. Spater wurden die Truppen der regularen Armee in Grenzgebieten eingesetzt und leisteten den serbischen Polizeitruppen dann auch mit Artillerie und Kampfhubschraubem Untersrutzung. Allerdings war die Rolle der VJ die ganze Zeit uber nur zweitrangig, was unter einigen der altgedienten ranghohen Offiziere offenbar Unzufriedenheit auslOste. Die Einheiten der serbischen Polizeitruppen sind schon lange erheblich besser besoldet als entsprechende Dienstrange der Armee und teilweise besser ausgebildet und ausgeriistet. Die Serb en haben sich nicht auf operative Ziele der U<;K beschrankt, sondem sie konzentrierten sich auf zivile Siedlungszentren und bewirkten so, dass in kurzer Zeit uber 300.000 Kosovo-Albaner auf der Flucht waren. Vielfach kam es zu Massenmorden wie in Drenica im Marz. Die Angriffe im Juli 1998 erzeugten den Eindruck, sie galten allein operativen Zielen und dienten der Bekampfung des bewaffneten Widerstands gegen den Staat. Doch dies war nur Taktik und man wollte erreichen, dass das Ausland dieses Vorgehen als legitime Bekampfung des Terrorismus anerkennt, und der Gefahr einer intemationalen Intervention entgegenwirken. Dannjedoch setzte sich ab Juli das Vorgehen gegen Zivilpersonen mit der klaren Absicht der Totung oder Vertreibung fort. Dazu kam die Verlegung von Anti-Personen-Landminen, urn jede Ruckkehr zu verhindem. Selbst nach dem formellen Waffenstillstand yom Oktober 1998 haben die serbischen Truppen eingeschrankte Manover und Operationen fortgesetzt. Dazu gehOrte der AngriffaufPodujevo am 25. Dezember unter dem Vorwand einer Ubung. 1m Grunde aber wurde die Sauberungskampagne aufrechterhalten, wenn auch durch den intemationalen Druck etwas eingeschrankt.
23.3.2. Die Strategie der U(:K Die allmahliche, zeitlich sich lange hinziehende Abwendung der Albaner yom pazifistischen Kurs Rugovas fiihrte zu zwei Entwicklungen am Ende der neunziger Jahre. Einerseits haufien sich in Gebieten einiger albanischer Familienklans des Kosovo Pro-
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vokationen und Uberfalle auf die serbischen Polizei- und Sicherheitskriifte. Andererseits fonnierte sich seit 1995 im Exil eine Organisation fUr ein bewaf'fuetes Vorgehen, die Kosova-Befreiungsarmee (UvK). Sie wurde heimlich von der Schweiz aus organisiert, wahrscheinlieh unter der Beteiligung von Rugovas Ministerpriisident im Exil, Bujar Bukoshi. Mit Mitteln, die Jashar Salihu aufgebracht hatte, und unter der Fillrnmg von Bardhyl Mahmuti wurde die UvK von der Schweiz aus mit mehreren Hundert AngehOrigen aufgebaut. 1997 begann sie mit terroristischen Angriffen auf Serben und serbische Ziele im Kosovo. Dies fGhrte lediglich zu repressiven GegenmaBnahmen der Serb en und zu deren allmiihlicher Verstiirkung. Spiitestens im Miirz 1998, als der Konflikt entbrannte, waren die beiden Elemente des bewaffueten albanischen Kampfes im Kosovo zusarnmengekommen: Lokale Gruppen wie etwa die des Klanchefs Adem Jashari (Drenica) schlossen sich der UvK an, wenn sie nicht sogar formell ein Teil von ihr wurden. Dies schuf eine Streitkraft mit einer Kemorganisation, die von der UvK mit einigen wenigen Hundert Mann gestellt und von lokalen Gruppen als Hilfstruppen ergiinzt wurde. So stieg die Zahl der Beteiligten auf einige Tausend an, jedoch sieher nicht bis zu jenen Zehntausenden, die bisweilen durch die Presse geisterten. Es existierte ein innerer Kommandokreis mit einer lockeren Hierarchie. Das konnte bedeuten, dass Einheiten autonom agierten, aber es diente auch zur Tiiuschung, iihnlieh wie dies von allen Seiten im Krieg in Kroatien und Bosnien-Herzegowina praktiziert wurde. Durch die Schaffung von anscheinend autonom und ungesteuert agierenden Einheiten kann somit j ede Verantwortlichkeit von den militiirischen und politischen Fiihrem bestritten werden. Die Waffen wurden primiir aus serbischen oder jugoslawischen Quellen beschaffi:, nicht aus Albanien, wie oft berichtet wurde, auch wenn einige Waffen aus dem chaotischen Nordalbanien starnmten. Der UvK fehlen schwere Waffen und Panzerfahrzeuge. In Bewaffuung und Organisation waren die serbischen Truppen miihelos uberlegen. In den ersten Monaten des Jahres 1998 war es Jasharis und anderen Truppen gelungen, betriichtliehe Teile des westlichen Kosovo so weit unter Kontrolle zu bringen, dass sie Sperrzonen fUr die serbischen Sicherheitskriifte einrichten konnten. Das serbische Vorgehen seit Miirz 1998 war teilweise eine Reaktion darauf. Serbische Sieherheitskriifte bekampften die UvK, urn die serbische Hoheit wiederherzustellen. Und dennoch beinhaltete die serbische Kampagne weit mehr. Denn was angeblich Reaktion auf den UvK-Aufstand ist, diente Belgrad als Vorwand fUr eine ethnische Siiuberungskampagne.
Deutsch von Robert Hammel und Matthias Vetter Literatur 7 Kap. 24
24. Die jugoslawische Volksarmee und ihre Erben. Entstehung und Aktionen der Streitkrifte 1991-1995 Ozren iunec und Tarik Kulenovic
Die Kriege, die zwischen 1991 und 1995 im Gefolge des Zerfalls der Sozialistischen FOderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) in Bosnien-Herzegowina und Kroatien ausgetragen wurden, sind unter militiirischen Gesichtspunkten mehrfach von Interesse. Die Machthaber in Belgrad begannen sie unter dem Vorwand, den Zerfall der SFRJ verhindern zu wollen, tatsachlich aber mit der Absicht, das groBserbische Programm ,,AIle Serben in einem Staat" zu verwirklichen. Der Krieg in Slowenien, der diesen beiden voranging, unterscheidet sich von ihnen sowohl in der Dauer als auch in seinen Zielen. In Slowenien betrug der Anteil der Serben an der Bevolkerung vor dem Krieg weniger als ein Prozent, so dass hier im Rahmen des groBserbischen Programms keinerlei politische Ziele bestanden, die es auf militiirischem Wege zu erreichen galt. Der Austritt Sloweniens aus der SFRJ bedeutete eine dauerhafte Storung des Kriiftegleichgewichts zugunsten des serbischen Blocks, welcher den slowenischen Abspaltungsbestrebungen indirekt Vorschub leistete, urn damit die Zahl seiner Gegner zu verringern. Die Jugoslawische Volksarmee (JVA) befand sich bis Mitte 1991 noch in einem Dilemma zwischen der grundsatzlichen Orientierung auf den jugoslawischen kommunistischen FOderalismus einerseits und der Realitat andererseits, in der sie praktisch als einziger Verteidiger dieses politischen Konzepts ubrig geblieben war. Trotz ihrer beachtlichen militiirischen Schlagkrafi griff die JVA in Slowenien nicht intensiv ein, denn es fehlte an der politischen Untersrutzung fiir umfangreichere militiirische Aktivitaten. Die militiirischen Auseinandersetzungen konnen als Konflikte geringer Intensitat (low intensity conflicts) kategorisiert werden, in welchen sich die neuentstandenen Staaten und soziale Gruppen gegenuberstanden, die die Anerkennung dieser Staaten ablehnten. Trotzdem kann hier aber nicht von klassischen Bfugerkriegen gesprochen werden, denn das Kriegsziel der serbischen Gruppierungen war nicht die vollstandige Machtubemahme in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, sondem die Abtrennung von Teilen Kroatiens und die Zerschlagung von Bosnien-Herzegowina. In diesem Konflikt stand auf der einen Seite der groBserbische Block - eine bunt zusammengewfufelte Kombination serbischer politischer Optionen, die im strategischen Ziel der Schaffung "GroBserbiens" ubereinstimmten, sich jedoch in den Methoden zum Erreichen dieses Ziels unterschieden. Auf der anderen Seite befanden sich die Gegner des groBserbischen Expansionismus in Kroatien und Bosnien, die eine labile Koalition bildeten - abhangig vomjeweiligen Kriifteverhaltnis und kurzfristigen Ubereinkiinften. Unter diesen politischen Umstanden kam es zur Bildung zahlreicher militiirischer Formationen, die sich aber hauptsachlich an den beiden groBen Blocken orientierten. Ffu die Bildung und Umgestaltung der Streitkrafie Kroatiens und Bosniens war charakteristisch, dass sie zum groBen Teil durch Selbstorganisation entstanden und ihre Strukturen durch standige Transformationsprozesse formten. Die JVA zerfiel dagegen
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in mehrere serbische Armeen, von denen jedoch keine das Niveau ihrer Vorgangerin erreichte. Generelle Charakteristika der Kriege 1991-1995 sind: Einsatz einfacher (veralteter) Waffen, Langsamkeit der Bewegung, Belagerung von Stlidten, Stellungskampf, iiberragende Rolle der lrifanterie und Vertreibungen von Zivilbevolkerung. Erst die kroatischen Gegenoffensiven (',Bljesak", Mai 1995, "Oluja" August 1995) sowie die vereinte Offensive von ARBiH (Armee Bosnien-Herzegowinas) und HVO (Kroatischer Verteidigungsrat) bedeuteten den Ubergang zum schnellen Bewegungskrieg. 1m Kosovo hatten die serbischen Streitkrafte 1998 einige schnelle Angriffe gegen die albanische Untergrundarmee UC;K untemommen, gingen ansonsten aber in massiver Konzentration in Vernichtungsziigen gegen die albanische Zivilbevolkerung vor.
24.1. Der Krieg in Kroatien 24.1.1. Die Jugoslawische Volksarmee Die NA, die bis 1951 Jugoslawische Armee hieB, entstand wlihrend des Zweiten Weltkriegs 1941-1945 zunachst als bewaffneter Fliigel des antifaschistischen Widerstands unter Fiihrung der Kommunistischen Partei. In der Nachkriegszeit entwickelte sie sich zu einer regularen Armee, deren Hauptmerkmal die kommunistische Indoktrination der Fiihrung und ihrer gesamten Struktur war. Noch 1990 waren 96 Prozent der Offiziere und etwa die Halfte aller zivilen Angestellten Mitglieder des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ bzw. SKJ). Obwohl die wamend des Krieges nach so\\jetischem Vorbild eingefiihrten Politkommissare 1953 wieder abgeschafft wurden, blieb die politische Arbeit in der NA auBerordentlich intensiv. Die BdKJ-Sonderorganisation in der Volksarmee besaB den gleichen Rang wie jede Parteiorganisation auf Republiksniveau ("siebte Republik") und war als unabhangiger Faktor in die Arbeit der fOderalen kommunistischen Organisation eingebunden; ihr Vorsitzender, ein aktiver General, war Mitglied des hochsten Parteiorgans, des Parteiprasidiums. (7 Kap. 13) Auf dem XII. Parteikongress des BdKJ 1982 traten dem Zentralkomitee 16 aktive Generale beL Das erste kollektive Staatsprasidium Jugoslawiens (nach Titos Tod im Mai 1980 bis 1984), das nach der Verfassung die Funktion des Oberbefehlshabers der Streitkrafte besaB, zahlte acht Mitglieder, die ausnahmslos Reservegenerale bzw. Offiziere waren. Neben ihrer Hauptfunktion, der Verteidigung des Landes gegen Aggression von auBen, war die Volksarmee gleichzeitig auch ein Grundpfeiler des Regimes. So wurde sie nicht nur zu Repressionszwecken genutzt (z.B. zur Niederschlagung eines Aufstandes in der Cazinska Krajina im Jahr 1950, als sich Bauem gegen den Zwangsautkaufihrer Emteertrage wehrten oder zur Unterdriickung der so genannten ,,Konterrevolution" in den achtziger Jahren im Kosovo), sondem beherbergte gleichzeitig auch eine Reihe von lnstitutionen und Funktionen, mit deren Hilfe die gesamte Gesellschaft iiberwacht wurde. Dies galt insbesondere fUr den militarischen Sicherheitsdienst sowie fUr den Gegenautklarungsdienst Kontraobavjestajna sluiba (KOS), der als politische Polizei nicht nur innerhalb der NA arbeitete. Auf Veranlassung des letzten Verteidi-
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gungsministers Veljko Kadijevic strebte die Volksarmee offen die Abschaffung des in der Verfassung bestehenden Konzepts der Streitkriifte an, besonders hinsichtlich der finanziellen Abhlingigkeit von den Republiken. Indem sie den fdderalen Organen in militiirischen Fragenjegliches Mitspracherecht verwehrte, sperrte sie sich offen gegen jegliche Dezentralisierungsprozesse. Dariiber hinaus hob die IVA auch den foderalistischen Gnmdsatz auf, wonach die Operationsgebiete einzelner Armeeteile im Wesentlichen mit den Territorien der Republiken iibereinstimmen sollten. So wurde beispielsweise die 9. Armee aus Slowenien abgezogen, und das Gebiet fiel unter den Verantwortungsbereich der 5. Armee mit Sitz in Zagreb. Dabei blieb es aber nicht. Unter dem Decknamen ,,Einheit" (" Jedinstvo U) begann 1987 die Neustrukturierung der Volksarmee, die allerdings bis zum Kriegsbeginn nicht mehr abgeschlossen werden konnte. Durch die Umgruppierung der iibrigen Armeen entstanden die Kommandobereiche: Zentralbereich (mit Sitz in Belgrad), das Kommando N ordwest (Zagreb), der Bereich Siidost (Skopje) sowie der Kriegsmarinebezirk Split, bestehend aus Marine und Kiistenstreitkriiften. Damit war der Zentralisierungsprozess bereits in wichtigen Teilen Realitat geworden. Da diese organisatorischen Fragen, die vitale politische Interessen des gesamten Landes beriihrten, ausschlie13lich im Verantwortungsbereich der IVA lagen, kann ihre Losung praktisch als eine Art geheimer Putsch interpretiert werden. Die Reorganisation der Befehlsstrukturen Ende der achtziger Jahre (Kommandobereiche statt Armeen) betraf auch die "Territorialverteidigung" (TO) der Republiken, welche dadurch wichtige Kontrollfunktionen iiber ihre Truppen einbiiJ3ten. Die Territorialverteidigung war als territoriale Komponente der jugoslawischen Streitkriifte gegriindet worden, wiihrend die IVA die operative Komponente darstellte. In der Zeit, als die allgemeine politische Krise in Jugoslawien ausbrach, betrachtete die IVA-Fiihrung die Territorialverteidigung als enorme Bedrohung ihrer Zentralisierungsplline, wobei Kadijevic die Territorialverteidigung bezeichnenderweise "an sich einen gro13en Betrug" nannte. Weil die Doktrin zum Einsatz der Volksarmee unter "auJ3ergewohnlichen Umstlinden" schon Mitte der achtziger Jahre vorsah, dass in Krisensituationen "die gesamte materielle Ausriistung der Territorialverteidigung in die Lager der Volksarmee iiberstellt wird", startete die IVA sofort zu Beginn der Krise ihre lange vorbereiteten Aktionen. Ais im April 1990 in Kroatien die ersten freien Wahlen stattfanden und sich in Slowenien die neue pluralistische Regierung konstituierte, iibernahm die IVA aufBefehl des Generalstabs yom 14. April 1990 das Waffenarsenal der Territorialverteidigung dieser Republiken (in Kroatien die gesamten Bestlinde von 200.000 Schusswaffen, wiihrend es den Slowenen gelang, etwa 30 Prozent ihrer Waffen zu behaIten). Damit hatte die Volksarmee nicht nur den FOderalismus zerstOrt, sondern auch das Krafteverhiiltnis entscheidend verlindert, da die Gegner des Zentralismus ohne jegliche Mittel zur Verteidigung dastanden. Zu betonen bleibt, dass die Territorialverteidigung Serbiens nie entwaffnet wurde. Slobodan Milosevic, Prasident der sozialistischen Teilrepublik Serbien, lie13 1991 fUr seine Territorialverteidigung in der Vojvodina sogar Musterungen durchfiihren. Die Entwaffnung der Territorialverteidigung in Kroatien und Slowenien annullierte vollkommen den Abschreckungseffekt, durch den die Gegner moglicherweise den Ausbruch des Krieges hatten verhindern konnen.
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Anfang 1991 ziihlte die Volksannee etwa 150.000-180.000 Soldaten, darunter rund 70.000 Berufsoffiziere und professionelle Unteroffiziere sowie lOO.OOO wehrpflichtige Rekruten. Die JVA verfiigte tiber eine zahlenmiillig tunfangreiche Kriegstechnik (etwa 2.000 Panzer, ebenso viel schwere Artillerie, mehr als 1.000 gepanzerte Fahrzeuge, rund 450 Flugzeuge, 200 Hubschrauber usw.) sowie tiber enorme Munitionsvorriite. Wegen der bereits erwiihnten Umbildung der Armee nach dem Plan ,,Einheit" standen bei Kriegsausbruch noch zahlreiche MaBnahmen zur Veriinderung von Organisations- und Befehlsstruktur vor dem Abschluss, was zu Problemen, ja sogar zu Chaos in der operativen Arbeit fiihrte. Die Zusammensetzung der Armeekontingente entsprach auf der Rekrutenebene (nicht aber in den Offiziersriingen!) dem Nationalitatenproporz. In einzelnen Schltisselpositionen der Volksannee befanden sich auch Nichtserben. Die Aussichten fUr eine disziplinierte und energische Ausfiihrung von Aktionen gegen Volksgruppen, denen diese Militiirs angehOrten, verschlechterten sich unter diesen Umstiinden, zumal die intensive Beteiligung dieser Personen am Projekt eines GroBserbien illusorisch erscheinen musste. Zudem beeintriichtigte der verhiiltnismiillig hOhere Anteil nichtserbischer Offiziere in technischen Bereichen (Luftwaffe und Marine) die Funktionsabliiufe, so dass sich etwa die Luftwaffe im Krieg relativ passiv verhielt und dem Heer nur selten Unterstiitzung leistete. Die nichtserbischen Fiihrungskriifte in der JVA, besonders in deren Sicherheitsorganen, wurden fUr den Gegner zu einer wertvollen Informationsquelle. Die Jugoslawische Volksarmee verfiigte weder tiber starke Verbiinde fUr groBere Operationen noch tiber gefechtsbereite schnelle Eingreiftruppen. Der Kern ihrer Kampfeinheiten kam in Friedenszeiten vor allem im Wachdienst, bei Arbeiten in militiirischen Wirtschaftssektoren, im Bauwesen und iihn1ichem zum Einsatz. Damit wurde jedoch eine wichtige Aufgabe, die Verteilung der Streitkriifte tiber das ganze Territorium, vernachliissigt. Befehlsgebung und Versorgung waren erschwert, der Offizierskader war weit verstreut und die versprengten Einheiten, welche zur Ausfiihrung komplizierterer Aufgaben nicht imstande waren, konnten Angriffen leicht zum Opfer fallen. Dieses Bild bestiitigen Angaben, nach denen die 7. Armee in Sarajevo Mitte der achtziger Jahre tiber 32 Garnisonen an insgesamt 145 Standorten verfiigte, an welchen die Streitkriifte wiederum als selbstiindige Einheiten stationiert waren. Auch zur 1. Armee in Belgrad gehOrten 35 Garnisonen mit Regimentsrang, und allein das 32. Korps in VaraZdin war auf acht Garnisonen mit 55 Objekten verteilt. Zu Kriegsbeginn besaB die JVA 1.400 Wachposten mit etwa 20.000 Mann im Wachdienst (ca. 20 Prozent des gesamten Rekrutenpotentials), die weder fUr andere Aufgaben eingesetzt werden noch die Objekte gegen konzentrierte feindliche Kriifte verteidigen konnten. Die operativen Streitkriifte waren iiuBerst schwach besetzt. Der Kern der Gefechtsformationen verfiigte in Friedenszeiten nur tiber sechs bis 60 Prozent der Sollstiirke an Personen bzw. gefechtsbereiter Technik gegentiber Kriegszeiten - ein Anteil, der keineswegs der Norm entsprach. Zu Beginn des Krieges umfasste das 32. Korps 1.800, das 9. Korps in Knin im Mai 1991 sogar weniger als 1.500 Mann (es wuchs allerdings bis August auf 4.000 und im Oktober auf 6.000 Mann an). Ais groBer Fehler erwies sich die Stationierung der Streitkriifte in stiidtischen Kasernen, denn diese wurden leicht blockiert und damit handlungsunfahlg. Entschloss man sich trotzdem zum Eingreifen, brachte dies oft die Zer-
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storung von Wohnsiedlungen mit sich und schadete damit in katastrophaler Weise dem Ansehen der Jugoslawischen Volksannee. Obwohl eine solche Situation leicht vorauszusehen war, wurden die Truppen nicht aus den Stlidten in freies Operationsgebiet verlegt, wo die Verteidigung leichter gewesen ware und wo sich die Einheiten fUr groBere Operationen Witten verstiirken und konzentrieren konnen. Vermutlich behielt die NA ihre Streitkrafte in den Stiidten auch als Druckmittel gegenfiber der politischen Fiihrung und zur leichteren Ausfiihrung eines eventuellen Militiirschlags. Niemand erwartete, dass die Republiksfiihrung fiberhaupt zu einer effektiven Blockade der Kasernen imstande sein wiirde. Ein zusiitzlicher Grund war vor allern psychologischer Natur: Vor dern Krieg war die Volksannee so selbstsicher, dass sie fiberhaupt nicht annahm, jemand wiirde sich gegen sie auflehnen. Bedingt durch das Debakel in Slowenien und Kroatien, begann sie allerdings vor dem Kriegsausbruch in Bosnien-Herzegowina mit dem Abzug von Soldaten und Waffentechnik aus den dortigen Kasemen sowie mit der Verstiirkung und der Konzentration ihrer Kriifte, was sich in den Anfangserfolgen wiihrend des bosnischen Krieges widerspiegelte. Mit dem schwerwi.egenden Mangel an Soldaten konfrontiert, begann die NA in Belgrad und in ganz Serbien bereits am 7. Mai 1991 mit der Teilmobilisierung. In Slowenien hatte die N A zwei Korps (das 14. in Ljubljana und das 31. in Maribor) mit ca. 32.000 Soldaten stationiert, darunter 4.000 Offiziere und Berufssoldaten. In Kroatien verfiigte die NA vor dem Krieg fiber vier Korps (das 32. in VaraZdin, das 10. in Zagreb, das 13. in Rijeka und das 9. in Kninalle im Verband der 5. Armee mit Sitz in Zagreb), fiber Teile einiger Armeekorps mit Hauptstandort in Bosnien-Herzegowina sowie fiber Luftstreitkrafte (5. Luftwaffenkorps) und Marineeinheiten (im Kriegsmarinebezirk Split). Nahe der kroatischen Grenze befanden sich weitere bedeutende Truppenteile: Das 12. Korps in Novi Sad, das 2. Korps in Titograd, die 1. Gardepanzerdivision (eine Eliteeinheit, stationiert bei Belgrad) und eine groBe unterirdische Luftwaffenbasis bei Bihac, wo die Einheiten des 5. Luftwaffenkorps stationiert waren. Diese Streitkriifte umfassten zeitweise bis zu 70.000 Soldaten, waren allerdings territorial weit verstreut. Durch Desertion fiel die Anzah! der Rekruten in der zweiten Julihiilfte auf ungeflihr 27.000, von denen fast 30 Prozent antiserbisch eingestellte Albaner waren. Der Anteil der Nichtserben in den Offiziersrangen dieser Formationen wurde aufrund 50 Prozent gescWitzt. Die gefechtsbereiten Streitkriifte waren schwach; nach einigen Schiitzungen verfiigte die NA in der zweiten Julihiilfte in Kroatien lediglich fiber zwei panzer- und zwei motorisierte Bataillone sowie fiber zwei Bataillone Militiirpolizei mit insgesamt etwa 7.000 Rekruten, die fibrigen 20.000 befanden sich in Ausbildung. Allerdings besaB die NA in Kroatien und Slowenien umfangreiche Waffentechnik, u. a. 650 Panzer, 1.100 Geschiitze und Granatwerfer mit Kalibem fiber 100 mm sowie 1.800 Tonnen Antipanzer- und 600 Tonnen Antipersonenminen.
24.1.2. Die serbischen Streitkriifte in Kroatien 1m Laufe des J ahres 1991 kam es in Kroatien zur Mobilmachung unter den Serben, die in Slawonien, der Baranja sowie in der ,,Krajina" lebten (letztere besteht aus der Ge-
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gend lUll die Stadt Knin, Teilen des nordlichen Dalmatiens, Lika, Kordun und BanovinaIBanija). Die 1990 in Kroatien gegriindete Serbische Demokratische Partei (SDS), die sich bald nach der Griindung an das politische Programm Milosevics anlehnte, fiihrte daraufhin eine Reihe politischer Aktionen mit dem Ziel des Abbruchs aller Verbindungen zum kroatischen Staat durch und produzierte in diesem Zusammenhang mehrere Dokumente mit gesetzlichem Anspruch (z.B. ReferendlUll und Deklaration fiber die Abspaltung sowie die Vereinigung mit Serbien). Die Mobilmachung unter der serbischen Bevolkerung wurde durch die - jahrelang von serbischer Propaganda wachgerufene - Angst erleichtert, das Schicksal des serbischen Volkes von 1941 konne sich wiederholen. So1che Befiirchtung nahrten auch bestimmte AuBerungen einiger f'iihrender kroatischer Politiker. (~Kap. 21) Barrikaden, zuerst im August 1990 bei Knin errichtet, breiteten sich schnell fiber die ganze Region aus und unterbrachen samtliche StraBen- und Eisenbalmverbindungen, die von Zagreb durch die Lika nach Dalmatien fiihren. Lokale Polizeikrafie, die der kroatischen Fiihrung die Loyalitat verweigerten, bewaffneten sich aus Reservebestanden, mit Hilfe der SDS und geheimer Helfer aus Serbien. Mit UnterstUtzung der politischen Fiihrung Serbiens mobilisierten sie Freiwillige, so dass im Sommer 1991 fiber 12.000 Serben unter den Waffen standen. In der Anfangsphase waren die serbischen Krafte in Kroatien hauptsachlich mit leichten Waffen ausgeriistet und begannen den offenen bewaffneten Aufstand, indem sie sich der Taktik bedienten, die fiir einen Konflikt geringer Intensitat typisch ist: einzelne kurze Auseinandersetzungen mit kleinem Kraftepotential, Hinterhalte, Angriffe aufpolizeistationen, Blockade von Verkehrswegen, Aufstellen von Wachposten lUll Siedlungen mit serbischer BevOlkerungsmehrheit und Blockade kroatischer Siedlungen. Erst nach dem eigentlichen Beginn des Krieges aktivierten die Serben aufihrem Gebiet die Strukturen der Territorialverteidigung, wobei diese insgesamt nur schwach besetzt waren, so dass nur kleinere Einheiten von lokaler Bedeutung entstanden. In Westslawonien versuchten die Serben auf diesem Weg die 28. Partisanendivision zu fonnieren (ein Teil des Mobilisierungspotentials der NA in Kriegszeiten), doch es entstanden nur einige unvollstandige Bataillone, deren AngehOrige spater aufWachposten in den Dorfern eingesetzt wurden. Wei! die Serben nicht fiber die notige Schlagkrafi zur Realisierung ihres gro13serbischen Projekts und zur Sicherung der entsprechenden Westgrenze verfiigten, bestand die Strategie ihrer Verbande in Kroatien im Erzeugen von Spannung und in der Eskalation von Gewalt, lUll damit der NA einen Vorwand zur Intervention zu liefem. Es zeigte sich, dass diese Strategie durchaus erfolgreich war, obwohl die zur Abtrennung favorisierte Grenzlinie Virovitica-Karlovac-Karlobag niemals erreicht wurde. Die Jugoslawische Volksannee selbst schaltete sich in dieses Szenario relativ frOb ein: Schon am ersten Tag nach Errichtung der Barrikaden bei Knin (am 17. August 1990) fing ihre Luftwaffe drei kroatische Polizeihubschrauber ab, die in Richtung der Stadt unterwegs waren, und zwang sie zur Umkehr. Am nachsten Tag drohte General Blagoje AdZic, Vorsitzender des Generalstabs der NA, die Volksannee wiirde intervenieren, sobald es das erste Opfer gabe. Die serbischen Aufstandischen in Kroatien bildeten zwar ihre eigene Annee (die Serbische Annee der Krajina, SVK, Griindung am 16. Oktober 1992), diese existierte jedoch nur auflokalem Organisationsniveau. Es handelte sich lUll gering bezahlte, schlecht gefiihrte und militarisch meist ungeschulte
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Verbande, die sich gegenseitig in den Stelhmgen nahe ihrer Hauser ablOsten. Es bestanden praktisch keine Einheiten, die fUr groJ3ere Manover von Bedeutung gewesen waren und die auch au13erhalb der Wohnorte ihrer AngehOrigen hatten eingesetzt werden konnen. Nach Berichten auslandischer Beobachter wie auch aus Sicht von Teilnehmem des Aufstands kann der Zustand der SVK in den dreieinhalb Jahren zwischen Krieg und Frieden am besten als ein Zustand militarischer Passivitat beschrieben werden. Es gab weder eine regulare Ausbildung noch Manover, noch wurde in Verteidigungsanlagen und Kommunikation investiert. Die ganze Verteidigung basierte praktisch auf der Drohung mit Raketenangriffen auf kroatische Stiidte und der Hoffnung auf Hilfe von Seiten Serbiens und der bosnischen Serben, falls Kroatien angreifen sollte. Aber das Dokument mit der Bezeichnung ,,Deklaration iiber Zusammenarbeit und Streben nach Vereinigung", das die bosnischen und die kroatischen Serben am 3l. Oktober 1992 im bosnischen Prijedor unterzeichneten und das ein festes Verteidigungsbiindnis vorsah, wurde in keinem seiner Beschliisse urngesetzt. Zu den einzigen diesbeziiglichen Aktivitaten der SVK kam es in den bosnischen Kampfgebieten, wo einige ihrer Einheiten innerhalb der Verbande der bosnischen Serbenarmee kfunpften. Vor den letzten groJ3en militarischen Operationen der kroatischen Armee im Sommer 1995 (Westslawonien war bereits eingenommen) untemahmen die aufstandischen Serben in Kroatien verstarkte Anstrengungen, urn die Verteidigung in letzter Minute doch noch entscheidend zu verbessem. Der im Juni zum General emannte Milovan Mrksi6 stellte neb en den bereits existierenden Armeekorps der SVK ein neues Korps aus Spezialeinheiten mit einer besseren Schlagkraft auf (Mrksi6 war bis zur Ubemahme der Funktion des Befehlshabers der SVK Mitglied im Generalstab der Jugoslawischen Armee, verantwortlich fUr die Spezialeinheiten). Das Korps bestand aus einer Infanterie-, einer panzer- und einer Spezialbrigade und wurde der Offentlichkeit erstmals wahrend einer Parade zum st. Veitstag am 28. Juni 1995 in Siunj prasentiert. Wahrend der kroatischen Militaraktion "Oluja" ("Sturm") trat dieses Korps allerdings kaurn in Erscheinung, womit sich zeigt, dass die Neuorganisation der Armee zu spat kam und die Fehler und Versaumnisse des gesamten militarischen, politischen und sozialen Systems der Republik Serbische Krajina nicht mehr aufzuholen waren.
24.1. 3. Die Kroatische Armee
Kroatien befand sich zu Beginn des Krieges 1991 in einer au13erordentlich schwierigen Lage. Die politische Fiihrung hatte kein klares Konzept fUr einen Ausweg aus der Krise. Urn fUr ihr Ziel einer vollstandigen Selbstandigkeit Zeit zu gewinnen, schwankte sie vor der Offentlichkeit zwischen verschiedenen vagen Planen fUr ein konfoderatives Jugoslawien. Die Ambivalenz dieser Plane war zugleich eine Antwort auf Milosevi6s doppeltes politisches Spiel. Infolge des serbischen Aufstands wurden tagtaglich neue Landesteile dem politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen System Kroatiens entrissen. Einige unerlassliche Veranderungen, z. B. die Anpassung des Nationalitatenverhaltnisses in der Polizei (bis 1990 waren rund 60 Prozent der 16.000 Polizeiangehorigen Serben), riefen unter der serbischen BevOlkerung zusatzliches Befremden
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hervor. Der DrohWlg von Milosevic, wonach Kroatien die SFRJ verlassen diirfe, jedoch nur ohne die Serben bzw. die Gebiete, in denen diese die Mehrheit bilden, hatte Kroatien im ersten Augenblick nichts entgegenzusetzen Wld fUrchtete nicht ohne Grund die unmittelbare Konfrontation mit der Jugoslawischen Volksarmee. Der kroatische VerteidWlgsminister von 1990 bis 1991, General Martin Spegelj, frUher Kommandant der 5. Armee der NA, war bemUht, eioige entworfene Verteidigoogspliine wnzusetzen, die zunlichst die Niederschlagoog des Aufstands in Knin durch die Festnabme mehrerer fiihrender K6pfe der Bewegoog vorsahen, urn spliter, wenn der Konflikt eskalierte, mit der DurchbrechWlg der Barrikaden zu beginnen. Andererseits versuchte Spegelj auch, entsprechende Kriifte fUr ein System zur MobilmachWlg zu formieren und diese mit Waffen auszustatten. Ein Teil des Planes konnte realisiert werden: Bis Juli 1991 erwarb Kroatien fiber verschiedene KanaIe insgesamt 22.000-24.000 automatische Gewehre (eine Variante des sowjetischen Typs AK-47) mit 42 Millionen Patronen, 2.100 Mascbinengewehre mit 14 Millionen Schuss Munition, 40-60 Abschussrampen fUr Flugabwehrraketen der Typen "Strijela-2M" und "Stinger" mit jeweils 12 Raketen, 400 Abschussrampen fUr panzerabwehrraketen yom Typ RPG mit 4.400 Projektilen, 40 Flugabwehrkanonen sowie bestimmte Mengen von Minen, Kommunikationstechnik und Fahrzeugen. Die Waffen wurden in Ungam und eioigen anderen (auch femostlichen) Liindem gekauft. Kleinere Mengen stammten aus Reparaturanlagen und Lagem der NA. Prlisident Tudman wandte sich gegen alle offensiven Absichten. Er glaubte, dass eine politische Losung moglich sei und Kroatien in einer offenen Konfrontation nur der sichere Verlierer ware. Gleichzeitig wiirde das Land auch sein politisches Kapital bei der intemationalen Offentlichkeit verspielen, die dem Zerfall Jugoslawiens ohnebin nicht wohlwollend gegenfiberstand - schon gar nicht, wenn dieser mit Gewalt vorangetrieben wiirde. Bis etwa September, Oktober 1991 verfiigte Kroatien fiber kein einheitliches, funktionsfahiges und exakt geregeltes Verteidigoogssystem. Organisatorische Vorkehrungen fiihrten immerbin dazu, dass die Polizeikriifte bis Ende 1990 auf 28.000 Mann plus 11.000 Mann Reserve anwuchsen. Es entstandenjedoch auch andere Organisationen, die zu Keimzellen militiirischer Einheiten wurden: Die ,,Freiwilligen Jugendeinheiten" (DOJ) oder der "Volksschutz" (NZ), der 199030.000, im Sommer 1991 schon 90.000 meist unbewaffuete Mitglieder ziihlte. 1m spliten Friihjahr 1991 entstanden die ersten Militlirverbiinde innerhalb der "Versammlung der Nationalgarde" (ZNG); auf Grund noch bestehender Gesetze und der politischen Umstiinde war diese zunachst noch dem Innenministeriurn unterstellt. Bis Ende Juli 1991 verfiigte die ZNG fiber vier professionelle Brigaden mit insgesamt 10.000 Klimpfern, im Sommer wurden noch vier zuslitzliche Reservebrigaden mobilisiert. Die ZNG wurde zunachst mit einigen Dutzend instandgesetzter schwerer Waffen ausgeriistet; nach der Einnahme der ersten Kasemen und Waffeolager der Volksarmee kam auch schwerste Artillerie hinzu. Neben den von staatlicher Seite aufgestellten militiirischen Einheiten existierten auch Kampfverbiinde verschiedener politischer Parteien. So organisierte die damals 6.000 Mitglieder zlihlende Kroatische Rechtspartei (HSP) ihre eigenen bewaffueten Truppen, die ,,Kroatischen Verteidigoogskriifte" (HOS), eine privat bewaffuete, relativ gut aus-
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gebildete Kampftruppe, die vor aHem an kritischen Frontabsclmitten zum Einsatz kam. Die Refonnkommunisten der ,,Partei der demokratischen Verandenmgen" (SDP) bewaffiteten ihre Aktivisten in Istrien, im Kroatischen Kiisten1and Wld in Dalmatien ebenso wie die regierende ,,Kroatische Demokratische Gemeinschaft" (HDZ) in den iibrigen Landesteilen. Zudem gab es auch Freiwilligenverbande Wlter der Kontrolle lokaler Machthaber. In einigen Gebieten, wie beispielsweise in Zagreb, wurde das System der Territorialverteidigwtg reaktiviert. Je niiher der Krieg inzwischen riickte, desto intensiver wurden die Verteidigwtgsplane diskutiert. General Spegelj vertrat weiterhin Plane fUr ein ofIensiveres Vorgehen Wld forderte bereits wabrend des Kriegsausbruchs in Slowenien, man miisse im eigenen Land Kasernen Wld Lager der NA einnehmen, urn an WafIen zu kommen. Tudman lehnte diese Vorschlage aber ab, Wld so fiihrten Unentschlossenheit in der strategischen Orientienmg Wld eine Wldurchsichtige politische Lage zu einer Reihe konfuser EntscheidWlgen. So befand sich die ZNG gleichzeitig im Zustandigkeitsbereich von Ionen- Wld Verteidigwtgsministeriurn. Ein GroBteil der FUhfWlgsaufgaben war lokalen Krisenstaben vor Ort iibertragen worden, wo oft Politiker ohne ausreichende militarische Kenntnisse das Sagen hatten. Erschwerend wirkte sich auch aus, dass auf engem Raurn oft mehrere Wlterschiedliche Kampfverbande stationiert waren, die zwar formal in einheitliche Organisationsstrukturen eingebWlden waren, jedoch keinem gemeinsamen Oberkommando Wlterstanden. Kasernen Wld andere NA-Objekte standen seit Juli 1991 unter der Blockade einer bWlt gemischten Gegnerschaft, in der die Einheiten der Volksverteidigwtg am zahlreichsten waren, der sich aber auch Bewohner der UmgebWlg anschlossen. Mit allen blockierten NA- Verbanden fiihrten die ortlichen Krisenstabe intensive, aber meist erfolglose VerhandlWlgen. Die nichtserbischen Soldaten Wld Offiziere flohen haufig aus den belagerten Kasernen; auch die, die blieben, hielten meist VerbindWlg zu den Kroaten drauBen. Die kroatische Fiihrwtg, die anfangs jegliche AngrifIe auf Kasernen verboten hatte, erteilte am 14. September die AnweisWlg zur Verscharfung der Blockade, was dazu fiihrte, dass die Eingeschlossenen von der Versorgwtg mit Wasser, Strom Wld Lebensmitteln abgesclmitten waren. AuBerdem waren die Mii11abfuhr eingestellt Wld die Telefonleitungen gekappt worden. NWl wurden auch die KampfhandlWlgen gegen die Kasernen intensiviert. Die dezimierten, durch die lange BelagefWlg demoralisierten KasemenbesatZWlgen gaben ihre Verteidigwtg relativ schnell auf. Zwei Kasemen in Dakovo, wo die 158. Antipanzerbrigade mit ihrer gesamten Artillerietechnik stationiert war, fielen schon am 18. September. Einen Tag spater ergaben sich auch die Kasemen in VaraZdin, der groBten NA-Garnison zwischen Drau Wld Save, wo sich das Kommando des 32. Korps, eine mechanisierte Brigade, ein Artillerieregiment Wld eine Reihe weiterer Stabseinheiten befanden. Einige Kasemen lehnten allerdings die Kapitulation ab Wld wehrten sich hartniickig. So feuerte die Kasemenbesatzung von Vinkovci (hier befand sich ein Artillerieregiment Wld ein Regiment zur Flugabwehr) - aus Raketenwerfern innerhalb von 15 Tagen 1.700 Projektile auf die Stadt ab Wld erreichte in VerhandlWlgen schlieBlich den Abzug mit samtlichen WafIen. Am 26. September verlieBen die von 700 auf 200 Mann geschrumpften Einheiten die Stadt. In Daruvar schiitzten 170 Militars, Wlter ihnen Soldaten der Volksarmee, AngehOrige der serbischen Territorialverteidigwtg sowie serbische Freiwilli-
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ge das Versorgungslager der 5. Armee, in dem sich enorme Mengen an Munition und Sprengstoffbefanden. Der Besatzung gelang es, die Belagerung zu durchbrechen und sich bis auf das von serbischen Aufstandischen kontrollierte Territoriurn abzusetzen, von wo aus sie schlieBlich das verminte Waffenlager in die Luft sprengten. Innerhalb von sechs Tagen, zwischen dem 14. und dem 19. September, wurden aber in Gefechten oder nach Kapitulation 36 Kasemen und Versorgungslager, darunter zwei Kommunikationszentralen und eine Raketenbasis, eingenommen. Wiihrend der militarischen Operationen im September kam es zur vollstandigen Entwaffnung des 32. NAKorps in Varaidin, teilweise entwaffnet wurden das 10. und das 13. Korps (in Zagreb bzw. Rijeka) sowie Luftwaffen- und Marineeinheiten. In die Hande der Kroaten fielen auch samtliche militiirischen Reparatur- und Produktionsanlagen. Die Kriegsbeute war insgesamt sehr reich - iiber 230 Panzer, etwa 400 groBere Geschiitze, zehntausende Gewehre, einige Millionen Schuss Munition sowie eine Vielzahl anderer AusrUstungsgegenstande und Fahrzeuge. Die erbeuteten Waffen kamen sofort zum Einsatz, so dass die Auseinandersetzungen urn die Kasemen bereits zu einem ersten Wendepunkt des Krieges wurden. Trotz dieser Ereignisse wurde am 15. November 1991 in einem Abkommen der Abzug der Jugoslawischen Volksarmee aus 40 belagerten Kasemen in Kroatien beschlossen. Nach dem Abkommen mussten sich die NA- Verbande unter intemationaler Kontrolle mindestens 20 Kilometer hinter die kroatische Grenze zuriickziehen. Die JVA nahm aus Kroatien insgesamt 310 Panzer, 210 gepanzerte Fahrzeuge, 260 Geschiitze, 210 Flugzeuge und 40 Hubschrauber sowie vier U-Boote, vier Fregatten und 38 kleinere Schiffe der Kriegsmarine mit. 1m Gegenzug wurden die Waffen der kroatischen Territorialverteidigung, die die N A 1991 beschlagnahmt hatte, zuriickgegeben. Zuvor hatte die NA bereits aus Slowenien rund 120 Panzer, 100 gepanzerte Truppentransporter, 200 Geschiitze, 45 Flugzeuge und zwOlf Hubschrauber evakuiert. Der groBte Teil der Waffentechnik wurde nach Bosnien-Herzegowina und Serbien verlagert und spiiter im Krieg gegen Kroatien und Bosnien eingesetzt. Zu Beginn der Aggression war Kroatien ein Land ohne Armee. Unter dem Druck der Ereignisse und angesichts der beschriebenen Schwachpunkte stellten sich drei Hauptaufgaben: 1) in moglichst kurzer Zeit und unter ungiinstigsten Bedingungen ein komplettes Verteidigungssystem aufzubauen, 2) es in der Praxis zum Funktionieren zu bringen sowie 3) Truppenverbande zu formieren, auszuriisten und auszubilden, die gleicbzeitig bereits im Kampf eingesetzt werden mussten. Als wichtigste Ziele galten der Schutz der neuen demokratisch gewiihlten Fiihrung und des Staatsterritoriums, die Niederschlagung der Aufstande und die Vertreibung der Jugoslawischen Volksarmee. Klarer formulierte konzeptionelle und strategische Losungen sahen eine einheitliche Organisationsform aller bewaffneten Kriifie und deren Einsatz an der Spitze der nationalen Verteidigung vor, wobei alle vorhandenen Ressourcen mobilisiert werden sollten. Eine grundlegende operative Aufgabe bestand darin, den Durchbruch der NA und der iibrigen feindlichen Kriifie an den wichtigsten Frontabschnitten zu verhindem. Zudem galt es, einzelne Stiidte und besonders bedrohte Gebiete zu verteidigen und die NA-Kasemen im Hinterland einzunehmen. Die Umsetzung der Plane konnte jedoch erst in Angriff genommen werden, als sich die bewaff-
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neten Kriifte auf der Grundlage eines neuen Gesetzes iiber die Landesverteidigung zur Kroatischen Armee (HV) fonniert hatten und am 21. September 1991 der Generalstab unter dem kommandierenden General Antun Tus seinen Dienst aufnahm. Jetzt begann auch die systematische Mobilmachung von Reservisten und die Entwicklung von Einheiten, Kommandostrukturen und Vorschriften sowie der planmlillige Einsatz der Streitkriifte. Die aufgestellten Formationen waren zwar noch keine homogenen, eingespielten Verbiinde, doch die Mobilmachung selbst war erfolgreich, obwohl es noch keine gesetzliche Grundlage fUr Sanktionen gegen diejenigen gab, die sich der Einberufung widersetzten. In Zagreb erging beispielsweise zwischen dem 14. September und 15. Oktober 1991 an 9382 Wehrpflichtige der Aufrufzur Mobilmachung, 7.506 (80 Prozent) davon leisteten ibm Folge. Die einberufenen Wehrpflichtigen waren sich, ebenso wie die iibrige Bevolkerung, der Bedeutung des Krieges fUr die Landesverteidigung bewusst, konnten den Aggressor identifizieren und waren bereit, sich der organisierten Verteidigung anzuschlieBen; zudem war die Verteidigung des Landes ein klares, unmittelbares Ziel, wiihrend die Bildung des kroatischen Staates vielen noch sehr abstrakt erschien. Diese Orientierung der Bevolkerung festigte sich besonders durch das brutaIe Vorgehen der serbischen Kriifte, die nach der Einnahme eines Gebietes die kroatischen Bewohner ausraubten, urnbrachten oder vertrieben und eine Taktik der "verbrannten Erde" praktizierten. Die kroatische Kampfinoral war verhiiltnismiiBig gut; dort wo sie schwiicher ausgepriigt war, lag dies zumeist am Mangel an logistischen Mitteln (Uniformen, Schuhwerk), technischer Ausriistung (Bewaffuung, Munition) und Organisation (Ausbildung, Unklarheiten iiber den Status der Soldaten, Fehlen eines professionellen Offizierskaders, mangelnde Kenntnisse iiber die Kampfaufgaben), aber auch daran, dass die Soldaten der Armeefiihrung die verantwortungsvolle und durchdachte Leitung der Truppe nicht zutrauten. Zu Beginn der Mobilmachung war die Qualitiit der AUsrUstung sehr schlecht, gerade bei Treibstoffund Lebensmitteln gab es aber geniigend zivile Ressourcen, urn die dringendsten Bediirfnisse zu befriedigen. Besonders das Sanitiitspersonal konnte auf den zivilen Gesundheitsdienst zurUckgreifen, der sich fast ausschlieBlich selbst urn Verletzte und Kranke kiimmerte, oft sogar an vorderster Frontlinie. Auf Grund dieser Organisationsform und der kurzen Wege zu den Krankenhiiusem konnten die Verletzten in modem ausgestatteten Einrichtungen medizinisch behandelt werden, so dass Ende 1991 das Verhiiltnis von Verletzten zu Toten mit 5,2 : I relativ gUnstig war. Nach der Einberufung ihres Generalstabs begann sich die Kroatische Armee auf allen militiirischen Gebieten zu organisieren. Am 1. Oktober 1991 wurden territoriale Armeekommandos (sog. "Operative Zonen") mit Sitz in Osijek, Bjelovar, Zagreb, Karlovac, Rijeka und Split eingerichtet, denen operative Gruppen unterstanden, die wiederum die Befehlsgewalt innerhalb kleinerer Gebiete ausiibten. Die grundlegenden und zugleich meist taktischen Formationen waren Infanteriebrigaden (aus Berufssoldaten oder Reservisten), es wurden aber auch Brigaden und Bataillone fUr andere militiirische Bereiche gebildet (z.B. Ingenieurswesen, Artillerie und Raketen). Anfang Oktober war die Aufstellung von 24 Brigaden abgeschlossen und bis zum lahresende existierten 63 Brigaden. Neben den professionellen wurden auch die Reservistenbrigaden zur Ausfiihrung von Manoveraufgaben befahlgt, was die Konzentration der Streitkriif-
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te lUld die PlanlUlg von militarischen Operationen ermoglichte. Von 10.000 ZNGKampfern wuchs die kroatische Armee bis Dezember 1991 auf 200.000 AngehOrige an. Zugleich wurde die HV zur einzigen bewaffneten Streitmacht, in deren Strukturen sich aIle iibrigen bewaffneten Organisationen lUld Gruppen, parteigeblUldenen oder privaten Milizen einreihten. 1m Oktober fiihrte man auch militarische Rangstufen ein. All diese MaBnahmen sorgten fUr eine deutliche Verbessertmg von BefehlsgeblUlg, PlanlUlg lUld Kriegsfiihrung. Nach dem Waffenstillstand, der am 2. Januar 1992 in Sarajevo lUlterzeichnet wurde, durchlief die Kroatische Armee wichtige Transformationsprozesse. Politische lUld okonomische Griinde sprachen lUlter den Vorzeichen weniger intensiver KampfhandllUlgen fUr einen Abbau der Streitkrafte. Mit der Zeit konzentrierte man sich bei der EntwickllUlg der Kroatischen Armee vor allem auf den Aufbau professioneller Brigadenbis Anfang 1993 entstanden nicht weniger als sieben davon (hinzu kam eine Sturmbrigade der Militlirpolizei). Diese Formationen lUlterstanden als wichtige mobile Krafte dem direkten Befehl des Generalstabs. Der Prasident erhielt allerdings die alleinige Befehlsgewalt tiber die im April 1994 aufgestellte 1. Kroatische Gardeeinheit, die aus vier panzer- lUld Fallschirmjagerbataillonen besteht. Nach ihrem Charakter lUld der Befehlskompetenz fungiert diese Einheit praktisch als Leibgarde des Prasidenten. Die EntwickllUlg der HV in der Zeit nach 1992 war auch von Konflikten zwischen Generalstab lUld VerteidiglUlgsministerium gepragt. Zu MeinlUlgsverschiedenheiten zwischen Militars lUld Politikern kam es nicht nur bei der Grtmdkonzeption der Verteidigtmg, sondern vor aHem auch bei der Frage nach dem Aufbau der kroatischen Riisttmgsindustrie lUld beim Engagement der HV im kroatisch-bosniakischen Krieg. General Anttm Tus wandte sich gegen die Politik von VerteidlUlgsminister Gojko Susak, der als einer der aktivsten Verfechter eines kroatischen Pseudostaates in Bosnien-Herzegowina galt. (~Kap. 22) Tus wurde daraufhin am 20. Dezember 1992 zum Riicktritt gezwungen. Sein Nachfolger wurde General Janko Bobetko - bis dahin hoher Funktionar lUld Parlamentsabgeordneter der HDZ. Darnit entstand eine MachtverschriinklUlg zwischen Partei lUld Armee, die in der BildlUlg eines ,,PolitbUros" im Verteidigtmgsministerium gipfelte lUld die dazu fiihrte, dass die Kontrolle der herrschenden Partei iiber die Armee spfubar zunahm. Die HV wurde mehr lUld mehr zu einer geschlossenen Institution, in der die politische EinstelllUlg ein herausragendes Erfolgskriterium darstellte. Obwohl die Truppenstarke nach dem Waffenstillstand von Sarajevo reduziert worden war, entwickelten sich die kroatischen Streitkrafte lUlter der Pramisse mobilerer lUld besser bewaffneter operativer Strukturen weiter, lUlterstUtzt durch eine veriinderte AufstelllUlg der Reservebrigaden. Allmiihlich nahm auch die heimische Industrie die Produktion wieder auf (besonders im zivilen Fahrzeugbau lUld bei Verwalttmgstechnik). Die Kriegskosten betrugen zeitweise bis zu 15 Prozent des Nationaleinkommens lUld bedeuteten eine enorme Belasttmg fUr die Wirtschaft. Die Lage der Bevolkertmg war lUlter den KriegsbedinglUlgen lUld wegen der in der Wirtschaft angelaufenen Privatisiertmgsprozesse schwierig lUld verscharfte sich sogar noch. Allein 350.000 Menschen (7 Prozent der BevOlkertmg) gehOrten zeitweise der Armee an lUld befanden sich damit auBerhalb des normalen Wirtschaftssystems. Dank der psychologischen lUld okonomischen Standhaftigkeit der BevOlkertmg blieben allerdings Konflikte aus.
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Urn die kroatische Politik in Bosnien-Herzegowina kam es in der politischen Offentlichkeit jedoch zunehmend zu Auseinandersetzungen, in denen die Opposition Prasident Tudman und seiner regierenden Partei vorwarf, sie planten gemeinsam mit den Serben die Teilung des Landes. Erst nach dem Washingtoner Abkommen legte sich die Diskussion etwas, wlihrend bei der Losung des Problems der serbischen Aufstandischen in Kroatien immer Konsens bestand. 1m politischen Alltag Kroatiens sind seit dieser Zeit Verfallserscheinungen der demokratischen Kultur zu beobachten. Dies zeigte sich insbesondere bei den Versuchen der Regierungspartei, die Massenmedien unter ihre Kontrolle zu bringen, sowie am beginnenden Personenkult urn Prlisident Tudman und dessen ,,historische Mission". (7 Kap. 26, 7 Kap. 28)
24.2. Bosnien-Berzegowina Der Unabhlingigkeitskrieg in Bosnien-Herzegowina war der dritte durch den Zerfall der SFRJ ausgeloste bewaffnete Konflikt, wenn auch nicht der letzte. Gemeinsame Elemente all dieser Kriege (mit der Ausnahme des serbischen Krieges nach Dayton im Kosovo, der einige andere Merkmale aufweist) sind: 1) die Beteiligung der NA als Kriegspartei, die zugleich alle militlirischen Operationen koordiniert, an denen serbische paramilitlirische Einheiten mitwirken, 2) die Ubermacht der NA bei schweren Waffen als dominierender Faktor bei der Okkupation von Territorien, 3) die Zusammenarbeit der N A mit der serbischen Bevolkerung, die gleichzeitig als Mobilisierungsbasis und Interventionsmotiv diente. Der Krieg in Bosnien unterscheidet sich allerdings in einer Reihe von Merkmalen von den vorangegangenen Kriegen: Hier ist zuerst die komplizierte ethnische Zusammensetzung der BevOikerung zu erwiihnen, in der keine nationale Gruppe die absolute Mehrheit bildet. (Nach der Volkszlihlung von 1991 sind 43,7 Prozent der Bevolkerung Bosniaken, 31,3 Prozent Serben, 17,3 Prozent Kroaten und 7,7 Prozent andere). Wlibrend des Krieges wurde deshalb von verschiedenen Seiten versucht, die Aggression gegen Bosnien-Herzegowina als ,,Bfugerkrieg" darzustellen. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass nach den freien Wahlen die Besetzung der wichtigsten Staatslimter nach den Regeln verlief, die auch wlihrend der kommunistischen Herrschaft gegolten hatten. So fiel das Amt des Vorsitzenden des kollektiven Staatspriisidiurns von Bosnien-Herzegowina an einen Bosniaken, der Parlamentsvorsitz an einen Serben und die Funktion des Regierungschefs an einen Kroaten. Wiihrend die Kriege in Slowenien und Kroatien ihre grofite Intensitiit noch vor der international en Anerkennung dieser Staaten entwickelten, begann die NA als Streitmacht der SFRJ den offenen Krieg gegen Bosnien-Herzegowina nach der Unabhiingigkeitserkliirung und der internationalen Anerkennung dieses Staates. Laut den Resolutionen 752 und 757 des UN-Sicherheitsrates gilt dieser Krieg volkerrechtlich als eine Aggression von auBen. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina unterscheidet sich von den friiheren Konflikten auch durch seine extreme Brutalitat gegeniiber der bosnischen Zivilbevolkerung, sie war systematisch Totungen, dem Hunger, der Vergewaltigung und Vertreibung ausgesetzt - mit dem Ziel, "ethnisch reine" nationale Gebiete zu schaffen. (7 Kap. 25)
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1m Rahmen der jugoslawischen Militiirdoktrin zur nationalen Verteidigung besaB Bosnien-Herzegowina formal die gleiche Position wie die ubrigen Republiken. Eine bestimmte Anzahl von NA-Einheiten war dort als mobile Komponente der Streitkrafte stationiert, zugleich hatte das Land auch fUr die Ausstattung und das Funktionieren der republikseigenen Territorialverteidigung als gebietsgebundenem Teil der Streitkrafte Sorge zu tragen. 1m Falle eines Angriffs von auJ3en war die Territorialverteidigung fUr den Guerillakrieg gegen eine groBe, konventionell bewafi'nete Armee trainiert. Die NA sollte den ersten Angriff abfangen und so einen Zeitgewinn fUr die Mobilmachung der Territorialverteidigung erzielen. Die Plane des jugoslawischen Verteidigungssystems saben die Moglichkeit vor, rund eine Million Soldaten zu mobilisieren und ein Verteidigungsnetz zu knupfen, in dem jeder bewohnte Ort, jedes Haus, jede Schule oder Fabrik zu einem Widerstandsnest wurde. Die Brigaden der Territorialverteidigung waren wie leichte Infanteriebrigaden aufgebaut und sollten nach dem Vorbild der Partisanenbewegung des Zweiten Weltkriegs einen lang anhaltenden Zermiirbungskrieg fiihren. Die spezifische Aufgabe Bosniens ergab sich aus der zentralen geograpbischen Lage innerhalb Jugoslawiens und der Annahme, potentielle Feinde wiirden langer brauchen, urn auf dieses Territoriurn vorzustoBen. Diese Vorstellungen gingen vor allem auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zuriick, als die Truppen der deutschen Okkupatoren lediglich die Hauptverkehrsrouten kontrollierten, wahrend groBe Teile des Binnenlandes auJ3er Kontrolle waren. Dort konnte sich die Partisanenbewegung konsolidieren, wobei die Wehrmacht ihr moglichst aus dem Weg ging, die Aufgabe lokalen Kollaborateuren uberlieB und die eigenen Truppen schonte. Deshalb sab die NA gerade bier das Zentrum fUr einen massenhaften und langanhaltenden Guerillawiderstand vor, der im Emstfall durch Nutzung von Raurn- und Zeitfaktoren aus den bosnischen Bergen heraus wieder ganz Jugoslawien unter seine Kontrolle bringen sollte. GemaB dieser Doktrin konzentrierte die NA den GroBteil ihrer Waffen- und Ausriistungsindustrie, aber auch Lagerkomplexe, Befehlszentralen und verscbiedene unterirdische Bunkeranlagen innerhalb von Bosnien-Herzegowina. So befand sich in der Nahe von Han Pijesak in Nordostbosnien der Hauptbefehlsbunker des jugoslawischen Staatsprasidiurns (dieses fungierte als Oberbefehlshaber der Armee), den wahrend des gesamten Krieges Ratko Mladie als Befehlshaber der Armee der Serbischen Republik (VRS) nutzte. Urn die Doktrin zur Volksverteidigung ideologisch zu stiitzen, wurde die authentische bosnische Multikulturalitat, die in unterscbiedlicher Auspragung schon seit dem mittelalterlichen bosnischen Staat existiert, als Verdienst des herrschenden Bundes der Kommunisten verkliirt und Bosnien als "Jugoslawien im Kleinen" und "Oase der Briiderlichkeit und Einheit" bezeichnet, zu der es dank der "avantgardistischen Rolle des BdKJ" gereift seL Fiir den Krieg in Bosnien ist auch charakteristisch, dass ibm die Griindung zahlreicher paramilitarischer Formationen vorausging, die teilweise oder sogar vOllstandig in Eigenregie arbeiteten. Mit Ausbruch des Krieges entstanden als militiirische Krafte die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina (ARBiH), der Kroatische Verteidigungsrat (HVO) und die Armee der Serbischen Republik (VRS). Wahrend einzelner Kriegsabschnitte sind dariiber hinaus beteiligt: Teile der Jugoslawischen Volksarmee, die in
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Jugoslawische Armee (VJ) wngewandelt wurde, die Kroatische Armee (HV), paramilitiirische Formationen der Kroatischen Verteidigungskrlifte (HOS), die "Weillen Adler", Einbeiten der Tschetnik-Bewegung, die "Serbische Garde" sowie die Serbische Armee der Krajina (SYK). Die Kriegsteilnehmer verwendeten hauptsachlich Waffentechnik aus den Warschauer-Pakt-Staaten oder aus den Arsenalen der ehemaligen JVA. Auch hatten die meisten AngehOrigen der Krieg fiihrenden Armeen ihre Grundausbildung wiihrend des Wehrdienstes in der JVA durchlaufen, was sie zwn Umgang mit allen bei der JVA fiblichen Waffenarten beflihigte. ARBiH, HVO und VRS als wichtigste Krieg fiihrende Armeen entstanden allerdings unter verschiedenen Umstiinden. Die VRS wurde aus dem in Bosnien stationierten Corpus der ehemaligen foderalen Armee gebildet und fibernahm damit die Befehls- und Organisationsstrukturen der JVA, die im Laufe des Krieges auch keine groBeren Veranderungen erfuhren. Auf der anderen Seite organisierten sich ARBiH und HVO zunachst vorrangig als lokal gebundene, miliziihnliche Formationen, die erst nach und nach in einheitliche militiirische Verbande fiberfiihrt wurden. Dabei konnte der HVO zwn groBen Teil auf die Erfahrungen und Organisationsmuster der Kroatischen Armee zurUckgreifen, wiihrend die Strukturen der bosnischen Armee vollig neu entworfen werden mussten.
24.2.1. Die Jugoslawische Volksarmee Den GroBteil der JVA-Einheiten, die 1991 aus Slowenien und Kroatien abgezogen wurden, verlagerte man direkt nach Bosnien-Herzegowina. Nach Aussagen des damaligen jugoslawischen Ministers fUr nationale Verteidigung, Veljko Kadijevic, wurden die JVA-Einheiten nach Bosnien verlegt, weil man in Armeekreisen auch dort mit einer baldigen Konflikteskalation rechnete. Zudem sollten die Kommunikationsverbindungen mit den von aufstiindischen Serben kontrollierten Gebieten in Kroatien gesichert werden. Vor dem Krieg wurden im Rahmen des reguliiren Stationierungsplanes der JVA das 4. (Sarajevo), das 5. (Banja Luka) und das 17. Heereskorps (Tuzla) sowie ein Luftwaffenkorps in Bosnien-Herzegowina stationiert. Ab Mitte 1991, als der Abzug der JVA in Slowenien und Kroatien anlief, kamen Teile des 10. (Zagreb), 13. (Rijeka), 14. (Ljubljana) und 31. Korps (Maribor) dazu. Gleichzeitig wurden auch Truppenteile des 2. (Titograd) und des 9. Heereskorps (Knin) aufbosnischem Boden bzw. in Grenzniihe konzentriert. Zu Kriegsbeginn war damit von insgesamt 80.000 bis 100.000 JVASoldaten aufbosnischem Territoriwn auszugehen, die fiber die entsprechende Bewaffnung von fijnf Armeekorps verfiigten. Der Krieg brach im April 1992 mit voller Intensitat aus, doch war es bereits seit dem Referendwn fiber die Unabhangigkeit BosnienHerzegowinas yom 29. Februar und 1. Miirz in vielen Landesteilen zu bewaffneten Zwischenfallen gekommen. Die militiirischen Plane der JVA gingen von einem kurzen, intensiven Krieg aus. Die JVA sollte ihre Uberlegenbeit bei den schweren Waffen voll ausspielen, wn die Kontrolle fiber die wichtigsten Verkehrswege zu fibernehmen und dadurch Zentralbosnien von samtlichen Verbindungen nach auBen abzuschneiden. Dadurch wollte man gleichzeitig einen Korridor zu den von serbischen Aufstandischen kontrollierten Gebieten in
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Kroatien und sicheres Hinterland fUr den Durchbruch zur Adria schaffen. Die iibrigen Widerstandsnester soUten spater nach und nach ausgeschaltet werden. Unter diesem Gesichtspunkt richteten sich die Hauptangriffe zunachst auf die Saveniederung, die Herzegowina und Gebiete am Grenzfluss Drina, wobei durch die Aktionen serbischer Milizen und ihrer Serbischen Demokratischen Partei (SDS) auch Teile Nordwestbosniens (Bosanska Krajina) mit mehrheitlich serbischer BevOlkerung unter serbische KontroUe gerieten. Am 24. April rief das bosnische Staatsprasidium die Angehorigen der NA auf, sich der bosnischen Territorialverteidigung anzuschlie13en. AndernfaUs wiirden sie als Gegner der Unabh1ingigkeit und Souver1initat BosnienHerzegowinas betrachtet. Die NA selbst wurde am 27. April zum Riickzug aufgefordert. Der Generalstab der Volksarmee reagierte darauf am 4. Mai 1992 mit einem Beschluss, nach welchem das militarische Personal mit seinen Familien innerhalb von 15 Tagen abgezogen wurde, wobei Angehorige der foderalen Streitkrafie, die Einwohner Bosnien-Herzegowinas waren, der Territorialverteidigung der "Serbischen Republik Bosnien-Herzegowina" (spater VRS) beitraten. Die Regierung in Belgrad behauptete, von ungeflihr 60.000 in Bosnien-Herzegowina stationierten N A -Soldaten seien 80 Prozent Einwohner des Landes. Andere Schatzungen sprechenjedoch von fast 95.000 NA-Soldaten, was mit Angaben iibereinstimmt, die von einem Effektivbestand von 68 Prozent (der insgesamt 140.000 Soldaten) ausgehen, den die Volksarmee in Bosnien-Herzegowina konzentriert hatte. Die Regierung in Sarajevo gab an, dass lediglich 20 Prozent der NA-AngehOrigen tatsachlich aus Bosnien starnmten, was bedeuten wiirde, dass sich unter den 95.000 Soldaten nur rund 19.000 bosnische Serben befanden. Bis zum 20. Mai 1992 wurden etwa 14.000 Soldaten der Volksarmee aus Bosnien abgezogen, so dass davon auszugehen ist, dass etwa 80.000 Soldaten in der bosnischen Serbenarmee VRS ihren Dienst antraten. Formal war die NA nach dem 20. Mai nicht mehr am Bosnienkrieg beteiligt. Bereits Anfang Mai hatte sie nach Umstrukturierung und Umbenennung in Jugoslawische Armee (Vojska Jugoslavije) offizieU aufgehOrt, in ihrer alten Form - als Rest des ehemaligen fOderalen Staates - weiter zu bestehen. Die V J leistete der Armee der Serbischen Republik aUerdings auch im weiteren Verlauf des Krieges logistische Unterstiitzung, wobei einige Einheiten sogar direkt an Kampfuandlungen beteiligt waren. In diesem Zusarnmenhang sind insbesondere die regularen serbischen Einheiten des Armeekorps von Uiice, die in Ostbosnien stationiert waren, sowie die 63. FaUschirmjagerbrigade aus Nis zu erwahnen.
24.2.2. Die Armee der Serbischen Republik Die Armee der Serbischen Republik (VRS) wurde aus fijnf NA-Korps gebildet, die vor dem Krieg in Bosnien-Herzegowina stationiert und folgendermaBen gegliedert waren: das 1. Krajina-Korps (in Banja Luka), das 2. Krajina-Korps (in Drvar), das 3. nordbosnische Korps, das 4. ostbosnische (Sarajevo-Romanija-) Korps und das 5. herzegowinische Korps. Mitte Juli 1992, als sich der Kommandant des NA-Generalstabs, General Zivota Panic gegen Vorwiirfe verteidigte, die NA habe die bosnischen Serben im Stich
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gelassen, gab er an, die VRS besitze 900 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 852 Geschiitze und Mehrfachraketenwerfer (sog. "Stalin-Orgeln") sowie 48 Kampffiugzeuge. Kroatische Quellen sprechen dagegen von 350 Panzem (T-54, T-55 und T-84), aber 200 gepanzerten Fahrzeugen, 1.000 Geschatzen, 800 riickstoBfreien Geschatzen und 1.200 Granatwerfem. 1m Verband der VRS befanden sich acht Panzerbrigaden, ein Panzerregiment, 62 Infanteriebrigaden, zwei motorisierte Brigaden, eine Brigade Spezialkrafte, vier Gebirgsjagerbrigaden, eine Artilleriebrigade und ein Artillerieregiment.Obwohl die VRS seit Beginn des Krieges auf Grund der bereits fimktionierenden Organisationsstruktur und ihrer komplett ausgeriisteten Einheiten gegenaber allen anderen Kriegsparteien im Vorteil war, machte sie von ihrer Ubermacht insgesamt nur wenig Gebrauch. Wahrend der ersten beiden Kriegsjahre gelang es der VRS haufiger, mittels Umgruppierungen von Einheiten und logistischer Untersrutzung ihre Gegner taktisch zu aberraschen; sie nutzte diese Uberlegenheit aber nicht intensiv genug. Spatestens seit die VRS Ende 1993 - parallel zum Auffiammen des Konflikts zwischen Kroaten und Bosniaken - strategisch in die Defensive ging, kamen ihre Vorteile nur noch selten zur Geltung. Die technische Uberlegenheit wurde nun vor allern zur Sicherung der Frontlinien und zur Belagerung von Stadten genutzt, ein unter militlirischen Gesichtspunkten kaurn effektiver Einsatz der Krlifte. Obwohl die VRS formal unter der Befehlsgewalt der zivilen Machthaber der so genannten Serbischen Republik stand, besaB sie wlihrend des Krieges eine gewisse Autonomie. Ungeloste Probleme in den Beziehungen zwischen ziviler Verwaltung und Militlir gipfelten im September 1993 im Putsch einer Armeebrigade in Banja Luka, wo die meutemden Einheiten die Stadt fast eine Woche unter ihrer Kontrolle hielten, urn gegen die Inkompetenz der Offiziere sowie gegen Korruption und Desinteresse der zivilen Machthaber fUr die Belange der Soldaten zu protestieren.
24.2.3. Die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina Die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina wird am 8. April 1992 durch den Beschluss des bosnischen Staatsprasidiurns aber die Aufstellung der Territorialverteidigung (spater in ARBiH urnbenannt) als legale Streitmacht der Republik gegriindet. Das strukturelle Grundgeriist der bosnischen Armee bildeten urspriinglich in Eigenregie entstandene Gruppen sowie die Organisationen "Bosnien" und ,,Patriotische Liga" (PL), die auch innerhalb der Reservistenverblinde des Innenministeriurns aktiv waren. Anfangs waren diese Einheiten unter den Bezeichnungen "Griine Barette" und "Territorialkrafte" bekannt. Nach Angaben von Sefer Halilovic, dem ersten Befehlshaber der ARBiH im Krieg und gleichzeitig Kommandeur der ,,Patriotischen Liga", verfiigte diese Organisation im Februar 1992 aber 60.000- 70.000 bewaffuete Mitglieder, die aber das gesamte bosnische Territoriurn verteilt waren und aufRepubliksniveau von einem Generalstab befehligt wurden, der die Kontrolle aber neun regionale und 103 lokale Befehlsstabe sowie aber eine groBe Anzahl verschiedener Formationen ausabte. Dabei handelte es sich meist urn Infanterieeinheiten in Zug- oder Kompaniestlirke, die entweder von der Patriotischen Liga aufgestellt wurden oder durch Eigeninitiative formiert
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waren und mit der Liga zusammenarbeiteten. Die Prasenz der Patriotischen Liga in 103 von 109 bosnischen Vorkriegskommunen deutet einerseits auf ein umfassendes Verteidigungssystem hin, andererseits muss aber die geringe Effizienz des Widerstandes gegen den serbischen Aggressor enttauschen, dem es schon zu Beginn des Krieges gelang, die HaUte des bosnischen Territoriums unter seine Kontrolle zu bringen. Die Ursachen dafUr lagen in der materiellen Uberlegenheit der NA, der die Patriotische Liga zu Kriegsbeginn meist nur Jagdflinten und leichte Infanteriewaffen entgegenzusetzen hatte. Da die Liga vor dem Krieg illegal operieren musste, konnte sie ihre Verbande nur ungeniigend ausbilden; bei der Auswahl der Fiihrungskrafte wurde auBerdem meist nicht nach Fachwissen, sondem nach Zuverlassigkeit geurteilt. So sagt auch die Anzahl der Kampfer allein noch nichts iiber die Organisation und die militarischen Fahlgkeiten der Truppen aus. Anfangs bestand die ARBiH gro13tenteils aus schwach vemetzten und unkoordinierten Einheiten und Gruppen, die auf dem gleichen Terrain jeweils auf eigene Faust operierten, wobei auch die Tendenz zur Bildung "privater Armeen" bestand, diti sich teilweise sogar untereinander bekampften. Erst 1993 festigte die bosnische Armee ihre Strukturen, fiihrte mit ihren Brigaden die ersten erfolgreich koordinierten Aktionen aus, und schliel3lich brachte man die meisten bewaffneten Gruppen unter eine effektive Kontrolle. Bis zum Kriegsende wurde die ARBiH in die Lage versetzt, koordinierte Angriffe im Verband mehrerer Armeekorps auszufiihren - Anzeichen eines deutlich verbesserten Organisationsniveaus. In den Besitz schwerer Waffen gelangte die ARBiH erst durch Angriffe auf NAKasemen, wobei die Anzahl der erbeuteten Waffen gegeniiber den von Siowenen und Kroaten beschlagnahmten Mengen weitaus geringer war. Die bosnische Armee litt praktisch wahrend des gesamten Krieges Mangel an schweren Waffen und erbeutete den gro13ten Teil ihres Arsenals erst im Kampf. Das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen das gesamte ehemalige Jugoslawien blieb bis zum Kriegsende in Kraft und schadete vor allem der ARBiH. Der iiberwiegende Teil der NA-Waffen tiel an die Jugoslawische Armee und die VRS, deren Kommandeure betonten, sie verfiigten iiber geniigend Munition fUr sieben Kriegsjahre. Andererseits konnte sich Kroatien mit stillschweigender Zustimmung der intemationalen Gemeinschaft auf dem Schwarzmarkt mit den benOtigten Waffensystemen ausriisten. Die bosnische Armee aber stand unter totaler Belagerung und war nicht in der Lage, Kommunikationskanale zur AuBenwelt zu offnen, so dass sich schon bei der Einfuhr elementarster Ausriistung enorme Schwierigkeiten ergaben. 1m Propagandakrieg der Medien wurde der ARBiH vorgeworfen, sie erhalte finanzielle und logistische UnterstUtzung aus reichlich sprudelnden Quellen arabischer und iranischer Geldgeber und kontrolliere den gro13ten Teil der in Bosnien angesiedelten Riistungsindustrie der ehemaligen NA Tatsachlich waren die Waffenfabriken aber entweder wahrend des Riickzugs der NA zerstOrt worden oder wegen Rohstoff- und Strommangels lediglich in der Lage, einfachste Typen von Munition zu produzieren. Auch Finanzhilfen konnten auf Grund der Blockade nicht genutzt werden. Trotzdem war die bosnische Armee die einzige Kriegspartei, der es gelang, eine eigene Kriegsindustrie auf niedrigem Niveau aufzubauen. Bis August 1992 formierte die ARBiH 28 Brigaden, 138 Truppenabteilungen, 16 eigenstandige Bataillone, ein panzerbataillon und zwei Artilleriedivisionen - insge-
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samt 168.500 Soldaten, nicht eingerechnet die Einheiten des Innenministeriums und den HVO. In Zusammenarbeit mit dem HVO verteidigte sie in dieser Zeit rund die Hiilfte des Staatsgebietes und ging sogar stellenweise in die Offensive. Die taktischen Grundformationen der bosnischen Armee waren Brigaden, die aus Bataillonen in unterschiedlicher Anzahl bestanden. Die tatsiichliche Starke der Brigaden war meistens geringer als ihre jeweilige Sollstarke. Urn die Aktionen der Brigaden besser zu koordinieren, wurden im zweiten Halbjahr 1992 operative Gruppen gebildet und ab dem 3. September 1992 auch Armeekorps als grofite operative Formationen der ARBiH. Wiihrend des Krieges gab es zuniichst fiinf Armeekorps (das Erste in Sarajevo, das Zweite in Tuzla, das Dritte in Zenica, das Vierte in Mostar und das Fiinfte in Bihac). Das Sechste Korps (im Siidosten von Bosnien-Herzegowina) wurde Ende 1993 aufgeli:ist, und 1994 entstand das Siebte Korps (in Travnik) als Grundlage fUr die Befreiung der ,,Bosnischen Krajina". Die Plane der bosnischen Armee sahen noch die Bildung eines weiteren Korps fUr vereinte Aktionen in Ostbosnien und an der Drina vor, doch dazu kam es 1995 nach dem Fall von Srebrenica und dem Ende der Kriegshandlungen nicht mehr. Nach Angaben von Sefer Halilovic betrug die Gesamtstarke der ARBiH im Januar 1993 261.500 Mann, wobei zu beriicksichtigen ist, dass die bosnische Armee mangels funktionierender gesellschaftlicher und staatlicher Strukturen fUr viele Fliichtlinge, die militiirisch keine Rolle spieiten, zum sozialen Auffangnetz wurde. Schiitzungen des tatsiichlichen Bestands der Kampfverbande schwanken wiihrend des Krieges zwischen 100.000 und 130.000 Soldaten - Zahlen, die auch Angaben von Ende 1994 bestiitigen. Die intemationalen Beobachter (The Military Balance) geben die Starke der bosnischen Armee 1994 mit 110.000 Mann an, welche in 78 Infanteriebrigaden, 13 Gebirgsjiigerbrigaden, neun motorisierten Brigaden, zwei Artilleriebrigaden, einer Erkundungs- und einer Spezialbrigade sowie funf Brigaden Territorialverteidigung und zwei Flugabwehrregimentem kampften. Die Truppen der bosnischen Armee waren von ihrem Charakter her hauptsiichlich territorial, also an ein bestimmtes Gebiet gebunden. Erst 1993 entstanden in der ARBiH die ersten mobilen Brigaden. Eine dieser Brigaden nannte sich ,,muslimisch" und praktizierte offiziell die islamischen Glaubensriten, was Diskussionen iiber die drohende Umbildung der ARBiH zu einer religiOsen Armee ausli:iste. Das Gros der muslimischen Brigaden bildeten Bosniaken. Als Griinde fUr die Aufstellung dieser Einheiten nannten Offiziere neben der Notwendigkeit zur Schaffung mobiler Truppen auch deren bessere Disziplin, die sich auf religiose Elemente und Mannschaftsgeist griindete. Ab 1993 begann die bosnische Armee auch umfangreichere militiirische Operationen auszufiihren, die konzertierte Aktionen mehrerer Brigaden und spiiter auch ganzer Armeekorps einschlossen. Offensivgeist und hiiufige Angriffsoperationen brachten aber auf Grund der schwierigen logistischen Lage und der waffentechnischen Dberlegenheit des Feindes nur relativ geringe Resultate. Erst ab 1994, nach Unterzeichnung des Washingtoner Abkommens iiber die Beendigung des kroatisch-bosniakischen Konfiikts, als Kroatien die Verkehrsverbindungen ins Landesinnere wieder ofIDete, gelang es der ARBiH, eine stabilere logistische Unterstiitzung zu sichem, was sich auch in miltiirischen Erfolgen widerspiegeite.
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Betrachtet man die Beziehungen zwischen ziviler und militiirischer Macht, so ist festzustellen, dass die bosnische Armee wiilirend des gesamten Krieges unter Kontrolle der politischen Institutionen der Republik stand und niemals fiber ihre Rolle der Landesverteidigung hinaus aktiv wurde. Als der erste Kommandeur der ARBiH, Sefer Halilovic, die Erweitung seiner Kompetenzen verlangte oder in Sarajevo zwei Armeebrigaden putschten, stand das bosnische Staatsprasidiurn vor ernsten Herausforderungen. Es gelang allerdings, die Armee unter Kontrolle zu halten und die demokratischen Machtstrukturen zu sichern.
24.2.4. Der Kroatische Verteidigungsrat (HVO)
Der Kroatische Verteidigungsrat (HVO) entstand am Vorabend des Krieges durch Selbstorganisation innerhalb der kroatischen Gemeinschaft und ernannte sich spater zurn bewaffneten Arm des gesamten kroatischen Volkes in Bosnien-Herzegowina. Der HVO formierte sich primiir als territorial gebundene Armee ohne strategische Einheiten, wobei seine Aufgaben darin bestanden, die kroatische BevOikerung zu schfitzen und die Politik des bosnisch-herzegowinischen Ablegers der HDZ durchzusetzen. Bei seinen Aktivitaten konnte er auf die UnterstUtzung der Kroatischen Armee zuriickgreifen, was eine relativ gute Ausriistung der Soldaten und den Einsatz groBer Mengen an schweren Waffen ermoglichte. Ende 1992 war der HVO in vier Einzugsgebieten (Tomislavgrad, Vitez, Orasje und Mostar) organisiert, wobei einige Einheiten in den Strukturen der bosnischen Armee verankert waren. Der HVO-Verband zahlte 40.000 bis 60.000 Soldaten, die folgendermaBen organisiert waren: 36 Brigaden, eine gemischte Artilleriedivision, eine Raketenwerferdivision und eine Brigade Spezialkrafte. Nach dem Vorbild der Kroatischen Armee begann auch der HVO Ende 1993 mit der Aufstellung von Gardebrigaden als operativem Kern der Armee. Die HVO-Truppen bestanden zum groBten Teil aus lokal organisierten, milizenartigen Infanteriebrigaden, die entsprechend den Bediirfnissen und Moglichkeiten der 10kalen Gemeinschaft aufgestellt wurden. Jede Brigade besaB eine kleinere Anzahl Panzer, gepanzerter Fahrzeuge, Flugabwehr- und Bodengeschiitze sowie Granatwerfer, die allerdings von Truppe zu Truppe variierte. Mit der Aufstellung der Gardebrigaden ging die Konzentration der schweren Waffen einher, urn diese effektiver einsetzen zu konnen. Hauptproblem innerhalb der Befehlsstrukturen des HVO war, dass einzelne Formationen keine direkte territoriale Verbindung zueinander hatten (Westherzegowina, Zentralbosnien und Saveniederung). Dies erschwerte die Koordination von Aktionen und machte situationsbedingte Truppenverlegungen oder -konzentrationen unmoglich. Neben den genannten vier Einzugsgebieten kampften einige HVO-Brigaden auch im Verband verschiedener Korps der bosnischen Armee (in Sarajevo, Tuzla und Bihac). Der HVO war vor allem auf dem Gebiet der selbst ausgerufenen ,,Kroatischen Republik Herceg Bosna" aktiv, wo kroatische Politiker durch die Wahlen vor dem Krieg an die Macht gekommen waren; dabei kam es teilweise zur Verschiebung von zivilen und militiirischen Einflussspharen, wodurch der HVO in einigen Gemeinden auch zivile Kompetenzen erhielt.
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24.2.5. Die UNPROFOR und andere internationale Krafte Die ersten UNPROFOR-Truppen (UN-Protection Force) wurden in Bosnien-Herzegowina schon wahrend des Kroatienkrieges Ende 1991 stationiert, als man die bosnische Haupststadt Sarajevo als Sitz des UNPROFOR-Stabes ausgewlihlt hatte. Mit Ausbruch des Krieges in Bosnien sab man sich allerdings zu einer Neudefinition des Peacekeeping-Mandats gezwungen, das nun auch fUr Bosnien-Herzegowina galt. Zu den wichtigsten Verdiensten der UNPROFOR ziihlt die Ubernahme des Flughafens von Sarajevo und die Einrichtung einer Luftbriicke, die wahrend des Krieges die Versorgung der belagerten Stadt mit einem Minimum an lebensnotwendigen Gfitern gewahrleistete. Zugleich half die UNPROFOR auch bei der Lieferung und Verteilung humanitiirer Hilfsgiiter, wodurch sie das Uberleben zehntausender Zivilisten sicherte. Die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats iiber die Verhiingung eines WafIenembargos, die Festlegung der Flugverbotszone iiber Bosnien (im April 1993) sowie die Einrichtung von Schutzzonen (sog. ,.mfe havens", im Mai 1993) sollten zum Abflauen des Krieges beitragen, sie brachten allerdings nur teilweise die erhoffien Erfolge. Wiihrend des Krieges wuchs die Zahl der Blauhelme bis 1994 auf21.300, unterteilt in 17 Infanterie-Bataillone, von denen sechs in Saraj evo und elf in den iibrigen Landesteilen zur Verteilung der Hilfsgiiter und zur Bewachung der Schutzzonen eingesetzt waren. Die Rolle der UNPROFOR im Bosnienkrieg war insgesamt ambivalent. Einerseits sicherte sie die Verteilung von Hilfsgiitern an Zivilisten sowie die Passierbarkeit der Verkehrswege und war am Zustandekommen zahlloser WafIenstillstiinde beteiligt. Andererseits stellten aber Unentschlossenheit zur Demonstration von Stiirke, Festhalten an der Neutralitat um jeden Preis und der unklare Rahmen des Peacekeeping-Mandats die Rolle der UNPROFOR und den Erfolg ihrer Mission insgesarnt in Frage. (7 Kap. 30) Der UNPROFOR gelang es wahrend ihrer Anwesenheit in Bosnien-Herzegowina nicht, auch nur eine militiirische Aktion der Kriegsparteien zu verhindern. Obwohl ihre Aufgabe vor allem im Schutz der Zivilbevolkerung bestand, kamen wahrend der Belagerung von Sarajevo trotz UNPROFOR-Priisenz mehrere zehntausend Zivilisten ums Leben. Die 1993 von HVO-Einheiten veriibten Massaker an der ZivilbevOikerung von Ahmici verhinderte die UNPROFOR nicht, obwohl in der nahe gelegenen Stadt Vitez UN-Truppen stationiert waren. SchlieBlich lieB die UNPROFOR auch 1995 das Massaker von Einheiten der bosnischen Serbenarmee an der Bevolkerung Srebrenicas zu, obwohl sie direkt in der Stadt eine eigene Basis unterhielt und Srebrenica zuvor zur UN-Schutzzone erkliirt worden war. Geradezu ad absurdum gefiibrt wurde die Rolle der UNPROFOR, die sich schon beim Schutz der Sicherheitszonen als unfahig erwiesen hatte, durch VorfaIle wie jenem wahrend einer Herbstoffensive der VRS gegen Bihac, als Einheiten des 5. Korps der ARBiH ein Bataillon UNPROFOR-Soldaten aus Bangladesch vor den Serben beschiitzen mussten. Die Blauhelme besaBen weder adaquate Ausriistung noch geniigend Verpflegung und waren vollig unvorbereitet auf das raue bosnische Klima an ihren Stiitzpunkt geschickt worden. Die Anwesenheit der UNPROFOR aufbosnischem Boden diente der internationalen Gemeinschaft biiufig als Vorwand, um Luftangriffe oder andere militiirische Aktionen gegen serbische Stellungen abzulehnen, da man damit das Leben der UN-Soldaten
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gefahrde. Gleiches galt auch fUr die AufheblUlg des Waffenembargos, wo man die ZUStimmlUlg mit Hinweis auf die Neutralitat der UNPROFOR verweigerte. Die lUlklare BestimmlUlg des UNPROFOR-Mandats fiihrte lUlter den AngehOrigen zu einer psychologischen Krise. Die meisten Blauhelme waren Berufssoldaten mit antrainierter Siegermentalitat, auf die sich die verordnete passive Beobachterrolle verheerend auswirken musste. Viele UN-Offiziere waren deshalb von der Armee der bosnischen Serben lUld ihrem Befehlshaber Ratko Mladie beeindruckt, obwohl gerade diese die schlimmsten Gewalttaten gegen die Zivilbevolkertmg veriibten. UNPROFOR-Soldaten nutzen ihre Position auch fUr illegale Geschiifte lUld die Verbreittmg von Prostitution, wobei es sogar Belege fUr den sexuellen Missbrauch psychisch Kranker gibt. Die politische FUhrung Bosnien-Herzegowinas wies regelmiillig darauf hin, dass sie von der UNPROFOR mit der DrohlUlg erpresst werde, samtliche hurnanitiire Hilfe fUr die ZivilbevOlkertmg wiirde eingestellt, sollte die bosnische Armee offensive Aktionen lUltemehmen, die z. B. den Belagertmgsring urn Sarajevo hatten lockem konnen. Es ist daher nicht verwtmderlich, dass die bosnische BevOlkertmg die UNPROFOR mit der Bemerktmg verspottete, sie ware gekommen, "urn die Menschen mit Nahrtmg zu versorgen, damit sie satt urngebracht werden konnen". Zu betonen bleibt allerdings, dass trotz allem die groJ3e Mehrheit der UN-Soldaten in Bosnien-Herzegowina bestrebt war, der lokalen Bevolkertmg zu helfen, was haufig lUlter groJ3en eigenen Opfem geschah. AuBerdem ermoglichte die Prasenz der UNPROFOR indirekt die Konsolidiertmg der ARBiH, weil ihr dadurch die notige Aufbauzeit verschafft wurde. Neben der UNPROFOR war auch die Nato die meiste Zeit des Krieges aufbosnischem Territoriurn aktiv, vor allem, urn die von den Vereinten Nationen eingerichtete Flugverbotszone durchzusetzen. Nato-Kampffiugzeuge gingen mehrmals effektiv gegen die Luftwaffe der VRS vor. So schossen ihre Luftverbande am 28. Februar 1994 vier serbische Kampfinaschinen abo Diese Aktion war zugleich der erste Luftangriff in der Geschichte des Nordatlantikpakts. Die Aktionen der Nato trugen auch zur DurchbrechlUlg des Belagertmgsringes urn Sarajevo bei, da durch die Luftangriffe serbische ArtilleriestelllUlgen urn die belagerte Stadt sowie Kommunikationszentralen lUld Munitionsdepots zerstort wurden. Auch verbesserte sich die Lage der Verteidiger von Bihac, nachdem Nato-Maschinen eine Luftwaffenbasis der Serben im kroatischen Zemunik angegriffen hatten. Von dort aus waren regelmiillig serbische Kampffiugzeuge gestartet lUld hatten Bihae bombardiert. Gleichzeitig war aber das Ausbleiben umnittelbarer LufttmterstUtZlUlg einer der Hauptgriinde fUr den Fall der UN-Schutzzone Srebrenica. Obwohl die Einrichttmg von Flugverbotszonen fiber Bosnien-Herzegowina den bosnischen Verteidigem half lUld die Luftangriffe gegen die VRS den Willen der intemationalen Gemeinschaft demonstrierten, ihren starken Worten auch Taten folgen zu lassen, so zeugen diese Aktionen aber ebenso von mangelnder Kenntnis der Kriegsparteien lUld ihrer militiirischen Strukturen vor Ort. Die VRS, gegen die sich das Flugverbot in erster Linie richtete, war namlich ihrem Wesen nach eine reine Bodenarmee, die ihre Gegner auch ohne Luftwaffe bekampfen konnte. Darauf deuten Angaben hin, nach denen die VRS fiber nur 48 Kampffiugzeuge, dafUr jedoch fiber 3.000 Kanonen von Kaliber 82 mm an aufwiirts (aufPanzem, Geschiitzen oder Granatwerfem) verfug-
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teo Wlihrend des Krieges verkehrten zudem stiindig Hubschrauber, die unter den Kampfbedingungen in Bosnien ein strategisches Transportmittel darstellten. 1m Jahr 1995 wurden die sog. Rapid Reaction Forces (RRF) als neue Fonn des UNPeacemaking-Mandats in Bosnien stationiert. Die Truppe bestand aus franztisischen und englischen Einheiten in Brigadestarke, die die Aufgabe hatten, serbische Angriffe auf Sarajevo abzuwehren und die Arbeit der UNPROFOR zu sichem. Die RRF kann gewissermaJ3en als Vorgangerin der international aufgestellten Implementation Forces (IFOR) betrachtet werden, die erst nach Kriegsende in Bosnien zum Einsatz kamen, urn den Friedensvertrag von Dayton urnzusetzen. Obwohl die IFOR selbst nicht direkt am Krieg beteiligt war, verfiigte ein Teil ihrer Einheiten durch den Dienst in UNPROFOR und RRF fiber Kriegserfahrung. Zu den "intemationalen Kraften" konnen in gewisser Weise auch verschiedene Militiirberater, Instrukteure, SOldner und Freiwillige gezahlt werden. So kamen zur Unterstiitzung von ARBiH und HVO schon 1994 nach der Unterzeichnung des Washingtoner Abkommens amerikanische Berater ins Land, urn an der Vereinigung der beiden Streitkrlifte zur FOderationsarmee mitzuwirken. Bei diesen Personen handelte es sich urn aktive Offiziere oder Berater privater Gesellschaften, die mit Genebmigung der amerikanischen Regierung tlitig waren. AuBerdem waren wlihrend des gesamten Krieges in Bosnien auch andere Militarberater aktiv, die fiber private Kanlile ins Land kamen. Die bosnische Armee rliurnte in diesem Zusammenhang die Zusammenarbeit mit Spezialisten aus islamischen Llindem (Iran, Tiirkei, Pakistan) ein, den HVO unterstiitzten nachweislich westeuropliische Instrukteure und die VRS konnte vor allem auf Inspekteure und Piloten aus Russland und anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten zurUckgreifen. SchlieBlich tummelten sich im bosnischen Kampfgebiet auch Soldner und Freiwillige, die sich aus unterschiedlichsten Motiven engagierten. 24.2.6. Paramilitarische Gruppen
Die meisten paramilitarischen Einheiten kampften auf serbischer Seite. Urn ihre Aktivitliten im Bosnienkrieg zu vertuschen, hatte die Bundesrepublik Jugoslawien das Engagement von Gruppen angeregt, von denen sie behaupten konnte, sie konne sie nicht kontrollieren. Dazu zahlten die "Serbische Freiwilligengarde" unter dem Kommando von Zeljko RaZnjatovic, genannt Arkan, die "Serbische Tschetnikbewegung" unter Fiihrung von Vojislav Se~elj (1.500 Kampfer und weitere 3.000-4.000 Mann mit Kriegserfahrung), die "WeiBen Adler", ideologisch gefiibrt von Dragoslav Bokan und politisch geleitet von Mirko Jovic (ihnen unterstanden auch Konzentrationslager in Bosnien) sowie die "Serbische Garde" (verbunden mit der politischen Partei "Serbische Erneuerungsbewegung" SPO des Vuk Draskovic), deren Starke 1994 auf rund 200 Mann geschlitzt wurde. Von den fibrigen paramilitlirischen Verbanden sind die Kroatischen Verteidigungskrlifte (HOS) zu erwlihnen. Die HOS wurden aufbis zu 5.000 Kampfer geschlitzt. Nach der politisch motivierten Ennordung des HOS-Kommandanten General BlaZ Kraljevic durch HVO-AngehOrige loste sich die Truppe im August 1992 auf. Ihre AngehOrigen schlossen sich den HVO-Verbanden und teilweise auch ARBiH an.
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Die Volksverteidigung der autonomen Provinz Westbosnien (NO ZB) war eine militlirische Formation der Gefolgsleute Fikret Abdics, eines ehemaligen Mitglieds des bosnischen Staatsprasidiums. Abdic zog sich nach einem erfolglosen Versuch, zu Beginn des Krieges die Macht an sich zu relien, in seinen Wahlkreis Velika Kladusa zurUck und rief dort 1993 das Autonome Gebiet Westbosnien mit der Absicht aus, weitgehende Unabhiingigkeit von der Zentralmacht in Sarajevo zu erlangen. Abdic gelang es, sich den Riickhalt der kroatischen und der serbischen Seite zu sichern, die ihn auch logistisch unterstiitzten. Die Streitkrafte der NO ZB bestanden aus zwei Infanteriebrigaden, die sich yom 5. Korps der bosnischen Armee abgespaltet hatten und die spater formal zu sechs Brigaden ausgebaut wurden, ihre Sollstlirke aber niemals erreichten. Tatsachlich stand die NO ZB unter dem Oberbefehl der VRS, die einen groBen Teil des Offizierskorps stellte und die Einheiten zu Angriffen auf die Enklave Bihac nutzte. Die Truppen des 5. bosnischen Armeekorps besiegten die NO ZB zweimal (1994 und 1995) und nahmen Velika Kladusa ein. Eine Besonderheit unter den paramilitiirischen Gruppen stellten die Freiwilligen aus verschiedenen islamischen Liindern dar, die im Verband der ARBiH kampften - vor allem in den Einheiten ,,EI Mujahid" und ,,Patih". Die zahlenm1iBige Smrke der Mudschaheddin wurde auf 500 bis 3.000 Kampfer geschiitzt, sie waren allerdings propagandistisch von groBerer Bedeutung als militiirisch.
24.3. Schlussfolgerungen
Die Kriege in Bosnien-Herzegowina und Kroatien wurden in keinem sehr hohen Tempo ausgetragen, wobei die angewandten Methoden (Belagerung von Stadten, Stellungskampf, iiberragende Rolle der Infanterie) als veraltet gelten. Keine der Kriegsparteien verfiigte gleichzeitig in ausreichendem MaBe iiber die drei grundlegenden Komponenten des Kriegfiihrens (Soldaten, Technik, Logistik). Daher richteten sich die Kriegsstrategien nach den vorhandenen Komponenten, die iibrigen wurden vernachlassigt. Ein Beispiel ist die NA, die wegen des Mangels an Soldaten ihre technische Uberlegenheit nicht nutzen konnte und sich statt eines mobil en, schnell en Krieges einen zermiirbenden Stellungskampf aufzwingen lieB, in dem die Zeit gegen sie arbeitete. Gleiches galt spater auch fUr ihre Ableger SVK und VRS. Die Kroatische Armee verfiigte iiber eine organisierte Logistik und motivierte Soldaten, doch die zunachst mangelhafte waffentechnische Ausstattung begrenzte ihre Aktivitaten in den ersten Kriegsabschnitten. Die bosnische Armee verlieB sich wegen mangelnder Logistik und Technik vor allem auf die Kamptkraft ihrer Soldaten, was sie zwar insgesamt zu einem der kampferfahrensten Verbiinde machte, aber zugleich oft dazu fiihrte, dass sich taktische Uberlegenheit nicht in militiirischen Erfolgen auszahlte. Politische Faktoren spielten eine Schliisselrolle bei der Entwicklung der Kampfbandlungen. Wiihrend der gesamten Kriegszeit bestanden diplomatische Kontakte zwischen den Kriegsparteien, aber auch Versuche der internationalen Gemeinschaft, den verfeindeten Seiten ihre Konfliktlosungen aufzuzwingen. Dies hatte besonders in Kroatien zwischen 1992 und 1995 Auswirkungen auf die Entwicklung militiirischer Opera-
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tionen, wahrend in Bosnien-Herzegowina die politischen Aktivitliten eher dazu dienten, militlirische Aktionen zu verschleiern. Fiir die Mobilisierung der Verteidigungsreserven waren Motive wie das unmittelbare Uberleben sowie der Schutz von Familie und Gemeinscbaft viel biiufiger ausschlaggebend als abstrakte politische Ziele. Ein Grund fiir die geringere Motivation der kroatischen und bosnischen Serben fiir den Krieg, abgesehen von der gewohnheitsmaBigen Haltung, die sich auf "ihren Staat" und "ihre Armee" verlasst, bat darin gelegen, dass die meisten serbisch dominierten Ortschaften, die die NA 1991 und 1992 unter ihre Kontrolle brachte, bis 1995 kawn Kriegsscbauplatz waren. Daher spiirte die Bevolkerung dieser Gebiete den Krieg nur indirekt, im Gegensatz zur bosniakischen und kroatischen Bevolkerung, die den Kampfhandlungen viel intensiver ausgesetzt war. Der ethnische Charakter der politischen Zielstellungen war fiir die Kriegsfiihrung insgesamt problematisch. So betont Kadijevic, dass Aufstellung und Aktionen der N A zu Kriegsbeginn nicht durch militiirisch bedeutende Ziele (Verkehrswege, bewohnte Ortschaften, geographisch giinstige Lokationen) bestimmt wurden, sondem weitgehend von der Lage der serbischen Siedlungsgebiete abhangig gewesen seien. Da die Wohnorte der serbischen Bevolkerung nicht immer mit den Orten von militiirischer Prioritat iibereinstimmten, wurde das militlirische Vorgehen zwangslaufig komplizierter. Demokratischer Patriotismus erwies sich letztlich als ein effektiverer Faktor zur Mobilisierung der Bevolkerung als purer Nationalismus. Deshalb konnten die kroatische und die bosnische Armee wahrend ihrer Entwicklung auf groBeren Riickhalt in der Bevolkerung bauen und zeichneten sich zudem durch einen demokratischen Charakter aus, der technische und fachliche Unzulanglichkeiten teilweise aufwog. Allerdings zeigten sich mit der Entwicklung des Krieges in den neuentstandenen Armeen auch autoritiire Tendenzen, die zum Teil als Instrument der herrschenden Politik benutzt wurden. Die Kriege in Bosnien-Herzegowina und Kroatien sind ein emeuter Beleg fiir die Bedeutung der Logistik als vielleicht wichtigster Komponente einer erfolgreichen Kriegsfiihrung. Auch bestlitigt sich, dass fiir effektive militiirische Aktionen unbedingt professionelle Soldaten erforderlich sind, die den Kampf auch dann noch organisiert und wirkungsvoll fortsetzen konnen, wenn der erste patriotische Enthusiasmus verflogen ist. Die hasslichste Seite dieser Kriege bildeten zweifelsohne die "ethnischen Sauberungen" - eine Form des Genozids, der ein fester Bestandteil der militiirischen Doktrin war. Kurzfristig brachten die befohlenen ethnischen Vertreibungen enorme Resultate. So gab es in den serbisch kontrollierten Gebieten keinerlei guerillaiihnliche Aktivitliten nichtserbischer Krafte, denn der Teil der Bevolkerung, der diese Guerilla unterstUtzt hatte, war vertrieben worden. Langfristig zerstorte die serbische Seite aber ihre etwaige moralische Glaubwiirdigkeit und steigerte zugleich die Entschlossenheit ihrer Gegner, denn diese batten nur die Wahl zu kiimpfen oder zu sterben. Zudem wurden fiir die Kriegsfiihrung notwendige personelle Ressourcen fiir das Programm der "ethnischen Sauberung" eingesetzt und damit die Moral der Soldaten geschwiicht. Insgesamt zeigt sich in der Geschichte noch einmal, dass sich "ethnische Sauberungen" kontraproduktiv auf die erfolgreiche Kriegsfiihrung auswirken. (~ Kap. 25) Die Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina verweisen auf die wachsende Bedeutung der internationalen Gemeinschaft bei der Losung von Konflikten dieser Art.
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Die UN-Truppen vor Ort spielten eine wichtige Rolle; als Hauptprobleme ihres Einsatzes stellten sich allerdings ein nicht pranse formuliertes Mandat und dessen unentschlossene Umsetzung heraus. (~Kap. 29, ~ Kap 30) Die Entstehung der Armeen lief nach zwei unterschiedlichen Mustem abo Die Kroatische Armee und die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina entstanden aus einer Kombination von Selbstorganisation der BUrger, die fehlende militfuische Erfahrung durch ein hohes MaB an Patriotismus wettmachten, und gleichzeitigem Aufbau miliUirischer Strukturen, welchen aus der JVA gefiiichtete Berufssoldaten und Amateure leiteten, die ihre Hihigkeiten im Krieg unter Beweis gestellt hatten. Die lockeren und unvollendeten Strukturen waren insofem von Vorteil, als dadurch auf der taktischen Ebene des Kriegfiihrens zu eher unorthodoxen, erfinderischen Mitteln gegriffen wurde. Es entstanden allerdings groBe Probleme bei der Koordination der Kriifte auf operativer Ebene, die erst mit der Einfiihrung fester militfuischer Strukturen und Subordinationen gelOst werden konnten. Auf der anderen Seite iibemahmen die Armeen des serbischen Blocks (SVK und VRS) praktisch die gesamten militarischen Strukturen und eine groBe Anzahl von Offizieren der JVA. Trotz dieser anfanglichen Vorteile bleibt festzustellen, dass es den neuen Armeen nicht gelang, das hohe Organisationsniveau der JVA zu halten. Statt dessen verfielen ihre Strukturen, im Fall der SVK sogar mit der Tendenz zur Herausbildung territorialer milizenartiger Verbaude. Der Bosnien- und der Kroatienkrieg bestiitigen in gewisser Weise die Formulierung General Kadijevics yom Krieg der Staaten ohne Armee gegen Armeen ohne Staaten. Die Konflikte zeigen aber auch, dass Staaten in der Lage sind, Armeen SOgar mitten im Krieg aufzustellen, wahrend die Armee als staatliches Machtinstrument allein nicht fahig ist, Staaten zu schaffen. Deutsch von Oliver Hach Literatur (auch zu den Kapiteln 23
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31):
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25. Das ethnische "engineering" Karl Kaser
Geschichte Wld Schicksal der Menschen in den siidostlichen Peripheriegebieten Europas sind seit den friihesten Zeiten von regen Migrationsbewegungen mitbestimmt. Dieser pennanente Prozess von Zu- Wld AbwanderWlgen fiihrte dazu, dass es kawn zu ethnisch homogenen GroBregionen kommen konnte. Die ethnische Karte Siidosteuropas gleicht einem Leopardenfell. In vornationalen Zeiten spielte dieser Umstand eine noch geringe Rolle. Mit den allmahlich erstarkenden nationalen Identitaten jedoch wurde diese ethnische Verwobenheit fUr die jWlgen Nationalstaaten ein gravierendes Problem. Als die modemen siidosteuropaischen Staaten entstanden, war in vielen FaIlen die nationale Identitat der Bewohner bereits zu stark ausgebildet, wn noch in eine gemeinsame Staatsnation eingeschmolzen werden zu konnen. Uber Wlterschiedliche Methoden, in friedlichen ebenso wie in kriegerischen Auseinandersetzungen, wurde immer wieder versucht, dieses Problem zu "losen". Eine vielfach angewandte Methode war die der AussiedlWlg Wld VertreibWlg: Sie stellt einen integralen Bestandteil der Geschichte der Gesellschaften Siidosteuropas im 19. Wld 20. JahrhWldert dar. 25.1. Migrationen und ethnische Phantasien 1m Verlauf der rWld fiinfhWldertjiihrigen Herrschaft des Osmanischen Reichs iiber wei-
te Teile Siidosteuropas wurden folgenschwere Binnenmigrationen ausgelost. Gegen Ende seines Bestehens - eine erste Welle an Nationalstaaten hatte sich zwischen 1830 Wld 1913 auf seinen ehemaligen Territorien herausgebildet - hatte die ethnische VerzahnWlg seiner vielen Wlterschiedlichen BevolkerWlgsgruppen den HohepWlkt erreicht. Das sukzessive Verdriingen des Reiches aus Europa loste den Trawn von ethnisch homogenen Nationalstaaten aus. Eine wichtige Frage ist, wie sich die unzahligen Migrationsprozesse auf die ethnische IdentifizierWlg Wld deren kulturelle Symbole auswirkten. Die drei primaren Elemente ethnischer Identifikation auf dem Balkan waren im Zeitalter der NationsbildWlgsprozesse VerwandtschaJt, Sprache Wld Religion. AbstammWlgsverwandtschaft zahlte Wlter den meisten Muslimen relativ wenig, sieht man von der albanischen muslimischen BevOlkerWlg abo Doch Wlter manchen orthodoxen BevolkerWlgsgruppen (Serben, Montengriner), begrenzt auch Wlter katholischen (etwa Wlter den Kroaten der Herzegowina) war Wld ist sie teilweise noch sehr stark verankert. Ihr Bewusstsein der verwandtschaftlichen VerbindWlgen mit den HerkWlfisgebieten ist stark. Wichtig ist, dass dieses Kriteriwn des stark hervortretenden Bewusstseins der Verwandtschaft Wld der Typus des AbstammWlgsmodells der nationalen HomogenisierWlg nicht auf eine bestimmte ethnische Gruppe reduzierbar ist. Ein iihnlich triigerisches Kriteriwn ist die Sprache. Zwar Wlterscheidet es slawischsprechende Menschen deutlich von Albanem,
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Ungarn, Deutschen, Tiirken oder Griechen; aber innerhalb der sudslawischen Sprachengruppe sind die Ubergange vielfach flieBend. Die von den osmanischen Eroberungen ausgeloste Migration von Slawen in Richtung Nordwesten trieb in Bosnien und Kroatien einen Keil von montenegrinischen und herzegowinischen Dialekten in ein sonst recht einheitliches Sprachgebiet zwischen Save und Adria. (~Kap. 17) Durch mit der ReligionszugehOrigkeit verbundene Privilegien konnte diese darfiberhinaus selbst zu einem ethnischen Merkmal werden. So wirkte sich die unterschiedliche KonfessionszugehOrigkeit unter der Bevolkerung der ehemaligen kroatischen Militargrenze (1535-1881) als ethnisches Differenzierungsmerkmal aus. Hier wurden mit den "Wlachen" und den ,,Bunjevzen" zwei Ethnien mit analogem wirtschaftlichem und sozialem Hintergrund nach der Flucht der heimischen Bevolkerung angesiedelt; erstere waren orthodoxer, die anderen katholischer Konfession. Die Verwaltung gestattete der orthodoxen Grenzbevolkerung ausdrUcklich die ungehinderte Religionsausubung. Die unterschiedliche ReligionszugehOrigkeit wurde im Zuge der Festigung nationaler Identitilten dafiir ausschlaggebend, dass sich die Wlachen zum Serbentum und die Bunjevzen zum kroatischen Ethnikurn bekannten. Eine wesentliche Rolle spielte die Konfession im Falle der muslimischen BevOlkerung Bosniens und der Herzegowina, der in den sechziger Jahren der Status einer Nation zuerkannt wurde. Bedingt durch die vielen Migrationsprozesse kam es nicht uberall dazu, dass diese drei Elemente in vergleichbarer Konstellation in eine bestimmte nationale Identitiit milndeten: Wiihrend Albaner orthodox, muslimisch oder katholisch sein konnen, kennen orthodoxe und katholische Slawen keine ethnische Gemeinsamkeit. Die Elemente Verwandtschaft, Sprache und Religion ermoglichten zwar prinzipiell eine ethnische Zuordnung, warenjedoch vielfach nicht ausreichend, urn ethnische Gruppen eindeutig zu definieren. Dieser Umstand bildete den Nahrboden fUr ethnische Phantasien; schlieBlich waren es die Politik und die Politiker, die dazu berufen waren, die Kriterien fUr die ethnische ZugehOrigkeit klarzustellen. Solche Unsicherheiten in der ethnischen Identifizierung einerseits und die ethnische Verzahnung andererseits hatten die Durchsetzung eines Staatskonzepts erforderlich gemacht, welches der Staatsbiirgerschaft (etwa im Sinne eines Jugoslawentums) hOhere Bedeutung beimisst als der nationalen Zuschreibung. Da man diesen Weg jedoch nicht beschritt und von den historischen Umstanden her auch kaurn beschreiten konnte, wurden die Ethnien immer wieder zu Objekten politischer Projekte, die eine Ausweitung oder Konsolidierung von Grenzen und die Assimilierung oder nationale Homogenisierung innerhalb dieser Grenzen zum Ziel hatten. Einzelne nationale Gruppen konnten von politischen Fiihrem fUr derartige Konsolidierungs- und Homogenisierungsprojekte auch in der Krise des ehemaligenjugoslawischen Staates mobilisiert und die historisch sowie migrationsbedingte ethnische Aufladung so politisch abgerufen werden. Wenngleich die dahinterstehenden Mechanismen nachvollziehbar scheinen, ist dennoch die Frage aufzuwerfen, weshalb und auf welche Weise daraus der Wahn des ethnisch Reinen und eine Ideologie der Vertreibung und der ethnisch motivierten GewaIt resultierten. Bevor darauf zu antworten sein wird, muss auf das grundsiitzliche Problem hingewiesen werden, dass in Sudosteuropa Nationsbildungsprozess und Nationalstaats bi/dung in einer ungfinstigen Konstellation zueinander gestanden haben. Dies
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geht im wesentlichen darauf zurUck, dass einige der sudosteuropaischen Staaten erst in einer historischen Phase gegriindet wurden, als NationsbildlUlgsprozesse bereits angelaufen waren lUld nationale Identitaten sich zu stabilisieren begannen. In Liindern mit kompakten Staatsnationen blieb dies ohne gravierende Auswirkilllgen. WoW aber hatte diese Konstellation in einem Nationalitatenstaat yom Typ Jugoslawien destabilisierende Folgewirkilllgen. Zur Zeit der StaatsgriindlUlg waren die einzelnen Volker, die sich in diesem Staat zusammengefunden hatten, als Nationen in ihrer kollektiven Identitat noch nicht voll ausgereift, so dass die Idee eines gemeinsamen sudslawischen Staates auf fruchtbaren Boden fiel. Die EtablieflUlg eines solchen Staates gleichberechtigter sudslawischer (lUld anderer) Nationen ware allerdings nur lUlter demokratischen lUld rechtsstaatlichen RahmenbedinglUlgen moglich gewesen. Der Versuch serbischer Politiker, das alte Jugoslawien in einen serbischen de-facto-Staat umzugestalten, bescWeunigte jedoch die nationalen BewusstwerdlUlgsprozesse. (7 Kap. 10) Die Rolle, die der zweite jugoslawische Staat in dieser Frage spielte, war speziell in der langen RegieflUlgszeit Titos in einem anderen Sinne widersprucWich. Einerseits starkte er - etwa durch die Republikautonomie - die nationalen Identitaten, gleichzeitig jedoch wurden nationale Kultur lUld Werte systematisch lUlterdriickt. Unter diesen BedinglUlgen erwies sich ein Hineinwachsen der lUlterschiedlichen ethnischen Gruppen in eine Staatsnation als nicht realistisch. Mehr als einige wenige Prozentanteile an "Jugoslawen" im Sinne nationaler BezeichnlUlg hat Jugoslawien als vermeintlicher ,,melting pot" nicht hervorgebracht. Durch die in kommunistischer Zeit eingeleiteten ModernisieflUlgsprozesse wurde eine weitere Migrationswelle ausgelost: jene yom Land in die Stadte lUld Industriezentren des Landes. Innerhalb von vier Jahrzehnten wurde die einstige Agrargesellschaft in eine halbindustrialisierte urngewandelt. Die ethnische VerzahnlUlg - im Unterschied zu fiiiheren Zeiten nlUl auch in den urbanen Zentren - wurde dadurch noch urn eine Stufe verdichtet. Das Endergebnis aller dieser historischen lUld gegenwartigen BevolkeflUlgsverschieblUlgen ist, dass fUr die letzte jugoslawischen VolksziihllUlg (1991) selbst in der national sehr homogenen Teilrepublik Slowenien (90,5 Prozent Slowenen) zehn weitere ethnische Gruppen statistisch zu erfassen waren. Die zu 65,8 Prozent serbischen Bewohner Serbiens teilten sich die Republik sogar mit 16 weiteren ethnischen Gruppen (siehe Tabelle 1), die zu 77,9 Prozent kroatischen Bewohner Kroatiens lebten immerhin mit nelUl weiteren ethnischen Gruppen, darlUlter knapp 600.000 Serben, zusammen (Tabelle 2). Daran wird deutlich, dass mit Ausnahme des ethnisch relativ homogenen Slowenien nur durch grol3angelegte UmsiedllUlgsmafinahmen national homo gene Repub liken erzielt werden konnten. In der Analyse moglicher Ursachen fUr den Ausbruch ethnisch motivierter Gewalt ist man mittlerweile fiber die im ex-jugoslawischen Fall vielstrapazierte ,,Dampfkesseltheorie" (lange lUlterdrUckte nationalistische Emotionen, die sich scWiel3lich explosionsartig entluden) hinaus. So einfach waren die Dinge im ehemaligen Jugoslawien nicht; es ist jedoch festzuhalten, dass die UnterbindlUlg eines offenen Diskurses uber nationale Fragen sehr woW fatale AuswirklUlgen hatte, denn so hatten nationalistische FUhrer yom ScWage eines Slobodan Milosevic leichtes Spiel, wenn sie im entspre-
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chenden Moment die politische Biihne betraten, sich die Gefolgschaft der Massen zu sichem. (7 Kap. 22) Monokausale Erklarungen kannen generell kaum zum Verstandnis interethnischer Konflikte beitragen; gefordert sind Erklarungsmodelle, wie sie etwa Andreas Wimmer in "Interethnische Konflikte" anbietet, die Analysen u.a. fiber ethnischen Klientelismus und Diskriminierungen, fiber die politische Mobilisierung durch Minderheitseliten, fiber ungleiche Beziehungen zwischen einzelnen ethnischen Regionen und fiber die Konfliktlasungskapazitiiten unterschiedlicher politischer Systeme integrieren. Interessante Erklarungsperspektiven bietet Thomas Scheftler, der sich mit dem Spannungsverhiiltnis zwischen Ethnizitat einerseits und Radikalismus bzw. Gewalt andererseits auseinandersetzt. Er zeigt die komplexen Wege, die zur Unterscheidungskonstruktion zwischen Freund und F eind entlang ethnischer Merkmale fiihren konnen. Diese soziologischen Modelle kannen ebenso fUr die Erklarung des Ausbruchs der Feindseligkeiten im ehemaligen Jugoslawien herangezogen werden wie solche, welche die historische Konstruktion von F eindbildem kritisch hinterfragen. Der nationale Hass reicht etwa in der Region der Militiirgrenze wie das nationale Selbstverstandnis der kroatischen und serbischen Bevolkerung dieser Region nicht weiter als bis in die zweite Halfte des 19. lahrhunderts zuriick und ist im Zusammenhang mit Bedingungen der Fremdherrschaft einerseits und der Prozesse der aufkommenden nationalen Integrationen andererseits zu analysieren. (7 Kap. 3) Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb wird von beiden Seiten die Geschichte fUr die Konstruktion historischer Mythen und Feindbilder sowie als Handlungslegitimation fUr die Gegenwart missbraucht: Trotz der Tatsache, dass die Vorfahren beider BevOlkerungsgruppen in ihrer Funktion als Grenzerfamilien zur Abwehr von osmanischen Uberfiillen durch rund dreieinhalb Jahrhunderte ein gemeinsames Schicksal teilten, wird dieses Territorium in einer ethnozentrischen Erinnerungsperspektive zu exklusiv serbischem oder kroatischem Boden. Vergleichbare Muster ideologischer Feindbildproduktion im interethnischen Konflikt sind auch in BosnienHerzegowina anzutreffen.
25.2. Ethnische "Siiuberung": Der Wahn des national Reinen Die ethnozentrischen Erinnerungsperspektiven fiber den angeblich national reinen Boden kannen eine bemerkenswerte Kraft im Sinne einer Mobilisierung nationaler Solidaritat entfesseln, zumal dann, wenn - wie Bette Denich ausfiihrt - mit Hilfe von Bedrohungs- und Opferungserziihlungen die Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft verbunden wird. In einer derart emotionalisierten Stimmung wird es dann auch fUr kritische Vertreter der eigenen ethnischen Gruppe sehr schwierig, der nationalen Homogenisierung etwas entgegenzusetzen. Wenn wir fiber national motivierte Verfolgung und Vertreibung in den ex-jugoslawischen Kriegen nachdenken, so dUrfen wir nicht vergessen, dass diese den vorlaufigen Abschluss einer lange geduldeten und nie sanktionierten historischen Praxis darstellt. Die Spirale von Krieg, Flucht und Vertreibung wurde in Sfidosteuropa jahrhundertelang in Bewegung gehalten und hatte Generationen von Menschen erfasst. Als im Zeit-
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rawn von zwei Jahrhunderten (etwa Mitte des 14. bis Mitte des 16. Jahrhunderts) das auf islamischer Grundlage beruhende Osmanische Reich einen Gro/3teil Sudosteuropas eroberte, war dies begleitet von Kfunpfen und Zerstorungen, von Flucht und Vertreibung der christlichen BevOlkerung. Viele serbische Farnilien etwa wanderten in das schwer zugangliche dinarische Gebirgsmassiv ab und kehrten erst Jahrhunderte spater in die Ebenen zurUck. (7 Kap. 6) Die Grenze zwischen dem Habsburgischen und dem Osmanischen Reich kam schlie/3lich im westlichen Ungarn und mitten in Kroatien zu liegen. Dabei wurde der von den Osmanen eroberte Teil Kroatiens in der ersten H1ilfte des 16. Jahrhunderts vollig zerstOrt; die meisten Menschen fliichteten in das kroatische Hinterland, das die Fliichtenden kawn aufnehmen konnte. Einige Grundherrn, die auch im westlichen Ungarn begiitert waren, siedelten ihre fluchtenden Untertanen dort an. Diese Ansiedlungen bildeten den Ursprung der heutigen kroatischen Dorfer im osterreichischen Bundesland Burgenland (sog. Burgenkroaten). Auch im Rahmen des Osmanischen Reichs, das nun weite Teile Siidosteuropas bzw. des Vorderen Orients und Nordafrikas beherrschte, kam es zu vielen, teilweise sehr wnfangreichen Migrationsbewegungen. Von diesen sei nur auf die Ansiedlung von Tausenden orthodoxen Wlachenfamilien in Bosnien und der Herzegowina hingewiesen, die den Kern der heutigen serbischen BevOlkerung des Landes bilden. (7 Kap. 4) Der Versuch der Habsburgerarmee gegen Ende des 17. Jahrhunderts, die Osmanen nach Ungarn und Siebenbiirgen auch aus den Zentralregionen Siidosteuropas zu vertreiben, fiihrte zu weiteren gewaltigen BevOlkerungsbewegungen. Die Armee war bis Bosnien, Serbien und in das Kosovo vorgedrungen. Die orthodoxe, aber auch die katholische Bevolkerung hatte offen mit ihr kollaboriert. Als sie sich jedoch wieder zurUckziehen musste, fliichteten im Jahr 1690 gro/3e Teile der serbischen BevOlkerung aus dem Kosovo und den zentralserbischen Gebieten in Richtung Nordosten - vor allem in das engere Ungarn und die Vojvodina, wo ihnen das Habsburgische Reich Schutz bot und das Privileg der freien Religionsausiibung verlieh. (7 Kap. 5 u. 8) In Bosnien sank nach dem Tiirkenkrieg 1683-1699 die Anzahl der Katholiken auf ca. 30.000. Es muss deutlich herausgestrichen werden, dass die Migrationen innerhalb des Osmanischen Reiches und selbst auch brutale MaJ3nahmen, die zur Flucht iiber die Reichsgrenzen Anlass gaben, nichts mit der Idee nationaler oder ethnischer Homogenisierung zu tun hatten. Die Osmanische Fiihrung hatte den multireligiOsen und damit auch multikulturellen Charakter des Reichs iiber die Jahrhunderte aufrechterhalten. In der Regel war von der Balkanbevolkerung weder der Ubertritt zum Islam noch eine Tiirkisierung erzwungen worden. Diese Konstellation anderte sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert grundlegend, als das Osmanische Reich sukzessive seine Territorien in Siidosteuropa verlor. Mit der Etablierung der Nationalstaaten kam es zu einer weitgehenden Vertreibung der muslimischen BevOlkerungsanteile; nun konnen wir feststellen, dass sich das Muster einer staatlich gelenkten nationalen Homogenisierungspolitik mit dem Ziel der Schaffimg homogener Nationalstaaten durchsetzte. Die BevOlkerungspolitik des Habsburgischen wie auch des Osmanischen Reichs war in erster Linie von Staatsinteressen gelei-
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tet gewesen und hatte vornehmlich dem Erreichen wirtschaftlicher oder strategischer Ziele gedient. Das nun sich etablierende Muster einer national en Homogenisierungspolitik dient einem nationalistischen Selbstzweck: Das national undloder konfessionell Andere wird aus Angst urn die eigene Identitat ausgegrenzt, abgedriiogt, vertrieben, liquidiert oder assimiliert. Die jeweilige Methode wurde im Sinne der Realisierung nationaler Programme bewusst gewiihlt und angewandt. Das bekannteste Beispiel liefert die programmatische Denkschrift des Historikers Vaso Cubrilovic aus dem Jahre 1937, in der der jugoslawischen Regierung gewaltsame Methoden zur "Sliuberung" des Kosovo von Albanem (,,Arnauten") empfoblen und mit dem Hinweis versehen werden, die Welt nehme die Vertreibung der jiidischen Minderheit aus Nazideutschland auch bin. Die ethnischen "engineers" taten sich im FaIle der muslimischen Bevolkerung leicht, dieses Muster der Vertreibung den christlichen Bevolkerungen Siidosteuropas anzubieten, handelte es sich doch urn die ehemaligen "UnteIjocher" und aul3erdem urn Muslime. Millionen siidosteuropiiischer Muslime fanden in dem Jahrhundert zwischen etwa 1820 und 1920 den Tod oder fliichteten in die heutige TUrkei. Die gut begriindeten Schiitzungen J. McCarthys ergeben eine Zahl von etwa fiinf Millionen Gefliichteten und Vertriebenen und etwa fiinfeinhalb Millionen Todesopfer durch Verfolgungen. 1m einzelnen wurden im Verlauf des griechischen Befreiungskampfs (1821-1829) schiitzungsweise rund 25.000 Muslime von griechischen Revolutionliren getOtet. Bulgariens erfolgreiche Unabhiiogigkeitsbewegung (1876-1878) endet damit, dass rund eine halbe Million Muslime aus dem Land vertrieben wurde; auch aus Serbien wurde wiihrend dieser Zeit ein GroBteil der muslimischen Bevolkerung vertrieben, aus Bosnien-Herzegowina wanderten, ausgelost durch die Machtiibernahme 6sterreich-Ungarns im Jahre 1878, rund 130.000 Muslime abo Noch im Jahr 1911 repriisentierten sie 51 Prozent der Bevolkerung im osmanischen Europa. In den Kriegen zwischen 1912 und 1920 (1. und 2. Balkankrieg, 1. Weltkrieg) fliichteten etwas mehr als 400.000 Muslime, bis 1923 weitere 1,2 Millionen. Von der muslimischen Bevolkerung Siidosteuropas des Jahres 1911 waren 1923 nur mehr 38 Prozent anwesend; der Rest war gefliichtet, starb auf der Flucht oder wurde getotet (iiber 600.000). Erst in der allerletzten Phase seines Bestehens praktizierte auch das Osmanische Reich eine Politik der nationalen Homogenisierung, als - ausgelost von den empfindlichen territorialen Verlusten zu Beginn des 20. lahrhunderts - das Konzept eines tiirkischen Nationalstaats immer starker an Boden gewann. 1915/16 wurde beinahe die gesamte armenische Bevolkerung vertrieben; 19221 23 - das Osmanische Reich hatte zu diesem Zeitpunkt praktisch aufgehOrt zu bestehen, und auf dessen Triimmern zeichneten sich bereits die Konturen des tiirkischen Nationalstaats ab - war die griechische Bevolkerung Anatoliens von Vertreibung und Umsiedlung betroffen. Insgesamt diirfte es sich urn etwa 1,1 Millionen Griechen gehandelt haben, die Hals iiber Kopf das Land verlassen mussten. In der gegenwiirtigen Debatte urn die sogenannten "ethnischen Sliuberungen" darf also nicht aul3er Acht gelassen werden, dass es sich bei "ethnischen Entmischungen" bis weit in das 20. Jahrhundert urn eine geduldete Methode nationaler Homogenisierung handelte.
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25.3. Planung, Strategie und Taktik der ethnischen Siiuberungspolitik 1991-1995
Die ethnischen Saubenmgspraktiken der Jahre zwischen 1991 und 1995 in Bereichen des ehemaligen Jugoslawiens bauten aufhistorische Vorbilder und Ablaufmuster auf, auch auf jene neueren Datums, d.h. die bekannten Ausrottungspraktiken im Zweiten We1tkrieg und ethnischen Vertreibungen (Deutsche, Italiener) der kommunistischen Machthaber danach. (-7 Kap. II) Diese historischen Muster sind allerdings weder in ihrer Strategie noch in den Dimensionen des Schreckens einheitlich. Zwischen der Enteignung von Gro13gnmdbesitzem, die auch ethnisch interpretiert werden konnte, indirektem Druck zur Auswandenmg aufgnmd von Grenzverschiebungen nach einem Krieg und einer staatlich angeordneten Ausrottung und Vertreibung ganzer BevOlkenmgsgruppen bestehen entscheidende Unterschiede und Handlungsspielraume. Diese letzte Stufe - die von staatlichen Zentralstellen angeordnete - wird in der Politik der Herstellung eines gro13serbischen Staates wohl am deutlichsten. Zwar diirfte auch die kroatische Staatsfiihrung mit einem gro13kroatischen Staat kokettiert haben; sie hat jedoch die Realisienmg dieses Ziels nicht derartig programrnatisch und systematisch verfolgt wie die serbische Seite. Die ethnische Vertreibungs- und Vernichtungsmaschinerie wurde in der kroatisch-serbischen ,,Krajina" im Sommer 1991 von serbischen Freischiirlem in Gang gebracht; in weiterer Folge griff die Jugoslawische Volksarmee ein und unterstiitzte die ethnische Saubenmg ganzer Stadte und Regionen; Nichtserben wurden aus ihren Hausem vertrieben, die Hauser teilweise von Serben in Besitz genommen, die ihre Heimat in anderen kroatischen Regionen verlieJ3en oder verlassen mussten. Die Vertreibungen bewirkten in ihrer systematischen Durchfiihrung Angst und Schrecken unter den kroatischen Bewohnem; viele fliichteten aus Angst vor dem Terror. (7 Kap. 23) Als am 19. Dezember 1991 die ,,Republik Serbische Krajina" (bestehend aus den Regionen Lika, Banija und Kordun sowie Westslawonien) ausgerufen wurde, war diese bereits groJ3tenteils ethnisch "gesaubert". In den insgesamt sechs Verwaltungsbezirken betrug der serbische BevOikenmgsanteil bereits zwischen 73 und 98 Prozent; in Westslawonien hatte er zuvor lediglich 26,9 Prozent betragen. Ahnlich die Situation in Ostslawonien (mit einem serbischen Bevolkenmgsanteil von 22,6 Prozent), das mit der Erobenmg von Vukovar (Mitte November 1991) durch die Jugoslawische Volksarmee und serbische pararnilitiirische Einheiten eingenommen worden war: 1m Sommer 1991 eroberte die JVA kampflos die Baranja (Beli Manastir), das an die Vojvodina angrenzende Gebiet an der Donau. Die nichtserbische BevOikenmg wurde vertrieben, z.T. mit Hilfe der Beobachter der EG auf Lastwagen, ohne Hab und Gut evakuiert, und die verbliebene vollkommen entrechtet. Das Gebiet wurde zum Serbischen Autonomen Gebiet Ostslawonien proklarniert. Pararnilitiirische Einheiten veriibten dort zahlreiche Massaker (Dalj, Borovo Selo, Ovcara bei Vukovar). 1m Oktober 1993 waren bereits 247.000 Kroaten aus diesem Gebiet vertrieben. Seit dem Mai 1995 begann sich die militiirische Situation gnmdlegend zugunsten Kroatiens zu verandem; zu diesem Zeitpunkt wurde Westslawonien und Anfang August desselben Jahres der Westteil des serbischen parastaatlichen Gebildes ,,Krajina" militiirisch unter Kontrolle des kroatischen Staates gebracht und "integriert". Ethnische "Gegensaubenmg" durch die Kroaten, aber auch eine "Selbstsaubenmg" von ser-
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Tabelle 1: Die ethnische Struktur Serbiens 1991
Ethnische Gruppen 1981 Serben Albaner Magyaren Jugoslawen Muslime Kroaten Montenegriner Zigeuner Slowaken Makedonen Rumiinen Bulgaren Bunjewatzen Ruthenen Wlachen Tiirken Siowenen Undeklarierte Obrige Unbekannt Insgesamt
in%
1991
in%
+/- in %
6.182.159 I. 303.D32 390.468 441.941 215.166 149.368 147.466 110.959 73.207 48.986 53.693 33.455
66,4 14,0 4,2 4,7 2,3 1,6 1,6 1,6 0,8 0,5 0,6 0,4 0,2 0,3 0,1 0,1 0,1 0,4 0,5 100,0
65,8 17,2 3,5 3,2 2,4 1,1 1,4 1,4 0,6 0,4 0,4 0,3 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,5 0,6 100,0
3,98 29,44 -11,25 -28,11 10,31 -26,89 -5,05 23,70 -8,16 -2,88 -21,06 -24,64
19.758 25.596 13.890 12.006 7.834 34.624 43.222 9.313.677
6.428.420 1.686.661 345.376 317.739 237.358 109.214 140.024 137.265 67.235 47.577 42.386 25.214 21.662 18.339 17.557 11.501 8.340 16.661 46.788 61.278 9.791.475
-7,19 -31,48 -17,20 -30,54 112,67 35,13 41,77 5,13
QueUe: G. Seewann (1993)
Tabelle 2: Die ethnische Struktur Kroatiens 1991
Ethnische Gruppen 1981
in%
1991
in%
+/- in %
Kroaten Serben Jugos1awen Muslime Magyaren Slowenen Italiener Tschechen A1baner Montenegriner Undeklarierte Regionalisten Obrige Unbekannt Insgesamt
71,5 11,5 8,2 0,5 0,6 0,6 0,3 0,3 0,1 0,2 0,4 0,2 4,2 1,4 100,0
3.708.308 580.769 104.728 47.603 23.802 23.802 19.041 14.281 14.281 9.521 76.166 47.603 23.803 66.645 4.760.344
77,9 12,2 2,2 1,0 0,5 0,5 0,4 0,3 0,3 0,2 1,6 1,0 0,4 1,4 100,0
5,55 9,26 -72,32 100,51 -6,44 -5,31 63,28 -5,18 137,70 -3,03 343,00 449,87 -38,66 29,53 3,45
3.454.661 531.502 379.058 23.740 25.439 25.136 11.661 15.061 6.006 9.818 17.193 8.654 38.801 64.733 4.601.469
QueUe: G. Seewann (1993)
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bischer Seite, deren Propagandisten zum Verlassen der verlorenen ,,Krajina" aufriefen, war die Folge: Die meisten Serben Westslawoniens fliichteten, die verbliebenen waren teilweise Bedrohungen ausgesetzt. Nachdem zwischen 150.000-200.000 Serben nach dem Fall von Knin zusammen mit den militarischen Verb1inden bis auf rund 2.000 gefliichtet waren, kam es zu - gewiss geduldetem, wenn nicht angeordnetem - Terror gegeniiber der spiirlich iibriggebliebenen Bevolkerung. Die kroatische Regierung gibt zwar Ubergriffe zu, aber die Morde (an ausschlieBlich alten Menschen) werden bis heute nicht konsequent gerichtlich verfolgt, was Vennutungen aufkommen lasst, dass hinter diesem gesamten Vorgehen eine "abschreckende Absicht" gegeniiber eventuellen Riickkehrwilligen Regie fiihrte. Das Kroatische Helsinki Komitee berichtete iiber mindestens 410 namentlich bekannte serbische Zivilpersonen, die im Laufe der Wiedereroberung der besetzten Gebiete bzw. in den 100 Tagen danach umgebracht wurden (Veeerrifi list, 27.4.1999). Man schatzt, dass iiber 800 Personen Gewaltakten marodierender kroatischer Gruppen zu Opfer fielen. Noch immer gleichen weite Gebiete einer Geisterregion mit leerstehenden Hausem und verminten Zonen. Die Taktik der Wiederbesiedelung folgt auch ethnischen Projektionen - in verlassene Gegenden werden vorziiglich vertriebene Kroaten aus BosnienHerzegowina angesiedelt, - besonders solche, die zu den 25.000 Kroaten und Bosniaken gehOren, die als Antwort auf die kroatische Gegenoffensive 1995 aus Banja Luka und Umgebung nach Kroatien vertrieben worden waren. In Ostslawonien, das Anfang 1996 gem1iB dem sog. Z-4-Plan unter den Schutz der UNO gestellt wurde, iiberwachte der amerikanische UN-Beauftragte Jacques Klein den Ubergang unter die kroatische Verwaltung, der weitgehend friedlich verlief. Die Riickkehr der vertriebenen BevOlkerung vollzog sich langsam, wahrend serbische Familien das Land verlassen, obwohl die Serben nach den Wahlen Ende 1997 ihre politischen Reprasentanten in den Stadtparlamenten und Regierungen haben und die Vereinbarungen zum Schutz der politischen und kulturellen Rechte weiterhin, d.h. auch nach der kroatischen Machtiibemahme Anfang 1998, unter intemationaler Aufsicht und in Kooperation der kroatischen BehOrden vor allem mit dem UNHCR verwirklicht werden. 1m "two-way-retum"-Projekt sollen Serben aus Ostslawonien die von ihnen bewohnten Hauser vertriebener Kroaten diesen zuriickgeben und dafiir in ihre urspriinglichen Heimatorte in anderen Gebieten Kroatiens zuriickkehren konnen. (~ Kap. 32) Nach den Regional- und Kommunalwahlen am 13. April 1997 wurden legitime Institutionen konstituiert, die weitgehend die ethnische Zusammensetzung der Vorkriegszeit widerspiegeln. So gibt es in Beli Manastir einen serbischen Oberbfugenneister und eine serbische Mehrheit im Magistrat; in Vukovar hingegen gewann der kroatische Kandidat die Wahl, obwohl er allerdings lange daran gehindert wurde, sein Amt anzutreten und sich iiberhaupt in Vukovar aufzuhalten. Wichtig ist auch, dass der orthodoxe Metropolit nach Zagreb und andere Geistliche der SOK in ihre Gemeinden zuriickkehrten. Ein weiteres Zeichen der Nonnalisierung war auch der Besuch des Patriarchen Pavle in Zagreb im Miirz 1999, wo er eine gut besuchte Messe abhielt und von den Regierungsvertretem und dem kroatischen Prasident empfangen wurde. Die ethnischen SauberungsmaBnahmen hatten auch auf die serbische Provinz Vojvodina mit ihren vielen ethnischen Minderheiten iibergegriffen. (~ Kap. 5) Nach PI1inen
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nationalistischer Serbenfiihrer sollten Nichtserben aus den Dorfern vertrieben und serbische Fliichtlinge angesiedelt werden. So brachten die serbischen paramilitiirischen Kriifte des Vojislav Seselj im Mai 1992 das DorfHrtkovci mit 80 Prozent kroatischer Bevolkerung unter ihre Kontrolle; die kroatische Bevolkerung wurde gro.l3tenteils vertrieben, die Stra.l3ennamen ausgewechselt und der Name des Dorfes in Srbislavci abgeandert. Das Ausma.13 der ethnischen Sauberungen in Bosnien-Herzegowina ergibt eine noch wesentlich traurigere Bilanz. Die Methode, ethnische Homogenitiit durch Vertreibung und Totung der AngehOrigen anderer Ethnien in den von ihnen beherrschten Gebieten zu erlangen, wurde von allen kriegfiihrenden Parteien angewandt; die serbische Seite ging dabei allerdings besonders brutal und - wie oben bereits betont - systematisch im Sinne der Realisierung eines ethnisch reinen grojJserbischen Staats vor. Angenommen, die kroatische Seite hiitte ein analoges Ziel verfolgt, so hiitte sie den Vorteil gehabt, dass die kroatischen Siedlungsschwerpunkte in Bosnien-Herzegowina an das kroatische Staatsgebiet anschlossen. Der entscheidende Punkt also war, dass mit den serbischen ethnischen Sauberungen auch die Realisierung militansch-strategischer Ziele verbunden war: Es ging darum, einerseits mit der serbisch-kroatischen ,,Krajina" im Nordwesten und andererseits mit Serbien im Osten des Landes eine Territorialverbindung herzustellen. Die muslimischen Siedlungsgebiete in diesen Regionen waren ein erhebliches Hindernis fUr die Realisierung dieser Zielsetzung. Ein Beispiel fUr diese strategisch motivierte ethnische Sliuberung ist die Gemeinde Prijedor im Nordwesten des Landes, aus 70 Dorfern bestehend und 1991 von iiber 100.000 Menschen bewohnt; 44 Prozent der Bevolkerung waren Muslime, sechs Prozent Kroaten, also rund 65.000 Nichtserben. 1993 war Prijedorrein serbisch: 50.000 Muslime und 15.000 andere Nichtserben waren vertrieben (etwa 30.000) oder ermordet (etwa 20.000) worden; 25 Moscheen und elf muslimische Bethauser hatte man gesprengt. Die meisten Manner, aber auch Frauen wurden auf drei Internierungslager (Keraterm, Manjaca, Omarska), die man in der Gemeinde eingerichtet hatte, verteilt. Tabelle 3: Bevolkerungsverteilung in Bosnien-Herzegowina vor demKrieg
Ethnische Gruppen 1981
in%
1991
in%
+/-in%
Muslime 1.629.924 1.320.644 Serben 756.136 Kroaten Jugoslawen 326.280 ObrigeJunbekannt 89.024 Insgesamt 4.124.008
39,5 32,0 18,4 7,9 2,2 100,0
1.905.829 1.369.258 755.892 239.845 93.474 4.364.574
43,7 31,4 17,3 5,5 2,1 100,0
16,92 3,68 -0,30 -26,50 4,77 5,83
QueUe: G. Seewann (1993)
Die serbische Vorgehensweise folgte im allgemeinen einem bestimmten Muster: Ein Dorf oder eine Stadt wurde tage-, wochen- oder monatelang von schwerer und leichter Artillerie beschossen. Selbst dort, wo kein Widerstand mehr zu erwarten war, wurde der Beschuss fortgefiihrt, urn kroatische und muslimische Zivilisten zur Flucht zu treiben. Wenn die serbische Infanterie oder paramilitansche Gruppen die Stadt oder das
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Dorf betraten, schritten sie zu ErschieBungen oder Abtransporten andersethnischer Zivilisten in Lager, wo sie vielfach verhort, gefoltert und ermordet wurden. Nach Protesten der internationalen Gemeinschaft wurden die Lager aufgelOst. Jene Nichtserben, die sich aus der serbischen Gewalt retten, d.h. meistens: freikaufen konnten, mussten, bevor sie in kroatisch oder muslimisch kontrollierte Gebiete entlassen wurden, Papiere unterschreiben, in denen sie erklarten, dass sie freiwillig weggegangen waren oder dass sie ihr Eigentum der Gemeindeverwaltung uberantworteten. SpezieU in Ostbosnien wurden die muslimischen Enklaven mit dem Ziel beschossen, die Bevolkerung zur Flucht in eine zentrale Enklave zu bewegen, wo sie dann von der serbischen Artillerie konzentriert attackiert werden konnte. Das Massaker in Srebrenica ist in diesem Kontext zu sehen. Die mehrheitlich von Muslimen bewohnte Stadt hatte sich lange der Eroberung durch serbische Truppen widersetzt, bis sie von der UNO im April 1993 zu einer der sechs Schutzzonen erklart wurde. Zehntausende muslimische Fliichtlinge begaben sich daraufhin in die Schutzzone. 1m Juli 1995 wurde die Stadt jedoch von serbischen Truppen eingenommen; die gefangengesetzten Manner wurden systematisch ermordet. Uber achttausend Manner wurden Opfer einer verbrecherischen ethnischen Architektur, die ein ethnisch homogenes, serbisches Ostbosnien vorsah. Bis 1999 war die Ruckkehr von bosniakischer Bevolkerung nach Ostbosnien so gut wie ausgeschlossen. 1m Juni 1999 konnte in Srebrenica der im September 1997 gewahlte Magistrat in einer der Vorkriegsbevolkerung entsprechenden (mehrheitlich bosniakischen) Zusammensetzung seine erste konstituierende Sitzung abhalten. Dies ist ein Hoffnungszeichen fur die Ruckkehrmoglichkeiten in das ganze Gebiet. Die Bilanz der ethnischen Sauberungen am Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina 1995 lag bei 150.000 GetOteten und 2,2 Millionen vertriebener Menschen; davon eine Million Binnenfluchtlinge und 1,2 Millionen im Ausland. 1997 betrug die BevOlkerung von Bosnien-Herzegowina nur drei Viertel ihrer Vorkriegsgrof3e (7 Kap. 33).
25.4. Massenhafte Vergewaltigungen 1m Winter 1992/93 wurde die Weltoffentlichkeit auf die massenhafte Vergewaltigung bosnischer Frauen durch serbische Manner aufmerksam gemacht. Nur relativ wenige Frauen gingen mit ihrem Schicksal an die Offentlichkeit, und daher kann es auch keine zuverlassigen Zahlen uber das Ausmaf3 geben; die Schatzungen bewegen sich zwischen 20.000 und 60.000 Vergewaltigungsopfem (ein GroBteil in den Monaten zwischen April und November 1992). Die meisten Frauen waren unter 35 und kannten vielfach ihre Vergewaltiger aus der Zeit vor dem Krieg. Viele Frauen wurden nach der Vergewaltigung getOtet; die Vergewaltigungen geschahen vielfach im Beisein von Kommandanten und Zivilisten bzw. FamilienangehOrigen. Hier wollen wir uns auf sexuelle Gewalt gegen Frauen im bosnisch-herzegowinischen Krieg konzentrieren; dies heiBt nicht, dass nicht auch im Veri auf der kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien vergewaltigt wurde und dass nicht auch gefangene Manner Opfer sexueller Folterungen wurden. Die Untersuchungen der Vergewaltigungsexzesse durch die Organisationen "Helsinki Watch" und ,,Amnesty Intema-
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tional" ergaben, dass von allen kriegfiihrenden Seiten in Bosnien-Herzegowina vergewaltigt wurde; am hliufigsten jedoch waren Serben die Vergewaltiger Wld ihre Opfer meist muslimische Frauen. Diesen Quellen zufolge gibt es keine eindeutigen Beweise dafiir, dass VergewaltigWlg als Mittel der taktischen Kriegsfiihr1U1g betrachtet wurde; ebensowenig fand manjedoch auch Hinweise darauf, dass ein Soldat oder AngehOriger paramilitiirischer Gruppen wegen seiner Untaten bestraft worden ware. Den Eindruck eines systematischen Vorgehens erweckte die BeobachtWlg, dass bei den vertriebenen Gruppen oft Miidchen Wld jWlge Frauen nicht dabei waren. ,,Amnesty International" konstatierte jedoch, dass VergewaltigWlg als Teil einer Kriegsfiihr1U1g betrachtet wurde, die das Ziel hatte, dUTCh massive EinschiichteTWlg Wld UbergrifIe Tausende Menschen zur Flucht zu veranlassen. VergewaltigWlg also als eine Methode ethnischer SiiubeTWlg? In den Analysen Wld Interpretationen dieser massenhaften VergewaltigWlgen werden Wlterschiedliche SchluBfolger1U1gen gezogen. Diese Standp1U1kte lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass in ihnen allgemeine oder aber besondere kulturspezifische Elemente erkannt werden. Das allgemeine Element besteht darin, dass VergewaltigWlgen in den meisten Kriegen des 20. lahrhWlderts zumindest eine BegleiterscheinWlg waren Wld somit ein allgemeines Phiinomen darstellen. 1m Zweiten Weltkrieg wurden Frauen von sowjetischen Rotarmisten, deutschen Wehrmachtssoldaten Wld SS-Soldaten, von Franzosen, Englandern Wld Amerikanern in groBer Zahl vergewaltigt. Die dUTCh ihr Buch ,,Against Our Will. Men, Women and Rape" (New York 1975) bekannt gewordene amerlkanische Wissenschaftlerin Susan Brownmiller kann in den VergewaltigWlgen in Bosnien-Herzegowina keine kulturspezifischen Merkmale erkennen; VergewaltigWlg stelle ein Gelegenheitsverbrechen von normalen Miinnern dar - sowoW im Krieg als auch im Frieden. Die Frauen seien Wlbewacht Wld WlbewafInet Wld daher VergewaltigWlgsziel. Gegen diesen feministischen Zugang, der auf der UberlegWlg beruht, dass injedem Krieg die Wiirde der Frau dUTCh miinnliche Aggressionen verletzt werde, haben sich hinsichtlich Bosnien-Herzegowinas viele Stimmen erhoben - mit Wlterschiedlichen Argumenten. Die einen - wie beispielsweise Seada Vranic - erkennen darin die gezielte, systematische Wld zynische VernichtWlg eines Volkes. Andere (E. Menghetti, I.M. Halpern) verweisen darauf, dass Genitalien als "WafIe" nicht nUT gegen die physische Wld psychische Integrltiit der Frauen eingesetzt werden, sondern auch, urn die Familien der Opfer zu erniedrigen; daher wurden schwangere Frauen gezwungen, das Kind zu gebiiren, indem man sie solange in den Lagern festhielt, bis eine AbtreibWlg nicht mehr moglich war. Den Frauen wurde dabei bedeutet, dass sie kleine Serben oder Tschetniks gebiiren wiirden. Dieses Vorgehensmuster bzw. das dahinterstehende Konzept von ethnischer Fortpj1anzung ist singuliir; es wurde bei keiner anderen der kriegfiihrenden Parteien beobachtet. Ein iiberzeugender ErkliirWlgsansatz wurde von Ruth Seifert formuliert. Sie Wlterscheidet vergewaltigWlgsarme Wld vergewaltigWlgslastige Gesellschaften. VergewaltigWlgsarm seien solche, in denen entweder die Miinnerherrschaft abgesichert ist oder die Frauen einen sehr respektierten Status genieBen. Als vergewaltigWlgslastig hingegen gelten Gesellschaften, in denen die Macht der Miinner in Frage gestellt wird bzw.
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die Frauen geringgeschiitzt werden oder rigide Definitionen von ,,miinnlich" und "weiblich" mit entsprechenden Werthierarchien vorherrschen. Demnach wiirde Bosnien-Herzegowina zu den vielen europiiischen vergewaltigungslastigen Gesellschaften ziihlen; nachdem in der Zwischenkriegszeit die Manner viel von der Macht fiber ihre Sohne eingebill3t hatten, waren es in der Zeit danach die Frauen, die immer weniger gewillt waren, sich ihrer Autoritat zu unterwerfen. Daneben aber kommt nach Seifert der Vergewaltigung im bosnisch-herzogowinischen Krieg eine weitere entscheidende Funktion zu: Die sexuelle Gewalt dient auch der Zerstorung der nationalen Kultur. Sie sieht sich darin durch Beobachtungen an der serbischen Kriegsfiihrung bestiitigt. Nach Gebietseroberungen kam es immer wieder zu analogen Ereignisabliiufen: Zuerst wurden Objekte des kulturellen Erbes zerstOrt, dann vomehmlich AngehOrige der Eliten und Repriisentanten der national en Kultur inhaftiert undloder ermordet, und schlie13lich wurden Vergewaltigungslager errichtet. Die Frauen, auf we1che die erste Wahl fiel, gehOrten der jeweiligen nationalen Intelligenz an. Ihrer Meinung nach bildete die Frau - wollte man eine Kultur zerstOren - in diesem Krieg ein wichtiges Angriffsziel, da sie in der Familie und fUr die nationale Kultur eine zentrale Rolle spielt. Destruktion einer Kultur als Form der ethnischen Siiuberung kann in diesem Krieg ein zentrales Ziel der Kriegfiihrung darstellen. Ein anderer Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass in vielen Kulturen der weibliche Korper die Nation bzw. die Gruppe als ganze symbolisiert. Die Vergewaltigung von Frauen wird, so betrachtet, zur symbolischen Vergewaltigung des nationalen Korpers. Massenvergewaltigungen stellen demnach eine Strategie von ethnischer Siiuberung dar; Frauen, deren personliche und soziale Existenz zerstOrt worden ist, loschen symbolisch das Leben der Gemeinschaft aus. Interessant ist, dass diese Metapher des weiblichen Korpers, der die Nation repriisentiert, Ende der achtziger Jahre auch unter der serbischen BevOlkerung des Kosovo im Zusammenhang mit angeblichen Vergewaltigungen formuliert wurde. In der serbischen Presse wurden in dieser Zeit immer wieder die Vergewaltigungen serbischer und montenegrinischer Frauen durch albanische Manner gemeldet. Dabei wurde die serbische Frau als Eigentum des nationalen Kollektivs dargestellt und die Vergewaltigung als ein Verbrechen gegen das Eigentum der serbischen Nation und als ein Uberschreiten der unverletzlichen und heiligen Grenzen der Nation, als eine Attacke gegen die Integritiit des nationalen Korpers begriffen.
25.5. Epilog So1che Konstrukte und Bilder sind mit zu bedenken, wenn es urn den Zusammenhang von Vergewaltigung und ethnischer Siiuberung geht. 1m Kosovokrieg 1999 ist wiederurn deutlich geworden, dass diese Bilder den Auftakt fUr eine Eskalation der Gewalt darstellten. Sie bildeten das Vorfeld einer langen Gewaltspirale, in die schlie13lich auch die albanische Seite als Akteur hineingezogen wurde. 1m Laufe der Operationen der serbischen Streitkriifte seit Friihjahr 1998 wurden schiitzungsweise 400.000-500.000 Albaner heimatlos. Umgehend nach den ersten Luftangriffen der Nato im Miirz 1999 intensivierte sich der Vertreibungsterror und erreichte
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in wenigen Wochen ungeheure AusmaBe. Nachdem Milo§evic dem Einsatz der internationalen Friedenstruppe in Kosovo zugestimmt hat. geht es wn die Riickkehr von fast einer Million vertriebenen Albaner. Tausende Kosovoserben schien dieser Friedensplan unter dem Schutz der internationalen KFOR-Truppen sofort zwn Verlassen ihrer Heimat veranlasst zu haben. Aber zwn ersten Mal und anders aIs im Faile der ,,Krajina" in Kroatien 1995 und dem der FOderation zugeschlagenen Gebiete wn Sarajevo 1996 versuchen die serbischen oppositionellen Politiker und die orthodoxen Priester ihre Landsleute diesmaI von einem Exodus abzubriogen.
Literatur Gute Studien Ober den Zusammenhang von Migration und Nationswerdungsprozessen stammen von Eugene A. Hammel, "Demography and the Origins of the Yugoslav Civil War", in: Anthropology Today 9/1993, S. 4-9 und Joel M. Halpern (Hg.), War among the Yugoslavs, The Anthropology ofEast Europe Review, special issue, II, 1-2/1993.lm letztgenannten Werk ist besonders hervorzuheben: E. Hammel, "The Yugoslav Labyrinth", S. 35-42; Bette Denich, "Unmaking Multi-Ethnicity in Yugoslavia: Metamorphosis observed", S. 48-60. Verliissliche Daten zur Verzahnung der Ethnien aus den Volkszlihlungen zu Beginn der neunziger Jahre bietet Gerhard Seewann, ,,Die Ethnostruktur der Lander SOdosteuropas aufgrund der beiden letzten Volkszahlungen im Zeitraum 1977-1992", in: Sudosteuropa 42 (I993), S. 78-82. Grundlegend zum Zusammenhang von Verwandtschaft und Nationsbildung: Karl Kaser, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien, Kaln, Graz 1995; zum Zusammenhang von Religion und Nationsbildung bei W1achen und Bunjevzen: K. Kaser, Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militdrgrenze
(1535-1881), Wien, Kaln, Weimar 1997. Erklilrnngsmodelle fmdet man bei Andreas Wimmer, "Interethnische Konflikte. Ein Beitrag zur Integration aktueller Forschungsanslltze", in: Kainer Zeitschrift for Soziologie und Sozialpsychologie 47 (I995), S. 464-493 und bei Thomas Scheffler, "Ethnoradikalismus: Zum VerhiUtnis von Ethnopolitik und Gewalt", in: Gerhard Seewann (Hg.), Minderheiten als Konjliktpotential in Ostmittel- und Sudosteuropa, MOochen 1995, S. 9--47.
Neuere Arbeiten mit solidem Datenmaterial zur Vertreibung der Muslime aus SOdosteuropa im 19.120. Jahrhundert stammen von Justin McCarthy, Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821-1922, Princeton 1995 und Wolfgang Hopken (Hg.), Zwangsmigrationen in Mittel- und Sudosteuropa, Leipzig 1996. Heranzuziehen ist auch: Srecko M. DZlija, Konfessionalitdt und Nationalitdt Bosniens und der Herzegawina, MOnchen 1984; Holm Sundhaussen, "Bevalkerungsverschiebungen in SOdosteuropa seit der Nationalstaatswerdung (I 9.120. Jahrhundert)", in: Comparativ, Heft 1/1996, S. 25-40. Die ethnische Zusammensetzung der Bevolkerung in der "Krajina" und die Menschenrechtssituation in Kroatien in der ersten HaIfte der neunziger Jahre (Civil and Political Rights in Croatia, hg. von Human Rights WatchIHelsinki, New York 1995) sind gut dokumentiert. Heranzuziehen zur "Krajina" sind: MarieJanine Calic, "Der serbisch-kroatische Konflikt in Kroatien", in: Michael Weithmann (Hg.), Der ruhelose Balkan, MOochen 1993, S. 108-148, sowie Hannes Grandits u. Christian Promitzer, "Dossier: Serben in Kroatien", in: Ost-West-Gegeni'1formationen 3/1997, I-X, zur Flucht der Serben: Norbert Mappes-Niediek: ,,'Ethnische Seibst-Sliuberung'? Der Exodus der Serben aus Kroatien vom 4. bis 8. August 1995", in: SUdosteuropa 44 (1995), S. 585-592. Zum "ethnic cleansing" und dem Genozid an der muslimischen Bevolkerung geben zuverliissig Orientierung: Norman Cigar, Genocide in Bosnia. The Policy of "Ethnic Cleansing", College Station 1995; Michael A. Sells, The Bridge Betrayed. Religion and Genozide in Bosnia, Berkely 1996; Situation of Human Rights in the Territory of the former Yugoslavia, Report submitted by Tadeusz Mazowiecki, 20. November 1993; War Crimes in Bosnia-Hercegovina. A Helsinki Watch Report, I, New York 1993; The Ethnic Cleansing ofBosnia-Hercegovina. A Staff Report to The Com-
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rnittee on Foreign Relations United States Senate, Washington 1992. Ober Srebrenica: Jan Willern Honig u. Norbert Both, Srebrenica. Der gro te Volkermord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, MOOchen 1997 sowie von David Rohde, Die letzten Tage von Srebrenica. Was geschah und wie es moglich wurde, Reinbek 1997.
Eine der besten Untersuchungen Ober die Vergewaltigungen im bosnischen Krieg stanunt von Amnesty International, Januar 1993, Index EUR: 63/01/93. Von den vielen Publikationen dazu sei War against Women. The Impact o/Violence on Gender Relations. Report of the 6th Annual Conference, 16/17 Sept 1994, Bern 1995, hervorgehoben, daraus besonders: Eliane Menghetti, ,,Rape as a Means of Warfare", S. 87-99; Ruth Seifert, "Mass Rapes in Bosnia-HeIZegovina and Elsewhere. A Pattern ofCulturaI Destruction", S. 77-86, und Susan Brownmiller, "The Spoils of War", S. 51-55. Wichtig ferner: AJexandraStiglmayer (Hg.), Massenver.gewaltigung. Krieg gegen die Frauen, FrankfurtlMain 1993; darin von der Herausgeberin: "Vergewaltigungen in Bosnien-HeIZegowina", S. 116-218, sowie von Ruth Seifert, "Krieg und Vergewaltigung. Ansatze zu einer Analyse", S. 87-112. Ernpfohlen werden kann auch: Jeanne Vickers, Women and War, London 1993 und Seada Vranic, Breaking the Wall o/Silence. The Voices o/Raped Bosnia, Zagreb 1996, letzteres mit erschOttern den Berichten betroffener Frauen. Ein Interview mit dern amerikanischen Anthropologen und BaIkanexperten Joel M. Halpern hat rege Diskussionen ausgelost: Joel M. Halpern: "TOten mit dern Messer", in: Osterreichische Zeitschrijf for Geschichtswissenschaften 5/1994, S. 100-106.
26. Der bosniakisch-kroatische "Krieg im Kriege" Zeljko Ivankovic und Dunja MelCic
1m Folgenden werden die Hintergriinde des Konflikts und der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen bosnisch-herzegowinischen Kroaten und Muslimen (Bosniaken) umrissen und der Verlauf der Verwicklungen geschildert - yom Ausbruch der Kampfe bis nach dem Washingtoner Abkommen (1994). Die Ereignisse werden fUr sich betrachtet, obwohl man sie yom Kontext des Krieges 1991-1995 natiirlich nicht trennen kann. Methodische Pramisse ist, dass die serbische Aggression in Kroatien und Bosnien-Herzegowina mit Eroberungen groBerer Territorien in beiden Republiken zu den bestimmenden Umstanden gehort hat, unter denen es zu den muslimisch-kroatischen Feindseligkeiten kam, diese also gleichsam als ihre Folge entstanden und insofern als Nebenprodukt dieses Krieges (by-product, Reneo Lukic) zu verstehen sind. Ais der Krieg 1991 in Slowenien und Kroatien und 1992 in Bosnien-Herzegowina begann, waren unmittelbar keine bosniakisch-kroatischen Konflikte zu beobachten, die auf eine eventuell drohende bewaffnete Auseinandersetzung hingedeutet hatten. So sah man es allgemein (auch im Ausland) als gleichermaBen konsequent und logisch an, dass sich Bosniaken und Kroaten innerhalb der Republik gemeinsam gegen die serbische Aggression zur Wehr setzen, wie dass Zagreb und Sarajevo eine Allianz eingehen. Die Tatsache, dass sich die Interessengegensatze erst wwend der serbischen Siege und Eroberungen 1993, ein knappes Jahr nach dem Angriff auf einige - strategisch allerdings entscheidende - Gebiete, in kriegerischen Konfrontationen entluden, rechtfertigt die allgemein eingebiirgerte Bezeichnung yom kroatisch-bosniakischen ,,Krieg im Kriege", die besagt, dass es sich urn ein Nebenprodukt des Krieges handelt, und die Annahme impliziert, dass es zu diesen kriegerischen Auseinandersetzungen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekommen ware, wenn die Losung der Krise in Jugoslawien einen anderen als kriegerischen Verlauf genommen hatte. Aber natiirlich ware es ohne Zutun beider Parteien nicht dazu gekommen und - noch wichtiger - die Folgen dieses interethnischen Konflikts sind in vielen Dingen offenbar iihnlich gravierend wie die eines "urspriinglichen" Kriegs. Der Schilderung der jeweiligen politischen Strategien samt der verfahrenen Situation, die diese bewirkt haben, wird ein knapper Abriss der geschichtlich gewachsenen Mentalitaten vorangestellt, der urn so knapper ausfallen wird, als er sich weitgehend auf die Volksgruppen der Bosniaken und bosnischen Kroaten beschriinken muss. Er beriicksichtigt nur die wesentlichsten Aspekte, die konstitutiv fUr die nationalen Identitaten sind und im Zusammenhang mit dem Staatlichkeitsbewusstsein und mit dem Verhiiltnis zur Vergangenheit stehen.
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26.1. Staatsbiirgerliche versus ethnische Loyalitat
Historisch und kultursoziologisch konnten unterschiedliche Einstellungen der bosnischherzegowinischen Volksgruppen zur gemeinsamen Geschichte, d.h. kollektive Erinnerungen als mentalitatspragend beobachtet werden. Die Hauptrolle spielt dabei der Bezug zur gemeinsamen Geschichte in der Epoche des Osmanischen Reiches, der sich auch auf die unterschiedlichen Einstellungen zu anderen Epochen - dem bosnischen Mittelalter und den nachosmanischen Zeiten - auswirkt. Durch den Ordnungscharakter des Osmanischen Reiches, d.h. das Millet-System, war auch der Stellenwert der Konfessionen und Religionen in den identitatsbildenden Erinnerungsprozessen vorgepragt. Allein in der kollektiven Erinnerung der bosnischen Muslime wird die osmanische Epoche als positive Vergangenheit gepflegt. 1m Laufe der Auseinandersetzung wurden durch kommunikative Manipulation bei allen Ethnien - wenn auch in unterschiedlichem MaBe - die Unterschiede potenziert, das Trennende in den Vordergrund geriickt und unter volliger Vernachlassigung der vieWiltigen - historisch nachweisbaren - Gemeinsamkeiten schlieBlich zum Feindbild instrumentalisiert. (7 Kap. 20). Dabei spielten die Konnationalen im benachbarten Serbien und Kroatien und ihre nationalen Bewegungen eine groBe Rolle. Allerdings ist hervorzuheben, dass der anti-islamische Topos in der kroatischen Kulturgeschichte seit dem 18. Jh. und das feindliche Verhaltnis zum Islam bzw. zur islamisierten Bevolkerung gerade beim Ausbau der national en Ideologie im 19. Jahrhundert ohne Bedeutung waren. In der serbischen Tradition hingegen war das Feindbild der Muslime, d.h. der "Tiirken", nicht nur Bestandteil des politischen Projekts der antiosmanischen Befreiungskriege, sondern auch der Nationalideologie und der Literatur, und zwar in einem AusmaB, dass der bedeutende serbische Literaturkritiker Jovan Skerlic den "Tiirkenhass" als pragende Kennzeichnung der jungen serbischen Dichter urn die Jahrhundertwende beschrieb. Es waren dann auch serbische Intellektuelle und Literaten, die in unserem Jahrhundert den moslemfeindlichen Diskurs in den achtziger Jahren wieder in die Offentlichkeit einfiihrten und das im kollektiven Gedachtnis der Serben (vor allem in der miindlich iiberlieferten epischen Erinnerungs- bzw. Populiirkultur) gepflegte Feindbild aufwerteten und belebten. Die Erinnerungskultur der bosnischen Muslime, der Bosniaken, war notgedrungen weitgehend durch Defensivitat gepragt. Die Voraussetzungen dafiir, dass sich eine dem bosnisch-herzegowinischen Staat loyale politische Identitat herausbilden konnte, waren fUr die Volksgruppen nur in geringem MaBe gegeben. Historisch gesehen fehlten sie, weil es den modernen zentralistischen (Rechts)Staat in Bosnien-Herzegowina so gut wie nicht gegeben hatte. Als die Hohe Pforte mit den entsprechenden Reformansatzen experimentierte (Tanzimat-Periode) und etwa eine einheitliche staatliche Steuer durchsetzen wollte, gehorten gerade die bosnischen lokalen Herrscher zu den heftigsten Widersachern der Reformen. Die von der osterreichisch-ungarischen Monarchie eingefiihrte Verwaltung und Rechtsordnung war alles andere als geeignet, eine staatstreue Mentalitat aller Biirger zu fOrdern, wenngleich mit ihr zum ersten Mal integrative MaBnahmen und Ansatze zentral-staatlicher Organisation zur Geltung kamen. Das erste wie das zweite Jugoslawien wiederum waren so wenig Rechtsstaaten, dass sie Loyalitiit nur erzwingen, jedenfalls keinen Staats-
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biirgersinn hervorbringen konnten. Mangelnde demokratische Kultur in den sozialistischen Zeiten trug dazu bei, dass zwischen der Gesellschaft und dem Staat keine Kommunikation zustande kam und so etwas wie eine Biirgerkultur auch nicht ansatzweise aufgebaut wurde. Diese M1Ingel wirkten sich wiederum bei den einzelnen Volksgruppen unterscbiedlich aus, auch weil es generell an einem modernen Staatsbewusstsein fehlte, das sich nicht primiir tiber nationale Gemeinden definiert hlitte. Anders als in Westeuropa, wo eine bestimmte gescbichtliche (postfeudale) Form der staatlichen Organisation die Grundlage fUr die Entstehung der Nationalstaaten bildete, formten sich bier zuniichst Nationalbewegungen mit mehr oder minder ausgepriigten Zielsetzungen der staatlichen Unabh1l.ngigkeit. Da die nationalen Gemeinschaften mit den staatlichen Gebilden nicht tibereinstimmten, formierten sich die primiiren Loyalitiiten zur eigenen Volksgruppe und die sekundaren - wenn tiberhaupt - zum Staat als Ordnungsprinzip. Dieser Umstand betraf das jugoslawische Staatsgebilde im Allgemeinen und BosnienHerzegowina im Besonderen. (~ Kap. 14). Die konkurrierenden Loyalitiitsverhiiltnisse wurden durch den Zerfall Jugoslawiens dramatisch aufgewirbelt. Die Verselbst1lndigung der Republiken war generell eine Aufkiindigung der Loyalitiit dem foderalen Gesamtstaat gegentiber, aber nur im Falle von Slowenien konnten die Staatlichkeit und die Nation in Deckung gebracht werden, ohne einen Loyalitiitszwiespalt auszulosen. Bei den staatlichen Neugriindungen konnte man deshalb meistens nur mit der Loyalitiit jener Biirgergruppen rechnen, die in dem neuen Staat ihren Nationalstaat sahen. Das war schon in Kroatien das Problem, im Falle von Bosnien-Herzegowina, das eo ipso kein Nationalstaat sein kann, taucht der Loyalitiitzwiespalt in extremer Form auf, weil diese neue Republik eigentlich nur auf der Basis der staatsbiirgerlichen Loyalitiit tiberleben kann, diese aber kaum vorhanden ist. Hier lassen sich folgende Typen des Verhliltnisses der Volksgruppen zur bosnischherzegowinischen Staatlichkeit beobachten: 1. Die tiber Jahrzehnte unterschwellige, doch ungebrochene Tradition beim GroBteil der Serben war yom Bewusstsein gepriigt, dass Jugoslawien "ihr Staat" ist (L. Perovic), der im Zuge der Befreiung der einzelnen "serbischen L1Inder" entstanden war. Uber die Vorstellung von "serbischen L1Indem", die sich iiber ein bistorisch gewachsenes Gebilde wie Bosnien-Herzegowina (und iihnlich auch in Kroatien) mit seinen Eigenarten und Traditionen hinwegsetzte, war bier die Loyalitiit zur eigenen Volksgruppe mit der zum Gesamtstaat in Deckung gebracht, an dem ein relativ groBer Teil Serben aktiv politisch teilnahm. Eine diese Loyalitiit konkurrierende Loyalitiit dem bosnisch-herzegowinischen Staat gegeniiber war fUr den GroBteil der serbischen Bevolkerung schwer denkbar. 2. Unter den bosnischen Kroaten waren die Mentalitiiten in diesem Zusammenhang anders ausgepriigt. Ihre primiire Loyalitiit gegeniiber der eigenen Volksgruppe war eng mit dem katholischen Christentum und der starken franziskanischen Tradition verbunden und somit durch die lebhafte Erinnerung an die bosnische bistorische Kontinuitiit bestimmt. Die Staatsgebilde der neueren Gescbichte galten als fremd; das betrafweitgehend auch die Zeit der osterreicbisch-ungarischen Herrschaft, die fUr die katholischen Kroaten enttiiuschend verlief, ganz zu schweigen von den beiden jugoslawischen Staaten. Das Staatsgebilde unter dem Namen Unabh1l.ngiger Staat Kroatien (NDH) 1941-
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1945 hatte zwar gerade unter den Kroaten im annektierten Bosnien-Herzegowina verhaltnismiillig viele Anhanger, die das ethno-nationale Projekt eines GroBkroatien unterstiitzten, doch von der staatlichen Ordnung her war dieser Unrechtstaat nicht nur im administrativen Sinne ein Chaos; die Herrschaft war nicht fremd, aber es handelte sich auch nicht urn einen Staat und urn eine Ordnung, die staatsbiirgerliche Identitat hatte fOrdern konnen; seinen ethnizistisch-eliminatorischen Ansatz kann man mit der groBen Unordnung gleichsetzen, und so war auch der Biirgerkrieg seine unmittelbare Folge. Zu jugoslawischen Zeiten hielten sich die bosnischen Kroaten yom offentlichen und politischen Leben mehrheitlich fern. Auf ihnen lastete auBerdem die Hypothek der Ustascha-Vergangenheit, die generalisiert wurde, und das hieB in der Praxis, dass die Kroaten in dem politisch stark von Serben dominierten Bosnien-Herzegowina gewissermaBen einer kollektiven Repression ausgesetzt waren. Die Folge war ihre massenhafte Auswanderung. Die dominanten Werte dieser Mentalitat - Katholizismus und Kroatentum - lieBen sich mit dem ideologischen Staat weder auf der jugoslawischen noch auf der Republikebene in Einklang bringen. Die so gebildeten Identitaten der Heimatverbundenheit und der engen Bindung an die katholische Kirche begiinstigten in der Umbruchsituation ein Ubergewicht der nationalen vor der politischen Loyalitat gegeniiber der sich verselbstandigenden Republik. Obwohl sich die Mehrheit der bosnischen Kroaten bei der Volksbefragung fUr die staatliche Unabhangigkeit entschied, befanden sie sich - angetrieben auch durch die nationalistische Politik von auBen - in einem Dilemma zwischen einer die Staatsgrenzen iibergreifenden nationalen Identitat und einer rudimentaren staatspolitischen Identitat. Erst die schmerzhaften Erfahrungen des Krieges und das Scheitern der Teilungsplane in der Nach-Dayton-Zeit scheinen die Orientierung an Kroatien etwas gedampft und die Besinnung auf die eigene bosnischkroatische Identitat mit ihrer starken Tradition und dem langen Geschichtsbewusstsein in den Vordergrund geruckt zu haben. Doch auch vorher schon war unter den Eliten der bosnischen Kroaten eine zwiespaltige Haltung gegeniiber der Orientierung an Kroatien und der Vereinnahmung durch die Bosnien-Politik des kroatischen Prasidenten zu beobachten. Objektiv gesehen war diese Politik, die durch die von Franjo Tudman kontrollierte bosnische HDZ und ihre Funktionare durchgefiibrt wurde, fUr gut drei Viertel der in Bosnien, auBerhalb der Herzegowina lebenden kroatischen Population verheerend. (Von knapp 800.000 Kroaten lebten der letzten Volkszahlung zufolge etwa 150.000 in der Herzegowina, die iibrige Mehrheit in so gut wie allen Gemeinden des Landes und etwas kompakter in Zentralbosnien und Posavina.) Offen eingetreten fUr die Erhaltung des bosnisch-herzegowinischen Staates waren weite Teile der katholischen Kirche, der stadtischen kroatischen Population sowie Kroaten aus jenen Regionen, in denen ihr Uberleben mit demjenigen des Staates Bosnien-Herzegowina unlosbar verkniipft war. Dennoch entstand daraus keine gemeinsame politische Linie, die jenen zunehmend machtigeren Kraften, deren politi scher Mittelpunkt auBerhalb des Landes und auf jeden Fall weit weg von Sarajevo war, wirksam hatte begegnen konnen; gleichwohl gelang es den Vertretern der genannten Gruppen und Institutionen, in Sarajevo Anfang Februar 1994 eine "Volksversammlung der Kroaten Bosnien-Herzegowinas" abzuhalten, die als Grundlage fUr die kiinftige bosnische Verfassung den Plan einer Kantonisierung als Alternative zur
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ethnisch definierten TeilWlg vorschlug. Eine Strategie gegeniiber der dominanten bosniakischen Linie vemlisst man bis heute. 3. Die historische Genesis der Volksgruppe der moslemischen Bosniaken spiegelt sich in ihrer staatspolitischen Mentalitiit wider. Die Wurzeln ihrer historisch gepriigten Eigenheit sind mit der Zeit der osmanischen Herrschaft verkniipft, die eine OrdnWlgsMacht war, aber gleichzeitig ein Vielvolkerimperium von feudal-iihnlicher Machtorganisation. Erste Elemente moderner Staatlichkeit setzen sich eigentlich erst in der Phase des Zerfalls des Osmanischen Reiches durch. Deshalb war die kulturell-religios gepriigte Identitiit der bosnischen Muslime mit vormodemen, quasifeudalen Herrschaftsstrukturen des osmanischen Bosnien verbWlden Wld nach dem Reichszerfall einer dramatischen UmwandlWlg ausgesetzt. Das Verhiiltnis zur Obrigkeit in k.u.k. Wld jugoslawischen Zeiten war durch die ErwartWlg an den Staat als eine Art Schutzmacht fUr die eigene Besonderheit in der mehr oder Minder feindlichen UmgebWlg gepriigt, was auch die ErhaltWlg der traditionellen Privilegien beinhaltete. 1m sozialistischen Jugoslawien wurden diese Privilegien restlos abgeschafR Wld die reichen moslemischen GroBgrundbesitzer (Begs) endgilltig enteignet, doch mit der schrittweisen AnerkennWlg als eigene Volksgruppe - vor allem dadurch, dass man es ihnen erlieB, sich ethnisch als entweder Kroaten oder Serben zu deklarieren - wurden Bedingoogen fUr die nationale Integration geschaffen. Die jugoslawische Nationalitiitenpolitik war also - sofem man nur den Aspekt der formellen Gleichberechtigoog der Nationen in Betracht zieht - fUr die bosnischen Muslime vorteilhaft. Der Staat als der schiitzende Gesamtrahmen entsprach auch der geschichtlich gepriigten Mentalitiit der bosnischen Muslime Wld den ErwartWlgen, dass iibergeordnete Strukturen fUr die Stabilitiit des politischen Systems Wld die OrdnWlg Wlter den Volksgruppen sorgten. So hatte sich das Integrationsparadigma von der kultur-religosen sozio-okonomisch hierarchisierten Sondergruppe in RichtWlg einer nationalen Identitiit gewandelt. Weite Teile der muslimischen Elite zeichneten sich durch besondere Loyalitiit dem jugoslawischen Staat gegeniiber Wld als besonders stramme Kommunisten aus. Almlich wie bei den Kosovo-Albanern konnte hier kommunistischen FWlktioniiren, weil sie bosnische Interessen durchzusetzen im Stande waren, die Rolle von Nationalhelden zufallen (z.B. den Briidem Pozderac in den siebziger Jahren, Fikret Abdic in den Achtzigern). Der bosnische Kulturhistoriker Ivan Lovrenovic spricht gar von einer "Wiedergeburt des Landes" in den siebziger Jahren, die paradoxerweise von diesen rigiden, Tito ergebenen Kommunisten eingeleitet wurde Wld strukturell mit dem ,,Kahlschlag in den Reihen des ,kroatischen Friihlings' Wld der ,serbischen Liberalen'" im Zusammenhang stand, dessen Folge eine verstiirkte wirtschaftliche, infrastrukturelle Wld kulturelle EntwicklWlg der "braven" Wld zugleich Wlterentwickelten Republiken war. (7 Kap. 13) Der Prozess der NationswerdWlg brachte eine stiirkere AnpassWlg an die modeme EntwicklWlg mit sich, was wiederum eine immer breitere SiikularisiefWlg zur Folge hatte. Uberraschenderweise wurde die Orientieroog der bosnisch-moslemischen Eliten an den westeuropiiischen Werten Wld dem westlichen Lebensstil gerade wahrend der letzten Jahrzehnte des ideologisch antiwestlichen Jugoslawien weitgehend Wlumkehrbar, trotz aller VerbriimWlg mit der Parteiideologie in der OfIentlichkeit. Hier war die Rolle der neu geschafIenen BildWlgsmoglichkeiten von groBer BedeutWlg (7
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Kap. 18). Nachdem Bosnien-Herzegowina unter osterreichischer Herrschaft in das westliche Kultursystem eingegliedert wurde, schritt nlimlich gerade unter den Muslimen die Entwicklung des Schulwesens und der Einbezug in die institutionalisierte Bildung nur langsam voran. Erst in den siebziger Jahren wirkte sich der zlihe Prozess der Ablosung des alten Kulturparadigmas voll aus, als breitere Schichten der muslimischen, auch weiblichen, Bevolkerung durch das institutionalisierte Bildungssystem gesellschaftlich integriert wurden. In den Kreisen der GUiubigen wurden die Prozesse der Sakularisienmg, die freilich von der kommunistischen Obrigkeit gezielt betrieben wurden, als bedrohlich empfunden, und so ist auch die bekannte "Islamische Deklaration" (1970) von Alija Izetbegovic als eine Denkschrift zu verstehen, die die traditionellen Werte der islamischen Kultur und Religion im Sinne einer "Versohnung zwischen der islamischen religiosen Tradition mit dem Fortschritt" emeuem wollte (Banac 1993). Ausgehend von der hier skizzierten Genese der bosniakischen nationalen Identitat leuchtet ein, dass sie mit den Loyalitatsverhaltnissen zum Gesamtstaat nicht kollidierte, da durch ihn die Rahmenbedingungen fUr ihre Ausbildung gegeben waren. Alija Izetbegovic wurde 1983 wegen seiner ,,Deklaration", d.h. wegen staatsfeindlichen "Fundamentalismus" angeklagt und zu einer hohen Freiheitsstrafe (14 Jahre) verurteilt, aber diese Anklagepunkte entbehrten jeder rechtlichen Grundlage, zumal die Deklaration Bosnien-Herzegowina uberhaupt nicht behandelt. Die Ereignisse sind aber bezeichnend in zweierlei Hinsicht: 1) Die kleine ,,Bewegung" urn Izetbegovic integrierte sich damals noch urn kulturell-religiose Themen, wobei sie explizite antinationalistisch argumentierte und 2) strittig war die kommunistische Weltanschauung, aber nicht der gemeinsame Gesamtstaat. Daraus lasst sich schlieBen, dass die nationale Integration der Bosniaken in den Anfangen steckte und dieser Prozess nicht unter einem der jugoslawischen Loyalitat konkurrenten Vorzeichen stattfand. Von einem unabhangigen bosnischen Staat wurde nicht einmal getraurnt. Deshalb brachte der sich abzeichnende Zerfall Jugosiawiens in die Gemeinschaft der bosnischen Muslime zunachst groBe Orientierungs!osigkeit und Unsicherheiten. Erst als dieser staatliche Gesamtrahmen weggefallen war, nachdem also die beiden westlichen Republiken endgilltig den Weg in die Selbstandigkeit beschritten hatten, war der jugoslawische Reststaat fUr die Bosniaken nicht mehr tragbar, da sich auBerdem abzeichnete, dass sie in einem so1chen Staat zur Minderheit werden und damit rechnen mussten, die Rechte als Titulamation zu verlieren. In Bezug auf die Verselbstandigung von Bosnien-Herzegowina konnte sich fUr die bosnischen Muslime kein vergleichbares Dilemma zwischen nationaler und staatsbilrgerlicher Loyalitat ergeben, vielmehr begannen sie, als sich bosnische Kroaten und Serben an ihren Konnationalen auBerhalb Bosnien-Herzegowinas orientierten, sich sChlieBlich als einzige staatstragende Kraft zu verstehen, die das Vakuurn der ubergeordneten Ordnung fillien konnte. Hier auch liegt die Kehrseite dieser Haltung, da Bosnien-Herzegowina kein Nationalstaat sein kann und seine Verfassung von allen Volksgruppen geradezu verlangt, die staatsbilrgerliche Loyalitat uber die nationale zu stellen. Der bosniakische nationalistische Exklusivismus, der fUr die muslimischen Bosniaken den Status eines ,,Basisvolks" beansprucht, steht darnit auch im Widerspruch zur offiziellen politischen Verfassung Bosni-
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en-Herzegowinas, die durch drei konstitutionelle Volker getragen wird. So wurde auch Izetbegovics politisches Konzept einer ,,Biirgerrepublik", das sich durch Schwammigkeit und Undefiniertheit auszeichnete. als reine Rhetorik aufgenommen, die die ideologische Grundkonzeption yom ,,Basisvolk" verschleiern sollte. Letztlich geht es auch in diesem Falle darum, den Staat als Ausdruck der Nation zu verstehen - ein Konzept, das der staatlichen Verfassung von Bosnien-Herzegowina nicht entspricht. Dennoch ist es langerfristig als wichtig anzusehen, dass die Bosniaken sich als Volk etabliert haben und so mit ihrem neuen Selbstbewusstsein ein Faktor der Stabilitiit im schwierigen Gleichgewicht der drei Volker werden, da die Vereinnahmungen und Teilungsabsichten ihren ideologischen Ursprung in der kroatischen und vor allem serbischen Leugnung der bosniakischen Nation hatten. Dieser Prozess der nationalen Integration wurde wiihrend des Krieges beschleunigt. Trotz verstarkter islamistischer Tendenzen iiberwog die Konstituierung der Gemeinschaft iiber das Paradigma der nationalen Identititat, was sich iiuBerlich in der iiberwiiltigenden Bereitschaft einer Identifizierung mit dem nationalen Namen der Bosniaken gegeniiber der als oktroyiert empfundenen Bezeichnung ,,Muslime" zeigte (~Kap. 12). Mit der Proklamation yom September 1993 als ,,Bosniaken" statt als Muslime "gliederten sich die bosnischen Muslime terminologisch endgilltig in den europiiischen kulturellen und politischen Kontext" ein (S. DZaja), denn mit dem bosniakischen Namen ist der Anspruch verbunden, "den konfessionellen Inhalt im NationalbegrifI aufzuheben" (M. Imamovic). So kann man zusammenfassend sagen, dass ihre "Wurzel zwar konfessionell, also nicht ethnisch ableitbar", sie dennoch ,,zusammen mit der stabilen Regionalidentitat heute eine moderne nationale Identitiit" bilden (L. Steindorfl). Den gegenwiirtigen Tendenzen zum kulturell und konfessionell betonten Exklusivismus der Bosniaken kann man dennoch keinen generellen Hang zum Fundamentalismus unterstellen (~ Kap. 1S). Allerdings kann bei so ausgepriigten nationalen Identitaten und gleichzeitig mangeJnden staatsbiirgerlichen Tugenden unter allen konstitutiven Volkern der gemeinsame staatliche Rahmen nur mit internationaler Hilfe aufgebaut werden, wie es jetzt nach dem Krieg und dem Dayton-Abkommen auch geschieht.
26.2. Das Vorspiel des bosniakisch-kroatischen Konflikts Vor dem Krieg spielten die unterschiedlichen Erwartungen und mentalen Priidispositionen auf noch unausdrUckliche Art und Weise - wenn man von den sorgsam gepflegten gegenseitigen Vorurteilen absieht - eine wichtige Rolle bei der Zuspitzung der bosniakisch-kroatischen Missverstandnisse und Konflikte. Der iiberwiiltigende politische Wille Kroatiens (und Sloweniens) zur staatlichen Unabhangigkeit schuf fUr Bosnien-Herzegowina und insbesondere fUr die Bosniaken eine neue Lage, die, wesentlich ohne ihr Handeln zustande gekommen, doch gerade fUr sie selbst ernsthafte Konsequenzen hatte, auf die sie in keiner Weise vorbereitet waren. Vor diesem Hintergrund sind auch zahlreiche politische Unklarheiten auf Seiten der politischen FUhrer der Muslime zu sehen, Unklarheiten, die - vor allem wiihrend der serbischen Aggression gegen die beiden westlichen Republiken - durchaus als folgen-
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reiche politische Fehler erschienen. Ais folgenreichster Faktor ist allerdings die allgemeine Fehleinschatzung zu nennen, die darin bestand, dass anscheinend viele Muslime dachten, sie batten gegeniiber den Serben in Bosnien-Herzegowina und gegeniiber Belgrad iiberhaupt einen politischen Spielraum. Man konnte oder wollte sich die Wucht der Aggressivitiit speziell gegen Muslime nicht vorstellen - und dies war unter anderem eine Folge der friiheren Politik Sarajevos, den serbischen Nationalismus zu verharmlosen und Milosevic gegenuber klein beizugeben (7 Kap. \3). Es hat narnlich den Anschein, als hatten die Muslime die jahrelange anti-moslemische Propaganda der serbischen Intellektuellen ignoriert und nicht wahrhaben wollen. Fiir die politischen Entscheidungen in Bosnien-Herzegowina war der Krieg in Kroatien von fundamentaler Bedeutung, nicht nur deshalb, weil er die Wahrnehmung der Kroaten in Bosnien-Herzegowina selbstverstandlich in besonderer Weise bedingte. Trotz widerspriichlicher Reaktionen der bosnischen Politiker auf den Krieg in der Nachbarrepublik offenbarte das Verhalten der Mehrheit beider Volksgruppen wahrend der Volksbefragung iiber die Unabh1ingigkeit der Republik den Willen, sich dem Zugriff Belgrads zu entziehen. Sie beteiligten sich massiv am Referendum iiber die Unabbangigkeit von Bosnien-Herzegowina am 29. Februar und 1. Marz 1992. Insgesamt sind 64 Prozent der Wiihler zur Urne gegangen und 99 Prozent stimmten fUr ein souveranes und unabhangiges Bosnien-Herzegowina. Wie aus diesen ZaWen zu ersehen, blieben die bosnischen Serben der Volksabstimmung fern, mit Ausnahme mancher urbaner Zentren. Die Tatsache, dass es eine so hohe Zustimmung der Kroaten zum bosnischherzegowinischen Staat gab, scheint bis heute von niemandem in ihrer ganzen Tragweite bewertet worden zu sein. Die starkste politische Gruppierung der bosnischen Kroaten, die Anfang 1990 gegriindete HDZ, war zwar ein Ableger der HDZ in Kroatien, doch zunachst setzte sich ihre Fiihrung mit Stjepan Kljujic an der Spitze fUr ein ungeteiltes Bosnien-Herzegowina ein. Der Einfluss Zagrebs auf die bosnische HDZ war vor allem nach der Ubernahme der Parteispitze durch den Tudman ergebenen Mate Boban (Friihjahr 1992 bis Friihjahr 1994) erdriickend; dieser wollte schon bei der Formulierung des Referendums eine Zusatzfrage iiber die Strukturierung des Staates nach ,,nationalen Kantonen" durchsetzen. Dennoch erkannte Kroatien als einer der ersten Staaten Bosnien-Herzegowina als unabhangigen Staat an und entsandte bald seine diplomatische Vertretung nach Sarajevo. Dies stand im Einklang mit der Volksabstimmung, allerdings war von amerikanischer Seite die Anerkennung Kroatiens an die Bedingung der kroatischen Anerkennung des Nachbarstaates gekniipft. Der bosnische Prasident Izetbegovic, der Vorsitzende der muslimischen, 1990 gegriindeten Partei der Demokratischen Aktion (SDA), war genotigt zu taktieren und auf Zeit zu spielen, wamend die Ereignisse sich uberstiirzten. Es wurde dennoch immer klarer, dass es zur Unabhangigkeit der Republik von Milosevics Belgrad - von einem Jugoslawien ,,nur fUr Serben", wie Izetbegovic es nannte - keine Alternative gab. Kontrovers wurde Izetbegovics Erklarung (September 1991) diskutiert, wonach der ,,Krieg in Kroatien nicht unser Krieg" seL Izetbegovic wollte den Satz als Begriindung fUr die Weigerung gesagt haben, Soldaten aus Bosnien-Herzegowina in den Krieg ziehen zu lassen. Man kann ihn aber auch als einen Akt der unsolidarischen Quasi-Neutra-
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liHit interpretieren, wie es kroatischerseits durchaus passierte. Als spater Oberst Sefer Halilovic, der als Kommandierender in der JVA wegen der Angriffe auf die kroatische Stadt Zadar besonders betiichtigt war, von Izetbegovic zwn Oberbefehlshaber der bosnischen Streitkriifte emannt wurde, verstand man dies als offene Btiiskierung. Eine der auffalligsten Auswirkungen des Krieges in Kroatien auf das kroatisch-muslimische Verhaltnis in Bosnien-Herzegowina war, dass sich viele bosnische Kroaten als Freiwillige an der Verteidigung Kroatiens beteiligten. Unter den Freiwilligen gab es auch bosnische Muslime, aber doch eher als Ausnahme. (ijbrigens nahmen kroatische BUrger nicht-kroatischer Herkunft - Albaner, Muslime, Serben - an der Verteidigung teil, manche gar in f'iihrenden Positionen in der Kroatischen Armee, wie Rahim Ademi und der Slowene Karl Gorinsek.) Die Solidaritat der BevOlkerung mit dem angegriffenen Kroatien war in Bosnien-Herzegowina nach ethnischen ZugehOrigkeiten geteilt. Dass Krieg herrscht, war eine Sache der ethnisch selektiven Wahmehmung. Der englische Historiker Noel Malcolm verweist in seiner Analyse der kroatischen Politik gegeniiber Bosnien-Herzegowina auf den ausschlaggebenden Einfluss hin, den die konfuse, unentschlossene und undurchsichtige Politik des Westens auf Tudmans Entscheidungen gespielt hat. Hatten die Weltmachte kIar gemacht, dass sie keine Teilung Bosnien-Herzegowinas (und dies hieB zunachst Annexion und Eroberung von 60-70 Prozent seines Territoriums durch die serbische Seite) hinnehmen wiirden, "hatte sich Tudman wahrscheinlich auch daran gehaJten". AhnIiches berichtet in seinen Memoiren der letzte amerikanische Botschafter in Jugoslawien, Warren Zimmerman. Die zweite verheerende Folge war durch die sog. "ethnische Sauberung" der serbischerseits eroberten und usurpierten Gebiete entstanden, weil die Vertreibungen von kolossalen Ausmafien direkt zur Eskalation der interethnischen Spannung unter beiden betroffenen Volksgruppen fiihrten - ein Szenario, das 1999 durch den Volkermord an den Kosovo-Albanem und beispielloseVertreibungen noch weit iibertroffen wurde und in den Nachbarlandem Albanien, Makedonien und der jugoslawischen Teilrepublik Montenegro zu einer katastrophalen Destabilisierung fiihrte. Es ist ganz offensichtlich, dass es vor den Eroberungen und den Vertreibungen durch die Serben unter den Kroaten und Bosniaken keine Vertreibungsfalle gab. Doch das Versagen des Westens gegenuber der serbischen Okkupation kann nicht auf eine Stufe mit der Aggression selbst gestellt werden, und es kann Tudman von der Eigenverantwortlichkeit nicht freisprechen. Die intemationale Gemeinschaft lieB zwar den Spielraum ffu verschiedene Optionen frei, aber es war Tudman, der sich Chancen ffu die VerwirkIichung seiner Vorstellungen errechnete und politisch vorbereitete.
26.3. Kroatiens Ziele in Bosnien-Herzegowina
Von seiner geopolitischen Lage her hat Kroatien vielfaltige - geschichtliche, ethnische, okonomische und verkehrsmaJ3ige - Beziehungen zwn bosnischen Nachbarstaat, und eine politische Prioritat dieses Raumes ffu Kroatien ist an sich legitim, umso mehr war sie es in der historischen Lage der Auflosung des gemeinsamen Staates und des Krieges, der beide Republiken traf. Rein unter militarischen Gesichtspunkten betrachtet,
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Hisst sich keine vemiinftige Verteidigungsstrategie ohne das bosnische Hinterland etwa in Dalmatien aufbauen. Dies beeinflusste auch andere politisch-strategische Uberlegungen als nUT die herrschende Linie Tudmans. Obwohl diese Politik von Widerspriichen gekennzeichnet war, hat Franjo Tudman recht friih klar gemacht, dass das Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen, das Kroatien fUr sich in Anspruch nahm, bezogen auf Bosnien-Herzegowina nicht unbedingt gelten musste. Seine Vision orientierte sich anscheinend an der historischen ,,Banovina"-Losung von 1939, also an dem unter besonderen geschichtlichen Umstanden des Konigsjugoslawien dUTCh Macek und Cvetkovic erzielten ,,kroatisch-serbischen Ausgleich" (Sporazum ~ Kap. 10). Mit dieser Vision konnte er auf UnterstUtzung bei den herzegowinischen Kroaten rechnen, und sie hat sich bei den Wahlerfolgen der HDZ ausgezahlt. Typisch fUr die Verbindung war der aus Herzegowina stammende kroatische Verteidigungsminister Gojko SuSak. Aber schon ihre Andeutung kiindigte einen illegitimen territorialen Anspruch auf Bosnien-Herzegowina an und erkUirte es zur Konkursmasse des zerfallenden Jugosiawien. Diese Uberlegungen waren dariiber hinaus politisch unrealistisch, weil trotz des Krieges, mit dem Miiosevic die alten groBserbischen Plane verwirklichen wollte, die realen gesellschaftlichen und nationalen Umstande sich injeder Hinsicht vonjenen des Abkommens von 1939 unterschieden. Ende 1991 spricht Tudman offentlich fiber die Losung, die seiner Meinung nach den Krieg verhindem konnte und in einem kroatisch-serbischen Abkommen fiber eine territoriale Aufteilung in Bosnien-Herzegowina liege: "Serbien bekame das Seine (sic!) diesseits der Drina, und gleichzeitig wiirde sich Kroatien seine Teile (sic!) anschlieBen". Was die Muslime anging, so "bekamen sie einen Teil von Bosnien", in dem sie die Mehrheit stellten. Dieses wiirde eine Pufferzone zwischen Kroatien und Serbien bilden, und sornit wiirde "das koloniale Gebilde Bosnien-Herzegowina verschwinden" (Slobodna Dalmacija 31.12.1991; Lovrenovic). Man kann aber Maceks Banovina-Losung nicht als ein "anti-muslimisches" Konzept bewerten, wie es - unter Missachtung des historischen Rahmens - des ofteren geschieht. Die (schwach) autonome Banschaft Kroatien war ja kein vordergriindig ethnisches Konzept; es hat Teile einer rigiden - serbischen Interessen dienenden - administrativen Aufteilung in der neuen Banschaft geeint und keine bestehende Einheit zerteilt. Der Sporazum von 1939 war fUr die Muslime enttauschend, aber die politische Idee einiger muslimischer Politiker (Mehmed Spaho, Dzafer-beg Kulenovic) fiber eine vierte Einheit BosnienHerzegowina lag im Bereich der Utopie. Das andere kroatische Projekt in Bezug auf Bosnien-Herzegowina, dasjenige der kleinen rechtsradikalen Partei (Partei des Rechts, HSP), war gleichfalls anachronistisch. Es berief sich auf das Erbe des Ustascha-Staates und entwarf als Ziel die bosnische Grenze zu Serbien an der Drina, ein Ziel, das man gemeinsam mit den muslimischen Bosniaken erreichen wollte. Beide Visionen orientierten sich also an historischen, fiberholten und auch kompromittierten Vorbildem und fibersahen, dass sich in der Realitiit die bosnischen Muslime schon als eine Nation konstituiert hatten. Die Ansicht, dass Bosnien-Herzegowina das gleiche Recht wie Kroatien hat, in seinen Grenzen ungeteilt, aber mit einer besonderen, allen seinen konstitutiven Volkem gemiillen Verfassung weiter zu bestehen, hatte sich politisch zu wenig profiliert. Reaktionen in der unabhangigen Offentlichkeit zufolge wurde sie wahrscheinlich von einer
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Mehrheit in Kroatien selbst geteilt. Obwohl sich namhaf'te Intellektuelle (wie Ivo Banac, Slavko Goldstein, Vlado Gotovac, Mirko Kovac, Nenad Popovic) und einige Oppositionspolitiker (Ante Kovacevic, Dobroslav Paraga, DraZen Budisa) gegen Toomans Politik und fUr einen Erhalt des bosnisch-herzegowinischen Staates ausgesprochen hatten, wurde kein klares Gegenprogramm artikuliert. Zagrebs ambivalentes Verhalten in Bezug auf die territoriale Integritiit Bosnien-Herzegowinas wirkte sich schlidigend auf das ohnehin schwache Biindnis mit Sarajevo aus und lieB es zuweilen vollkommen unglaubwiirdig erscheinen. Die spateren separaten Verhandlungen mit den Serben - so das beriichtigte Treffen von Mate Boban und Radovan KaradZic in Graz am 6. Mai 1992 - die man Paktieren mit dem "eigenen Henker" nannte, konnten allein als ,,Biindnisverrat" gesehen werden. Diese Zweigleisigkeit der kroatischen Politik traf aber auch die bosnischen Kroaten selbst schwer. Tudmans Politik untergrub von Anfang an ihre verfassungsm1iBige Position als gleichberechtigtes konstitutives Yolk von Bosnien-Herzegowina, instrumentalisierte sie als territoriale Platzhalter fUr seine Visionen der VergroBerung des kroatischen Territoriums und fiibrte zu einer Spaltung der kroatischen Gemeinschaft im Nachbarstaat in - grob gesprochen - bosnische und herzegowinische Kroaten.
26.4. Die ungleiche Verteidigung des Landes und der Zankapfel Mostar Die serbische Aggression stieB zunachst nur in der Westherzegowina auf ernsthaften bewaffneten Widerstand, denn die dortigen Kroaten hatten im April 1992 den Kroatischen Verteidigungsrat (HVO = Hrvatsko Vijece Obrane) gegriindet, wobei sie von den aufgelosten kroatischen paramilitiirischen Einheiten (HOS) unterstiitzt wurden, die sich nach den Klimpfen in Kroatien (Vukovar) dem Zugriff der Kroatischen Armee (HV) entziehen wollten. Die etwa 15.000 Kampfer in dieser Region wurden in etwa gleicher Zahl von Soldaten der Kroatischen Armee unterstiitzt, die auch fiber einige schwere Waffen verfiigten. In Mostar kampften die bosnischen Muslime in den Einheiten der HVO und behielten gleichzeitig ihre Verteidigungsorganisationen (Patriotische Liga und Griine Barette). Am 16. Juni 1992 unterschrieben die Prasidenten Izetbegovic und Tudman ein Biindnis, wodurch die Beteiligung der Kroatischen Armee bei der Verteidigung rechtens wurde. Gleichzeitig fibte man kroatischerseits auf verschiedenen Ebenen immer starkeren Druck auf Alija Izetbegovic aus, in eine - nicht niiher bestimmte - Konfdderation mit Kroatien einzuwilligen. Mate Boban, der die ganze Macht in der bosnischen HDZ an sich riss, suchte den schwacheren Verbiindeten durch Entzug von militiirischer Hilfe und Waffenlieferungen zu erpressen. Nachdem Izetbegovic eine konfdderative Einigung abgelehnt hatte, wurde Anfang Juli 1992 die Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna erklllrt, zunachst allerdings als "provisorische Losung" deklariert. Aus strategischen Gesichtspunkten war es somit wichtig, dass in der Westherzegowina die einzige Staatsgrenze verteidigt wurde, wiihrend alle anderen unter serbischer Kontrolle waren. Sarajevo freilich hatte auch fiber die einzig verbliebene keine Kontrolle. Es gab diesbeziiglich anscheinend auch auf hOchster Ebene keine Absprachen,
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noch wurden zwischen den Fiihrungen Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas bzw. den beiden Prasidenten Tudman und Izetbegovic einheitliche strategische Ziele festgelegt. Die nahe liegende Einigung aus strategischem Aufeinander-Angewiesensein beider Lander blieb aIs Option weitgehend aul3er Acht. Die zivile Verwaltung Mostars oblag den 1990 gewahlten Politikem der siegreichen bosnischen HDZ, die mit muslimischen Kommunalpolitikem der SDA lose koalierten. Mostar war ein wichtiger militanscher Stiitzpunkt der NA mit groBen Kasemen in der Stadt und Umgebung (Luftwaffe und Rilstungsindustrie). Als die serbische Eroberung Bosnien-Herzegowinas begann, war die Stadt durch diese vorgegebene Lage schon wie belagert. Nach dem serbischen GroBangriffim April 1992 von den Kasemen im Ostteil der Stadt aus kam es zu erbitterten Kampfen, in deren Verlauf die historische Altstadt teilweise in Trilmmer gelegt und die alte Brilcke - wie die Mostarer meinten: gezielt - beschossen und beschiidigt wurde. Die Waffen fUr aile kroatisch-muslimischen Verteidiger kamen aus Kroatien. 1m Juni zogen sich die serbischen Truppen aus der Stadt in die Berge zurUck, von wo aus sie die Stadt noch immer beschieBen, aber nicht mehr einnehmen konnten. Ein GroBteil der serbischen Bewohner verlieB - nach ahnlichem Muster wie schon im Krieg gegen Kroatien - die Stadt unmittelbar darauf. TabelIe: ethnische Zusammensetzung Mostars (1991 und 1999): 1991 Gemeindebezirk Stadt Gesamt
Kroaten 21.242 21.795 43.037
Muslime 17.927 25.929 43.856
Serben 9.704 14.142 23.846
Jugoslawen Andere 1.203 677 11.555 2.444 12.768 3.121
QueUe: Erasmus 16,1996. Bevolkerung 1991 gesamt: 126.628; Stadt: 75.865 1999 West-Mostar Ost-Mostar Fliichtlinge WM Fliichtling OM
Kroaten 47.587 251 16.499 27
Bosniaken Serben 600 1083 49023 439 221 600 15.800 120
Jugoslawen Andere 788 208 86
Nach ojjizieUer Mitteilung von OHR & UNHCR vom 12.2.1999 (Mitteilung von Mustafa Alendar, Journalist aus Mostar). Angabenfor 2 Gemeinden (die dritte wurde nicht erfasst).
Die kroatischen FUhrer urn Mate Boban schrieben den militarischen Sieg allein sich selbst zu und wollten ihn in politische Macht urnwandeln, die sie mit niemandem zu teilen brauchten. Ihrer Linie der ,,kleinen ,groBkroatischen Losung'" (Rathfelder) standen die Vertreter der maximalistischen Strategie im Wege, die vor allem von der HSP (der Kroatischen Partei des Rechts) entwickelt und vor Ort mit der kampfstarken H OSTruppe unter dem Kommandanten Blaz Kraljevic verfolgt wurde. Kraljevic, den man zu den militarisch kompetentesten Kommandeuren zahlte, war der einflussreichste Verfechter der bosniakisch-kroatischen Kooperation in Herzegowina, worin man die Motive fUr seine heimtiickische Liquidierung Anfang August sieht, deren Umstande bis heute ungeklm geblieben sind. (~Kap. 22; ~ Kap.24). Massive Anschuldigungen in der Offentlichkeit gegen Mate Boban aIs Auftraggeber und eine Spezialtruppe der HVO
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und den beriichtigten Anfiihrer Mladen Naletilic, genannt Tuta, als Vollstrecker wurden nie dementiert. 1m Dezember (1992) lOste der HVO die Stadtverwaltung aufund ubemahm die Kontrolle uber die zivile Verwaltung. Der dem HVO als Vorwand dienende Verdacht, die Muslime hatten schleichend die zivilen Institutionen infiltriert, wurde nie ausgeraurnt. Gleichzeitig kamen Tausende muslimischer Fluchtlinge aus Ostbosnien nach Mostar und wurden im Ostteil der Stadt untergebracht. Die Masse der Fllichtlinge stellte ein emstes Problem dar, zumal sie vollends die ethnischen Relationen verschob. Die kroatischen Politiker in Mostar, von denen die wenigsten aus der Stadt selbst stammten, beharrten auf ihrer Vorherrschaft in einer ,,kroatischen Hauptstadt von Herceg-Bosna". Nachdem in Ostmostar das 4. Korps der entstehenden Armee der Republik BosnienHerzegowina (ARBiH) gegriindet wurde, wuchsen die Spannungen weiter. Andererseits kristallisierten sich die sezessionistischen Absichten des HVO in aller Eindeutigkeit heraus. Unter Mate Bobans FUhrung wurde der HVO letztlich zu einer Phalanx, die mit Gewalt die Ziele dieser einen politischen Partei durchzusetzen trachtete. Doch auBer in Mostar waren die serbischen Truppen in anderen Teilen weiterhin siegreich. Der HVO erlebte eine schwere und folgenreiche Niederlage nach aufreibenden Kampfen urn den Kupres-Pass, dem Tor nach Bosnien yom Westen aus. Spater baute der HVO eine Route uber die hochsten Gipfel (Vrana) der Herzegowina aus, urn Mittelbosnien mit dem Suden zu verbinden. Sie bekam den triftigen Namen ,,RettungsstraJ3e", denn sie war der einzige Weg in das Landesinnere. Wahrend es in Zentralbosnien (Novi Travnik, Prozor) zu ersten Feindseligkeiten und emsthaften bewaffueten Auseinandersetzungen zwischen den Verblindeten kam, brachen entscheidende Frontabschnitte unter serbischen Angriffen zusammen. Zu den direkten Folgen der kroatisch-muslimischen Feindseligkeiten in Mittelbosnien kann der Fall der strategisch wichtigen Stadt Jajce Ende Oktober gezahlt werden. Zuvor war schon in Nordbosnien Bosanski Brod und danach die weite urnliegende Region im Sava-Tal gefallen. Urn die Verteidigung und den Fall von Bosanski Brod werden bis heute Legenden gestrickt. (-7 Kap. 25) Als sicher kann gelten, dass die Verteidigung in Bosanski Brod mit erheblicher Untersrutzung aus Kroatien aufgebaut und nur dadurch aufrechterhalten werden konnte; dass die kroatischen Stiidte auf dem anderen Sava-Ufer (vor all em Slavonski Brod) unter standigem serbischen Beschuss lagen und Prasident Tudman am 1. Oktober den Ruckzug befahl. Danach hOrte der Granatenterror auf Slavonski Brod auf Nachdem 1zetbegovic und Tudman gemeinsam in Zagreb (1. November) die Feindseligkeiten und ZusammenstOJ3e in Mittelbosnien zwischen "einigen Einheiten der Armee BiH und des HVO" verdammt hatten, flauten sie in Mittelbosnien kurzzeitig ab, dafiir spitzten sich die Spannungen in Mostar zu. Zurn Hergang der betreffenden Ereignisse gibt es einander widersprechende Interpretationen der beiden Parteien. Der kroatischen Version zufolge batten sich die muslimischen Teile des HVO heimlich abgespalten und hinterbaltig die kroatischen HVO-Posten angegriffen. Die muslimische Version beginnt mit der kroatischen Belagerung der Fllichtlinge im Ostteil und der BeschieJ3ung und Vertreibung von Bosniaken aus dem Westteil der Stadt. Wer wen wann verraten hat, wird sich kaurnje objektiv feststellen lassen. Ein anonymer Mostarer fand dafiir die passende Formulierung: Die Kroaten batten den Krieg in Mostar
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ausgelOst, aber auch die Muslime waren bereit gewesen, ihn yom Zaun zu brechen (Erasmus, 16). Feststellbar ist, dass es in diesem Zeitraurn drei prekare Fronten gab-
Kupres-Pass, Jajce, Bosanski Brod - die vorwiegend yom HVO gehalten und dann verloren wurden. Diese Niederlagen sind auf den Konfliktkurs beider Seiten zuriickzufiihren und sollten im Zusammenhang mit der mangelnden Zusammenarbeit der Regierungen erkHirt werden; statt dessen hort man bis heute hauptsachlich gegenseitige Verratsbeschuldigungen der Parteien. Wenn zwischen Verbiindeten Misstrauen und nie ausgeraurnte Unstimmigkeiten herrschen, wird das Biindnis bruchig und aIle gemeinsamen Angelegenheiten fraglich. Eine solche prekare Angelegenheit ist die gemeinsame Waffenversorgung. In diesem Fall lag die Waffenlieferung an die bosnische Regierung in den H1tnden der Kroaten. Diese konnten die bosnische Regierung damit erpressen - womit sie recht fiiih tatsachlich anfmgen -, hatten aber auch berechtigte Angst, selbst von den Muslimen angegriffen zu werden. 26.5. Das verheerende Jahr 1993
Ais der Vance-Owen-Friedensplan Ende Januar den Parteien von Bosnien-Herzegowina vorgelegt wurde, kippte die wacklige bosniakisch-kroatische Allianz vollends urn. Es sind dabei zwei Dinge zu unterscheiden: l) dieser Plan war fUr Bosniaken und Kroaten giinstiger als fUr die bosnischen Serben und 2) seine Verwirklichung war ohne starke militiirische Drohung den Serben gegeniiber undenkbar. Warum eskalierten die Auseinandersetzungen dann gerade als Folge dieses Planes? Der primare Fehler dieses Plans, der auf der Grundlage der nationalen Verteilung aus der Volkszahlung von 1991 verfasst wurde, bestand darin, dass er keine militiirischen Mittel fUr seine Durchsetzung vorsah, also in erster Linie Mittel, urn die Serben zum Riickzug aus den eroberten und "ethnisch gesauberten" Gebieten zu zwingen. Daraus miissen die beiden anderen Parteien den Schluss gezogen haben, dass serbisch bleiben soli, was serbisch erobert ist. Also fing der HVO an, seine ,,Reviere" zu sichem. Unter dem Deckmantel des Hinarbeitens auf eine FriedenslOsung zeigte sich das strategische liel des HVO, niimlich: ein von der Westherzegowina bis Mittelbosnien geschlossenes ,,kroatisches" Gebiet zu schaffen. (7 Kap. 22) Die gleiche Schlussfolgerung hatten anscheinend auch die Bosniaken gezogen, denn sie fingen an, in Mittelbosnien gegen ihre kroatischen Verbiindeten zu kiimpfen. Ihr strategisches liel war, von einem bosniakisch beherrschten lentralbosnien aus bis Mostar und ins Neretva-Tal und letztendlich zum Meer vorzudringen. David Owen hat spater ein urnfangreiches Buch iiber seine Bosnien-Mission geschrieben und sich bemiiht zu beweisen, dass der von ihm und Cyrus Vance vorgeschlagene Plan keine ethnische Teilung beabsichtigt hatte. Doch ohne eine Allianz gegen die serbische Aggression konnte dieser Plan kaurn andere Reaktionen auslOsen, als die Versch1irfung des Kampfes urn die ubrig gebliebenen Gebiete. Das hiitte verrnieden werden konnen, wenn sich die intemationale Gemeinschaft und ihre Verrnittler klar hinter das zwar brockelnde, aber noch immer bestehende kroatisch-bosniakische Biindnis
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im Paket mit dem vorgeschlagenen Friedensplan gestellt hatte. Solange aber eine Aufhebung des Waffenembargos, das Noel Malcolm als den grofiten ,,Beitrag des Westens zur ZerstOrung Bosniens" bezeichnet hat, nicht eimnal angedroht wurde, fehlte ein irgendwie ernst zu nehmender Druck gegeniiber KaradZic und Mladic. Dass die Authebung des Embargos zusammen mit einer Festigung des bosniakisch-kroatischen Biindnisses fiir die Serben eine ernste Drohung gewesen ware, bezeugt Kara
Provinzen
D D
Musllme
Serben Kroalen
[ill Sarajevo (unler UN·Verwaltung) Ziel der Armee BiH war es, das Gebiet zwischen den drei Stiidten Tuzla, Sarajevo und Zenica zu halten und in ein kompaktes muslimisches Territorium zu verbinden. Hingegen liefien die bosniakischen Einheiten die stiirkeren Serben unbehelligt, konzentrierten sich auf das Bekampfen und Vertreiben von Kroaten aus mittelbosnischen Ortschaften und Stiidten wie Kakanj, Vares, Fojnica, Vitez usw., machten sich des Massenmords an Zivilisten (in Ortschaften bei Jablanica, Vares und Vitez) schuldig und trugen somit ihren Teil zur Verschiirfung des Konflikts sowohl in Mittelbosnien als auch in
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Ostmostar bei. Da ein solches Vorgehen eine Phase der militiirischen Planung braucht, kann mit aller Vorsicht vennutet werden, dass die bosniakische Seite dem Biindnis ebenfalls schon seit geraumer Zeit den Riicken gekebrt hatte und es zu eigenen Zwekken missbrauchte. Trotzdem flillt es schwer, diesen ,,Krieg" einen regelrechten kroatisch-bosniakischen Krieg zu nennen oder gar als ,,Krieg zweier Volker" darzustellen, wie es die Propaganda beider Seiten zeitweilig tat. Nicht nur weil er beschriinkt war auf die genannten Regionen und andernorts Einheiten beider Volksgruppen militiirisch weiter zusammenarbeiteten, sondern weil es weiterhin zahlreiche Beziehungen zwischen den beiden Staaten und Regierungen gab, wie sie nur unter befreundeten Staaten moglich sind. Wiihrend die Kampfe in Mittelbosnien in der zweiten Hiilfte des Jahres 1993 eskalierten, verschiirfte sich der Krieg in Mostar aufs auBerste. 1m Sommer schon wurden Muslime aus Mostar und Umgebung in Sammellager (Dretelj, Heliodrom) gesteckt, wo man sie folterte und einige umbrachte. Der HVO begrub Ostmostar, das fUr Monate in fast vollstandiger Blockade ausharrte, erbarmungslos unter Granaten. Zahlreiche islamische Kulturdenkmiiler wurden zerstort. 1m November wurde die Alte Briicke, das Wahrzeichen der Stadt, yom HVO mit gezielten Schiissen, wie die Aufnahmen der UNPROFOR zeigten, endgilltig zerschossen. Die Sprecher des HVO versuchten, wenig glaubwiirdig, strategische Griinde dafiir geltend zu machen. In Mittelbosnien entstanden eine Reihe Enklaven; es kam zu weiteren gegenseitigen Vertreibungen und vereinzelt zu Massakem. Die schlimmsten veriibten HVO-Truppen an muslimischen Zivilisten in den Ortschaften Ahmici und Stupni Do. Man vermutet hinter dem Vorgehen der HVO Tudmans Plane zu einer Umsiedlung der kroatischen Bevolkerung aus gemischten Teilen Bosniens nach Herzegowina bzw. ins angrenzende Mittelbosnien. Fakt ist, dass sich Mate Boban in diesem Zusammenhang zur Aufforderung an die Kirchenoberhaupter verstieg, das Erzbistum von Sarajevo nach Mittelbosnien umsiedeln zu lassen. Vor dem Hintergrund der jahrhundertealten Tradition der katholischen Kirche in Bosnien-Herzegowina konnte diese Aufforderung nur als eine zur Zerschlagung Bosniens verstanden werden. Nachdem der HVO auch die Zusammenarbeit mit bosnischen Serben, d.h. mit den Belagerem von Sarajevo und anderen bosnischen Stadten nicht scheute und sogar die serbische Armee mit KraftstofI belieferte, wurden zur Rechtfertigung ideologische Versatzsrucke aus Reminiszenzen des alten gemeinsamen Kampfes gegen die "Tiirken" bemiiht.
26.6. Vor nnd nach dem Abkommen von Washington Durch die bosniakisch-kroatischen bewaffueten Auseinandersetzungen bekam der Krieg 1993 den Charakter eines allgemeinen Biirgerkrieges - zumindest im Sinne volliger Uniibersichtlichkeit der gegeneinander bzw. miteinander kampfenden Gruppen. Ein Ausweg schien unerreichbar und der serbische Sieg endgilltig. In dieser Situation an der Jahreswende 1993/94 vollzog sich in Teilen der Clinton-Administration aber ein Umdenken, was wohl zum wichtigsten Faktor fUr das Einleiten einer Wende wurde. Tudman musste aus Washington immer deutlicher die Botschaft vernehmen, dass die
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Teilung Bosniens nicht hingenommen werde. Die deutsche Diplomatie, vor allem Michael Steiner, war schon lange iiber die feindlichen Entwicklungen zwischen Bosniaken und Kroaten alarmiert und iibte einerseits bestlindigen Druck hauptsachlich auf Tudman aus und unterstiitzte andererseits die amerkanischen, von Charles Redman untemommenen Bemiihungen urn die Beilegung des Konflikts. Doch der offiziellen kroatischen Bosnienpolitik wurde - wie schon angedeutet auch im Inneren verschiedentlich widersprochen. Nach den Berichten iiber die Massaker des HVO an muslimischen Zivilisten und Bildem aus den von Kroaten errichteten Gefangenenlagem war fUr viele in Kroatien das MaB voll. Der Widerspruch ware wahrscheinlich sehr viellauter gewesen, hatten die BUrger und die Strukturen der Offentlichkeit in der freien MeinungsauJ3erung etwas mehr Ubung gehabt. Auch in der HDZ war man mit Tudmans Bosnien-Politik nicht einverstanden; die meisten dieser Unzufriedenen verlieBen zuerst still die Partei und auJ3erten sich erst spater in der Offentlichkeit dazu. Medienwirksam war erst die Abspaltung der beiden bekannten und einflussreichen Politiker und Griindungsmitglieder der HDZ, Stipe Mesic und Josip Manolie, die zu einer ernsten Parlamentskrise fiilute. Vor allem Stipe Mesic setzte seine scharfe Kritik an der Bosnienpolitik Tudmans fort, auch als dies keine Erfolge zeitigte, und wurde zum wichtigen Zeugen fUr die Beweisaufnahme des Intemationalen Gerichtshofes in Den Haag. Obgleich Tudmans Art zu regieren von Riicksichtlosigkeit gegeniiber der offentlichen Meinung gekennzeichnet ist, musste er dem breiten Unverstiindnis fUr seine Bosnien-Politik zuweilen doch wenigstens andeutungsweise Rechnung tragen, wenn nicht anders, so doch durch Vertuschung von Informationen. Bis heute hat er beispielsweise zu den gravierenden Anschuldigungen iiber seine Teilungsstrategien nicht Stellung genommen. Auch nachdem bekannte Oppositionspolitiker (I.Z. Cicak und D. Paraga) offentlich behauptet haben, Stenogramme des Treffens zwischen Milosevic und Tudman in Karadordevo 1991 zu besitzen, die beweisen, dass dort iiber die Teilung von Bosnien-Herzegowina verhandelt wurde, hat sich Tudman dazu nicht geauJ3ert. Zu parlamentarischen und sonstigen Anfragen iiber die Kosten des kroatisch-bosniakischen KriegesfUr den kroatischen Staat und seine Steuerzahler gab Tudman keine Auskunft. Zeitweilig massive anti-muslimische Propaganda der offiziellen Medien hat Meinungsurnfragen unabhiingiger Medien zufolge die mehrheitlich misstrauische Haltung der Kroaten einer Teilungs- bzw. Annexionspolitik gegeniiber offenbar kaurn veriindert. Die Propaganda bewirkte aber anscheinend, dass die Abneigung der kroatischen Bevolkerung gegeniiber Bosniaken (als Nachbam, Ehepartner, Spielkameraden der Kinder etc.) erheblich zugenommen hat. Ein anderer Grund dafiir konnte freilich in den Erfahrungen mit vielen Kriegsfliichtlingen aus Bosnien-Herzegowina liegen - zunachst den von Serben vertriebenen Muslimen, dann von Muslimen vertriebenen Kroaten. Der Druck aus dem Innem war 1993 nicht stark genug, urn TUdmans Politik in irgendeinem Punkt zu iindem. Der Widerstand der groBen oppositionellen Parteien (Reformkommunisten und Liberale) wurde oft nur halblaut geauJ3ert. Deshalb konnte allein ein Aktionsplan von auJ3en, wie es der amerikanisch-deutsche war, Bewegung in die Patt-Situation bringen. Dabei musste nicht nur auf Tudman Druck ausgeiibt werden, sondem auch auf Izetbegovic, weil er keine klaren strategischen Zielsetzungen
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hatte lUld sich nicht festlegen lieB. Die Strategie des Abkommens war dennoch nicht einfach von auBen entliehen, sondem baute auf gegebene politische Ansatze auf. Die Rtickkehr zur kroatisch-bosnischen Allianz war ihr Grundstein. Darauf ruhte das Projekt der bosniakisch-kroatischen Foderation, das sich inhaltlich in vielem auf die BeschlUsse der erwlihnten VersammllUlg der bosnischen Kroaten stiitzte. N ach dem In-Kraft-Treten des Waffenstillstands im Februar 1994 wurde im Mlirz in Washington die Zusammenarbeit der beiden Parteien vereinbart, die mit der Ruckkehr zur militlirischen Kooperation einsetzen soIlte, urn, wie Holbrooke spater sagte, "eine gemeinsame Front gegen die Serben aufzubauen", und die Errichtung einer kroatischmuslimischen FOderation in Bosnien-Herzegowina beschlossen. Daruberhinaus wurde eine Konfoderation Bosnien-Herzegowinas mit der Republik Kroatien, d.h. eine Zol1und Wlihrungsunion sowie die Koordinierung der Verteidigung ins Auge gefasst. Diese Art der Beendigung des Konflikts lasst darauf schlieBen, dass aIle an der Verhandlung Beteiligten in ihm eine sekundlire Erscheinung sahen, ein Produkt der Umstlinde, die durch den "primliren" Krieg geschaffen worden waren. Die Friedensverhandlungen endeten eben nicht mit einem Friedensvertrag, sondem mit einem Beschluss zur Zusammenarbeit bzw. tiber die vorlaufige Verfassung "der FOderation von Bosnien und Herzegowina". Damit wurde auch der Grundstein fUr weitere Schritte gelegt (der Plan der Kontaktgruppe yom Juli 1994 teilte das Land zwischen der ,,FOderation" und den "serbischen Gebieten") bis zur gemeinsamen Gegenoffensive im Herbst 1995 und dem anschlieBenden Friedensplan von Dayton. Trotzdem deuteten die nachherigen EntwickllUlgen mehr auf einen von auBen unterbrochenen Krieg als auf eine FriedensschlieBlUlg hin - von Zusammenarbeit und Aufbau der FOderation ganz zu schweigen. Die realen politischen Gruppen und gese11schaftlichen Krafte, auf die sich diese Vereinbarungen hatten stiitzen konnen, befanden sich weit von der politischen Macht vor Ort entfemt. Izetbegovi6 willigte in die Vereinbarung nur widerstrebend ein, aus dem Kalkill des fUr jene Zeit Schwacheren; Tudman wiederum aus dem Kalkill, die Amerikaner auf seiner Seite zu haben und auf dieser Basis die kroatischen Streitkrafte aufbauen zu konnen. Die Obstruktion der Einigung und Zusammenarbeit ist heute, vier Jahre nach dem Dayton-Vertrag, noch immer spfubar. Izetbegovi6s Anteil an der verfahrenen Situation ist seltener behandelt worden. Auffa11end ist vor allem das Fehlen einer klaren Strategie. Die politischen Beobachter im Lande selbst haben verschiedentlich versucht, hinter dieser Taktik der Undurchsichtigkeit eine Strategie der Teilung zu rekonstruieren, mit dem Ziel einer reinen nationalbosniakischen Einheit, in der eine islamisch gepragte Ordnung eingefiihrt werden sol1teo Ideologisch kommt diese Tendenz in der Izetbegovi6 nahe stehenden nationalistischen Wochenzeitung Ljiljan deutlich zum Ausdruck. Dort sind in der Vergangenheit Vorschlage zur Einfiihrung verschiedener islamischer Regeln als mehr oder minder verbindliche Verhaltensnormen ventiliert worden. 1m Herbst 1998 brachte Izetbegovi6 selbst - wahrscheinlich urn die Reaktionen der Offentlichkeit zu testen - die Idee der Scharia (islamisches Gesetz) in das ideologische Spiel hinein. Dieses Liebaugeln mit islamistischer Abschottung in einer bosniakischen Enklave scheint nur fUr einen relativ kleinen Kreis urn Izetbegovi6 und einige islamische Geistliche anziehend zu sein. Trotz-
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dem ist auch sonst keine klare politische und strategische Konzeption erkennbar. Sarajevo hatte eben auch kein klares Konzept fur die Allianz mit Kroatien ausgearbeitet. Erschwerend kamen noch die Rivalitaten unter den bosniakischen Spitzenpolitikern hinzu. Haris SilajdZic, der bosnische Ministerprasident wahrend des Krieges, vertrat in der Offentlichkeit die Konzeption eines einheitlichen multikulturellen Bosnien-Herzegowina. Dadurch, dass er auch die wirtschaftlichen Aspekte mitberiicksichtigte, machte er den Eindruck eines Politikers, der sich mehr yom Verstand als von Emotionen leiten lasst. Dennoch vermisste man auch bei ihm eine ausgearbeitete Strategie, die zu den gesteckten politischen Zielen fiihren sollte. Er vertrat am augenfalligsten die bosniakische Taktik, mit Unterstiitzung der Westmachte den bosnischen Staat zu retten. Wie hohl diese unausgegorenen Konzeptionen waren, zeigte sich wahrend den langwierigen Verhandlungen in Dayton. Holbrooke musste immer wieder die Bosniaken daran erinnern, dass sie darum "gebeten haben, ein vereintes Bosnien zu schaffen". Der Verdacht lasst sich nicht ganz ausraurnen, dass ein (amputiertes) vereintes Bosnien, aber ohne Kroaten und Serben, die intime Vorstellung vieler bosniakischer Politiker war. Bosniakischerseits war insgesamt die Idee einer Kooperation mit den bosnischherzegowinischen Kroaten und mit Kroatien selbst wenig elaboriert. Diese Konzeptionslosigkeit lieB der kroatischen Seite viel Freiraurn, eigene politische Vorstellungen durchzusetzen. Die schillernde Verflechtung zwischen bosniakisch-kroatischer ,,2usarnmenarbeit" und bosniakisch-kroatischem Krieg kommt auch durch die Widerspriichlichkeit in der Propaganda und den diplomatischen Tatigkeiten zum Ausdruck. In der muslimischen Propaganda und antikroatischen Rhetorik wurden die Kroaten zum zweiten Aggressor, und Alija Izetbegovic drohte des ofteren damit, Kroatien offiziell der Aggression anzuklagen. 1m gleichen Zeitraurn verfolgten die Minister beider Republiken bei den Vereinten Nationen (Mario Nobilo und Muhamed SaCirbegovic) eine gemeinsame Taktik gegeniiber der international en Gemeinschaft, urn eine Intervention gegen "den serbischen Aggressor" zu erreichen. In der Offentlichkeit konnten ,,Kroaten" und ,,Kroatien" einerseits der Aggression und andererseits im gleichen Atemzug beschuldigt werden, durch unzureichende Hilfe und Waffenlieferungen bosnische Stadte an die Serben fallen zu lassen! Voller Absurditaten war auch das medienproduzierte Feindbild von den Kroaten: Wahrend die feindlichen Serben zu "Tschetniks" wurden, parallelisierte man die feindlichen Kroaten unter der Bezeichnung "Ustaschas". Vergessen schien, dass die Tschetniks deklarierte Feinde der Muslime (die sie iibrigens zu den Ustaschas rechneten) waren und historisch im Kampf gegen das Osmanische Reich entstanden waren, wmrend die Ustaschas, historisch im Kampf gegen den serbischen Hegemonismus entstanden, erkliirte Freunde der Muslime waren, zumal sie diese fur ,,Kroaten moharnmedanischen Glaubens" hielten. Ganz und gar vergessen wurde desgleichen, dass Muslime an der Regierung und Verwaltung des Ustascha-Staates beteiligt waren und nicht wenige in Ustascha-Einheiten gekampft haben. Die propagandistische Zielvorstellung war dennoch klar: Die bosniakische Position sollte derjenigen der Partisanen im antifaschistischen Kampf gleichkommen - jenen Partisanen, die zu iiberwiegenden Teilen ethnisch kroatisch und serbisch waren. (7 Kap. II)
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Die kroatische Propaganda, die, mit der serbischen Rhetorik ubereinstimmend, die Muslime als ,,Balija" beschimpfte, evozierte mit dem Wort tiirkischen Ursprungs fUr einen ungebildeten Moslem die osmanische Vergangenheit. Klischees - wie Wendehalse, Feiglinge, hinterhaltige Faulenzer - wurden bedient, gleichzeitig die Gefahr eines Fundamentalismus heraufbeschworen und die Angst geschiirt, diese "faulen" und "unfahigen" Muslime und "feigen" Mudschaheddins wiirden eine anti-katholische Diktatur einfiihren, in der man kein Schweinefleisch wiirde essen durfen. Doch die Animositaten konnen nicht allein auf die Propaganda zuriickgefiihrt werden; in den Folgen des Krieges haben sie eine reale Basis. Die Kiimpfe mit den Bosniaken gelten als fUr die Kroaten erheblich verlustreicher als jene mit den Serben. Die bosniakischen Vertreibungen in Mittelbosnien betrafen eine groBere kroatische Bevi:ilkerung als die serbischen in Posavina. Umgekehrt hinterlieB der kroatische Vernichtungskrieg gegen die Bosniaken in Ostmostar schwere Verluste, die Feindschaft zur normalen Folge haben. Das Abkommen von Washington setzte sich tiber solche Animositaten hinweg.
26.7. Von der EU-Verwaltung fUr Mostar fiber Dayton zurn schwierigen Frieden Noch wahrend der Kiimpfe wurde auch kroatischerseits der Wunsch nach einer europaischen Verwaltung fUr die Stadt geauBert, als mogliche neutrale Losung des Konflikts. Vermutlich steckte der kroatische AuBenminister Mate Granic als treibende Kraft hinter diesen Planen, denn einen Willen zur Kooperation mit der ED-Administration zeigten die kroatischen Machthaber in Mostar keineswegs, auch nicht, nachdem sie im Juli 1994 die entsprechenden Vereinbarungen in Brussel unterschrieben hatten. Als ein Sonderteil des Washingtoner Abkommens wurde die Vereinbarung tiber Mostar vorbereitet. Noch wahrend der Verhandlungen musste der Hardliner Mate Boban auf der Sitzung des Zentralausschusses der bosnischen HDZ von seinem Amt als Vorsitzender zuriicktreten. Die Integration Mostars sollte ein Vorbild fUr die kUnftige FOderation sein, der eine zweijahrige Verwaltung der Europaischen Dnion unter einem europaischen - auf Wunsch beider Parteien deutschen - Administrator auf die Sprunge helfen sollte. Die Bundesregierung hat fUr diese Aufgabe den erfahrenen SPD-Politiker und fiiiheren Oberbfugermeister von Bremen, Hans Koschnick, auserkoren. Die Vereinbarung tiber die Administration - das Memorandum of Understanding - wurde in Brussel erst im Sommer 1994 unterzeichnet. In Koschniks Amtsperiode wurde viel wieder aufgebaut, aber eine einheitliche Stadt, wie vorgesehen, konnte nicht wiederhergestellt werden. Informell behielt Mate Boban nach einhelliger Meinung - bis zu seinem Tod 1997 - die Faden in der Hand. Diesem Umstand schrieb man die Blockade-Politik der Kroaten zu. Vielleicht war es keine glUckliche Idee, mit dem Prozess der kroatisch-muslimischen Versohnung ausgerechnet in Mostar beginnen zu wollen, wie manche Beobachter meinten. Koschnick selbst wusste jedenfalls genau, warum "die Muslime stets kooperationsbereit sind" und "gerade einige Kroaten so sehr blockieren": Die ersten fiihlten sich durch das Konzept der multikulturellen zu vereinheitlichenden Stadt als Gewinner, die zweiten, mit dem Ziel
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,,Mostar aIs kroatische Stadt fUr sich, am Ende zwnindest die westliche Hlilfte" zu haben, als Verlierer. Koschnick wusste auch, dass es in Bugojno, Gomji Vakuf und Travnik unter bosniakischer, d.h. SDA-Kontrolle wngekehrt war. In Bugojno lebten vor dem Krieg 20.000 Bosniaken, 16.000 Kroaten und 9.000 Serben. 1997 lebten in der Stadt 1.200 Kroaten und 400 Serben in vollkommener existentieller und rechtlicher Unsicherheit. Die kroatische Soziologin Vesna Pusic hat nach ihren Recherchen in Mostar 1996 dem Modell eines ethnischen Konflikts widersprochen und behauptet, in Mostar handle es sich wn den Konflikt zweier Konzeptionen - der Konzeption eines (einheitlichen) Mostars fUr seine Biirger (gleich welcher ethnischer Herkunft) undjener "der Verteilung der Kriegsbeute" (Erasmus, 16). Die ,Kriegsbeutepartei' brauche demnach die ethnisch geteilten Stadtteile, in welchen das Recht des Stlirkeren gilt. Pusic zeigt, dass die kroatischen Machthaber in Westmostar in erheblich hOherem MaBe der ,Kriegsbeutefraktion' angehOren, obwohl sie nicht leugnet, dass es eine solche auch in Ostmostar gibt. Das strategische Ziel dieser Kriegsgewinnler ist ein rechtsfreier Rawn, ohne Staat, Steuer und andere staatliche Institutionen, was die kroatische ideologische Wunschvorstellung eines Anschlusses an Kroatien sehr in Frage stellt. Auch wenn dies kein endgilltiges Erkllirungsmodell darstellt, steht empirisch fest, dass das westherzegowinische Hinterland Mostars bis heute ein steuer- und rechtsfreier Rawn mit rasant anwachsender Schattenwirtschaft ist, die das angrenzende kroatische Dalmatien in den wirtschaftlichen Ruin getrieben hat. Die herzegowinischen Kroaten in Mostar haben - nicht ganz zu Unrecht - das Image von bad guys ("die wir aIs Kriminelle betrachteten", schreibt beispielsweise Richard Holbrooke) erlangt, aber bei pauschaIem Urteilen kann man Relevantes ubersehen. An erster Stelle ist die gelinderte BevOlkerungsstruktur in der Stadt zu nennen - in beiden Teilen. Und zwar hat sich nicht bloB die ethnische, sondem auch die soziaIe Struktur durch den Zuzug uberwiegend llindlicher Bevolkerung gelindert. Es ist auch ein GefalIe zwischen den beiden Stadtteilen entstanden, aber nicht ausschlieBlich durch die Zerstorung des Ostteils. Man wird aIlgemein nachvollziehen konnen, dass der Biirgermeister des Ostteils, Safet OruCevic, sich uber die Tatsache erziirnt zeigte, dass von der Verwaltung 40 Prozent der EU-Autbauhilfe in den Westteil (,,Las Vegas") gesteckt wurde, wodurch die Leute in Westmostar fUr die Zerstorung, die sie im Ostteil (,,Hiroshima") verubt hatten, groBes KapitaI und materielle Mittel bekamen (Erasmus 16). Entscheidender als der Kriegszusammenhang scheint die Schubkraft gewesen zu sein, die von der sozio-okonomischen Emeuerung der ganzen westherzegowinischen Gegend ausging und mit dem ZerfaIl von Jugoslawien zusammenhing, welcher wiederwn fUr die dortigen Kroaten einer absoluten Befreiung gleichkam. Das emphatische Kroatentum ist der ideologische Ausdruck dieser Befreiung, ihr wahrer Kern aber ist freies Geschliftemachen, gewievtes Untemehmertum, Bauen von StraBen und Hliusem, Kirchen und Industrieanlagen - alles, was so viele Menschen aus dieser Gegend an den riesigen Baustellen Europas, vor allem Westdeutschlands jahrzehntelang taten und in ihrer Heimat nicht tun durften. Es ist, kurzum, zu einer raschen Schichtenverschiebung gekommen, die sich auch auf die Wertevorstellungen auswirkt: Der oberste liegt im materiellen Erfolg; der Rechtsstaat, kulturelle oder urbane Werte spielen eine nebenslichliche Rolle. Jede Wohlstandsgesellschaft kennt lihnliche Anfangsphasen, durch die
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ihre breiten Mittelschichten entstanden sind. Spezifisch sind hier die tradierte Abneigung gegenjede Form von Staat einerseits und der hohe Stellenwert des traditionellen Verhaltenskodex andererseits. Bei den Bosniaken im Ostteil sind die schichtenspezifischen und sozio-okonomischen Umstiinde anders, und zwar nicht nur als Folge des Krieges. Sie sind als moralische und ideelle "Gewinnler" aus diesem Krieg hervorgegangen. Die Altstadt von Mostar wird ihr traditionelles, durch islamische Kultur und orientalisch-mediterrane Architektur gepragtes Gesicht neu aufbauen und jene Symbolkraft eriangen, die gerade in der ,,kroatischen Neustadt" im Westteil mit der Zerbombung der Alten Briicke und anderer islamischer Denkmaler vernichtet werden sollte, aber das wirtschaftliche GefaIle wird noch lange bleiben, weil es keine entsprechenden bosniakischen Schichten gibt, die sich mit vergleichbarer Energie dem wirtschaftlichen Aufbau widmen. Auch nachdem die Bewegungsfreiheit in der Stadt nach fast endlosen politischen Bemiihungen und massiver Druckausiibung wiederhergestellt wurde, iindert sich an diesem Geflille wenig, und auch die kulturelle Abschottung zwischen den beiden Volksgruppen bleibt die Regel. Mostar, das dem Dayton-Vertrag zufolge Hauptstadt der FOderation werden soll, ist nicht zum Vorbild fUr den Einigungsprozess der FOderation und Modell der gesellschaftlichen Integration, aber vielleicht zum Spiegelbild dessen geworden, was unter den gegebenen Umstiinden des geballten interethnischen Argwohns durch auswiirtige Interventionen machbar ist. Durch die Teilung Bosnien-Herzegowinas in eine serbische Republik und in die bosniakisch-kroatische FOderation ist mit dem Dayton-Vertrag ein kaum reparabler FeWer in die Welt gesetzt worden. Es fallt auch auf, dass mit der Anerkennung einer serbischen Republik innerhalb des bosnisch-herzegowinischen Staates genau das Gegenteil von dem Prinzip international statuiert wurde, das etwa'in Mostar gelten soll. Die schlimmste Folge aber ist, dass dadurch das ethnizistische Prinzip seine Sanktionierung erfuhr, und zwar als "Privileg" nur einer Ethnie. Das Funktionieren der bosniakisch-kroatischen FOderation und die schwierigen interethnischen Beziehungen sind als Prozesse zu sehen, die in bedeutendem MaBe im Schatten der ,,Republika Srpska" (RS) vor sich gehen. Auch wenn es niemand laut sagt, weiB jeder, dass es keine Macht gibt, die eine Riickkehr der vertriebenen bosniakischen und kroatischen Bevolkerung in die Ortschaften unter serbischer Kontrolle durchsetzen konnte, und ebenso wenig wird es in nachster Zukunft moglich sein, in Banja Luka eine der dem Erdboden gleichgemachten Moscheen wieder aufzubauen. Der internationale Implementierungsrat instituiert geradezu unterschiedliche Kriterien fUr die RS und die Foderation, wenn etwa fUr die ,,Rekonstruktion der multiethnischen Polizei" in der RS als Kriterium die Resultate der Kommunalwahlen von 1997 und in der FOderationjene aus der Volkszahlung von 1991 (also vor dem Krieg) genommen werden. So lasst sich mit der nationalistischen Politik auch in der FOderation leicht fortfahren: Ob auf der ideologischen Grundlage des ,,Basisvolks" oder des exklusiven Kroatentums. Die "Gesellschaftsordnung", die durch den Krieg entstanden war und sichjenseits der Dayton-Verfassung aufrechterhalt, ist die Ordnung der nationalen Oligarchien, die in der Regie der lokalen Machthaber vollzogen wird. Wie auch immer man die politischen Reprasentanten der bosnisch-herzegowinischen Kroaten
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soziologisch definiert, so ist bei ihrem Handeln doch klar erkennbar, dass in ihren Augen die einzig gerechte LosWlg jene ware, die ihnen eine vergleichbare Position gew1ihren wiirde wie sie die Serben haben. Das hieBe: Dreiteilung von Bosnien-Herzegowina. Bezogen auf die bosniakisch-kroatischen Beziehungen leidet der Dayton-Vertrag unter einem Uberschuss an Hinwegsehen tiber die Animositiiten zwischen den beiden Volksgruppen, der sich dazu sehr unglticklich mit unverstiindlicher Nachgiebigkeit dem serbischen Gebilde gegentiber paart. Die dem Nationalismus sich widersetzenden Politiker, die allmiihlich an Position gewinnen, scheinen das Problem der angestauten Animositiiten dadurch zu losen, dass sie es erst einmal einfrieren und andere Prioritaten auf die Agenda setzen. Zu bestimmten Zeiten ist dies in der Politik vielleicht der beste Weg - das Hinwegsehen als Kehrseite des Krieges hat unter Bosniern, gleich ob Bosniaken, Kroaten oder Serben, lange Tradition. Erst die fundamentale Wende der westlichen Politik gegentiber Milosevic, die durch den Krieg im Kosovo ausgelost wurde, konnte auch im schwierigen interethnischen Prozess in Bosnien-Herzegowina einen kriiftigen Schub nach vorne veranlassen. Literatur Direkte Untersuchungen zur bosniakisch-kroatischen Problematik gibt es so gut wie nichl. In der neueren Literatur fiber Bosnien wird sie mitbehandelt: Noel Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt 1996; Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen, Korifliklstrukturen, internationale Liisungsversuche, Frankfurt 1995, (2., erw. Autl. 1996); Ivan Lovrenovic, Bosnien und Herzegawina. Eine Kulturgeschichte, Wien, Bozen 1998; Srecko M. Dhja, Bosnien-Herzegawina in der Osterreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918), MOnchen 1994; Reneo Lukic und Allen Lynch, Europe from the Balkans to the Urals. The Desintegration 0/ YugoslaVia and the Soviet Union, New York 1996. Erich Rathfelder geht in seinem Buch Sarajevo und danaeh. Seehs Jahre Reporter im ehemaligen Jugaslawien, MOOchen 1998, ausfilhrlicher auf den bosniakisch-kroatischen Konflikt ein. Empfehlenswert sind die Erfahrungsschilderungen von Hans Koschnick/Jens Schneider, Brucke uber die Neretva. Der Wiederaujbau von Mostar, MOnchen 1995. Unmittelbare Eindrucke von der Front bei Mostar und (nur gestreift) in Zentralbosnien schildert Sally Becker, Der Engel von Mostar. Eine Frau kiimpft um die Rettung bosnischer Kinder, Moochen 1995. Eindrucke nach dem Abschluss des Washingtoner Abkommens schildert Paul Garde, Journal de voyage en Bosnie-Herzegovine. Octobre 1994, StraBburg 1995 (kroatische Ubersetzung Zagreb 1998). Weitere Literatur, auf die im Text Bezug genommen wird: Ivo Banae, ,,From Religious Community to Socialist Nationhood and Post-Communist Statehood, 1918-1992", in: Mark Pinson (Hg:), The Muslims 0/Bosnia-Herzegovina. Their Historic Developmentfrom the Middle Ages to the Dissolution o/Yugoslavia, Harvard 1993; Srecko M. Dhja, ,,Bosna i Bo§njaci u hrvatskom politi~kom diskurzu", Erasmus 9 (Zagreb 1994); Mustafa Imarnovic, ,,Integracione ideologije i Bosna", Erasmus 18 (Zagreb 1996); Tarik Kulenovic, "Pripreme za rat i poretak rata u Bosni i Hercegovini 1992. godine", Polemos 1 (Zagreb 1998); Murat Pra§o, ,,Demografske posljedice rata 1992-1995", Erasmus 16 (Zagreb 1996); Ludwig Steindorff, "Von Konfession zur Nation: Die Muslime in Bosnien-Herzegowina", in: Religion und Gesellschaft in Siidosteuropa (hg. v. H. D. DOpmann), SOdosteuropa-Jahrbuch, Bd. 28, Moochen 1997, S. 253-269; Ivo Zanic, Prevarena povijest. Guslarska estrada, kult hajduka i rat u Hrvatskoj i Bosni i Herzegovini 19901995. godine, Zagreb 1998; David Owen, Balkan-Odyssee, MOOchen 1996; Richard Holbrooke, Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, MOOchen 1998; Davor Koric, Und Sarajevo muss for alles zahlen... Brie/e aus dem belagerten Sarajevo, MOnster, OsnabrOck 1993.
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27.1. Kriegsweode Dod -eode
1m Friihjahr des Jahres 1995 schienen die Verbiinde der bosnischen Serben unbesiegbar. In rascher Folge demiitigten sie wahrend der Geiselkrise im Mai die UNPROFOREinheiten. 1m Sommer noch uberrannten General Mladies Truppen die von der bosnischen Regierung gehaltenen beiden ostlichen Enklaven Zepa und Srebrenica, wobei sie einen GroBteil der in Srebrenica gefangengenommenen miinnlichen Bevolkerung ermordeten. Mladies Verbiinde begannen den Druck auf die Bihae-Enklave zu erhOhen. Das fiinfte Corps der bosnischen Regierungstruppen hatte zuvor den Versuch gestartet, den Belagerungsring zu durchbrechen. Mladies Gegenoffensive drohte, die bosnische Regierung vor ein erneutes Desaster zu stellen, doch weckte es auch das Schreckgespenst eines serbischen Vormarsches durch die von UN-Truppen geschutzten Sektoren Nord und Sud der serbisch besetzten ,,Krajina" in Kroatien, (7 Kap. 22) bis zur dalmatinischen Kiiste, wodurch es Kroatien entlang der schmalen Bresche von Maslenica in zwei Teile geteilt hatte. Dies ware fUr Kroatien und wohl auch die intemationale Staatengemeinschaft unannehmbar gewesen. Doch im Riickblick wirken Ratko Miadies Triumphe yom Juni und Juli 1995 wie ein Vorspiel fUr das folgende Desaster. Die Demtitigung der UNPROFOR wahrend der Geiselkrise und die Unfahigkeit der niederliindischen Dutchbat, die Zivilisten in Srebrenica zu beschiitzen, bewirkten niimlich einen Kurswechsel in der anglo-franzosischen Politik. Frankreichs neuer Prasident Jacques Chirac war entschlossen, mit der Politik Mitterands zu brechen und schloss sichjenen Stimmen in Washington an, die eine weitere Demtitigung der UNPROFOR und ihrer Nato-Truppen verhindem wollten. Dies beeinflusste die britische Regierung unter John Major, entsprechend den Forderungen des UNPROFOR-Kommandeurs Rupert Smith zu harteren MaBnahmen bereit zu sein. GroBbritannien und Frankreich stockten ihre Verbiinde in Absprache mit den USA auf. Die am 3. Juni aufgestellte schnelle Eingreiftrnppe (RDF) nahm mit schwerer Artillerie und Panzern am Berg Igman bei Sarajevo Kampfbandlungen auf; US-Planungen von Luftschlagen gegen die bosnischen Serben wurden intensiviert. Zugleich wurde eine Kriifteverschiebung am Boden deutlich. Seit 1991 waren die kroatischen Streitkriifte kontinuierlich aufgebaut worden. Geheime US-Unterstiitzung und die Ausbildung durch pensionierte US-Militiirs, die Einfuhr von Waffen aus dem ehemaligen Sowjetblock tiber Ungaro und die Integration erfahrener Offiziere aus der NA in die HV sowie der Aufbau einer Waffenindustrie bewirkten, dass das Kriifteverhaltnis zwischen Kroatien und den immer schwacher werdenden serbischen Verbiinden in der ,,Krajina" sich umkehrte. Schon vor der Operation ,,Bljesak" im Mai 1995 und der Wiedereroberung Westslawoniens war die ,,Krajina" im Zerfall begriffen. Eine tiber vierjiibrige Krise hatte die
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begrenzte Lebensfahigkeit der Region erschOpft, besonders den Raurn urn Knin, der von der Bihac-Tasche im seinem Hinterland eingeengt wurde. Vor dem August 1995 schon hatte iiber die Hiilfte der Vorkriegsbevolkerung das serbisch kontrollierte Gebiet verlassen. Die Militarisierung lieB die Wirtschaft verkiimmem und lieferte sie dem Schwarzmarkt aus. Angesichts dieser Demoralisierung konnten nicht einmal Mladics Siege in Ostbosnien den Widerstandswillen der Krajina-Serben stlirken. Das Tempo des serbischen Zusammenbruchs und das AusmaB der Massenflucht der serbischen Bevolkerung in der ersten Augustwoche 1995 war trotz allem iiberraschend, so dass vielfach ein geheimer Handel zwischen Tudman und Milosevic vermutet wurde. Dabei wurde behauptet, dass fUr Zagreb wie fUr Belgrad ein Tausch der von den Serben bzw. den Muslimen kontrollierten Enklaven als Grundlage fUr ein Friedensabkommen opportun gewesen sei. (Spater wurde vermutet, dass auch UN-Vermittler und der franzosische General Bernard Janvier Prasident Alija Izetbegovic gedrangt hatten, einem Verlust der ostlichen Enklaven im Gegenzug fUr territoriale Kompromisse mit den Serben in Zentralbosnien zuzustimmen.) In der Vergangenheit hatten Milosevic und Tudman zweifellos die Moglichkeit einer Aufteilung Bosnien-Herzegowinas erortert. Sollte tatsachlich irgendein geheimer Kana! zwischen Zagreb und Belgrad im Sommer 1995 einen Handel ermoglicht haben, so unterschied sich dieser grundlegend von allen eventuellen Absprachen, denn diesmal war es Tudman und nicht Milosevic, der als Sieger hervorging. Die ,,Krajina" - wenigstens aufkroatischer Seite - unter geringen Verlusten zurUckzuerobem, gelang der HV (Kroatische Armee). Problematischer aber war es, die Armee der bosnischen Serben zu besiegen. Luftstreitkriifte hatten wiihrend der kroatischen Operation "Oluja" eine geringe Rolle gespielt, und ohne die Moglichkeit, die Mobilitat von Mladics panzern und Artillerie zu Hihmen, waren die zahlenmiiBig zwar Uberlegenen, doch nur leicht bewafIneten bosnischen Streitkrafte nie in der Lage, eine Offensive gegen die serbischen Verbande durchzuf'iihren. Auch kroatische Verbande auf bosnischer Seite konnten keine entscheidende Anderung bewirken, obwohl sie zweifellos dramatische ortliche Siege der Bosniaken ermoglichten, etwa den Entsatz Bihacs im August 1995. (~Kap. 23) Nur die Nato konnte ausschlaggebende Luftstreitkrafte bereitstellen. Vor Ende August 1995 waren die Luftschlage der Nato zur Durchsetzung der Resolutionen des UNSicherheitsrates lediglich ,,Nadelstiche", die mit der Demiitigung durch die Serben im Mai endeten, die Hunderte UNPROFOR-Soldaten gefangennahmen. Damals schien es, als wiirden keine weiteren Nato-Bomben fallen. Doch nun wurde die US-Innenpolitik entscheidend. Prasident Clinton hatte Bosnien bereits 1992 in seinem Wahlkampf gegen George Bush thematisiert und war sich klar, dass ihn nun Robert Dole, sein wahrscheinlichster Konkurrent bei den Wahlen 1996, als "schwach" und "unentschlossen" attackieren wiirde. (~ Kap. 29) Sollten also die USA gezwungen sein, Streitkriifte nach Bosnien zu schicken, so ware es fUr Clinton gUnstiger, das Leben von US-Bfugem zu riskieren, urn einen Frieden zu erzwingen, als nur den demiitigenden Riickzug der Nato-Verbiindeten in der UNPROFOR zu decken, was Washington bislang zugesichert hatte. KaradZic und Mladic hatten sich mit der Demiitigung der UNPROFOR verkalkuliert. Mit der
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Geiselnahme und der Ausweisung des Dutchbat aus Srebrenica hatten sie die Amerikaner und deren Verbiindete zu sehr gereizt. Es bedurfte nur einer weiteren grundlosen Granate auf Zivilisten in Sarajevo am 28. August 1995, urn den Ausweichplan des Pentagon filr einen massiven Luftangriffmit Bodenunterstiitzung durch anglo-franzosisches Artilleriefeuer zu aktivieren. Die im Vergleich zum Golfkrieg 1991 begrenzten Luftangriffe (damals hatte die USLuftwaffe in einer Nacht mehr als die HaIfte der insgesamt 1.345 Einsatze geflogen) fiihrten dennoch dazu, dass die Kommandostruktur der Armee der Republika Srpska paralysiert wurde. Die Prognosen von UNPROFOR-Offizieren, dass Luftangriffe auf bosnischem Terrain wirkungslos sein wiirden, erwiesen sich als falsch. Gerade weil die Nachschubwege in der gebirgigen Landschaft mit ihren wenigen Flusstalem so begrenzt waren, verringerte sich sofort durch gezielte Bombenabwiirfe aufBriicken, Verkehrsknotenpunkte sowie Waffen- und Treibstoffdepots drastisch die Beweglichkeit von Mladics Verbanden entlang der 1.500 km langen Frontlinie. Die serbischen Verbande, die durch die Niederlagen in der ,,Krajina" demoralisiert und durch Belgrads Unvermogen erschreckt waren, der kroatischen Unterstiitzung filr Bosnien mit einem Eingreifen der VJ zu begegnen, mussten sich aus gut einem Drittel der eroberten Gebiete zurUckziehen. Kurze Zeit schien es, als wiirde auch Banja Luka, die gro/3te Stadt unter serbischer Kontrolle, fallen. Diese militarische Machtdemonstration ermoglichte dem Verhandlungsteam unter Richard Holbrooke den Durchbruch. Am 30. August mussten KaraclZic und Mladic den serbischen Prasidenten Milosevic als Kopf der bosnisch-serbischen Verhandlungsdelegation akzeptieren. Urn nicht eine vollstandige Niederlage zu riskieren, ordneten sich die FUhrer der bosnischen Serben Belgrad unter, das auf die Annahme eines Waffenstillstandes drangte, bei dem ja die Aussicht bestand, dass anders als bei bisher verhandelten Friedensabkommen erobertes Land nicht abzutreten sein ware. Nach zahen Verhandlungen, emeuten Luftschlagen und Offensiven der bosniakischen und kroatischen Streitkrafte erklarten die bosnischen Serben am 15. September den Abzug ihrer schweren Waffen von Sarajevo, den die UNO am 21. September bestatigte. Die AuI3enminister Bosniens, Kroatiens und Serbiens schlossen nun nach einer ersten Ubereinkunft unter US-Vermittlung am 8. September in Genf, am 25. September in Washington ein Abkommen fiber Rahmenbedingungen filr einen Frieden in Bosnien-Herzegowina. Am 5. Oktober verkiindete Prasident Clinton einen Waffenstillstand ab 10. Oktober, der dann nach emeuten Luftangriffen auf serbische Raketenstiitzpunkte zehn Tage spater allgemein eingehalten wurde. Der Weg filr das Friedensabkommen war frei.
27.2. Das Abkommen von Dayton
Am 1. November trafen der kroatische, bosnische und serbische Prasident mit ihren Delegationen auf dem Luftwaffenstiitzpunkt Wright Patterson in Dayton, Ohio zusammen, urn aufgrund der bereits vorliegenden Plane ein endgilltiges Friedensabkommen filr Bosnien-Herzegowina zu erzielen. Nach wochenlanger Pendeldiplomatie wurde von Holbrooke in Einvemehmen mit US-AuI3enminister Warren Christopher nun der
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umgekebrte Weg gewablt, namlich die Vertreter der Konfliktpartien an einem Ort zu versanuneln und im Paket aile Bausteine eines Friedens in die passende Form zu bringen. Die Dayton-Verhandlungen begannen mit Vorverhandlungen (proksimity talks): 1) zwischen Kroatien und Serbien so lIte eine bilaterale Losung fiir das letzte okkupierte Gebiet in Kroatien erzielt werden, d.h. ein Abkommen iiber die schrittweise Wiedereingliederung des Ost-Sektor der UNPA, "Ostslawonien" (genau genommen bestehend aus Baranja, Ostslawonien und Westsyrmien); am 12. November 1995 stimmten die aufstandischen Serben dem Plan der schrittweisen Reintegration in den kroatischen Staat zu. 2) Die nach Beendung des bosniakisch-kroatischen "Nebenkrieges" (R. Holbrooke) auf dem Papier bestehende und trotz gemeinsamer militarischer Erfolge brokkelnde bosniakisch-kroatische FOderation sollte stabilisiert werden. Vnter maBgeblicher Rolle deutscher Diplomaten, vor allem Michael Steiners, wurde in getrennten Verhandlungen ein Abkommen iiber die FOderation und den Status der Stadt Mostar erarbeitet und verabschiedet. Diese Abkommen waren Vorbedingungen fUr den eigentlichen bosnischen Friedensvertrag. (~ Kap. 26) Nach Jahren, in denen Serbiens Prasident Slobodan Milosevi6 jegliche Verantwortung fUr die Geschehnisse in Bosnien offentlich geleugnet hatte, stand er nun als Vertreter der bosnischen Serben den Amerikanem gegeniiber. Dies bedeutete, dass Milosevi6 diesmal nicht befUrchten musste, dass die bosnischen Serben ein Abkommen sabotieren wiirden, wie sie es 1993 mit der Ablehnung des in Athen ausgehandelten Vance-Owen-Plan durch das Parlament in Pale getan hatten. Gegeniiber den Kontakt-
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gruppenstaaten hatte Milosevic seine Schliisselposition in der Region wiedererlangt. In Dayton wurde er mit besonderem Zuvorkommen behandelt und kam in den Genuss des Privilegs, den nachrichtendienstlichen Besprechungsraurn des Prasidenten betreten zu dUrfen, wo man ibm Informationen zeigte, die Tudman und Izetbegovic verweigert worden waren - wenngleich dies auch den Sinn hatte, ihm deutlich zu machen, wieviel Material das Pentagon iiber die serbischen Einheiten besaB und wie verwundbar diese somit seien. Ironischerweise wurden durch das Dayton-Abkommen nach Jahren vergeblicher Versuche, die Serben zu territorialen Konzessionen an die Muslime und Kroaten zu bewegen, Gebiete nach dem von der Kontaktgruppe vorgeschlagenen und von Holbrooke iibemommenen Schliissel von 49:51 an die Serben zurUckgegeben. Obwohl nach ihren Niederlagen dieses Verhaltnis den Serben entgegenkam, war es ausschlaggebend, dass Holbrooke - anders als die bisherigen Vermittler - die Verhandlungen mit der Drohung weiterer Militiirschlage fiihren und damit Druck auf die unbeweglichen Serben ausiiben konnte. Wie er im darauffolgenden Sommer wahrend der Konferenz von Crans, Montana (Schweiz) zugab, machte sich Holbrooke keine Illusionen, dass das Dayton-Abkommen lediglich "ein Frieden" im Sinne der bestmoglichen Verhinderung eines Wiederauffiammens der Kriegshandlungen war, urn danach ein lebensfahiges Bosnien-Herzegowina schaffen zu konnen. Die Schliisselpunkte des Dayton-Abkommens sahen die Trennung und Demilitarisierung der beiden Bestandteile (,,Entitaten") Nachkriegsbosniens, der BosniakischKroatischen FOderation (FOderation BiH) und der Serbischen Republik (Republika Srpska, RS) vor. Die Erzwingung des Friedens sollte zusammen mit der Festnahme mutmaBlicher Kriegsverbrecher den Grundstein fUr das Funktionieren gemeinsamer Institutionen in Bosnien-Herzegowina, fUr die Riickkehr von Fliichtlingen in ihre Hauser sowie einen Wiederaufbau der Wirtschaft legen. Die militiirischen Aspekte des Dayton-Abkommens wurden mit bemerkenswert geringen Schwierigkeiten urngesetzt. Die Kriegsparteien wurden getrennt und ihre Streitkrafte in erstaunlichem Umfang demobilisiert. Die Anwesenheit einer 60.000 Mann starken, von den USA angefiihrten Tuppe (lFOR = Implementation Force) mit schwerer Ausriistung entmutigte den Widerstand. Wie ihre Nachfolgerin, die SF OR (Stabilization Force), stieB sie praktisch aufkeinen Widerstand und erlitt keine Kampfverluste. Die zivilen Aspekte des Dayton-Abkommens erwiesen sich unterdessen als problematischer. Die ethnischen Sauberungen setzten sich auch nach dem Dayton-Abkommen faktisch in Zusammenarbeit mit der IFOR fort. Als die zuvor serbisch kontrollierten Vororte von Sarajevo, besonders IlidZa, im Februar 1996 wieder unter die Kontrolle der bosnischen Regierung gelangten, stellte die IFOR Transportfahrzeuge zur Verfiigung, mit denen ortsansassige Serben evakuiert wurden, wie von BehOrden in Pale angeordnet. Dies schien die zynische Interpretation des Dayton-Abkommens zu bestatigen, nach der hinter den frommen Wiinschen nach Wiederherstellung eines vereinten, wenn auch foderalisierten Bosnien-Herzegowinas tatsachlich die Annahme der USA und ihrer Alliierten stand, dass nur eine Trennung der Bevolkerung zu einer langfristigen Losung fiihren konne.
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Das Schicksal des strategisch bedeutsamen HafensHidtchens Brcko blieb einem spateren Schlichtungsverfahren vorbehalten, das urspriinglich im Dezember 1996 abgeschlossen sein sollte, aber erst im Miirz 1999 mit Schaffung einer internationalen Verwaltung der von den Serben beanspruchten Stadt endete. Das Dilemma von Brcko gab zu dem Vorwurf Anlass, dass die Durchsetzung des Dayton-Abkommens die Ergebnisse ethnischer Sauberungen zementiere. Brcko stellte fUr die Garantiemachte des Dayton-Abkommens ein klassisches Problem dar: Die muslimisch-kroatische Mehrheit in der Stadt war 1992 "gesaubert" und durch Fliichtlinge aus der ,,Krajina" und Bosnien serbisch majorisiert worden. Ohne die Kontrolle Brckos und des Posavina-Korridors sind die Bestrebungen der Politiker del' Republika Srpska zunichte gemacht, einen de facto unabhangigen Staat zu etablieren, da ihr Staatsgebilde in zwei Teile geteilt ist.
27.3. Bosnien-Herzegowina als Halbprotektorat? 1m ersten Jahr nach Dayton mussten die IFOR und der Hohe Reprasentant, der Schwede Carl Bildt, harsche Kritik hinnehmen, dass sie unfahlg seien, "ethnische Sauberungen" riickgiiDgig zu machen oder sogar ihre Fortsetzung ermoglichten. Ein anderes Schliisselproblem, niimlich die Verhaftung mutmaBlicher Kriegsverbrecher, schien oft die (Willens )kraft der IFOR zu iibersteigen. Erst im Juli 1997 wurden die ersten Angeklagten gewaltsam vor das Haager Kriegsverbrechertribunal gebracht, nachdem SFORTruppen eine Anzahl zweitrangiger Beschuldigter unter den bosnischen Serben festgenommen hatten. Bis Herbst 1997 hatte der von den USA ausgeiibte Druck die bosniakischen und spater auch die kroatischen BehOrden dazu bewegt, j ene in ihrem Zusmndigkeitsbereich befindlichen Verdachtigen auszuliefern, die sich noch nicht freiwillig dem Haager Tribunal gestellt hatten. (7 Kap. 30) Auf serbischer Seite hingegen blieb es beim Widerstand gegen die Erfiillung entsprechender Forderungen. Ungeachtet der Geriichte urn seine bevorstehende Verhaftung blieb Karadiic jedoch ebenso in Freiheit wie Mladic. Obwohl der Aufenthaltsort beider weithin der ortlichen Presse zu entnehmen war, scheuten die USA und ihre Verbiindeten den Schusswechsel mit Leibwachtem im Falle einer Verhaftung. Erst im Dezember 1998 gelang die Festnahme des Generals der bosnischen Serben Radislav Krstic, im Januar 1999 folgte sogar die Totung eines Verdachtigen, der sich der Festnahme durch franzosische SFOR-Einheiten widersetzte. Zugleich verschiirfte sich die Frage, wie Demokratie und Integritat von BosnienHerzegowina zu verwirklichen seien, wenn eine Mehrheit der serbischen Wahler Kandidaten ablehnt, die zur Einhaltung der Prinzipien des Dayton-Abkommens bereit sind. Die Ausweitung des Mandats des Hohen Reprasentanten durch den Dayton-Implementierungsrat Ende 1997 in Bonn hatte einige F ortschritte bei der Verwirklichung des zivilen Teiles des Abkommens gebracht. Da die gemeinsamen Institutionen und die Prozeduren der Gesetzgebung durch widerspriichliche Interessen der Nationalitaten geliibmt sind, wird Bosnien-Herzegowina in einer Art Halbprotektorat durch Erlasse des Hohen Reprasentanten, seit Juni 1997 in der Person des ehemaligen spanischen AuBenministers Carlos Westendorp, regiert. Der Hohe Reprasentat wird yom UN-Si-
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cherheitsrat bestatigt, nachdem er yom Dayton-Lenkungsausschuss, dem die G-8-Staaten, Vertreter der EU und islamischer Staaten angehOren, ernannt wurde. Eine noch groBere Zahl Mitglieder hat der jiihrlich auf Ministerebene konferierende Friedensrat fUr Bosnien-Herzegowina: Es sind 20 intemationale Organisationen und 50 Staaten, darunter die Nachbarliinder Bosnien-Herzegowinas, die Staaten, die Soldaten der SFOR stellen, sowie die Kontaktgruppenstaaten. Westendorp und US-General Jacques Klein verfolgten mit der Einsetzung von Dayton-konformen Politikem in die Regierung der Republika Srpska eine energische Politik. Die Stiitzung Biljana Plavsics, der Pdisidentin der RS (1996-1998), als Rivalin von KaradZic und seiner aus dem Versteck wirkenden Autoritat brachte Risiken mit sich. Urn Plavsic gegenuber Karadzics Getreuen, insbesondere in den Reihen der paramilitiirischen Polizeitruppen der Republika Srpska zu stiitzen, wurden im Sommer 1997 wiederholt SFOR-Einheiten eingesetzt und Medien mit Zensur belegt, die Plavsic und das Haager Tribunal angriffen. Die Besetzung von Femseh- und Radiorelaisstationen im September 1997 war Teil des anhalt end en Versuches der SFOR, die proKaradzicschen Krafte in der Republika Srpska zu zermfuben, ohne eine militarische Auseinandersetzung zu provozieren. Plavsics Bereitschaft zu Kompromissen fiihrte bei den Wahlen im Herbst 1998 zu starken Stimmverlusten zugunsten des kompromislosen serbischen Nationalisten Nikola PoplaSen. Eine Besserung hatte sich angekUndigt, als im Januar 1998 Milorad Dodik von den Unabhiingigen Sozialdemokraten (Nezavisni Socijaldemokrati Republike Srpske) im Aufuag der Prasidentin Plavsic eine neue Regierung bildete, deren Sitz von Pale nach Banja Luka verlegt wurde. Dodik fand die Unterstiitzung anderer serbischer Parteien, die in der Opposition gegen KaradZics SDS stehen, und der bosniakischen Abgeordneten (zumeist von der SDA). Nach den Oktoberwahlen 1998 verfiigte Dodik uber eine knappe Mehrheit im Parlament, dennoch betrieb der neue Prasident Poplasen im Marz 1999 seinen Sturz. Daraufwurde Poplasen yom Hohen Reprasentanten Carlos Westendorp wegen seiner hartnackigen Obstruktionspolitik auch in anderen Fallen des Amtes enthoben. Neben solchen Interventionen war eine wichtige konstruktive, yom Hohen Reprasentanten durchgesetzte MaBnahme die Einfiihrung einheitlicher Kfz-Nummemschilder, die aus Buchstaben zusammengesetzt werden, die im lateinischen und kyrillischen Alphabet gleich sind, die Herkunft des Fahrzeuges nicht verraten und dadurch relative Bewegungsfreiheit ermoglichen. Durch Erlass wurden auch die gemeinsame Wahrung (,,Konvertibilna Marka"), eine Landesfahne (allerdings ohne nationale Symbole) und einheitliche Passe eingefiihrt. 1m Hochsommer 1998 kam es auch in der HDZ im bosnisch-kroatischen ,,HercegBosna" zu Bewegungen, als sich Kresimir Zubak von der HDZ trennte und eine neue Partei griindete, die sich den bislang tonangebenden kroatischen Hardlinem entgegensetzte, und die Aufrechterhaltung von Bosnien-Herzegowina als politisches Ziel proklamierte. Auch wenn Zubak, dem eine Vergangenheit als Schwarzhiindler vorgeworfen wurde und gegen den kroatische Nationalisten eine heftige Kampagne fiihrten, bei den Wahlen fUr das FOderationsprasidium 1988 eine empfindliche Niederlage erlitt, scheinen seine nationalistischen Kontrahenten aus der HDZ - unter neuer Fiihrung von
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Ante Jelavic - seine kooperative Haltung zur Verwirklichung der Dayton-Prinzipien iibemommen zu haben. Die iiberwiegenden politischen Kriifte der RS sehen im Dayton-Abkommen die intemationalen Rahmenbedingungen fUr eine yom bosnisch-herzegowinischen Rwnpfstaat de facto getrennte serbische Republik und zeigen keine Bereitschaft, muslimische oder kroatische Fliichtlinge in ihre Heimat zuriickkehren zu lassen. Nur etwa 60.000 von insgesamt bis dahin 550.000 riickgekehrten Fliichtlingen insgesamt waren bis Ende 1998 (das zwn "Jahr der Riickkehr" proklamiert wurde) in die Gebiete zuriickgekehrt, wo sie Minderheiten sind, also gleichsam in ,,Feindesland" (~ Kap. 33). Die Mehrheit der Riickkehrer siedelt sich dort an, wo die politische Fiihrung der eigenen Ethnie das Sagen hat. Das Fliichtlingsproblem wird die Grundlage fUr eine dauerhafte Friedensregelung wohllange Zeit beeintriichtigen. Die geringe Riickkehr von muslimischen Fliichtlingen mit technischer Ausbildung aus den Aufnahmeliindem auBerhalb des ftiiheren Jugoslawien bedeutet ebenfalls, dass es mit wirtschaftlichen Aussichten fUr einen Wiederaufbau schlecht bestellt ist. Der Kosovo-Konflikt ab Friihjahr 1998 hat seinen Schatten auf Bosnien geworfen. Die Kosovo-Frage war in Dayton unberiicksichtigt geblieben, teilweise wn sich Milosevic nicht zwn Feind zu machen, teilweise auch, weil die Politik des passiven Widerstands der Kosovo-Albaner der Ansicht Vorschub leistete, der Konflikt sei gewissermaBen ein erloschener VuIkan. Die Ausbreitung der Gewalt im Kosovo veranlasste die westlichen Regierungen zu markigen Verlautbarungen iiber ihre Entschlossenheit, keine Riickkehr zu ethnischer Siiuberung hinnehmen zu wollen. Demonstrationen von NatoLuftstreitkriiften vermochten den Machthabem Jugoslawiens nicht klar genug zu signalisieren, dass der Westen keine Auseinandersetzungen und ethnische Siiuberung hinnehmen wiirde, wie man sie 1991-1995 erlebt hatte. Nachdem diese Drohung nicht gefruchtet hatte, kam es zur Nato-Intervention von Marz bis Juni 1999. Trotz mancher BefUrchtungen waren deren Folgen fUr Bosnien-Herzegowina eher marginal. Weder die Kappungjugoslawischer Verbindungslinien noch der Abschuss vonjugoslawischen Flugzeugen iiber dem Territoriwn der RS hatten emsthafte Auswirkungen, nicht einmal der iiberraschende, allen Vereinbarungen widersprechende VorstoB russischer SFOR-Einheiten aus Bosnien nach Prishtina am 12. Juni 1999. Sollte die Niederlage im Kosovo in Serbien dazu fillrren, endlich die groBserbischen Triiwne zu iiberwinden, hiitte das Folgen fUr das hartniickig verfolgte Projekt, das immer auch den Anschluss der Republika Srpska an das serbische Mutterland beinhaltet. In den letzten Tagen vor dem Nachgeben Milosevics wurde der Protest in der RS gegen angebliche Absichten Milosevics, die RS aufzugeben und die serbische Bevolkerung Bosniens in das menschenleere Kosovo iibersiedeln zu wollen, immer lauter. Nach der Niederlage in Kosovo und der Riickkehr der vertriebenen Albaner ware eher denkbar, dass die Stimmen Auftrieb erhalten, die im Anschluss in der RS an Serbien eine Kompensation fUr das "verlorene" Kosovo sehen. Injeder Hinsicht bleibt der Neuaufbau Bosnien-Herzegowinas noch lange eine schwere Aufgabe. Deutsch von Robert Hammel Textergdnzungen von Dunja MelCic
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Anhang: Die Kiirperschaften des bosnisch-herzegowinischen Staates
Das dreikopfige Staatspriisidium von Bosnien-Herzegawina: 1996-1998 Alija Izetbegovic (Vorsitzende), Momcilo Kraji§nik, Kre§imir Zubak 1998-1999 wechselt der Vorsitz auf das neue serbische Mitglied, mittlerweile Zivko Radi§ic Juni 1999 wurde das neue kroatische Mitglied im Prasidium, mittlerweile Ante Jelavic, Vorsitzender. Entsprechend dieser integralen Institution des Staatsprasidiurns gibt es eine Regierung fur den ganzen Staat Bosnien-Herzegowina (wenn auch mit eingeschrlinkten Kompetenzen) Als Regierungschefs wechseln sich im Tumus Haris SilajdZic (Muslim) und Boro Bosic (Serbe) ab, wiihrend Jadranko Prlic (Kroate) fur AuBeres zustandig ist. Seine Stellvertreter gehorenjeweils den beiden anderen Ethnien an. Die anderen Ministerien (Handel und Wirtschaftsbeziehungen, Verkehr), der Ministerrat und andere Institutionen sowie diplomatische Vertretungen sind ebenfalls nach dem ethnischen Schliissel besetzt, wiihrend die Posten des GouvemeUTs der Zentralbank und des Direktors der Zollbehorden (FOderation) dUTCh Nicht-Bosnier besetzt werden. 1m Abgeordnetenhaus der Republik entfallen 28 Sitze an die FBiH und 14 Sitze an die RS.
Die Korperschafien der Gebietseinheiten: Das Abgeordnetenhaus der Foderation hat 140 Sitze. Das Prasidium wird ebenfalls tumusmaBig besetzt: 1996-1998 Ejup Ganic I Kresimir Zubak; seit 1998 Ivo Andric Luianski (Kroate) IEjup Ganic (Muslim). Regierungschefist seit 1996 Edhem Bicakcic (Muslim), sein Stellvertreter Dragan Covic (Kroate). Die Ministerien (Landwirtschaft, Verteidigung, Bildung, Energiewirtschaft, Finanzen, lustiz, Gesundheit usf.) werden auch nach dem ethnischen Schliissel im Tumus besetzt. 1m Friihjahr 1999 kam der stellvertretende Minister des Inneren, lozo Leutar, bei einem Anschlag urns Leben. Die Nationalversammlung der RS hat 82 Sitze. 1996-1998 war Biljana Plav§ic Prasidentin, 1998 abgelost dUTCh Nikola popla§en, den der Hohe Repasentant fur Bosnien-Herzegowina im Man 1999 abgesetzt hat. Das Amt wurde von seinem Stellvertreter Mirko Sarovic iibemommen. Regierungs chefder Republika Srpska ist seit 1998 Milorad Dodik. Alle Ministerien sind dUTCh serbische Politiker besetzt.
QueUe: http://www. odci.gov!cialpublications!chieftI3 026. html
Literatur Priizise und eingehende Schilderung der Verschiebungen an den Fronten, die die Bedingungen fur die Verhandlung in Dayton schaffien, sowie eine Einschatzung der diplomatischen Aktivitaten des Westens, vor allem der amerikanischen Seite, bietet: Roland SchOnfeld, "Auf dem Wege nach Dayton", in: Sudosteuropa Mitteilungen, 19961Nr. I, S. 95-118; Marie-lanine Calic, "Nach Dayton: Wege zur Stabilisierung des Friedens", in: ebd. S. 119-128; Andreas Heilbom, "Die Wahlen in Bosnien-Herzegowina. Entwicklungen - Analysen - Perspektiven", in: Sudosteuropa Mitteilungen, 19961Nr. 4, S. 300--318. Unverzichtbar zorn Verlauf der Dayton-Verhandlungen ist naturlich: Richard Holbrooke, Meine Mission, Miinchen 1998. Wichtiges Material enthiilt die Yom deutschen Auswiirtigen Amt herausgegebene Dokurnentation: Deutsche Aufienpolitik 1995. Auf dem Weg zu einer Friedensregelungfiir Bosnien und Herzegowina: 53 Telegramme aus Dayton, Bonn 1998. ZUT jiingeren Entwicklung: Jens Reuter, "Die politische Entwicklung in Bosnien-Herzegowina. Zusammenwachsen der Entitaten oder nationale Abkapselung?" in: Sudosteuropa 3-4/1998, S. 97-116; MarieJanine Calic, "Probleme der Intemationalen Friedenssicherung in Bosnien-Herzegowina", in: Sudosteuropa-Mitteilungen 38 (1998), S. 215-230; Peter Schlotter, Ein Jahr Dayton-Friedensabkommen - Eine Bilam der zivilen 1mplementierung, HSFK-Report, Frankfurt a.M. 1997
28. Die politische Entwicklung Kroatiens von 1990-1997 Mirjana Kasapovic
28.1. Der schwierige Weg zum Machtwechsel
Nicht nur der Krieg, sondem auch die eigentiimliche Form der politischen Transition hat die politische Entwicklung in Kroatien maBgeblich beeinflusst. Der Zusammenbruch des alten Regimes war nicht Folge einer Abdankung der kommunistischen Herrschaft unter massivem Druck "von unten". Auch Verhandlungen und Biindnisbildungen zwecks Verfassungsanderung spielten dabei kaum eine Rolle, denn sie beschrankten sich auf eioige inoffizielle Gespriiche zwischen Regierung und Opposition und fiihrten zu keiner wirklichen Verstandigung. Die demokratischen Veranderungen begannen als ,,Durchsetzung der Ideen einer dominanten politischen Gruppe" (Von Beyme), und somit waren. die Beziehungen zwischen den Dogmatikem und den Reformkreisen innerhalb der kroatischen kommunistischen Partei fUr die anfangliche Dynamik des politischen Wandels ausschlaggebend. Die Dogmatiker standen den Hardlinem Un Bund der Kommunisten Jugoslawiens (SKJ) nahe, die fUr den Erhalt Jugoslawiens und seiner sozialistischen Gesellschaftsordnung eintraten. Den Ausweg aus der Krise des Staates und der Gesellschaft sahen sie in der sogenannten "antibu.rokratischen Revolution", die Ende der achtziger Jahre von der politischen Fiihrung Serbiens propagiert worden war. Formal gesehen stellte die antibiirokratische Revolution ein Projekt moralischer und politischer Emeuerung dar. Tatsiichlich jedoch war sie eine Kombination institutioneller und auBerinstitutioneller Formen der Abrechnung mit politischen Abweichlem, die sich den unitaristischen Tendenzen der FOderation widersetzten und statt bloBer kosmetischer Korrekturen eine Veranderung der sozialistischen Strukturen anstrebten. Die dogmatische Fraktion setzte sich vorwiegend aus den Reihen des Militiir-, Polizei- und Beamtenapparats sowie aus Teilen des Parteiapparats zusammen; ihr gehOrten iiberdurchschnittlich viele Serben aus den Republik- und Parteistrukturen Kroatiens an. Die Reformer beschriinkten sich anfangs auf eine teilweise Liberalisierung des politischen Lebens. Ihre Position radikalisierte sich erst, als sie unter Druck gerieten und angesichts der sich rasch unter den kroatischen Serben ausbreitenden nationalistischen Bewegung in Panik gerieten. Die Einsicht, dass man der antibu.rokratischen Revolution eine "demokratische Revolution" entgegensetzen miisse, die auch von relevanten bu.rgerlichen Institutionen (Massenmedien, katholische Kirche, Gewerkschaften, Kulturund Bildungseiorichtungen u.a.) sowie neu gegriindeten Oppositionsparteien unterstUtzt wiirde, setzte sich verhiiltnismaBig spiit durch. Dann aber fiihrte sie an der Jahreswende 1989/90 zu einem beschleunigten Prozess politischer und normativer Veranderungen, die schlieBlich die ersten freien Wahlen im Mai 1990 und damit zum ersten Mal einen Machtwechsel ermoglichten: Den herrschenden Bund der Kommunisten Kroatiens (SKH) loste die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) abo
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Die faire Durchfiihrung von Wahlen und die friedliche AblOsung des SKH von der Macht nach fast einem halben Jahrhundert totalitiirer Herrschaft haben wesentlich die Beziehungen zwischen der neuen und der alten politischen Elite bestimmt. Die alte Elite wurde teilweise in die neuen politischen Institutionen integriert, wobei die neue Regierung auch Teile der alten polizeilichen, militiirischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen iibernahrn. ,,zwar kam es auf der Ebene der hOchsten staatlichen Fiihrung zum personalen Wechsel (auch wenn viele der HDZ-Fiihrungsfiguren, einschlieBlich Tudman selbst, eine Geschichte zurnindest als mittlere oder untere Kader der kommunistischen Nomenklatura hinter sich haben), aber die neue Regierungspartei nahm zugleich praktisch alle politischen UberHiufer aus dem alten Regime ... willig auf' (Zakosek). In Kroatien waren ehemalige Mitglieder der kommunistischen Partei oder Anhanger des kommunistischen Regimes keinen kollektiven Racheakten oder Vergeltungen ausgesetzt. Vielmehr begniigte sich die "Vergangenheitspolitik" mit sporadischer Disqualifikation von Tatem und Restitution zugunsten von Opfem (Offe), ein radikales Vorgehen wie in der tschechischen "Lustration" blieb jedoch aus. Diese Verhaltensweise war durch drei Faktoren bedingt. Erstens bewog der Vorkriegs- und Kriegszustand die neue Regierung, der national en Homogenisierung den Vorrang vor breit angelegten VergeltungsmaBnahmen an den Akteuren des alten Regimes zu geben. Diese hatten ihrerseits den inneren Konflikten in der Nation wieder Auftrieb geben konnen, und dies zu einer Zeit, die fUr das reine Uberleben des neu geschaffenen Staates von existentieller Bedeutung war. Zweitens beschworen die neue herrschende Partei und insbesondere ihr Vorsitzender Franjo Tudman prinzipiell das ideologische Projekt einer allgemeinen nationalen Aussohnung, worin sie die Hauptbedingung fUr das weitere nationale und staatliche Bestehen Kroatiens nach Jahrhunderten der nationalen Zersplitterung und staatlichen Fremdbestimmung sahen. Drittens war die neue herrschende Partei aus pragmatischen GrUnden auf einen Teil der alten adrninistrativen Elite angewiesen. Da sie als junge Partei noch nicht geniigend eigene Wege zur Rekrutierung administrativer Kriifte aufgebaut hatte, mussten die alten Wirtschafts-, Justiz- und Polizeikader etc. das Vakuum nach dem Machtwechsel MIen. Die beachtliche Kontinuitat der Kader bei der Emeuerung der administrativen Elite korrespondierte mit der normativen Kontinuitat zwischen alter und neuer staatlicher Ordnung. In der Praambel der im Dezember 1990 verabschiedeten kroatischen Verfassung wurden siimtliche Verfassungsakte der ehemaligen sozialistischen Republik Kroatien - zusammen mit einer Reihe weiterer staatsrechtlicher Dokumente - zu Quellen der gegenwiirtigen kroatischen Staatlichkeit erkliirt. Diese normativ-prozedurale Kontinuitat wurde jedoch auf ideologisch-symbolischer Ebene von einer radikalen Kritik am friiheren Regime begleitet.
28.2. Tutlmao uod die HDZ Die politische Entwicklung Kroatiens nach den Wahlen und dem Machtwechsel von 1990 wurde maBgeblich vom ideologisch-politischen Profil und den Praferenzen der
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HDZ und ihres Vorsitzenden Franjo Tudman gepragt. Aus einer nur rudimentaren Partei entwickelte sich die HDZ am Vorabend der Wahlen rasch zu einer breiten Nationalbewegung, die zwei grundsatzliche Ziele verfolgte: (1) die staatliche Unabhangigkeit Kroatiens - sei es im Rahmen einer jugoslawischen Konfoderation, die anfangs auch von der HDZ offiziell angestrebt wurde, oder auch au13erhalb des Staatenbundes, was der verdeckten eigentlichen Intention der HDZ entsprach, und (2) die Zerschlagung des kommunistischen Regimes. Dabei hatte die Bewegung kein eindeutiges ideologisches Profil, sie war vielmehr ein Amalgam aus nationalistischen, katholischen, populistischen, gewaltfreien und demokratischen Bestrebungen. Von den meisten gesellschaftlichen Bewegungen, die am Vorabend der revolutionaren Umbriiche in Ost- und Mittelosteuropa entstanden waren, unterschied sich die kroatische Nationalbewegung dadurch, dass sie von einer einzigen Partei und derem charismatischen FUhrer Franjo Tudman angefiibrt wurde. Franjo Tudman war ein typischer Reprasentant des kroatischen Dissidentenkreises, der sich hauptsachlich nach der brutalen Niederschlagung des ,,kroatischen Friihlings" 1971 herausgebildet hatte, jener Massenbewegung, die im Bunde mit der damaligen kommunistischen Fiihrungsriege Kroatiens entstanden war und gleich ihr die Ziele einer Konfdderalisierung Jugoslawiens sowie grundlegender wirtschaftlicher und politischer Reformen des sozialistischen Systems verfolgt hatte. Aus den gleichen Kreisen stammte die Mehrheit der Griinder und Fiihrungspersonlichkeiten der neuen Oppositionsparteien (z.B. Savka Dabcevic-Kucar, Mika Tripalo, Vlado Gotovac, Dra.zen Budisa, Marko Veselica und andere) Anfang der 90er Jahre. Tudman, einst Mitkampfer in der antifaschistischen Partisanenbewegung, war bis Ende der sechziger Jahre ein relativ einflussreicher militarischer Funktionar des kommunistischen Regimes Jugoslawiens und Vertreter der offiziellenjugoslawischen Geschichtsschreibung und wurde dann wegen seiner von der offiziellen Politik und ihrer Geschichtsinterpretation abweichenden Haltung - gewohnlich als ,,nationalistische Abweichung" etikettiert - zum Dissidenten und politischen Gefangenen. 1m Status des Dissidenten erlebte er die politischen Veranderungen Ende der achtziger Jahre, als er nach zwanzigjahriger Abwesenheit aus dem ofIentlichen und politischen Leben in der Rolle des Griinders und Vorsitzenden der HDZ wieder auf sich aufmerksam machte. (-7 Kap. 13) Nach dem Wahlsieg der HDZ fiel die Bewegung nicht auseinander, sondem wurde zum einen institutionalisiert und behielt zum anderen die eigenartige Dynamik einer Bewegung innerhalb der Partei bei. Von 1990 bis 1995 - also bis zum militarischen Sieg Kroatiens im Krieg mit SerbienlJugoslawien, als beide urspriinglichen Ziele der nationalen Bewegung verwirklicht wurden - strukturierte sich das politische Leben des Landes im Dreieck Staat-Partei-Bewegung. Das von der herrschenden Partei praktizierte Modell des politischen Handelns basierte auf einer Kombination von ordnungspolitischer Stabilitat und Massenmobilisierung. Die Stabilitat der politischen Ordnung sollte durch verhaltnismlillig rigide konstitutionelle Arrangements gewahrleistet werden. 1m Hinblick auf die zwei wesentlichen ,,konstitutionellen Wahlmoglichkeiten" (Lijphart) entschied sich die HDZ fUr den franzosischen semi-prasidentiellen Verfassungstyp und fUr ein kombiniertes Wahlsystem. Der im semi-prasidentiellen Regierungssystem Kroatiens direkt gewahlte Prasident ist
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das Staatsoberhaupt und fimgiert neben dem Parlament als Trager der Volkssouveranitat. Der Staatsprasident emennt und entlasst Premierminister und Vizeprasidenten sowie Regierungsminister. Zudem hat er die Moglichkeit, Regierungssitzungen einzuberufen, denen er vorsitzt und deren Tagesordnung er direkt bestimmen kann. Des weiteren ist er befugt, das Parlament aufzulosen, falls dieses der Regierung das Misstrauen ausspricht oder dem Staatshaushalt nicht binnen eines Monats zustimmt. SchlieBlich hat er das Recht, Verordnungen mit Gesetzeskraft zu verabschieden und, im Kriegsfall oder Ausnahmezustand, auBerordentliche MaBnahmen zu verfiigen. Hinsichtlich dieser Vollmachten - und vor allem im Hinblick auf das Verhaltnis von Exekutive und Legislative - wird das Regierungssystem in Kroatien als ,,Prototyp" eines prasidentiellen Parlamentarismus betrachtet (Glassner). Diese Befugnisse nutzte der Prasident besonders wahrend der Kriegszeit, als mehrere Erlasse beziiglich der Innen- und Informationspolitik, der Justiz und Sozialpolitik ergingen. Die Erlasse des Prasidenten sind sofort rechtskraftig, das Parlament kann sie erst nachtraglich anfechten. Die Einfiihrung des kombinierten Wahlmodus hing unmittelbar mit dem semi-prasidentiellen Regierungssystem zusammen. Grundsatzlich bevorzugte die regierende Partei das Mehrheitswahlrecht als institutionellen Mechanismus, mit dem die relative Stimmenmehrheit in die absolute Mehrheit der Mandate verwandelt wird, was dann eine ,,Kohabitation" zwischen dem Staatsprasidenten und einer parlamentarischen Mehrheit anderer Parteien verhindert. In den Augen Franjo Tudmans war eine Machtteilung nicht nur hOchst unerwiinscht, sondem hatte zudem das Fortbestehen des Staates gefahrdet. Als bei den Kommunalwahlen 1995 das Wahlbilndnis der Oppositionsparteien in Zagreb 64 Prozent der Sitze im Rathaus errang, machte das Staatsoberhaupt von seinem Recht Gebrauch und lehnte es ab, aIle vier Biirgermeisterkandidaten des siegreichen Oppositionsbilndnisses nacheinander zu bestatigen. 1m Verlauf der ,,zagreber Krise" von 1995-1997 gelang es der Mehrheit im Rathaus nicht, ihre Exekutivgewalt zu erlangen. Statt dessen regierte in Zagreb eine yom Prasidenten emannte Biirgermeisterin und eine oktroyierte Stadtregierung. Diese Politik verteidigte der Prasident mit folgenden Worten: "Wir konnen nicht zulassen, dass hier in der Hauptstadt Kroatiens irgend welche oppositionelle Verhaltnisse entstehen, welche die Stabilitat des Landes aus dem Gleichgewicht bringen konnten." Dennoch entschied sich die HDZ aus pragmatischen GrUnden fUr ein kombiniertes Wahlsystem, das Elemente des Mehrheits- und des Verhiiltniswahlrechts vereinte, aber von Wahl zu Wahl anders geregelt wurde. Mit der Reform des Wahlrechts 1995 erhOhte sich die Anzahl der Listenplatze zu Ungunsten der Direktmandate (80:28). Zusatzlich wurde die Sperrklausel fUr einzelne Parteien auf 5 Prozent, fUr ein Zweiparteienbilndnis auf 7 Prozent und fUr gro/3ere Parteibilndnisse auf 11 Prozent differenziert. Ausgehend von der Erwagung, dass nach dem militiirischen Zusammenbruch des serbischen parastaatlichen Gebildes in Kroatien und dem dadurch verursachten Massenexodus der kroatischen Serben, deren Bevolkerungsanteil deutlich gesunken sein musste, wurde die vorgesehene Mandatszahl ihrer Vertreter verringert und die Modalitat fUr deren Wahl abgeandert. Die politisch radikalste Veranderung im neuen Wahlgesetz bestand darin, dass den im Ausland lebenden Kroaten das Recht auf ihre Vertretung im
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Parlament mit festgelegten 12 Sitzen gewahrt wurde. Obwohl dieses Recht nominell den weltweit verstreuten kroatischen Staatsbiirgern galt, diente es dazu, den bosnischherzegowinischen Kroaten im Parlament ihre Vertretung zu ermoglichen. Damit verwirklichte man zwei Ziele: zum einen die Stlirkung der HDZ innerhalb des Parlaments, da samtliche Abgeordneten der bosnisch-herzegowinischen Kroaten Mitglieder der dortigen HDZ sind, zum anderen wurde die kroatische Gemeinde Bosnien-Herzegowinas in die politisch-institutionelle Ordnung Kroatiens inkorporiert, was sich als symbolische "politische Annexion" interpretieren Hisst. Die HDZ setzte sich lange fUr ein Zweiparteiensystem im Land ein, obwohl die Art und Zahl politischer und gesellschaftlicher Interessengegensatze innerhalb der kroatischen Wiihlerschaft soleh eine Parteienentwicklung ausschloss. Nur bei den ersten Wahlen 1990 polarisierte sich die Wiihlerschaft gemiiB der dominierenden Spaltung zwischen dem Gugoslawisch orientierten) Zentrum und der (kroatisch orientierten) Peripherie, d.h. zwischen den Anhangem und Gegnern der staatlichen Unabhiingigkeit. (Zu den Gegnem staatlicher Souveriinitat werden hier undifferenziert alle Anhiinger eines wie auch immer gearteten jugoslawischen Unitarismus geziihlt, von Unitaristen iiber FOderalisten bis zu Konfdderalisten). Der grundsatzliche Gegensatz Zentrum-Peripherie umfasste weitere Subpolarisierungen: Zur ethnischen Kluft zwischen kroatischer Mehrheit und serbischer Minderheit kam ein funktionaler Gegensatz zwischen den Gegnem und den Anhiingern des Sozialismus hinzu. Diese gesellschaftspolitischen Briiche innerhalb der BevOikerung auBerten sich in einer parteipolitischen Polarisierung in zwei Blocke: den kroatischen, rechten und antisozialistischen Block, dessen Tragerin die HDZ war, und den projugoslawischen, linken und prosozialistischen Block, getragen vom SKH. Bei den Parlamentswahlen 1990 gewannen die HDZ mit 42,3 Prozent der Stimmen 55 Mandate (damit 68,8 Prozent der Sitze) und der Bund der KommunistenlSozialdemokraten (SPDH) mit 35,3 % der Stimmen 20 von insgesamt 80 Mandaten der ersten Kammer. Bei den ersten Wahlen wurden noch die alten sozialistischen Korperschaften gewiihlt. Den Sabor konstituierten 3 Kammem (neben der Abgeordnetenkammer je eine der Provinzen und der Delegierten aus den Betrieben). Die Koalition der Volksverstiindigung (bestehend aus fiinfbiirgerlichen Parteien) gewann mit 15 Prozent der Stimmen nur 3 Mandate, die Serbische Demokratische Partei einen Sitz, ebenso wie ein einzelner unabbiingiger Kandidat. Fiir die Periode bis zur nachsten Wahl kann angesicht von fiber 90 Prozent der Sitze fUr die beiden groBen Parteien daher von einem Zweiparteiensystem gesprochen werden.
28.3. Die Opposition ond die Alternativen Doch der Zerfall des linken Blocks setzte kurz darauf ein. Grund fUr die politische Implosion des linken Lagers war der Auszug der serbischen Vertreter aus dem parteipolitischen Leben, dem folgte die Abspaltung und die Formierung regionaler Oppositionsparteien, schlieBlich verlieBen die linken und rechten Kritiker der neuen sozialdemokratisch orientierten Nachfolgepartei des SKH, der Sozialdemokratischen Partei SDP, den Block. Bei den Wahlen zum neuen 2-Kammer Parlament im August 1992
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errang die HDZ mit 44,7 Prozent der Stimmen 85 Mandate von 138 Sitzen im Abgeordnetenhaus (61,6 %), die SDP erreichte 3, die Liberalen (HSLS) 13, die Kroatische Staatsrechtpartei (HSP) 5, die Kroatische Volkspartei (HNS) 4, die Kroatische Bauempartei (HSS) 3 und die regionale Istrische Demokratische Versammlung (IDS) 4 Mandate. Neben 13 reservierten Mandaten fiir die serbische und 5 Sitzen fiir andere Minderheiten gewann ein unabhlingiger Kandidat ein Mandat, zwei entfielen auf "andere". Faktisch entstand somit ein System mit nur einer dominierenden Partei. Nach Erlangung der Unabhlingigkeit und mit dem Kriegsende lOste sich die bis dato dominierende eindimensionale soziale Polarisierung immer mehr auf und es entstand ein plurivalentes Konfliktfeld mit drei aufflilligen Polarisationslinien: Traditionalismus-Okzidentalismus, Arbeit-Kapital und Zentrum-Peripherie. Mit den vermehrten gesellschaftlichen Konfliktlinien und dem reforrnierten Wahl system, das sich tendenziell dem Verhaltniswahlrecht annliherte, wurden somit sozio-strukturelle und institutionelle Vorbedingungen zur Bildung eines Mehrparteiensystems geschaffen. Bei den Wahlen im Oktober 1995 gewann die HDZ 75, die SPD 10, die HSLS 12, HSP und IDS je 4, die HNS 2, die Kroatische Christdemokratische Union (HKDU), die Kroatische Partei von Slawonien und Baranja (SBHS) und andere je ein Mandat. Nach besonderem Wahlrecht entfielen auf Abgeordnete der serbischen und anderer Minderheiten 3 bzw. 4 Mandate. Von 1990-97 durchlief das Parteiensystem Kroatiens einen Entwicklungsprozess vom Zweiparteiensystem tiber ein System mit einer einzigen dominanten Partei zu einem gemlif3igt pluralistischen System. Neben der HDZ, die sich als klientelistische Partei profilierte, beherrschen drei bis vier Oppositionsparteien die Parteienlandschaft: die sozialdemokratische Partei (SDP), die kroatische sozial-liberale Partei (HSLS), von der sich 1998 eine Fraktion der Liberalen (Liberalna Stranka) abspaltete, die kroatische Bauempartei (HSS) und die regionale Istrische Demokratische Versammlung (IDS). Fester Bestandteil des demokratischen Institutionenmodells ist auch das 2-KammemParlament. In der zweiten Kammer sind die 21 Gespanschaften, die die sogenannten fupanije (Gaue, Provinzen) vertreten. Innerhalb der zentralistischen staatlichen Strukturen stellen die Gespanschaften weder kulturgeschichtlich gewachsene Einheiten noch gegenwlirtige Regionen dar, sie sind vielmehr kleine Verwaltungseinheiten mit begrenzten Befugnissen. Die Verfassung gewiil'.rt der zweiten Kammer die Zustlindigkeiten eines Rats- und Beratungsorgans mit vOriibergehendem Vetorecht, das die Gesetzesvorschlage der ersten Kammer voriibergehend suspendieren kann. Da aber in den vergangenen Legislaturperioden die Mehrheitsverhaltnisse in beiden Kammem identisch waren, wurde die Arbeit des Abgeordnetenhauses nie durch die Provinzvertretung blockiert, mit einer einzigen Ausnahme in der Periode 1993-1997. Zu den verfassungsmlif3igen Vollmachten des Staatsoberhauptes gehort auch das Recht, unmittelbar auf die Zusammensetzung der zweiten Kammer Einfluss zu nehmen, indem er ex officio fiinfVertreter dieses Organs benennt. Formal und real handelt es sich in diesem Fall urn ein asymmetrisches 2-Kammem-System, in dem die zweite Kammer nur mit begrenzten Befugnissen am Gesetzgebungsprozess teilnehmen darf. Das bestehende politisch-institutionelle System beruht nicht auf dem Konsens von Regierung und Opposition. A11e wichtigen Oppositionsparteien streben namlich grund-
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satzlich einen Umbau des gesamten Systems an. Ihre Forderungen zielen auf Abl<>sung des Prasidialsystems durch ein parlamentarisches Regierungssystem, auf Einfiihrung eines VerMltniswahlrechts, Dezentralisierung,ja Regionalisierung des Staates und erweiterte Vollmachten fUr die zweite Kammer. Somit wiirde eine Ubernahme der Regierungsgewalt durch die Opposition wahrscheinlich bedeutende Verfassungsanderungen nach sich ziehen. Aus diesem Grunde kann man die politisehe Ordnung in Kroatien auf institutioneller Ebene, d.h. in den zentralen Verfassungsorganen und politisehen Institutionen, nicht als konsolidiert ansehen. Da in der jetzigen institutionellen Ordnung auch der Grund fUr die autoritaren Tendenzen im Land gesehen werden muss, erscheint die Reform urn so notwendiger. Das betriffi: in erster Linie das semi-prasidentielle Regierungssystem. An ibm haften eine Reihe von Defiziten, die wohl generell eharakteristiseh fUr prasidentielle Regime sind, aber in der jungen, noch nieht gefestigten Demokratie Kroatiens weitreichender und schwerwiegender wirken. Daraus folgende Fehlentwieklungen sind, zusammengefasst: - Weil die Exekutivgewalt nur von einer Person abhangt, wirken sieh die entsprechenden Strukturen aufEntseheidungsprozesse, die dureh Abstimmung und Konsensbildung erzielt werden, hemmend aus. - Die Rolle des Parlaments wird gesehwacht und auf gesetzgeberische Dienstleistungen fUr den Staatsprasidenten und seine Regierungen reduziert. - Die Rolle der Oppositionsparteien wird soweit marginalisiert, dass sie faktiseh von politisehen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. - Die politisehen Institutionen sind stark personenbezogen, und es wird ein starker Klientelismus gef6rdert. Der Klientelismus kommt in einem Netz pers<>nlicher Seilsehaften zwischen einzelnen oder gesellsehaftlichen Gruppen mit politisehen Akteuren innerhalb der herrschenden Partei zum Ausdruck. Beide Seiten haben von diesem Netzwerk in Form illegaler materieller und politischer Gewinne profitiert. Diese Entwicklung wurde besonders im Zuge der Privatisierung des friiheren gesellschaftlichen Eigentums siehtbar. Mit ihr entstand eine nationale Tycoonschieht, die sich vorwiegend aus den Reihen der Anhanger und Mitbegriinder der HDZ rekrutierte. Bezeichnend fUr das klientelistische Geflecht war ihr nepotistischer und stark regionaler Charakter. - Das semi-prasidentielle System verstarkte femer den autoritaren Regierungsstil des Staatsoberhauptes und reproduzierte schlieBlieh einen Untertanengeist, der die gesamte politisehe Kultur durehdringt. Die verfassungsmiiBigen Vollmaehten des Staatsprasidenten gaben ibm - wie im FalIe der ,,zagreber Krise" - die M<>gliehkeit, seine Interessen und die der HDZ tiber die Interessen der Wlihler und ihrer demokratiseh legitimierten Reprasentanten zu stellen. Diese Handlungsweise beweist, dass die entseheidenden politisehen Akteure die Normen einer demokratisehen Gesellschaftsordnung nieht befolgen. Dies lasst den Schluss zu, dass das politisehe Handeln noeh nieht dem Stand einer konsolidierten demokratischen Ordnung gemiiB ist. Letztlieh fiihrten die autoritaren Tendenzen zu einer verstarkten staatliehen Durehdringung und verordneten Politisierung der Gesellsehaft.
Deutsch von Gabrijela Boskovic
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Mirjana Kasapovic
Literatur A1lgemein: Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, FrankfurtlM. 1994; Gert-Joachim GlaeBner, Demokratie nach dem Ende des Kommunismus. Regimewechsel. Transition and Demokratisierung im Postkommunismus, Wiesbaden, Opladen 1994; Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991; Arend Lijphard, "Constitutional Choices for New Democracies", Journal/or Democracy (2) 1 1991, S. 72-84; Dieter Nohlen / Mirjana Kasapovic, Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa, Wiesbaden, Opladen 1996; Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts, Frankfurt, New York 1994. Zu Kroatien: Mirjana Kasapovic, Nenad Zakosek, "Democratic Transition in Croatia: Between Democracy, Sovereignty and War", in: Ivan Siber (Hg.), The 1990 and 1992193 Sabor Elections in Croatia, Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin 1997; Nenad Zakosek, Elitenwandel in Kroatien 1989-1995, Referat bei der Siidosteuropa-Gesellschaft, Tutzing, Oktober 1997; Mojmir KriZan, "Kroatien unter Tudman: Die miBverstandene Europaisierung", in: Osteuropa 47 (1997), S. 959--975; Vesna Pusic, "Constitutional Politics in Croatia" in: Praxis International Vol. 13, No.4, Januar 1994; Marcus Tanner, Croatia: A Nation Forged in War, New Haven. London, 1997, S. 261-304.
29. Die Welt im Balkanspiegel: das Agieren der Gro8machte Jacques Rupnik
Der Erfolg oder das Scheitern der internationalen Reaktion auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens lassen sich ganz unterschiedlich einschatzen: Wenn das wichtigste Ziel darin bestand, einen aus dem Ruder laufenden lokalen Konflikt einzudiimmen, hurnanitiire Hilfe zu leisten und schlieJ31ich eine Losung aufzuzwingen, dann kann man von einer verhaltnismiiBig erfolgreichen Ubung in Schadensbegrenzung sprechen. Ging es j edoch urn die Gestalt der europaischen Ordnung nach dem Kalten Krieg, dann ware das Wort "Scheitern" angemessen - vor allem hinsichtlich der Fahigkeit der westlichen Demokratien, ihre selbstverkiindeten auBenpolitischen Prinzipien auch durchzusetzen, hinsichtlich der Glaubwfudigkeit der iiberstaatlichen Organisationen bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit und schlieBlich hinsichtlich des Zusammenhalts und der Glaubwfudigkeit des atlantischen Biindnisses. Riickblickend ergibt sich so ein beunruhigendes Bild, das iiber die Balkan-TragOdie hinaus Bedeutung besitzt: Erstens: Wenn es urn wichtige Sicherheitsfragen geht, kann von einer "Internationalen Gemeinschaft" kaurn die Rede sein. Entscheidend sind die groBeren Machte, ihre Interessen und ihre Moglichkeiten, ihre Rivalitaten und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Sicherlich gibt es internationale Foren oder Institutionen, und der Fall Bosnien zeigt, dass sich zu hurnanitiiren Fragen eine internationale offentliche Meinung bildet, vor all em durch den global en Einfluss der westlichen Medien. Doch dies schafft auch die Illusion, es gebe eine in iibernationale Organisationen eingebettete "Internationale Gemeinschaft", die Losungen durchsetzen konne. Daher sollte jede Kritik an diesen Organisationen, weil sie einen militiirischen Konflikt nicht verhindern oder beenden konnten, in Wirklichkeit den Staaten gelten, aus denen sie sich zusammensetzen. Zweitens ist die Machtlosigkeit der "Internationalen Gemeinschaft" bzw. ihrer Institutionen urn so deutlicher geworden, je mehr die international en Korperschaften sich nacheinander einzuschalten versuchten. Als erstes trat die KSZE 1990 erfolglos in Erscheinung, dann nach dem Ausbruch des Krieges Ende Juni 1991 die EG auf der Suche nach einer gemeinsamen AuBen- und Sicherheitspolitik, die sich als inexistent erwies. Anfang 1992 iibernahm die UN-Diplomatie, vertreten durch Cyrus Vance, die Fiihrung der Verhandlungen urn einen Waffenstillstand zwischen Serbien und Kroatien, nur urn innerhalb weniger Monate die Grenzen der UN bei der Friedenswahrung in BosnienHerzegowina zu offenbaren. SchlieBlich iibernahm 1994-95, in der Schlussphase des Bosnien-Konflikts, die Nato unter US-Fiihrung das Kommando. Drittens war laut Richard Holbrooke Bosnien die "schlimmste kollektive Katastrophe des Westens in den letzten dreiBig Jahren". Zurnindest hatte sie ernsthafte Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europaischen Verbiindeten zur Folge. Es besteht in der Tat ein verbliiffender Gegensatz zwischen der Situation zur Zeit des Ausbruchs des Konflikts 1991, als die Vereinigten Staaten sich mit den Europaern iiber die Erhaltung Jugoslawiens einig waren und ihnen nur zu gerne die Verantwortung fur
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diesen europaischen Konflikt einraumten ("Wir haben keinen Hund in diesem Kampf", wie es AuBenminister James Baker ausdriickte), und dem Ergebnis in Dayton im November 1995, das weithin als Triumph der amerikanischen Vorherrschaft und als Niedergang der europaischen Verbiindeten wahrgenommen wurde. 29.1. Wahrnehmungen und Politik der europiiischen Staaten
Die Grauel des manchmal so genannten "dritten Balkankrieges" bieten sich fUr historische Analogien geradezu an. Dennoch sollte man - aus intellektuellen und politischen Griinden - der Versuchung widerstehen, das Balkan-Dilemma getrennt von dem Europas zu behandeln. Vor allem, weil vor gar nicht langer Zeit der Rest Europas lihnliche Schrecken erlebte und sie schlieBlich iiberwand. Es darf nicht vergessen werden, dass "ethnische Sauberungen" in Mitteleuropa bereits wlihrend des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach verwirklicht wurden: die Vernichtung der jiidischen Gemeinschaften und die Vertreibung der Deutschen. Der Balkan mag an Europas Peripherie liegen, aber sein Schicksal bleibt Teil von dessen Dilemmata im 20. Jahrhundert. Nur die Verwendung eines eingeschrlinkteren Begriffs von Europa und seine Identifizierung mit der Europaischen Union konnte rechtfertigen, Europa und den Balkan als zwei unterschiedliche Einheiten zu behandeln. Aber selbst dann ist der Gedanke zweifelhaft. Als im Gefolge des Zweiten Weltkrieges das Projekt der europaischen Integration ins Leben gerufen wurde, griindete es sich auf zwei komplementlire Prinzipien, die die kaum vergangenen Traumata iiberwinden sollten: Die Ablehnung von Eroberungskriegen sowie von Ideologien der "ethnischen Sauberung". Ais daher Jacques Poos aus Luxemburg fUr die Europaische Gemeinschaft in ein Jugoslawien kam, das damals unmittelbar vor dem Kriege stand, und seine inzwischen beriihmte Erkllirung abgab: "Dies ist die Stunde Europas", da lag dem die Annahme zugrunde, die Europaische Gemeinschaft werde nach dem Kalten Krieg handeln, um jenen Prinzipien auf dem Kontinent Geltung zu verschaffen. In den folgenden Monaten und Jahren erwies sie sich als machtlos angesichts der schlimmsten Massaker und Vertreibungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie vermochte es nicht, der Aggression gegeniiber international anerkannten Staaten Einhalt zu gebieten. Und man konnte argumentieren, dass die Toleranz der Europliischen Gemeinschaft gegeniiber dem Einsatz von Gewalt zur Beilegung von Streitigkeiten sowie ihre stillschweigende Hinnahme von Ethnizitiit als organisierendem Grundsatz der neuen europaischen Staaten zur Erosion ihrer politischen Glaubwiirdigkeit sowohl innerhalb der Union als auch unter den postkommunistischen Llindern Mitteleuropas und auf dem Balkan beitrug, die nun zunehmend in der Nato die einzig entscheidende Kraft zu sehen begannen. Wiihrend des gesamten Konflikts war Europas Reaktion zu schwach und kam zu spat. Zunachst versuchte es Jugoslawien zu erhalten, verlieB sich aber bis zum letzten Augenblick lediglich auf politische Ermahnungen und das Lockmittel wirtschaftlicher Vorteile. Ende Mai 1991 fuhr Jacques Delors, der damalige Prasident der Europaischen Kommission, nach Jugoslawien, um dem Plan des damaligen Premierministers Ante Markovic fUr ein ,Jugoslawisches Maastricht", komplett mit Wiihrungs- und Zoll-
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union. die politische und finanzielle Unterstiitzung zuzusichem - zu einem Zeitpunkt, als die Hauptprotagonisten im GrlfIkonfligierender nationalistischer Projekte sich bereits auf den Krieg vorbereiteten: Die rationale Sprache der Interessen hatte wenig Einfluss auf politische Eliten, die in der Logik ethno-nationalistischer Konfrontation handelten. Wahrend des Krieges in Kroatien neigte die Europaische Gemeinschaft zu einer aquidistanten Haltung gegeniiber den so genannten ,,Krieg fiihrenden Parteien", was weitgehend der einzigen Kraft mit einer richtigen Armee zugute kam, nlimlich Serbien. Mit der Ausdehnung des Krieges auf Bosnien-Herzegowina identifizierte 1992 die EG schlieBlich Milosevics Serbien als Aggressor, versagte sichjedoch entschiedene Ma/3nahmen, urn ihm Einhalt zu gebieten: Hurnanitare Hilfe trat an die Stelle von Politik, wobei die ,,Blauhelme" zu potentiellen und schlieBlich tatsachlichen Geiseln der bosnischen serbischen Nationalisten wurden. Das Ergebnis war eine Reihe niemals urngesetzter Friedensplane, die jeweils unterschiedliche Phasen der ethnischen Teilung Bosniens widerspiegelten. In diesem Sinne lasst sich Dayton als ein "europaischer" Plan beschreiben, der erst mit amerikanischen Mitteln verwirklicht wurde. Immerhin gab es dafiir mildemde Umstande. Zunachst einmal standen zur Zeit der Auflosung Jugoslawiens ganz andere Punkte auf der Tagesordnung Europas: Die Wiedervereinigung Deutschlands und das Auseinanderbrechen der So~etunion galten verstandlicherweise als entscheidend fUr die zukiinftige Stabilitat des Kontinents. Die Sorge urn die Bestatigung der Oder-NeiJ3e-Grenze hatte Vorrang vor dem Status der Grenzen der jugoslawischen Teilrepubliken. Und man hatte das Gefiihl, hinsichtlich der letzteren solIe man nichts untemehmen, was einen Prazedenzfall bedeuten und Gorbatschow oder die So~etunion in Schwierigkeiten bringen konnte. Ebenso wichtig war, dass die Europliische Gemeinschaft weder ein legales Mandat noch eine einsatzfahige Truppenmacht besaB, urn entscheidend tatig zu werden. Die so genannte "gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik" war ja erst eines der Ziele des Vertrags von Maastricht, der im Dezember 1991 geschlossen wurde. Tatsachlich waren die entscheidenden ersten sechs Monate des Krieges in Jugoslawien (die zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens fiihrten) von den Maastricht-Verhandlungen beherrscht. Von daher riihrte die implizite Verkoppelung der beiden Themenkreise: GroBbritannien iiberwand sein Zogem hinsichtlich der Anerkennung von Kroatien (nicht aber gegeniiber einer Intervention dort), weil seine Partner akzeptierten, dass es sich der Sozialcharta verweigerte. Auch Frankreich gab dem deutschen Druck nacho urn nicht das Schicksal des institutionellen Rahmens von Maastricht und sein Projekt der europaischen Wahrungsunion aufs Spiel zu setzen. SchlieBlich ergab sichjenseits derinstitutionellen Hiirden die Unfahigkeit zu handeln aus Unterschieden in der Politik der einzelnen Mitgliedstaaten. Aus dieser Perspektive bestand der wichtigste Erfolg der Europaischen Gemeinschaft eben darin, diese Unterschiede unter Kontrolle zu halten. Das Fehlen einer gemeinsamen Politik war jedoch weniger ein institutionelles Problem; es spiegelte eher den Mangel eines gemeinsamen politischen Willens wider (die europaische Reaktion wurde beschrieben als "guter Wille ohne Willenskraft"). Auch bei ihrem Urteil iiber die Natur der Konflikte hatten die Entscheidungstrager kein Informations-, sondem ein Wahrnehmungsproblem. Es gab gewisse gemeinsame Grund-
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annahmen fiber das Wesen des Konflikts und die angemessene Reaktion, aber auch verschiedene Wahrnehmungen, Affinitiiten und Interessen der wichtigsten europaischen Akteure. In Westeuropa herrschten zwei Erkliirungen des Balkan-Konflikts vor, beide mit wichtigen Implikationen fUr die Politik. Die erste sah den Konflikt als archaisch oder anachronistisch: die "Wiederkehr uralter Feindschaften". Die zweite dagegen sah ihn als Teil eines verspliteten Prozesses der Nationenbildung, eine unvenneidliche, hiiufig unangenehme Phase auf dem osteuropliischen Weg in die ,,Moderne". Die erste These, weit verbreitet unter den politischen Eliten und in den Medien, bediente sich der Metapher des Gefrierschranks: Der Kommunismus hatte die nationalistischen Frustrationen und Konflikte eingefroren, so dass wir sie nach seinem Niedergang vorziiglich konserviert wieder finden. Eine Variation des Themas bildete die Metapher des Druckkessels: Sobald der sowjetische Deckel abgehoben war, konnten lang unterdriickte Hoffuungen und alte Feindschaften aufs Neue entweichen. Dies wurde zur vorherrschenden Interpretation in den Medien und im politischen Diskurs, in Westeuropa wie in den Vereinigten Staaten. Priisident Bill Clinton sprach in seiner Antrittsrede im Januar 1993 von einer "Generation, die im Schatten des Kalten Krieges aufwuchs und neue Verantwortlicbkeiten in einer Welt iibernimmt, die yom Sonnenschein der Freiheit erwlinnt wird, aber nach wie vor auch bedroht ist durch alte Feindschaften." Der britische Premierminister John Major sagte vor dem Unterhaus im Juni 1993, zwei Jahre nach dem Ausbruch des Krieges: ,,Das wichtigste einzelne Element hinter den Geschehnissen in Bosnien war der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Macht zur Disziplinierung der alten Feindschaften im vonnaligen Jugoslawien. Sobald diese Disziplinierung verschwunden war, traten diese alten Feindschaften wieder in Erscheinung, und in den auflodernden Kiimpfen begannen wir, ihre Folgen wahrzunehmen." Auch der franzosische Prasident Fran~ois Mitterrand bezog sich in verschiedenen Erkliirungen zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien auf die "althergebrachten ethnischen Leidenschaften". Diese Sicht des Balkans zeigte sich auch bei einer Konferenz, die Mitterrand im Februar 1992 in Paris organisierte und der er nicht von ungeflihr den Titel ,,Europa und die Stiimme" verlieh, was die These von den "uralten Feindschaften" wohl am besten zusammenfasst. Trotz lauterer Absichten (indem sie die Integration in den Westen und die ,,Balkanisierung" im Osten des Kontinents einander gegeniiberstellte) lieferte diese These eine selbstgefallige Fehlinterpretation des Konflikts. Wiihrend Europa sich zur supranationalen, liberalen, grenzenlosen Zukunft des 21. Jahrhunderts vorwiirts bewegt, fallen die "Stiimme" des Balkan zurUck in die Fehden des 19. Jahrhunderts urn ethnische und territoriale Grenzen. Wenn daher der Balkan-Krieg sowohl historisch (als Archaismus, Anachronismus) als auch geographisch (fUr "Stiimme", lies ,,Dritte Welt") aus Europa "wegerkliirt" werden kann, dann brauchen wir ihn auch nicht als europliisches Problem zu behandeln. Hurnanitiire Hilfe und Isolierung reichen vollig aus. Kurzum: Wenn dieser Konflikt nichts mit dem heutigen Europa zu tun hat, muss man sich nicht engagieren, ihn zu lasen, es reicht, ihn einzudiimmen. Die dahinter stehende Lesart des Konflikts fiihrte mehrfach in die Irre. Zunachst einmal erweist sich "Unwissen als Segen": Angesichts neuer Entwicklungen gebe man einfach vor, es handle sich urn die Wiederholung eines alten historischen Musters.
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Zweitens: Wenn man sich und andere davon tiberzeugt, dass wir die "Wiederkehr des Verdrlingten" erleben, d.h. irrationale Bestrebungen balkanischer Volker oder "Stlimme", dann braucht der politische Hintergrund des Konflikts nicht weiter zu interessieren. 1m Grunde schien im Westen die Vorstellung abwegig, dass postkommunistische Politiker es fUr rational halten konnten, zur Gewalt zu greifen, ihr Land in einen Krieg zu verwickeln und offen die ,,lnternationale Gemeinschaft" herauszufordern, um Ziele wie den Erhalt eines autoritiiren Machtsystems und die Kontrolle tiber eroberte Gebiete und Ressourcen zu erreichen. Doch gerade erst zu diesem Ziel erzeugten die nationalistischen Eliten eine Belagerungsmentalitat, manipulierten die Angste durch bewusste F ehlinformation und schiirten den Hass durch regierungskontrollierte Medien. Kurz, es handelte sich nicht um ein Wiederaufleben uralter Feindschaften, das zum Krieg fiihrte; der Krieg selbst belebte aufs Neue den alten Hass. Die zweite These, die im europiiischen Denken tiber den Balkan anzutreffen war, niihrt sich eher aus den Sozialwissenschaften als aus politischen Vorurteilen. Sie sieht die Kriege um die Auflosung Jugoslawiens nicht als einen Archaismus, sondern als Phase der Nationenbildung auf dem Weg in die Moderne. Der Gedanke einer Korrespondenz zwischen einem Gebiet und einem Yolk wird als Abfallprodukt des westlichen Modells der Nationalstaatsbildung begriffen, das versplitet nach Osteuropa gelangte. Aus dieser Perspektive waren Jugoslawien wie die Tschechoslowakei (oder auch die UdSSR) nichts anderes als foderale Durchgangsstationen zwischen Imperium und Nationalstaat. Sicherlich kann, so lautet das Argument, der Ubergang verworren und gewalttiitig sein, aber das sollte man als notwendigen Preis fUr Staatlichkeit und IdentiHit, fUr ModerniHit und regionale Stabilitat betrachten. Kurz, wir erleben die letzte Phase eines Prozesses der Herausbildung osteuropiiischer Nationalstaaten - fUr diejenigen, die den Zug des 19. Jahrhunderts verpasst haben, der die deutsche und italienische Einheit brachte. Das Ende des Kommunismus (in der sowjetischen oder jugoslawischen "imperialen" Variante) bringt lediglich einen Prozess zum Abschluss, der mit dem Zusammenbruch des Habsburger- und des Osmanenreiches begonnen hatte. Dies kombiniert natiirlich auf kuriose Weise eine grobe Lesart von Ernest Gellners Nationalismus-Theorien mit guter altmodischer Realpolitik. Der Gedanke, ethnisch homo gene politische Einheiten seien der politischen StabiliHit besonders forderlich, ist auf dem Balkan nicht neu. Er war schon nach dem Ersten Weltkrieg populiir, als ein griechisch-tiirkischer Bevolkerungsaustausch ausgehandelt wurde. Ein griechisches Mitglied der Fltichtlingskommission lobte damals die ,,rassische Homogenitat" nach den Bevolkerungsverschiebungen als Friedensfaktor. Der gegenwiirtige Zustand der griechisch-tiirkischen Beziehungen liefert kein besonders tiberzeugendes Argument fUr dieses Rezept. Die These hat auch heute wieder zahlreiche Verfechter, sowohl in der Region wie auch in manchen Kreisen der westeuropaischen AuBenpolitik. Das Problem - wenn wir prinzipielle Vorbehalte gegen den Gedanken der ,,Homogenitat" einmal auBer Acht lassen - besteht darin, dass die meisten Nachfolgestaaten der multinationalen Imperien (einschlieBlich Jugoslawiens) wiederum multinationale Strukturen aufweisen. Ethnische Homogenitat als QueUe der StabiliHit zu verfechten, sogar quasi als Voraussetzung der Demokratie, bedeutet zu "Vernichtung, Emigration, Assimilation" aufzufordern (so der Carnegie-Bericht zum Balkan von 1913), damit zu dem, was
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heute "ethnische Sauberung" heillt. Dies betriffi insbesondere die multinationalen Republiken Bosnien-Herzegowina und Makedonien, deren ,,Aufgehen" in einem GroBserbien, GroBkroatien oder auch GroBalbanien und GroBbulgarien sich wohl kaum friedlich vollziehen wiirde. Wenn man sich nicht erneut der Logik der Konflikte um Grenzen und Minderheiten unterwerfen mochte, ist fur die Lebensfahigkeit eines Staates nicht seine GroBe das Problem (Luxemburgs AuJ3enminister Jacques Poos verbliiffie im Juni 1991 in Ljubljana mit seiner Erkliirung, Slowenien sei zu klein, um ein "lebensfahiger" Staat zu werden), sondem sein Charakter: ob er sich mit einer "offenen Gesellschaft" und der Perspektive regionaler und europiiischer Integration vereinen lasst oder nicht. Das wichtigste Problem beim Aufbau von Nationalstaaten auf dem Balkan lautet, dass diese zu einer ethnischen Definition der Nationalitat tendieren (auf der Grundlage historischer, linguistischer, religioser Kriterien), aber zugleich zu einem zentralistischen, ,,jakobinischen" Staatsbegriff. Die Logik wiirde eine gewisse Konsistenz erfordem: Eine ethnische DefInition der Nation sollte doch zumindest durch einen dezentralisierten oder fdderalistischen Staatsbegriff kompensiert werden. Andersherum sollte ein zentralisierter Staatsbegriff, wiederum um der Konsistenz willen, einen nicht-ethnischen, staatsbiirgerlichen Nationenbegriff aufweisen. Aber die Tendenz auf dem multiethnischen Balkan, einen ethnischen ("deutschen") Nationenbegriffmit einem zentralisierten ("franzosischen") Staatsbegriff zu verbinden, ist ein sicheres Rezept fur die Katastrophe. Bei genauerer Untersuchung bildeten beide Interpretationen, die in Westeuropa wiihrend des Jugoslawien-Konflikts vorherrschten - "uralte Feindschaften" versus ethnische Homogenisierung als Bestandteil der Nationalstaatsbildung - gegensatzliche Projektionen westeuropaischer Erfahrungen. Aus beiden ergab sich aber als Konsequenz der Verzicht auf eine Intervention. Ob man den Konflikt als historische ,,Regression" oder als Phase auf dem Weg zu modemer Staatlichkeit begriff - die "passendste" Reaktion war die ,,Eingrenzung", sprich eine minimalistische Eindammungspolitik. Und wir wissen, was diese fur Vukovar, Sarajevo und Srebrenica bedeutet hat. Neben diesen gemeinsamen Grundannahmen und institutionellen Zwangen gab es unter den Westeuropaem wie in den Vereinigten Staaten unterschiedliche Lesarten der Implikationen der jugoslawischen Krise, weitgehend gepragt von unterschiedlichen historischen Erfahrungen oder politischen Ansichten. Ais es daher um eine "gemeinsame AuJ3en- und Sicherheitspolitik" fur den Balkan ging, suchte die Europaische Union im wesentlichen in der AuJ3enpolitik nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen ihren wichtigsten Akteuren: GroBbritannien, Frankreich und Deutschland. Deutschlands Reaktion auf das Zerbrechen Jugoslawiens war gepragt von drei Hauptfaktoren. Es gab in der offentlichen Meinung Unterstiitzung fur Kroatien und Slowenien, die Deutschland geographisch und kulturell am nachsten liegen. Es gab einen gewissen Druck seitens der Immigranten aus Ex-Jugoslawien (750.000 mit einer kroatischen Mehrheit), schlieBlich spieiten die Medien (darunter die einflussreiche FAZ) eine Rolle. Darf man daher, wie Roland Dumas kurz nach seinem Ausscheiden aus dem franzosischen AuJ3enministerium, ein "germano-papistisches" Komplott unterstellen? Dieser These zufolge hat Deutschand Slowenien und Kroatien zur Seperation gedrangt, um eine Einflusszone in Mitteleuropa zu schaffen und damit die Ergebnisse
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zweier Weltkriege zu korrigieren. Entscheidend war in Wirklichkeit aber etwas anderes: Die Btmdesrepublik Deutschland war das einzige "westliche" Land, das wnnittelbar in das Ableben des osteuropaischen Kommunismus einbezogen wurde. Nach dem Fall der Berliner Mauer erreichte es im Namen des Prinzips der Selbstbestimmtmg der Nationen die Wiedervereinigung tmd veranderte damit eine international anerkannte Grenze. Mit welcher Begriindtmg hiitte es das gleiche Recht anderen Nationen im postkommunistischen Mitteleuropa verweigem tmd einen Aggressor dazu noch belohnen konnen? So drangte Deutschland seit Juli 1991 auf die Anerkenntmg der nach Unabhangigkeit strebenden Republiken - in der Annahme, die DelegitimieTWlg des Krieges (d.h. die Umwandltmg eines ,,Biirgerkrieges" in einen ,,Aggressionskrieg" gegen einen international anerkannten Staat) werde auch zu seiner Beendigung beitragen. Die Ausdehntmg des Krieges aufBosnien im Friihjahr 1992 bewiesjedoch, dass die Anerkenntmg kein ausreichendes Mittel zur KriegsverhindeTWlg war. Das fiihrte Deutschland zuriick in die europaische Position gemeinsamer Machtlosigkeit. VerfasstmgsmiiBig nicht zur militiirischen Intervention berechtigt, blieb Deutschland Zuschauer in einem Prozess, der in erster Linie von Frankreich tmd GroBbritannien getragen wurde. War also Frankreichs angebliches Vorurteil zugtmSten Serbiens schuld? Es besteht wenig Zweifel, dass es fUr die Generation von Priisident Mitterrand tmd seinem AuBenminister Roland Dumas (damals beide in den siebzigern) im Umgang mit dem Konflikt ein Element des historischen Pessimismus gab, ein "im Zweifel fUr den Angeklagten" zugunsten Belgrads als Hauptstadt Jugoslawiens tmd Serbiens - des Verbiindeten in beiden Weltkriegen. Von daher riihrt auch Mitterrands Zuriickhalttmg, Gewalt gegen Serbien einzusetzen ("dem Krieg nicht noch Krieg hinzuzufiigen"). Dahinter schien auch die Besorgnis zu stehen, dass der wichtigste NutznieBer der Entwickltmg Deutschland mit mehr Einfluss in Mitteleuropa werden wiirde. Frankreichs UnterstiitZWlg Rum3niens tmd Bulgariens bei der ErweiteTWlg der Europaischen Union tmd der Nato verdanken sich sehr weitgehend der gleichen Sorge, Mitteleuropa durch den Balkan auszugleichen. Neben dem deutschen Faktor wirkten sich auch historische Affmitliten auf die franzosische Politik aus. Mit dem Verschwinden Jugoslawiens (tmd dann der Tschechoslowakei) ging ein Europa tmter, das nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich selbst mitgeschaffen worden war, tmd die franzosischen Politiker entdeckten, dass das Ende von Jalta auch das Ende von Versailles bedeutete. Es blieb ein proserbischer Hintergrtmd, der auf die jugoslawischen Konige Petar I. (1903-1921) tmd Aleksandar I. zuriickging. Letzterer war ja in Marseille 1934 durch eine kroatisch-makedonische VerschwoTWlg ermordet worden. Gerade in Frankreich beschworen der kroatische Nationalismus tmd die SchafIung eines kroatischen Staates negative ErinneTWlgen an die dreiBiger tmd vierziger Jahre herauf. (~Kap. 11) Wohl noch wichtiger als vermeintliche Lehren aus der Geschichte war jedoch, dass die franzosischen Entscheidtmgstrliger in die Falle ihrer jakobinischen politischen Kultur tappten. Ihr Glaube an eine zentralisierte Staatlichkeit als angemessenem Rahmen fUr ein demokratisches Gemeinwesen erwies sich als nicht besonders hilfreich fUr das Verstandnis der Komplexitlit einer zerfallenden kommunistischen multinationalen Foderation. Die Ambiguitlit der franzosischen Politik (Frankreich war die aktivste aller europaischen Mlichte, aber niemals bereit, gegen Milosevic Gewalt einzusetzen) wirk-
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te sich erst mit dem Regierungswechsel 1993 und nach Mitterrands AblOsung durch Jacques Chirac im Friihjahr 1995 voll aus. Humanitiire Hilfe als Ersatz fur Politik endete mit der Demiitigung der franzosischen ,,Blauhelme", die von den bosnischen Serben als Geisel genommen wurden, was Chirac dazu bewog, mit einer klaren Alternative die Richtung zu wechseln: "On tire ou on se tire" - "SchieBen oder gehen!" GroBbritannien war wahrend des gesamten Krieges durchgangig der entschiedenste Gegner eines gewaltsamen Vorgehens. Pierre Hasner hat es als "den unbestrittenen Meister der Konsistenz im Zynismus" bezeichnet, wahrend Jane Sharp iiber das Miinchen-Syndrom der Major-Regierung und einem ,,Appeasement gegeniiber der serbischen Aggression 1992 in Bosnien" als "eine der schandlichsten Episoden in der Diplomatie GroBbritanniens und der Europaischen Gemeinschaften" sprach, vergleichbar mit dem Appeasement gegeniiber Hitler seitens Chaimberlain Ende 1938. 1m Gegensatz zu Margaret Thatchers Ratschlag blieb John Majors Regierung einer gewaltsamen Intervention abhold, aufgrund eines tiefverwurzelten historischen Pessimismus hinsichtlich der "uralten ethnischen Feindschaften" auf dem Balkan und der Aussichten eines ,;Expeditionskorps", damit fertig zu werden. Die britischen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen auf dem Balkan sind vermutlich fur einen Teil dieser Vorsicht verantwortlich. Wahrend einer der scharfen Diskussionen mit seinem deutschen Amtskollegen, der die Anerkennung Kroatiens verfocht, fragte AuBenminister Douglas Hurd: "Wollen Sie ein weiteres Beirut?" - womit er vermutlich eher ein weiteres Belfast meinte. Die Analogien zu Nordirland (oder auch zu Zypern) lagen den britischen AuJ3enpolitikern vermutlich als Erinnerung an die Grenzen militarischer Interventionen ohne politische Losung auf der Seele, ebenso wie die Gefahr einer langfristigen Verwicklung in unbeherrschbare ethnische Konflikte. Vielleicht mehr noch als Miinchen konnte das ,,Belfast-Syndrom" den Schliissel zur britischen Politik in Bosnien liefern. Wenn man zu den kontrastierenden Besorgnissen der wichtigsten EU-Akteure die ,,Balkanisierung" der griechischen Politik unter Premierminister Andreas Papandreou hinzurechnet (die einen europaischen Konsens zur makedonischen Frage verhinderte) sowie die Politik Italiens unter der Regierung Berlusconi-Fini 1994 (die Sloweniens Annaherung an die EU blockierte, solange nicht das 1945 beschlagnahmte italienische Eigentum zuriickgegeben wurde), dann hat man eine deutliche Antwort auf die Frage, warum die Europaische Union keine "gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik" fur den Balkan zu entwickeln vermochte. Man braucht nicht die Institutionen oder die Biirokraten in Briissel anzuklagen. Die europaischen Institutionen waren nur so gut wie die Staaten, die hinter ihnen standen.
29.2. NeuauOage der klassischen Machtepolitik auf dem Balkan? Die westemopaischen Missverstandnisse hinsichtlich der Balkan-Konflikte wurden nm von den Missverstandnissen der balkanischen Protagonisten hinsichtlich Emopas iibertroffen. Besonders verbreitet ist die Tendenz, Europa nicht als politisches Projekt zu betrachten, sondern als eine negativ definierte Einheit, als trennende Linie. In der kroatischen Tradition ist Emopa gleichbedeutend mit der westlichen Christenheit und Kroa-
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tien Bollwerk des katholischen Westens. Auch serbische Vorstellungen kreisen wn die letzte Grenze der Christenheit und Europas gegentiber dem Islam und der Ttirkei. Die bosnisch-muslimische Version der ZugehOrigkeit zu Europa behauptet, die Bosniaken seien die letzten Verfechter des Pluralismus und der Multiethnizitat zwischen zwei symmetrischen ethno-nationalistischen Bedrohungen. Auf dem Balkan gibt es offensichtlich unterschiedliche Wege, sich mit Europa zu identifizieren. Immer ist der ,,Barbar" der andere. (~Kap. 19) Eine zweite, 1ihnliche Verwendung der Idee Europa als Trennungslinie lasst sich in der verbreiteten Tendenz erkennen, sich aus dem Balkan ,,herauszuwUnschen". Vorschlage einer regionalen Kooperation auf dem Balkan werden hiiufig abgelehnt - im Namen des Ziels, "sich Europa anzuschlieBen". Ein Bewusstsein der Verbindung zwischen regionaler und europiiischer Integration ist eher die Ausnahme denn die Regel. Drittens ist die balkanische Wahmehmung Europas die einer peripheren Region, die yom Westen immer wieder enttauscht wurde. Dies wird kompensiert, indem man sich einredet, die regionalen Konflikte spielten, wie zur Jahrhundertwende, eine zentrale Rolle in den Rivalitaten der GroBmachte, die wiederwn die lokalen nationalistischen Spannungen anfachten, wn sich nach dem Ende des Kalten Krieges Einflusssphiiren zu sichern. Diese Haltung ist ein Erbe der Geschichte, das mindestens auf den Berliner Kongress von 1878 zurUckgeht, als die GroBmachte zum ersten Mal die osmanischen BesitztUmer aufteilten. Nach 1945 besaBen die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in dieser Region ihre Vasallen, wobei das blockfreie Jugoslawien geschickt die eine Seite gegen die andere ausspielte. Wiihrend des Kalten Krieges verlegten die meisten Szenarios den moglichen Ausbruch eines dritten Weltkrieges entweder nach Berlin oder nach Jugoslawien. Das Land galt daher als strategisch wichtig, und Tito vermochte diese Annahme weitgehend zu outzeo. Nach dem Ende des Kalten Krieges kam es sozusagen zu einer strategischen Abwertung Jugoslawiens. Somit hatte der Balkan in den neunziger Jahren im Gegensatz zu 1914 nicht unter einer tibertriebenen Einmischung, sondern eher unter einem relativen Mangel an Interesse seitens der GroBmachte zu leiden. Sarajevo 1994 war nicht Sarajevo 1914. Dass der Konflikt sich nicht ausgebreitet hat, dass die Differenzen zwischen DeutschlandOsterreich, Frankreich, GroBbritannien und den USA sich abschwiichten, hat damit zu tun, dass eben keine dieser Machte in der Region strategische Ziele tiber die Ausnutzung lokaler Rivalitaten verfolgte. Dieses Fehlen eines strategischen Interesses erlaubte es, die Differenzen zu tiberwinden, es erkliirt aber auch das Fehlen an politischem Willen, eine Regelung der Konflikte durchzusetzen. Hier liegen die balkanischen Phantasien vollig quer zu den Realitaten. Eine weit verbreitete Lesart der Neuordnung nach dem Kalten Krieg in Stidosteuropa liest sich etwa so: Es gibt drei Achsen oder Trennlinien in der Region, die sich tendenziell mit den wichtigsten kulturell-historischen Trennlinien wie mit den konkurrierenden Orientierungen der AuBenpolitik decken. Erstens eine Nordwest-Achse, die Kroatien und Slowenien - katholisch und ehemals habsburgisch - mit einem neubelebten Konzept von einem Mitteleuropa wn Deutschland und Osterreich verbindet. Zweitens eine ostliche, orthodoxe Achse, die sich von Belgrad tiber Athen und Bukarest bis nach Moskau erstreckt. Eine dritte, stidlich-islamische Achse verlauft von Bosnien in die Ttirkei
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- uber den Sandzak, das Kosovo und Albanien. Auch nur eine kurze Uberpriifung der Reaktionen der drei wichtigsten klassischen Machte, die angeblich darin verwickelt sind, vermag diesen Gedanken zu zerstreuen oder rnindestens zu relativieren. ,,Deutschland fallt zum dritten Mal in diesem Jahrhundert bei uns ein", erkliirte der jugoslawische Verteidigungsminister Kadijevic im Oktober 1991. Die These einer "germano-papistischen" Verschworung zur Zerstorung Jugoslawiens ist in Serbien recht weit verbreitet (wie auch in Griechenland), wenn es auch kaurn Anbaltspunkte dafUr gibt und die deutschen Prioritaten - wie oben ausgefiibrt - zu jener Zeit bei der Wiedervereinigung lagen, bei Maastricht und den mitteleuropaischen Nachbarn, den Kandidaten fUr eine zukiinftige Erweiterung der ED. Was das Argument angeht, das wichtigste Motiv sei gewesen, ein neues Mitteleuropa als Zone der Deutschen Mark zu schaffen, so mag es genugen, zu erwiihnen, dass gerade in Belgrad die Deutsche Mark als herrschende W1ihrung fest verankert ist! Ebenso stark ubertrieben wird Russlands Rolle als BeschUtzer der slawischen und orthodoxen Nationen auf dem Balkan. Wahrend des Kalten Krieges war Bulgarien der wichtigste Verblindete der So\\jetunion in der Region (nachdem sie nacheinander Jugoslawien, Albanien und Rurnaruen verlorenhatte). Ais Jugoslawien 1991 zerfiel, bestand ein Element der Identifikation zwischen Moskau und Belgrad: Es existierte eine offensichtliche Parallele zwischen dem Zusarnmenbruch der beiden kommunistischen FOderationen, und die Serben gerieten in eine den Russen einigermaBen 1ihnliche Situation: Sie lebten in einem Rurnpfstaat sowie als starke militante Minderheiten in ihnen wenig wohlgesonnenen Nachfolgestaaten. (Das serbisch-kroatische Verhiiltnis war fUr das Uberleben Jugoslawiens ebenso entscheidend wie das russisch-ukrainische Verhaltnis fUr die So\\jetunion; der Kosovo-Konflikt zwischen albanischen Muslimen und orthodoxen Serben beschwor Parallelen zum Kaukasus herauf.) Dennoch kUhlte sich im Verlauf des Krieges Russlands verbale und diplomatische Untersrutzung zusehends ab, und Belgrads Hoffuungen auf eine russische Intervention zu seinen Gunsten schwanden mit dem gescheiterten Putschversuch in Moskau im August 1991 dahin. Paradoxerweise versetzte der Jugoslawien-Krieg Russland in die Lage, zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg auf den Balkan zurUckzukehren und mit Hilfe seiner Rolle im UN-Sicherheitsrat und der mit der Behandlung der Krise beauftragten Kontaktgruppe den Anschein einer GroBmacht zu wahren. Russland besaB jedoch weder eine strategische Vision fUr den Balkan noch die militarische und okonomische Kapazitat, urn in dieser Region als bedeutender Akteur aufzutreten, geschweige denn als machtiger Schutzherr lokaler Klienten. Bestenfalls versuchte es, die westliche Politik oder Anzeichen bevorstehender ZwangsmaBnahmen gegen Belgrad zu blockieren. Jedoch zeigten sich die Grenzen des russischen Spielraurns in der Teilnahme an IFOR und SFOR in Bosnien - faktisch unter Nato-Kommando. Das zeigte auch, dass die russische FUhrung in den neunziger Jahren - ungeachtet aller wortmachtigen Untersrutzung fUr die Sache der "panslawischen orthodoxen Bruderlichkeit" in der Innenpolitik (insbesondere von Shirinowskis radikalen Nationalisten und den Kommunisten)keineswegs die Absicht hatte, ihre neue Beziehung zum Westen, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, fUr zweifelhafte Gewinne auf dem Balkan aufs Spiel zu setzen. Die Tfukei hat aus historischen und geographischen GrUnden starke Bindungen an die
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Region. Der Balkan ist aus tiirkischer Perspektive ein Gebiet des Kontakts und Kontrasts zwischen Christenheit und Islam, zwischen Ost und West: sowohl als Teil ihres osmanischen Erbes als auch ihrer europiiischen Zukunft. Das Verbindungsglied zwischen nationaler Identitiit und Religion gehOrt zum osmanischen Erbe (die Millet-Ordnung), und die These yom ,,zusammenprall der Zivilisationen" gehOrt ebenso zur tiirkischen Wahrnehmung der regionalen Spannungen wie auf dem iibrigen Balkan. Wiihrend des Kalten Krieges hatte die Tiirkei den Balkan vernachlfulsigt, weil die Prioritiiten ihrer AuJ3enpolitik im Westen und im Naben Osten lagen. Nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens erofiheten sich neue Moglichkeiten, die zweierlei Reaktionen provozierten. Die eine, manchmal beschrieben als ,,neo-osmanische" Politik, fasste Prfulident Demirel in seiner Erklarung iiber die neuen Moglichkeiten fUr tiirkische Einflussnahme zusammen: "Von den Ufem der Adria bis nach China". Vor allem das tiirkische Militiir forderte eine realistischere AuBenpolitik, die den tiirkischen Potentialen und zugleich den Risiken besser entsprach. Die Tiirkei sab die Legitimitat ihrer Rolle auf dem Balkan als Schutzherr der tiirkischen und muslimischen Minderheiten. Entsprechend wurden in erster Linie Bosnien, Makedonien und Albanien unterstiitzt, die drei verletzlichsten und gefahrdetsten Staaten in der Region. Es gab wichtige innere Faktoren, warum die Tiirkei den bosnischen Konflikt nicht ignorieren konnte: die miichtige Balkan-Diaspora in Istanbul (es gibt schiitzungsweise zwei Millionen Tiirken bosnischer Herkunft) und ihre einflussreiche ,,Lobby" in den Medien und der Politik der Tiirkei. Die tiirkische Politik blieb jedoch wiihrend des gesamten Konflikts vorsichtig und gemiiBigt - aus mindestens drei GrUnden: Erstens erkliirt das Kurdenproblem, warum die Tiirkei jeder Idee neu gefasster Grenzen nach ethnischen Richtlinien misstraute und in der postjugoslawischen Neuordnung - zwar unter ziigiger Anerkennung der Unabhiingigkeit auch der nicht-muslimischen neuen Staaten - als bewahrende Macht des Status quo auftrat. Zweitens war die Tiirkei gleichzeitig in mehrere voneinander getrennte internationale Krisen verwickelt (im Naben Osten, im Kaukasus und in Zentralasien), die fUr Ankara samtlich vor dem Balkan rangieren. SchlieBlich gab sich die Tiirkei wiihrend des Krieges alle Miihe, nichts zu untemehmen, was die westeuropaischen oder amerikanischen Bemiihungen hatte konterkarieren konnen, wodurch ihr Verhiiltnis zu EU und Nato gefahrdet worden ware. So viel zu der These, die die Protagonisten regionaler Konflikte zu historischen Hegemonialmachten in Beziehung setzt (Deutschland-Osterreich, Russland, Tiirkei), die angeblich verlorene Einflussspbiiren zurUckzugewinnen suchen. Die Tatsache, dass schwache Balkanstaaten "Schutzherren" suchen, bedeutet nicht, dass solche auch bereit oder in der Lage waren, diese Rolle zu iibemehmen. Die Behauptung einer neuen geopolitischen Ordnung nach historischen und kulturellen Trennlinien im Zusammenhang mit der Riickkehr Russlands, Deutschlands und der Tiirkei in diese Region konnte in der Realitat nicht belegt werden.
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29.3. Amerikanische und europiiische Politik im Kontrast Von entscheidender Bedeutung war das Primat der USA, soweit es run eine Losung ging. Die amerikanische Beteiligung mittels der Nato ermoglichte die Vertrage von Dayton, und an Amerika orientieren sich aIle Protagonisten auf dem Balkan, sobald es run Sicherheitsfragen geht - wenn auch mit konfligierenden Erwartungen. Was die Europiiische Union angeht, beleuchtete ihr Niedergang in Dayton das Fehlen einer "gemeinsamen Aufien- und Sicherheitspolitik" Wclhrend des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Die Union konnte ihre Differenzen eindiimmen, aber keinen gemeinsamen politischen Willen entwickeln. Wahrend des gesamten Konflikts spiegeIte die Politik der Europiiischen Union (und das galt bis 1995 auch fUr die Vereinigten Staaten) eine tief gehende Ambivalenz moderner und wohlhabender Demokratien hinsichtlich der Projektion ihrer Macht und der Aussicht, das Leben ihrer Soldaten aufs Spiel zu setzen. Der Westen verfiigte iiber eine gewaltige "Totungskapazitat" (gemessen an seiner technologisch iiberlegenen Bewaffuung), aber iiber eine geringe "Sterbefahigkeit". Auf dem Balkan traf er aufProtagonisten, die sich in der genau entgegengesetzten Lage befanden: eine niedrigere Totungskapazitiit, aber eine viel hOhere "Sterbebereitschaft". Einerseits vermochten die Medien (der so genannte "CNN-Effekt") und die Allianz franzosischer Intellektueller und amerikanischer aufienpolitischer Falken die Meinung von Eliten wie Offentlichkeit zur bosnischen Frage so zu beeinflussen, dass eine "sanfte" Behandlung durch die westlichen Regierungen verhindert wurde. Andererseits gingen letztere - wie auch 1999 im Kosovo - davon aus, dass die Unterstiitzung der offentlichen Meinung schwinden werde, sobald es unter westlichen Soldaten zu Verlusten kam. Die Europaer, mit Bodentruppen, beschriinkten ihr Militar daher auf eine hrunanitiire Rolle, wiihrend die Amerikaner davon ausgingen, militiirische Macht solle nur eingesetzt werden, wo man mit iiberwaltigender Stiirke auftreten konne wie im Golfkrieg. Dies war auch ein Vermachtnis von Vietnam, obwohl zahlreiche amerikanische Intellektuelle, die seinerzeit gegen jenen Krieg opponiert hatten, nun Befiirworter einer Intervention in Bosnien-Herzegowina waren. Doch die offizielIe Doktrin lautete gemaB Generalstabchef Colin Powell: "Wir kampfen in Wiisten, aber nicht in den Bergen." Daher wurde das von der Clinton-Administration in ihrer Anfangszeit mit Unterstiitzung einer Kongressmehrheit verfochtene Konzept, das Waffenembargo gegen Bosnien-Herzegowina aufzuheben und gezielt gegen serbische Stellungen zuzuschlagen ("lift and strike"), nicht verwirklicht. Die Theorie eines ,,Krieges mit null Toten" gehOrt vermutlich zu den wichtigsten Beitragen des Golf- und des bosnischen Krieges zum strategischen Denken nach dem Kalten Krieg. Allerdings ist die offentliche Meinung, die von den Verfechtern der Passivitat immer angefiibrt wird, oft weniger zynisch als die Haltung der Entscheidungstrager. Umfragen in den EG-Liindern im Mai 1993 erbrachten, dass die Mehrheit der Europiier (bis auf die Deutschen, die Griechen und die Diinen) eine Militiirintervention in Bosnien befiirwortete: zwei Drittel in den Niederlanden und Italien, 60 % in GroBbritannien, 59 % in Frankreich (Le Monde, 26.5.1993). Am Auseinanderdriften zwischen politischen Eliten und der Bevolkerung flillt der Widerspruch zwischen den EGLiindern und den USA auf. In Europa gab es Mehrheiten fUr eine Intervention, wiihrend
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die Eliten sie ablehnten, in den USA (vor allem 1992 bis Anfang 1993) war es urngekehrt. Das heiBt, fiir eine friihe westliche Intervention batte es der amerikanischen Eliten im Verbund mit der europiiischen offentlichen Meinung bedurft. Schon vor dem Kosovo-Krieg 1998/99 hatte das Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina drei bedeutende Konsequenzen: Erstens hatte der bosnische Krieg wichtige Implikationen fiir die Beziehung zwischen Europa und dem Islam. In der muslimischen Welt wurde er manchmal als Probe der europiiischen Einstellung zum Islam dargestellt - eine Probe, die Europa nicht bestanden babe. Die Sache der bosnischen Muslime geriet in den Brennpunkt der Mobilisierung des radikalen Islam (mit kriiftigen antieuropiiischen Untertonen), doch ohne tiefe Auswirkungen auf die europiiischen Beziehungen zu den muslimischen Landern. Ernsthafter waren die Implikationen fiir den Islam in Europa selbst. Das Uberleben des multiethnischen Bosnien wurde identifiziert mit dem Uberleben eines siikularisierten Islam, der mit Demokratien des westlichen Typus vereinbar ist. Dies erkliirt auch die Unterstiitzung fiir Bosnien seitens vieler liberaler Intellektueller aufbeiden Seiten des Atlantiks, die auf den Balkan die Idee der multiethnischen Gesellschaft (und den Typ des Islam) projizierten, die sie in Europa insgesamt verteidigen wollten. Die zweite Frage, die die Kriege urn die Auflosung Jugoslawiens und die westliche Reaktion darauf aufgeworfen haben, betrifft Grenzen und Minderheiten. Sobald interne jugoslawische Grenzen international anerkannt wurden, entwickelten sich Minderheitenprobleme der Nachfolgestaaten zu externen Problemen fiir ihre Nachbam. Die Verwischung zwischen den internen und den externen Sicherheitsfragen verweist auf ein allgemeineres Problem des postkommunistischen Siidosteuropa: Bedrohungen der Sicherheit hangen eher mit der inneren Schwiiche der Staaten zusammen als mit iibermliBiger Starke. Von Bosnien bis Albanien oder Makedonien gibt es ausreichende Illustrationen fiir dieses Problem. Dayton hat dem Krieg ein Ende gemacht, aber es liefert in den Augen der politischen Eliten auf dem Balkan auch einen international sanktionierten Priizedenzfall. Dass in Bosnien-Herzegowina zwei Einheiten mit unterschiedlichen Institutionen geschaffen wurden, mit dem Recht auf eine "besondere Beziehung" zurnjeweiligen Nachbarstaat, wurde sofort zu einem Bezugspunkt fiir Parteien, die auf der Suche nach Losungen fiir andere "urnstrittene Gebiete" wie dem Kosovo waren. Warum sollten sich die Kosovo-Albaner mit weniger zufrieden geben als die bosnischen Serben? Drittens hat der Krieg auf dem Balkan die schwersten transatlantischen Spannungen seit der Suez-Krise 1956 ausgelOst. Die amerikanische Fiihrung und die Nato haben dem Krieg 1995 in Bosnien wie 1999 im Kosovo schlieBlich ein Ende gemacht und die europiiischen und UN-Ansiitze zum Krisenmanagement in den Hintergrund gedrangt. Man konnte bebaupten, dass durch das anhaltende US-Engagement in der Region der Zusammenhalt der Nato und die amerikanische Fiihrung in Europa auf dem Spiel stehen. Die Zukunft des Balkan, der Nato und der europiiisch-amerikanischen Beziehungen werden miteinander verkniipft bleiben, wie mit der Intervention 1999 nochmals schlagend deutlich wurde. Wiihrend bereits neue mitteleuropiiische Lander dem Biindnis beigetreten sind, ist die Nato bevor letzlich in zwei Protektoraten auf dem Balkan (Bosnien und Kosovo) engagiert. Die zukiinftige Glaubwiirdigkeit der Nato erfordert
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daher eine globale Strategie fUr den Balkan. Wenn aus dem Jugoslawien-Krieg uberhaupt etwas zu lemen ist, dann dies: Eine Strategie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich auf eine starke europaisch-amerikanische Partnerschaft mit gemeinsamen Verpflichtungen und Risiken stlltzt. Aber die Situation auf dem Balkan ahnelt immer noch einer impliziten Rollenteilung: Die Vereinigten Staaten haben ihr Primat im Sicherheitsbereich etabliert, wiihrend die Europaische Union den groBten Teil der wirtschaftlichen Hilfe leistet. Diese Rollenverteilung ist (was sich auch im Nahen Osten erkennen lasst) weder gut fUr das transatlantische Verhaltnis, noch ist es gesund fUr die Balkanlander, deren langfristige Zukunft in der zunehmend engeren Bindung an die Europaische Union liegt. Nato- und US-Verpflichtungen auf dem Balkan sind in erster Linie mit der aktuellen oder potentiellen Instabilitat der Region verknupft, Integration wird nur durch Konfiiktmanagement oder Pravention erreicht. Die Logik der Europaischen Union dagegen griindet sich auf regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen demokratischen Nachbam. Beides ist notwendig fUr Frieden und Stabilitat auf dem Balkan, doch bleibt auch nach der Kosovo-Intervention - und der weit starkeren Einbindung der europaischen Nato-Lander - abzuwarten, ob und wie die beiden Logiken durch die regional en Akteure selbst miteinander versohnt werden. Deutsch von Meino Biining Der Beitrag basiert auf einem Artikel aus Lettre International, dt. Ausgabe, Heft 42, 1998 ("Europa im Balkanspiegel"). Wir danken der Redaktion von Lettre fur die Genehmigung, die entsprechenden Passagen zu verwenden.
Literatur Oberblicke: Auf Gespriichen mit Akteuren der Region sowie der involvierten Miichte basiert eine vom Carnegie Endowment for international Peace in Auftrag gegebene Studie, die unter der Leitung von Jacques Rupnik zusammengestellt wurde: Unfinished Peace, Report of the international Commission on the Balkans, Washington; 1996; deutsch: Der triigerische Frieden. Bericht der Internalionalen Balkan-Kommission, Reinbek 1997. Angelehnt ist diese Studie an eine Untersuchung von 1913, wiederaufgelegt als: The Other Balkan Wars. A 1913 Carnegie Endowment InqUiry in Retrospect, Washington 1993. Weitere Einfiihrungen bei: Christopher Cviic, Remaking the Balkans, London 1991; Jacques Rupnik, De Sarajevo 11 Sarajevo. L 'Echec Yougoslave, Paris 1992; Pierre Hasner, "Les impuissances de la communaute internationale", in: V. Nahoum-Grappe, Vukovar, Sarajevo ... la guerre en ex-yougoslavie, Paris 1993; Angela Volle (Hg.), Der Krieg aufdem Balkan. Die Hilflosigkeit der Staatenwelt. Beitrage und Dokumente aus dem Europa-Archiv, Bonn 1994; Roland SchOnfeld, "Balkankrieg und internationale Gemeinschaft", in: Siidosteuropa Mitteilungen, 34 (1994), Nr. 4, S. 258-278; Sabrina Petra Ramet, "The Yugoslav Crisis and the West: Avoiding, Vietnam' and Blundering into ,Abyssinia"', in: East European Politics and Societies, 8 (1994), S. 189-219; Richard H. Ullmann (Hg.), The World and Yugoslavia's Wars, New York 1995; David Rieff, Schlachthaus. Bosnien und das Versagen des Westens, Miinchen 1995; Renee Lukic und Allen Lynch, Europe from the Balkans to the Urals. The Disintegration of Yugoslavia and the Soviet Union, Oxford 1996; James Gow, Triumph ofthe Lack of Will: International Diplomacy and the Yugoslaw War, New York 1997; John Williams, Legitimacy in International Relations and the Rise and Fall of Yugoslavia, London, New York 1998. Zu den internationalen Organisationen: 1. Rupnik, "Entre Maastricht et Sarajevo: la Comrnunaute face II l'eciatement de la Yugoslavie", in: Fran~ise de la Serre, Ch. Lequesne,1. Rupnik, L 'Union Europeenne.
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berg, Akashi, de Lapresle, Rose, Ogata u.a.). Unterschiedliche Positionen der Staaten werden deutlich in den Erinnerungen wichtiger Akteure: Philippe Morillion, Croire et osser. Chronique de Sarajevo, Paris 1993; Hans-Dietrich Genscher, Erinnnerungen, Berlin 1995, S. 927-968; David Owen, Balkan-Odyssee, Moochen 1995; Thorvald Stoltenberg und Kai Eide, De tusen dagene. Fredsmeklere pIJ Balkan, Oslo 1996; Warren Zimmermann, Origins of Catastrophe: Yugoslavia and its destroyers, New York 1997; Carl Bildt, Uppdragfred, Stockholm 1997; Richard Holbrooke, Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, Moochen 1998. Untersuchungen zu einzelnen Staaten: GroBbritannien: Jane Sharp; Bankrupt in the Balkans; London; 1993. Deutschland: Heinz-Jilrgen Axt: "Hat Genscher Jugoslawien entzweit? Mythen und Fakten zur AuBenpolitik des wiedervereinigten Deutschland", in: Europaarchiv, 1211993, S. 351-360; Martin Rosefeldt, "Deutschlands und Frankreichs Jugoslawienpolitik im Rahmen der Europaischen Gemeinschaft (19911993)", in: Siidosteuropa, 42 (1993), S. 621-653; Michael Libal, Limits ofpersuasion: Germany and the Yugoslav crisis, 1991-1992, Westport, Conn. 1997. Aus muslimischer Perspektive: Mujeeb R. Khan, "Bosnia-Herzegovina and the Crisis of the Post-Cold-War International System", in: East European Politics and SOCieties, 9 (1995), S. 459-498; Material zur Politik islamischer Staaten bietet: Hans Krech, Der Biirgerkrieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1997). Ein Handbuch, Berlin 1997. Zur US-Politik: Mark Danner, "The US and the Yugoslav Catastrophe", in: The New York Review of Books, 20.11.1997. Ober Russland: Peter Bonin, RufJland und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, Untersuchungen der Forschungsstelle fOr Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa an der Universitat Mannheim 611994; Aurel Braun, ,,Russian Policy Towards Central Europe and the Balkans", in: Roger E. KanetiAlexander V. Kozhemiakin (Hg.), The Foreign Policy of the Russian Federation, New York 1997, S. 49--77; Regina Heller, Russische Interessen im Balkankonjlikt: Russ/and und die internationale Staatenwelt seit1992, Hamburg 1998; Mike Bowker, "The Wars in Yugoslavia: Russia and the International Community", in: Europe-Asia Studies 50 (1998) 7, S. 1245-1261.
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30.1. Vtilkerrecht im Umbruch Jugoslawien und das Volkerrecht - dieses Therna wurde in der politischen Offentlichkeit stets unter dern Aspekt der ordnenden Rolle des Volkerrechts fUr den JugoslawienKonflikt wahrgenommen. Bemilht man sich jedoch ernsthaft urn eine Autkliirung der volkerrechtlichen Rahmenbedingungen des Konflikts, also der Handlungsanreize und der Restriktionen. die vom Volkerrecht fUr die handelnden Akteure ausgingen, so stellt sich Ratlosigkeit ein. Unverkennbar ist, dass im Konflikt maBgebliche Grundregeln in Streit standen. Die Drittstaatsreaktionen, in denen sich eigentlich das Volkerrecht widerspiegeln sollte, waren verworren. Die Frage, woraus diese Verwirrung resultierte, fiihrt zu einem hochinteressanten Befund: Aus der allgemeinen Situation eines fundamentalen politischen Umbruchs, die vor allern Europa, aber auch die Welt insgesamt seit Beginn der neunziger Jahre pragt, ist eine handfeste Krise des volkerrechtlichen Handlungsinstrumentariurns erwachsen. Traditionelle Instrumente des Volkerrechts werden zusehends als unangernessen ernpfunden, neue Instrumente aber sind noch nicht vorhanden bzw. sind erst in einern quasi experimentellen Prozess im Entstehen (eine Situation, die in Umbruchen besonders fUr Systerne von Gewohnheitsrecht typisch ist). Daraus ergibt sich eine Gemengelage von Altern und Neuem, die kaurn noch handlungsleitend fUr die Staatenpraxis wirken kann. Staaten miissen sich entscheiden, fUr welche Volkerrechtskonzeption sie optieren wollen, und entscheiden sich - je nach wirklicher oder vermeintlicher Interessenlage - fUr auBerst unterschiedliche Konzepte. Das erste Hauptfeld dieses Widerstreits unterschiedlicher Ordnungsansatze ist die Frage der Abgrenzung von ,,1nnen und AuBen" im Volkerrecht, also der Unterscheidung von Belangen intemationaler Regelung von den sogenannten "inneren Angelegenheiten". In Frage steht damit die Abgrenzung der Sphare des Volkerrechts von der durch das Interventionsverbot geschiitzten Sphare innerstaatlicher Politik. Traditionell regelt das Volkerrecht nur die Beziehungen zwischen Staaten, iiberlasst den Binnenbereich, die Gestaltung der inneren Ordnung der Staaten, dagegen den nationalen Rechtsordnungen. Dies klammert traditionell auch den Biirgerkrieg aus der Sphare des Volkerrechts aus. Der Kampf urn die innere Ordnung eines Staates mag in iiberaus extremer Form ausgetragen werden - der Binnenbereich bleibt durch das Schild der Souveranitat und das Interventionsverbot grundsatzlich nach auBen abgeschirmt. Nach traditionellen Kategorien handelt es sich auch bei biirgerkriegsartigen Auseinandersetzungen im Prinzip immer noch urn eine "innere Angelegenheit", auf die nicht einmal die Bestimmungen von Kapitel VII der UN-Charta, also der Regelung iiber das System kollektiver Sicherheit, anwendbar schienen.jedenfalls hat man das lange Zeit so gesehen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen konnte sich derartiger Probleme des
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Biirgerkrieges nach traditionellen Kategorien allenfalls auf der GfWldlage der Zustimmung der betroffenen RegiefWlg annehmen, also im Wege des so genannten "Peacekeeping". 1m GfWldsatz aber stand es der international anerkannten Staatsgewalt (d.h. der RegiefWlg) frei, aufstiindische Bewegungen niederzukampfen und die Widerstiinde notfalls mit brachialer Gewalt zu brechen. Dies galt traditionell gerade auch fUr den Kampf gegen sezessionistische Bewegungen, da das Selbstbestimmungsrecht nach allgemein giingiger Konstruktion nur anerkannte Staatsnationen erfasste, nicht aber (Teil-) Volker innerhalb eines Staatswesens. Zwar gibt es seit einiger Zeit in der VOlkerrechtsdoktrin eine Debatte dariiber, ob nicht unter bestimmten Umstiinden auch Teilgebilden eines zusarmnengesetzten Staates bzw. (Teil-)Volkern im Verbund eines multinationalen Staates ein eigenes Selbstbestimmungsrecht in Form eines Sezessionsrechtes zustehen konnte. Wenn iiberhaupt, wird ein derartiges Sezessionsrecht auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts aber nur fUr notstandartige Situationen der brutalen physischen Verfolgung der entsprechenden Volksgruppe anerkannt, als eine Art Notwehrrecht in Fallen krasser Menschenrechtsverletzungen oder genozidhafter Gruppenverfolgung. Eine derartige Konstellation lag j edoch im Falle Jugoslawiens 1991 (noch) nicht vor, zumindest nicht fUr Slowenien und Kroatien. Die traditionelle Perspektive, in der es sich bei dem ausgebrochenen innerjugoslawischen Verfassungskonflikt zunachst einmal urn eine innere Angelegenheit handelte, pragte sichtlich das Handeln der Drittstaaten in der Anfangsphase der JugoslawienKrise (Lord Owen). Nicht nur von den eng mit den Belgrader FiihfWlgsgruppen verbundenen Drittweltstaaten der Blockfreien-Bewegung, sondern auch von den westeuropaischen Staaten (und den Organen der Europaischen Gemeinschaft) wurde noch in den Jahren 1990/91 immer wieder die territoriale Integritat Jugoslawiens als eigentliches Ziel der Politik gegeniiber den Volkern Jugoslawiens beschworen. Zwar wurden gleichzeitig auf der rhetorisch-symbolischen Ebene des Staatenverkehrs, insbesondere im Kontext der KSZE, inhaltliche Strukturprinzipien der mitgliedstaatlichen Binnenordnung, wie Menschenrechte, Minderheitenschutz, Demokratieprinzip und rule oflaw, feierlich bekraftigt und in den KSZE-Dokumenten zu grundlegenden Elementen einer im Entstehen begriffenen "public order of Europe" erhoben; auf der realpolitischen Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen jedoch blieben diese Deklarationen zunachst nahezu folgenlos, mussten folgenlos bleiben, solange man an der Dominanz des Souverarutatsparadigmas festhielt. Nicht zuletzt die (mangelnde) Reaktion der europaischen Staaten auf die Vorgiinge im Kosovo zu Ende der achtziger Jahre zeigte diese fortdauernde Dominanz der klassischen Konzeption, fUr die Menschenrechte und Demokratieprinzip in erster Linie potentielle StOrquellen fUr die diplomatische Arbeit sind. Auch als die NA (die Jugoslawische Volksarmee) im Winter und Friihjahr 1990/91 die Aufstandsbewegung der Krajina-Serben gegen die neugewahlte Republiksfiihrung in Zagreb schiirte, urn so einen Anlass fUr die Verhiingung des Kriegsrechts zu schaffen, blieben die Drittstaaten tatenlos und behandelten die NA weiter als einen respektablen Partner, der als neutraler Mittler nur am Wohle des Gesamtstaates interessiert sei. Fast alle Beteiligten wussten, dass diese Konstruktion im Kern eine Tauschung
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war, dass die NA ganz andere Ziele als die eines politischen Ausgleichs verfolgte und sich dabei eines InstrumentarilUlls bediente, das in verfassungsstaatlichen Kategorien nicht zu rechtfertigen war; dies anzuprangern ware jedoch ein VerstoB gegen das selbstauferlegte Neutralitatsgebot der westlichen Politik gewesen. Wahrscheinlich war diese Neutralitat ein Fehler, ware dies doch der letzte Zeitpunkt gewesen, an dem die lUll die Zukunft Jugoslawiens ringenden Parteien noch mit einiger Aussicht aufErfolg an den Verhandlungstisch hatten gezwungen werden konnen. Dies allerdings hatte hand/estes Engagement der westlichen Diplomatie erfordert, gekoppelt mit massiven Drohungen gegeniiber den widerstrebenden Gruppierungen. Es geschah aber nichts. Die Folgen waren absehbar: Slowenien und Kroatien griffen zur ultima ratio ihrer Strategie und zogen im Juni 1991 mit den Unabhangigkeitserkliirungen die Notbremse. Die als Polizeiaktion angelegte Kampagne der Jugoslawische Volksarmee gegen Slowenien stiirzte die Drittstaaten dann unentrinnbar in einen Widerstreit der Prinzipien. Die Reaktion traditioneller Art ware gewesen, den Charakter der Aifare als einer "inneren Angelegenheit" zu betonen. Regierung und Armee hatten damit freie Hand gehabt, die Rebellion niederzuschlagen und Recht und Ordnung wiederherzustellen. Wenn sich im Zuge dieser Aktion - wie zu erwarten - Militar und Polizei im Mitteleinsatz vergriffen hatten, ware dies als Menschenrechtsverletzung angeprangert worden und hatte zu einer mehr oder weniger symbolischen Reaktion des Protestes gefiihrt. Das eigentliche Problem aber ("Wahrung der staatlichen Einheit") ware gelOst gewesen, und nach einiger Zeit hatte man zum business as usual iibergehen konnen. Diese bis dato gangige Form der Auflosung des Prinzipienkonfliktes zugunsten des KriterilUlls der Effektivitat degradiert allerdings ganz offen die in den Menschenrechten oder dem Demokratieprinzip verkorperten Werte zu rein programmatischen Normen - eine Konsequenz, die in Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland leicht in den Verdacht des Zynismus gerat. Politiker (zumindest in Staaten wie Deutschland) wagen es daher kalUll noch, offen fUr ein in traditionellen Kategorien der Realpolitik konzipiertes Handeln einzutreten. Die meisten westlichen Diplomaten aus den auf ihre Tradition der niichternen Realpolitik stolzen AuBenapparaten dagegen gerieten ersichtlich in Verwirrung, als Politiker (vor allem aus Staaten Mitteleuropas) auf den Gedanken kamen, der Prinzipienkonflikt zwischen Effektivitat und Legitimitiit miisse zugunsten der bisher nur rhetorisch fUr tragend erklarten rechtsstaatlichen Strukturprinzipien aufgelost werden. Gerade in den AuBenministerien der wichtigeren westeuropaischen Staaten scheint diese moralisierende Variante deutscher AuBenpolitik nicht nur erhebliche Erbitterung ob der Uberdosis an moralischen Beschworungen hervorgerufen zu haben, sondern fiihrte auch zu ausgepragtem Misstrauen ob der eigentlichen Motive. Der Konflikt ware in diesem StadilUll wohl noch durch eine entschlossene Reaktion der Drittstaaten zu regulieren gewesen, etwa durch eine konzertierte Anerkennung der Neustaaten und die Androhung lUllfassender EmbargomaBnahmen gegeniiber den auf gewaltsame Losungen bedachten Akteuren; vorausgesetzt hatte dies aber eine einheitliche Bewertung der Vorgange. Da diese Gemeinsamkeit in der Bewertung nicht vorhanden war, fliichtete sich die Diplomatie in Formelkompromisse, die im Ergebnis dann eher konfliktverscharfend als konfliktverhiitend wirkten, konnten doch beide Sei-
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ten sich durch Teile der verwendeten Formeln bestatigt fiihlen. Die AImee fiihlte sich als legitimer Wahrer der staatlichen Einheit, wiihrend die abfallenden Republiken auf ihre demokratische Legitimation (und letzten Endes auf das Selbstbestimmungsrecht) verwiesen. 30.2. Der militirische Kontlikt: Barbarei als "Normalitst"
Was nun einsetzte, war ein Prozess des allmiihlichen Hinausschiebens der Grenzen der Grenzen dessen, was man als Normalitat beschreiben konnte. Motor dieses Prozesses der Verschiebung psychologischer Grenzen war zuniichst das strategische Denken in Kategorien des totalen Krieges, das die handelnden Militiirs in Jugoslawien priigte. Der Drang zur Totalisierung des Krieges fand zuniichst kaum ernsthaften Widerstand. 1m Gegenteil- die Erfahrung der Sanktionslosigkeit hat die Position der militiirischen Hardliner wohl immer weiter gestiirkt. Teile des Offizierskorps der Jugoslawischen Volksarmee warteten zu Beginn der Terrorangriffe auf Vukovar und Dubrovnik noch darauf, die AImeefiihrung in Belgrad moge durch entschlossene Reaktionen der Staatengemeinschaft zur Vernunft gebracht werden. Die von vielen Offizieren der Jugoslawische Volksarmee erwartete militiirische Machtdemonstration der westlichen Staaten entsprach jedoch nicht den giingigen Szenarien westlicher AuBenpolitik. Bereitschaft zu entschlossenem Handeln im Namen der Staatengemeinschaft war in dieser Phase des Konflikts bei den Staaten Westeuropas noch nicht vorhanden, einmal davon abgesehen, dass militiirische Aktionen in diesem Stadium etablierten volkerrechtlichen Ordnungskategorien widersprochen hatten, waren sie doch nur durch einen sofortigen Beschluss des UN-Sicherheitsrates zu legitimieren gewesen. Der Sicherheitsrat war aber zu derart schneller Reaktion damals gar nicht in der Lage. Schnelles Reagieren setzt zuniichst eine vorgehende Verstiindigung fiber die Bewertung der Lage und fiber die angemessenen Instrumente des Handelns voraus. Schon fiber die Kompetenz des Sicherheitsrates nach Kapitel VII in Situationen interner Konflikte herrschte jedoch zu diesem Zeitpunkt noch volliger Dissens. Erst im Verlaufe der letzten Jahre hat der Sicherheitsrat seine Praxis so veriindert, dass Krisen dieser Art als legitimer Gegenstand von ZwangsmaBnahmen des Sicherheitsrates gewertet werden (China zeigt insoweit fibrigens immer noch starke Vorbehalte); eine Verstiindigung auf eine entsprechende MaBnahme ware damals folglich kaum moglich gewesen. Die Reaktion der Staaten Westeuropas, die den ersten Zugriff auf das Problem reklamierten, beschriinkte sich daher auf Aktivitaten praventiver Konfliktdiplomatie - obwohl der Konflikt liingst das Stadium auBerst brutaler militiirischer Auseinandersetzung erreicht hatte. Die Konsequenz war voraussehbar: Das Ausbleiben ernsthafter Reaktionen, die zu Anfang der Konfliktverschiirfung vielleicht ein Ende hatten setzen konnen, lieB die Regeln des humanitiiren Volkerrechts innerhalb weniger Monate in den Augen der Konfliktparteien zu toten Buchstaben werden. Elementare kriegsrechtliche Grundsatze, die zum Grundbestand des in den Genfer Rotkreuz-Konventionen von 1949 verankerten Humanitiiren Volkerrechts gehOren, wie das Gebot der Unterscheidung zwischen Zivilbevolkerung und militiirischen Zielen, der Schonung von Kulturgut, der men-
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schenwiirdigen Behandlung von Gefangenen und Zivilinternierten oder das Verbot der Vertreibung von Bewohnern besetzter Gebiete, wurden vor den Augen der WeltOffentlichkeit mit FiiBen getreten, wichen dem Recht des Starkeren. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Hinnahme derartiger Rechtsbriiche auf Dauer die Sitten aller Konfliktparteien verdirbt, letztlich in der allseitigen Verrohung der Kampffiihrenden gipfelt. Die Politik der westlichen Staaten war zu.entschlossenen Reaktionen nicht fahig bzw. teils auch nicht willens, blieb allerdings zu vordergriindigen Konzessionen an die moralischen Forderungen der Offentlichkeit gezwungen. Es entstand eine fatale DoppelbOdigkeit der westlichen Politik gegenfiber Jugoslawien, die so von den meisten Akteuren gar nicht beabsichtigt gewesen sein wird, die eher strulcturelle Folge der unausgetragenen Grundkonflikte westlicher AuBenpolitik war als intendierte Folge boswilliger Machtpolitik. Krasses Beispiel dafiir ist der Ende 1991 verabschiedete Vance-Plan fiir Kroatien. De facto war dieser Friedensplan fiir die serbisch besetzten Teile Kroatiens nichts anderes als ein Waffenstillstand, mit dem der militiirische Status quo zementiert wurde. Dem Wortlaut nach war der Planjedoch eine die legitimen Anliegen beider Seiten beriicksichtigende vorlaufige Friedenslosung unter Einschaltung einer mandatsahnlichen UN-Verwaltung. Man mag im Nachhinein die Diskrepanz zwischen dem Wortlaut des Friedensplans und der faktischen Umsetzung des Planes als typisch fiir die Schwierigkeiten der Vereinten Nationen ansehen. Ganz gerecht ware dies jedoch nicht. Die Diplomaten, die das Konzept entwickelt hatten, nahmen den Plan wohl wirklich ernst. Die Umsetzung hing allerdings an einem entsprechenden Engagement der Friedenstruppen stellenden Staaten. Nur wenn diese zur - im Ernstfall auch gewaltsamen - Durchsetzung des Friedensplans bereit waren, konnten die Parteien zur Einhaltung ihrer einmal gegebenen Zusagen gezwungen werden. Genau dazu waren die Staaten aber offensichtlich nicht bereit. Essentielle Kernpunkte des Friedensplans, wie die Entwafl'nung der serbischen Milizen und die Raumung der sogenannten ,,rosa Zonen", also der Gebiete mit traditionell kroatischer Bevolkerungsmehrheit, die wieder voll unter Zagreber Kontrolle kommen sollten, wurden von den in der Krajina und Slawonien stationierten UNPROFOR-Kontingenten nie wirklich durchgesetzt. Dies ist nur zu einem geringen Teil auf Mangel des Friedensplans als solchem zuriickzufiihren. Es lag nicht an den Mangeln des rechtlichen Mandats, sondern an der politischen Zuriickhaltung der mit Truppenkontingenten an der Aktion beteiligten Staaten, dass die Umsetzung des Plans nicht mit militiirischer Gewalt erzwungen wurde, was letztlich einer Obstruktion der angestrebten Losung gleichkam. Da die Vereinten Nationen fiber kein eigenes militarisches Instrument verfiigen, ist die Organisation als Vertreter der Staatengemeinschafi nur so durchsetzungsfahig wie die an den einzelnen Aktionen beteiligten Staaten ihr dies erlauben. Dieser Befund spiegelt sich in dem ungelOsten Problem der command and control-Strulcturen bei UN-Friedenstruppeneinsatzen. Wirkliche Kontrolle fiber die eingesetzten nationalen Verbande fiben bis heute im Zweifelsfall nicht die UN-Kommandeure und deren Stabe aus, sondern die Verteidigungsministerien der jeweiligen Entsendestaaten. Erteilt die nationale Regierung Anweisung, bestimmte heikle Schritte zu unteriassen, so konnen politische Leitlinien der UN schnell in ihr Gegenteil verkehrt werden. Genau dies aber geschah in Slawonien und in der Krajina; es entstand eine Art Mafia-Staat, in dem, nach auBen durch UN-
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Friedenstruppen abgesichert, bewaffnete Banden und Milizen sowie deren Reprasentanten Staatsgewalt "spielten". Welch traurige Zustlinde in diesen Gebilden herrschten, belegen die Berichte des UN-Menschenrechtsberichterstatters Tadeusz Mazowiecki: Nicht nur die (wenigen verbliebenen) kroatischen Bewohner waren dort volliger Willkill ausgeliefert, sondem auch die serbischen Bewohner litten unter einem volligen Zusammenbruch von Recht und Ordnung. Verbaut wurde mit dieser Duldung von Strukturen militlirischer Gewaltherrschaft im Ergebnis auch der Weg zu einer endgiiltigen Friedenslosung fi.ir die Krajina. Der auf dem Vance-Plan autbauende Z4-Plan der Kontaktgruppe, der ein in sich sehr stimmiges Modell weitgehender Autonomie fi.ir die kroatischen Serben entwickelt hatte, scheiterte an der mangelnden Durchsetzungsmacht westlicher Diplomatie. KompromisslOsungen waren mangels entsprechender Druckmittel den auf das Recht des Stlirkeren vertrauenden Gewalthabem in Knin nicht nahe zu bringen.
30.3. Die volkerrechtlichen Reaktionen: Anerkennung als Gestaltungsinstrument Zeitlich genau parallel zum Vance-Friedensplan fi.ir Kroatien lief die Anerkennungsdebatte aufihren Hohepunkt zu. 1m Winter 1991 war offensichtlich geworden, dass die Jugoslawische Volksarmee mit der militlirischen Niederwerfung der kroatischen "Sezessionisten" gescheitert war (Cigar) und dass einige wichtige Staaten (vor aHem Deutschland) bald zur Anerkennung der Neustaaten schreiten willden. Unter dem Druck dieser Umstlinde fiigte sich die Mehrheit der Mitglieder der Europaischen Gemeinschaft notgedrungen ins Unvermeidliche und stimmte der konzertierten Anerkennung Sloweniens und Kroatiens zu. Urn weiterem Streit tiber die Kriterien der Anerkennung vorzubeugen, bemiihte man sichjedoch, die neue Anerkennungspolitik in einem Katalog allgemein gefasster rechtlicher Prinzipien festzuschreiben. Dem in diesem Zuge entstandenen rechtlichen Dokument sollte fi.ir den weiteren Gang der Dinge dann erhebliche Bedeutung zukommen. Zur Vorbereitung der in ein scheinbar rechtliches Verfahren eingekieideten Anerkennungen wurde eine Schiedskommission aus Prasidenten europaischer Verfassungsgerichte eingesetzt, die so genannte Badinter-Kommission. Die Gutachten dieser Kommission stelltenjeweils fest, dass die geforderten Voraussetzungen fi.ir eine Anerkennung erfiillt sind. Einige Entscheidungen dieser Kommission hatten bemerkenswerte rechtliche Folgewirkungen, so insbesondere die die Staatenpraxis prajudizierende Festlegung auf das so genannte uti possidetis-Prinzip, eine urspriinglich aus dem kolonialen Kontext stammende Regel fi.ir die Rechtsnachfolge in Grenzen. Festgelegt wurde damit die Verbindlichkeit der innerjugoslawischen Republiksgrenzen fi.ir die nun unabhlingig gewordenen Neustaaten - ein auJ3erst folgenschwerer Schritt, dessen rechtliche Ableitung aus den Gutachten kaum verstlindlich wird. Auch die zunachst auJ3erst umstrittene Einstufung des Zerfalls Jugoslawiens als Dismembration, mit der F olge des volligen rechtlichen Unterganges Jugoslawiens als Staat, wurde von der Badinter-Kommission vorgeformt. Diese Position des Untergangs des jugoslawischen Staates wurde im weiteren Verlaufe dann Grundlage fi.ir die Praxis der westlichen Staaten: Von Seiten der so genannten Bundesrepublik Jugoslawien, also des
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serbisch-montenegrinischen Restjugoslawien, wird diese Position allerdings bis heute in Frage gestellt, und auch in der Volkerrechtslehre hat sie durchaus nicht nur BefUrworter gefunden. In den Vereinten Nationen musste man sich dementsprechend mit einem Formelkompromiss behelfen, wonach die Mitgliedschaft Jugoslawiens de jure als fortbestehend gedacht wird, aber suspendiert bleibt, bis die Frage der Nachfolge oder Identitat mit dem alten Jugoslawien gekliirt ist. Die Anerkennung wurde in der Praxis der EU-Staaten so yom wertneutralen Akt der reinen Besiegelung faktisch konsolidierter Herrschaft in ein wertgeladenes Instrument der Sicherung substantieller Homogenitat der europaischen Staaten umgeformt (Rich; Deter). Dies ist eine Entwicklung nicht ohne Gefahren. Versteht man die Anerkennung als Mittel der politischen Gestaltung, wenn auch stark symbolischer Natur, so besteht in der Folge die Versuchung, die Institution Anerkennung zum symbolischen Politikersatz zu entfremden. Zu belegen ist dies an der Anerkennung Bosnien-Herzegowinas. Dbwohl die Folgen einer Unabhiingigkeitserkliirung Bosnien-Herzegowinas fUr die Beteiligten durchaus absehbar waren, in der Form gewaltsamer Besitzergreifung moglichst groBer Portionen Landes durch die bosnischen Serben im Verein mit der Armee, verweigerte sich die westliche Politik realen Gegenstrategien. Die von der bosnischen Regierung vorgeschlagene Stationierung von VN-Friedenstruppen scheiterte am fehlenden Willen der relevanten Staaten, fUr diese Aufgabe Truppen zur Verfiigung zu stellen (Zimmermann). In der Folge konnte die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas dann aber nur fatale Folgen haben. Nicht nur das Timing war falsch, sondern aufgrund des volligen Fehlens eines ubergreifenden Losungskonzepts, in das die Anerkennung als instrumentale MaBnahme batte eingefasst werden konnen, blieb der Akt der Anerkennung als weitgehend symbolische MaBnahme in der Luft hiingen. Die Anerkennung war, dies gilt leider besonders fUr die deutsche Politik, zusehends zu einer Art Selbstzweck geworden. Die positiven Wirkungen wurden tiberscbatzt: 1m Faile Kroatiens konnte sie angesichts des Zeitpunkts kaum noch befriedende Wirkung entfalten - im Gegensatz zu einer entschlossenen Anerkennung in einem friihen Stadium, die (ware sie geschlossen erfolgt) wohl noch manches zu verhindern geholfen batteo 1m Falle Bosnien-Herzegowinas dagegen heizten die Anerkennungsrichtlinien eher den Konflikt an, als dass sie ihn dampften. Nicht ohne Grund beschworen die Diplomaten der Jugoslawien-Konferenz wie die meisten betroffenen Politiker aus Kroatien, Mazedonien und Bosnien die EG-Staaten, die Anerkennungsfrage im Fall Bosniens solange wie nur irgend mOglich in der Schwebe zu halten, da andemfalls Fiirchterliches zu erwarten sei. Wie richtig diese Einscbatzung war, zeigten dann die Folgen der geanderten Anerkennungspolitik. Die Berufung auf die Anerkennungsrichtlinien fiihrte nicht nur zur Polarisierung zwischen Kroaten und Muslimen auf der einen, Serben auf der anderen Seite, sondem wohl auch dazu, dass die bosnische Regierung sich einer Tauschung tiber ihre wahre Lage hingab, vertraute sie doch auf die Hilfe der AuBenwelt in der Absicherung der bosnischen Souveriinitat (Guicherd). Es ist nicht zu leugnen, dass die in den Konflikt eingeschalteten Drittstaaten diese Illusion zum entscheidenden Zeitpunkt durchaus niihrten. Die Politik der starken Worte, auf die dann keine Taten folgten, setzte sich auch im weiteren Verlauf des Konfliktes fort. So folgten auf die rein formelle Umwandlung der Sozialistischen FOderativen
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Republik Jugoslawien in eine neue Bundesrepublik Jugoslawien, die mit der Umfirmierung der in Bosnien stehenden Einheiten der JVA in so genannte Streitkriifte der bosnischen Serben einherging, entschlossen klingende Stellungnahmen der europiiischen Staaten, man werde eine reine Umetikettierung der in Bosnien stehenden Armeeeinheiten nicht tatenlos hinnehmen, sondem entsprechende Konsequenzen ziehen. Was aber hatten diese Konsequenzen sein konnen? Die allgemeinen vOlkerrechtlichen Regeln der Staatenverantwortlichkeit hatten es eigentlich nahe gelegt, die serbischen Truppen in Bosnien weiter als Staatsorgane des serbisch-montenegrinischen Rumpfstaates anzusehen, zu deren Streitkrafien sie mit Ausbruch des Biirgerkrieges mutiert waren. Serbien bzw. Restjugoslawien ware damit unzweideutig als Aggressor gegen seinen neuen Nachbarstaat zu qualifizieren gewesen, ohne sich hinter der Konstruktion einer von ihm unabhangigen Serbischen Republik in Bosnien verstecken zu konnen. Kriegf'iihrende Partei war schlieBlich die dem Staat Serbien weiterhin zuzurechnende Armee des alten Jugoslawien. Die Staatengemeinschaft hat diese - rechtlich an sich nahe liegende - Konsequenz nicht gezogen, sondem hat den Konflikt faktisch als einen Biirgerkrieg behandelt. Das fUr den Umgang mit Biirgerkriegssituationen typische, in der Anfangsphase des Konfiiktes verhangte Waffenembargo wurde aufrechterhalten, obwohl der damit bewirkte Eingriff in das Selbstverteidigungsrecht Bosniens rechtlich problematisch ist, gar als VerstoB gegen so genanntes ius cogens, also zwingendes VOlkerrecht, gewertet werden konnte (Ghebali). Das Versteckspiel des in den Konflikt tief verstrickten serbischen Staates, der sich immer wieder als unbeteiligter Dritter darzustellen trachtete, wurde im Ergebnis mitgespielt, und die neutrale Vermittlung der Genfer Jugoslawien-Konferenz und der UN liefletztlich daraufhinaus, die ,,Biirgerkriegsparteien" auf die gleiche rechtliche Ebene zu stell en und die Beteiligung Restjugoslawiens weitgehend auszublenden. Dabei hatte es angesichts des nur gerade ein Jahr zuvor erfolgten Prazedenzfalles der alliierten Kuwait-Operation gegen den Irak eigentlich nahe liegen konnen, gegen den Aggressor SerbienIMontenegro mit ZwangsmaBnahmen vorzugehen, ihm militarisch in den Arm zu fallen bei der Erreichung seiner territorialen und demographischen Ziele.
30.4.Die Frage nach der militiirischen Reaktion: Friedensschaffung versus "humanitiire Intervention" Doch als die offentliche Debatte in den Staaten Westeuropas angesichts der serbischen Graueltaten im Sommer 1992 genau diese Konsequenz zu fordem begann, erfolgte eine neue Weichenstellung der Politik gegeniiber dem ehemaligen Jugoslawien: Die F orderung nach militarischer Intervention wurde umgelenkt in ein Konzept rein humanitarer Aktionen. Die eilfertige Aufnahme des Gedankens der rein humanitaren Aktion durch die offizielle Politik der interessierten Drittstaaten, die in der symbolischen Aktion Prasident Mitterands Ende Juni 1992 ihren Hohepunkt fand, geriet nicht ganz grundlos in den Geruch, so etwas wie ein Ablenkungsmanover darzustellen. Rein humanitare Aktionen in einem von volliger Brutalisierung gepragten Umfeld wie in Bosnien gera-
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ten leicht in Gefahr, militiirisches Personal bewusst zweckentfremdet einzusetzen: Militareinheiten werden dann eingesetzt fiir Aufgaben, die genau so gut oder besser von anderen Organisationen wahrgenommen werden konnten (IKRK, UNHCR z.B.), wiihrend zugleich tiber das Mandat, das die Entsendestaaten ihren Truppen mit auf den Weg geben, sinnvoller Einsatz militiirischer Mittel ausgeschlossen wird (wie z.B. die Erzwingung des Zugangs zu bestimmten Orten oder auch nur die Verteidigung der Transporte). Die Anwesenheit von Soldaten markiert in dieser Situation zwar staatliche Aktivitiit; ernsthafte militiirische ZwangsmaBnahmen im Sinne einer echten Militarintervention werden jedoch gerade durch die rein hwnanitare Aktion ausgeschlossen, da die Eskalation zum gezielten militarischen Gewalteinsatz eine Gefahrdung der tiber das ganze Einsatzgebiet verstreuten auslandischen Truppen nach sich ziehen mtisste. Eine Beschriinkung des Einsatzes von Truppen auf rein hwnanitare Aufgaben bewirkt somit unter Umstiinden das genaue Gegenteil des ordnungspolitisch Sinnvollen, Hisst die Blauhelme der Staatengemeinschaft zu den militiirischen Status quo sichemden Geiseln in Handen der auf eine Gewaltlosung setzenden Kriegsparteien werden. Das neue Konzept des ,,robust peacekeeping", mit dem man die Flucht aus den gangigen vOlkerrechtlichen Kategorien militiirischen Zwangseinsatzes bemantelte, zeigte in der Folge seine nicken. Wie so oft riichte sich auch hier die Missachtung der etablierten Kategorien, in denen sich ja schlie13lich langjiibrige Erfahrungen spiegeln. Nach traditioneller Praxis waren die Voraussetzungen fiir den Einsatz von UN-Friedenstruppen in Bosnien-Herzegowina eindeutig nicht erfiillt gewesen. Fiir reine Friedenswahrung (im Sinne des Peacekeeping) fehlte es an einem Frieden, der zu bewahren gewesen ware, denn es mangelte ohne Zweifel an jeglichem Friedenswillen der Konfliktparteien. Fiir Peace Enforcement dagegen, also militiirische Herbeizwingung einer Friedenslosung, fehlte es an der Bereitschaft der Drittstaaten, emsthaft militarischen Druck auszutiben (und inbesondere auch an der dafiir erforderlichen klaren politischen Zieldefinition). Die Grenze zwischen den beiden Fonnen militiirischer Friedensoperation ist alles andere als kiinstlich, markiert sie im Gegenteil doch eine politisch essentielle Entscheidung, die von den Beteiligten sehr bewusst und moglichst deutlich zu treffen ist. Bei der Friedenswahrung wird die Friedenstruppe zur Absicherung einer FriedenslOsung eingesetzt, die von den Konfliktparteien selbst ausgehandelt worden ist, und die nur gegentiber widerstrebenden Teileinheiten, Quertreibem und ins Kriminelle abgerutschten Hardlinem durchzusetzen ist. Bei der Friedensschaffimg (i. S. des Gewalteinsatzes nach Kapitel VII der UN-Charta) dagegen wird die militiirische Gewalt zur Erreichung einer von auBen aufgezwungenen Friedenslosung eingesetzt, die zu Lasten einer der Konfliktparteien durchgesetzt werden solI. Friedensschaffimg nach Kapitel VII ist folglich das genaue Gegenteil der fiir Peacekeeping essentiellen Neutralitiit zwischen den Konfliktparteien, es ist per defrnitionem Parteinahme, da jeder an Kriterien legitimer Interessewahrung orientierte Friedensplan das Durchsetzen der Interessen des militiirisch Starkeren durchkreuzen muss. Konkret zum Fall Bosnien: Ein von den Konfliktparteien im Grundsatz akzeptierter Friedensplan, dessen Durchfiihrung mit Blauhelmen zu tiberwachen gewesen ware, existierte nicht. Zur militarischen Durchsetzung eines von auBen vorgegebenen Frie-
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densplanes war jedoch kein militarisch potenter Staat bereit. Die immer wieder aufgefiihrten militartechnischen Bedenken entbehrten dabei nicht einer gewissen PlausibiliHit, betrafen aber zum Teil sehr isolierte Einzelpunkte und waren im Ergebnis letztlich doch eher Rationalisierungen der fehlenden politischen Bereitschaft zur Intervention. Der weitgehende Konsens der Militars iiber die Schwierigkeiten einer bewaffueten Intervention darf nicht damber hinwegtauschen, dass eine solche Intervention moglich gewesen ware - wenn man sie denn wirklich politisch gewollt hatte. Genau an diesem politischen Willen aber fehlte es im Kern, besaB man doch weder eine iibereinstimmende Vorstellung von der damit herbeizufiihrenden politischen Losung noch die Bereitschaft, die im Rahmen einer Militarintervention unvermeidlichen Opfer auf sich zu nehmen. Unter dieser Prarrusse war der iibereinstimmende Widerstand der Militars gegen eine bewaffuete Intervention durchaus rational, ist eine derartige Aktion doch ohne klare politische Zielvorgabe (und entsprechende politische Einbettung) zum Scheitern verurteilt.
30.5. Das UN-Straftribunal Eine ahnliche Verwirrung der Ziele pragte im Ergebnis auch die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs fUr Jugoslawien. Geschaffen wurde dieser erste internationale Strafgerichtshof seit dem Niimberger Kriegsverbrechertribunal durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates. Der Gedanke der Schaffung eines (standigen) Internationalen Strafgerichthofes war zwar seit Niimberg in der internationalen Arena prasent gewesen, und entsprechende Vorschlage standen auch seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung der International Law Commission, des volkerrechtlichen FachgremilUllS der Vereinten Nationen, in dem die groBen Vertrage zur Kodifikation des Volkerrechts vorbereitet werden. Die einschlagigen Entwurfsarbeiten waren aber nie zu einem Abschluss gebracht worden, da klar ersichtlich war, dass der Widerstand aus der Staatengemeinschaft gegen ein derartiges Projekt zu massiv ausfallen wiirde. Als das AusmaB der von den Kriegsparteien begangenen Verbrechen ruchbar wurde, hatte der Sicherheitsrat Ende 1992 zunachst eine fiinfkopfige Expertenkommission zur Ermittlung der im ehemaligen Jugoslawien veriibten Kriegsverbrechen eingesetzt. Von Anfang an wurden aber dieser Ermittlungskommission die Ressourcen verweigert, die sie zur ernsthaften Aufnahme ihrer Arbeit gebraucht hatte. Als der Widerspruch zwischen Mandat und faktischen Moglichkeiten der Kommission zu krass wurde, trat deren erster Vorsitzender, der bekannte niederlandische Kriegsrechtler Frits Kalshoven, unter Protest zurUck. Nur in Sparbesetzung konnte die Arbeit fortgesetzt werden. Insofern kam es iiberraschend, dass der UN-Sicherheitsrat am 25. Mai 1993 dann durch Resolution 827 ein ad hoc-Straftribunal fUr das ehemalige Jugoslawien einsetzte, das als Nebenorgan des Sicherheitsrates konzipiert ist, mit Sitz im niederlandischen Den Haag. Hatte man zuvor die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofes nur durch Vertrag fUr moglich gehalten, so wurde der Jugoslawien-Strafgerichtshof nun durch eine aufKapitel VII der UN-Charta gestiitzte bindende Sicherheitsratsresolution errichtet. Das Statut des Gerichtshofes ist als Annex nur in der Resolution in Bezug
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genommen; die Verfahrensordmmg wurde in der Folge yom Geriehtshof selbst erstellt. 1m Gefolge des gewahlten, irreguliiren Weges der Erriehtung einer internationalen Straf-
geriehtsbarkeit wurden dann VorwUrfe erhoben, das Gerieht sei nieht ordnungsgemlill erriehtet und entbehre einer reehtliehen Grundlage. Diese EinWcinde gegen das Strafgerieht sind in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden. Letztlieh hat sieh die Auffassung durchgesetzt, im Rahmen seiner Befugnis zu Zwangsma13nahmen nach dem VII. Kapitel habe der Sicherheitsrat in Ausnahmefallen auch die Befugnis zu quasilegislatorischem Handeln und zur Einsetzung eines internationalen Gerichtes. Der im Zusammenhang damit erhobene Vorwurf, die Unterwerfung von Tatem aus dem ehemaligen Jugoslawien unter ein ihnen zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht bekanntes Gericht verletze den Grundsatz des nulla poena sine lege, hat sich als ebenfalls nieht haltbar erwiesen. Was mit Resolution 827 neu geschaffen wurde, war eine internationaIe Verfahrenszustandigkeit, nicht eine materielle Strafbarkeit der abzuurteilenden Taten. Von Bedeutung ist die weite Strafzustandigkeit des Strafgerichtshofes. Unter seine Jurisdiktion fallen aIle Taten, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien nach dem 1. Januar 1991 begangen wurden, soweit sie in eine der vier im Statut aufgezahlten Tatbestandsgruppen gehOren. Der Zustandigkeit des Gerichts in Den Haag unterliegen gemlill Art. 2 bis 5 des Statuts "schwere Verletzungen der Genfer Abkommen von 1949", also die vertragsrechtlich unter Strafe gestellten Kriegsverbrechen gegen Gefangene, Verwundete und Zivilisten, desweiteren "VerstOBe gegen die Gesetze oder Gebrauche des Krieges", also die traditionellen Kriegsverbrechen nach Volkergewohnheitsrecht, ferner Verbrechen des Volkermordes und schlieBlich "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie sie in den NUrnberger und Tokioter Verfahren ausgepragt wurden. Auf welche dieser Strafbarkeitsgrundlagen die Verurteilung der Tater aus dem ehemaligen Jugoslawien konkret gestiitzt werden kann, ist noch streitig, denn die Anwendbarkeit einzelner dieser Tatbestande hangt von nicht zweifelsfrei geklmen Vorfragen abo Die "schweren Verletzungen der Genfer Abkommen" sind nur einschlagig in internationalen Konflikten, waren also fUr den Jugoslawien-Krieg nur anwendbar, wenn man - wie die vor dem Straftribunal tatige Expertenkommission - die Konflikte pauschal als internationale Konflikte einstufen warde. Ob dies moglich ist, diirfte aber eher zweifelhaft sein. Qualifiziert manjedoch die Konflikte in Kroatien und Bosnien-Herzegowina als nicht-international, so stellt sieh die schwierige Frage, unter welchen Tatbestanden volkerrechtliche Verbrechen im Biirgerkrieg iiberhaupt strafbar sind. Einzelne Stimmen aus der Volkerrechtslehre behaupten, die gewohnheitsrechtlichen Tatbestande der "VerstOBe gegen die Gesetze oder Gebrauche des Krieges" seien auch auf den Biirgerkrieg anwendbar, wahrend eine andere Auffassung das Verhalten der Akteure im Biirgerkrieg einzig fUr verfolgbar halt unter dem Aspekt der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Doch wie dem auch sei, unstreitig ist, dass die im Jugoslawien-Konflikt begangenen Verbrechen schon nach traditionellem Volkerrecht strafbar waren. Das wirkliche Problem des UN-Straftribunals liegt nieht in diesem Punkt, sondern eher in der Frage der faktischen Durchsetzung des Strafanspruchs der internationalen Gemeinschaft. Der Strafgerichtshofhat zwar umfassende Jurisdiktionsgewalt und der Nachweis der Ver-
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brechen ist im Einzelnen auch gar nicht so schwierig wie erwartet - nur die Tater, wn die es eigentlich gehen miisste, fehlen ihm, und ohne Tater gibt es kein Verfahren. Hillt der Gerichtshof sich aber - wie bisher - an zufallig an ihn iiberstellte Einzeltater, so bleibt ein schaler Geschmack. ,,Die Kleinen hangen sie, die GroBen lassen sie laufen" - wie es drastisch im Volksmund heillt. Das erste bis zum Endurteil gebrachte Verfahren - das Verfahren im Fall Erdemovic - ist insoweit leider symptomatisch. Die Haupttater konnten in der Folge zwar theoretisch durch militiirische Einsatze verhaftet und vor das Gericht gebracht werden - die Nato-Schutztruppe in Bosnien, die unter dem Dayton-Abkommen stationiert wurde, fiihlt sich dazu aber auBerstande bzw. nicht befugt. Militiirisch mag sie im iibrigen gute Griinde fUr ihr Widerstreben haben - politisch ist das Ergebnis fatal: Letztlich fiihrt das Dayton-Abkommen auf diese Weise zur Konsolidierung genau der Gewaltstrukturen, die mit Blut und Terror geschaffen wurden.
30.6. Das Dayton-Abkommen Die Gefahr, die durch Gewalt geschaffenen Herrschafts- und Machtverhiiltnisse rechtlich abzusegnen und zu konsolidieren, wird man insgesamt als das entscheidende Risiko der 1995 schlieBlich fUr Bosnien erreichten Friedensregelung ansehen miissen. Doch trotz dieser Gefahr - das in Dayton besiegelte Friedenspaket fUr Bosnien-Herzegowina stellte ohne Zweifel einen Fortschritt dar. Nach dem Scheitem des Vance-Owen-Plans 1993/94, im Gefolge des Prasidentschaftswechsels von Bush zu Clinton, hatte es nicht so ausgesehen, als sei iiberhaupt noch irgendeine Friedensregelung erreichbar. Letztlich war es nur dem Geschick der neu etablierten US-Administration zu danken, dass es schlieBlich noch zu einer halbwegs vemiinftigen Losung kam. Mit einer Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gelang es den amerikanischen Unterhandlem, Ende 1995 aIle wichtigen Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Dahinter stand ein Geflecht von Faktoren, die es der serbischen Seite auf einmal als ratsam erscheinen lieBen, ihre noch verbliebenen Gelandegewinne rechtlich festzuschreiben. Die Verschiebung der militiirischen Kriifteverhilltnisse, die nach dem kroatischen Sieg in der Krajina und Westslawonien und der vereinten Offensive der bosnischen Kroaten und Muslime im Sommer 1995 offenbar geworden war, lieJ3 die serbische Seite mehr und mehr wn ihren Besitzstand fUrchten. Hinzu kam die zunehmende Entschlossenheit der westlichen Staaten, zumindest iiber Luftangriffe militiirisch in den Konflikt einzugreifen. Zugleich legte es die desolate wirtschaftliche Lage Restjugoslawiens nahe, iiber Zugestandnisse am Verhandlungstisch zumindest eine Teilauthebung der Sanktionen zu erreichen. Was in Dayton im Herbst 1995 unter amerikanischer Verhandlungsfiihrung erreicht wurde, war dann ein auBerst komplexes Paket aus zwei- und mehrseitigen Abkommen. Die Gegenstande dieser Abkommen sind hOchst unterschiedlich. 1m militiirischen Bereich reicht das Spektrwn von einer anfanglichen WaffenstiIlstandsregelung unter Einschaltung internationaler Uberwachung iiber Vereinbarungen zur Entfiechtung der gegnerischen Truppen bis bin zu einer international iiberwachten Abriistungsregelung fUr
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die Konfliktparteien. 1m okonomischen Bereich wurden Vereinbanmgen iiber die Zusammenarbeit der Teileinheiten Bosniens und iiber den Wiederaufbau der Wirtschaft Bosniens unter Hilfeste11ung der Staatengemeinschaft getroffen; im politischen Bereich standen im Vordergrund Regelungen zur Wahl der zentralen Organe unter Uberwachung der OSZE, daneben aber auch der Wahlen zu den Staatsorganen der Teileinheiten Bosniens wie der Kommunalwahlen, die beide ebenfalls unter internationale Uberwachung geste11t wurden. Daneben wurde in einem gesonderten Abkommen die Geltung der Europaischen Menschenrechtskonvention fUr Bosnien-Herzegowina vereinbart, mit einem eigenen durch das Abkommen geschaffenen Menschenrechtsgerichtshof aus serbischen, kroatischen und muslimischen Richtern, plus einigen auswiirtigen Richtern als neutral em Element. Kernsruck der Dayton-Vereinbanmgen aber ist die vertraglich vereinbarte neue Verfassung Bosnien-Herzegowinas. Schon diese vOikervertragliche Fundierung ist eine Besonderheit im international en Vergleich. Besonders ist aber auch die Struktur des mit dieser Verfassung geschaffenen Staates - ja man kann sich fragen, ob das so geschaffene Gebilde unter traditionellen Kategorien iiberhaupt als Staat zu bezeichnen ist. Was so errichtet wurde, ist eine Konf6deration aus zwei Teilstaaten, der Serbischen Republik und der Bosniakisch-kroatischen FOderation, deren gemeinsamer staatlicher Uberbau eher schwach ausgebildet ist - wobei einer der zwei Teilstaaten seinerseits eine (bis heute nicht so recht funktionierende) FOderation darstellt aus den nur widerwillig zusammenarbeitenden Herrschaftsgebilden der bosnischen Kroaten und Muslime. Zwar stellt die Verfassung klar, dass sie die Souveriinitat und Volkerrechtsfahigkeit beim Zentralstaat angesiedelt sieht, wie sie auch die AuJ3enpolitik, die Wiihrungs-, Zo11- und wichtige Bereiche der Wirtschaftspolitik in die Hande der zentralen Organe legt. Diese zentralen Organe sind aber wiederurn so konstruiert, dass sie ohne einen zumindest rudimentiiren Konsens der wichtigen Volksgruppen bzw. Teileinheiten nicht funktionieren konnen. Die Proporzregelungen fUr die Zusammensetzung von Parlament, Regierung und kollektivem Staatsprasidium verleihenjeder Volksgruppe praktisch ein Vetorecht, von dem vor a11em die Fiihrung der Serben anfanglieh auch ausgiebig Gebrauch zu machen suchte. Besonders ungewohnlich aber ist die Kompetenzverteilung bei der Verrugung iiber die staatlichen Gewaltorgane. Nicht nur die Polizeihoheit liegt (wie bei vielen echten Bundesstaaten) in Handen der Gliedstaaten, auch das Militiir ist im Falle der Dayton-Verfassung nicht vergemeinschaftet, sondern verbleibt weiter in Handen der Teileinheiten. Dies ist international ohne Beispiel. Realpolitisch stellt diese Verfassung sicherlich das Optimum dessen dar, was am Verhandlungstisch iiberhaupt zu erreichen war. Ob eine derart den zentrifugalen Kraften Raum gebende Konf6derationsverfassung aber aus sich heraus jemals lebensfahig sein wird, bleibt bis heute fraglich. Die Implementierung der in der Verfassung vorgesehenen institutione11en Regelungen verliefjedenfa11s in der Anfangszeit sehr schleppend, versuchten doch die verschiedenen Seiten immer wieder, ihnen missliebige Teile des Verfassungsgeruges in der Anwendung zu sabotieren. 1m Ergebnis waren es nur die in das Dayton-Paket eingebauten starken Elemente eines international en Protektorates, die diese (vorausgesehenen) Widerstande zu iiberwinden halfen. Der militiirische Teil der Durchfiihrung des Friedensplanes ist von der UN an die Nato iibergeben worden,
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die dafiir mit einem (nur vage eingegrenzten) UN-Mandat versehen wurde. Die Uberwachung der Wahl- und Menschenrechtsregelungen obliegt einer OSZE-Mission unter Fiihrung eines amerikanischen Diplomaten. Betraut mit der Uberwachung der zentralen politischen Vereinbarungen - insbesondere der Umsetzung der Verfassung - wurde durch die Dayton-Vereinbarungen ein von den als Kontaktgruppe an der Friedenslosung beteiligten Drittstaaten bestimmter Hoher Repriisentant. Dieser Hohe Repriisentant musste, nachdem die bosnischen Konfliktparteien ersichtlich nicht in der Lage waren, das in Dayton konstruierte Verfassungsgefiige mit wirklichem Leben zu erfiillen, einen GroJ3teil der zentralen Entscheidungen an sich ziehen und den bosnischen Gesamtstaat so vorliiufig in eine Art internationales Protektorat umformen, in dem die fundamentalen politischen Entscheidungen zu einem erheblichen Teil nicht von Vertretern des Volkes, sondem von Repriisentanten auswiirtiger Miichte getroffen werden. Zurnindest fUr eine mehr oder weniger kurze Anfangszeit war diese Losung wohl unvermeidbar, fehlte es doch an der notigen Kompromissbereitschaft, solange in den unterschiedlichen Teileinheiten noch die yom Biirgerkrieg an die Spitze gespillten militanten Vertreter der alten nationalistischen Kriegsparteien an der Regierung waren. Auf Dauer funktionieren kann das in Dayton ersonnene komplizierte Verfassungsgefiige jedoch nur, wenn diese alten Fiihrungen der auf die Verfolgung von Maximalzielen mittels militiirischer Losung fixierten Hardliner allmiihlich abgelost werden durch eine neue Generation von Friedenspolitikern, die die Notwendigkeit des friedlichen Kompromisses als Voraussetzung politischer Stabilitiit und wirtschaftlicher Besserung akzeptieren. Dies gilt nicht nur fUr die serbische Seite, sondem sicherlich auch fUr die Mafia-Strukturen der Herzegowina-Kroaten,letztlich wohl auch fUr Teile des bosniakisch-muslimischen Apparates. Doch handelt es sich dabei urn politische Voraussetzungen einer gedeihlichenEntwicklung des Dayton-Vertragswerkes, die das Netz rechtlicher Verpflichtungen nur schwer beeinflussen, geschweige denn garantieren kann. 30.7. Die Kosovo-Intervention
Was aus dem Dayton-Paket bewusst ausgeklammert wurde, waren die weiteren schwelenden Konfliktherde des zerfallenen Jugoslawien, wie die Problematik des Sandschak oder die Kosovo-Frage. Versuche, das Kosovo-Problem unter das Dach der DaytonVerhandlungen zu bringen, wurden von vornherein abgeblockt - und dies letztlich wohl zu Recht, denn eine Uberfrachtung der Dayton-Verhandlungen mit der Kosovo-Frage hiitte alle Bemiihungen urn eine politisch-diplomatische Losung zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit zunichte gemacht. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien war folglich aber mit Dayton nicht wirklich beendet, sondern nur eingegrenzt auf die restlichen, noch nicht gelosten Problemzonen. Fiir diese verbleibenden Probleme, deren gravierendste sicherlich die ungeloste Kosovo-Frage darstellt, existierte volkerrechtlich noch kein rechtlicher oder institutioneller Rahmen, der einen Ansatz zur politisch-diplomatischen Losung geboten hiitte. Die Staatengemeinschaft blieb hier erneut verwiesen auf den ad hoc ansetzenden Aufbau politischer und diplomatischer Strukturen, mittels derer Druck auf die Konfliktparteien ausgeiibt werden konnte. Die Gefahr bestand, dass
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die Drittstaaten tiber diesem Prozess des trial and error wieder so viel Zeit vergehen lassen WOrden, dass die militiirisch stiirkere Seite vollendete Tatsachen schaffen konnteo Die von Serbien betriebene Politik der ethnischen Siiuberung gegentiberder albanischen Bevolkerung wichtiger Teile des Kosovo lieB insofem nichts Gutes ahnen. Die BefUrchtungen bewahrheiteten sich dann auch in den Jahren nach 1996. Mit der sich immer deutlicher abzeichnenden Erfolglosigkeit der gewaltlosen Strategie der Schattenregierung unter Ibrahim Rugova gewannen die Anhiinger einer terroristischen Strategie unter den Kosovo-Albanem mehr und mehr an Boden. Seit 1996 trat die bewaffnete Untergrundorganisation der UC;::K mit terroristischen Anschliigen hervor. Die serbischen Sicherheitskriifte reagierten darauf mit aller Harte. Ab Februar 1998, der ersten groBangelegten Offensive gegen die von der UC;::K beherrschten Gebiete, ging das Belgrader Regime schlieBlich offen zu einer Strategie der ethnischen Siiuberungen nach altbekanntem Muster tiber, mit unterschiedsloser BeschieBung albanischer Siedlungen, deren Bewohner durch Terror und durch Morde zur Flucht gezwungen wurden, und anschlieBendem Niederbrennen der Dorfer. Die yom humanitaren V olkerrecht gezogenen Grenzen legitimer Terrorismusbekiimpfung wurden dabei vollig missachtet. Ais der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1160 yom 31. Marz 1998, der ersten Kapitel VII-Resolution zum Kosovo-Problem, ein Waffenembargo tiber Restjugoslawien verhiingte, schien dies die Brutalitiit des serbischen Vorgehens nur zu steigem. 1m Spiitsommer 1998 waren schon mehr als 200.000 Kosovo-Albaner auf der Flucht, von der jugoslawischen Soldateska aus ihren Dorfem vertrieben. Als auch eine zweite Sicherheitsrats-Resolution keine Wirkungen zeitigte, niimlich Resolution 1199 yom 23. September 1998, in der eine Einstellung aller Feindseligkeiten, die Rtickkehr der Fltichtlinge, eine effektive intemationale Uberwachung und emsthafte Friedensgespriiche im Hinblick auf eine Autonomie-Losung fUr das Kosovo gefordert wurden, begannen die Nato-Staaten Belgrad mit der Drohung militiirischer ZwangsmaBnahrnen unter Druck zu setzen. In letzter Minute erreichte Mitte Oktober 1998 der US-Abgesandte Holbrooke ein Ubereinkommen mit Priisident Milosevic, in dem sich - gegen Aussetzung der angedrohten Luftschliige - die Bundesrepublik Jugoslawien zur Einstellung der Kampfuandlungen und zur Duldung einer OSZE-Mission mit 2.000 unbewaffneten Beobachtem bereit erkliirte. Das Paket, das durch den Sicherheitsrat mit Resolution 1203 yom 24. Oktober 1998 gebilligt worden war, wurde jedoch durch die jugoslawische Armee und die serbische Sonderpolizei hintertrieben. Die ethnischen Siiuberungen gingen, wenn auch mit verminderter Intensitiit, weiter und es war absehbar, dass auch so das serbische Ziel eines albanerfreien Kosovo erreicht werden konne. Die parallel gefiihrten Friedensverhandlungen, die im Marz 1999 nach mehreren erfolglosen Versuchen im Abkommensentwurfvon Rambouillet gipfelten, endeten in einem Fiasko. Die serbische Weigerung, den Vertrag zu unterzeichnen, der eine durch starke intemationale Priisenz abgesicherte AutonomielOsung fUr das Kosovo vorsah, brachte die Friedensbemtihungen der Staatengemeinschaft zum Scheitem. Nach mehreren Ultimaten der Nato, die als Terrorismusbekiimpfung getamte Verfolgung der AIbaner einzustellen, sowie dem Abzug der OSZE-Beobachter begannen die Nato-Staaten Ende Marz 1999 mit ihren militanschen Operationen gegen Restjugoslawien. Die Kampagne, die sich im wesentlichen aufLuftschliige gegen militarische Ziele, Schltis-
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selindustrien, KnotenpWlkte der Transportinfrastruktur und politische Schaltzentralen beschriinkte, war in den beteiligten Staaten der NATO von Anfang an umstritten. Nicht nur war kein Mandat des UN-Sicherheitsrats fUr derartige ZwangsmaBnahmen vorhanden; auch auf das Recht der Selbstverteidigung konnten die Nato-Staaten sich ersichtlich nicht stiitzen. Die vielfach bemiihte Rechtfertigung als ,,humanitlire Intervention", also als dezentrale GewaltmaBnahme zur Verbinderung massiver Menschemechtsverletzungen, hatte mit dem Problem zu kampfen, dass die - aus eher innenpolitischen GrUnden verhiingte - Beschrankung der Operationen auf reine Luftschlage die Eignung des Gewalteinsatzes zur unmittelbaren Abhilfe gegen die genozidartigen Akte ethnischer Sauberung erheblich minderte. Ein Recht auf(uni- oder multilaterale) dezentrale Durchsetzung befriedender Autonomielosungen, das implizit in Anspruch genommen wurde, wird dagegen (hisher) in der Volkerrechtsdoktrin allgemein nicht anerkannt. Der tiber die Rechtmiil3igkeit der Nato-Aktion entbrannte Strreit in der VOlkerrechtslehre wirft letztlich ganz grundlegende Fragen der Konstruktion des volkerrechtlichen Ordnungs- und Friedenssicherungssystems auf, die unter Volkerrechtlem zutiefst umstritten sind. Politisch fiihrte die Aktion jedoch Anfang Juni 1999 zu einem Erfolg. Belgrad stimmte den von den Nato-Staaten gestellten Bedingungen fUr eine Einstellung der Feindseligkeiten zu und die Nato stellte ihre Bombardements ein. Jugoslawien zog seine Truppen und Sicherheitskriifte aus dem Kosovo ab, willigte in eine Friedenslosung mit einer intemationalen Ubergangsverwaltung fUr das Kosovo ein und akzeptierte die Prasenz einer umfangreichen Friedenstruppe unter Fiihrung der Nato. Mit der Sicherheitsratsresolution 1244 yom 10. Juni 1999 wurde die Losung gebilligt, das Kosovo in eine selbstverwaltete Region mit nahezu umfassender Autonomie verwandelt und die Nato mit der miltiirischen, die UNO mit der zivilen Umsetzung des Friedenspaketes betraut. Was in der Folge entstand, war eine Art internationales Protektorat unter Kontrolle der Nato und der UNO.
30.8. Zusammenfassung AIle wichtigen Reaktionsformen der Staatengemeinschaft auf die Grauel des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zeigen die gleichen Probleme, die letztlich Ausdruck eines unaufloslichen Zielkonfliktes sind. Auf der einen Seite klammerten sich die Staaten und die EU wie die UN zuniichst am klassischen Souveriinitiitsparadigma fest und suchten das aus traditionellem Souveriinitiitsdenken folgende Dogma der Neutralitiit im Umgang mit Biirgerkriegssituationen so lange wie moglich durchzuhalten. Dahinter stehen natiirlich nicht nur prinzipielle Motive - wie etwa die Angst vor Sezessionen in manchern wichtigen Staat Westeuropas - sondem auch ganz pragmatische Motive wie das innenpolitisch bedingte Widerstreben, durch eine ernsthafte militiirische Intervention Opfer unter den eigenen Soldaten in Kauf nehmen zu miissen. Zugleich sahen (und sehen) sich die Regierungen der westlichen Staaten aber unter zunehmendem Druck, angesichts der grauenhaften Ereignisse etwas zu untemehmen, also den Opfem der Gewalt beizustehen.
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Das daraus erwachsende Dilemma aufierte sich in einer Neigung zu Fonnelkompromissen und symbolischen Ersatzhandlungen. Sowohl die Anerkennungspolitik als auch die traditionelle Kategorien des Blauhelmeinsatzes aufweichende humanitare Aktion unter dem Signum der UNPROFOR, der Dayton-Friedensplan wie schlieJ3lich auch die Einsetzung des internationalen Strafgerichtshofes durch den UN-Sicherheitsrat tragen alle deutliche Ziige einer so1chen Politik symbolischer Ersatzhandlungen. Ob sich das vOlkerrechtliche Handlungsrepertoire allerdings im Ergebnis wirklich so zum rein symbolischen Handeln eignet wie von den Staaten in Jugoslawien vorexerziert, muss mit guten Grunden bezweifelt werden. Letztlich droht eine derartige Politik eines symbolischen Volkerrechtsaktionismus die Institute des Volkerrechts ihrer Funktion zu berauben und zu leeren Hiilsen zu defonnieren, derer man sich zur Kaschierung des fehlenden Willens bedient, wirklich ordnend in einen Konflikt einzugreifen. Das einzige Beispiel einer entschiedenen Intervention, die Kosovo-Aktion der Nato, wirft dagegen ihrerseits ganz neue volkerrechtliche Probleme auf, die an die Grundlagen des klassischen VOlkerrechts riihren.
Literatur Stephanie Baer, Der ZerJall Jugoslawiens im Lichte des Volkerrechts, FrankfurtlM. u.a. 1995 Norman Cigar, "The Serbo-Croatian War, 1991: Political and Military Dimensions", The Journal oj Strategic Studies 16 (1993), S. 297 ff. Victor-Yves Ghebali, "UNPROFOR in Former Yugoslavia: The Misuse of Peacekeeping and Associated Conflict Management Techniques", in: D. Warner (ed.), New Dimensions oj Peacekeeping (1995), S. 13 ff. Carsten Giersch, Konfliktregulierung in Jugoslawien 1991-1995. Die Rolle von OSZE, EU, UNO und NATO, Baden-Baden 1998. Catherine Guicherd, "The Hour of Europe: Lessons from the Yugoslav Conflict", The Fletcher Forum 1993. S. 159 ff. Rosalynn Higgins, "The new United Nations and former Yugoslavia", International Affairs 69 (1993), S. 465 ff.. Dick A. Leurdijk, The United Nations and NATO in Former Yugoslavia, 1991-1996. Limits to Diplomacy and Force, Den Haag 1996. Virginia Morris / Michael P. Scharf, (eds.), An Insider Guide to The International Criminal Tribunal Jor the Former Yugoslavia, 2 Vols., New York 1995. Stefan Oeter, .. Kriegsverbrechen in den Konflikten urn das Erbe Jugoslawiens", Zeitschrift for ausldndisches offentliches Recht und Volkerrecht 53 (1993), S. 1 ff. Lord David Owen, "The Breakup of Yugoslavia: Its International Aspects", International Peacekeeping 1996, S. 34 ff. Roland Rich, .. Recognition of States: The Collapse of Yugoslavia and the Soviet Union", European Journal ojInternational Law 4 (1993), S. 36 ff. Bertrand de Rossanet, War and Peace in the Former Yugoslavia, Den HaagILondonlBoston 1997. Yves Sandoz, Reflexions sur la mise en oeuvre du droit international hurnanitaire et sur Ie role du Comite international de la Croix-Rouge en ex-Yougoslavie, Schweizerische Zeitschrift for internationales und europdisches Recht 1993, S. 461 ff. Paul C. Szasz, "Peacekeeping in Operation: A Conflict Study of Bosnia", Cornell International Law Journal28 (1995), S. 685 ff. Snezana Trifunovska, (ed.), Yugoslavia Through Documents. From its Creation to its Dissolution, Dordrecht u. a. 1994.
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Marc Weller, "The International Response to the Dissolution of the Socialist Federal Republic of Yugoslavia", American Journal ofInternational Law 86 (1992), S. 569 ff. Marc Weller, ,,Peace-Keeping and Peace-Enforcement in the Republic of Bosnia and Herzegovina", Zeitschriftfor ausliindisches iiffentliches Recht und Viilkerrecht 56 (1996), S. 70 ff. Warren Zimmermann, "The Last Ambassador. A Memoir of the Collapse of Yugoslavia, Foreign Affairs 74 (1995), S. 6 ff.
Weitere Literaturhinweise Zu Kapitel 30.1.: Eine kritische StrOmung schreibt beziiglich der Drittstaatsreaktionen im Falle Jugoslawiens zu Recht von einer "confusion of principles" - siehe nur L. Freedman, "Why the West Failed", Foreign Policy No.97, Winter 1994-95, S. 53,57 f Zum dahinterliegenden Dilemmajeder auf Gewohnheitsrecht beruhenden Ordnung vgl. M. Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure ofInternational Legal Argument (1989), S. 399 ff.; zur Infragestellung der traditionellen Unterscheidung von ,,!nnen" und "AuBen" siehe femer das jiingste Buch von Philip Allot, Eunomia: New Order for a New World (1990), dort insbes. S. 302 ff. Als kritische Analyse des Paradigmas der Souvertlnitat siehe M. Koskennierni, a.a.O., S. 192 ff., auBerdern C. Schreuer, "The Waning of the Sovereign State: Towards a New Paradigm for International Law?", European Journal of International Law 4 (1993), S. 447 ff. Zur neueren Debatte um die Reichweite des Selbstbestimmungsrechts vgl. C. Tomuschat, "Self-Determination in a Post-Colonial World", in: C. Tomuschat (ed.), Modem Law ofSelf-Determination (1993), S. Iff.; G. Binder, "The Case for SelfDetermination", Stanford Journal of International Law 29 (1993), S. 223 ff.; H. Hannum, "Rethinking Self-Determination", Virginia Journal ofInternational Law 34 (1993), S. Iff.; M. Koskennierni, "National Self-Determination Today: Problems of Legal Theory and Practice", International and Comparative Law Quarterly 43 (1994), S. 243 ff.; A. Cassese, Self-Determination of Peoples: A Legal Reappraisal (1995), S. 37 ff., 67 ff., 101 fl, ferner als zusanunenfassende Darstellungen der Debatte um ein aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleitetes Sezessionsrecht D. Murswieck, "The Issue of a Right of SecessionReconsidered", in: C. Tomuschat (ed.), Modem Law ofSelf-Determination (1993), S.21 fl, sowie S. Oeter, "Selbstbestimmungsrecht im Wandel. Oberlegungen zur Debatte urn Selbstbestimmung, Sezessionsrecht und "volZCitige" Anerkennung", Zejtschriftfor ausliindisches iiffentljches Recht und Viilkerrecht 52 (1992), S. 741, 748 ff. Zur Debatte urn die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts im Falle Jugoslawiens vgl. schlieBlich S. Baer, Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Viilkerrechts (1995), S. 197 ff., 232 ff. Zur Politik der westlichen Staaten zu Beginn des Jugoslawien-Konflikts vgl. v.a. C. Giersch / D. Eisermann, "Die westliche Politik und der Kroatien-Krieg 1991-1992", SUdosteuropa 43 (1994), S.12 ff., sowie C. Giersch, Konjliktregulierung in Jugoslawien 1991-1995 (1998), S. 108 ff., auBerdern als kritische Augenzeugenberichte beteiligter Diplomaten H. Wynaendts, L 'engrenage. Chroniques yougoslaves: juilJet 1991- aout 1992 (1993) sowie W. Zimmermann, "The Last Ambassador. A Memoir of the Collapse of Yugoslavia", Foreign Affairs 74 (1995), S. 6 ff. Zum neueren Konzept der ,,Public Order of Europe" vgl. insbes. J. A. Frowein, "The European Convention on Human Rights as the Public Order of Europe", in: Collected Courses of the Academy ofEuropean Law 1990 - Vol. 1-2, S. 267 ff. Zu den Griinden der yom Westen an den Tag gelegten Passivitttt, die vor allern am Mangel an Konsens iiber die zu verfolgenden Ordnungsansatze lag, vgl. M. Rosenfeldt, "Deutschlands und Frankreichs Jugoslawienpolitik im Rahmen der Europaischen Gemeinschaft (1991-1993}", Siidosteuropa 42 (1993), S. 621 ff.; zum Prinzipienkonflikt volkerrechtlicher Ordnungsgrundsiitze siehe insbes. T. Marauhn, "Die Auseinandersetzungen urn die Unabhtlngigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepublik Siowenien - Das Selbstbestimmungsrecht der VOlker im Wandel", Humanitiires Viilkerrecht-Informationsschriften 1991, S. 107 ff. Dass sich die Armee darauf verlieB, die Staatengemeinschaft werde das - bis dato Ilbliche - Handlungsmuster der Einstufung des Konfliktes als innere Angelegenheit benutzen, geht aus Stellungnahmen der Armeefiihrung hervor siehe C. Cviic, ,,Das Ende Jugoslawiens", Europa-Archiv 1991, S. 409,410 f. Zu KapiteI30.2.: Als kritische Wiirdigung des Wandels in der Praxis des UN-Sicherheitsrates im Falle von Militarputschen und Bllrgerkriegen vgl. nur R. Falk, "The Haiti Intervention: A Dangerous World Order
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Precedent for the United Nations", Harvard International Law Journal 36 (1995), S. 541 ff Zu den Kriegsverbrechen siehe den Schlussbericht der Bassiouni-Kommission, Final Report ofthe Commission ofExperts Established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN-Doc. S/I 994/674, 27 May 1994, auBerdem S. Oeter, "Kriegsverbrechen in den Konflikten urn das Erbe Jugoslawiens", Zeitschriftfiir ausliindisches ojfentliches Recht und Volkerrecht 53 (1993), S. 1 fT., sowie Y. Sandoz, "Reflexions sur la mise en oeuvre du droit international humanitaire et sur Ie role du Comite international de la Croix-Rouge en ex-Yougoslavie", Schweizerische Zeitschriftfiir internationales und europiiisches Recht 1993, S. 461 ff VgI. femer a1s detaillierte faktische wie rechtJiche Analyse der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien Human Rights Watch, War Crimes in Bosnia-Hercegovina (1992), S. 50 fT., femer M.-J. Calic, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Ursachen - Konfliktstrukturen - Losungsversuche (1995), S. I 18fT. und S. Milller I P. Angeli I A. Richter, "Ethnische Sauberungen" in Bosnien-Herzegowina Eine Untersuchung am Beispiel der Stadt Zvornik in Nordostbosnien, SUdosteuropa 44 (I 995), S. 290 fT. Zum faktischen Scheitem des Vance-Plans vgl. A. James, "The UN in Croatia: an exercise in futility?", The World Today, No.5, May 1993, S. 93 ff, auBerdem v- Y. Ghebali, "UNPROFOR in Fonner Yugoslavia: The Misuse of Peacekeeping and Associated Conflict Management Techniques", in: D. Warner (ed.), New Dimensions ofPeacekeeping (I 995), S. 13, 27 fT. undC. Giersch, a.a.O., S. 227 ff Zur damit in einem engen Zusammenhang stehenden Frage der command and control-Strukturen bei Friedensstreitkrafien vgl. die ausfuhrliche Studie des amerikanischen MilitllJjuristen 1. W. Houck, The Command and Control of United Nations Forces in the Era of "Peace Enforcement", Duke Journal ofComp. and Intern. Law 4 (1993), S. I fT. Zu der daraus resultierenden Lage in den serbisch kontrollierten Gebieten Kroatiens siehe a1s exemplarisches Dokument den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Tadeusz Mazowiecki yom November 1992, UN-Doc. N47/666 UN-Doc. S/24809, par. 77 fT; zu den spateren Friedenspliinen filr das Gebiet vgl. schlieBlich die bemerkenswert ausgewogene Darstellung von K. Obradovic, "Z-4 Plan: Contents and Achievements", Review ofInternational Affairs, Belgrad 1995, No. I 028- I 031, S. 6 fT., mit Abdruck des Friedensplans im Wortlaut ebda., S. 12 fT., sowie B. de Rossanet, War and Peace in the Former Yugoslavia (1997), S. 147fT. Zu Kapitel 30.3.: Zum diplomatischen Rahmen, den die europaischen Staaten der Suche nach einer Friedenslosung mit der Londoner Jugoslawien-Konferenz zu geben suchten, siehe B. de Rossanet, Peacemaking and Peacekeeping in Yugoslavia (1996), S. 5 fT., sowie B. G. Ramcharan (ed.), The International Conference on the Former Yugoslavia. Official Papers, 2 Bde. (1997). Zum Verlauf der innereuropiiischen Debatten urn die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vgl. M Rosenfeldt, a.a.O., S. 627 fT., sowie C. Giersch, a.a.O., S. 14 I fT., zur a1lgemeinen Veriinderung der Anerkennungspraxis zu Anfang der neunziger Jahre R. Rich, "Recognition of States: The Collapse of Yugoslavia and the Soviet Union", European Journal ofInternational Law 4 (1993), S. 36 fT., insbes. S. 42 fT., 55 fT., ferner S. Baer, a.a.O., S. 305 fT., 337 fT. Zur Schiedskommission der London-Konferenz, der sogen. Badinter-Kommission, vgl. M.C.R. Craven, "The European Community Arbitration Commission on Yugoslavia", British Yearbook of International Law 66 (1995), S. 333 fT.; die Gutachten der Badinter-Kommission sind abgedruckt in International Legal Materials 31 (1992), S. 1494 fT., femer in dem Dokumentenband von S. Trifunovska (ed.), Yugoslavia Through Documents. From its Creation to its Dissolution (1994), S. 415 fT., 474 fT., 634 fT., 1017 fT. Zur Problematik der Anwendung des uti possidetis-Prinzips auf den Fall Jugoslawiens vgl. S. Baer, a.a.O., S. 165 fT., 222 fT., zur Debatte urn Untergang oder Kontinuitat Jugoslawiens ebda., S. 86 fT. Zum Dilemma, das aus der europiiischen Anerkennungspolitik fur die bosnische Filhrung folgte, vgl. M. Glenny, Jugoslawien - Der Krieg, der nach Europa kam (1993), S.247 fT. sowie C. Guicherd, "The Hour of Europe: Lessons from the Yugoslav Conflict", The Fletcher Forum 1993, S. 159, 162 f Zur Umfinnierung der JVA in sogen. Streitkrafie der bosnischen Serben vgl. M. Glenny (Fn. 35), S. 299 fT. sowie 1. Gow, "The use of coercion in the Yugoslav crisis", The World Today Nov. 1992, S. 198, 200, zur Reaktion in den entsprechenden Erklarungen des Ausschusses Hoher Beamter der KSZE im April/Mai 1992 M. Weller, "The International Response to the Dissolution of the Socialist Federal Republic of Yugoslavia", American Journal ofInternational Law 86 (1992), S.569, 599 f. Zu Kapitel 30.4.: Zu den vielfach im sicherheitspolitischen Schrifttum gegen eine Politik der humanitiiren
Aktionen erhobenen Vorwilrfen des symbolischen Ersatzhandelns vgl. C. Guicherd, a.a.O., S. 170, B. de
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Rossanet, War and Peace in the Former Yugoslavia (1997), S. 99 if., sowie V- Y. Ghebali, a.a.O., S. 29. Das daraus fiir die UN-Einsiitze resultierende Dilemma hat der VN-Generalsekretiir von Anfang an gesehen, weshalb er zuniichst auch gegen die Entsendung von Friedenstruppen nach Bosnien auftrat - vgl. den Bericht des Generalsekretiirs v. 12. 5. 1992, UN-Doc. S123900; vgl. auch S. Jacobi, "UNPROFOR - Mission impossible", International Peacekeeping Feb.-May 1995, S. 37 ff. Zum in der Foige entwickelten Konzept des robust peacekeeping oder second generation peacekeeping, mit dem das Problem zu IOsen gesucht wurde, vgl. A. James, ,,Is there a second generation of peacekeeping?", International Peacekeeping Sept.-Nov. 1994, S. 110, 112 f; N. D. White,,,U.N. Peacekeeping-Development or Destruction?", InternalionalRelations 1994, S. 129, 149 ff.; B. de Rossanet, aa.O., S. 23 if.; vgl. ferner die treffenden BemerkungenvonL. Freedman, aaO., S. 62 if. und von P.C. Szasz, ,,Peacekeeping in Operation: A Conflict Study of Bosnia", Cornell International Law Journal 28 (1995), S. 685 if. Dass die traditionell aufgestellten Voraussetzungen filr den Einsatz von UNFriedenstruppen in Bosnien-Herzegowina nicht erfi111t waren, hat der UN-Generalsekretar von Anfang an betont - vgl. nur den Bericht des Generalsekretars v. 30. 5. 1995, UN-Doc. S/1995/444, par. 17; zu den Folgeproblemen filr die UNO vgl. R. Higgins, "The new United Nations and former Yugoslavia", International Affairs 69(1993), S. 465 ff., C. Giersch, a.aO., S. 235 ff. sowieM. Weller, ,,Peace-Keeping and Peace-Enforcement in the Republic of Bosnia and Herzegovina", Zeitschriftfor ausliindisches offentliches Recht und Volkerrecht 56 (1996), S. 70, 89 if. Aus den bosnischen Erfahrungen hat man in der Foige die Lehre gezogen, die Grenze zwischen den unterschiedlichen Formen der militarischen Friedensoperation miissten in Zukunft ganz k1ar gezogen werden- vgl. PUldoyer in diesem Sinne RK Betts, "The Delusion of Impartial Intervention", Foreign Affairs 73 (1994) No.6, S. 20,30 if., aber auch L. Freedman, a.aO., S. 56 f sowie M. Bothe, ,,Peacekeeping in review - the 1994 balance sheet", International Peacekeeping Dec. 1994 - Jan. 1995, S. 2, 3 f Vgl. schlieBlich zum traditionellen Peacekeeping das Standardwerk von A. James, Peacekeeping in international politics (1990), auBerdem die Anmerkungen des ehemaligen Under-Secretary-General for Peacekeeping Operations, M. Goulding, "The evolution of United Nations peacekeeping", International Affairs 69 (1993), S. 451,452 if., zur militiirtechnischen und -politischen Debatte iiber die Chancen und Risiken einer bewaffneten Intervention im ehemaligen Jugoslawien M.-J. Calic, aaO., S. 156 if. (m.w.N.), aberauchL. Freedman, aa.O., S. 60 if. Zu Kapitel 30.5.: Zum Jugoslawien-Straftribunal vgl. in deutscher Sprache insbes. H. Roggemann, Der Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen von 1993 und der Krieg auf dem Balkan (1994); vgl. femer die umfangreiche Monographie von C. Bassiouni und P. Manikas, The Law of the Criminal Tribunalfor the Former YugoslaVia (1996) sowie das zweibandige Handbuch von V Morris / M.P Scharf (eds.), An Insider s Guide to The International Criminal Tribunalfor the Former YugoslaVia (1995). Zur vorbereitenden Expertenkommission nach SC-Res. 780 yom 6. Oktober 1992 vgl. C. Bassiouni, "The United Nations Commission of Experts Established Pursuant to Security Council Resolution 780" (1992), American Journal of International Law 88 (1994), S. 784 if. Zum materiellen Strafrecht, auf das die Jurisdiktion des Straftribunals gestiitzt wird, vgl. H. Roggemann, a.aO., S. 53 if., sowie BassiounilManikas, a.a.O., S. 481 ff. Zu Kapitel 30.6.: Zur Nato als militiirischem Arm einer Friedenserzwingung in Bosnien-Herzegowina vgl. M. Weller, Peace-Keeping and Peace-Eriforcement, a.a.O., S. 113 if., 157 if., sowie D. A. Leurdijk, The United Nations and NATO in Former Yugoslavia, 1991-/996 (1996), S. 24 if., 37 if., 64 if., zur Vorgeschichte des Dayton-Abkommens Leurdijk, a.a.O., S. 87 if. Der Text des Dayton-Abkommens und seiner Anhiinge bzw. Nebenvertriige ist abgedruckt in: Office ofthe High Representative, Bosnia and Herzegovina - Essential Texts (19982), S. 16 ff., sowie in: International Legal Materials 35 (1996), S. 75 if.; zum Inhalt der Dayton-Vertriige vgl. D. A. Leurdijk, a.a.O., S. 95 if.; O. DOrr, Die Vereinbarungen von Dayton! Ohio. Eine volkerrechtIiche Einfilhrung, Archiv des Volkerrechts 35 (1997), S. 129 if.; P Gaeta, "The Dayton Agreements and International Law", European Journal ofInternational Law 7 (1996), S. 147 if.; E. M. Cousens, ,,Making Peace in Bosnia Work", Cornell International Law Journal 30 (1997), S. 789 if. Zur in Dayton vereinbarten Verfassung filr Bosnien-Herzegowina vgl. S. Yee, "The New Constitution of Bosnia and Herzegovina", European Journal ofInternational Law 7 (1996), S. 176 if., sowie G. Nystuen, "The Constitution of Bosnia and Herzegovina: State versus Entities", Revue des Affaires Europiennes 7 (1997), S. 394 if. Siehe femer zu den militarischen Komponenten des Dayton-Pakets M. Donner, "VOlkerrechtIiche und
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verfassungsrechtliche Aspekte der militllrischen Absicherung der Friedensvereinbarung von Dayton", Humanittires Volkerrecht-Informationsschriften 1997, S. 63 ff., Z\I den menschenrechtlichen Schutzmechanismen P.e. Szasz, "The Protection of Human Rights Through the Dayton/Paris Peace Agreement on Bosnia", American Journal ofInternational Law 90 (1996), S. 301 ff., zur Rolle der OSZE unter den Dayton-Vereinbarungen J.A. Goldston, "The Role of the OSCE in Bosnia: Lessons from the first Year", Helsinki Monitor 8 (1997) Heft 3, S. 6 ff., zur in Dayton vereinbarten EU-Verwaltung fur Mostar F. Pagani, ,,1'administration de Mostar par I'Union Europeenne", Annuaire Franfais de Droit International 42 (1996), S. 234 ff.
Zu Kapitel 30. 7.: Als grundlegende Darstellung der Geschichte des Kosovo vgl. N. Malcolm, Kosuvo (1998), ferner I. Rugova, La question du Kosovo (1994). Zu den diplomatischen BemOhungen um eine LOsung des Konfliktes vgl. A. Heraclides, "The Kosovo Contlict and its Resolution: In Pursuit of Ariadne's Thread", Security Dialogue 28 (1997), S. 317 ff., J. Reuter, ,,Die internationale Gemeinschaft und der Krieg in Kosovo", Siidosteuropa 47 (1998), S. 281 ff., S. Troebst, Conflict in Kosuvo: Failure or Prevention? (1998), R. Caplan, ,,International Diplomacy and the Crisis in Kosovo",Int'l Affairs 74 (1998), S. 745 ff., sowie M. Weller, "The Rambouillet Conference on Kosovo", Int'l. Affairs 75 (1999), S. 211 ff. Zur (hOchst urnstrittenen) volkerrechtlichen Bewertung der Nato-Luftschilige vgl. B. Simma, ,,Nato, the UN and the Use of Force: Legal Aspects", European Journal ofInternational Law 10 (1999), S. 1 ff., A. Cassese, "Ex iniuria ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community", European Journal ofInternational Law 10 (1999), S. 23 ff. sowie die Beitrage von K. Ipsen, V. Rittberger und C. Tomuschat zum Schwerpunkt ,,Der Kosovo-Kontlikt", Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 19 ff.
31. Die strategischen und militarischen Nachwirkungen des Friedensabkommens von Dayton Janusz Bugajski
Das Friedensabkommen von Dayton ging von der VoraussetZWlg der territorialen Integritiit Bosniens und der Herzegowina aus, iiberlieB aber die Verantwortung fUr die erneute Schaffung eines einheitlichen bosnischen Staates den drei Konfiiktparteien. Nun betrachtete die bosnische Regierung die Ubereinkunft als Garantie fUr die Reintegration abgefallener Gebiete, wlihrend serbische und kroatische Nationalisten das Abkommen als Sprungbrett fUr eine endgilltige Abspaltung sahen. Die drei Seiten erfiillten die militfuischen Komponenten des Dayton-Abkommens, indem sie der Schaffung einer Trennungszone zwischen der Bosniakisch-kroatischen FOderation und der bosnischen Serbenrepublik durch die Nato zustimmten. Auf der politischen und zivilen Ebene erwies sich die UmsetZWlg des Dayton-Abkommens freilich als schwierig. Serbische und kroatische Separatisten widersetzten sich den Versuchen, die durch Krieg, Vertreibung und Massenmord zerstOrten Gemeinschaften verschiedener Ethnien wieder zusammenzufiihren. Auch einige moslemische FUhrer unterstiitzten ZWlehmend die Idee eines ethnisch reinen Staates. Zahlreiche politische FUhrer waren durch die gewaltsame Trennung der Volksgruppen zu Amtern und Privilegien gelangt und straubten sich daher gegen die Schwlichung ihrer Macht, die mit der emeuten ethnischen Vennischung und der Demokratisierung drohte. Urn die strategischen und rnilitfuischen Auswirkungen des Dayton-Abkommens zu bewerten, muss man mehrere rniteinander verkniipfte Faktoren betrachten. Diese betreffen die sicherheitspolitische Lage und die militlirischen Potentiale der einzelnen Kriegsparteien, die politisch-militfuischen Beziehungen innerhalb der beiden bosnischen Gebietseinheiten sowie die Auswirkungen der Nato-Mission in Bosnien.
31.1. Sicherheitspolitische Lage und militiirische Potentiale 1m Mai 1997 unterzeichneten die Prasidenten der Republik, Alija Izetbegovic, und der Bosniakisch-Kroatischen FOderation, Kresimir Zubak, ein Abkommen, das die Militlirstrategie der FOderation als Abschreckung und Verteidigung definierte. Ein Angriff auf einen der FOderationspartner wiirde demnach als Angriff aufbeide bewertet. Das sicherheitspolitische und rnilitlirische Ziel der FOderation ist nach den Worten des Oberbefehlshabers Rasim DeliC die Schaffung einer ,,modemen, professionellen Kampftruppe, die die Nato-Standarddoktrin verwendet". Zu Beginn des Krieges von 1992 bis 1995 war die bosnisch-herzegowinische Annee (ARBiH) schlecht organisiert, kaum ausgeriistet und voller Schwachen in den Kommandostrukturen. 1m Verlaufe des Konfiiktes jedoch wandelte sie sich von einer Ansammlung von Polizisten und Freiwilligen zu einer ernst zu nehmenden Kampftruppe. Sie konnte auf das stlirkste
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Menschenpotential unter den drei Kriegsparteien und auf zahlreiche Rlistungsbetriebe zuriickgreifen. Man ist auf - mehr oder weniger zuverliissige - Schatzungen fiber die Waffenbestiinde der konkurrierenden Armeen angewiesen, da diese nicht vollstiindig offen gelegt wurden und jede Seite trotz des von der UN verhiingten Embargos Waffen in unbekannten Mengen eingefiihrt hat. In jedem Faile wurde fUr die Bosniaken der Zugang zu Waffen im Verlauf des Krieges zunehmend leichter. Seit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens loben Nato-Offiziere im fibrigen die Verbesserungen in Stab, Logistik und taktischen Fiihigkeiten der Bosnischen Armee. Obwohl kleiner, waren die Verbiinde des bosnisch-kroatischen HVO (Kroatischer Verteidigungsrat) wiihrend des Krieges besser ausgeriistet und organisiert aIs die der bosnischen Armee, au13erdem profitierten sie von der direkten Unterstiitzung Zagrebs und verfiigten in Kroatien fiber sichere Rfickzugsgebiete, die ihnen groBere Bewegungsfreiheit und leichtere Verlegung erlaubten. Seit den kroatischen Siegen in der ,,Krajina" und in Westbosnien im Jahre 1995 hat sich in der Region ein stabileres militiirisches Gleichgewicht eingesteIlt, besonders dort, wo man die verbiindeten Einheiten der Kroaten und der FOderation mit der vereinigten serbischen und jugoslawischen Streitmacht vergleicht. Die bosnisch-kroatischen Verbiinde nutzen weiterhin die von der Kroatischen Armee (HV) bereitgestellte Unterstiitzung bei Nachschub und Ausbildung sowie die internationaIe militiirische Aufbauhilfe fUr die bosniakisch-kroatische FOderation. (? Kap. 24)
Die Schaffimg einer vereinigten FOderationsannee hat sich wegen des Widerstandes separatistischer Kroaten und nationalistischer Bosniaken als entmutigende Aufgabe erwiesen. Zu Beginn des Jahres 1997 wurde schlieBlich ein gemeinsames Armeekommando gebildet, der Bosniake Rasim Delic zum Befehlshaber und der Kroate Zivko Budimir zum Stabschef emannt. Allerdings wurden derartige Ubereinkiinfte unter anhaItendem Druck der USA getroffen, und ein aufrichtiges Gefi.ihl der Verpflichtung gegenfiber dem Ziel eines vereinigten Staates bleibt schwach ausgepriigt. Die Aufstellung gemeinsamer Militiireinheiten erfordert Zeit, und dies ermoglicht es beiden Seiten auch, diesen Prozess zu hintertreiben. Obgleich sowohl aufhOchster Kommandoebene aIs auch innerhalb der Armee bereits ein gewisser Grad an Integration erzielt wurde, fehlt bislang eine einheitliche Kommandostruktur; auch bestehen Unstimmigkeiten fiber den Proporz zwischen kroatischen und moslemischen Soldaten. AIle unteren Ebenen der militiirischen Struktur bleiben ethnisch getrennt. Dariiber hinaus fehlen gemeinsame Stiitzpunkte und Standards in Bewaffnung, Ausbildung und Fernmeldewesen. Beobachter sind davon fiberzeugt, dass sich die Armee der Serbischen Republik (Republika Srpska, RS) seit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens in stiindigem Niedergang befindet. Wiihrend des Krieges bestand ihr Hauptvorteil in den umfangreichen Waffenbestiinden, in der QuaIitiit (Ausbildung und Kampferfahrung) der der Jugoslawischen Volksannee (NA) entstammenden Offiziere. Die Siiuberung des aus der Kriegszeit stammenden Offizierskorps, eine zunehmend veraItete und schlecht gewartete Ausriistung sowie spiirliche finanzielle Aufwendungen haben wiederholt ihre Kampfkraft geschwiicht. Obwohl man die Auswirkungen des Kosovokrieges noch nicht abschatzen kann, scheint das militiirische Ungleichgewicht in Bosnien immer noch zugunsten der Serben auszufaIlen, besonders wennjugoslawische Waffenbestiinde in der
31. Die strategischen und militarischen Nachwirkungen des Friedensabkommens von Dayton
50 I
Aufrechnung mit beri.icksichtigt werden. Die vereinigten Verbande der bosnischen Serben und der Jugoslawischen Annee (VJ) sind den Truppen der FOderation sechsfach iiberlegen; selbst wenn Einheiten aus Kroatien hinzugerechnet werden, bleibt noch eine zweifache Ubennacht gegeniiber der FOderation (vgl. Tabelle). Tab. 1: Geschiitzte regionale Waffenbestiinde
panzer
Artillerie-
gep.Kampffahrzeuge
geschiltze
Kampfflugzeuge
Angriffshubschrauber
1.360
1.000
6.800
615
k.A.
Kroatien
250
272
2.500
k. A.
k.A.
Bosniak.-Kroat.-FOd
175
115
830
4
10
Bosn. Serbenrep.
500
400
1.600
50
12
Serbien-Montenegro
QueUe: Military Balance. 1996-1997. Institute for Intemational Strategic Studies (11SS). England und Institute for European Defense and Strategic Studies. 1995. Die Angaben fiber die Bosniakisch-kroatische FOderation beziehen sich aufdie vereinigten Streitkriifte der Bosnischen Armee und des HVo.
Die jugoslawische Annee war bis Ende 1998 starkste regionale Militfumacht sowohl beziiglich ihrer GroBe als auch ihrer Feuerkraft. Sie hat das groBte Waffen1ager aller Streitkrafte des friiheren Jugoslawien und (ungeachtet wiederholter Sauberungen) auch einen GroBteil der fahigsten Offiziere iibernommen. Das erkllirte sicherheitspolitische Ziel des jugoslawischen Reststaates ist, die JA in eine professionelle, fortschrittliche und besser ausgeriistete Streitmacht zu transfonnieren, nach dem von Belgrad Anfang 1997 ausgearbeiteten Plan 'Modell 21'. Dennoch gibt es Konflikte mit der politischen Fiihrung, wlihrend Haushaltsmittel angesichts einer in den vergangenen Jahren rapide verfallenden Wirtschaft beschnitten wurden. Die kroatische Annee (HV) wurde in den vergangenen Jahren kontinuierlich aufgeriistet und konnte ihre operativen Flihigkeiten seit Beginn des Krieges von 1991 erheblich verbessem. Zagreb hat erhebliche Waffenbestiinde im Ausland angekauft und v.a. von amerikanischer Seite Kampfausbildung erhalten. Sie stellte ihre Schlagkraft wahrend der Operation "Oluja" (Stunn) 1995 unter Beweis, wenngleich ein Gutteil ihres militarischen Erfolges dem raschen Ruckzug der Serben und deren Aufgabe nicht zu haltender Gebiete zu verdanken war. Zagrebs Ziel ist die Schaffung einer kleinen, professionellen und hochmobilen Truppe, die fUr eine Teilnahme am Nato-Programm ,,Partnership for Peace" sowie fUr eine Bewerbung urn zukiinftige Mitgliedschaft in der Nato geeignet ist.
31.2. Politisch-militiirische Beziehungen Die Streitkrafte aller drei Staaten (Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Jugoslawien) bleiben in hohem MaBe politisierte Institutionen, die den Interessen der jeweils herrschenden nationalen Parteien dienen. Dies hat sowohl die Konsolidierung Bosnien-
502
Janusz Bugajski
Herzegowinas als einheitlichen Staat behindert als auch zu einem Andauem der Spannungen innerhalb und zwischen den beiden bosnischen Gebietseinheiten beigetragen. AufSeiten der Bosniaken ist die Politisierung der Streitkriifte trotz Dayton weiter fortgeschritten. Mehrere Armeeoffiziere bewarben sich urn Parlamentssitze wahrend der allgemeinen Wahlen im September 1996, wahrend die regierende SDA die hOchsten Range der Streitkrafte mit ihren eigenen Mitgliedem besetzte. Die bosnische Fiilirung schickte seit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens aIle hochrangigen serbischen und kroatischen Offiziere der bosnischen Armee in den Ruhestand, darunter die populliren Kriegsgenerale Jovan Divjak und Stjepan Siber. Dadurch verlor die bosnische Armee weitgehend ihren multinationalen Charakter. Die Fiilirung der SDA verbreitet zunehmend die Idee eines islamischen Staates und aufierte bereits mehrfach Unzufriedenheit fiber Versuche, Bosnien als Vielvolkerstaat zu restaurieren. Tatsachlich ist in den vergangenen Monaten eine anhaltende Kontroverse urn Behauptungen fiber Kriegsverbrechen moslemischer Soldaten an serbischen und kroatischen Zivilisten gefiihrt worden. Nach Ansicht des bosnischen Generals Sefer HaliloviC waren diese Verbrechen Bestandteil einer von der moslemischen Fiilirung verfolgten Politik der Schaffung eines ethnisch reinen bosniakischen Staates. Kritiker des Prasidenten Izetbegovic behaupten, dieser habe eine geheime Arbeitsgruppe eingesetzt, die untersuchen sollte, we1che Folgen eine ethnische Dreiteilung fUr die bosniakische Seite hatte. So1che Schritte haben ihrerseits die Gefahr zukiinftiger Gebietsanspriiche und militlirischer Konfrontationen heraufbeschworen. Die bosnisch-kroatischen Kampfverbande werden streng von der dominierenden kroatischen nationalen Partei HDZ (Kroatische Demokratische Vereinigung) kontrolliert, die tatsachlich ein Ableger der in Kroatien regierenden HDZ ist. Das offiziell aufgelOste separatistische Staatsgebilde ,,Herceg-Bosna" behie1t lange die meisten Merkmale staatlicher Souverlinitat, wie gesonderte Regierungsstruktur, Medien, Armee, Polizei, Wlihrung und Flagge bei. In diesem Zusammenhang unterstreichen die Schwierigkeiten, auf die man etwa bei der Wiedervereinigung Mostars stieB, die Probleme bei der Schaffung einer einheitlichen f6derativen Struktur. So waren EU-Administratoren wie Hans Koschnick und Martin Garrod aufierstande, einen funktionierenden multiethnischen Stadtrat zu schaffen, wahrend die Vertreibung von Anwohnem aus beiden Teilen der Stadt, besonders durch kroatische Nationalisten, fiber mehrere Jahre unvermindert anhielt. Nach zlihen Auseinandersetzungen kam es 1998 zu Fortschritten: Die gemeinsame Polizei begann in Mostar zu funktionieren, nach der Einfiihrung einheitlicher Autokennzeichen wurde auch die Bewegungsfreiheit merklich verbessert. Ende 1998 kam es zur Spaltung der HDZ. Der neue Mann an der Spitze, Ante Jelavic, gewann die Parlamentswahlen im Oktober, wahrend sich Kresimir Zubak mit seiner neugegriindeten Partei geschlagen geben musste. (7 Kap. 27) Noch immer verlauft die politische und soziale Integration der Bosniakisch-kroatischen FOderation schleppend, ein Umstand, der sich auch im militlirischen Bereich auswirkt. Intemationale Vermittler wie James Pardew, der das amerikanische Militlirhilfeprogramm iiberwachte, gaben ihrer Frustration fiber den schleppenden Integrationsprozess und periodisch auftretende extremistische Provokationen Ausdruck. Der HVO-General Zivko Budimir, der hochstrangige kroatische Kommandeur, hat sich bis-
31. Die strategischen und militarischen Nachwirkungen des Friedensabkommens von Dayton
503
lang mit der Umsetzung der BeschHisse zur Uberfiihrung seiner Einheiten in die Befehlsgewalt der F oderation Zeit gelassen Wld Wlterstand dem Kommando des kroatischen VerteidigWlgsministers Gojko SuSak, einem erkliirten Verfechter GroBkroatiens, bis zu dessen Tod. In Kroatien selbst hat das Militar einen weitreichenden SaubefWlgsprozess durchlaufen, bei dem hochrangige Offiziere der fiiiheren NA durch HDZ-Anhanger ersetzt wurden. Viele der in den Ruhestand Verbannten sind professionelle Militars, die Kroatiens erfolgreiche Kriegsoperationen leiteten. Beobachter glauben, dass die EntfemWlg dieser Offiziere aus Schliisselpositionen verheerende Folgen fUr AusbildWlg Wld Kampfkraft haben konnte Wld befUrchten, dass eine von Parteienwirtschaft Wld -ideologie gepragte Streitmacht sich auch fUr politische Zwecke missbrauchen lieBe. In der bosnischen Serbenrepublik (RS) sind die Konflikte zwischen politischen Wld militarischen Fiihrem seit dem Dayton-Abkommen eskaliert. 1m Zuge ihrer AnstrengWlgen, den Einfluss der Hardliner zu beschranken Wld die Loyalit1it des Militars zur politischen FiihrWlg zu festigen, stellte die Prasidentin der bosnischen Serbenrepublik, Biljana Plavsi6, den General Ratko Mladi6 Wld achtzig weitere ihm ergebene hochrangige Offiziere kalt. Neue Offiziere wurden wiederum primar nach politischen Kriterien in den Generalstab berufen. Kritiker hielten Plavsi6 vor, sie Wlterminiere die Professionalitat der Streitkrafte durch die EmennWlg von Kommandeuren mit geringer KampferfahrWlg, etwa durch die AuswechslWlg Mladi6s gegen den General Pero Coli6.Auch dieser musste im Februar 1998 gehen, nachdem er sich gegen eine RegiefWlgsurnbildWlg in der RS gestellt hatte. Sein Nachfolger, General Momir Tali6, bringt gegen ein vereinigtes Bosnien nicht minder Widerstande auf; seine EmennWlg wurde sowohl von der neuen RegiefWlg Wlter Milorad Dodik als auch von Milosevi6 Wlterstiitzt. Obwohl man den neuen Premierminister der Republika Srpska, Milorad Dodik, als moderaten Politiker dargestellt hat, der fUr einen integrierten bosnischen Staat eintrete, hat sieh seine Politik Wlter Sicherheitsaspekten als nicht minder separatistisch erwiesen als die der Clique urn seinen Vorganger Karadfi6. Dies zeigt u.a. die von ihm beschlossene EmennWlg von Manojlo Milovanovi6 zum VerteidigWlgsminister Wld von Milovan Stankovi6 zum Innenminister, beides Manner mit enger BindWlg an die jugoslawische Armee. Konflikte zwischen zivilen Wld militarischen Fiihrem, zwischen dem Militar Wld loyal zu Karadfi6 stehenden Spezialeinheiten der Polizei sowie schlieBlich innerhalb der politischen FiihrWlg der bosnischen Serben haben zu einem Sinken der Moral in der Armee beigetragen. Verschlimmert wird diese Situation noch durch die VerarmWlg von Soldaten Wld Kriegsveteranen, die in krassem Gegensatz zum prahlerisch zur Schau gestellten Reichtum korrupter Politiker Wld der Kriegsgewinnler rapide voranschreitet. Diese Faktoren machen neben der moralWltergrabenden AuswirkWlg der Nato-Intervention 1999 die bosnische Serbenrepublik fUr eventuelle kiinftige Off'ensiven verwundbarer, zumal sich die Einsatzfahigkeit Wld Kampftnoral der bosniakischen Einheiten verbessert hat. In Serbien konnte sich Milosevi6 nach MassensaubefWlgen von Offizieren der alten Jugoslawischen Volksarmee nur noch der Loyalitat einer diinnen Schicht von ihm ernannter hochrangiger Generale sieher sein, Wld auch das nur bedingt, wie es sich an der AuswechslWlg der gesamten Militarspitze Wlter General Miodrag Perisi6 Ende 1998
504
Janusz Bugajski
zeigte, der sich weigerte, die Streitkriifte im Kosovo einzusetzen. Dariiber hinaus brockelt die Stellung des Militars durch Haushaltskiirzungen und einen die Anneefiihrung konsequent urngehenden Mechanismus der Beschlussfassung. Urn sich die Unterstiitzung eines ihm ergebenen Militarkontingents zu sichern, schuf er eine Spezialpolizei mit einer geschiitzten Starke von 80.000 Mann, die auch motorisierte Einheiten mit schwerer Bewaffnung urnfasste. Diese wurden bei der Bekampfung der U~K 1998 im Kosovo eingesetzt, da man die Loyalitiit der VJ zur politischen FUhrung weiter anzweifelte. Mit dieser Spezialpolizei und der VJ unter dem hOrigen General Dragoljub Ojdanic fiihrte Milosevic den Krieg gegen die Kosovoalbaner und die U~K 1999.
31.3. Die Auswirkungen der Nato-Mission Das Dayton-Abkommen sah auch eine ,,regionale Stabilisierung" durch WaffenkontrollmaBnahmen vor, die durch die OSZE iiberwacht werden sollten. Die erkliirte Absicht war das Erreichen eines militiirischen Gleichgewichts auf einem moglichst niedrigen Niveau durch eine Beschriinkung der militarischen Ausriistung in Ubereinstimmung mit dem Abkommen iiber konventionelle Waffen (CFE) von 1990 (vgl. Tabelle). Die Ubereinkunft schrieb ein Verhiiltnis von 5:2:2 zwischen Jugoslawien, Kroatien und Bosnien fest; innerhalb Bosnien-Herzegowinas war ein Verhiiltnis von 2:1 zwischen der F Oderation und der Serbenrepublik vorgesehen. Bis Mitte 1997 blieb unklar, in we1chem MaBe die einzelnen Konfliktparteien diese Vorgaben erfiillten, zumal alle Seiten mit der Einfuhr und Produktion von Waffen fortfuhren, wiihrend ihre militiirischen Strukturen schwer durchschaubar blieben. Nur etwa 100 der 900 gemeldeten und von der Nato registrierten WaffenJager sind bis 1998 aufgelost worden. Die Serben versuchten die ihnen auferlegten Begrenzungen zu urngehen und Nato-Kommandeure vermuten, dass zahlreiche Waffenverstecke von ihnen gar nicht angegeben wurden. Auch bei den Streitkriiften der Bosniakisch-kroatischen FOderation kam es zu Verzogerungen beim vereinbartenAbbau der Waffenbestande, die im Wesentlichen aufStreitigkeiten urn die Aufteilung der Obergrenzen zwischen Bosniaken und Kroaten zuriickzufiihren sind. Tab. 2: Truppenbegrenzungen durch Abkommen fiber subregionale Waffenkontrolle
Serbien-Montenegro Kroatien Bosniak. -Kroat. -FOd. Bosn. Serbenrep.
panzer
gep.KampfFahrzeuge
Artilleriegeschiitze
KampfAngriffshubf1ugzeuge schrauber
1.025 410 273 137
850 340 227 113
3.750 1.500 1.000 500
155 62 41 21
53 21 14 7
QueUe: Military Balance, 1996-1997, Institutefor International Strategic Studies (IlSS), England, Institute for European Defense and Strategic Studies, 1995. Die Angaben iiber die Bosniakisch-kroatische FOderation beziehen sich aufdie Streitkriifte der Bosnischen Armee und des HVo.
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Das von den USA geleitete BewaffillUlgs- tmd Ausbildtmgsprogramm fUr die Armee der Bosniakisch-kroatischen Foderation sollte ein militarisches Gleichgewicht mit den Truppen der bosnischen Serben ermoglichen. Kritiker wenden allerdings ein, dass es vielmehr den Grundstock fUr weitere Konflikte legen konnte, indem es radikale Moslems zu Gebietserobertmgen nach dem Abzug der SFOR ermutige. Das 400 Millionen Dollar teure Hilfsprogramm sieht zwar schwere Waffen tmd Ausbildtmg fUr die Truppen der FOderation vor, doch erwies es sich fUr Washington schwierig, hierfUr intemationalen Beistand auBer dem einiger islamischer Staaten tmd der Tiirkei zu gewinnen. Ankara leistete daher mit Washingtons Billigtmg der Bosniakischkroatischen FOderation durch Ausbildung und Ausriistung sowohl fUr moslemische als auch kroatische Einheiten Hilfe. Einige bosniakische Kommandeure waren yom Bewaffnungs- und Ausbildungsprogramm enttauscht. Prasident Izetbegovic kritisierte, dass das Programm unvollkommen sei und die meisten gelieferten Waffen bis zur vollstiindigen Vereinigtmg der moslemischen und kroatischen Verbiinde in den Depots verblieben. Kritiker meinen, dass das Programm auffalschen Voraussetzungen beruhe, etwa der Vereinigtmg aller Truppen der FOderation, und auf der Annahme, dass die kroatischen Separatisten weder alleine noch gemeinsam mit Kroatien eine Gefahr fUr die bosnische Einheit seien; schliel3lich betrachte man die Armee der bosnischen Serbenrepublik als separate, nicht etwa als eine eng mit dem jugoslawischen Militar verbundene und von diesem bei Bewaffntmg und Logistik unterstiitzte Streitmacht. Selbst bei einer vollstiindigen Umsetzung der im Bewaffnungs- und Ausbildungsprogramm festgelegten US-Hilfe waren die moslemischen Streitkrafte nur unzureichend gegen eine gemeinsame Offensive der bosnischen Serben und der jugoslawischen Armee bzw. der HVO und Kroatiens gewappnet. Ein anderes dauerhaftes Problem in Nachkriegsbosnien sind die anniihemd sechs Millionen verbliebenen Landminen (vgl. Tabelle). In Bezug auf die Minenkonzentration pro Quadratkilometer ist es das am meisten gefahrdete Land der Welt, wahrend Kroatien an sechster Stelle rangiert. In beiden Liindem sind bislang Htmderte von Opfern registriert worden. Experten schatzen, dass fUr die Entfemung jeder einzelnen Mine mindestens 100 Dollar aufgewendet werden miissten. Von den Gesamtkosten ist bislang nur ein Bruchteil durch Spenden der intemationalen Staatengemeinschafi gedeckt worden. GroBe Teile beider Staaten werden fiber Jahre hinaus fUr Zivilisten gefahrlich bleiben. Tab. 3: Der Landminenfaktor Flilche inkm2
Anzahl der Einwohner
Einwohner Zurilckgel. Minen pro km2 Landminen pro km 2
Bosnien-Herzogowina 51.129
4.200.000
82,1
3-6 Mill.
58,6-117,4
Kroatien
4.760.000
84,2
2-3 Mill.
35,-53
56.538
QueUe: Ozren Zunec, Planet mina [Planet der Minen], Zagreb: Strata istraZivanja, 1997.
506
Janusz Bugajski
31.4. Schlussfolgerungen: Sicherheitsaussichten Nach der Verliingerung der militiirischen Nato-Prasenz iiber die urspriinglich angesetzte Frist von Sommer 1998 hinaus ist eine Aufrechterhaltung des Waffenstillstands trotz reduzierter Truppenstiirke der Allianz fUr eine absehbare Zukunft wahrscheinlich. Liingerfristige Stabilitat und staatliche Einheit allerdings hiingen von der Effizienz gemeinsamer multiethnischer Institutionen einschlieI31ich der dazugehOrigen Regierungs- und Sicherheitsorgane, von der Riickkehr zehntausender vertriebener Menschen in ihre Heimat und einer spiirbaren wirtschaftlichen Integration abo Zu Beginn des Jahres 1998 haben die westlichen Staaten den Hohen Reprasentanten fUr Bosnien-Herzegowina Carlos Westendorp mit einem erheblich weit reichenderen Mandat zur Schaffung der Substanz und der Symbole eines vereinten Staates ausgestattet. Tatsachlich befUrchten einige Beobachter, dass Bosnien-Herzegowina so zu einem Quasi-Protektorat der Nato werden konnte. (7 Kap. 27) Auf lange Sicht scheint wahrscheinlich, dass Bosnien-Herzegowina ohne eine von der intemationalen Staatengemeinschaft vorangetriebene, umfassende Entwicklung einer biirgerlichen und multiethnischen Demokratie auf die Befestigung ethnisch-politischer Teilungen sowohl auflokaler Ebene als auch bezogen auf ganze Gebietseinheiten zusteuert. Analytiker spekulieren bereits iiber die Notwendigkeit eines DaytonZwei-Abkommens, das die Entstehung von zwei oder drei autonomen und potentiell unabhiingigen Ministaaten anerkennen miisste. Wiihrend nationalistische Politiker und einige westliche Beobachter der Auffassung sind, dass eine so1che Teilung langfristig die wohl glaubwiirdigste Losung zur Konfliktverhiitung und Aufrechterhaltung des regionalen Gleichgewichts darstelle, konnte tatsachlich der gegenteilige Effekt eintreten. Die Legitimierung einer auf nationalistischem Autoritarismus beruhenden und durch "ethnische Sauberung" erreichten Teilung der Volksgruppen konnte zur Abspaltung serbisch bzw. kroatisch dominierter Gebiete und deren Aufgehen in einem GroBserbien bzw. -kroatien fiihren. Auf der Makroebene wiirde dies einen im Wesentlichen bosniakischen Rurnpfstaat zuriicklassen, der zwischen zwei groBere Nachbarn eingeklemmt und fUr radikale islamistische Einfliisse anfallig ware. Auf der Mikroebene wiirden ethnische Gemeinschaften untereinander unversohnt bleiben, wodurch ein unterschwelliges Gefiihl von Ungerechtigkeit, Ressentiments und Rache alle drei Gesellschaften durchziehen wiirde. In einem so1chen Falle wiirde die von der intemationalen Staatengemeinschaft sanktionierte Politik der Teilung die Saat fUr zukiinftige Konflikte urn Gebiete, Ressourcen, politische Kontrolle und militiirische Vormachtstellung saen.
Deutsch von Robert Hammel
Literatur 7 Kap. 24
32. Die wirtschaftliche Lage der Nachfolgestaaten Jugoslawiens vor dem Kosovokrieg Herbert Biischenfeld
Die kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien haben siimtliche Nachfolgestaaten wirtschaftlich zurUckgeworfen. Die okonomische Depression auBert sich u.a. in einer drastisch venninderten WertschOpfimg, vor allem bedingt durch den Absturz der industriellen Produktion, in einer sprunghaften Zunahme der Erwerbslosigkeit, erheblich verringerten Reallohnen und dernzufolge in einem deutlich gesunkenen Lebensstandard. Je nach Grad der Verwicklung in die Konfrontationsvorgange ist bei den einzelnen Jugoslawien-Nachfolgem das AusmaJ3 des Riickschlags allerdings verschieden. Divergierende politische Grundeinstellungen beeinflussen iiberdies in hohem MaJ3e ihr Rekonvaleszenzbemiihen. Insofem sind sie bei der Bewaltigung der anstehenden Schliisselprobleme, der makrookonomischen Stabilisierung und mikrookonomischen Restrukturierung, verschieden weit vorangekommen.
32.1. Siowenien Unter allen Nachfolgestaaten hat Slowenien den wirtschaftlichen Riickschlag am uberzeugendsten gemeistert, vor allem dank des ausgepragt vorhandenen marktorientierten Refonnwillens. Dabei fand es sich nach seiner staatlichen Verselbstandigung infolge des weitgehenden Verlustes seiner Beschaffungs- und Absatzraume in einer ausgesprochen schwierigen Situation. Zum einen sah es sich von seinen bisherigen billigen Rohmaterial-Bezugsquellen im Siidosten Ex-Jugoslawiens abgeschnitten, zumal seine Industrie mangels nennenswerter eigener Rohstoffe in betrachtlichem Umfang auf Fremdzufuhren angewiesen ist. Zum anderen stellte das Wegbrechen des jugoslawischen Binnenmarktes mit mehr als 20 Miillionen. Verbrauchem eine gravierende EinbuBe dar, da dort mehr als ein Viertel der slowenischen Erzeugnisse ohne besondere Marketingenergien, gleichsam miihelos vermarktet worden war. Zeitgleich kam iiberdies der Wegfall von etwa der Halfte seiner Exporte in osteuropaische Staaten hinzu, wei! der zuvor im Clearing- (Verrechnungs-) Verfahren abgewickelte Handel auf Hartwiihrungsbasis umgestellt wurde und osteuropaische Partner nun in der Regel westeuropaischen Produkten den Vorzug geben. Diese Ausfalle wiegen deshalb so schwer, wei! das slowenische Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahezu halbpart durch die Industrie erwirtschaftet wurde und deren Kapazitat die Aufuahmefahigkeit des heimischen Marktes mit gerade einmal 2 Millionen Konsumenten bei weitem iiberfordert. Insofem ist das Land unabdingbar auf breite exteme Vermarktungsmoglichkeiten angewiesen. Angesichts des geschrumpften Absatzfeldes musste es wahrend der eigenstaatlichen Anlaufphase eine betrachtliche Verringerung seines industriellen Outputs und mithin der WertschOpfimg
508
Herbert Biischenfeld
hinnehmen. Die Arbeitslosenrate kletterte auf tiber 15 %, lll1d dies in einem Land, in dem seit Menschengedenken nicht nur Vollbeschiiftignng geherrscht hatte, sondem man zudem in nicht lll1erheblichem Umfang auf "Gastarbeiter" aus den lll1terentwickelten Landesteilen Ex-Jugoslawiens angewiesen war. Grnndlage der Uberwindlll1g der anfanglichen Rezessionsphase bildet eine strikte monetiire Disziplin. Durch Abkoppllll1g vom Dinar-Raum lll1d Einfiihrung einer eigenen Wiihrung, des Tolar (SIT), durch Limitiernng der Geldmenge wie einen praktisch ausgeglichenen Staatshaushalt ist es gellll1gen, ein solides wirtschaftliches Flll1dament herzustellen. Die Inflationsrate, 1991 noch ll8 %, konnte auf 9, I % (1997) zurUckgeschraubt werden. Die okonomischen Indikatoren belegen, dass Slowenien die Talsohle seit der zweiten Jahreshalfte 1993 durchschritten hat. Seitdem sind positive Wachstumsraten zu verzeichnen (Tab. I). Das BIP iibertrifft inzwischen deutiich den Vorkriegsstand (Tab. 2 u. 3). Tab. 1: Wirtschaftswachstum 1991-1997 (in % gegeniiber dem Vorjahr) Jahr Wachstum
1991 -8,1
1992 -5,4
1993 +1,3
1994 +5,3
1995 +3,9
1996 +3,1
1997 +3,3
QueUe: European Bankfor Reconstruction and Development 1996, S.205; Banka Siovenije 211997, S.51f; bfai: Siowenien 511998, S.l
Tab. 2: Entwicklung des Bruttoiniandsprodukts 1991-1997 (in Mrd. USn) 1991 12,7
Jahr
BIP
1992 12,4
1993 12,7
1994 14,4
1995 18,7
1996 18,5
1997 18,0
QueUe: vwdv. 6.8.1996, S.2; Banka Siovenije: a.a.O.; Deutsche Bank Research 311997, S.40; bfai: a.a.O.; FAZ-ltiformationsdienste 811998, S.36
Tab. 3: Entwicklung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts 1991-1997 (in USn) Jahr
BIP pro Kopf
1991 6.331
1992 6.275
1993 6.368
1994 7.205
1995 9.348
1996 9.471
1997 9.431
QueUe: Statisticni letopis 1996, S.419; bfai: a.a.O.
Beim Zustandekommen des BIP zeichnet sich freilich eine bemerkenswerte Schwerpunktverlagernng ab: Die Bedeutnng des industriellen Sektors schwacht sich ab, die des Dienstieistnngssektors nimmt fortlaufend zu (TabA). Tab. 4: Anteile der Wirtschaftssektoren an der Wertschiipfung (in %) 1990 1997
Landwirtschaft
Bergbau u. Industrie
Dienstleistungen
5,1 4,5
41,2 32,1
53,7 60,2
QueUe: ZizmondiKracun 1995, S.470; FAZ-Informationsdienste 811998, S.6
Ursache des verminderten industriellen Gewichts stellen auBer der erwahnten EinbuBe hergebrachter Absatzregionen Restrukturiernngsmal3nahmen dar, deren Kemstiick die Privatisiernng "gesellschaftlichen Eigentums" bildet. "Gesellschaftlicher" Besitz, ein weltweit einmaliges jugosozialistisches Konstrukt, lll1terscheidet sich vom staatlichen Eigentum anderer sozialistischer Lander dadurch, dass es keinen definierten Titular
509
32. Wrrtschaft bis 1999
kennt. Als gleichsam herrenloses Gut gehiirt es gewissermaJ3en sich selbst, wobei die Verfiigungsgewalt iiber den eigentiimerlosen Besitz dem jeweiligen Arbeitskollektiv obliegt. Ein marktorientiertes Wirtschaftssystem setzt demgegenuber eindeutige Besitzverhaltnisse voraus, es erfordert zwingend die Umwandlung des anonymen gesellschaftlichen Eigentums in Besitztum mit explizitem Eigner, natiirlichen oder juristischen Personen. Slowenien befindet sich insofern in einer relativ giinstigen Situation, als vergleichsweise einfach privatisierbare Klein- und Mittelbetriebe vorherrschen, wiihrend GroBbetriebe eher Ausnahmefiille darstellen. AuBerdem sind diese in aller Regel zwischenzeitlich entflochten und in iiberschaubare Einheiten aufgegliedert worden. Obwohl das Privatisierungsgesetz bereits 1992 verabschiedet, 1993 allerdings nochmals modifiziert worden ist, verlief die Eigentumsurnwandlung der 1545 gesellschaftlichen Untemehmen, die 85 % aller Arbeitskrlifte beschliftigten, zunlichst schleppend. Sie hat sich erst 1995/96 intensiviert und ist 1998 abgeschlossen worden. 1m Vollzug hat sich gezeigt, dass in den meisten Flillen Belegschaftsmitglieder aufgrund von Vorzugsbedingungen die Firmenanteile erworben haben (Management-Employee-buy-out), ein Tatbestand, der sich insofem nachteilig auswirkt, als fiir die Umstrukturierung der Untemehmen unverzichtbares frisches Kapital kaurn zur Verfiigung steht. Infolgedessen sind bereits eine ganze Reihe von Konkursen zu verzeichnen. Ein weiteres Problem steIlt der Belegschaftsuberhang dar, da bis dato anstelle des Einsatzes modemer Technologien vorwiegend mit einem iiberhiihten Personalbestand produziert wird. Die Restrukturierung ist folglich mit der Freisetzung von Arbeitskrliften in betrlichtlicher Zahl verbunden. In Anbetracht dessen ist trotz der wirtschaftlichen Konsolidierung kaurn ein Riickgang der urn 14,5 % (1997) pendelnden Erwerbslosenquote zu erwarten. Auf diese Umstlinde ist zuriickzufiihren, dass die Industrieproduktion ihr ehemaliges Niveau noch nicht wieder erreicht hat; sie unterschreitet es derzeit urn rd. 16 % (1997). Zudem ist eine Abschwlichung des Erholungstrends zu beobachten (Tab. 5). Tab. 5: Reale Verinderung der Industrieproduktion 1991-1997 (in % zum Vorjahr) Jahr +/- %
1991 -12,4
1992 -13,2
1993 -2,8
1994 +6,4
1995 +2,0
1996 +1,0
1997 +1,3
QueUe: Banko Slovenije 211997, S.52; Osteuropa-1nstitut 1998, S.88
Demgegeniiber entwickelt der Dienstleistungssektor eine eindrucksvolle Dynamik. Seine Leistungskraft beruht nicht zuletzt darauf, dass er sich fast ausschlieBlich in privater Hand befindet; ausgenommen bleiben lediglich wichtige Infrastruktureinrichtungen (Bahn, Flughlifen, Post, Elektrlzitlits- und Wasserversorgung u.a.), die in Staatsbesitz iiberf'iihrt wurden. Nahezu die Hlilfte aller slowenischen Erwerbstlitigen sind mittlerweile in tertiliren Sparten beschliftigt. Krliftig expandieren insbesondere Einzelhandel, Transportwesen und Telekommunikation, die unterdessen westeuropliischem Standard nahe kommen. Der Tourismusbereich, der zunlichst einen steilen Aufwlirtstrend vorweisen konnte, scheint allerdings inzwischen an seine Wachstumsgrenzen zu stoBen. Wlihrend die aufgefiibrten Branchen vor allem von einem aufgestauten Nachholbe-
510
Herbert Biischenfeld
darf profitieren, machen modeme Servicezweige, beispielsweise Finanzdienstleistungen, vorerst nur langsame Fortschritte. Unbeschadet dessen hat der Dienstleistungssektor Hingst die Rolle des eigentlichen Wachstumstragers der slowenischen Wirtschaft ubemommen. Obwohl sich das Wirtschaftswachstum abschwacht (Tab. 1), muss demjllllgen Staatswesen attestiert werden, dass es die Re-Stabilisiefllllg seiner okonomischen Verfassllllg geschaffi hat. Nicht nur llllter den Jugoslawien-Nachfolgem, sondem llllter samtlichen postsozialistischen Reformlandem konnte es die groBten Fortschritte erzielen. In absehbarer Zeit dfufte es den LeistlUlgspegel schwacherer EU-Lander erreichen. Seinen Konsolidiefllllgsgrad llllterstreicht der Tatbestand, dass sogar die EU-Konvergenzkriterien erfiillt werden. Eine weitere Stiirkllllg der slowenischen Wirtschaftskraft wird wesentlich davon abhangen, inwieweit es gelingt, den Verlust traditioneller Absatzfelder durch den Gewinn zusatzlicher Marktanteile im konvertiblen WiihflUlgsbereich zu kompensieren. Hindernisse ergeben sich aus dem noch nicht konkurrenzfahigen Qualitatsstandard eines Teils slowenischer Erzeugnisse wie aus der engen Verflechtung des Warenaustausches der EU-Mitglieder lllltereinander. Dank der auch injugo-sozialistischer Zeit gepflegten Kontakte zum Westen ist es zwischenzeitlich gleichwohl gelllllgen, den Exportanteil in den EU-Raum von 58 % (1990) auf64 % (1997) zu steigem. Zusatzliche P!atziefllllgschancen dfuften aus dem mit der EU abgeschlossenen Assoziiefllllgsabkommen (1997) erwachsen. 32.2. Kroatien Die wirtschaftliche Lage Kroatiens stellt sich deutlich llllglinstiger dar. Direkt von Kriegshand!llllgen betroffen, sind 37% seines Wirtschaftspotentia!s vernichtet oder stark beschadigt worden, EinbuBen, die sich auf 23 Mrd. USD summieren. Uberdies hat der sich anschlieBende Schwebezustand zwischen Krieg lllld Frieden weitere immense Belastungen durch Militiirausgaben sowie die Versorgoog von zeitweise 700.000 Fliichtlingen lllld Vertriebenen verursacht. Folge der llll-/mittelbaren Verwicklllllg in die kriegerischen AuseinandersetZllllgen ist eine drastische Ruckentwicklllllg der kroatischen Wirtschaftskraft (Tab. 6 u. 7), hervorgerufen durch die weit reichende Verheefllllg Ostslawoniens, wo zuvor etwa ein Dritte! der Agrarproduktion erzeugt worden war, weiterhin durch die ZerstOfllllg eines Viertels der industriellen Kapazitat sowie den radika!en Einbruch beim Tourismus, dem wichtigsten Devisenbringer. Zur Uberwindllllg der kritischen Wirtschaftslage ist ein rigides Stabilitatsprogramm dekretiert worden (1011993), dessen erste Phase uberraschend erfolgreich umgesetzt werden konnte. Es beinhaltet eine auBerst restriktive Geld-, Fiskal- lllld Einkommenspolitik, durch die die bereits an die Grenze der Hyperinflation emporgeschnellte Preissteigefllllgsrate (9/1993 von 1833 %) auf3,9 % (1997) gedrUcktwerdenkonnte. Damit kann Kroatien die niedrigste Inflationsrate aller Transformationslander vorweisen.
511
32. Wirtschaft bis 1999
Tab. 6: Wirtschaftswachstum 1991-1997 (in % gegennber dem Vorjahr)
1991 -20,6
Jahr +/- %
1992 -9,7
1993 -3,7
1994 +0,8
1995 +1,7
1996 +4,2
1997 +6,5
Quelle: Statisticki ljetopis 1995, S.153; Deutsche Bank Research 3/1997, S.20; asteuropa-lnstitut 1998, S.95; FAZ-lnjormationsdienste 3/1998, S.29 Tab. 7: Entwicldung des Brnttoimandsprodukts 1990-1997 (in Mrd. USD)
1990 24,4
Jahr BIP
1991 16,8
1992 9,9
1993 11,7
1994 14,2
1995 18,1
1996 18,0
1997 18,6
Quelle: Driavni zavod za statistiku 8/1997, S.88; FAZ-Injormationsdienste a.a.o.; asteuropa-Instiutut a.a.a.
Kehrseite der einschneidenden Liquiditiitsverknappung ist die auf das Wirtschaftswachstum ausgeiibte Bremswirkung. Zwar konnte eine weitere Talfahrt gestoppt, doch vorerst keine durchgreifende Aufwlirtsentwicklung in die Wege geleitet werden. Das ProKopf-BIP unterschreitet das Vorkriegsniveau immer noch urn 16,4 % (1997; vgl. Tab. 8), der IndustrieausstoB beschriinkt sich auf 62 % seines ehemaligen Standes (Tab. 9). Lediglich beim Schiflbau liisst sich eine Erholung registrieren. Der Mascbinenbau bingegen, das andere einstige Paradepferd, ist kaurn noch konkurrenzfahig. Die aufgrund des niedrigen Vergiitungsniveaus bisher einigermaBen resistente passive Lohnveredlung im Textil-, Konfektions- und Lederwarenbereich verliert im Zuge allmiihlicher Lohnanhebung an Boden. Den geschwiichten Zustand der Industrie bezeugt ihre signifikant gesunkene Teilhabe an der Entstehung des Nationaleinkommens (Tab. 10). Tab. 8: EntwickluDg des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts 1990-1997 (in USD) Jahr BIP pro Kopf
1990 5.106
1991 3.510
1992 2.079
1993 2.440
1994 2.940
1995 3.873
1996 4.243
1997 4.267
QueUe: Driavni zavod za statistiku 8/1997, S.88; FAZ v. 27.11.1998 Tab. 9: Reale Verinderung der Industrieproduktion 1991-1997 (in % zum Vorjahr) Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 +/- % -28,5 -14,6 -6,1 -2,6 +0,2 +3,1 +6,8 Quelle: Statisticki ljetopis 1995, S.153; Deutsche Bank Research 3/1997, S.20; National Bank o/Croatia 2/1997, S.9; FAZ-lnjormationsdienste 3/1998, S.14 Tab. 10: Anteile der Wirtschaftssektoren an der Wertschiipfung 1990 und 1997 (%)
1990 1997
Landwirtschaft Bergbau und industrie 12,7 41,7 9,0 23,6
Dienstieistungen 45,6 67,4
QueUe: vwdv. 6.9.1995, asteuropa-lnstitut 1998,S.95
Auch der erhoffie kriiftige Aufschwung im Fremdenverkehr liisst auf sich warten. Die Zahl der Ubernachtungen liegt weit unterhalb der Hiilfte der endachtziger Jahre (1997). Ursache sind keineswegs ZerstOrungen touristischer Einrichtungen, sie halten sich in engen Grenzen, sondem in erster Linie die Sanierungsbediirftigkeit der Hotelanlagen sowie ein verzerrtes Preis-lLeistungsverhiiltnis.
Herbert Biischenfeld
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Das Retardieren der Wirtschaftsentwickhmg spiegelt die Arbeitsmarktsituation wider: Zwischen 1990 und 1998 hat sich die Arbeitslosenquote von 11,4 % auf registrierte 17,6 % erhOht, de facto diirfte sie allerdings deutlich dariiber liegen. Die Riickkehr von rd. 380.000 Armeeangehorigen ins Zivilleben hat iiberdies das Heer der Arbeitsuchenden betrachtlich vergroBert. Zuriickzufiihren ist die bislang zu vermissende Revitalisierung der Industrie auf ausbleibende Investitionen in erforderlichem Umfang, insbesondere auf ein recht verhaltenes Interesse ausliindischer Kapitalgeber, deren Direktinvestitionen kumuliert sich bislang auflediglich 1,8 Mrd. USD beschriinken (1998). Ein weiterer entscheidender Grund ist die halbherzige Reformpolitik, die sich in diskontinuierlichen Privatisierungsanlaufen auBert. Von insgesamt 2553 zur Besitzumwandlung anstehenden gesellschaftlichen Untemehmen sind vor allem Klein- und Mittelbetriebe in Privateigentum iiberfillrrt worden, und zwar vorwiegend in Form des Management-buy-out, mit dem naturgemiiB eine Zementierung iiberkommener Fiihrungsstrukturen verbunden ist. Bei den eine beherrschende Stellung einnehmenden, oft hochverschuldeten GroBbetrieben hingegen steht das unerlassliche Revirement aus. Dahinter steckt das Bestreben des Staates, maBgebenden Einfluss auf die Wirtschaft auszuiiben. Insofem sind nicht nur Einrichtungen des offentlichen Versorgungs- und Dienstleistungsbereichs, sondem iiberdies industrielle Kernstiicke in Staatseigentum iiberfillrrt worden. AuBerdem halten staatliche Fonds betrachtliche Anteile an teilprivatisierten Objekten. Insgesamt unterliegen derzeit rd. 40 % der Wirtschaft staatlicher Kontrolle (1997). Verbreitete Kritik hat in der Endphase der Eigentumstransformation (1998) zu einer Massenprivatisierung mittels Vouchers gefillrrt, deren Teilnehmerkreis sich auf Kriegsinvalide, Hinterbliebene, Fliichtlinge und Vertriebene beschriinkt. Die AuBenhandelssituation kennzeichnet ein zunehmendes Auseinanderklaffen von Aus- und Einfuhren. Lassen sich beim Export lediglich bescheidene Zuwachse konstatieren, so sind andererseits die Importe fOrmlich explodiert. Inzwischen erreicht die Deckungsrate gerade noch 45 %. Konnte das traditionell vorhandene Handelsbilanzdefizit in den Vorjahren meist durch Gastarbeitertransfers und Tourismuserlose kompensiert werden, so ist die Leistungsbilanz seit 1995 deutlich in den Negativbereich abgerutscht (Tab. 11). Tab.ll: AnBenhandel nnd Leistungsbilanz 1991-1997 (in Mio. USD) Export Import Handelsbilanz Leistungsbilanz
1991 3.292 3.828 -536 -589
1992 4.597 4.461 + 136 +329
1993 3.904 4.666 -762 +104
1994 4.260 5.229 -762 +103
1995 1996 1997 4.633 4.5\2 4.341 7.510 7.789 9.123 -2.877 -3.277 -4.782 -1.712 -1.129 -2.080
QueUe: Driavni zavod za statistiku 811997, S.61; bfai: Kroatien 511998, S.2
Aufgrund alles dessen befmdet sich die kroatische Wirtschaft in einer relativ ungefestigten Verfassung. Obwohl durch stabile makrookonomische Bedingungen an sich die Grundlage fUr einen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben ist, lasst auf mikrookonomischer Ebene eine durchgreifende Neubelebung auf sich warten.
32. Wirtschaft bis 1999
513
32.3. FOderative Republik Jugoslawien (FRJ)
Wenngleich ihr Territoriurn bis zum Kosovo-Krieg von Kampfhandlungen verschont war, blieb die FRJ - von Bosnien-Herzegowina abgesehen - unter allen Nachfolgestaaten durch das Konfliktgeschehen dennoch am hlirtesten betroffen. fure bereits in der Vorkriegszeit im Niedergang befindliche Wirtschaft wurde durch die konfrontationsbedingten zusiitzlichen Belastungen (Riistungsausgaben, Ressourcentransfer insbesondere in die Republika Srpska, Aufuahme von ca. 600.000 Fliichtlingen und vor allern die internationalen Sanktionen) derart geschlidigt, dass sie an den Rand des Ruins geraten ist. Die wirtschaftliche Leistung hat sich 1990-1997 kumuliert urn etwa 60 % verringert, das Bruttomaterialprodukt (BMP), der immer noch beibehaltene, in sozialistischen Liindern iibliche Berechnungsmodus der WertschOpfung - er erfasst ausschlieBlich die materielle Erzeugung und klantmert sog. unproduktive Dienstleistungen aus - ist urn ein Drittel zuriickgefallen (Tab. 13). Mit 1463 USD pro Kopf der Bevolkerung (1997) bewegt es sich auf dem Niveau von Entwicklungsliindern (Tab. 14). Tab. 12: Entwic:klung des Wirtsc:haftswac:hstums 1990-1997 (in % zurn Vorjahr)
Jahr +/- %
1990 -6,6
1991 -8,2
1992 -26,2
1993 -30,3
1994 +6,5
1995 +6,0
1996 +5,0
1997 +4,0
QueUe: Investmentbank Austria Research 11-1211996, S.22; Osteuropa-Institut 1998, S.109 Tab. 13: Entwic:klung des Bruttomaterialprodukts 1990-1997 (in Mrd. USD) Jahr
BMP
1990 26,6
1991 24,7
1992 18,1
1993 13,3
1994 14,6
1995 15,9
1996 17,2
1997 17,5
QueUe: InvestmentbankAustria Research: a.a.O.; Osteuropa-Institut: a.a.o. Tab. 14: Entwic:klung des Pro-Kopf-Bruttomaterialprodukts 1990-1997 (in USD)
1990 BMP pro Kopf 2.530
Jahr
1991 2.370
1992 1.740
1993 1.270
1994 1.390
1995 1.510
1996 1.590
1997 1.600
QueUe: Federal Statistical Office 1995; Osteuropa-Institut: a.a.o.
Die okonomische Leistungsschwiiche ist in erster Linie der Industrie zuzurechnen, deren Kapazitiit lediglich zu etwa zwei Fiinf'teln ausgelastet ist. fur Produktionsergebnis unterschreitet den Vorkriegsstand urn 53 % (1997; vgl. Tab. 15). Tab. 15: Reale Verinderung der Industrieprod. 1990--1997 (in % zurn Vorjahr)
Jahr +/- %
1990 -12,9
1991 -15,9
1992 -21,4
1993 -37,3
1994 +1,3
1995 +3,8
1996 +6,5
1997 +6,0
QueUe: InvestmentbankAustria Research: a.a.O.; Osteuropa-lnstitut: a.a.O., S.104
Infolge dieser Schwiiche hat der industrielle Sektor seine einst dominierende Position bei der Erwirtschaftung des BMP eingebiiBt (Tab. 16).
Herbert Buschenfeld
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Tab. 16: Anteile der Wirtschaftssektoren an der Wertschiipfung 1990/1996 (in %) 1990 1996
Landwirtschaft 15,4 26,3
8ergbau und Industrie 46,6 29,4
Dienstleistungen 38,1 32,3
QueUe: Federal Statistical Office 1995; bfai: Bundesrepublik Jugoslawien 711997, S.2
Kardinaler Grund fUr die desolate Befindlichkeit der Industrie sind ungeloste Strukturprobleme. Absolut vorherrschend sind ineffizient wirtschaftende Mammutuntemehmen mit Monopolcharakter, deren Uberleben nur mittels permanenter Subventionierung durch die offentliche Hand gewahrleistet werden kann. Trotz ihrer Unwirtschaftlichkeit bleiben erwahnenswerte Privatisierungsinitiativen aus. Stattdessen sind die vormals gesellschaftlichen GroBbetriebe durchweg in Staatsbesitz uberfiihrt worden, eine MaBnahme, der lediglich formaler Belang beizumessen ist; substantielle Anderungen sind damit nicht verbunden. Ihr Ausbleiben beruht aufmassiven ideologischen WidersHinden gegenjegliche Liberalisierungstendenzen. Die sozialistische Oligarchie ist bestrebt, weiterhin die Kontrolle uber die Wirtschaft auszuuben. Hinzu kommt, dass die Sanierung der maroden, technologisch uberalterten Staatsbetriebe Investitionen enormen Umfangs erfordem wfude, die das verarmte Land selbst nicht aufbringen kann. Der Bankensektor, durch uneinbringbare Kreditvergaben ausgezehrt, ist nahezu illiquide. Die AuBenverschuldung der FRJ erreicht geschlitzte 11,5 Mrd. USD, nicht eingerechnet der Altschuldenanteil aus jugosozialistischer Zeit. Diesem Schuldenberg stehen Devisenreserven von kiirglichen 250 Millionen. USD gegenuber. Intemationale Verbindlichkeiten werden seit Jahren nicht mehr bedient. Eine Verstandigung mit der Weltbank und dem Internationalen Wlihrungsfonds, die den Weg zu Auslandskrediten offnen wfude, wird durch die dogmatisch-reaktioniire Haltung des Regimes konterkariert, so dass die sog. "liuBeren Sanktionen" weiterhin aufrecht erhalten bleiben und mithin kaum intemationale Finanzhilfen zu erwarten sein diirften. Den tristen Zustand der Wirtschaft spiegelt die Situation auf dem Arbeitsmarkt wider: Die Arbeitslosenrate hat sich von 19,7 % (1990) auf - offiziell- 30,0 % (1997) erhOht. Diese Quote beriicksichtigt jedoch nicht ca. 700.000 nur pro forma in einem Arbeitsverhliltnis stehende Zwangsurlauber, so dass tatslichlich annlihemd die Hlilfte aller erwerbsfahigen Serben zur Untlitigkeit verurteilt ist, sich allenfalls episodisch mit Gelegenheitsjobs befasst. Als ihr Hauptbetlitigungsfeld hat die Schattenwirtschaft zu gel ten, in die Schlitzungen zufolge etwa eine Million Jugoslawen involviert sind. Den kryptookonomischen Aktivitliten ist zuzuschreiben, dass wahrend der Sanktionen das Wirtschaftsleben nicht vollig zusammengebrochen ist. Trotz der Suspendierung des Embargos hat sich ihr AusmaB aber nur moderat, von 50 % auf etwa 40 % des legalen BMP verringert. Unbeschadet der dem Fiskus entgehenden Steuereinnahmen werden die Untergrundmachenschaften behordlicherseits toleriert, weil sie ansonsten Unbeschliftigte binden. MaBgebende Grundlage fUr das beispiellose Expandieren der schattenwirtschaftlichen Sphlire bildet die wahrend der Abschottung des Landes exponentiell ansteigende, in einem 15-stelligen Wert kulminierende Hyperinflation, hauptslichlich hervorgerufen durch fortschreitende Finanzierung der Staatsausgaben durch primlire Geldschopfung.
32. Wirtschaft bis 1999
515
Zwar hat sich der Preisauftrieb seit einem erstmals aussichtsreichen Stabilisierungsversuch (111994) abgeschwacht, angesichts mehrfachen Wechsels zwischen sehr restriktiven und gelockerten monetaren Strategien unterliegt er jedoch erheblichen Schwankungen innerhalb des zweistelligen Bereiches (1996 = 95 %; 1997 = 18,5 %). Eine zur Stiitzung der Wahrung nach langem Zogem 1998 erfolgte Abwertung des Dinar diirfte die Inflationsdynamik emeut beleben. 1m groBen Ganzen haben sich die an die Suspendierung des Embargos geknupften Hoffuungen nur marginal erfiillt. Die bescheidenen Zuwachse beim BMP (Tab. 13 und 14) und im industriellen Produktionsbereich (Tab. 15) mussen angesichts des auBerst niedrigen Ausgangsniveaus eher als mehr oder minder andauemdes Stagnieren, denn als Wachstumsindizien interpretiert werden. Symptomatisch fUr die okonomische Leistungsschwache ist, dass trotz Stornierung des internationalen Boykotts die Exporte kaurn nennenswert zugenommen haben und sich vorwiegend aufnicht- oder geringverede1te Giiter, vomehmlich Agrarprodukte und Rohmaterialien, beschriinken. Es ist offenkundig, dass durch den Wegfall der Handelsschranken allein keine wirksame wirtschaftliche Wiederbelebung initiiert werden kann. Sie diirfte ein Wunschtraurn bleiben, solange keine fundamentale Anderung der tradierten ideologischen Grundhaltung zugunsten liberaler Prinzipien erfolgt. 1m Gegensatz zur serbischen Teilrepublik herrscht in der urn mehr wirtschaftliche Selbstandigkeit bemUhten kleinen Teilrepublik Montenegro (Bevolkerungsanteil = 6 %) ein deutlich reformfreudigeres Klima. Insofem ist denn auch die Privatisierung weit fortgeschritten. Von 310 zur Eigentumstransformation anstehenden gesellschaftlichen Untemehmen sind - partiell mittels der Coupon-Methode - seit In-Kraft-Treten des einschlagigen Gesetzes (10/1997) bereits etwa die Hiilfte, freilich vorwiegend kleinere Betriebe in Privatbesitz uberfiihrt worden.
32.4. Makedonien Von Anbeginn seines staatlichen Eigenlebens (1991) zeichnet sich Makedonien durch betonte Reformbereitschaft aus. Ruckwirkungen des jugoslawischen Konfliktgeschehens indessen haben die Umsetzung seiner wirtschaftlichen Umorientierungsabsichten jahrelang behindert. Denn kaurn verselbstandigt, sah sich das okonomisch zurUckgebliebene Land einer nahezu vollstandigen auBenwirtschaftlichen Isolierung iiberantwortet. Das gegen die FRJ verhangte Embargo einerseits, eine durch Ablehnung der Staatsbezeichnung "Makedonien" hervorgerufene Wirtschaftsblockade vonseiten Griechenlands andererseits haben den im Zuge des Vardar-Tals N-S-verlaufenden Hauptverkehrskorridor des Landes beidseitig abgeriegelt. Ausweichmoglichkeiten bestanden kaurn, da in W-O-Richtung keinerlei Bahn- und nur unzulanglich ausgebaute StraBenverbindungen existieren. Insofem waren jegliche Austauschbeziehungen mit Serbien, dem seit jeher wichtigsten Handelspartner, damber hinaus aIle Transitmoglichkeiten nach Kroatien, Slowenien und den EU-Landem ebenso unterbunden wie auch der unentbehrliche Zugang zum Freihafen Thessaloniki.
Herbert Buschenfeld
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Die Abschniirung ihrer Lebensadem hat die makedonische Wirtschaft mehr illld mehr stranguliert. Bis 1995 ist ein fortgesetztes Absinken der Wirtschaftsleistilllg zu verzeichnen (Tab. 17). Das Bruttoinlandsprodukt reduzierte sich urn ein Drittel (Tab. 18), die Industrieproduktion hat sich fast halbiert (vgl. Tab. 20). Die Zahl der Beschaftigten verminderte sich urn rd. ein Viertel, die Arbeitslosenquote, nach offiziellen Angaben 32 % (1997), diirfte sich tatsachlich zwischen 40 illld 50 % bewegen. Tab. 17: Wirtschaftswachstum 1991-1997 (in % gegeniiber dem Vorjahr) Jahr +/- %
1991 -12,1
1992 -21,1
1993 -8,4
1994 -4,0
1995 -3,0
1996 +1,6
1997 +3,0
QueUe: European Bankfor Reconstruction and Development 1997, S.244; Osteuropa1nstitut 1998, S.1l6
Tab. 18: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 1991-1997 (in Mrd. USD) Jahr
BIP
1991 2,3
1992 1,9
1993 1,6
1994 1,5
1995 1,5
1996 1,5
1997 3,8
QueUe: vwd v. 14.6.1996; Osteuropa-1nstitut: a.a.o.
Tab. 19: Entwicklung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts 1991-1997 (in USD) Jahr
BIPproKopf
1991 1992 1.141911
1993 776
1994 715
1995 714
1996
1997
725
QueUe: vwd v. 14.6.1996; Osteuropa-1nstitul 1997, S.106
Tab. 20: Reale Veriinderung d. Industrieprod.1991-1997 (in % gegeniiber Vorjahr) Jahr
+/- %
1991 -17,2
1992 -15,8
1993 -15,0
1994 -10,6
1995 -10,7
1996 +3,2
1997 +3,8
QueUe: FAZ-lriformationsdienste: Osteuropa-Perspektiven 1998, S.135; bfai: Mazedonien 511997, S.19; European Bankfor Reconstruction and Development 1996, S.32
Dass die makedonische Volkswirtschaft nicht vollig kollabierte, beruht vor allem auf in seinem Umfang kaurn zu iiberschatzenden Schmuggel illld einer weit verzweigten Schattenwirtschaft, deren Umfang auf 40-50 % der gesamten Wirtschaftstatigkeit veranschlagt wird. Erst die nach fast zeitgleicher Aufhebilllg der griechischen Grenzsperre illld SuspendieflUlg der Sanktionen gegen die FRJ Ende 1995 erfolgte Freigabe der Kommunikationsstrlinge konnte eine Trendwende herbeifiihren. Dank Durchhaltens einer konsequenten Austeritatspolitik ist es gelilllgen, eine stabile makrookonomische GrlUldlage fur die Regeneration der stark geschwachten Wirtschaft zu schaffen. Der Wechselkurs der LandeswlihrlIDg, des Denar, illlterliegt mittlerweile kaurn noch Schwankilllgen, die Infiationsrate (1992 - fast 1800 %) illlterschreitet illlterdessen 5 % (1997), der Staatshaushalt kann als saniert gelten. Auf mikrookonomischer Ebene sind entsprechend eines gemeinsam mit dem Intemationalen WlihrlUlgsfonds illld der Weltbank erarbeiteten Konzepts RestrukturieflUlgsmaBnahmen eingeleitet worden. Wesentlichstes Auftaktvorhaben stellt die Privatisiefilllg der 1.216 gesellschaftlichen Untemehmen dar, darlUlter 113 GroBbetriebe. Mit Bedacht ist auf eine MassenprivatisieflUlg verzichtet worden. 1m Interesse effizienter
517
32. Wirtschaft bis 1999
Untemelunensfiihnmg wurde stattdessen die Ubereignung an einen Mehrheitsgesellschafter (core-investor) angestrebt. 1m Vollzug bat sich jedoch gezeigt, dass in der Mehrzahl der Hille eine Insider-Privatisierung zugunsten von Managementgruppierungen der betreffenden Firmen, also ein eher nomineller Eigentiimerwechsel stattgefunden bat. Angesichts dessen iiberrascht es nicht, dass die Restrukturierung der betreffenden Betriebe sich meist nur scbleppend vollzieht. Um der Etablierung iiberlebensfiibiger Wirtschaftssubjekte willen sind vorab 25 der grofiten defizitaren Werke entflochten bzw. stillgelegt worden, Firmen, die fUr vier Fiinf'tel aller Verluste im industriellen Bereich verantwortlich sind. Ausfluss dieser rigorosen MaBnalune ist eine spfubare De-Industrialisierung des ohnehin agrardominierten Landes, die zu einer merklichen Anteilsschrumpfung des sekundaren Sektors an der WertschOpfung gefiibrt hat (Tab. 21). Tab. 21: Anteile der Wirtschaftssektoren an der Wertschiipfung 1990/1996 (in %) 1990 1996
Landwirtschaft 15,1 10,0
Bergbau und Industrie 51,7 32,0
Dienstleistungen 33,2 58,0
QueUe: Statistical Yearbook of the Republic ofMacedonia 1995, S.256f; Agency of the Republic of Macedonia for Transformation of Enterprises with Social Capital 1996, S.74; Osteuropa-1nstitut 1998, S.116
Mitte 1998 batten bereits 83 % aller gesellschaftlichen Industriebetriebe mit knapp 200.000 Beschliftigten neue Eigentiimer gefimden. Die Eigentumsmodifikation im Agrarsektor hingegen hat bis dato nur geringe Fortschritte gemacht. Man rechnet damit, dass sie sich bis zum Jahre 2002 hinziehen wird. Trotz der erzielten Konsolidierungs- und Privatisierungserfolge triigt die makedonische Wirtschaft schwer an den Nachwirkungen der langfristigen auBenwirtschaftlichen Abschottung. Insofem zeigen sich vorerst nur verhaltene okonomische Fortschritte. Ein selbsttragender Aufschwung diirfte noch lange auf sich warten lassen. 32.5. Bosnien-Herzegowina
Die beinahe vier Jahre wiihrenden Auseinandersetzungen haben die ohnehin unterentwickelte Wirtschaftskraft des Landes dezimiert. Der materielle Gesamtschaden wird von der bosnischen Regierung auf 45 Mrd. USD, seitens der Weltbank auf 15-20 Mrd. USD beziffert. Okonomisch relevant sind die umfassenden Zerstorungen im Produktionsmittelbereich sowie weit reichende Sachschiiden an der technischen Infrastruktur, namentlich auf dem Verkehrs-, Telekommunikations- und Energiesektor. Die industrielle Erzeugung ist nahezu total geliilunt. 45 % aller Fabrikationsanlagen sind vollstiindig demoliert, die iibrigen grofitenteils demontiert oder ausgepliindert worden. Das Produktionsniveau von Bergbau und Industrie, die vor dem Aufilammen der Kampfe den Lowenanteil (51,6 %) der WertschOpfimg bestritten, hat sich auf weniger als ein Zehntel der Vorkriegsleistung vermindert (Tab. 22 u. 23).
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Tab. 22: Indices der Industrieproduktion 1990-1997 Jahr
lndexzahl
1990 \00
1991 75,5
1992 33,2
1993 7,2
1994 7.2
1995 8,9
1996 9,0
1997 13,0
QueUe: Osteuropa-Institut 1998, S. 102
Tab. 23: Produktionsriickgang bei ausgewiihlten Erzeugnissen 1991-1995 (in %) Elektroenergie Braunkohle Bawdt Tonerde Salz
·74,2 -85,2 -98,2 -98,8 -98,8
Holzprodukte Maschinen Fahrzeugmotoren Textilien Schuhwaren
-60,3 -94,7 -86,7 -94,9 -84,4
QueUe: err. n. Zavod za statistiku 1996, S.18ff
1m Transportwesen bedarf das 8.600 Strecken-km umfassende Magistral- und RegionalstraBennetz zu mehr als einem Drittel der Instandsetzung. Neuralgische Punkte sind neben blockierten StraBenabschnitten 58 zerstorte oder fUr Fahrzeuge unpassierbare Briicken, darunter aIle (9) nach Kroatien f'iihrenden Save- und Una-Briicken. Nur in AusnahmefalIen dienen Pontoniiberglinge als Notbehelf. Analoge Probleme erwachsen aus der Sprengung von 14 wichtigen Tunneln. Das sich auf 1030 Gleis-km erstrekkende, ehedem zu drei Vierteln elektrifizierte Eisenbahnnetz kannjeweils nur aufkurzen Abschnitten benutzt werden. Zusammenaddiert sind lediglich 30 % des Gesamtbestandes betriebsfahig. 1m Telekommunikationsbereich, der vor dem Krieg eine Telefondichte von 174 Anschliissenll000 Einwohner vorwies, waren die Hiilfte der Fernleitungen unterbrochen, und zwar etwa 30 % aller inllindischen und 90 % alIer internationalen Verbindungen. Im Hinblick auf die Energieversorgung verfiigt Bosnien-Herzegowina an sich iiber ein reiches Potential an Braunkohlevorkommen und Wasserkraften. 12 Thermo- und 13 Hydrokraftwerke mit zusammengenommen rd. 4.000 MW installierter Leistung deckten vor Konfliktbeginn nicht nur den Strombedarf der damaligen Teilrepublik, sondem waren dariiber hinaus in der Lage, betrachtliche Dberschiisse in das intrajugoslawische Verbundsystem einzuspeisen. Kriegseinwirkungen habenjedoch 49 % der vormaligen Kraftwerkskapazitat zerstOrt. Ein weiterer Teil bleibt hauptsachlich wegen unterbrochener Transmissionsmoglichkeiten ungenutzt, da das F ernleitungssystem wie auch das Distributivnetz groBenteils zusammengebrochen sind. Nur knapp 40 % der friiher erzeugten Energie konnen Abnehmem zugeleitet werden. Neben Dbertragungsproblemen sind aber auch unzureichende Braunkohlezufuhren fUr Stromdefizite verantwortlich. Obwohl die Forderung der einschlagigen Grubenje zur Halfte aus minderwertigen Ligniten und hochwertiger Pechkohle besteht, war stets der bei weitem iiberwiegende Teil verstromt worden. Da die maschinelIe Ausriistung insbesondere der vier die Masse der Ausbeute bestreitenden GroBtagebaue derart in Mitleidenschaft gezogen ist, dass sie kaum noch einsatzfahig ist, hat sich das Abbauvolumen auf weniger als ein Zehntel des friiheren Aufkommens reduziert. Schadensumfang im Produktionsmittelbereich und Zerriittung des Infrastrukturgefiiges haben das BIP drastisch schrumpfen lassen (Tab. 24). Die Pro-Kopf-Quote reduzierte sich von 2.398 (1990) auf 1.212 USD (1997).
519
32. Wirtschaft bis 1999
Tab. 24: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 1991-1997 (in Mrd. USD) Jahr BIP
1991 8,2
1992 1,1
1993 1,0
1994 2,1
1995 2,2
1996 3,1
1997 4,1
Quellen: Zavod za statistiku 1996, S.13; Osteuropa-lnstitut 1998, S.102
Spiegelbild der grofienteils brachliegenden Wirtschaft ist eine extrem hohe Arbeitslosigkeit (Tab. 25). Tab. 25: Beschiftigungslage 1991 und 1997 im Vergleich (in 1000)
1991
1997
Veriinderung in %
Beschaftigte davon FOderation Republika Srpska
976 631 345
488 338 150
-50 -46 -57
Industriebeschaftigte davon FOderation Republika Srpska
426 283 143
127
-56
registrierte Arbeitslose davon FOderation Republika Srpska
308 208 250
458
+149
QueUe: Zavodza statistiku 1996, S.10f; 1998, S.38 u. 79; Osteuropa-Institut 1998, S.99; Reuter 3-411998, S.102 (z.T. err.)
Zwischen den beiden Landesteilen (Entitaten) von Bosnien-Herzegowina bestehen allerdings erhebliche Unterschiede im Hinblick auf ihre okonomischen Rahmenbedingungen, den Grad der HeimsuchWlg Wld Regenerationsansatze. Die Republika Srpska (ca. 1,1 Mio. Einw.) ist dank zumindest partiell giinstigerer naturraumlicher Bedingungen vorherrschend agrarorientiert. Von nennenswerter auBerlandwirtschaftlicher BedeutWlg sind lediglich die Eisenerzlagerstatten von Ljubija Wld der inselhafte Industriepol Banja Luka. Mehr als zwei Drittel der erwerbsfahigen Bevolkerung sind ohne Arbeit. Indizien okonomischer BelebWlg sind allenfalls sporadisch auszumachen. Die jiihrliche Pro-Kopf-WirtschaftsleistWlg wird auf 300-350 USD bezitIert (1996). In der bosnisch-kroatischen FOderation (ca. 2,2 Mio. Einw.) spielt die Landwirtschaft angesichts des weithin gebirgigen, verbreitet verkarsteten Landschaftscharakters nur eine Wltergeordnete Rolle; sie dient in der Regel Subsistenzzwecken. Hingegen findet sich hier die Masse der Bodenschatze (Eisen- Wld BWltmetallerze, insbesondere Bauxit) wie auch der Energietrager. In den wenigen Gunstraumen, dem Zentralbosnischen Becken Wld dem Gravitationsbereich von Tuzla, konzentriert sich die Mehrzahl der IndustrieWlternehmen, deren Spektrum von der Schwarzmetallurgie fiber Investitionsbis hin zu Konsumgiitersparten reicht. Obwohl das FOderationsgebiet, namentlich ehemalige Kampfzonen in Zentralbosnien, in erster Linie von VerheerWlgen betrotIen ist, lassen sich gleichwohl erste zaghafte Anzeichen wirtschaftlicher Rehabilitation registrieren. 1997 konnte ein Wachstum von 37 % erzielt werden, eine Quote, die freilich Wlter Beriicksichtigung des minimalen Ausgangsniveaus zu sehen ist. Immerhin solI das jiihrliche Pro-Kopf-Wirtschaftsautkommen bereits 1.800 USD erreichen (1997). Obwohl die landesinternen okonomischen Disparitaten ein Erganzungsverhiiltnis an-
Herbert Biischenfeld
520
gezeigt sein lassen, schotten sich beide Entitiiten hennetisch gegeneinander abo Dariiber hinaus fiihrt aber auch innerhalb der FOderation die de jure aufgeloste, de facto jedoch weiterhin existierende parastaatliche ,,Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna" ein weit reichendes okonomisches Eigenleben, so dass Bosnien-Herzegowina praktisch in drei mehr oder minder voneinander getrennte Wirtschaftsriiume aufgespalten ist. Intemationale Untersrutzungsprogramme richteten sich zuniichst fast ausschliel3lich auf die Gewiihrleistung physischen Uberlebens. Da die Grundversorgung der BevOlkerung liingst nicht sichergestellt war, standen humanitiire Hilfsleistungen ganz im Vordergrund. Etwa 70 % der Menschen waren zumindest partiell aufkaritativen Beistand angewiesen, zumal u.a. wegen der Venninung weiter AgrarfHichen kaum die Halfte des Nahrungsbedarfs im Lande selbst erzeugt werden kann. Unterdessen hat sich das Schwergewicht der MaBnahmen auf die Wiederherstellung einer fimktionsfahigen Infrastruktur und die Ankurbelung der Wirtschaft verlagert. Fiir eine vierjiibrige Startphase hat die Weltbank einen Gesamtbedarfvon 5,1 Mrd. USD errechnet, von dem auf die FOderation 3,7 Mrd., auf die Republika Srpska 1,4 Mrd. entfallen (Tab. 26). Erkliirte Absicht ist, mittels der Hilfsprogramme bis zur Jahrtausendwende das BIP auf etwa zwei Drittel seines Vorkriegsstandes zu steigem. Tab. 26: Sektorale Anteile am intern. Wiederaufbauprogramm 1996-1999 (in %) Verkehrswesen Telekommunikation Energieversorgung Sonstige InfrastrukturmaBnahmen Landwirtschaft Industrie Wohnungsbau und SozialmaBnahmen Minenrilumung
13,7 11,1 17,6 23,5 6,5 7,9 15,9 3,9
QueUe: zusammengeJasst n. bJai: Liinderkurzportriit Bosnien-Herzegowina 411996, S.6
Mitte 1998 stellt sich die Regeneration wie folgt dar: Sichtbare Fortschritte zeichnen sich bei der Wiederherstellung des InfrastrukturgefUges abo Am weitesten vorangekommen ist die Instandsetzung des Femmeldewesens. 1m Energiebereich dauem die ReparaturmaBnahmen bei einzelnen Thenno- und insbesondere Hydrokraftwerken sowie FernIeitungen zwar noch an, gleichwohl ist die Elektrizitatsversorgung generell gewahrleistet. Auch die Ausbesserung des StraBennetzes verlauft, soweit es DurchgangsstraBen angeht, relativ zufriedenstellend. Wichtige Bracken sind bis auf die SaveUbergiinge emeuert worden. Weniger iiberzeugend vollzieht sich die Rekonstruktion der Schienenwege. Sofem sie iiberhaupt benutzbar sind, sind sie notdiirftig in einen Zustand versetzt worden, der allenfalls den Verkehr mit Diesellokomotiven und reduzierten Geschwindigkeiten erlaubt. Die lebenswichtigste Transportader des Landes, die das Dinarische Gebirge auf ganzer Liinge querende, den Kernraum Bosniens, das Zentralbosnische Becken (Becken von Sarajevo-Zenica) mit dem Savetiefland einerseits, mit der Adria andererseits verkniipfende Verbindung, ist lediglich zur Halfte offen. Ihr durch das Bosna-Tal fiihrender Nordast ist nicht fimktionsfahig, wahrend der
32. Wirtschaft bis 1999
521
dem Neretva-Tal folgende Verbindungstrakt zum Meer bereits 1996 provisorisch wieder in Betrieb genommen werden konnte. Er hat an Bedeutung gewonnen, seit Kroatien im Herbst 1998 der FOderation die Benutzung seines Hafens Ploce einschlieBlich der darauf bezogenen Infrastruktur gestattet hat. Sind sornit, was die Herrichtung der Infrastruktur betrifft, im GroBen und Ganzen immerhin vorzeigbare Ergebnisse zu registrieren, so bietet die Wiederaufuahme der Produktion ein eher enttauschendes Bild. Bislang hat gerade einmal etwa ein Drittel der Betriebe die Arbeit wieder aufgenommen. Das Produktionsniveau der FOderation wird auf 18 % ihres Vorkriegsstandes beziffert. Dabei entfallen 31 % auf die Erzeugung von Elektrizitat, 13 % auf den Bergbau, und zwar fast ausschlieBlich auf die Braunkohleforderung, und 56 % auf Verarbeitungssparten, primiir auf die Herstellung von Nahrungsrnitteln sowie von Bekleidung und Textilien (1997). Noch weit ungiinstiger ist die Situation in der Republika Srpska. Obwohl das serbisch verwaltete Territorium durch Kriegseinwirkungen vergleichsweise weniger tangiert ist, arbeiten die dortigen Fabriken aufgrund von Rohstoff-, Energie- und Ersatzteilmangel, wenn iiberhaupt, nur mit Unterbrechungen. Das Retardieren des Produktionssektors beruht nicht zuletzt auf Koordinationsproblemen, fehlender Kooperationsbereitschaft und biirokratischen Hemmnissen. So konnten denn auch u.a. die von der Geberseite fUr Wiederaufbauzwecke bereitgestellten Tranchen nur zum Teil abgerufen und umgesetzt werden. In Anbetracht alles dessen erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die fUr das Jahr 2000 anvisierte Zielvorstellung auch nur anniihemd verwirklicht werden kann.
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33. Opfer der Kriege 1991-1999
33.1. Uberlegungen zur Ermittlung der Verlustziffern George Kenney
Die meisten Toten des Jugoslawien-Krieges gab es in Bosnien-Herzegowina. Schiitzungen von ,,mindestens 250.000" Toten (so Reuters 1995) sind weit verbreitet. Wohl auch aus Angst vor dem Vorwurf, einen Volkermord zu leugnen, werden solche Schiitzungen nur zogerlich einer kritischen Priifung unterzogen. Erstaunlicherweise machten die westlichen Regierungen und die internationalen Organisationen keine Angaben fiber die Opferzahlen. Dabei ist es wichtig, die Toten moglichst genau zu ermitteln. Die vielen Grausamkeiten werden nicht selten auf das Rachebediirfnis zurUckgefiihrt, das die Totungen im Zweiten Weltkriegs ausgelost haben, deren Zahl in Jugoslawien lange nur verfalscht vorgelegen hat (~ Kap. 11). Daher sollte Klarheit geschaffen werden, wenn kein neuer Teufelskreis gegenseitiger Anschuldigungen, gestiitzt auf Irrtiimer, seinen Anfang nehmen solI. Das Stockholmer International Peace Research Institute (SIPRI) schiitzte 1996 auf der Grundlage offen zugiinglicher Quellen, dass 25-55.000 Soldaten bis zum Kriegsende in Bosnien gefallen seien. Ziviltote wurden nicht berechnet, auch nicht die Gefallenen serbisch-kroatischer Kiimpfe in Bosnien-Herzegowina. FUr eine Mindestschiitzung aller Toten muss man zur SIPRI-Zahl die etwa 20.000 toten Zivilisten addieren, ebenso die offiziell als verschwunden Geme1deten, etwa 30.000 (vor allem Muslime, wobei anzunehmen ist, dass sie umgebracht wurden). Die so erhaltenen Zahl 75.000 fallt mit einer internen Mindestschiitzung des IRKR zusammen. Nimmt man die Obergrenze des SIPRI, erhiilt man insgesamt mit Zivilisten und Vermissten eine Schiitzung von 105.000. Diese Zahl scheint durch die bisher entdeckten Massengriiber nicht gedeckt zu sein. Auch ist unkiar, wie viele der Vermissten sich anderswo angesiedelt haben, ohne in Statistiken aufzutauchen. Daher kann man die Opferzahl fiir BosnienHerzegowina bis zu einer systematischen und nachvollziehbaren offiziellen Ziihlung bei 75-95.000 ansetzen. Kaum moglich sind Aussagen bezogen auf die einzelnen Kriegsparteien. Unter den Muslimen gab es die absolut groBten Verluste, doch konnte der Anteil der Getoteten bei allen drei Ethnien iihnlich liegen (l, 7-2,2 %). In den meisten Kriegen liegt das Verhiiltnis von Toten und Verwundeten bei 5--6: 1. Dies wurde auch in Sarajevo belegt, wo es zu 60.000 Verwundeten und 10.000 Toten kam. Bei 250.000 Kriegstoten in Bosnien-Herzegowina hiitten fast anderthalb Millionen verwundet werden miissen. Die 250.000 konnen also nicht Gefallene aus Kampfhandlungen, sondern miissten groBteils Opfer systematischer Totungen sein. Hier gibt es viele Ungewissheiten. Selbst im Falle Srebrenicas ist unkiar, wie viele Bosniaken wirklich in der Schutzzone waren, wie viele Umgekommene den Feuerge-
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33. Opfer der Kriege 1991-1999
fechten vor der Erobenmg zum Opfer fielen (geschiitzt wurden 4.000). Es gibt keinen Hinweis tiber den Verbleib von 7.079 Miinnem, davon 2.935 nach der Erobenmg in serbischem Gewahrsam. So bleibt der Verdacht wohlbegriindet, dass die Gefangenen kaltbliitig abgeschlachtet wurden, aber gerichtliche Ermittlungen unter Einsatz kostspieliger DNS-Analysen fiihrten bisher nW" zum Nachweis weniger Leichen ehemaliger Einwohner Srebrenicas unter den Uberresten von Hunderten anderen. Trotzdem ist klar, dass Srebrenica der Ort des schlimmsten Massakers des Krieges in Bosnien-Herzegowina ist, zugleich deutet es daraufhin, dass ein solches Verbrechen sich nicht ohne Kenntnisnahme der AuJ3enwelt ereignen konnte. In Kroatien war in der Friihphase der Kiimpfe 1991 die Diskussion tiber Opfer und Verluste stark emotionalisiert. Danach legten unabhangige Beobachter wie kroatische Regienmgsvertreter ihre Zahlen bis Ende 1991 in realistischen GroBen vor. Nach SIPRI-Angaben waren bis Ende 1995 insgesamt 6-10.000 gefallene Kroaten und Serben zu verzeichnen (dies schlieBt Verluste bei der Rtickerobenmg 1995 ein). Bis zum August 1993 dokumentierte die kroatische Regienmg 4.386 umgekommene Soldaten und 2.265 Zivilisten und legte ausfiihrliche Indizien fUr weitere 7.000-7.500 Tote unter 12.000 Vermissten vor. Belgrader Regienmgsstellen priisentierten eine unbelegte Schatzung von 3.200 umgekommenen Zivilisten unter den kroatischen Serben bis Anfang 1995. Die meisten Schiitzungen fiber die Mindestzahl diirften das wirkliche AusmaB einschlieBen, eine Obergrenze festzulegen ist schwieriger, wei! man Vermutungen darfiber anstellen muss, wie viele der Vermissten tatsachlich tot sind. Eine einigermaBen zutreffende Ziffer diirfte fUr alle Verluste in Kroatien bei 14-18.000 liegen, wie auch das eher zuriickhaltende IKRK schiitzt. Deutsch von Matthias Vetter
33.2. Syoopse zu Opfern, Schad eo uod Fliichtlingen Matthias Vetter und Dunja MelCii:
33.2.1. OjJizielle Angaben und Berechnungen zu Opfern und Schaden
Sloweoieo: Auf Anfrage erklarte die slowenische Botschaft in Bonn am 23.12.1998, es seien im Krieg 1991 aufslowenischer Seite 19 Tote und 182 Verletzte registriert wurden, davon 4 tote und 28 verletzte Angehorige des slowenischen Innenministeriurns. Die Jugoslawische Volksarmee (NA) gab 44 Gefallene und 184 Verletzte auf ihrer Seite an, laut dem slowenischen Innenministerium waren es 45 Tote und 146 Verletzte aufSeiten der NA. Mindestens 3.157 AngehOrige der NA wurden als Kriegsgefangene gezlihlt, 139 AngehOrige der Bundespolizeieinheiten und 10 Zollbeamte der Bundeszollverwaltung. Ungefahr 6.000 Angehorige der NA sind desertiert, davon 3.090 ZlU" slowenischen Territorialverteidigung, ungefahr 2.800 sind nach Hause oder ins Ausland geflohen. Nach einer slowenischen Regienmgsschiitzung belaufen sich die
33.2. Synopse zu Opfem, Sch!lden und Fliichtlingen
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Kriegsschiiden aufinsgesamt 2,714 Milliarden US-Dollar, wobei den groBten Schaden der Tourismus mit 800 Millionen Dollar hatte. Der Verlust am Bruttosozialprodukt wird mit 1,2 Milliarden Dollar angegeben. Kroatien: Die kroatische Regierung (Information der kroatischen Botschaft in Bonn yom 9. Juli 1999) bezifferte am 30. Oktober 1995 die durch den Krieg zu Schaden gekommenen Personen mit 9.212 Toten, davon 67% Soldaten (6.129) und 33% Zivilisten (3.083) und 28.359 Verwundeten, davon 68% Soldaten und 32% Zivilisten sowie 2.858 Verschollene, davon 34% Soldaten, 62% Zivilisten und 4% Unbekannte. Zu diesem Zeitpunkt kamen 6.706 Personen aus der Gefangenschaft zuriick. Die materiellen Verluste der Republik Kroatien liegen laut einer Darstellung durch Tudman im Zeitraum von 1991 bis 1995 bei ca. 27 Milliarden US-Dollar, rund 25 Prozent der Wirtschaftskapazitat und neun Prozent des Wohnungsbestandes (ca. 145.000 Wohnungen) seien vernichtet oder beschiidigt. Bosnien-Herzegowina: Nach Angaben der bosnisch-herzegowinischen Botschaft in Bonn (vom 18. November 1998), gestiitzt auf des Statistische Amt der FOderation von Bosnien und Herzegowina betragen die Verluste 242.330 Tote, 36.470 Vermisste, 175.286 Verletzte, darunter 34.718 Kinder, 76.286 schwer Verletzte, darunter 18.483 Kinder, und 12.708 Behinderte, davon 1.918 Kinder. Der materielle Schaden wird auf 100 Milliarden US-Dollar geschiitzt. Gestiitzt auf offizielle bosnisch-herzegowinische Angaben versuchte der kroatische Bevolkerungswissenschaftler Vladimir Zerjavic die Opfer mit statistischen Methoden zu ermitteln. Anfang 1998lebten in Bosnien-Herzegowina 3.237.000 Menschen, 74,3 % der VorkriegsbevOlkerung von 1991 (4.355.000). Zerjavic errechnete, dass ohne Krieg die Zahl bei gegebenem BevOlkerungswachstum 4.827.000 betragen hiitte. Unter Beriicksichtigung der Fliichtlingszahlen ermittelte er, dass 160.000 Bosniaken getotet worden seien, davon 158.000 von Serben und 2.000 von Kroaten. Es seien femer 30.000 bosnische Kroaten getotet worden, davon 28.000 von Serben und 2.000 von Bosniaken. Von den 25.000 umgekommenen bosnischen Serben seienje die Halfte von Bosniaken und Kroaten getOtet worden. Zusammen mit 5.000 AngehOrigen iibriger Nationalitaten (davon 3.000 "Jugoslawen") seien insgesamt 220.000 Tote zu verzeichnen. Den Einwanden Kenneys (siehe oben) begegnet Zerjavic mit dem Verweis auf eine langere Kampfdauer als bei Kenney unterstellt und auf die groBe Zahl von Opfem serbischer Massenmord in eroberten Stlidten und in Konzentrationslagem. Den Opferzahlen sind 210 UN-Blauhelmsoldaten hinzuzufiigen sowie etwa 50 Joumalisten. FR Jugoslawien und Kosovo: Bei den K1impfen 1998 wurden tiber 100 getOtete serbische PolizeiangehOrige und etwa 40 Soldaten der Armee geschiitzt. Dazu kamen Verluste in Hohe von 1.500 Menschen auf albanischer Seite und eine unbekannte Zahl von serbischen Zivilisten. 1998 sollen zwischen 20.000 und 45.000 Hauser im Kosovo zerstOrt worden sein. Die N ato-Intervention Mlirz bis Juni 1999 mit 35.129 Lufteinsatzen fiihrte nach westlichen Schatzungen zu etwa 5.000 Todesopfem in Jugosiawien. Nach jugosiawischen
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33. Opfer der Kriege 1991-1999
Angaben kamen hingegen 462 Soldaten, 114 Polizisten und etwa 2.000 Zivilisten lUllS Leben. Fliichtlingsberichten und Massengrabfunden der KFOR zufolge miissen Hunderte, wenn nicht Tausende Albaner nach dem Beginn der Nato-Intervention getOtet worden sein. Uber die durch irrtiimliche Bombardierung der Nato (sog. collateral damage) und moglicherweise als ,,menschliche Schutzschilde" Umgekommenen gibt es noch keine unabhangigen Daten. Mindestens 10 Mitarbeiter des staatlichen Femsehens (RTS) in Belgrad sind bei der Bombardierung des Senders durch die Nato getOtet worden, drei Mitarbeiter der chinesischen Botschaft in Belgrad starben bei einem Nato-Bombenangriff, drei Nato-Soldaten bei Unfallen auBerhalb von Kampfhandlungen. Nach Angaben der Belgrader Zeitung Nedeljni telegrajbetrug der Schaden 120 Milliarden US-Dollar. Uber 200 Fabriken und Kraftwerke, 50 Krankenhauser, 190 Schulen, 50 Briicken und fiinf zivile Flughafen seien zerstOrt. Untersuchungen der Universitat der Bundeswehr zufolge tragt Jugoslawien durch ZerstOrungen und Militarausgaben zwei Drittel der gesamten Kriegskosten von 40 Milliarden DM, davon an zivilen Schaden durch Nato-Bomben 12 Milliarden DM.
33.2.2. Zu den Schiiden an historischen Monumenten Neben den enormen materiellen Kriegsschiiden fiel die offensichtlich gezielte und systematische ZerstOrung von Kulturgiitem, Kunstschiitzen, MonlUllenten und sakralen Objekten so sehr auf, dass dafiir der Begriff ,,Memorizid" gepragt wurde (Mirko Grmek). Nach offiziellen Daten von 1992 sind in Kroatien 725 bedeutende Architekturmonumente zerstort worden, davon 437 Kirchen, 42 KlOster, 202 Schlosser und Villen, sowie Festungen, FriedhOfe usf. Dariiberhinaus wurde die ZerstOrung von 323 historischen Siedlungen, Denkmalem und archaologischen Fundstellen und Denkmalem registriert. (A Concise Atlas o/the Republic o/Croatia & o/the Republic o/Bosnia and Hercegovina, Zagreb 1993). Der Zagreber Kunsthistoriker Radovan Ivancevic mahnte, nicht nur zu beachten, wie viele Kulturdenkmaler vernichtet wurden, sondem auch zu erkennen, was dadurch verloren gegangen ist. Sein Befund, dass ,,zahlreiche Monumente des kroatischen Kulturerbes vernichtet wurden, ehe Europa und die Welt von ihnen hOrten" oder gar, "dass sie erst bekannt geworden sind, seitdem es sie nicht mehr gibt", gilt auch fUr Bosnien-Herzegowina und das Kosovo. (Radovan IvanceviC, Die Kunstschiitze Kroatiens, Motovun 1993). Laut einem Bericht des Instituts fUr Denkmalpflege in Sarajevo von 1995 wurden insgesamt 1.239 Gebetshiiuser im Krieg vernichtet und zerstOrt, davon 1.024 islamische, 182 katholische, 28 serbisch-orthodoxe und 5 jiidische. (Rade Vukosav, Mitglied des Serbischen Biirgerrats in Bosnien-Herzegowina, in: Helsimka povelja, 12. Nov. 1998, Bulletin des Menschenrechtsausschusses in Serbien) Die ZerstOrungen im Kosovo sind noch nieht ermittelt worden, dennoeh lasst sich zumindest sagen, dass es in vielen der verniehteten albanisehen Dorfer Wohnanlagen gab, die bis zu 500 Jahre alt waren, und dass aueh diese ZerstOrungen ein Fall des ,,Memorizids" sind.
33.2. Synopse zu Opfern, Schaden und Fliichtlingen
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33.2.3. Fliichtlinge und Vertriebene ,,Fliichtlinge" sind nach UNHCR-Tenninologie (,,Refugees") nur Personen, die in ein anderes Land fliehen, im Gegensatz zu den Binnenf1uchtlingen (,,Internally Displaced Persons"). Zusiitzlich ist beim Umgang mit Fluchtlingsstatistiken zu beriicksichtigen, dass bisweilen Fliichtlinge insgesamt erfasst werden, bisweilen aber nur solche ohne dauerhafte Losungen ("still seeking durable solutions").
Siowenien: 1m Gegensatz zu den nachfolgenden Kriegen hatte der Feldzug der NA 1991 in Slowenien keine ethno-nationalistische Zielsetzung. Obwohl3.000 Fliichtlinge aus Slowenien in der FR Jugoslawien registriert sind (November 1998), wurde Slowenien in erster Linie zum Aufhahmeland von Fliichtlingen. Ende 1996 wurden 8.300 Fliichtlinge aus Bosnien-Herzegowina geziihlt, Ende 1998 waren es 3.500, davon 3.300 aus der Republika Srpska. Neben diesen Fliichtlingen, die auf eine dauerhafte Losung warten, gab es (im Juli 1997) 26.000 bosnische Fliichtlinge mit einer dauerhaften Existenz in Slowenien. Kroatien: In den Gebieten Kroatiens, die erhebliche serbische Bevolkerungsteile hatten und in denen sich die so genannte ,,Krajina" proklamierte, kam es ab Sommer 1991 zu massiven Vertreibungen der kroatischen Bevolkerung. Eine betriichtliche Zahl von kroatischen Serben verlieB in dieser Zeit kroatische Stadte in Richtung Knin und anderer Gegenden unter serbischer Kontrolle. 1m Oktober 1993 waren aus den Gebieten unter der Kontrolle der aufstandischen Serben 247.000 Kroaten vertrieben. Zur Gesamtzahl der Fliichtlinge, die sich in Kroatien aufhielten, miissen die aus BosnienHerzegowina geziihlt werden, woraus sich ein Maximum von Fliichtlingen und Vertriebenen in Kroatien zum Ende 1992 mit 663.493 ergibt. Von 129.721 Menschen, die 1991-1992 aus den 1991 wiedereingegliederten Gebieten Kroatiens vertrieben wurden, kehrten 110.000 bis 1997 in ihre Heimatorte zuriick. Ende 1997 gab es noch 140.883 Fliichtlinge oder Vertriebene in Kroatien, 79.719 davon aus Ostslawonien. Noch 1998 waren nur 8 Prozent der urspriinglichen Bevolkerung nach Vukovar zuriickgekehrt. Als geschiitzte Zahl fi.ir die Zahl der serbischen Fliichtlinge 1995 bei der kroatischen Riickeroberung der serbisch besetzten Gebiete wird yom UNHCR 180.000 angegeben. Von diesen sollen 60.000 sich zunachst in Ostslawonien angesiedelt haben. Mehr als 100.000 Serben miissen auBerhalb des Riickeroberungsfeldzuges Kroatien verlassen haben oder vertrieben worden sein (die Statistiken geben iiber die Migrationsursache meistens keine Auskunft). Denn 1996 wurden insgesamt 297.100 (serbische) Fliichtlinge aus Kroatien in der FR Jugoslawien geziihlt, ein Jahr spater war die Zahl fast gleich, im Jahr daraufstieg sie aufiiber 300.000 an, denn etwa 50.000 kroatische Serben sollen Ostslawonien verlassen haben, darunter 40.000 noch vor dem Ende des UNTABS-Mandats Anfang 1998. Schon vor der damit vollzogenen Reintegration des Gebiets unter die kroatische Verwaltung wurden zwischen kroatischer Regierung, UNTABS und UNHCR gemeinsame MaBnahmen zur Riickkehr der Fliichtlinge vereinbart.
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33. Opfer der Kriege 1991-1999
Es wurde mit dem Projekt der beiderseitigen Rfickkehr (two-way return) begonnen d.h. der Serben aus Ostslawonien (die in Hliusern vertriebener Kroaten lebten) in ihre urspriinglichen Heimatorte in Kroatien. Das Prinzip der beiderseitigen Rfickkehr werden auch in Bosnien-Herzegowina angestrebt. Bis Anfang 1998 kehrten 11.500 Serben mit dieser Prozedur aus Ostslawonien in andere Orte Kroatiens zuriick. Aus Serbien kehrten bis dahin 18.469 Personen nach Kroatien zuriick. In den Hiiusern der geflohenen Serben hatten sich nicht selten bosnische Kroaten niedergelassen, die aus der Republika Srpska vertrieben worden waren. Das "Two-way-return"-Prinzip fiihrte und fiihrt in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zur Verzogerung der Riickkehr, istjedoch ein wesentliches Element der Rfickkehrprogramme, denn andernfalls wiirden die Resultate der "ethnischen Siiuberung" und Schaffung von homogenen monoethnischen Gebieten sanktioniert. Aufintemationale Kritik stieBen biirokratische Hiirden der kroatischen BehOrden, etwa das umstlindliche Anerkennungsverfahren der Staatsangehorigkeit fUr ruckkehrwillige Serben. Solche Mangel fiihrten dazu, dass Kroatien bisher vom PHARE-Hilfsprogramm der EU ausgeschlossen blieb. Nach Angaben des UNHeR war die Zahl der spontanen Rfickkehrer erheblich hOher als die der Riicksiedler in organisierten Prozeduren. Auch durch Belgrader BehOrden wird nach Auskunft der Vorsitzenden des serbischen Komitees fUr Menschenrechte, Sonja Biserko, die Riickkehr aus Serbien erschwert. Das Komitee konnte bis zur Nato-Intervention 1999 erfolgreich bei der Riickkehr helfen. Am 10. Dezember 1998 betrugen die Zahlen in Kroatien nach Regierungsangaben: 74.203 Binnenvertriebene (57.712 aus Ostslawonien, 16.489 aus den 1995 wiedereingegliederten Gebieten), 29.336 Flfichtinge. Die zu diesem Zeitpunkt erfassten 188.791 Rfickkehrer verteilten sich wie folgt: 110.000 Riickkehrer in die 1995 wiedereingegliederten Gebiete, 25.156 nach Ostslawonien, 26.441 serbische Rfickkehrer aus Ostslawonien, 27.194 serbische Riickkehrer aus der FR Jugoslawien und aus Bosnien-Herzegowina. 1m November 1998 wurden in Kroatien 30.700 Flfichtiinge aus Bosnien-Herzegowina ohne Dauerlosung registirert, davon 23.000 aus der Republika Srpska. 1m Juni 1999 waren nach Auskunft des kroatischen AuBenministers Mate Granic 58.000 Serben nach Kroatien zuriickgekehrt.
Bosnien-Herzegowina: Drei Wochen nach dem Ausbruch des Krieges im April 1992 hatten 300.000 bosnische Fliichtiinge die Grenze nach Kroatien, Serbien oder Montenegro iiberquert, im Juni 1992 waren es 750.000, Anfang Juli iiber eine Million. 1m Gegensatz zu den Vertreibungen in Kroatien wurde das Flfichtiingsproblem internationalisiert. Insgesamt flohen etwa 1,2 Millionen Menschen ins Ausland (darunter auch die Nachfolgestaaten Jugoslawiens), rund eine Million waren innerhalb Bosnien-Herzegowinas auf der Flucht. Bei den Aufnahmelandern stand Deutschland mit bis zu 345.000 an der Spitze. An zweiter Stelle folgte die FR Jugoslawien (fiber 250.000) und dann Kroatien (fiber 160.000). Weitere Aufnahmelander waren (anhand von Zahlen von 1997): Osterreich (fiber 86.000), Schweden (iiber 60.000), Schweiz (iiber 25.000), Niederlande (24.000), Danemark (iiber 20.000), Frankreich (15.000) und Norwegen (fiber 12.000). Die Einwanderungslander USA, Kanada undAustralien nahmen 42.000, 38.000, und 24.000 bosnische Flfichtlinge (dauerhaft) auf.
33.2. Synopse zu Opfem, Schaden und Fliichtlingen
529
All diese Zahlen werden von der Flucht innerhalb des Landes bei Weitem iibertroffen: 1m November 1998 waren innerhalb von Bosnien-Herzegowina noch 860.000 Menschen aus ihrer bisherigen Heimat vertrieben, davon befanden sich 500.000 in der bosniakisch-kroatischen FOderation (von ihnen stammten 383.000 aus der Republika Srpska) und 360.000 in der Republika Srpska (darunter 314.000 aus der FOderation). AuBerdem wurden zu diesern Zeitpunkt 40.000 kroatische Serben als Fliichtlinge in der Republika Srpska gezlihlt, femer 8.500 Kosovo-Fliichtlinge in der FOderation. Wiihrend der Nato-Intervention 1999 stieg die Zahl der Kosovo-Fliichtlinge auf iiber 21.000 an, zugleich wurden 22.000 rnuslimische Fliichtlinge aus SandZak in Bosnien-Herzegowina geschiitzt. In den drei Jahren nach dem Dayton-Friedensvertrags sind fast 550.000 der iiber zwei Millionen Fliichtlinge in ihre fiiiheren Heimatorte in Bosnien-Herzegowina zuriickgekehrt. Von den insgesamt 431.516 Riickkehrem 1996-1997 gingen nur 83.679 in die Republika Srpska. Die Riickkehr von Vertriebenen und Fliichtlingen in Orte, in denen sie zur Minderheit gehOren, ging sehr zogerlich voran: 1997 etwa kehrten nur 968 Bosniaken und 155 Kroaten in rnehrheitlich serbische Orte in der Republika Srpska zurUck, hingegen 6.691 Serben in bosniakische oder kroatische Orte in der FOderation. So betrug die Riickkehr von MinderheitsangehOrigen bis Ende 1998 nur etwa 60.000 Menschen, da auch die "Open Cities Initiative" des UNHCR zwischen Miirz 1997 und Miirz 1998 mit der Konzentrierung der finanziellen Unterstiitzung auf Stlidte, die Minderheiten die Riickkehr erlaubten, wenig Erfolg hatte. Da gerade in Deutschland der Anteil der bosniakischen Fliichtlinge aus der Republika Srpska groB ist, hatte dies Folgen fiir ihre Duldung (siehe auch unten). Nach einer Einigung der Innenminister irn Miirz 1999 konnen traurnatisierte Fliichtlinge in Deutschland bleiben. Zu diesem Zeitpunkt sind von den (maximal) 350.000 bosnischen Fliichtlingen bereits 260.000 zurUckgekehrt, mindestens 90.000 sind in der ersten Jahreshiilfte 1999 noch in Deutschland. Nach Aussage des deutschen Bundesinnenministeriurns geschieht die Riickkehr iiberwiegend freiwillig, zu Abschiebungen sei es bisher nur bei einem Prozent der Riickkehrer gekommen.
FR Jugoslawien: Die Bundesrepublik Jugoslawien beherbergte 1998 die groBte Zahl von Fliichtlingen ohne Einbeziehung der Binnenflucht (die in Bosnien-Herzegowina zu einer erheblich groBeren Gesamtfliichtlingszahl fiihrt). Von den iiber 510.000 (fast nur serbischen) Fliichtlingen in Jugoslawien stammen 280.500 aus Kroatien, iiber 226.000 aus Bosnien-Herzegowina. Dazu kommen weitere 50.000 Serben, die seit 1996 Ostslawonien verlassen haben. Ende Juli 1998 gab es 132.000 Binnenfliichtlinge in Jugoslawien, davon 106.000 allein im Kosovo, im November 1998 bereits 195.00 Binnenfliichtlinge in Serbien und 40.000 in Montenegro. Diese kamen dort zu den ca. 24.000 schon Hinger anwesenden Fliichtlingen, vor allern solchen aus Bosnien mit Verwandtschaftsbeziehungen nach Montenegro. Kosovo: Schon bis Ende 1997 hatten rund 400.700 Kosovo-Albaner urn Asyl auBerhalb der FR Jugoslawien ersucht. Die Kampfe von 1998 trieben mindestens 160.000 weitere Albaner aus dem Kosovo, 25.000 davon nach Montenegro, 18.500 nach Al-
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bani en, 16.000 nach Serbien, 8.600 nach Bosnien-Herzegowina und etwa 100.000 nach Westeuropa. Weitere 235.000 waren innerhalb des Kosovo vertrieben. Etwa 20.000 Serben verlieBen 1998 das Kosovo. In einer iihnlich groBen Zahl waren Serben seit 1992 als Flfichtlinge aus Bosnien-Herzegowina und Kroatien im Kosovo angesiedelt worden. Nach dem Beginn der Nato-Intervention am 24. Marz stieg die FlUchtlingszahl in den NachbarUindern innerhalb einer Woche urn fiber 100.000 an. In der ersten AprilWoche 1999 stieg die Zahl der aus dem Kosovo systematisch in die NachbarHinder vertriebenen Albaner nach UNHCR-Angabe auf 430.000. Gerade in den grenznahen Lagern und FlUchtlingszusammenballungen, im Niemandsland auf der Kosovo-Seite oft zu Tausenden am Grenzilbertritt gehindert, existierten die Vertriebenen unter entsetzlichen Bedingungen. Darauf reagierte die Staatengemeinschaft mit Aufuahmequoten (Deutschland mit zunachst 10.000 Menschen, USA und Tiirkei jeweils 20.000, andere Lander insgesamt 50.000). Nach den Vertreibungen aus den Heimatorten im Kosovo selbst wurden die Vertriebenen im Anschluss teilweise weiter deportiert. So wurden am 7. April 1999 aus dem makedonischen FlUchtlingslager Blace mehr als 10.000 Kosovo-Albaner von makedonischen Behorden teilweise bis Albanien deportiert, zugleich zwangen serbische Soldaten tausende Albaner auf der anderen Seite der Grenze zur Riickkehr in das Landesinnere. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der aus dem Kosovo Gefiohenen bereits auf eine halbe Million angestiegen. Einen Monat nach Beginn der Nato-Intervention betrug die Zahl schon fiber 600.000 (auBerhalb des Kosovo), Ende Mai waren es fiber 800.000. Die europaischen Staaten verhielten sich in ihren Angeboten, Flfichtlinge aufzunehmen, zogerlich - auch mit der Begrfindung, keine Anreize fUr ethnische Sauberungen schaffen zu wollen. Nach dem Einrucken der KFOR in das Kosovo waren nach UNHCR-Angaben yom 14. Juni 1999 die FlUchtlingszahlen auBerhalb des Kosovo selbst folgendermaBen: In Montenegro 69.700 Flfichtlinge; in Makedonien 243.700, davon in Lagern 105.100, 138.600 in Gastfamilien und anderswo; in Albanien 444.600 (etwa 250.000 davon in Gastfamilien) und in Bosnien-Herzegowina 21. 700. Dies ergab eine Summe von 779.700 FlUchtlingen in den Nachbarlandern des Kosovo. Die Zahl der nach dem KFOR-Einrocken gefiohenen Serben wurde yom UNHCRam 7. Juli 1999 mitrund 107.000 angegeben. Zwischen dem 5. April und dem 13. Juni hatten die Evakuierungen aus denmakedonischen Lagern mit UNHCR-Hilfe folgende Aufuahmezahlen ergeben: Deutschland 14.372, Tiirkei 8.013, USA 6.420, Norwegen 6.070, Italien 5.829, Frankreich 5.614, Kanada 5.206, Osterreich 5.080; insgesamt 84.450, davon 69.459 in Europa. Somit haben von Beginn bis Ende der Nato-Intervention 864.000 Albaner das Kosovo verlassen. In diversen Pressemeldungen wurde geschiitzt, dass bei Kriegsende am 10. Juni bis zu 600.000 Menschen innerhalb des Kosovo auf der Flucht waren. Makedonien: 1992 gelangten nach Beginn des Krieges in Bosnien-Herzegowina etwa 30.000 Flfichtlinge nach Makedonien. Ihre Zahl nahm in der Folgezeit kontinuierlich ab, 1998 wurden yom UNHCR noch 1.400 Bosnien-FlUchtlinge (200 in Massenunter-
33.3. Zur Aufnahrne der Flllchtlinge in den westlichen Llindern
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kiinften, 1.200 bei Familien) WlterstUtzt, die iiberwiegend aus der Republika Srpska stammten. Drastisch iinderte sich die Lage mit dem Kosovo-Krieg 1998/99.
33.3. Zur Aufnahme der FliichtIinge in den westIichen Liindern Judith Kumin Europa reagierte auf die Massenflucht mit ad hoc MaBnahmen, die sich am Modell des zeitlich befristeten Schutzstatus (temporary protected status) orientierten. Nach internationaIem Recht haben Fliichtlinge einen Anspruch auf Schutz bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in Sicherheit und Wtirde zuriickkehren konnen. Vor dem Ausbruch der Jugoslawien-Krise rliurnten die westlichen Industriestaaten Fliichtlingen ein unbefristetes Bleiberecht ein. Der bosnische Massenexodus bedeutete einen Wendepunkt: Erstmals wurde temporary protection allgemein in Europa angewandt. Nach giingiger AuffassWlg haben die europliischen Regierungen damit dem formaIen Ersuchen der Hohen Fliichtlingskommissarin Sadako Ogata yom Juli 1992 entsprochen. In den Augen der europliischen Regier\ll1gen sprach fUr diese LOSWlg die Annahme, dass es sich bei den Bosniern nicht immer urn Fliichtlinge im Sinne der Genfer Fliichtlingskonvention handelte, obwohl selbst nach AblehnWlg des Asylantrags eine Schutzbediirftigkeit kaurn in Abrede gestellt werden konnte. Die Aufuahme der bosnischen Fliichtlinge in den europliischen Staaten wurde hOchst Wlterschiedlich gehandhabt. Nahezu aIle europliischen Staaten fiihrten die Visurnspflicht fUr Btirger aus Bosnien-Herzegowina ein. Nur Deutschland hielt seine Grenzen zumindest eingeschrlinkt offen. Wer im Besitz einer so genannten VerpflichtWlgserklarung war, erhielt ein auf drei Monate ausgestelltes Besuchsvisurn. So hielt sich von rd. 700.000 Bosniern, die zeitweilig ins (nicht-jugoslawische) Ausland geflohen waren, die Hlilfte in Deutschland auf. Da rechtliche BestimmWlgen zum "temporary protected status" fehlten und kein Konsens iiber die Frage zu erreichen war, ob Personen, die Wlter zeitlich befristetem Schutz stehen, in UbereinstimmWlg mit der Genfer Fliichtlingskonvention zu behandeln seien, gingen die Staaten nach eigenem Ermessen vor. Uberall blieben jedoch die eingerliurnten Rechte Wlterhalb dessen, was nach der Genfer Fliichtlingskonvention zugestanden wird. In Deutschland wurde die Mehrzahl der Bosnier nur geduldet. Zwar war die Einfiihrung eines Sonderstatus fUr Kriegs- Wld Btirgerkriegsfliichtlinge in das deutsche Ausliinderrecht ein Bestandteil des sog. Asylkompromisses (1993), die entsprechende Gesetzesiinderung - Artikel 32a Ausliindergesetz - blieb jedoch ohne Folgen. Duldung bedeutet die bloBe Aussetzung der Abschiebung, jedoch keinen positiven Rechtsstatus. In den meisten Staaten mussten die Bosnier selbst entscheiden, ob sie einen Asylantrag stellen oder aber den "temporary protected status" annehmen wollten. Dessen Einfiihrung wurde in einigen Staaten mit einer Suspendier\ll1g der anhiingigen Asylverfahren verbWlden (z.B. in Deutschland und Norwegen). Die Gefahr besteht, dass Staaten auf dieser GrWldlage Fliichtlingen Rechte nach der Genfer Fliichtlingskonvention verweigern. Mit Fortdauer des Konflikts bzw. nach dessen Ende hoben aIle Staaten diese Suspendierung auf Wld entschieden iiber die Asylantrlige. Die AnerkennWlgsquoten variierten im Jahre 1996 zwischen 96 % in Diinemark, 82 % in den Nieder-
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landen, 56 % in Schweden, 40 % in Italien, 33 % in der Schweiz illld 29 % in Osterreich. Zum Vergleich: Schon vor dem Entscheidilllgsstopp (1993) lag die Anerkennilllgsrate in Deutschland bei 1,3 % illld in Norwegen bei 1 %. Die Riickkehr der Fliichtlinge soUte dUTCh Annex 7 des Daytoner Friedensabkommens fiir Bosnien-Herzegowina geregelt werden, der eine Reihe von Grundprinzipien enthalt, die illlerfiilit geblieben sind. In Artikel I heiBt es: ,,AIle Fliichtlinge illld Vertriebenen haben das Recht, nach Hause zurUckzukehren." In Wirklichkeit haben jedoch fiihrende Vertreter illld lokale Beamte der Republika Srpska wiederholt gegeniiber dem UNHCR illld auch offentlich erkliirt, es werde keine Riickkehr von Bosniaken oder bosnischen Kroaten auf ihr Territorium geben. Am 16. Dezember 1996 forderte die Hohe Fliichtlingskommissarin in Genf die Aufnahmestaaten ausdriicklich auf, Angehorigen von Minderheiten am Riickkehrort, Angehorigen bi-ethnischer Ehen illld Opfern schwerer MenschenrechtsverletZilllgen weiterhin Schutz zu gewiihren. Die Bereitschaft hierzu war illld ist bei den RegieTWlgen illlterschiedlich ausgepragt. In Deutschland wurde wiederholt der Termin fiir die Einfiihrilllg einer Riickkehrpflicht verschoben. Am 19. September 1996 beschloss die Innenministerkonferenz, dass die Billldeslander ab dem 1. Oktober 1996 mit der zwangsweisen Riickfiihrilllg beginnen konnten. Tatsachlich blieb die Zahl der Abschiebilllgen jedoch in den nachsten Monaten gering. Im Juni 1997 diskutierten die deutschen Innenminister von Billld illld Landem emeut iiber die Riickkehr der bosnischen Fliichtlinge. Die Mehrzahl der Billldesiander beschloss darauthin, die Duldilllg fiir muslimische Familien aus der Republika Srpska zu verlangem. Ahnlich ist die Situation in der Schweiz illld Osterreich. Andere Staaten, wie z.B. die Niederlande oder Schweden verzichteten weitestgehend auf Abschiebilllgen bzw. AuffordeTWlgen zur Riickkehr. Die meisten bosnischen Fliichtlinge haben in diesen Landem einen festen AufenthaItsstatus.
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33.3. Zur Aufnahrne der Flilchtlinge in den westlichen Landem
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Zur FIOchtiingsproblematik: Beate Andrees, Bettina Kemmerich, Stefan SOhnchen und Peter Steudtner, Kein Recht zu bleiben - Bosnische Kriegsfliichtlinge und ihre Repartriierung nach Bosnien und Herzegowina, MOnster 1997; Judit Kumin, ,,Rilckkehr der Flilchtlinge nach Bosnien-Herzegowina", in: Siidosteuropa-Mitteilungen 37 (1997), Nr. 2, S. 75-78. Es gibt eine Reihe von Verofi'entlichungen, in denen Opfer und unmittelbare Zeitzeugen ihre Erfahrungen niederschrieben. Die Berichte des HOrfunkjoumaiisten Sini§a Glava§evie aus dem belagerten Vukovar, der nach der Eroberung der Stadt wngebracht wurde, erschienen deutsch unter dem Titel: Geschichten aus Vukovar, Trier 1994; Damir Plav§ies Erinnerungen aus einjahriger Gefangenschaft nach der Eroberung Vukovars - zunlichst im serbischen Lager Stajieevo, dann im Militargefilngnis Ni§ und im Gefilngnis in Sremska Mitrovica: Zapisi iz srpskih logora, Zagreb 1994 ("Aufzeichnungen aus den serbischen Lagem"). Martin Grgurovac, Vinkovacki ratni dnevnik, Vinkovci 1992 (Kriegstagebuch aus Vinkovci). Uber ihre Erlebnisse in Lagem der bosnischen Serben berichten der Dichter Rezak Hukanovie, Deseta vrata pakla. Pola godine zatoeenistva u logorima smrti Omarska i Mary'aca, Oslo 1993 (,,oas zehnte Tor der Holle. Ein halbes Jahr der Gefangenschaft in den Todeslagem"), und der Kinderbuchautor Muhadin Sarie, Keraterm. Erinnerungen aus einem serbischen Lager, Klagenfurt, 1994. VgJ. Roy Gutman, Augenzeuge des Volkermortis. Reportagen aus Bosnien, Gottingen 1994. Zu Sarajevo: Zeljko Ivankovie, 700 dana opsada. Sarajevski dnevnik 1992-1994, Zagreb 1995 (,,700 Tage Belagerung"), zu Srebrenica: Chuck Sudetic, Blood and Vengeance: One Familyl Story a/the War in Bosnia, New York 1999. Die Journalistin Senada Marjanovie hat Kriegserlebnisse von Kindem aufgezeichnet: "Herzschmerzen ". Gesprache yom Krieg mit Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien, MOnchen 1994. Dazu auch: Zlata Filipovic, Jch bin ein Madchen aus Sarajevo, Bergisch Gladbach 1994. Zeugnisse von Frauen, Opfem der Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina, hat die Psychologin Seada Vranie herausgegeben: Breaking the Wall 0/ Silence. The Voices 0/ Raped Bosnia, Zagreb 1996. Obwohl die massenhaften Vergewaltigungen groDe Emporung augelOst haben, gibt es keine systematische Dokumentation dazu. Einen Anfang macht: Alexandra Stiglmayer (Hg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Frankfurt a.M. 1993; Texte von Frauen und ihren Erlebnissen im belagerten Sarajevo: Dragana Toma§evie (Hg.), Dos Leben ist starker. Ein bosnisches Lesebuch, geschrieben von Frauen im Krieg, Linz 1996; vgJ. auch Radmila Manojlovic Zarkovic,1 RememberlSjecam Se: Writings by Bosnian Women Refogees, 1996.
34. Der Kosovo-Krieg 1999 Joscha Schmierer
34.1. Milo§evics letzter Krieg?
Ais im Friihjahr 1998 die systematische Unterdriickung der albanischen Bevolkerung im Kosovo in einen offenen Krieg urnschlug und die serbisch-jugoslawische Fiihrung massiv Sonderpolizei und Militiir einsetzte, urn durch Terror gegen die Bevolkerung die Keimformen eines bewaffneten Befreiungskampfes zu zerschlagen, schwenkten die Kosovaren von ihrem langjiibrigen gewaltfreien Widerstand zur Unterstiitzung der U<;:K urn. Der Zyklus von jugoslawischen Erbfolgekriegen, den Milosevic 1989 mit seinem Staatsstreich gegen die jugoslawische Verfassung und der Aufhebung der Autonomie des Kosovo und der Vojvodina eroffnet hatte, war iiber Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina an seinen Ausgangspunkt zurUckgekehrt. Mit dieser Riickkehr war zu rechnen. Fraglich blieb, ob die serbischen Eroberungs- und Vertreibungskriege im Kosovo ihr Ende finden wiirden oder ob dort die zweite Runde dieses Kriegsreigens eingeliiutet wiirde. Selbst wenn Milosevic in niiherer Zukunft entmachtet wiirde, werden doch die Apparate und Personengruppierungen weiterwirken, auf die seine Macht gebaut ist, und vor allem werden mit ibm Dicht die Mentalitiiten verschwunden sein, die er mit seinen Kriegen erzeugt und mit den Propagandafeldziigen in der Gesellschaft verwurzelt hat. Man braucht sich also kaurn auf Spekulationen einzulassen, was nach Milosevic kommen konnte. Mit dem "System Milosevic" bleibt zu rechnen, selbst wenn er seine personliche Macht nicht bewahren kann. Auch nach dem Waffenstillstand yom 9. Juni, dem Abzug der serbisch-jugoslawischen Einheiten aus dem Kosovo und der Ubernahme der Kontrolle durch KFOR mit Nato-Truppen aus GroBbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und den USA als Kern, ist noch nicht entschieden, dass im friiheren Jugoslawien rundurn Frieden einkehrt. Zwar konnte oder mochte Milosevic der Zerstorung der Infrastruktur seines Landes und seiner Armee durch die Nato nicht langer zusehen, so dass er sich Bestimmungen unterwarf, die im Wesentlichen den Forderungen der Nato entsprachen und die er in Rambouillet mit geringeren Kosten hiitte akzeptieren konnen, doch wird er, oder werden ihm ideologisch nahe stehende mogliche Erben immer darauf setzen, dass sich die Einheit der Nato in einem gefahrdeten und unsicheren Frieden verschleiBt, nachdem sie den Krieg schlecht und recht iiberstanden hat. Da die Auseinandersetzung mit der Resolution des UN-Sicherheitsrates yom 10. Juni 1999, die den Einsatz der KFORTruppen im Kosovo autorisiert, wieder in die Zustiindigkeit der UNO iiberfiihrt ist, werden nun die Widerspriiche zwischen Russland (und China) auf der einen und den westlichen Staaten auf der anderen Seite unmittelbar auf der Handlungsebene relevant. Einen Vorgeschmack darauf gaben der russische VorstoB der IFOR-Einheiten aus Bosnien-Herzegowina auf den Flughafen von Prishtina und die schleppenden Verhandlungen zwischen den USA und Russland iiber Einsatzorte und Befehlsstruktur fUr die rus-
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sischen Einheiten der KFOR. Das von der G8 ausgearbeitete und von Serbien am 3. Juni akzeptierte Abkommen und die Resolution des Sicherheitsrates yom 10. Juni enthalten geniigend interpretationsflihige Einzelheiten, an denen sich Widerspruche immer erneut entziinden konnen und von serbischer Seite aus auch schiiren lassen. Dariiber konnten sich dann die Differenzen in der Nato und zwischen Nato und EU ergeben, die oft auf eine unterschiedliche Haltung gegeniiber Russland zuriickgehen. Schon die Spannung zwischen der territorialen Souveriinitiit Serbien-Jugoslawiens, auf die es Russland vor allem ankommt, und der Autonomie des Kosovo, fUr die der Westen steht, enthlilt Ziindstoff. Mit der unterschiedlichen Anwendung des Stabilitiitspaktes auf den Kosovo (und Montenegro) und das restliche Serbien kann sich diese Spannung verscharfen. Wie werden es zwn Beispiel die jugoslawischen Grenztruppen, die in den Kosovo wieder einriicken diirfen, mit Hilfslieferungen fUr den Kosovo halten und wie reagiert die KFOR, wenn es zu Behinderungen kommt? Unter dem Druck der Kosten des Einsatzes, des Wiederaufbaus und der Stabilisierung der Region werden sich die Reibungspunkte innerhalb der Allianz ohnehin vergrofiem. AuBerdem hat der Abzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo nicht den Eindruck erweckt, als waren sie dort durch die Lufieinsiitze der Nato fUr lange Zeit entscheidend geschwiicht worden. Zwar hat sich im Kosovo die Serie von ganzen und halben Niederlagen des serbischen Regimes in den von ihm angezettelten Kriegen fortgesetzt. Das braucht Milosevic aber nicht daran zu hindem, den Waffenstillstand als bloBe Atempause zu verstehen. Ob die Niederlage im Kosovo zwn Niihrboden eines aggressiven serbischen Revanchismus wird oder mit ihr ein Umbesinnen in der serbischen Bevoikerung innerhalb Jugoslawiens und der Nachbarstaaten einsetzt, wird erst die Zukunft zeigen. Entscheidend dafiir wird auch sein, ob der Stabilitiitspakt, der von der deutschen Prlisidentschaft der G 8 und der EU initiiert wurde, greift. Ausgehend von der Unantastbarkeit der Grenzen der Region solI er eine Entwickiungsperspektive eroffilen, in der die Bedeutung der Grenzen durch Kooperation relativiert wird. Kann der westeuropiiische Weg auch in Siidosteuropa zwn Erfolg fiihren? Eines darf man iiber der Niederlage von Milosevic im Kosovo jedenfalls nicht iibersehen: Die doppelte Absicht, die ganze Region zu destabilisieren und in einer Situation des wirtschaftlichen und politischen Chaos das groBserbische Projekt weiter voranzutreiben, ist nur in ihrem zweiten Teil gescheitert. Die Region wurde durch den Krieg noch einmal urn Jahre zuriickgeworfen. Das gilt nicht nur fUr das niedergebrannte Kosovo und das durch die Bombenangriffe der Nato geschiidigte Serbien, sondem selbst fUr die Nachbarstaaten, die nicht wie Albanien, Makedonien und auch Montenegro von den Wellen der Vertriebenen und Fliichtigen erschiittert wurden, aber in einer ohnehin prekaren Situation starke wirtschaftliche EinbuBen durch die Kriegsauswirkungen hinnehmen mussten. Selbst im besten Fall, wenn also mit der serbischen Niederlage die jugoslawischen Erbfolgekriege beendet sein sollten, sind die Aussichten schwierig. (~Kap. 29)
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34.2. Eotstehuog uod Charakter des Krieges Die serbische Seite ist in diesem Krieg vorgegangen, wie sie seit zehn Jahren immer vorgeht. Mit Hilfe ihrer Soldateska versuchte sie vollendete Tatsachen zu schaffen, wobei sie Verhandlungen nutzte, urn dafiir Zeit zu gewinnen. "Vollendete Tatsachen" bestehen, seit dem Misslingen der militarischen Intervention in Slowenien, als das Projekt eines serbisch beherrschten durch das eines groBserbischen Jugoslawiens abgelOst wurde, nicht mehr allein in der militlirischen Eroberung und politischen Kontrolle von Territorien auf dem Gebiet der anderen Republiken und der autonomen Provinzen des fiiiheren Jugoslawien, sondem in der Vertreibung der nicht-serbischen Bevolkerung aus den eroberten Gebieten, der Vernichtung ihrer Existenzgrundlagen und der ZerstOrung der Riickkehrmoglichkeiten bis in die Seele der vertriebenen Bevolkerung hinein. Die Mittel sind immer die gleichen. Terror, Vergewaltigungen und Massaker, die disfimktional waren, wenn es nur urn Eroberung und politische Kontrolle, also klassische imperiale Ziele ginge, erweisen sich fiir ein ethnisch-imperiales Projekt als vollig fimktional und werden deshalb ohne jede Hemmung eingesetzt. (7 Kap. 23) Wenn die westlichen Staaten von der systematischen Vernichtungs- und Vertreibungskampagne im Kosovo, die seit der Nato-Intervention verstarkt und bis zum Abzug der serbischen Truppen hemmungslos fortgesetzt wurde, iiberrascht waren, dann zeigte das, dass die Erfahrungen der vorhergehenden Kriege immer noch nicht verarbeitet waren und das groBserbische Projekt, das Milosevic seit Jahren verfolgt, immer noch verharmlost wahrgenommen wurde. Kriegsverbrechen sind dabei keine Abweichung von einer im Prinzip das VOlkerrecht beachtenden Kriegsfiihrung, sondem machen das Wesen des ethnischen Vertreibungskrieges aus. Sie werden gar nicht als Verbrechen empfunden. In allen Gesprlichen mit serbischen Zivilisten oder Militlirs stOBt man immer wieder auf die stereotype Antwort, dass der Krieg halt nun mal so sei. Er wird zur Rechtfertigung von Kriegsverbrechen. Aus diesem Verstandnis folgt dann urngekebrt, dass die serbischen Zivilisten sich den geschlagenen oder abziehenden Truppen als Fliichtlinge anschlie8en. Krieg und Vertreibung erscheinen als ein und dasselbe. Kriegsgliick bedeutet die Vertreibung der anderen, Kriegspech die Flucht vor ihnen. Mit dieser Einstellung kann man den Krieg durchaus fiir ein groBes Ungliick halten (an dem natiirlich in erster Linie die U(:K, die Nato und die Amerikaner schuld sind, wei! sie die Serben nicht in Frieden leben lassen) und zugleichjede Verantwortung fiir Kriegsverbrechen weit von sich wei sen. Diese Mentalitlit ist aus der deutschen Geschichte wohl bekannt. Sie tiel allen Besuchem von Nachkriegsdeutschland, zum Beispiel Hannah Arendt, aufund wirkt bis in die Debatten iiber die Wehrmachtsausstellung nacho So vorsichtig man mit historischen Analogien sein muss: Das ethnisch-imperiale Projekt macht Deutschland unter Hitler und Serbien unter Milosevic bis in die Denkfiguren des Volkes hinein vergleichbar. Dass sich das gemeinsame Projekt imUmfang und damit in der GroBe der Gefahr fiir die Welt unterscheidet, andert daran nichts. Terror, Vertreibung und Vernichtung als Teil der serbischen Kriegsfiihrung entsprechen ihrem strategischen Ziel. Da die serbisch-jugoslawische Arrnee wohl noch immer nicht durchgangig auf diesen Kriegszweck eingeschworen ist, ist in ihm der Einsatz von Sondertruppen angelegt, die aus dem Terror ein Geschlift machen. Zu dem strate-
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gischen Kriegsziel, den Kosovo im Verlauf des Krieges moglichst weitgehend ethnisch zu siiubem, kam das taktische Ziel hinzu, die Nachbarstaaten, vor allem Makedonien und Albanien, durch die Welle der Vertriebenen und Fliichtlinge zu destabilisieren und di~ Logistik der Nato zu storen und zu iiberfordem. So eindeutig die Vertreibung der Zweck der serbischen Kriegsfiihrung war, so genau wusste Milosevic, dass damit die westliche Kriegsfiihrung nicht nur praktisch gestort, sondem in ihrem ganzen Begriindungszusammenhang gefiihrdet und untergraben wiirde. Erkliirter Zweck der Nato-Intervention war ja die Verhinderung einer ,,hurnanitiiren Katastrophe". Dennoch wurde von vornherein der Einsatz von Bodentruppen ausgeschlossen. Der potentielle Widerspruch zwischen erkliirtem Zweck und vorgesehenen Mitteln musste sich in dem MaBe verscharfen, wie die eingesetzten Mittel die Vertreibungen nicht nur nicht verhindem konnten, sondem sogar noch zu beschleunigen schienen. Es bleibt also wahr, dass im Kosovo zwei verschiedene Kriege gefiibrt wurden, die sich gegenseitig nicht trafen: ein serbischer am Boden gegen die albanische Bevolkerung des Kosovo und einer der Nato aus der Luft gegen die serbisch-jugoslawische Infrastruktur, auf die sich dieser Bodenkrieg stiitzte. Aber ganz richtig ist diese AufIassung nicht: Die Vertreibungen sollten die Moral der westlichen Offentlichkeit treffen, urn der Nato-Intervention in den eigenen Gesellschaften den Boden zu entziehen, wiihrend sie die serbische GeseIlschaft offensichtlich vollig kalt lieBen. Das Kalkill war: Wiihrend die westliche Offentlichkeit sich zunehmend durch aUe Opfer des Krieges moralisch belastet fiihlen musste und ja auch zunehmend daran AnstoB nahm, dass die Folgen, die die Bombenangriffe fUr die serbische BevOikerung hatten, die Vertreibungen nicht stoppen konnten, verlieB sich das Regime darauf, dass die serbische Gesellschaft keinen Zusammenhang zwischen ihrer Verantwortung fUr die Graueltaten im Kosovo und den Bombardierungen in Serbien herstellen wiirde und sich einmal mehr in der Opfer- und Heldenrolle zugleich sehen wiirde, unschuldig und tapfer der ganzen Welt gegeniiber. Es hefit, die Nato sei in diesen Krieg hineingeschlittert. Das stimmt nur zum Teil. Die Bombendrohungen der Nato, die im Oktober 1998 das Holbrooke-Milosevic-Abkommen erzwungen hatten, in Rambouillet aber nicht mehr die erwUnschte Wirkung erzielten, waren in dem klaren Bewusstsein der destabilisierenden Wirkung ausgesprochen worden, die ein Krieg im Kosovo auf die ganze Region haben musste, besonders auf Makedonien. Gerade dessen Stabilitiit bildet die Voraussetzung dafiir, dass der jugoslawische Erbfolgekrieg bisher auf das Territoriurn des fruheren Jugoslawien beschrankt blieb und nicht aIle potentiellen Akteure eines neuen Balkankrieges auf die Biihne rief. Die Gefahrdung war doppelt: Das kleine Land konnte kurzfristig durch die pure Masse der Vertriebenen erdriickt werden. Blieben sie aber im Land, dann mussten sie langfristig die ethnische Balance bedrohen, was natiirlich sofort die ethnischen Spannungen in Makedonien verschiirfen musste. Dazu kam, dass die Fliichtlingslager fast zwangslaufig zu einer Brutstiitte groBalbanischen Revanchismus hatten werden miissen. Eine solche Ausweitung des Konfliktes musste auch die relative Befriedung Bosnien-Herzegowinas wieder in Frage steIlen, die bosnischen Serben in der Republika Srpska zum offenen Anschluss an Jugoslawien ermutigen, allgemein die Grenzfragen aufwerfen und die kriegerischen Staatsbildungsprozesse auf dem Balkan wieder in Gang brin-
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gen. (-7 Kap. 27) Diese Gefahr machte die westlichen Staaten fUr die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo empfindlich Wld schufHandlWlgsbedarf - allerdings erst, als sie kriegerische Formen annahmen. Daher auch die gelegentliche NeigWlg, die UC;K fUr die EntwickiWlg im Kosovo verantwortlich zu machen. Solange die Kosovaren die Unterdriickung erduldeten Wld nur mit passivem Widerstand beantworteten, ging yom Kosovo ja keine Kriegsgefahr aus. Sie aber, nicht die Verietzung von Menschenrechten, fiirchteten die westlichen Staaten in erster Linie. Nicht die irmeren Verhaltnisse in Serbien-Jugoslawien interessierten sie vor aHem, sondem ihre AuswirkWlg nach auBen. Urn sie zu verhindem, waren sie schlieBlich bereit, im Kosovo einzugreifen. Diese Bereitschaft ging mit einer Fehleinschiitzung der Gefahrlichkeit dieser irmeren Verhiiltnisse Hand in Hand. Sie fiihrte dazu, dass die Nato sich nicht ganz dariiber im Klaren war, auf was sie sich einlieB, als sie das Scheitem der VerhandlWlgen in Rambouillet Wld den bereits begonnenen serbischen VertreibWlgskrieg am 23. Miirz 1999 mit ihren Luftangriffen zu beantworten begann. Sie hatte Milosevics Unnachgiebigkeit am VerhandlWlgstisch als symbolische GesichtswahrWlg missverstanden Wld dachte, symbolische KriegshandlWlgen wiirden ibn deshalb zum Einlenken bringen. Er aber (Wld nicht nur er), war wieder einmal dabei, vollendete Tatsachen zu schaffen. Symbolisch waren von serbischer Seite die VerhandlWlgen in RambouiHet gedacht, die Invasion des Kosovo, wiihrend sich die VerhandlWlgen noch hinzogen, war real Wld ernst gemeint. Eine Konstante der serbischen Politik, die Albaner aus dem Kosovo vollig vertreiben zu wollen, wurde planmiiBig in die Tat umgesetzt. Zu dem Zeitpunkt, als Milosevic in einem Interview im Mai dreist behauptete, die albanische BevOlkerWlg des Kosovo sei viel geringer als angenommen Wld mache noch nicht einmal eine Million aus, hatten seine Schergen innerhalb von zwei Monaten bereits 800.000 Albaner uber die Grenzen getrieben. Die Zahl der Ermordeten in dieser Kampagne wird sich vielleicht nie genau feststeHen lassen. Die Zahl der durch KFOR bereits in den ersten Tages ihres Einmarsches entdeckten Massengriiber Wld Leichenreste machen Schiitzungen von uber Zehntausend Ermordeten plausibel.
34.3. Die vOikerrechtliche Problematik der Nato-Intervention Obwohl die volkerrechtliche Problematik zu Begirm der Nato-Intervention im Zentrum der offentlichen Diskussion vieler Nato-Lander Wld auch der intemationalen Aus-
einandersetzung stand, entspringt sie erst dem politischen Problem, dass sich die Institutionen der UNO Wld speziell der Sicherheitsrat in ihren EntscheidWlgen selten von Rechtsgesichtspunkten, aber immer von Miichteinteressen leiten lassen. Die Ursache dafUr, dass der Sicherheitsrat aus seinen FeststellWlgen, dass im Kosovo eine den Weltfrieden gefahrdende EntwicklWlg im Gang sei (Resolution vom 24. Oktober 1998), keine Konsequenzen zog, ist schlicht die enge VerbindWlg Russlands mit dem in Serbien-Jugoslawien herrschenden Regime. Mit slawischer VerbWldenheit hat dies wenig zu tWl. Es gibt genugend andere slawisch-orthodoxe Staaten in Sudosteuropa, denen russische ZuwendWlg zuteil werden konnte. Aber nur das serbische Regime ist in seiner expansiven Politik auf die UnterstUtzung oder wenigstens stillschweigende DuldWlg
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durch Russland dringend angewiesen. Deshalb gibt es auch nur einen Staat in SUdosteuropa, iiber den Russland seinen Einfluss in der Region ge1tend machen kann. Russland ist also wegen des in Serbien herrschenden Regimes vorwiegend an SerbienJugoslawien besonders interessiert. Die nationalistische und kommunistische Opposition in Russland spricht das offen aus. Ob dieses Interesse von Jelzin und den mit ihm in der Staatsfiihrung verbiindeten Kraften geteilt wird oder nicht, kann dahin gestellt bleiben. Sie miissen ihm jedenfalls bis zu einem gewissen Grad nachkommen. Diese Interessenverkniipfung, die es Russland auch nicht erlaubt, auf das Regime von Milosevic allein bestimmenden Einfluss zu nehmen, 11ihmte den Sicherheitsrat, als es darauf angekommen ware, internationalen Druck aufSerbien-Jugoslawien auszuiiben. So entstand erst die Situation, in der nur die Wahl blieb, Milosevic bei seinem Treiben zuzusehen oder im Konflikt mit ihm zugleich in Konflikt mit dem VOlkerrecht zu geraten. Den Kern der volkerrechtlichen Problematik bildet nicht die Verletzung der jugoslawischen Souveranitat durch die Nato, sondern der Gebrauch, den das serbische Regime seit zehn Jahren von der Souveranitat Jugoslawiens macht. Es ist ein durch internationales Recht und gar Menschenrechte vollig ungehemmter Gebrauch. Souveranitat untereinander raumen sich Staaten aber nicht unabhangig von der Staatsqualitat ein. Zunachst miissen sie sich iiberhaupt als Staaten in ihrenjeweiligen Grenzen wechselseitig anerkennen. Die UNO schlieBt freilich in ihren Begriffvon Staatlichkeit auch die Verpflichtung aufFriedenswahrung und Menschenrechte ein. Ein Staat kann den Rechtsanspruch auf Souveranitat verwirken. Die Nato hat mit ihrer Intervention gegen Serbien-Jugoslawien zwar gegen das Verfahren verstoBen, in dem iiber den Verlust dieses Rechtsanspruchs entschieden wird, in der Sache aber hat sie der UNO-Ordnung gerade Geltung verschafft, indem sie der beabsichtigten Destabilisierung der Staaten einer ganzen Region und der volkerrechtswidrigen Vertreibung der Kosovaren Einhalt zu bieten suchte. Die in der Sache gerechtfertigte Intervention konnte mit dem Sicherheitsratsbeschluss yom Juni 1999 wieder in den Rahmen eines UNO-gemaBen Verfahrens iiberfiihrt werden, weil sich die Machtekonstellation verandert hatte. Russland konnte namlich inzwischen sein Interesse an dem in Serbien-Jugoslawien herrschenden Regime mit der Absicht, maBigenden Einfluss auf seine politischen Taten zu nehmen, wieder unter einen Hut bringen, weil die Nato-Intervention Wirkung gezeigt hatte und zugleich ein Eingreifen auf dem Boden nicht mehr ganz ausgeschlossen schien. Diese neue Konstellation bestimmt die Nachkriegssituation: Indem sich die Nato gegeniiber dem serbischen Regime als handlungsfahig erwies, brachte sie Russland in eine Position, in der es aufMilosevic wieder Einfluss nehmen kann. Damit es zu dieser Konstellation kommen konnte, musste die Nato gegeniiber der kosovo-albanischen Forderung nach staatlicher Unabhangigkeit unnachgiebig sein. Damit sie erhalten bleibt, musste die KFOR nach der Ubernahme der militarischen Gewalt im Kosovo auf der vereinbarten Demilitarisierung der UC;K bestehen. Diese Nachkriegskonstellation ist auBerst kompliziert und fragil und enthalt die Gefahr, dass Milosevic eine direkte Konfrontation zwischen Nato und Russland provoziert. Dies raumt ihm trotz der Niederlage immer noch eine starke Stellung im bestehenden Krafteverhaltnis ein.
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34.4. 1st die Nato-Intervention ein Priizedenzfall f"Ur Interventionen obne UN-Mandat?
1m Kosovo-Konflikt, der schlie13lich zur Intervention der Nato und dann zur Ubemahme der militarischen Verantwortung durch eine Friedenstruppe und der zivilen Verwaltung durch internationale Organisationen mit einem Mandat des Sicherheitsrates fiihrte, vereinigten sich Bedingungen, die in zahlreichen anderen Konflikten in der Welt wirken, mit solchen, die nur in diesem Konflikt vorliegen. (7 Kap. 30) Nach Wegfall der friiheren Blockkonfrontation zwischen Ost und West, die auch Zfige einer intemationalen, freilich imperialen Ordnung trug - schlie13lich war das Sowjetimperiurn ihr Eckstein - ist die Ordnung der Staatenwelt in vielen Regionen allein auf die einzelnen Staaten verwiesen. Sie sind die Bausteine der UNO. Nun sind aber viele dieser Staaten Produkt einer imperialen Ordnung, sei es der europiiischen Kolonialreiche, sei es der kontinentalen europiiischen Imperien und des osmanischen Reiches. Weder sind ihre Grenzen unurnstritten, noch besitzen sie die innere Homogenitiit, die die westeuropiiischen Staaten und die USA mit ihrem Modell des Nationalstaates der UNO zu Grunde legten. In diese Ordnung riickten nach und nach die unabhiingig gewordenen neuen Staaten ein, ohne dem zugrundeliegenden Staatenmodell zu entsprechen. In ihrem Bestand sind sie oft weniger durch innere Gegebenheiten als durch die UNO-Ordnung selbst garantiert. Mit dem Wegfall der Blockordnung verschiirfen sich an vielen Punkten der Welt die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Formen der Staatenbildung, die mit der formellen Unabhiingigkeit keineswegs abgeschlossen ist. Grundsiitzlich gibt es zwei Wege: den Weg, in den bestehenden Grenzen trotz aller Heterogenitiit fiber demokratische Verfahren, f6derale Dezentralisierung, Marktwirtschaft und zwischenstaatliche Kooperation den notwendigen minimalen gesellschaftlichen Zusammenhalt der Staaten zu schaffen, und den anderen, entlang von ethnischen Verwandtschaften die Staatsgrenzen zu korrigieren und den staatlichen Zusammenhalt durch ethnische Homogenitiit sichem zu wollen. Der zweite Weg muss die UNO-Ordnung sprengen. Zwischen diesen beiden Wegen gibt es viele Varianten, multiethnische Staaten in ihren bestehenden Grenzen zwar zu erhalten, aber gestiitzt auf eine Ethnie zu beherrschen. AIle diese Varianten laufen Gefahr, schlie13lich fiber die Ethnisierung der Politik in den zweiten Weg zu miinden. Der jugoslawische Erbfolgekrieg entsprang daraus, dass vor allem die serbische Elite den ersten Weg verlie13. Uber den Versuch, Jugoslawien ethnisch zu beherrschen, landete sie schlie13lich bei dem Versuch, ein ethnisch reines Gro13serbien zu schaffen. Dabei scheiterte sie eins urns andere Mal. Die Probleme im friiheren Jugoslawien und dann in Serbien-Jugoslawien waren und sind die gleichen wie an vielen Punkten in der Welt. An manchen wurde ebenfalls versucht einzugreifen, meist dilettantisch und unentschlossen. So wird die UNO-Ordnung in den letzten Jahren immer briichiger, ohne dass der Sicherheitsrat daraus Konsequenzen zoge. Die zahlreichen Interventionsbemiihungen im friiheren Jugoslawien, die zuletzt in die Nato-Intervention gegen Serbien-Jugoslawien miindeten und zu einer intemationalen Verwaltung des Kosovo im Rahmen der UNO fiihrten, unterscheiden sich von der
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Gleichgilltigkeit in anderen Flillen. Hier biindeln sich die Interessen mehrerer intemationaler Akteure. Es handelt sich urn keine vorrangig wirtschaftlichen Interessen, vielmehr wird bier die transatlantische Ordmmg direkt berUhrt, aus der die UNO erst hervorging. Wenn der ethnisch begriindeten Zerstorung der Staatenordnung freier Lauf gelassen wird, dann kann man nicht nur jede Hoffnung auf eine Friedensordnung der Staatenwelt fahren lassen, sondern gleich auch noch die stabilisierende Wirkung von ED und Nato abschreiben. Dies scheint den politisch Verantwortlichen im Verlauf des zehnj1ibrigenjugoslawischen Erbfolgekrieges allmiihlich kIar geworden zu sein. Nicht urnsonst wurde, noch wiihrend der Krieg andauerte, der Stabilitiitspakt fUr Siidosteuropa entwickelt, der ganz bewusst den Weg einer demokratischen, foderalen Staatenbildung und -kooperation in den bestehenden Grenzen mit marktwirtschaftlichen Grundlagen zum Programm erhebt und die internationale, vor aHem aber die europiiische und transatlantische Unterstiitzung eines solchen Weges einfordert. Trotz all der Zerstorungen und Verletzungen konnte die Intervention der Nato eine dauerhafte Beendigung der Kriege im friiheren Jugoslawien eingeleitet haben. Dann Witte sie nicht nur eine zweite Runde der Kriege und ihre Ausweitung auf die ganze Region unterbunden, sondern einer grundlegenden Neuordnung in Siidosteuropa den Weg bereitet. Dass sie gelingt, wird nicht zuletzt davon abhlingen, ob die serbische GeseHschaft aus ihrer narzistischen Selbstisolation herausgelockt und beim Wiederaufbau unterstiitzt werden kann, ohne gleichzeitig das Regime wieder hochzupiippeln. Das Gefiihl fUr die eigene Verantwortung an dem Desaster des friiheren Jugoslawien kann sich freilich nur in der serbischen Gesellschaft selbst entwickeln. Der serbische Weg mag bistorisch groJ3artig gewesen sein, heute muss er ins Verderben fiihren, weil er riicksichtslos ethnisch-imperial geworden ist. Er fiihrt ins Chaos oder wird in Niederlagen abgebrochen. Die Niederlagen bedeuten Befreiung - auch der Serben. Die Frage ist, ob diese selbst dies begreifen konnen? Von der Bundesrepublik Deutschland aus gesehen kann man sagen: Ausgeschlossen ist es nicht.
Literatur
Thomas Schmid (Hg.), Krieg im Kosovo, Reinbek 1999; Bruno Schoch, Ulrich Ratsch und Reinhard Mutz (Hg.), Friedensgutachten 1999, MOnster 1999; Frank Schirrmacher (Hg), Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, Stuttgart 1999.
35. Vom Kosovo zum Kosovo: Chronik von Krise und Krieg
1986-1999
Matthias Vetter
1986 JANUAR 1986: Am 15.1. erscheint als erster iiffentlicher serbischer anti-albanischer Protest eine Petition gegen die "Verfo1gung der Serben im Kosovo" in KnjiZevne novine - aus (dissidenten) Schriftstellerkreisen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Agitation der Partei gegen die Rebellion der Kosovo-A1baner (1981) keiner nationalistischen, sondem der dogmatisch-kommunistischen Sprachrege1ung gefo1gt. FEBRUAR. 1986: Am 26.2. demonstrieren erstmals Serben aus dem Kosovo in Belgrad und fordern den "Schutz durch die Bundesorgane" vor "Unterdriickung und Gesetzesbrtichen" durch die A1baner. MAl 1986: Siobodan Milo§evic, von 1978 bis 1983 Bankdirektor und seit 1984 Be1grader Stadtparteichef, wird auf Betreiben des bisherigen Parteichefs Serbiens, Ivan Stambolic, zum neuen Parteivorsitzenden der serbischen Kommunisten gewahlt. Stambolic wird Prilsident Serbiens. JULI 1986: Der 13. Jugoslawische Parteikongress beschlieBt das Verbot von serbischen Immobilienverkaufen im Kosovo, um die Umsiedlung von dortigen Serben zu verhindern. SEPTEMBER 1986: In der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Kiinste wird ein Memorandum zur Diskussion ilber die Benachteiligung Serbiens verfasst. Es enthlilt sowohl Forderungen nach Demokratisierung als auch nach einer "politischen Abrechnung" durch "revolutionaren Kampf" gegen die "neofaschistische Agression" und den "Genozid" gegen die Serben im Kosovo. Gefordert wird die Revision der gilltigen jugoslawischen Verfassung von 1974. Ausziige des Memorandums werden zunachst in der Belgrader Zeitung Vecemje Novosti veriiffentlicht, der Gesamttext folgt erst im Sommer 1989 (bzw. bereits im Januar in Zagreb).
1987 JANUAR 1987: Die Satire "Vojko und Savle" in der Belgrader Zeitung Politika macht sich ilber die kontroverse Diskussion von Akademiemitgliedem ilber das Memorandum in diffamierender Sprache lustig. In den ersten Monaten des Jahres 1987 wird das (dem Publikum nicht bekannte) Memorandum in der jugoslawischen Presse immer wieder angegriffen. APRIL 1987: Serbische Gruppen organisieren eine groBe anti-albanische Demonstration in Kosovo Polje, einem Vorort von Prishtina, bei der es zu Auseindersetzungen mit der Polizei kommt; Milo§evic tritt am 24.4. zum ersten Mal als Beschiltzer der Serben auf, an den legitimen Staats- und Parteiorganen der autonomen Provinz vorbei. Er verspricht serbischen Demonstranten, die gewalttiltig aufgetreten waren und darauf von der Polizei zurtickgedrlingt wurden, dass sie "niemand mehr scblagen diirfe". Besonders dieser Satz wird dann von den serbischen Medien weitergetragen. MAl 1987: Der serbische Schriftstellerverband beginnt mit der Veranstaltung von Protestabenden zur Unterstiltzung der Serben auf dem Kosovo. JUNI 1987: Die traditionsreichste Zeitung Jugoslawiens, Politika, wird zum Organ der nationalistischen Propaganda und der Abrechnung mit Milo§evics Gegnern. Azem Vllasi, der nach dem kosovarischen Aufstand von 1981 und bei den Sauberungen danach fest auf der Seite der Zentralregierung stand, wird Parteichef des Kosovo. SEPTEMBER 1987: Am 3.9. tOtet in einer Kaserne in Paracin ein (psychisch gestiirter) amoklaufender Soldat albanischer Nationalitat vier Kameraden. Darauf wird eine anti-albanische Propaganda entfacht, eine Gruppe angeblicher VerschwOrer verurteilt. Auf dem Achten Plenum des ZK der serbischen KP schaltet Milosevic seine Gegner aus. 1m Zuge umfassender politischer Sauberungen erfolgt auch ein Generationswechsel in der Nomenklatura, der sich gegen Stambolic richtet, der zum Jahresende aus seinem Amt als serbischer Prilsident gedrlingt wird.
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1988 FEBRUAR 1988: In Slowenien wird der jugoslawische Verteidigungsminister Branko Mamula wegen Waffenverkaufen an Athiopien kritisiert, die Zeitung Mladina deckt den Missbrauch von offentlichen Mitteln sowie Plane zum Bau eines neuen jugoslawischen Kampfflugzeuges auf. MAl 1988: Bei der Beschlagnahmung der Mladina werden vier ihrer 10urnalisten von der slowenischen politischen Polizei verhaftet und von der Militlirjustiz wegen Geheimnisverrats angeklagt. Dagegen folgt eine Protestkundgebung in Ljubljana mit 15.000 Teilnehmem. Im Kosovo lost Kaqusha lashari an der Parteispitze Vllasi ab, der aber im Prasidium bleibt. JUNI 1988: Milosevic lasst Massenkundgebungen zur Unterstiitzung seiner Politik organisieren. Die Gebeine des 1389 auf dem Amselfeld von den Tiirken geschlagenen serbischen Fiirsten Lazar werden exhumiert und in einer Prozession durch serbisch besiedelte Gebiete nach Pee gebracht. Das Parlament von Serbien verabschiedet am 11.6. einen Entwurf fiir Aoderungen seiner Verfassung, die die Autonomie der beiden Provinzen Vojvodina und Kosovo autheben sollen. JULI 1988: Milosevic setzt mit weiteren Demonstrationen die Provinzregierung in der Vojvodina massiv unter Druck. Bis MlIrz 1989 werden die ,,Meetings der Wahrheif', das "Sich-Ereignen-des-Volkes" fortdauem. Das Bundesparteiprasidium stellt sich nicht hinter die legale Fiihrung der Vojvodina, sondem hinter Milosevic. AUGUST 1988: Die Parteichefin des Kosovo lashari kritisiert im Bundesparteiprasidium die serbischen Demonstrationen im Kosovo, die zur Zersetzung der geltenden Verfassung fiihrten, und bekommt Unterstiitzung yom montenegrinischen Parteichef Vidoje Zarkovic. OKTOBER 1988: Der Vorsitzende des Bundesparteiprasidiums, der Kroate Stipe ~uvar, macht die albanischen Kommunisten des Kosovo fOr den "offenen Auftritt der Konterrevolution" verantwortlich. Nach massiven serbischen Demonstrationen mit 100.000 Teilnehmem, viele davon aus dem Kosovo, werden am 5.10. Provinzregierung und Parteifiihrung der Vojvodina im Zuge der "antibiirokratischen Revolution" (auch ,,Joghurtrevolution") zum Riicktritt gezwungen. NOVEMBER 1988: Milosevic verlangt, dass die Parteichefin des Kosovo Jashari ihre Funktionen niederiegt. Dagegen protestieren am 17.11. Kosovo-Albaner in einer Kundgebung. Fast eine Million Serben beteiligen sich am 19.11. an einem von Milosevic einberufenen Meeting in Belgrad, Forderungen nach dem Tod des ehemaligenkosovarischenParteichefsVllasiwerdenlaut.Veljko Kadijevic wird als Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der AImee Nachfolger von Mamula. DEZEMBER 1988: Das jugoslawische Kabinett unter Branko Mikulic wird am 30.12. auf Betreiben Milosevics gestiirzt, der seinen Gefolgsmann Borisav 10vic als Regierungschef durchsetzen will. 1989 lANUAR 1989: Massendemonstrationen zwingen am 11.1. die Staats- und Parteifiihrung von Montenegro zum Riicktritt. An Stelle von Vidoje Zarkovic, einem Gegner Milosevics, wird dessen Anhanger Momir Bulatovic Parteichefvon Montenegro. Auf serbischen Druck wird der PolizeichefRahman Morina Prasidiurnsprasident des Kosovo. Ante Markovic wird am 19.1. Ministerprasident der Bundesregierung. Das ZK der slowenischen Kommunisten beschlieBt die Einfiihrung des politis chen Pluralismus. FEBRUAR 1989: Verfassungsanderungen fiir Serbien werden eingeleitet. Im Kosovo, vor allem unter Bergarbeitem von Trepca kommt es ab dem 20.2. zum General- und teilweise zum Hungerstreik. Gefordert werden u.a. die Absetzung der von MiloSevic eingesetzten Funktionllre, direkte Wahlen der Provinzfiihrung und Beibehaltung der Verfassung von 1974. Die oktroyierte Fiihrungsspitze der Provinz tritt zeitweilig zuriick, Azem Vllasi fordert als Vermittler die Bergarbeiter zur Aufgabe auf. Am 27.2. verhangt das Staatsprasidium (ohne Siowenien) injuristisch anfechtbarer Prozedur "SondermaBnahmen" iiber das Kosovo und entsendet Bundespolizei. In Ljubljana kommt es zu Sympathiekundgebungen fiir die albanischen Bergarbeiter. Als Antwort daraufwird in Serbien zum Boykott slowenischer Waren aufgerufen. Milosevic verspricht in Belgrad vor Demonstanten, Vllasi verhaften zu lassen. MARZ 1989: Der Vertreter Makedoniens im Staatsprasidium, Lazar Mojsov, behauptet, Dokumente zu besitzen, nach denen der albanische Streik der Anfang eines geplanten bewaffneten Aufstands gewesen sei. Vllasi wird darauthin verhaftet. Die angeblichen Dokumente existierten nicht. Am 28.3. treten Verfassungsanderungen in Kraft, die die Autonomie von Kosovo und Vojvodina autheben und von den serbischen Medien als "Wiedergewinnung der Souveranitat" gefeiert werden. Am 23.3. hatte das Parlament im
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Kosovo der Verfassungsilnderung unter Druck und in offentlicher Abstimmung zugestimmt, allerdings ohne die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Bei anschlieBenden Demonstrationen der Albaner geht die serbische Polizei auch gegen Kinder brutal vor, offiziell werden 29 Tote bestatigt. Dber 200 albanische Intellektuelle protestierten gegen die Aufhebung der Verfassung und werden in Isolationshaft genommen. MAl 1989: Am 8.5. wird Milo§evi6 Prasident Serbiens und gibt das Amt des serbischen Parteichefs an Bogdan Trifunovi6 abo JUNI 1989: In Kroatien wird am 17.6. die HDZ (Hrvatski demokratska zajednica) unter Franjo Tudman gegriindet, nachdem schon die Liberale Partei (HSLS) als erste nicht kommunistische Neugriindung besteht. Am 28.6. versammeln sich eine Million Serben in Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 im Kosovo. Milo§evi6 verkiindet in seiner Rede: ,,600 Jahre spater stehen wir VOT neuen Kampfen. Noch werden sie nicht mit Waffen gefuhrt, aber dies ist fur die Zukunft nicht auszuschlieBen." JULI 1989: In Kroatien kommt es nach den dortigen Amselfeld-Feiern der serbischen Bevolkerung zu Unruhen. Das Gerichtsverfahren gegen den kroatischen Serben Jovan Opa6i6 (wegen der Organisation der Veranstaltung trotz Verbots) wird von serbischen Medien zum Anlass genommen, die Bedrohung der Serben in Kroatien zu thematisieren. SEPTEMBER 1989: Das slowenische Parlament verabschiedet am 27.9. mit 256 zu einer Stimme Verfassungsilnderungen, die ein Mehrparteiensystem und das Recht auf den Austritt aus der jugoslawischen Foderation umfassen. OKTOBER 1989: Prozess gegen den friiheren kosovarischen KP-ChefVllasi und 14 weitere Angeklagte am 30.10. Wenige Tage nach Prozessbeginn kommt es im Kosovo zu blutigen Unruhen mit fiinf Toten. NOVEMBER 1989: Am 12.11. wird Milo§evi6 mit 86 % der Stimmen in der ersten Direktwahl als serbischer Prasident bestatigt. DEZEMBER 1989: In Kroatien gibt die Kommunistische Partei ihr Monopol auf, demokratische Wahlen werden angekiindigt. 1m Kosovo tritt am 7.12. die erste Oppositionsorganisation zusammen, am 23.12. wird der Demokratische Bund des Kosovo (LDK, Lidhja Demokratike e Kosoves) unter der Fiihrung des Literaturwissenschaftlers Ibrahim Rugova gegrOndet.
1990 JANUAR 1990: Auf dem XlV. auBerordentlichen Parteikongress des BdKJ (20.-23.1.) wird das Monopol der Partei aufgegeben. Die slowenischen Delegierten scheitern mit ihrer Forderung nach einer weitergehenden Demokratisierung und FOderalisierung und verlassen den Parteitag. Am 24.1. beginnen albanische Demonstrationen im Kosovo, gegen die die Zentralregierung mit Panzem und Flugzeugen vorgeht, bis zum 2.2 mit mindestens 26 Toten. FEBRUAR 1990: Die Siowenische KP spaltet sich am 4.2. als "Partei der Demokratischen Reformen" Yom BdKJ abo Dasjugoslawische Verfassungsgericht entscheidet am 8.2., dass ein slowenischer Austritt aus der FOderation verfassungswidrig sei, da andere Republiken zustimmen miissten. Am 17.2. wird in Knin in Kroatien die "Serbische Demokratische Partei" (SDS) unter Jovan Ra§kovi6 als Ableger der in Serbien schon bestehenden DS (Demokratische Partei) gegriindet. MARZ 1990: Verhilngung des Ausnahmezustands imKosovo, dervom 1.3. bis zum 18.4. dauert. Am 7.3. streicht Siowenien den Begriff "sozialistisch" aus dem Republiknamen. APRIL 1990: Die JVA Obemimmt mit Befehl yom 14.4. die Waffen der Territorialverteidigung von Kroatien und Siowenien; Siowenien gelingt es, einen Teil der Waifen zu sichem. Am 8. und 22.4. gewinnt bei den ersten freien Wahlen in Siowenien in der ersten Kammer das 7-Parteien-Biindnis DEMOS 55 % der Stimmen und 47 von 80 Sitzen. Republikprasident wird der ehemalige KP-ChefMilan Kucan mit 58 % im zweiten Wahlgang vor Joze Putnik (DEMOS, 41 %). Bei den ersten freien Wahlen in Kroatien am 22.123.4. und 6./7.5. gewinnt die HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft) unter Franjo Tudman durch das Mehrheitswahlrecht bei iiber 40 % der Stimmen in den drei Kammem 67,5 % der Mandate, die Partei der Demokratischen Reform (ex-Kommunisten) kommt auf unter 25 % der Stimmen, die SDS erringt ein Mandat in den Wahlkreisen urn Knin, die Mehrheit der serbischen Stimmen geht aber an die Reformkommunisten. 1m Kosovo werden am 24.4. der ehemalige Parteichef Vllasi und seine Mitangeklagten freigesprochen, da "konterrevolutionare" Tatigkeiten nicht nachgewiesen werden konnen. MAl 1990: In Bosnien-Herzegowina wird die "Partei der demokratischen Aktion" (SDA) gegriindet. Borisav Jovic lost am 15.5. Janez Dmov§ek als Vorsitzender des jugoslawischen Staatsprasidiums ab, Stipe
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Suvar wird sein Stel1vertreter, bis er durch den Delegierten des neugewilhlten kroatischen Parlaments Stipe Mesic ausgewechselt wird. Wie Jovic in seinen Aufzeichnungen (1995) darlegt, wird im Sommer 1990 bereits eine militarische LOsung des Unabhanigkeitsstrebens der westlichen Republiken ausgearbeitet. Diese auch als Plan RAM ("Rahmen") bekannt gewordene Strategie sieht vor, nach der "Sezession" der beiden Republiken das jugoslawische System zu erhalten, indem die Armee zugunsten der Serben in Kroatien eingreifen, sie und die Serben in Bosnien-Herzegowina bewaffnen und einen betrachtlichen Teil der Territorien besetzen soli. JUNI 1990: Das serbische Parlament beschlieBt am 26.6. ohne die Stimmen der a1banischen Abgeordneten die Ausnahmeverwaltung im Kosovo, offiziel1 als "vorObergehende MaBnahme". Die in Slowenien und Kroatien gefiihrten Diskussionen urn die Zukunft Jugoslawiens kommentiert Milosevic mit der Bemerkung, dass in einer Konfoderation die Frage der Grenzen Serbiens offen sei. JULI 1990: Das slowenische Parlament verabschiedet am 2.7. die Souveranitat der Republik. 1m Kosovo erklaren am selben Tag 114 a1banische Vertreter des Provinzparlaments auf den Stufen des von serbischer Polizei besetzten Pari aments in Prishtina die Unabhangigkeit des Kosovo innerhalb Jugoslawiens. Am 5.7. lost Serbien das Regionalparlament des Kosovo auf. Zugleich wird die Tageszeitung Rilindja verboten, das albanischsprachige Rundfunkprogramm eingestellt. Massenentlassungen von A1banem folgen. Der Bund der Kommunisten Serbiens fusioniert am 16.7. auf einem Sonderkongress mit der Massenorganisation "Sozialistische AIlianz" zur "Sozialistischen Partei Serbiens" (SPS), Vorsitzender wird Milosevic. Wenig spater wird in Serbien das Mehrparteiensystem eingefiihrt. In Bosnien-Herzegowina grOndet Radovan KaradZic die "Serbische Demokratische Partei" (SDS). Am 25.7. bilden die kroatischen Serben in Knin einen "Serbischen Nationalrat" und fordem die Souveranitat der von ihnen proklamierten "Krajina". In der Foige bewaffnen sie sich aus Lagem der Territorialverteidigung in Knin. AUGUST 1990: Am 8.8. beschlieBt das Bundesparlament Jugoslawiens die Abschaffung der Selbstverwaltung der Betriebe und die Einflihrnng von Marktwirtschaft, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Serben aus Knin errichten in der sogenannten "Balkenrevolution" erstrnals am 17.8. unterstOtzt von der lokalen Polizei StraBensperren an der wichtigsten Verbindungsstrasse von Zagreb zur KOste. SEPTEMBER 1990: Ein selbstorganisiertes Referendum in der Kniner Gegend ergibt am 2.9. eine Mehrheit fOr die GrOndung eines "Autonomen Gebietes Krajina" (SAO Krajina). Dabei ist unklar, wer stinunberechtigt ist, Ober welches Territorium abgestimmt wird und wie viele Menschen beteiligt sind. Die ihres Pari aments beraubten a1banischen Abgeordneten im Kosovo verabschieden am 7.9. aufeiner geheimen Sitzung im Dorf Kacanik eine Verfassung fOr die Republik Kosovo und fordem Unabhangigkeit. Slowenien beschlieBt am 27.9. eine Verfassungsanderung, wonach Bundesgesetze Geltung verlieren und das Recht auf Sezession bekraftigt wird. Am 28.9. verabschiedet Serbien eine neue Verfassung, in der das Kosovo und die Vojvodina keine staatlichen Autonomierechte mehr haben. Das jugoslawische Bundesparlament erhebt vor dem Verfassungsgericht K1age gegen die slowenische Verfassung. OKTOBER 1990: Die Vertreter der rebellierenden Serben aus Knin proklamieren am 1.10. die "Souveranitat der Serben in Kroatien". Slowenien und Kroatien veroffentlichen den Vorschlag, Jugoslawien kOnftig a1s Konfoderation nach EG-Vorbild, aber mit gemeinsamer Armee und AuBenpolitik zu gestalten. Nachdem Siowenien die Befehlsgewalt Ober seine Territorialverteidigung (TO) Obemommen hat, besetzt jugoslawische MilitilrpoJizei ein Gebaude der TO. NOVEMBER 1990: Bei den ersten freien Wahlen in Makedonien am II. und 25.11. erhalten nach zeitweiliger Annullierung von Stimmen wegen Fiilschungen die nationalistische VMRO-DPMNE 37, die Kommunisten (SKM-PDP) 31, die a1banische Partei der demokratischen Prosperitat (PDP) 25, die Partei der Reforrnkrafte (SRSM) 18 und andere 8 Sitze von 120 Sitzen. In Bosnien-Herzegowina erringen am 18.11. und 2.12. bei den ersten freien Wahlen die muslimische Partei der demokratischen Aktion (SDA) 86, die Serbische Demokratische Partei (SDS) 72 und die kroatische HDZ 44 von 240 Sitzen in der ersten Kammer, die (ex)kommunistischen Parteien erringen 33 Mandate. DEZEMBER 1990: Der kommunistische Funktionar Kiro Gligorov wird am 9.12. Prasident in Makedonien. Am 9. und 23.12. erringen bei den ersten freien Wahlen in Serbien und Montenegro die Serbische Sozialistische Partei (SPS) mit 45 % Stimmen dank des Mehrheitswahlrechts 194 von 250 Sitzen in Serbien, Milosevic wird mit 65 % der Stimmen klar vor Vuk Draskovic (20 %) zum Prasidenten gewilhlt. Die Albaner boykottieren die Wahl. In Montenegro gewinnen die Kommunisten (SK) mit 83 von 120 Mandaten, Momir Bulatovic wird mit 77 % der Stimmen vor Stankovic Prasident. Am 20.12. wird Izetbegovic
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zum Prasidenten (Vorsitzenden des Staatsprasidiums) von Bosnien-Herzegowina gewahlt. Kroatien verabschiedet am 22.12. eine neue Verfassung, die Landesrecht fiber Bundesrecht stellt. Zugleich wird die kroatische ,,Krajina" von Vertretern der dortigen Serben zur autonomen Provinz erklart. Am 23.12. sprechen sich bei der Volksabstimmung in Siowenien bei einer 93 o/...igenWahlbeteiligung 88,S % fOr die Unabhiingigkeit aus. Ende des Monats beschlieBt Serbien eine GeldschOpfung zu eigenen Gunsten und zu Lasten der Bundeskasse. 1991
JANUAR 1991: Siowenien und Kroatien weigem sich nach dem serbischen "Einfall in das monetlire System Jugoslawiens" weitere FOderationsschulden anzuerkennen; Siowenien will seine Deviseneinkiinfte nicht mehr an die Bundeskasse abfiihren. Ein unter Mitwirkung der Geheimdienste fabrizierter Film im serbischen TV fiber Waffenldlufe des kroatischen Verteidigungsministers Martin Spegelj fiihrt zu Spannungen und einem Haftbefehl gegen den General. Das jugoslawische Staatsprasidium fordert die Entwaffnung "aller paramilitllrischen Truppen". Bei einem Treffen der Vertreter der jugoslawischen Republiken verkiindet Milo§evic, dass aile Serben in einem Staat vereint sein sollten. Ende Januar 1991, nach Verkiindigung der makedonischen Souveriinitat am 25.1., wird in Makedonien Gligorov yom dortigen Parlament als Prasident bestatigt. FEBRUAR 1991: Das slowenische Parlament verabschiedet am 20.2. mit einer Gegenstimme den Vorrang der Republikgesetze vor den Bundesgesetzen und empfieblt den Austritt aus Jugoslawien. Ahnliche Beschliisse werden einen Tag spater yom kroatischen Parlament gefasst. Serbische Politiker in mehreren Teilen Kroatiens proklamieren darauthin die Trennung von Kroatien und bringen mehrere Polizeistationen unter ihre Gewalt, so in Pakrac in Westslawonien. MARZ 1991: Lokale Politiker der SDS in Slawonien - Goran HadZic und Borivoje Savic - proklamieren die "Serbischen Autonomen Provinzen" Slawonien, Baranja und West-Srijem; am 1.3. kommt es zu den ersten ZusarmnenstOBen zwischen serbischen Aufstandischen und der kroatischen Polizei. Am 7.3. beschlieBt
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JUNI 1991: Bei einem emeuten Treffen der sechs Republikprilsidenten wird am 6.6. von Bosnien-Herzegowina und Makedonien ein KonfOderationsvorschlag vorgelegt, der vorsieht, dass sowohl die Einzelstaaten wie auch ihr Bund volkerrechtIiche Subjekte werden. Eine Woche spilter belegt die jugoslawische Bundesregierung Slowenien mit einem Importverbot, urn die Abfiihrung der Zolle an die Bundeskasse zu erzwingen. Die USA (AuBenminister James Baker) sprechen sich gegen die Selbstilndigkeit Sloweniens aus. Die KSZE votiert am 19.6. fur den Erhalt Jugoslawiens, ilhnlich die EG, die am 24.6. Jugoslawien einen Kredit gewilhrt. Doch am 25.6. erklilren die Parlamente von Slowenien und Kroatien die Unabhilngigkeit der jeweiligen Republik. Am 27.6. greift die JVA die Grenzposten Sloweniens zu Osterreich, den Flugplatz von Ljubljana und wahllos Hauptverkehrsverbindungen an. Nach erbittertem Widerstand der slowenischen Territorialverteidigung stellt die JVA ihre Operationen am 28.6. ein. Am 29.6. entsendet die EG die "Troika" aus den AuBenministem von Italien, Luxemburg und den Niederlanden nach Jugoslawien. JULI 1991: Stipe Mesic wird nach langem Weigem seitens serbischer Vertreter am 1.7. auf Druck der EG, die am 5.7. ein Waffenembargo fOr Jugoslawien beschlieBt, zum Bundesprilsidenten gewilhlt. Nachdem die JVA Mesics Oberbefehl anerkennt, werden die Kampfhandlungen in Siowenien eingestellt; Siowenien lilsst gefangene Soldaten der JVA frei. In Slawonien und der "Krajina" liefem sich Serben und Kroaten weiterhin Kilmpfe. Am 7.7. wird in Brioni ein Waffenstillstand vereinbart, Slowenien und Kroatien wird von der EG der Verzicht auf die Unabhilngigkeit fOr drei Monate abverlangt. Das Parlament Kroatiens stimmt am 8.7. zu, das Sloweniens und das jugoslawische Staatsprilsidium am 12.7. Wenige Tage spilter treffen erste EGBeobachter in Slowenien ein, und das Staatsprilsidium ordnet den ROckzug der JVA aus Slowenien innerhalb von drei Monaten an. Am 15.7. greift im kroatischen Petrinja, wo bereits serbische Nationalisten die Reprilsentanten der Kroaten vertrieben haben, die JVA erstmals die kroatische Nationalgarde an. AUGUST 1991: Panzer der JVA greifen am 1.8. Dorfer bei Osijek in Kroatien an. Bei einem Angriff auf den Ort Dalj, in den sich kroatische Polizisten zurUckgezogen haben, werden mindestens 80 Polizisten und Zivilisten von der JVA und serbischen Tschetniks getotet. Ein von der EG-Troika ausgearbeiteter Friedensplan wird von Serbien zurUckgewiesen, da es keinen Krieg fOhre. Am 6.8. beschlieBt die EG daraufWirtschaftssanktionen, die nach einem weiteren Beschluss gezielt Serbien angedroht werden, was auch von den USA unterstOtzt wird. Trotzdem fiihrt die JVA heftige Angriffe in West-, dann auch Ostslawonien durch und besetzt Beli Manastir und das Gebiet der Baranja. Am 25.8. wird Vukovar erstrnals angegriffen. SEPTEMBER 1991: Nachdem die EG mit Mesic und den sechs Republikvertretem eine Einigung Ober die Beilegung des serbisch-kroatischen KonfIikts erzielt hat, wird in Belgrad ein Waffenstillstand unterzeichnet, der jedoch gebrochen wird. Unter der Leitung von Lord Carrington wird in Den Haag verhandelt, am 10.9. wird eine Schiedskommission unter dem franzosischen Verfassungsgerichtsprilsidenten Robert Badinter, bestehend aus seinen Amtskollegen aus den EG-Liindem, darunter auch der deutsche Roman Herzog, eingerichtet. Nach JVA-Luftangriffen in Dalmatien und dem kroatischen Befehl yom 14.9., aile JVA-Kasemen zu blockieren, verrnittelt Carrington am 17.9. einen weiteren Waffenstillstand, der nicht eingehalten wird. Die JVA, die innerhalb von fOnfTagen 36 Kasemen in Kroatien aufgeben muss, blockiert von Mitte September bis in den Dezember hinein die kroatischen Adriahilfen. In der Nilhe von Zadar werden kroatische Bewohner der Dorfer Skabmja und Nadin umgebracht. In Bosnien-Herzegowina wird am 12.9. die serbische autonome Region "SAO Herzegowina", am 16.9. die analoge "Bosanska Krajina" und am 17.9. die ,,Romanija" ausgerufen. In Makedonien wird am 15.9. die Unabhilngigkeit proklamiert, nachdem ein von den A1banem boykottiertes Referendum 95 % Zustimmung ergeben hat. 1m Kosovo wird am 22.9. durch das verbotene Parlament die "Republik Kosova" ausgerufen, ein illegal durchgefiihrtes Referendum Ende September ergibt eine Ober 90 %ige Zustimmung der Kosovo-A1baner zur Unabhilngigkeit bei 87 % Beteiligung. Am 25.9. verabschiedet der UN-Sicherheitsrat mit der Stimme Jugoslawiens die Resolution 713 Ober ein umfassendes Waffenembargo gegen ganz Jugoslawien. Am selben Tag wird die kroatische Arrnee aus Polizei und Nationalgarde gebildet, der Generalstab schon am 21.9. OKTOBER 199 I: Der aus Vertretem Serbiens, der Vojvodina, des Kosovo und Montenegros bestehende Rest des jugoslawischen Staatsprilsidiurns Obemimmt am 3.10. die Funktionen von Bundesregierung undparlament. Vorsitzender des Prilsidiurns wird Branko Kostic. Nachdem viele Gebiete Kroatiens seit Wochen massiven Angriffen der JVA und serbischer Freischilrler ausgesetzt sind, wird am 6.10. die Mobilisierung angeordnet. Tags darauf wird in Zagreb der Regierungssitz in einem Luftangriff der JVA gezielt mit Raketen beschossen. Nach dem Ablaufen des EG-Moratoriums setzen Slowenien und Kroatien ihre Unabhilngigkeit am 8.10. in Kraft. Am selben Tag beginnt mit der Emennung von Cyrus Vance zum UN-Sonder-
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beaufuagten fur Jugoslawien das UNO-Engagement. Siowenien fiihrt am 8.10. die Wahrung Tolar ein, am 26.10. verlassen die letzten JVA-Truppen das Land. Doch die KlImpfe in Kroatien dauem unvermindert an, Tausende Kroaten werden aus Slawonien vertrieben; Dubrovnik wird aus der Luft und Yom Meer angegriffen, wertvolle Baudenkmlller werden beschiidigt; auch die historischen Villen im Hinterland von Dubrovnik werden verwiistet. In Den Haag wird Carringtons Friedensplan von Serbien und Montenegro abgelehnt. Am 12.10. greift die JVA in der Ostherzegowina an und macht das von Kroaten bewohnte DorfRavno (in der mehrheitlich serbischen Region) dem Erdboden gleich. Am 15.10. beschlieBt das Republikparlament Bosnien-Herzegowinas, das die Abgeordneten der serbischen SDS bereits verlassen haben, in Sarajevo die staatliche Unabhiingigkeit. 1m Kosovo werden am 21.10. aus den bisherigen Abgeordneten des Landesparlaments Untergrund-Regierung und -Parlament gebildet. Am 24.10. bilden die bosnischen Serben ein Parlament und eine "Staatsfuhrung" unter dem Prasidenten Radovan KaradZic in Banja Luka. Ende des Monats sprechen sich die Muslime im serbischen SandZak in einem (illegalen) Referendum in Eigenregie fiir eine kulturell-territoriaIe Autonomie aus. NOVEMBER 1991: Die vierte Konferenz in Den Haag scheitert, da Serbien und Montenegro die Bezeichnung von Siowenien und Kroatien als unabhiingige Republiken ablehnen. Am 8.11. kiindigt die EG das Handels- und Kooperationsabkommen mit Jugoslawien und friert die Finanzhilfe ein; die Mitgliedschaft Jugoslawiens im Europarat wird am 25.11. suspendiert. Am 9.11. organisieren die serbischen Nationalisten ein Referendum iiber einen gemeinsamen Staat der bosnischen Serben mit Serbien, Montenegro und der "Serbischen Republik Krajina" in Kroatien und geben danach 90 % Zustimmung an. Danach entstehen auch autonome kroatische Gebiete in der Herzegowina (Herceg-Bosna, Posavina). Am 15.11. vereinbart die JVA mit Kroatien die Raumung von 40 blockierten Kasemen. Am 18.11. wird das durch massiven Beschuss wahrend der 87-tagigen Belagerung vollkommen zerstorte Vukovar von der JVA erobert; die ca. 14.000 Einwohner von einst 45.000 werden nach Kroatien vertrieben, ein Teil nach Serbien verschleppt und in Gefangenschaft genommen. Die serbischen Einheiten ermorden dabei iiber 260 Insassen eines Krankenhauses, die erst Jahre spater aus dem Massengrab Ovcara exhumiert werden konnen. Kurz zuvor war auch Split wieder von der JVA beschossen worden, ebenso das belagerte Osijek und andere slawonische Stadte. Makedoniens Verfassung aIs unabhiingiger Staat tritt am 20.11. nach der Zustimmung durch das Parlament in Kraft. Am 21.11. wird die serbische autonome Region "Nordbosnien" prokiamiert. Am 23.11. erreicht Vance in Genf die Zustimmung eines Riickzugs der IVA aus Kroatien. Die UN-SicherheitsratsResolution 715 yom 28.11. umfasst friedenserhaltende Truppen fiir Iugoslawien nach Abschluss eines Waffenstillstandes. DEZEMBER 1991: Am 4.12. verhiingen die USA Sariktionen gegen Jugoslawien, nachdem schon am 2.12. die EG die Wirtschaftssanktionen fur kooperative Republiken, nicht jedoch fur Serbien und Montenegro aufgehoben hat. Die Forderung der EG nach einem Minderheitenschutz erfiillt das kroatische Parlament am 4.2. Am 8.12. stellt die Badinter-Kommission fest, dass Jugoslawien sich in Aufiosung befinde, weshaIb die Unabhiingigkeitserkiarungen nicht aIs Sezession anzusehen seien. Die UNO warnt am 15.12. in Sicherheitsrats-Resolution 724 vor der Anerkennung Sioweniens und Kroatiens und schlagt die Entsendung von Friedenstruppen vor. Nachdem die EG am 17.12. die Anerkennung Sioweniens und Kroatiens bis 15.1.1992 in Aussicht gestellt hat, beschlieBt die deutsche Regierung am 19.12. die definitive Anerkennung in der gleichen Frist, wenn bis 23.12. ein entsprechender Wunsch vorliegt. Serbische Einheiten zerstoren am 18.12. den slawonischen Ort Vocin. Am 19.12. prokiamiert sich die "Serbische Republik Krajina" in Kroatien. Am 20.12. tritt der letzte gesamtjugoslawische Ministerprasident Ante Markovic zuriick, fiinfzehn Tage nach dem letzten Staatsprasidiumsprasidenten Mesic. Ende des Monats werden weiterhin kroatische Stadte bombardiert. In Siowenien ist mittlerweile eine neue Verfassung in Kraft, und nach Zerbrechen der DEMOS-KoaIition regiert eine Minderheitsregierung unter Lojze Peterle.
1992 JANUAR 1992: In Sarajevo wird am 2.1. der Vance-Friedensplan zwischen Kroaten und IVA aIs bisher 15. Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet und aIs erster auch eingehaIten. Am 7.1. kommen beim Abschuss eines Hubschraubers durch die JVA fiinfEG-Beobachter urn. Tags daraufbeschlieBt der UN-Sicherheitsrat die Entsendung von 50 Militarbeobachtem nach Kroatien. Der Schutz der Serben in Kroatien durch UN-Truppen wird von Milosevic aIs Begriindung fur die Einstellung der KlImpfe in Kroatien angegeben. Am 9.1. schlieBen sich die serbischen "autonomen Gebiete" zur Serbischen Republik in Bosnien-
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Herzegowina (Republika Srpska) zusammen. In Makedonien organisieren Albaner am 10. und 11.1. ein (illegales) Referendum, das iiber 90 % Zustimmung zu ihrer Unabhiingigkeit ergibt. Die Badinter-Kommission haIt am 11.1. fest, dass Kroatien in seinem Minderheitenschutz noch Miingel aufweise, ansonsten aber die Voraussetzungen fur eine Anerkennung durch die EG erfiille. Am 13.1. werden Kroatien und Siowenien yom Vatikan, am 15.1. von der EG und von Qsterreich, Schweiz, Schweden, Finnland, Polen, Ungarn und Bulgarien anerkannt. Am 25.1. beschlieBt das Parlament von Bosnien-Herzegowina eine Volksabstimmung iiber die Unabhiingigkeit, die von KaradZic a1s KriegserkUlrung an die Serben bezeichnet wird. FEBRUAR 1992: An der Spitze der HDZ in Bosnien-Herzegowina wird Stjepan K1juic, der fur den Erhalt der Republik pladierte, yom Anhiinger Tudrnans und eines Anschlusses an Kroatien, Mate Boban, abgelost. Am 11.2. vereinbart Makedonien mit der JVA deren Abzug. Die UN-Sicherheitsrats-Resolution 743 vom 21.2. umfasst die Stationierung von 14.000 Mann (UNPROFOR) in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens, dort die Entmilitarisierung, die Stationierung einer Zivilpolizei und die militarische Beobachtung in vier "Schutzzonen" UNPAs. (Protection Area) Am 26.2. wird die "Republik Serbische Krajina" aus den drei "Autonomen Regionen" der Serben in Kroatien zusammengeschlossen, Prasident wird Goran HadZic. Es erfolgt keinerlei internationale Anerkennung, auch nicht aus Serbien. MARZ 1992: Das am 29.2. begonnene Referendum in Bosnien-Herzegowina iiber die Unabhiingigkeit ergibt am 1.3. bei einer Wahlbeteiligung von 64 % (unter serbischem Boykott) 99 % Zustimmung. Gleichzeitig votieren in Montenegro unter a1banisch-muslimischem Boykott etwa 95 % der 63 % Referendumsteilnehmer fur ein erneuertes "Jugoslawien". Am 1.3. feuert ein Krimineller auf eine serbische Hochzeitsgesellschaft in Sarajevo, worauf erste Barrikaden von Serben errichtet werden. Die Unabhiingigkeit Bosnien-Herzegowinas wird am 3.3. verkiindet. Ab dem 6.3. brechen in ganz Bosnien-Herzegowina Kampfe aus. Ein am 9.3. von der EG bei ihrer zehnten Jugoslawien-Konferenz vorgelegter Verfassungsentwurf fiir Bosnien-Herzegowina wird von den Serben wegen der Beschneidung ihrer Souveriinitat zuriickgewiesen. Am 17.3. wird der von der EG mit den Vertretern der drei Nationalitaten in Lissabon ausgehandelte Plan fiir Bosnien-Herzegowina mit "selbstverwalteten Kantonen" vorgelegt. Unzufrieden mit der Aufteilung weist am 24.3. die HDZ, tags darauf die SDA die Lissaboner Erklarungjedoch zuriick. In Bosanski Brod und Goraide wird erbittert gekampft. Am 24.3. werden Siowenien und Kroatien in die KSZE aufgenommen. Am 27.3. verabschieden die bosnischen Serben eine Verfassung, die die Serbische Republik BosnienHerzegowina als integralen Bestandteil Jugoslawiens definiert. Ab 27.3. fiihren die "Tiger"-Einbeiten des Milizenfiihrers Arkan gezielte Schlage gegen wichtige logistische Punkte in Nord- und Ostbosnien. Ein Kongress serbischer Intellektueller in Sarajevo fordert unter der Agide der SANU (Serbische Akademie) am 29.3. die Verwandlung Bosnien-Herzegowinas in eine "dreiteilige Gemeinschaft". APRIL 1992: Die SDS zieht am I. 4. die Mitarbeiter aus dem Innenministerium von Bosnien-Herzegowina zuriick und kiindigt die Aufstellung einer serbischen Polizei an. Am 4. 4. wird von Verwiistungen und Massakern berichtet, die Arkans Einheiten in der nordbosnischen Stadt Bijeljina anrichteten. Damit beginnt die serbische Offensive in Ostbosnien. Bis Ende des Monats wird die Mehrheit der Muslime aus den StMten Zvornik, Visegrad, Foca vertrieben, eine unbekannte Zahl umgebracht. Uberall werden die Moscheen gesprengt; in Foca die beriihme Aladscha-Moschee aus dem 16. Jh. In Makedonien proklamieren Albaner am 5. 4. eine "Albanische Autonome Republik Illirida". Ab dem 5. 4. intensivieren sich in Sarajevo und anderen Orten die serbischen Angriffe; der bosnisch-herzegowinische Regierungschef Pelivan tritt zuriick. Bosnien-Herzegowina wird am 6.17. 4. von der EG und den USA anerkannt, zugleich erkennen die USA auch Slowenien und Kroatien an. AIle serbischen Regierungsmitglieder in Bosnien-Herzegowina treten zuriick. Die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina mit der Hauptstadt Banja Luka wird proklamiert, "Regierungssitz" wird Pale. Am 8. 4. erklart das Staatsprasidium von Bosnien-Herzegowina den Ausnahrnezustand und iibernimmt die Regierung und den Oberbefehl iiber die zu griindenden Streitkrafte. Am selben Tag begehen Einheiten Arkans in der Stadt Zvornik weitere Massaker. Am 10. 4. greift die Artillerie der JVA mehrere kroatische Stadte an, es folgen gemeinsame Angriffe serbischer Truppen und der JVA auf muslimische und kroatische Stadte. Widerstand wird in der Herzegowina von dem dort gegriindeten Kroatischen Verteidigungsrat (HVO) und den Einheiten der Kroatischen Rechtspartei (HOS) geleistet. Die Einheiten der bosnischen Serben bringen immer mehr Gebiete unter ihre Gewalt, was zur Flucht und Vertreibung Hundertausender fuhrt. In Banja Luka vertreiben serbische BehOrden Kroaten und Muslime in Zusamenarbeit mit der JVA, die in der Nahe die Internierungslager Manjaca und Trnopolje
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errichtet. Am 12. 4. einigen sich die drei Seiten in Bosnien-Herzegowina auf einen Waffenstillstand, der nicht eingehalten wird. Am IS. 4. wird Serbien von den USA als Aggressor verurteilt. Am 20. 4. setzt die EG ihre Friedensmission aus. Tags daraufwerden in Sarajevo Fernsehen und Elektrizitatswerk beschossen. Am 27.4. proklamieren Serbien und Montenegro die ,,Fiiderative Republik Jugoslawien" (auch: Bundesrepublik Jugoslawien) und erklilren sie zur Rechtsnachfolgerin der SFRJ, was zur Verweigerung der Anerkennung durch die UNO fiihrt. In der Folge wird Jugoslawien aus der KSZE ausgeschlossen, die am IS. 4. ein Ultimatum zur Einstellung der Kilmpfe gestellt hat. In Slowenien ist unterdessen nach einem Misstrauensvotum gegen Peterle Janez Drnovsek zum neuen Ministerprasidenten gewiihlt. MAI 1992: Bosnien-Herzegowina ist seit dem 1.5. das 52. Mitglied der KSZE. Am 2.5. wird Izetbegovic von JVA-Einheiten einen Tag lang als Geisel gefangen gehalten. Am 4.5. legt dasjugoslawische Staatsprasidium den Oberbefehl iiber die JVA in Bosnien-Herzegowina nieder und ruft die aus der Ftideration Jugoslawien stammen den Soldaten zuriick. In der JVA werden iiber vierzig Generiile entlassen, darunter der Nachfolger des Verteidigungsministers Kadijevic, Blagoje AdZic, und der Oberbefehlshaber aus Sarajevo Milutin Kukanjac. Die JVA spaltet sich in die "Arrnee der serbischen Republik Bosnien-Herzegowina" und die "Arrnee Jugoslawiens" (VJ). Am 6.5. treffen in Graz Boban und KaradZic zu Verhandlungen zusammen. Am 8.5. wird in Kroatien die Stilrkung der Minderheitenrechte beschlossen, zwei Gebiete mit serblscher Mehrheit sollen einen Autonomiestatus erhalten. Am 11.5. rufen die EG-Staaten ihre Botschafter aus Belgrad zuriick, zuvor waren die EG-Beobachter aus Bosnien-Herzegowina abberufen worden, nachdem einer von Ihnen umgekommen war. Das Parlament der bosnischen Serben setzt am 12.5. ein Staatsprasidiurn unter dem Prasidenten KaradZic sowie eigene Streitkrafte unter dem Kommando von General Ratko Mladic ein. Am 14.5. wird die Arrnee von Bosnien-Herzegowina (ARBiH) offiziell konstituiert. Ab dem 20.5. ist die JVA offiziell nicht mehr in Bosnien-Herzegowina prasent. An vielen Orten der Republik wird erbittert gekilmpft, etwa eine Million Menschen sind auf der Flucht. Am 22.5. werden Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina in die UNO aufgenommen. Sieg der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) mit 76 % bei den illegalen Parlaments- und Prasidentschaftswahlen vom 24.5. im Kosovo, Ibrahim Rugova erhiilt als einziger Prasidentschaftskandidat 99 %, Regierungschefwird Bujar Bukoshi. In Sarajevo werden am 27.5. achtzehn Zivilisten von einer Granate gettite!. Tags daraufbeschlieBt die EG Sanktionen gegen die FR Jugoslawien, am 30.5. folgt Resolution 757 des UN-Sicherheitsrats iiber ein 01- und Handelsembargo, die Unterbindung des Flugverkehrs und das Einfrieren der Auslandskonten. Muslime aus Kozarac und Prijedor in Nordbosnien werden in die Lager Keraterrn oder Omarska gebracht, wo sie gefoltert, viele umgebracht werden. Aus Bosanski Novi werden viele Muslime in Ziigen nach Kroatien deportiert. Oft miissen sie unterschreiben, dass sie "dauerhaft" die Gemeinde verlassen und dieser ihr Eigentum iiberlassen. Junge Frauen werden verschleppt und systematisch vergewaltigt, die beriichtigste Einrichtung dazu ist in Luka bei Brcko. Die Wahlen in der FR Jugoslawien am 31. 5. ergeben unter Oppositionsboykott eine Beteiligung von 56 %. In der ersten Kammer erhalten die serbischen Sozialisten 73, die montenegrinischen Sozialisten 23 der insgesamt 138 Sitze. Die Radikale Partei Vojislav Seseljs erMlt 30 Sitze. JUNI 1992: Am 3.6. bescheinigt die Badinter-Kommission, dass in Kroatien nun ausreichender Minderheitenschutz gewahrt werde. Die letzten Einheiten der JVA verlassen am 6.6. Sarajevo, das gleich anderen Zielen wie Dubrovnik weiter beschossen wird. Am 8.6. beschlieBt der UN-Sicherheitsrat in Resolution 758, den Flughafen von Sarajevo mit lIDO Blauhelmen zu sichern, urn die Verteilung der humanitilren Hilfe zu errntiglichen. Am 15.6. wird Dobrica Cosic, Schriftsteller und SANU-Mitglied, zum Prasidenten der FR Jugoslawien gewiihlt. Zuvor war die Politik Serbiens von einigen Akademiemitgliedern kritisiert worden. Die EG erkennt auf Druck Griechenlands die Unabhilngigkeit Makedoniens nicht an. Am 16.6. treffen Izetbegovic und Tudman ein militilrisches Biindnis. Beim ZUriickschlagen der serbischen Belagerer von Mostar durch HVO und HOS kilmpfen Kroaten und Muslime gemeinsam. Doch am Kupres-Pass, einem wichtigen Zugang nach Bosnien von Westen, wird der HVO in schweren Kiimpfen von den serbischen Einheiten geschlagen. Am 19.6. fordern die AuBenrninister der Islamischen Konferenz ein internationales militilrisches Vorgehen gegen die Serben. Im Kosovo wird am 23.6. die konstituierende Sitzung des Parlaments durch serbische Polizei verhindert. Am 28.6. besucht der franztisische Prasident Mitterrand das umkilmpfte Sarajevo, am 29.6. wird dort der Flughafen von den Serben an die UNO iibergeben, deren Generalsekretilr durch die UN-Sicherheitsratsresolution 761 zum Einsatz weiterer Truppen errnachtigt wird. JULl 1992: Milan Panic, der lange in den USA gelebt hatte, wird am 1.7. zum Ministerprasidenten Jugoslawiens gewiihlt. US-Kriegsschiffe kreuzen zeitweilig vor der Adriakiiste, der Beschuss von Dubrovnik
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wird dadurch nicht gestoppt. Am 2.7. iibernimmt die UNPROFOR die Kontrol1e iiber alle Schutzzonen in Kroatien, wird aber in der Foige keine Riickkehr der vertriebenen Kroaten durchsetzen. Ab 2.7. wird der Flughafen Sarajevo fUr eine EG-Luftbriicke geniitzt. Am 3.7. proklamieren die Fiihrer der HDZ eine "Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna" unter der Fiihrung von Mate Boban. Am 9.7. verkiinden Tudman und lzetbegovic die Wahrung der bosnisch-herzegowinischen Integritlit gegen die serbische Aggression und beschlieBen auch formel1 eine militarische Zusanunenarbeit. Am 10.7. beschlieBen Nato und WEU, das Embargo gegen die FR Jugoslawien mit Kriegsschiffen durchzusetzen. Daraus wird der erste Nato-Einsatz mit UN-Mandat. Die KSZE beschlieBt die Entsendung von Beobachtern nach Jugoslawien, das a1s Hauptaber nicht A1leinschuldiger am Krieg verurteilt und von den Beratungen der KSZE ausgeschlossen wird. Mitte des Monats richtet sich die serbische Offensive auf die Herstel1ung einer Verbindung zwischen ,,Krajina" und Serbien. Das von Serben belagerte GoraZde wird beschossen. Am 15.7. setzt Lord Carrington in London die Friedensverhandlungen fort. Ein am 19.7. in Bosnien-Herzegowina geschlossener Waffenstillstand wird in weniger als zwei Stunden bereits wieder gebrochen. Am 26.7. beschlieBt das Parlament der bosnischen Serben die Grenzen einer "Republika Srpska" auf dem von ihnen ZII diesem Zeitpunkt kontrollierten Territorium von iiber 2/3 Bosnien-Herzegowinas. AUGUST 1992: Bei den ersten direkten Priisidentschaftswahlen in Kroatien am 2.8. siegt Tudman mit 57 % vor Draien Budi~a 22 % (Kroatische Sozialliberale Partei HSLS). 1m Parlament erringt die HDZ 85 Sitze (41,3 % der Stimmen), die HSLS 14 (17,3 %), die kleineren Parteienjeweils nicht mehr a1s 8 Sitze. US-Priisident George Bush droht am 6.8. mit der Entsendung von Bodentruppen nach Bosnien-Herzegowina zur Sicherung der Hilfslieferungen, am 11.8. wird dies auch vom Kongress gefordert, ebenso der Zugang zu Gefangenenlager. Zuvor hatten sich Meldungen iiber Verbrechen in den serbischen Lagern Omarska, Manjaca, Keraterm und Trnopolje in Bosnien-Herzegowina gehauft. Am 13.8. verurteilt der UN-Sicherheitsrat in Resolution 771 die ethnischen Siiuberungen und beschlieBt in Resolution 770, mit "allen erforderlichen MaBnahmen" die Hilfslieferungen durchzusetzen. Dieser Forderung schlieBt sich am 14.8. die KSZE an. Bei einer Konferenz des UNHCR am 13. und 14.8. wird der ehemalige polnische Ministerpriisident Tadeusz Mazowiecki zum UN-Sonderbeauftragten fUr Meschenrechte ernaunt. Lord Owen folgt Lord Carrington, der am 25.8. sein Amt niederlegt, als EG-Friedensunterhiindler. Am 26.-28.8. bringt die Londoner Jugoslawien-Konferenz erstmals al1e Konfliktparteien an einen Tisch. Ende des Monats legt Mazowiecki einen ersten Bericht iiber Menschenrechtsverletzungen vor und empfiehlt einen UN-Einsatz zur Verteidigung der Zivilbevolkerung. SEPTEMBER 1992: Der Europarat lehnt den Aufnahmeantrag Kroatiens wegen mangelnder Einhaltung der Menschenrechte am \.9. abo Am 3.9. stiirzt ein italienisches Transportflugzeug bei Sarajevo, wahrscheinlich von einer Rakete getroffen, ab, worauf die UNO die Fliige mit Hilfslieferungen einstel1t. Am 3.9. nimmt die Jugoslawien-Konferenz unter Vorsitz von Vance und Owen a1s stiindige Einrichtung von EG und UNO ihre Arbeit auf. In Makedonien wird am 4.9. eine Koalitionsregierung unter Branko Crvenkovski und der Beteiligung von a1banischen Parteien gebildet. In Serbien scheitert am 4.9. ein Misstrauensantrag der Sozialistischen Partei Serbiens und der Serbischen Radikalen Partei gegen Ministerpriisident Milan Panic. Ein iranisches Flugzeug mit Waffen fur Bosnien wird am 10.9. von Kroatien zuriickgeschickt. Am 14.9. begegnen Tudman und lzetbegovic den ersten bosniakisch-kroatischen Feindseligkeiten in Mittelbosnien mit einer Vereinbarung zu deren Einstel1ung; Resolution 776 des UN-Sicherheitsrats sieht die Aufstockung der UNPROFOR-Truppen von 1.500 auf 6.000 Maun in Bosnien-Herzegowina vor. Am 17.9. nimmt die serbische Artillerie den Beschuss von Sar~evo wieder auf, der zuletzt Ende August besonders massiv gewesen war. Am 19.9. weist Resolution 777 des UN-Sicherheitsrats den Anspruch Jugoslawiens aufRechtsnachfolge der SFRJ und damit auf den Sitz in der UNO zuriick. Am 22.9. schlieBt die UN-Hauptversanunlung Jugoslawien mit 127 gegen 6 Stimmen, davon neben Jugoslawien funf afrikanische Staaten, und 26 Enthaltungen aus. Am 23.9. unterzeichnen Tudman und lzetbegovic ein Abkommen zur militiirischen Koordination. Am 30.9. unterschreiben Tudman und Cosic eine Erkliirung iiber die Normalisierung der kroatisch-jugoslawischen Beziehungen und den serbischen Riickzug von der Halbinsel Prevlaka bei Dubrovnik, auf der eine entmilitarisierte Zone unter UN-Schutz errichtet wird. Ende des Monats liegen erste Berichte vor, dass muslimische Frauen systematisch vergewaltigt werden. OKTOBER 1992: Der franzOsische General Philippe Morillon iibernimmt das Kommando iiber die UNPROFOR in Bosnien. Am 3.10. wird Sarajevo wieder aus der Luft versorgt. Die Resolution 779 des UNSicherheitsrats vom 6.10. unterstiitzt den zwischen Tudman und Cosic vereinbarten Austausch von gefan-
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genen Zivilisten und fordert den ROckzug der Jugoslawischen Armee aus Kroatien. Resolution 780 sieht die Errichtung eines Kriegsverbrechertribunais vor. Serbische Truppen nehrnen Bosanski Brod ein, nachdem sich die HVO-Truppen zuriickgezogen haben, und sprengen die Save-Briicke nach Kroatien. Nun sind die bosnisch-serbischen Gebiete bis nach Kroatien (zur ,,Krajina") zusanunengeschlossen. Am 9.10. verabschiedet der UN-Sicherheitsrat in Resolution 781 ein Flugverbot Ober Bosnien-Herzegowina, definiert aber nicht, wie VerstaBe zu ahnden sind. Am 19.10. treffen erstrnais Izetbegovic und Cosic zusanunen. In Zentraibosnien kommt es zu Kilmpfen zwischen Muslimen und Kroaten. Am 16.10. wird offiziell die "Serbische Armee der Krajina" (SVK) gegriindet. Am 20.10. beenden die Serben nach dreizehn Monaten die Belagerung von Dubrovnik. Am 22.10. berichtet Mazowiecki Ober Massengrllber in Vukovar und warnt vor dem drohenden Valkermord an den Muslimen. Am 25.10. wird Mostar zur Hauptstadt von "HercegBosna" proklamiert, das die bis dahin gebildeten kroatischen "Gemeinschaften" zusanunenschlieBt. Nach der Einnahme von Jajce durch die Serben am 28.10. fliehen die meisten Muslime nach Travnik, die Kroaten nach Mostar, nachdem sie funf Monate lang gemeinsam Widerstand geleistet haben; die serbische Offensive kommt danach zum Erliegen. NOVEMBER 1992: Die Serben aus Bosnien und Kroatien beschlieBen am 31.10. f 1.11. in Prijedor, eine "Union der Serbischen Staaten" mit gemeinsamer Armee zu bilden, was aber nicht umgesetzt wird. Izetbegovic und Tudman verurteilen am 1.11. die ZusanunenstaBe zwischen der ARBiH und dem HVO in Mittelbosnien, worauf diese zuriickgehen, in Mostar aber zunehrnen. In Makedonien kommen bei Auseinandersetzungen albanischer Demonstranten mit der Polizei vier Menschen urn. Am 7.11. sind UNPROFORTruppen erstrnals in einen Kampfeinsatz verwickelt. Am 10.11. wird Mile AkmadZic Ministerprasident einer Koaiitionsregierung aus HDZ und SDA in Bosnien-Herzegowina. UN-Sicherheitsrats-Resolution 787 yom 16.11. sieht bei den Sanktionen gegen Jugoslawien auch eine Hafenblockade und die Genehrnigungspflicht fur Transitiieferungen durch das Krisengebiet vor, am 18.11. unterstOtzt der Nato-Rat die Seeblokkade. In den folgenden Tagen kommen nach langen Behinderungen die ersten UN-Hilfskonvois in die von den Serben belagerten StMte Tuzia, Gor!iZde und Srebrenica durch. DEZEMBER 1992: Nach UNHCR-Schiltzungen hat def Krieg mittlerweile zu 3 Millionen FIOchtlingen gefOhrt, davon 1,7 Millionen in Bosnien-Herzegowina. Bei den Wahlen in Siowenien am 6.12. siegen die Liberaidemokraten mit 22 von 90 Sitzen VOl den Christdemokraten (15 Sitze), einer Vereinigten Liste (14), der Siowenischen Nationaipartei (12) und kleineren Parteien mitje bis zu 10 Sitzen. Milan Kucan wird mit 64 % vor dem Christdemokraten Bizjak (21 %) als Prasident wieder gewahlt. Am 11.12. beschlieBt der UN-Sicherheitsrat in Resolution 795 die prllventive Stationierung von UN-Truppen in Makedonien. Jugoslawien wird am 15.12. yom Intemationaien W1ihrungsfonds ausgeschlossen. Am 16.12. werden in Genf die intemationalen Friedensverhandlungen fortgesetzt. In einer yom US-AuBenminister Lawrence Eagleburger vorgelegten Liste von Kriegsverbrechem sind auch Milosevic, Mladic und KaradZic enthalten. Letzterer wird am 18. 12. yom Parlament der bosnischen Serben ais Prasident der "Serbischen Republik Bosnien" bestiitigt, nachdem dieses Parlament den Krieg fOr beendigt erklart hat. Resolution 798 des UN-Sicherheitsrats verurteilt die Massenvergewaltigungen von Musliminnen und fordert die sofortige SchlieBung aller Intemierungslager. Am 20.12. wird bei den Wahlen in Jugoslawien Milosevic (56 %) vor Milan Panic (34 %) als Prasident bestlltigt. Von 138 Parlamentssitzen ("Rat der BOrger") erringt die Sozialistische Partei SPS 47, die Serbische Radikale Partei SRS 34, das OppositionsbOndnis DEPOS 20, die Demokratische Sozialistische Partei Montenegros 17, kleinere Parteien bis zuje fOnfSitze. In Serbien gewinnt die SPS 101 von 250 Sitzen, die SRS 73 und DEPOS 49. Bei den Prasidentschaftswahlen in Montenegro liegt Momir Bulatovic vor Kostic. Am 29.12. wird der jugoslawische Ministerprasident Panic durch Misstrauensantrag gestOrzt, Nachfolger wird Kontic.
1993 JANUAR 1993: Verhandlungen in Genfunter Beteiligung der Prasidenten Jugoslawiens, Bosniens und Kroatiens ab 2.1. Ober den "Vance-Owen-Plan" zur Aufteilung Bosnien-Herzegowinas in zehn autonome gemischt-ethnische Provinzen. Am 4.1. unterzeichnet Mate Boban fur die Kroaten, Izetbegovic und Karadzic lehnen abo Am 8.1. wird in Sarajevo der stellvertretende Ministerprasident von Bosnien-Herzegowina Hakija Turajlic in einem gepanzerten UN-Fahrzeug von Serben getatet. Izetbegovic verlasst die Genfer Friedensverhandlungen. Am 10.1. wird Bulatovic in einer Stichwahl ais Prasident Montenegros wieder gewahlt. In Zentralbosnien flammen die muslimisch-kroatische Kilmpfe wieder auf. Ab 11.1. wird in Genf
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weiterverhandelt, Milo§evic fordert die bosnischen Serben zur Annahme des Vance-Owen-Plans auf, worauf KaradZic einwilligt, die Entscheidung aber dem Parlament in Pale iiberlilsst. Dieses nimrnt am 20.1. mit 55 gegen 15 Stimrnen den Plan, aber nicht die mit ibm verbundene Karte an. Daher werden am Ende des Monats die Verhandlungen in Genf abgebrochen. Am 19.1. werden Kroatien und Siowenien, dessen Ministerprilsident Drnov§ek die Wahlen erneut gewonnen hat, in den Internationalen Wahrungsfonds aufgenommen. Nach seiner Offensive im Hinterland von Zadar und Angriffen auf Ziele in den erweiterten UNSchutzzonen (Rosa Zonen) wird Kroatien in UN-Resolution 802 am 25.1. zurn Riickzug aufgefordert. FEBRUAR 1993: Am 7.2. gewinnen Tudman und die HDZ knapp die ersten freien Kommunalwahlen in Kroatien. Anlilsslich weiterer Verhandlungen in New York kritisiert US-Prilsident Clinton den Vance-OwenPlan, der von Russland unterstUtzt wird. Clinton stellt am 10.2. einen 6-Punkte-Plan vor, der einen militlirischen Einsatz der USA nicht ausschlieBt. US-Sonderbeauftragter wird Reginald Bartholomew. Am 12.2. beschlieBt der Stadtrat Sarajevos die UN-Hilfe abzulehnen, urn die Versorgung Ostbosniens zu erwingen. Nach der Einstellung der Hilfslieferungen durch den UNHCR fordert am 19.2. UN-Generalsekretlir Boutros Ghali die Wiederaufnahme. Clinton pUtdiert fur eine Versorgung aus der Luft. UN-Sicherheitsrats-Resolution 808 vom 22.2. sieht nochmals die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals vor. MARZ 1993: Die US-amerikanische "Operation Provide Promise" mit Lebensmittelabwiirfen iiber Ostbosnien beginnt. Am 3.3. unterzeichnet lzetbegovic die Passagen des Vance-Owen-Plans iiber den Waffenstillstand, doch die Friedensverhandlungen werden wieder abgebrochen. Ab 8.3. filhren die bosnisch-herzegowinischen Truppen eine Gegenoffensive in Ostbosnien. In Montenegro ist eine neue Regierung unter Milo Elukanovic im Amt. Am 11.3. trim UNPROFOR-Oberbefehlshaber Morillon in Srebrenica ein, dessen seit elf Monaten eingeschlossenen 60.000 Bewohnern er Hilfe und Schutz zusagt. Eine Woche spiiter folgen die ersten UN-Hilfskonvois, die auf dem Riickweg Verletzte nach Tuz1a evakuieren. AufUS-amerikanischen Druck sagt die Nato 50.000 Soldaten fur Bosnien-Herzegowina zu, wenn der Vance-Owen-Plan unterzeichnet wird. Dies geschieht fur die bosnisch-herzegowinische Seite nochmals durch lzetbegovics Unterschrift am 25.3. in New York. Am 30.3. verliingert UN-Sicherheitsrats-Resolution 815 das VNPROFOR-Mandat in Kroatien, am 31.3. sieht Resolution 816 vor, dass die Nato das F1ugverbot iiberwachen soli ("Operation Deny Flight"), wobei F1ugzeuge abgeschossen, Bodenziele aber nicht angegriffen werden diirfen, auBer wenn Nato-Maschinen von F1ugabwehr-Radar erfasst werden. APRIL 1993: Cyrus Vance tritt aus Gesundheitsgrunden von seinem Amt a1s UN-Vermittler zurUck und wird ab 1.5. durch den norwegischen AuBenminister Thorvald Stoltenberg abge10st. Die Bundesrepublik Deutschland, deren Luftwaffe seit Ende Mlirz an den Versorgungsfliigen nach Ostbosnien beteiligt ist, beschlieBt am 2.4. AWACS-Besatzungen zu stellen. Am 7. 4. wird mit UN-Sicherheitsrats-Resolution 817 Makedonien a1s ..EhemaligejugoslawischeRepublikMakedonien.. (FYROM)UN-Mitglied.Am 9. 4. weigert sich General Mladic, kanadische Truppen nach Srebrenica durchzulassen. Am 12. 4. tOtet dort eine Granate der Belagerer in der Stadt 65 Einwohner. In der Monatsmitte brechen kroatisch-muslimische Kampfe aus, damit verbunden sind Vertreibungen vor aHem von Muslimen aus Mostar und Kroaten aus Zentralbosnien. Am 16.4. wird in UN-Resolution 819 Srebrenicazur Schutzzoneerhoben, Resolution 820 vom 17. 4. bedroht die weitere Ablehnung des Vance-Owen-Plans durch die Serben mit einer Verschiirfung der Sanktionen. Nach dem Einzug kanadischer Truppen erkllirt die UNPROFOR am 22. 4. die Entrnilitarisierung Srebrenicas fur abgeschlossen. Am 24. 4. proklamieren die Parlamente der Serben in Bosnien-Herzegowina und in der "Krajina" eine gemeinsame Versanunlung, die bosnisch-herzegowinische Regierung und die bosnischen Kroaten indessen einen Waffenstillstand. Die bosnischen Serben lehnen am 26. 4. den VanceOwen-Plan wiederum abo Darauf reagiert der UN-Sicherheitsrat in Resolution 820 mit Sanktionen, einschlieBlich Hafenblockaden, wobei mit Beschluss des Nato-Rats vom 28. 4. aufblockadebrechende Schiffe geschossen werden kann. MAl 1993: Die Fortsetzung der Verhandlung iiber den Vance-Owen-Plan in Athen steht unter der USDrohung eines militilrischen Eingreifens. Am 2.5. unterschreibt KaradZic mit dem Vorbehalt, dass die Zustimmung des Pari aments der bosnischen Serben eingeholt werden miisse. Am 3.5. wird Jugoslawien aus der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgeschlossen. Das serbische Parlament in Bosnien lehnt am 5.5. den Vance-Owen-Plan mit 51 zu 2 Stimmen bei 12 Enthaltungen ab und beschlieBt eine Volksabstimmung fur Mitte Mai, die dann eine Uberwliltigende Ablehnung des Plans ergibt. Darauf verlangt Milo§evic die Annahme des Plans durch die bosnischen Serben. Resolution 824 des UN-Sicherheitsrats vom 6.5. sieht die Schutzzonen Sarajevo, Tuz1a, Zepa, Srebrenica, GoraZde und Bihac vor. Am 14.5. wird Siowenien
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Mitglied des Europarates. Ab 18.5. gilt in ganz Bosnien-Herzegowina ein serbisch-kroatischer Waffenstillstand. Am 22.5. wird von den USA, Russland, GroBbritannien, Frankreich und Spanien ein Aktionsplan vorgelegt, der Schutzzonen vorsieht. Von KaradZie wird er begriiBt, von Izetbegovie abgelehnt, von Lord Owen aIs amerikanische Abkehr yom Vance-Owen-Plan gedeutet. Am 23.5. wird bei heftigen serbischen Angriffen auf Sarajevo Bosniens Vizeministerpriisident Zlatko LagumdZija verletzt. UN-SicherheitsratsResolution 827 yom 25.5. legt fest, dass gegen aIle ermittelt werden soli, die sich schwerer VerstoBe gegen das Volkerrecht im ehemaligen Jugoslawien nach dem 1.1.1991 schuldig gemacht haben. In den USA fordem die Republikaner Waffenlieferungen und die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien-Herzegowina. JUNI 1993: Jugoslawiens Priisident Cosie wird am I. 6. nach MisstrauenserkJarung beider Parlamentskanunem abgesetzt. Bei Demonstrationen in Belgrad wird Vuk DraSkovie festgenommen und bleibt bis zum 9.7. in Haft. Der UN-Sicherheitsrat beschlieBt in Resolution 836 am 4.6. die Entsendung weiterer Soldaten in die Schutzzonen und erlaubt Gewaltanwendung. CNN bringt erste Bilder aus dem belagerten Srebrenica. Serbische Einheiten greifen GoraZde am 12.-14.6. massiv an. Bei der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Genf am 16.6. schlagen Milo§evie und Tudman eine Teilung Bosnien-Herzegowinas in drei ethnische Gebiete vor, Izetbegovie lehnt abo Die EG lehnt am 21.6. die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien ab, die zuvor von Clinton befurwortet worden war. Gegen den Willen Izetbegovies beschlieBt das bosnisch-herzegowinische Staatspriisidium, an Teilungsverhandlungen teilzunehmen. In Genf einigen sich am 23.6. Serbien und Kroatien auf eine Teilung Bosnien-Herzegowinas in drei Einheiten, die zur Grundlage des Owen-Stoltenberg-Plans wird. Am 25.6. wird der bisherige Parlamentspriisident Zoran Lilic (SPS) Prasident der FR Jugoslawien. Ab 28.6. kampfen bei Maglaj sowohl Serben als auch Kroaten gegen Muslime. Der UN-Sicherheitsrat lehnt am 30.6. die von den USA und den blockfreien Staaten geforderte Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien-Herzegowina ab, verlangert aber das UNPROFORMandat urn drei Monate. Der britische Guardian berichtet, dass mittlerweile 800 Moscheen in BosnienHerzegowina zerstort seien, darunter so beriihmte Bauwerke wie die Ferhadija-Moschee in Banja Luka. JULl 1993: Die Nato stationiert Kampffiugzeuge in italien, urn VN-Truppen in Bosnien schiitzen zu konnen. Am 11.7 fordem islamische Staaten von der UNO die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien-Herzegowina. Am 12.7. wird Morillon durch den belgischen General Francis Briquemont aIs UNPROFOR-Oberkommandierender abgelost. Am 17.7. erklaren Milo§evie und Tudman in Genf, Bosnien-Herzegowina nicht teilen zu wollen. Bei der Fortsetzung der Friedensverhandlungen mit aIlen Parteien in Genf ab 27.7. legen Owen und Stoltenberg ihren Plan der "Union der vereinigten bosnischen Republiken" vor. Am 30.7. wird zwischen lzetbegovic, Boban und KaradZic in GenfEinigkeit Ober eine Konfoderation dreier Staaten erzielt. Da die Serben die Berge Igman und BjelaSnica einnehmen und Sarajevo dadurch vollig einschlieBen, verweigert Izetbegovic darauf in Genf Gesprache mit den Serben. AUGUST 1993: Die Muslime runden ihren VorstoB gegen einige von den Kroaten gehaItenen Stadte mit der Eroberung von Gomji Vakuf am 2.8. abo Der Nato-Rat billigt den Einsatz von Flugzeugen gegen serbische Stellungen, wenn diese die humanitare Hilfe blockieren und UN-Truppen angreifen. Zwischen Kroaten und Muslimen verscharfen sich ab Mitte August die Kampfe urn Mostar. Nachdem die Serben den Igman-Berg geraumt haben, werden die Verhandlungen in Genffortgesetzt. Am 18.8. wird Einigung darOber erzielt, dass Sarajevo entmilitarisierte Stadt unter UN-Kontrolle werden soli. Ein emeuerter Friedensplan von Owen und Stoltenberg sieht vor, drei durch eine schwache Zentralregierung verbundene Kleinstaaten zu bilden, Mostar soli unter VerwaItung der EG, Sarajevo der UNO stehen. Am 24.8. erhebt das Parlament der bosnischen Kroaten die Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna zur "Republik". SEPTEMBER 1993: Nachdem am 28.8 in Genf Kroaten und Serben den Teilungsplan akzeptiert haben, scheitem die Verhandlungen am 1.9., weil die Muslime (die sich seit diesem Monat nun offiziell "Bosniaken" nennen) das Oberleben ihres Staates nicht gesichert sehen und drei weitere Stadte fordem. Am 8.9. gehen kroatische Einheiten gegen strategisch wichtige, nach dem Friedensabkommen von Serben besetzte Landstriche vor, die nach kroatischer Auffassung auBerhaIb der UNPA (UN-Protection Areas) liegen. Die Serben reagieren mit emeutem Granaten- und Raketenbeschuss auf Stadte wie Karlovac, Zagreb und Sibenik. In wenigen Tagen gelingtjedoch der UNPROFOR die Entflechtung serbischer und kroatischer Truppen. Am 14.9. unterzeichnen lzetbegovie und Tudman eine Deklaration Ober die Einstellung der bosniakisch-kroatischen Kampfe. Am 20.9. fuhren die Priisidenten Kroatiens, Serbiens und Bosniens auf dem britischen Flugzeugtrager Invincible Geheimgesprache unter Vermittlung von Owen und Stoltenberg. Da-
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bei wird eine Dreiteilung ausgehandelt und den Muslimen ein Adria-Zugang zugesichert. Nachdem Fikret Abdic am 25.9. das Bihac-Gebiet zur "Autonomen Provinz" erkU!rt hat, nennt er sich ,,Prllsident", tritt aus dem Staatsprllsidium von Bosnien-Herzegowina aus und MIt eine Truppe von 6.000 Mann unter Waffen. Am 29.9. lehnt das bosnisch-herzegowinische Parlament den Owen-Stoltenberg-Plan abo OKTOBER 1993: UN-Sicherheitsrats-Resolution 871 vom 4.10. verUlngert das UNPROFOR-Mandat in Kroatien. Am 21.10. lOst Milo§evic das jugoslawische Parlament auf und beraumt Neuwahlen fUr den 19.12. an. Der ,,Prllsident" der ,,Autonomen Westbosnischen Provinz" Bihac Abdic schlieBt am 21. und 22.10. Friedensvertr/lge mit den bosnischen Serben und Kroaten und kl!mpft zusarnmen mit deren Truppen gegen die bosnisch-herzegowinischen Regierungseinheiten. Am 23.10. tOten kroatische Truppen im Dorf Stupni Do mindestens 36 Muslime, darunter Frauen und Kinder. Am 26.10. wird der bosnische AuBenminister Haris SilajdZic neuer Ministerprasident Bosnien-Herzegowinas. NOVEMBER 1993: Wl!hrend in Norwegen Geheimverhandlungen iiber die Serben in Kroatien stattfmden, macht Tudman diesen in einem Brief am 2.11. das Angebot weitgehender kultureller Autonomie und lokaler Selbstverwaltung. Nachdem am 4.11. muslimische Truppen Vare§ eingenommen haben, sind von dort 15.000 Kroaten auf der Flucht. Am 7.11. legen der deutsche und der franztisische AuBenminister eine Initiative zur ErhOhung der humanitaren Hilfe und deren verstarkten Schutz vor. Den Konfliktparteien werden Kompensationen angeboten, auch der FR Jugoslawien wird ein sukzessiver Abbau der Sanktionen in Aussicht gestellt. Am 9.11. wird in Mostar die beriihmte Alte Bmcke von kroatischen Truppen zerschossen. Am 17.11. konstituiert sich der Intemationale Kriegsverbrechergerichtshofin Den Haag (ITCY), ohne gleich ein konkretes Verfahren einzuleiten. Am 29.11. beginnt in Genf eine neue Runde der Friedensgesprache. DEZEMBER 1993: Der Japaner Yasushi Akashi wird leitender UNPROFOR-Koordinator. Am 2.12. fordert Rugova ein intemationales Protektorat iiber das Kosovo. Am 16.12. nehrnen sechs EU-Staaten diplomatische Beziehungen mit Makedonien auf, weitere Staaten folgen. Die vorgezogenen jugoslawischen Parlamentswahlen ergeben am 19.12. in Serbien bei 62 % Beteiligung (Boykott der Albaner und Muslime im Sandiak) fur Milo§evics SPS 123 von 250 Sitzen, fUr DEPOS 45, die SRS (Serbische Radikale Partei) 39, die Demokratische Partei (DS) 29. In Montenegro erringt die DPS (Demokratische Partei der Sozialisten Montenegros) 45 Sitze, die Volkspartei (NS) 14, Liberale 13, SRS 8, sonstige 45. Am 20.12. wird Mate Boban a1s Fiihrer des kroatischen Herceg-Bosna abgesetzt. Ein am 23.12. unterzeichnetes Abkommen iiber den Waffenstillstand in Bosnien-Herzegowina wird bald verletzt.
1994 JANUAR 1994: Der Oberkommandierende der UN-Truppen in Bosnien, Briquemont, tritt von seinem Amt vorzeitig zumck und wird durch den Briten Michael Rose abgelost. Die Nato droht den Serben mit Luftangriffen im Faile der Missachtung von UN-Resolutionen. Am 18.-19.1. werden in Genf unter Vermittlung Owens die Verhandlungen ohne Ergebnis weitergefilhrt. Am 22.1. totet eine Granate spielende Kinder in Sarajevo. Am 24.1. wird in Jugoslawien ein "Neuer Dinar" im Verhl!ltnis von 1: 1 zur DM eingefiibrt, urn die Hyperinflation einzudiimmen, die ihren Gipfel mit 313 Millionen % erreicht hat. Am 31.1. verkiinden die bosnischen Serben die Generalmobilmachung. FEBRUAR 1994: Der UN-Sicherheitsrat droht am 4.2. Kroatien Sanktionen an, wenn es seine Truppen nicht aus Bosnien-Herzegowina abzieht. Am 5.2. totet eine Granate in Sarajevo 68 Menschen und verletzt iiber 200. Die serbische Propaganda bemiiht sich, die die Schuld dafiir den Bosniaken zuzuschreiben. Tags darauf bittet UN-Generalsekretar Boutros-Ghali den Nato-Generalsekretar Manfred WOmer, Luftangriffe vorzubereiten. Am 7.2. schlieBen Slowenien und Kroatien ein Wirtschaftsabkommen, ohne sich iiber die von Slowenien beanspruchte Bucht von Piran zu einigen. Am 8.2. lost der franztisische General Bertrand de Lapresle seinen von der franzOsischen Regierung abberufenen Vorgllnger Jean Cot a1s UNPROFOROberbefehlshaber abo Am 9.2. stellt die Nato den Serben das Ultimatum, schwere Waffen im Umkreis von 20 km von Sarajevo in zehn Tagen abzuziehen oder der UNO zu Ubergeben. Am 16.2. beginnt Griechenland eine Blockade gegen Makedonien. Am 17.2. beschlieBt Russland die Entsendung von 400 Soldaten nach Sarajevo und fordert den Westen auf, auch die Bosniaken zum Abzug der schweren Waffen zu bewegen. Die Serben treten nun den Riickzug bei Sarajevo an, in Westbosnien verstarken sie ihre Angriffe. Am 20.2. verstllndigen sich Clinton und Jelzin dariiber, dass kein Nato-Luftangriff erfolgt. Am 23.2. vereinbaren die bosnischen Kroaten mit den Bosniaken in Zagreb einen Waffenstillstand, der in der Folgezeit gehal-
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ten wird. Unter US-amerikanischer vermittlung werden ab 26.2. in Washington die kroatisch-bosniakische Foderationsverhandlungen gefiihrt. Am 28.2. schieBen zwei US-Flugzeuge im ersten Nato-Kampfeinsatz seit Griindung des Biindnisses vier serbische Kampfflugzeuge ab, die iiber Nordbosnien das Flugverbot verletzten. Das Nato-vorgehen wird von Russland gebilligt. MARZ 1994: Am 1.3. unterzeichnen die bosnisch-herzegowinische Regierung und die vertretung der bosnischen Kroaten ein vorlaufiges Abkommen iiber eine bosniakisch-kroatische FOderation auf 58 % des Republikterritoriums. KaradZic stimmt der Offnung des Flughafen Tuzla fur humanitilre Hilfe zu. Am 17.3. wird die verkehrsblockade nach Sarajevo aufgehoben. Nach einem Jahr Krieg zwischen Muslimen und Kroaten unterzeichnen am 18.3. nach der Einigung vom 13.3. in Wien Tudman und Izetbegovic das Washingtoner Abkommen iiber die bosniakisch-kroatische "FOderation Bosnien-Herzegowina" aus acht Kantonen. Diese FOderation wiederum soli mit Kroatien konfoderiert werden. Sie wird am 26.3. von der versarnmlung der bosnischen Kroaten und am 29.3. vom bosnisch-herzegowinischen Parlament gebilligt. Landung der ersten UNPROFOR-Maschine am 22.3. auf dem zwei Jahren geschlossenen Flughafen von Tuzla, der Abwurfvon Hilfsgiitem aus der Luft wird eingestellt. Am 29.3. serbischer Angriff auf die UN-Schutzzone GoraZde. Ende des Monats Waffenstillstand zwischen den "Krajina"-Serben und Kroatien - unter russischer vermittlung - der bis 5. 4 den Riickzug schwerer Waffen 20 km hinter die Frontlinie vorsieht. UN-Truppen sollen die Waffen iibemehmen und eine Sicherheitszone bilden. Am 30.3. tritt Siowenien der "Partnerschaft fur den Frieden" mit der Nato bei, am 31.3. wird das UNPROFOR-Mandat emeut urn sechs Monate verlilngert; inzwischen sind iiber 10.000 Mann stationiert. ApRIL 1994: Serbische Truppen dringen in die Schutzzone GoraZde ein, in der sich UN-Beobachter aufhalten. Die Muslime werfen am 8. 4. den Serben vor, bei ihrem Angriff Giftgas eingesetzt zu haben. Nachdem die Serben dem UNPROFOR-Oberkommandierenden, General Rose, den Besuch in GoraZde verweigem, wird UN-Beauftrager Akashi ermachtigt, Luftangriffe anzuordnen. Am 10.-11. 4. bombardieren Nato-Flugzeuge serbische Stellungen bei GoraZde als verteidigungsmaBnahrne fur das UN-Personal. Dies wird von der russischen Regierung kritisiert. Da die Serben ihren Angriff mit schweren Waffen fortsetzen, droht Akashi weitere Luftschlage an. Am 14. 4. greifen serbische Truppen UN-Einheiten als Vergeltung fur die Bombardierung von GoraZde an. Bei Sarajevo nehmen sie 14 kanadische Blauhelme als Geiseln. Am 16. 4. wird ein britisches Flugzeug iiber GoraZde abgeschossen, der Pilot kann sich retten. Am 22. 4. droht die Nato weitere Luftangriffe an, wenn die Serben bis zum 27. 4. die schweren Waffen von GoraZde nicht abziehen. Darauflassen die Serben ein kleines UN-Kontingent in die Stadt einrucken und ziehen sich drei statt der geforderten zwanzig Kilometer zuruck. Die Nato emeuert ihre Bombardierungsdrohung. Am 26. 4. tagt in London erstrnals die "Kontaktgruppe fur Bosnien" mit vertretem der USA, Russlands, GroBbritanniens, Frankreichs und Deutschlands. MAl 1994: Der US-Senat stimmt am 12.5. fur die Aufhebung des Waffenembargos gegen BosnienHerzegowina. Am 13.5. vereinbart in Genf das erste Ministertreffen der Kontaktgruppe, dass bei Truppenriickzug der Serben eine Aufhebung der Sanktionen angekiindigt werden soli. Die bosniakisch-kroatische Foderation tritt am 31.5. nach der verfassungsannahrne durch das Parlament in Kraft. Erster Prasident der FOderation wird der Kroate Kresimir Zubak. Die verfassung sieht vor, dass das Prasidentenamt jiihrlich zwischen den beiden Nationen rotiert. Beide Armeen sollen zusarnmengelegt werden. JUNI 1994: Die Serben und die bosniakisch-kroatische FOderation vereinbaren am 8.6. eine einmonatige Feuerpause. Am 9.6. stimmt auch das US-Reprasentantenhaus fiir eine Aufhebung des Waffenembargos. Am 23.6. stellt Haris SilajdZic eine gemeinsame Regierung von Bosnien-Herzegowina und der (bosniakisch-kroatischen) FOderation vor. Am 27.6. beginnen die bosnisch-herzegowinischen Truppen eine Offensive. lUll 1994: Die Kontaktgruppe legt am 5.7. einen Teilungsplan fur Bosnien-Herzegowina vor (49 % an die Serben, 51 % an die bosniakisch-kroatische FOderation), der am 16.7. vom Parlament der bosnischen Kroaten und am 18.7. vom bosnisch-herzegowinischen Parlament gebilligt wird. Am 20.7. fordert Karadzic Erweiterungen des Teilungsplans der Kontaktgruppe, u.a. einen Adriazugang. Am 23.7. iibemimmt die EU die verwaltung von Mostar, der ehemalige Bremer Biirgermeister Hans Koschnick wird als EU-Administrator eingesetzt. Am 25.7. empfiehlt UN-Generalsekretilr Boutros-Ghali dem UN-Sicherheitsrat den Abzug der UNPROFOR, die fur ihre Aufgaben zu schwach ausgestattet sei. AUGUST 1994: Die serbische Regierung droht am 2.8. den bosnischen Serben mit dem Abbruch aller Beziehungen, wenn sie nicht in den Friedensplan der Kontaktgruppe einwilligen und setzt zwei Tage spater
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nach einer weiteren Ablehnung diese Drohung urn und schlieBt die Grenze zwischen Jugoslawien und dem Gebiet der bosnischen Serben. Der serbische Oppositionspolitiker Zoran E>indic stellt sich gegen Milosevic auf die Seite KaradZics und besucht mehrfaeh Pale. Am 10.8. droht die UNO aueh den bosniseh-herzegowinisehen Regierungstruppen mit Angriffen, wenn sie ihre sehweren Waffen nieht aus der Zone um Sarajevo zuriickziehen. Am 18.8. wird Du.§an Kozic Regierungsehef der "Republika Srpska". Am 27.8. lehnen die bosnisehen Serben bei einem von der SDS organisierten Referendum den Kontaktgruppenplan abo Am Ende des Monats versUlrken die bosnisehen Serben die ethnischen Sauberungen gegen Muslime aus der Region Bijeljina. Bosnisch-herzegowinische Regierungstruppen rOcken gegen Fikret Abdic vor und verlreiben ibn von Velika K1adu.§a auf serbisch kontrolliertes Territorium in Kroatien. SEPTEMBER 1994: Der Papst besucht am 11.9. Zagreb, sein Besuch in Sarajevo wird aus Sicherheitsgriinden abgesagt. In Mostar entgeht Koschnick knapp einem Anschlag. Ab 17.9. 11berwacht eine Kommission unter Bo Pellnas (Schweden) die Einhaltung des jugoslawischen Embargos gegen die Republika Srpska Am 18.9. flanunen erstmals seit Februar 1994 wieder K!lmpfe in Sarajevo auf, als Bosniaken serbische Stellungen angreifen. Die UNO droht mit Luftschlagen auch gegen die Bosniaken. Am 22.9. beschieBt die Nato einen serbischen Panzer, um den Riickzug aus der Zone um Sarajevo durchzusetzen. Drei Resolutionen des UN-Sicherheitsrats (941-943) verurteilen am 23.9. die zunehmenden ethnischen Sauberungen, verstarken die Sanktionen gegen die Republika Srpska und loekern sie gegen Jugoslawien. OKTOBER 1994: Bosnisch-Kroatische Truppen riicken gegen den Kupres-Pass vor, der von den bosnischen Serben gehalten wird, ohne dass sie das Vordringen der HVO gegen die Westgrenze zu Kroatien dauerhaft stoppen kOnnen. lIn Gebiet urn Bihac unterstiitzen die HVO-Truppen die bosniakischen Einheiten bei ihrer Offensive gegen Abdic. Nach K!lmpfen bei Sarajevo beschlieBen Nato und UNO am 27.10., die jeweiligen Aggressoren aus der Luft anzugreifen. In Makedonien wird bei den ersten freien Parlamentsund Pr!lsidentschaftswahlen Kiro Gligorov im ersten Wahlgang mit 52,4 % der Stimmen direkt a1s Pr!lsident in seinem Amt bestatigt. Sein "Biindnis fur Makedonien" (SZM) erhaIt im zweiten Wahlgang 32 % der Slimmen, die VMRO-DPMNE, die den zweiten Wahlgang unter Betrugsvorwiirfen boykottiert, hatte zuvor 14 % erhalten. Die Regierung kann sich damit auf 95 von 120 Sitzen stiitzen. Das slowenische Parlamenl verweigert Ende Oktober seine Zustimmung zu einer Regelung fur Vorkaufsrechte fur Italiener, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Jugoslawien vertrieben worden waren. ltalien blockiert deshalb weiterhin die Annaherung Sioweniens an die EU. NOVEMBER 1994: Am 2.11. lreffen Owen und Stoltenberg in Genfmit Rugovazusanunen, der die Unabh!lngigkeit fur das Kosovo fordert. Am 5.11. stoBen bosnisch-herzegowinische Truppen gegen Bosanska Krupa Ostlich von Bihac vor. Die serbische Gegenoffensive fuhrt am 9.11. zur Einkesselung der bosnischherzegowinischen Regierungstruppen bei Bihac, das von serbischen Kampffiugzeugen attackiert wird, die aus UNO-kontrollierten Gebieten in Kroatien aufsteigen. Am 11.11. beschlieBt die US-Regierung, sich nichl langer an der Durchsetzung des Waffenembargos gegen Bosnien-Herzegowina zu beteiligen. Diese Politik wird von den europliisehen Nato-L!lndern nicht geteilt. Am 18.11. greifen die Serben Bihac, in dem sich 1.300 UN-Soldaten befinden, unter anderem mit Napalm an. Am 19.11. beschlieBt der UN-Sicherheitsrat die Ausdehung der Flugverbotszone auf die ,,Krajina". Am 21.11. greifen Nato-Flugzeuge den serbischen Flugplatz in Udbina in der "Krajina" an, wovon aus Angriffe auf Bihac geflogen worden waren. Die Einkesselung von Bihac durch die Serben wird dadurch aber nicht aufgehalten. DEZEMBER 1994: Am 2.12. einigen sich die kroatische Regierung und die "Krajina"-Serben iiber die Wiederherstellung von Verkehrs-·und Versorgungsverbindungen. Am 9.12. beantragt Siowenien a1s erstes poslkommunistisches Land die Mitgliedschaft in der Europaischen Freihandelsvereinigung EFTA. Am 12.12. siehl die UNO von weiteren Nato-Einsatzen ab, nachdem UN-Soldaten von Serben angegriffen worden sind. Am 17.12. erobern Abdics Truppen das im August von den bosnischen Regierungstruppen eingenommene Velika K1adu§a zuriick. Ab dem 20.2. vermittelt der ehemalige US-Pr!lsident Jimmy Carter in Sarajevo ein Abkommen 11ber einen viermonatigen Waffenstillstand. Ab 24.12. wird eine Feuerpause eingehalten. Bei Bihac handelt am 28.12. General Rose einen viermonatigen Waffenstillstand aus, der von Abdic nieht unterzeichnet wird.
1995 JANUAR 1995: Zum Jahresbeginn tritt der von Carter vermittelte und von Izetbegovic und KaradZic unterzeichnete Waffenstillstand in Kraft, am 2.1. unterzeichnen die Kroaten in Mostar. Am 12.1. erklart Tudman
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der UNO, dass die UNPROFOR ihr Mandat, das am 31.3. ablaufe, nicht verlangern solie. Am 29.1. wird der so genannte Z-4 Friedensplan (benannt nach den Zagreber Botschaftern der USA und Russlands sowie je einem UN- und EU-Vertreter) iiber die Eingliederung der serbischen "Krajina" nach Kroatien bei Wahrung von Autonomierechten vorgelegt. Wilhrend die kroatische Regierung zustimmt, lehnt die Fiihrung der RSK (Republika Srpska Krajina) unter Milan Martic abo FEBRUAR 1995: Russland erkennt Bosnien-Herzegowina an. Der Brite Rupert Smith lost am 4.2. Michael Rose als Oberkommandierender der UN-Truppen in Bosnien ab, die mittlerweile 23.000 Mann stark sind. MARZ 1995: Bosnisch-herzegowinische Truppen brechen am 20.3. den Waffenstillstand bei Tuzla und Travnik, serbische Truppen greifen bei Bihac an. Am 27.3. befiehlt KaradZic die totale Mobilmachung. Ende des Monats wird das UN-Mandat verlangert und die Mission aufgeteilt: UNPROFOR in Bosnien, UNCRO in Kroatien (UN-Confidence Restauration Operation in Croatia) und UNPREDEP (UN Preventive Deployment Force) in Makedonien. Ein gemeinsames Oberkommando bleibt bestehen, das Mandat lauft bis 30.11.1995, nachdem Tudman zur Akzeptierung der Verlangerung in Kroatien bei reduzierter Truppenzahl gedriingt worden war. Die "Krajina"-Serben lehnen das Mandat abo APRIL 1995: Am 9. 4. wird Sarajevo schwer beschossen. In ganz Bosnien-Herzegowina brechen nun die Kampfe wieder aus. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gibt am 24. 4. Ermittlungen gegen KaradZic, Mladic und den bosnisch-serbischen Polizeichef Jovica Stani§ic bekannt. Von der UNPROFOR wird dies als Gefllhrdung des Waffenstilstandes kritisiert. Am 26. 4. beginnt in Den Haag der erste Prozess gegen den bosnischen Serben Du§ko Tadic wegen Verbrechen im Lager Omarska. MAl 1995: Der von Carter vermittelte Waffenstillstand ist am 1.5. offiziell abgelaufen, nachdem UNBeauftragter Jasushi Akashi keine Verlangerung erreicht hat. Nachdem es infolge des Z-4 Friedensplans erstmals zur Offnung der Verbindungen durch die besetzten Gebiete kam, wird die beginnende Normalisierung nach wenigen Tagen mit einer erneuten Autobahnsperrung durch die aufstandischen Serben unterbrochen. Kroatien geht nun zur Offensive gegen das seit 1991 serbisch kontrollierte Gebiet in Westslawonien iiber und erobert dieses in wenigen Tagen. Die meisten Serben reagieren auf diese Operation "Bljesak" (Blitz) mit Flucht. Bei einem serbischen Gegenangriff aus der Kniner Gegend, zu dem sich Milan MartiC bekennt, wird ab 2.5. Zagreb mit Raketen und Splitterbomben belegt, Tote und Verletzte sind die Folge. Schon am 3.5. gibt Kroatien bekannt, dass das Ziel der Operation mit der Kontrolle iiber die Verkehrsverbindungen erreicht sei, am 6.5. steht die Region voll unter kroatischer Kontrolle. Aus Banja Luka werden im Gegenzug massiv Kroaten und Muslime vertrieben, eine katholische Kirche dort abgebrannt. Am 7.5. wird Sarajevo wieder massiv von Serben beschossen. Am 25.5. greift die Nato aus der Luft Munitionsdepots bei Pale an, nachdem ein Ultimatum, aus einem UN-Depot entwendete schwere Waffen zuruckzugeben, abgelaufen war. Im Gegenzug beschieBen die Serben Sarajevo und Tuzla, wo eine Granate iiber 70 Menschen, darunter viele Jugendliche, totet. Nach einem zweiten Luftangriff auf Pale nehmen am 27.1 28.5. die Serben 284 UN-Soldaten als Geiseln und ketten einige davon als "Schutzschilde" an mutmaBliche Ziele an. FranzOsische Truppen sind in Gefechte mit Serben in Sarajevo verwickelt. Am 28.5. kommt Bosnien-Herzegowinas AuBenminister Irfan Ljubjankic beim Abschuss seines Hubschraubers bei Bihac urn. Nachfolger wird Muhammed Sacirbegovic Die Serben nehmen weitere UN-Soldaten als Geiseln, deren Zahl wachst auf iiber 300 an. JUNI 1995: Am 2.6. wird eine amerikanische F 16 bei Banja Luka abgeschossen, der Pilot rettet sich und wird nach sechs Tagen geborgen. Zwischen 6.6. und 18.6. lassen die Serben nach Intervention von Milosevic die UN-Geiseln frei. Am 9.6. wird der Schwede Carl Bildt zum Nachfolger des zuruckgetretenen Lord Owen als EU-Unterhandler ernannt. Am 15.6. gehen die bosnisch-herzegowinischen Regierungstruppen ohne Erfolg gegen die serbischen Belagerer von Sarajevo vor und beschieBen Pale. Das dortige Parlament der Republika Srpska beschlieBt die Vereinigung mit den verbliebenen serbischen Gebieten in Kroatien. Am 19.6. beschlieBt der UN-Sicherheitsrat in Resolution 998 die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe (Rapid Deployment Force, RDF) zum Schutz der UNPROFOR-Einheiten, wie sie am 3.6. von den Nato und EU-AuBen- und Verteidigungsministern initiert worden war. Als UN-Beauftragter Akashi den Serben Neutralitat der Eingreiftruppe zusichert, wird sie von der bosnischen Regierungsseite abgelehnt. Als Reaktion auf die bosnische Offensive und die Missachtung der Ausschlusszone for schwere Waffen ziehen sich die UN-Truppen bei Sarajevo zuruck. Am 21.6. wird die bosnische Offensive bei Sarajevo eingestellt. JULl 1995: Am 4.7. gibt die deutsche Regierung die Entsendung von Bundeswehrsoldaten zur Errichtung eines Feldlazeretts bei Split for die Schnelle Eingreiftruppe bekannt. Am 11.7. nehmen die serbischen
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Einheiten unter Ratko Mladie mit 1.500 Mann die seit 6.7. angegriffene "UN-Schutzzone" Srebrenica ein, deren 400 niederlandische Soldaten (Dutchbat) keinen Widerstand leisten. Fehlkoordinierte Nato-Lufteinsatze halten die Angreifer nicht auf, 42.000 muslimischen Einwohner und eine unbekannte Zahl von Fliichtlingen aus anderen Orten Ostbosniens werden vertrieben. Die Manner werden von den Serben gefangen genommen, 7.079 sind vermisst. Am 12.7. ernennt Boutros-Ghali Thorvald Stoltenberg zu seinem Sonderbeauftragten fur Bosnien. Am 14.7. greifen die Serben mit Zepa eine weitere UN-Schutzzone an, in der sich 16.000 Muslime aufhalten. Am 19.7. zieht die UNO die Blauhelme aus Zepa ab, tags daraufwird die Stadt endgiiltig eingenommen, verwiistet und ihre muslimischen Einwohner vertrieben. Am 21. 7. beginnt in London eine Bosnien-Konferenz mit 16 Teilnehmerlandern. Gegen Einwande Russlands wird beschlossen, die "Schnelle Eingreiftruppe" solie GoraZde notfalls mit Luftangriffen auf die Serben verteidigen. Eine islamische Konferenz von funfzig Staaten verurteilt in Genf das UN-Waffenembargo, Malaysia erkliirt am 23.7., Bosnien-Herzegowina mit Waffen beliefern zu wollen. Am 22.7. wird die von der UNO geschiitzte Bihae-Enklave von kroatischen und bosnischen Serben zusarnmen mit Abdies Einheiten angegriffen, worauf sich Kroatien und Bosnien-Herzegowina iiber eine militiirische Zusarnmenarbeit einigen. Am 24.7. bezieht die Schnelle Eingreiftruppe mit schweren Waffen auf dem Igman-Gebirge Position. Gegen KaradZie, Mladie, "Krajina"-Serbenfiihrer Martie und 21 weitere Serben wird yom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Anklage erhoben. Der Nato-Rat verabschiedet Plane iiber Luftangriffe zur Verteidigung von GoraZde. Die Entscheidung iiber ihre Anforderung Iiegt nun a1lein bei UN-Oberbefehlshaber Bernard Janvier. Am 26.7. stimmt der US-Senat mit Dreiviertelmehrheit fur die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien-Herzegowina. Am 27.7. tritt der UN-Menschenrechtsbeauftragte Mazowiecki aus Protest gegen die Aufgabe von Srebrenica und Zepa durch die UNO zurUck. Am 28.7. schlieJ3en in Westbosnien kroatische Truppen eine Mitte des Monats begonnene Offensive mit der Einnahme von Bosansko Grahovo und Glamoe ab und schaffen damit Voraussetzungen fiir die spiitere Offensive gegen Knin. 20.000 Serben fliehen. Das am 19.7. begonnene VOrrUcken serbischer Truppen bei Bihae halt an. AUGUST 1995: Die Nato beschlieBt am I. 8. die Ausdehnung des fiir GoraZde angekiindigten Schutzes durch Luftstreitkriifte auch auf die iibrigen Schutzzonen. Am 4.8. rUcken kroatische Truppen in die serbisch kontrollierte "Krajina" ein und bombardieren Knin, das von der Unterstiitzung durch bosnisch-serbische Truppen abgeschnitten ist. Bosnische Regierungstruppen stoJ3en Tags darauf im Nordwesten Bosniens vor. Kroatische Truppen aus Istrien sorgen fiir den Entsatz von Bihae. In der der Operation "Oluja" (Sturm) erobert Kroatien bis zum 6.8. die von Serben kontrollierte Gebiete in Banija, Kordun und Lika im Westen. Unter serbischer Kontrolle bleiben im Osten des Landes Baranja, Ostslawonien und Westsyrmien. 180.000 Serben (nach UNHCR-Angaben) fliehen, zuniichst auf serbisch beherrschte Teile Bosnien-Herzegowinas, dann nach Serbien. Am 10.8. legen die USA einen Friedensplan iihnlich dem der Kontaktgruppe von 1994 vor. Neuer US-Vermittler ist der VizeauJ3enminister Richard Holbrooke. Luftaufnahmen lassen den Schluss zu, dass bei Srebrenica Massengriiber angelegt wurden. Zugleich werden Berichte bekannt iiber kroatische Obergriffe wahrend des Vorriickens in die "Krajina", auch an nicht geflohenen Serben. Die UN beginnt Mitte des Monats den Abzug ihrer Truppen aus Kroatien. Am 18.8. fordert der kosovo-a1banische Ministerpriisident im Exil Bujar Bukoshi die UNO auf, im Kosovo eine Schutzzone zu errichten. Am 23.8. fordert KaradZie, der in einen Machtkampf mit General Mladie verwickelt ist, fur die Serben 64 % des bosnischen Territoriums. Am 28.8. werden 38 Menschen bei einem Granateinschlag auf einem Marktplatz in Sarajevo getotet, Tags darauf stell! die UNO fest, dass der Beschuss von einer serbischen Stellung ausging. Ab 30.8. bombardiert die Nato in etwa 500 Einsiitzen serbische Stellungen bei GoraZde, Tuzla, Sarajevo, Pale und Mostar. In Belgrad vereinbart Milosevie mit KaradZic und Mladic die gemeinsame Teilnahme an Friedensverhandlungen, wobei Milosevic die oberste Entscheidungsbefugnis zufall!. Am 31.8. verurteilt Russland die Nato-Angriffe. Aus Banja Luka werden weitere Kroaten vertrieben. SEPTEMBER 1995: Bei den Nato-Luftangriffen beteiligen sich nun auch deutsche Tornado-Flugzeuge mit ECR-Einsiitzen (Elektronische Storrnanover). Die Nato stellt den Serben das Ultimatum, bis 4.9. die schweren Waffen von Sarajevo abzuziehen. Nach ergebnislosem Ablaufwerden die Angriffe aufgenommen und bis 14.9. fortgesetzt, wobei auch Marschflugkorper zum Einsatz kommen. Am 8.9. treffen in Genf die AuJ3enminister Bosnien-Herzegovinas, Kroatiens und Jugoslawiens mit Holbrooke zusarnmen und billigen die Teilung von Bosnien-Herzegowina auf der Basis von 49 % an die Serben und 51 % an die bosniakischkroatische FOderation. Nachdem die USA auf Griechenland Druck ausgeiibt haben, wird die Blockade gegen Makedonien abgebrochen, am 13.9. erkennt Griechenland Makedonien offiziell an. Die bosnia-
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kisch-kroatische Offensive fiihrt Mitte des Monats zu serbischen FillchtlingsstrOmen Richtung Banja Luka. Nach der Einnahme von Bosanska Krupa und Sanski Most fordert die UNO das Einstellen der Offensive. Am 21.9. wird von der UNO festgestellt, dass die Serben ihre am 15.9. gegebene Zusage eines Abzuges der schweren Waffen hinter eine Line von 20 km um Sarajevo einhalten. Am 25.9. einigen sich in Washington die Gegner iiber die zentralen Verfassungsorgane und die Zustandigkeiten der beiden Einheiten BosnienHerzegowinas. Am 29.9. wird die Zufahrt nach Sarajevo freigegeben. OKTOBER 1995: Am 3.1 o. iiberlebt der makedonische Prllsident Kiro Gligorov einen Anschlag von Nationalisten in Skopje. Zwei Tage spater gibt Makedonien offiziell dem griechischen Wunsch nach Anderung der Staatsflagge nacho Am 5.10 verkiindet US-Prllsident Clinton einen zweimonatigen Waffenstillstand in Bosnien-Herzegowina ab 10.10. Ab 22.10. wird er erstrnals ohne Ausnahmen eingehalten. Am 16.10. tritt die Regierung der Republika Srpska unter Kozic zur1ick, Nachfolger wird Kasagic. Am 29.10. verfehlt bei den Parlamentswahlen in Kroatien die HDZ mit 45 % der Stimmen ihr Ziel einer 2/3-Mehrheit. 12 Abgeordnete wurden auBerhalb des Staatsgebiets gewiihlt, wogegen die Regierung Bosnien-Herzegowinas protestiert. In Zagreb gewinnt die HDZ bei den Stadtratswahlen nur 36 %. Tudman lehnt danach vier liberale Kandidaten fiir den Oberbiirgermeisterposten nacheinander abo NOVEMBER 1995: Auf dem Luftwaffenstotzpunkt Dayton, Ohio, beginnen am 1.11. die Friedensverhandlungen. Die anwesenden Prllsidenten Jzetbegovic, Milo§evic und Tudman einigen sich iiber die Einhaltung der Menschenrechte und die Riickkehr der Fliichtlinge. Am 10. Novernner wird nochmals die bosniakischkroatische FOderation bestiitigt, am 12.11. folgt unter Thorwald Stoltenbergs Vermittlung das Abkommen iiber Ostslawonien, das die Wiedereingliederung in das kroatische Territorium, aber zwei Jahre weitere UN-Kontrolle und Entrnilitarisierung vorsieht. Am 21.11. wird mit Unterzeichung des Dayton-Vertrags der Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet, tags daraufhebt der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1021 das Waffenembargo gegen Bosnien-Herzegowina, danach auch das Handelsembargo gegen Jugoslawien auf, wobei freie Wahlen in ganz Bosnien-Herzegowina 1996 Bedingung fiir die Umsetzung des Beschlusses sind. Am 30.11. erkennen sich Siowenien und die FR Jugoslawien gegenseitig an. DEZEMBER 1995: Der Prasident der bosniakisch-kroatischen F6deration Zubak tritt aus Protest gegen Gebietsabtretungen (Posavina) in Dayton am 2.12. zur1ick. Am 5.2. beschlieBen die AuBen- und Verteidigungsminister der Nato die Aufstellung der lFOR (Implementation Force) mit 60.000 Mann. Am 12.12. ergibt in Sarajevos serbischen Vororten ein von KaradZic organisiertes Referendum fast 100%ige Ablehnung der Obergabe an die bosniakisch-kroatische FOderation. Am 14.12. wird in Paris von Jzetbegovic, Milosevic und Tudman der Dayton-Vertrag feierlich unterzeichnet. Am 20.12. IOsen die lFOR-Truppen, deren Nato-Kern auch von Einheiten aus osteuropaischen Mitgliedslandern des "Partnerschaft fiir den Frieden"-Programms erglinzt wird, mit einem Mandat fiir ein Jahr die UNPROFOR ab, wobei ein groBer Teil unter das neue Kommando iibernommen wird. Bis Jahresende sind die lFOR-Einheiten in die bisherigen Kampfstellungen um Sarajevo eingeriickt. 1996 JANUAR 1996: Vereinzelt kommt es zu Anschlilgen auflFOR-Truppen. In Mostar kommt es mehrfach zu bosniakisch-kroatischen Auseinandersetzungen. In Sarajevo verlassen Serben ihre Stadtteile. Am 9.1. erteilt der UN-Sicherheitsrat Kroatien eine Riige wegen Menschenrechtsverletzungen in der riickeroberten ,,Krajina". Am 28.1. wird Hasan Muratovic Nachfolger des am 21.1. zur1ickgetretenen Regierungschefs von Bosnien-Herzegowina SilajdZic. FEBRUAR 1996: Am 7.2. entscheidet EU-Verwalter Koschnick, dass in Mostar eine gemeinsame Zone im Zentrum eingerichtet wird. Er entgeht danach nur knapp tatlichen Angriffen aufgebrachter Kroaten. Am 12.2. werden die von der bosnisch-herzegowinischen Regierung Anfang des Monats festgenommenen serbischen Milititrs Dukic und Krzmanovic an den Gerichtshof in Den Haag ausgeliefert. Am 20.2. ergeht eine EVakuierungsanordnung KaradZics fiir die serbischen Vororte Sarajevos, der in der Foige die meisten der noch gebliebenen 50.000 Foige leisten, nachdem schon zuvor 20 bis 40.000 gegangen waren. Am 22.2. erkennt Frankreich als erster europiiischer Staat die FOderation Jugoslawien an, Deutschland folgt am 17. 4. Am 25.2. tritt Koschnick in Mostar zuriick, nachdem die Dayton-Folgekonferenz seine Entscheidung einer zentralen Zone aufgehoben hat. Nachfolger wird der Spanier Casado. Am 28.2. wird der Franzose Bertrand de Lapresle, der Bernard Janvier ablest, neuer UNPROFOR-Oberkommandierender fiir das gesamte ehemalige Jugoslawien.
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MARZ 1996: Milo§evic wird am 2.3. wieder zum Vorsitzenden der SPS gewilhlt. Am 9.3. dernonstrieren in Belgrad 20.000 gegen ibn, nachdern schon im Februar Proteste gegen die Schlie6ung eines Senders stattgefunden haben. Am 20.3. wird Sarajevo offiziell wiedervereinigt. APRIL 1996: Am 8. 4. erkennen sich die FR Jugoslawien und Makedonien - wie schon Anfang Oktober 1995 vereinbart - an. Am 24. 4. wird das Verfahren des ITCY in Den Haag gegen den serbischen General Dukic wegen dessen Krankheit vor seiner Eroffnung eingestellt. MAl 1996: Am 6.5. wird in Den Haag der erste Prozess des rTCY eroffnet, angeklagt ist der bosnische Serbe Du§an Tadic. Am 14.5. wird die Aufnahme Kroatiens in den Europarat von dessen Ministerkomitees abgelebnt, nach der Befiirwortung durch die parlamentarische Versammlung des Europarats am 24. 4. JUNI 1996: Am 10.6. wird das Assoziierungsabkommen von Slowenien mit der EU unterzeicbnet. Am 30.6. tritt nach anhaltendem intemationalen Druck (am 25.6. sogar seitens Milo§evics) Karadiic als Prlisident der Republika Srpska einen Tag nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der SOS zurilck und 'ilbergibt die Amtsgeschl!fte an Biljana Plav§ic (SOS). Die OSZE legt die Wahlen in Bosnien-Herzegowina auf den 14.9.1996 fest. Am 30.6. wird unter IFOR-Aufsicht in Mostar bereits die Kommunalwahl durchgefiihrt, die von der SOA gewonnen wird, was zu kroatischen Protesten fiihrt. JULI 1996: Die USA stoppen die Militllrhilfe filr die bosniakisch-kroatischen Streitkrafte in BosnienHerzegowina, da diese mit dem Iran zusammenarbeiten. Am 11.7. erllisst in Den Haag das ITCY einen Haftbefehl gegen Karadiic und Mladic. Am 19.7. tritt Karadiic von allen Parteillmtem zurilck, nachdem die OSZE mit dem Verbot der Zulassung der SOS zu den Wahlen gedroht hat. AUGUST 1996: Nach langen Auseinandersetzungen einigen sich in Mostar Kroaten und Bosniaken am 6.8. tiber die Kommunalwahl vom 30. Juni und die Wahl eines B'ilrgermeisters. Am 23.8. erkennen sich Kroatien und die FR Jugoslawien gegenseitig an. SEPTEMBER 1996: Am 1.9. unterzeicbnen Milo§evic und Rugova ein Abkommen 'ilber die Arbeit der albanischen Schulen im Kosovo, das aber serbischerseits nicht urngesetzt wird. Nachdem die Kommunalwahl in Bosnien-Herzegowina am 27.8. von der OSZE verschoben worden war, ergeben die am 14.9. durchgefuhrten Parlamentswahlen in der Republika Srpska fur die SOS 45 Sitze, SOA 14, Sonstige 20; in der bosniakisch-kroatischen FOderation: SOA 78, HDZ 35, Sonstige 37; bei den Gesamtstaatswahlen siegt lzetbegovic vor Kraji§nik und Zubak, diese drei bilden dann das Staatsprlisidiurn. 1m Gesamtstaatsparlament erringt die SOA 37,9 % (in der FOderation 55 %, in RS 17,8 %), SOS 24,1 % (in RS 54,4 %), HDZ 14, I % (in FOderation 23 %). Die Wahl wird am 30.9. von der OSZE fur gilltig erklart. OKTOBER 1996: Am 1.10. werden aile UN-Sanktionen gegen Jugoslawien im Zusammenhang mit dem Krieg in Bosnien aufgehoben. Louise Arbour folgt Richard Goldstone als Chefanklllgerin in Oen Haag beim ITCY. Am 14.10. wird Kroatien Mitglied des Europarats. NOVEMBER 19%: Bei den Wahlen am 3.11. erringen in Jugoslawien bei einer Beteiligung von 61 % die Parteien von Milo§evic und seiner Frau den Sieg: Oer "Block der Linken" urn die SPS erhrut mit 52 % 64 Sitze, das Oppositionsbiindnis Zajedno mit 21 % 22 Sitze, die Serbische Radikale Partei Se§eljs erhrut 16 % und 17 Sitze. Die Kosovo-A1baner boykottieren die Wahl. Die Parlamentswahlen in Slowenien ergeben ein Patt. Am 9.11. wird General Mladic in der Republika Srpska durch die Prlisidentin Plav§ic entlassen, aber nicht nach Den Haag ausgeliefert. Am 12.11. werden ruckkehrende muslimische FI'ilchtlinge bei Tuzla von serbischen Polizisten beschossen. Am 17.11. gehen die Kommunalwahlen in Jugoslawien in die Stichwahl, wobei in 15 der 18 groBen Stlldte die Sozialisten die Wahl an Zajedno verlieren. Drei Tage spllter werden diese Ergebnisse von der Wahlkommission annulliert. Oarauf finden von der Opposition boykottierte Neuwahlen statt, die die Sozialisten gewinnen. Ende November erstes Urteil in Oen Haag, der bei den Einheiten bosnischer Serben klimpfende bosnische Kroate Oru.en Erdernovic wird zu zebn Jahren Haft verurteilt. 1m Kosovo proklamiert die U<;K den bewaffneten Kampf gegen die serbische Herrschaft. OEZEMBER 1996: Oie IFOR wird durch die SFOR (Stabilisation Force) abgelost, die am 13.12. ein Mandat des UN-Sicherheitsrats erhrut. Zugleich wird die Stllrke auf ca. 30.000 Mann halbiert, die von NatoSoldaten gestellt werden. A1s Stationierungsdauer sind maximal 18 Monate vorgesehen. In Belgrad demonstrieren unter der F'ilhmng von Vuk Dra§kovic, Zoran Dindic und Vesna Pe§ic tllglich Tausende, am 9.12. sogar tiber 100.000 mit Trillerpfeifen fur die Anerkennung der Kommunalwahlen. Nach andauemden Protesten werden Mitte Dezember erstmals Wahlergebnisse von einem Gericht anerkannt. Am 27.12. konstatiert eine OSZE-Kommission, die auf intemationalen Druck von Milo§evic zugelassen wurde, den Wahlsieg von Zajedno in 13 Stiidten.
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1997 JANUAR 1997: Die USA nehmen ihre Militarhilfe fur Bosnien-Herzegowina wieder auf, nachdem festgestel1t ist, dass die bosniakisch-kroatische FOderation keine UnterStiitzung aus dem Iran mehr erhiilt. Ab 3.1. ist die neue bosnisch-herzegowinische Regierung im Amt. Als Ministerprlisidenten wechseln sich der Bosniake SilajdZic und der Serbe Boro Bosic wochentlich abo Am 13.1. demonstriert eine halbe Million Menschen in Belgrad nochmals gegen die Wahlmanipulationen. Erst jetzt, nach 84 Demonstrationstagen, werden die Ergebnisse von den serbischen BehOrden bestatigt. FEBRUAR 1997: Nachdem KaradZic mit erneuter Gewalt gedroht hat, wenn die Stadt Brcko nicht an die Republika Srpska iibergeben werde, wird am 14.2. die Entscheidung der Internationalen Schiedskommission iiber die Stadt urn 13 Monate aufgeschoben. Am 28.4. unterzeichnen die FR Jugoslawien und die Republika Srpska ein Abkommen iiber die Herstellung "besonderer Beziehungen". Ende Februar wird in Siowenien nach monatelangen Verhandlungen die neue Regierung unter Drnovsek yom Parlament bestatigt. MARZ 1997: In Den Haag stehen erstrnals auch Bosniaken vor Gericht. 1m Kosovo werden am 21.3. illegale Parlaments-und Prlisidentschaftswahlen durchgefiihrt. Als einziger Kandidat wird Rugova mit 99 % erneut zum Prlisidenten gewahlt. APRIL 1997: In Kroatien ist am 14.4. die HDZ Sieger der Kommunal- und Regionalwahlen. Sie gewinnt im Zupanijski dom (Komitatshaus, Oberhaus des Sabor) drei Stimmen dazu und besitzt damit 41 von 68 Mandaten. JUNI 1997: Tudman gewinnt am 15.6. mit 61,2 % die Prlisidentschaftswahlen in Kroatien. Am 19.6. tritt der Spanier Carlos Westendorp als Nachfolger von Carl Bildt das Amt des Hohen Reprlisentanten fur Bosnien an. Am 24.6. wird in Den Haag gegen den bosnisch-kroatischen General Tihomir BlaSkic der Prozess erOffnet. In Serbien bricht am Monatsende das Oppositionsbiindnis Zajedno auseinander. JULl 1997: Das ITCY in Den Haag verurteilt am 1.7. den bosnischen Serben Dusko Tadic zu 20 J ahren Haft. Der Machtkampf in der Republika Srpska spitzt sich zu. Prlisidentin Plavsi6 bittet die SFOR urn Schutz. Am 2.7. lost Plavsi6 das Parlament auf, am 5.7. erk1art dieses die PriiSidentin fur abgesetzt. 1m Kosovo wird das im Man gewahlte Parlament von der serbischen Polizei am 16.7. aufgelost. Am 23.7. wird Lili6 als jugoslawischer Prlisident von Milosevi6 abgelOst, dessen Amtsdauer als serbischer Prlisident aufgrund der Verfassung nicht weiter zu verlangern ist. Siowenien ist einziges ex-jugoslawisches Land unter sechs Staaten, die von der EU zu Beitrittsverhandlungen eingeladen werden. AUGUST 1997: In der Republika Srpska ernennen sowohl die Prlisidentin Plavsi6 wie auch das von ihr aufgeloste, aber von der Fiihrung der SDS in Pale unterstiitzte Parlamentje einen Innenminister. Nach dem Ausschluss aus der SDS griindet Plavsi6 ihre Partei "Serbischer Volksbund" (SNS). SEPTEMBER 1997: In Bosnien-Herzegowina finden am 13.114.9. die mehrfach verschobenen Kommunalwahlen statt. Vertriebene konnen an ihrem gegenwartigen Aufenthaltsort die Stimme fur ihren Herkunftsort abgeben. Bei 80 % Wahlbeteiligung dominieren die jeweiligen ethnischen Parteien SDA, HDZ und SDS. In Serbien verliert bei den Parlamentswahlen am 21.9. der Linksblock von MiIosevi6 und seiner Frau bei 62 % Wahlbeteiligung die bisherige absolute Mehrheit und erringt 110 von 250 Sitzen. Die Radikale Partei unter Vojislav SeSelj verdoppelt ihre Mandatszahl auf 82, die SPO von Vuk DraSkovi6 erringt 45 Sitze. Die oppositionelle DS und andere Parteien boykottierten die Wahl. OKTOBER 1997: In Prishtina wird die mit 20.000 Teilnehmern grofite albanische Demonstration seit 1989 gewaltsam aufgelost. Unter zehn bosnischen Kroaten, die in Split festgenommen und an das Tribunal in Den Haag ausgeliefert werden sollen, ist auch der ehemalige Regierungschef der selbsternarmten Republik der bosnischen Kroaten, Dario Kordi6. In Serbien scheitern am 5.10. die Prlisidentschaftswahlen, da wegen des Oppositionsboykotts die erforderliche Wahlbeteiligung von 50 % nicht erreicht wird. Die gleichzeitig in Montenegro angesetzten Prlisidentschaftswahlen gewinnt in der Stich wahl am 19. 10 der amtierende Ministerprlisident Milo Elukanovi6 vor dem bisherigen Prlisidenten Bulatovic. NOVEMBER 1997: Bei den Parlamentsneuwahlen in der Republika Srpska wird die SDS trotz erheblicher Verluste mit 24 von 83 Sitzen starkste Partei. Der neugegriindete SNS von Plavsic erhalt 15 Sitze, ebenso viele die nationalistischen Radikalen (SRS), die bosnisch-serbischen Ableger der Partei Seseijs. Milosevi6 weist internationale Verrnittlungsangebote mit dem Ziel der Schaffung eines Sonderstatus des Kosovo als Einmischung zuriick. In Siowenien wird am 23.11. Milan Kucan mit iiber 55 % als Prlisident wieder gewahlt.
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DEZEMBER 1997: Der Hohe Beaufuagte fiIr Bosnien-Herzegowina Westendorp erhalt yom Peace Implementation Council (PIC), in dem ilber 50 Staaten vertreten sind, erweiterte Befugnisse. In Serbien wird am 29.12. der bisherige jugoslawische AuBenminster Milan Milutinovic (SPS) knapp vor Seselj zum Priisidenten gewiihlt, nachdem die im Oktober gescheiterte Wahl am 7. und 21.12. wiederholt wurde und eine Beteiligung von 51 % ergab. 1998 JANUAR 1998: In Montenegro tritt Dukanovic sein Amt als neuer Priisident an, die Republik wird von Unrohen erschiittert. Milorad Dodik wird yom Parlament der Republika Srpska zum neuen Ministerpriisidenten gewiihlt, neuer Regierungssitz wird offiziell Banj a Luka anstelle Pales. Am 7. 1. kilndigt die kosovoalbanische U<;K in ihrem Kommunique Nr. 42 die Ausweitung der Kantpfe nach Makedonien an. Am 15.1. endet endgiiltig die UNTAES-Mission mit der vollstandigen Unterstellung Ostslawoniens unter Kroatien. FEBRUAR 1998: In Serbien regiert unter dem bisherigen Regierungschef Mirko MlUjanovic eine Koalition des Linksblocks mit den Radikalen Se§eljs. Am 28.2. beginnt eine serbische Offensive gegen die U<;K, wiihrend die WeltOffentlichkeit mit der Irak-Krise bescMftigt ist. Bei Drenica, wo die U<;K vier serbische Polizisten erschossen hat, kommt es zu Kantpfen, bei denen nach serbischen Angaben ilber 16 U<;KAngehorige umkommen. MARZ 1998: Die Entscheidung iiber den Verbleib Brckos wird erneut - diesmal bis Ende des Jahresverschoben. Die serbische Sonderpolizei setzt die Offensive gegen die U<;K fort und geht in der Region Drenica brutal gegen die ZivilbevOlkerung vor, von der 80 Menschen umkommen. Die AuBenminister der Kontaktgruppen-Staaten drohen am 9.3. Jugoslawien mit Sanktionen. Der US-Sonderbotschafter fur den Balkan Robert Gelbard droht mit einer US-Militiirintervention im Kosovo. Am 22.3. wiihlen die KosovoAlbaner Ibrahim Rugova als Priisidenten wieder sowie ein (von Belgrad ebenfalls nicht anerkanntes) Parlament. Am 26.3. wird Seselj zum Stellvertretenden Ministerpriisidenten Serbiens gewiihlt und bekrliftigt seine Weigerung, mit den Kosovo-Albanern zu verhandeln. Am 31.3. verhangt der UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen die FR Jugoslawien; am selben Tag nimmt die EU Beitrittsverhandlungen mit Slowenien auf. APRIL 1998: Ab Monatsmitte dringt die U<;K verstiirkt aus albanischen Stiitzpunkten in das Kosovo ein. Am 23.4. ergibt ein serbisches Referendum eine 94 %ige Ablehnung einer internationalen Vermittlung. Ab 27.4. sind Wirtschaftssanktionen der EU gegen Jugoslawien in Kraft. Am 29.4. stellt die Kontaktgruppe fest, dass ihre bisherigen Forderungen an Jugoslawien nicht erfilllt seien, und kilndigt die Einfrierung jugoslawischer Auslandsgutbaben an. MAl 1998: Auf der Nato-Friihjahrstagung in Luxemburg wird die Priifung einer Intervention im KosovoKonflikt beschlossen. Russland warnt vor einer Intervention ohne UN-Mandat. Am 15.5. einigen sich unter US-Vermittlung Rugova und Milosevic ilber Verhandlungen ohne Vorbedingungen. Daraufziehen die Kontaktgruppenstaaten die am 9.5. in Kraft gesetzten Sanktionen gegen Jugoslawien zuriick. Momir Bulatovic wird am 21.5. Regierungschef der FR Jugoslawien, nachdem sein Vorganger Radoje Kontic wegen seiner Weigerung, in Montenegro den Ausnahmezustand zu verhangen, abgesetzt wurde. Am 31.5. siegt in Montenegro Priisident Milo Dukanovic bei den Parlamentswahlen mit 50,2 % der Stimmen und 42 von 78 Mandaten vor den Sozialisten Bulatovies (35,5 %). JUNI 1998: In der ersten Monatshalfte gehen die serbischen Einheiten gegen DOrfer im Kosovo vor, die von der U<;K nicht verteidigt werden kOnnen. Die Nato fiihrt am 15.6. LuftmanOver iiber den Nachbarstaaten des Kosovo, teilweise im jugoslawischen Lufuaum, durch, wogegen Russland protestiert. Russlands Priisident Jelzin liisst sich am 16.6. von Milosevic zusichem, dass im Kosovo nicht gegen die Zivilbevolkerung vorgegangen werde. Das am 20.6. auslaufende SFOR-Mandat wird yom UN-Sicherheitsrat am 15.6. unbefristet verlangert. In Bosnien-Herzegowina wird am 22.6. die "Konvertibilna Marka" mit einem Kurs von I: I zur DM als einheitliche Wiihrung eingefiihrt. Nach Auskunft des UNHCR sind seit dem Ende des Krieges 450.000 Fliichtiinge zuriickgekehrt, wiihrend 1,8 Millionen, davon 820.000 innerhalb BosnienHerzegowinas, auf die Riickkehr warteten. Aus dem Kosovo sollen 65.000 vertrieben sein. Am 24.6. weist die U<;K einen von Holbrooke in einem demonstrativen Treffen angebotenen Waffenstillstand zuriick, obwohl sie den serbischen Kraften kaurn etwas entgegenzusetzen hat. Der kroatische Vertreter im bosnisch-herzegowinischen Staatspriisidiurn Kre§imir Zubak verliisst die HDZ und griindet die "Neue Kroati-
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sche Initiative". Die Auslieferung des Kommandanten des Lagers Jasenovac Dinko Sakie an kroatische Justizbehtirden dUTCh Argentinien lOst in Kroatien Debatten iiber die Verbrechen des Ustascha-Staates aus. JULl 1998: Die Verhandlungen zwischen Milo§evie und Rugova scheitern, da ersterer nur iiber eine Autonomie, letzterer iiber Unabhangigkeit des Kosovo verhandeln will. Am 6.7. nimmt eine Beobachtermission (KOOM, Kosovo Diplomatic Observer Mission) mit 200 Diplomaten aus neun Staaten ihre Arbeit auf. In der zweiten Juliwoche GroBoffensive serbischer Einheiten gegen die U<;K und Eroberung (20.7.) der am 17.4. von der U<;K eingenommene Stadt Orahovac, aus der 25.000 Einwohner fliehen. Nachdem an der StraBe zwischen Prishtina und Pee die - yom Kosovo-Parlament seit 23.7. als Teil des albanischen Kampfes anerkannte - U<;K verdrangt ist und das von der Ut;K gehaltene Gebiet in zwei Teile zerfrult, erobern am 28.7. serbische Truppen Mali§evo, wo sich das Ut;K-Oberkommando befand. Am Ende des Monats erklilrt Milo§evie die Militaraktion im Westkosovo fiir erfolgreich been del. In Montenegro ist seit 16.7. die neue Regierung unter Filip Vajanovie im AmI. Die UNPREDEP-Mission in Makedonien wird yom UN-Sicherheitsrat urn ein weiteres halbes Jahr verlangert. AUGUST 1998: Entgegen der Erklarung iiber das Ende der Karnpfe gehen die Serben weiter vor und erweitern die von ihnen konttollierte Zone urn Drenica. Am 13.8. wird Adem Demaqi politischer Vertreter der Ut;K, deren letzte wichtige Bastion Junik am 15.8. von serbischen Truppen nach drei Wochen Belagerung eingenommen wird. Auch bei Prishtina, Prizren und Pee wird gekarnpft, wobei die serbischen Truppen bei ihrem Vormarsch die albanische Bevolkerung aus den Dorfern vertreiben; geschatzt werden 200.000 Fliichtlinge. Die Ut;K erklilrt nun ihre Sttategie der Herrschaft iiber geschlossene Gebiete fur gescheitert. Am 17.8. vermittelt die KDOM einen Waffenstillstand im Kosovo, in A1banien beginnen am selben Tag Manover von 26 Staaten unter Nato-Oberkommando. Am 18.8. verstandigen sich Kroatien und Jugoslawien iiber den Austausch von Kriegsgefangenen und die Eimichtung von Konsulaten in der jeweils anderen Hauptstadt. SEPTEMBER 1998: Rugova und Milo§evic stimmen am 4.9. einer beschriinkten Autonomie des Kosovo, die nach drei Jahren tiberpruft wird, grundsatzlich zu. Am 7.9. beschlieBt die EU ein Landeverbot der Flugzeuge der jugoslawischen Linie JAT. Am 8.9. legt US-Vermittler Christopher Hill einen Vorschlag fiir ein Friedensabkommen im Kosovo vor. Bei den Wahlen zum Staatspriisidium von Bosnien-Herzegowina am 12.-13.9. erhalten (in dieser Reihenfolge) die meisten Stimmen: Izetbegovic, der Kroate Ante Jelavic, der Zubak ablost und der Serbe Zivko Radi§ic, der den KaradZic-Parteiganger Kraji§nik ablOst. In der Republika Srpska wird N ikola PoplaSen von der Serbischen Radikalen Partei gewiihlt und lost im Prasidentenamt Biljana Plav§ic abo Am 20.9. schlagt Rugova fur das Kosovo den Status einer Republik innerhalb Jugoslawiens auf einer Ebene mit Serbien und Montenegro vor. Am 21.9. beginnt in Zagreb ein Prozess gegen neun Kroaten wegen Kriegsverbrechen an Serben. Der UN-Sicherheitsrat droht am 23.9. in Res.1199 mit "MaBnahmen" und fordert - ebenso wie der Europarat - einen Waffenstillstand und Verhandlungen im Kosovo. Tags darauf erliisst die Nato eine "Activation Warning" gegen Jugoslawien. Am 28.9. erklilrt die serbische Regierung ihre Offensive fur beendet, am selben Tag einigen sich in Skopje die Verteidigungsminister der siidosteuropiiischen Lander (ohne FR Jugoslawien) auf die Schaffung einer multinationalen Truppe. Am Ende des Monats haufen sich MeIdungen iiber Massaker an der ZivilbevOlkerung im Kosovo, iiber 1400 A1baner sollen seit Januar getotet und 450.000 vertrieben sein. OKTOBER 1998: Bei einem Besuch in Kroatien durch den Papst wird Kardinal A10jzije Stepinac selig gesprochen, dessen Verhrutnis zum Ustascha-Staat umstritten ist. Obwohl Jugoslawien den Riickzug seiner Truppen aus dem Kosovo meldet, verurteilt der UN-Sicherheitsrat auf einer Dringiichkeitssitzung am 2.10. die Massaker im Kosovo, die Nato bereitet Luftangriffe vor. Die USA kiindigen Milo§evie Militarschlage an, wenn die Angriffe auf die A1baner nicht aufhoren. Am 5.10. droht der EU-Ministerrat mit Sanktionen, und am 7.10. verlangt das EU-ParIament ein militarisches Eingreifen der Nato im Kosovo auch ohne UNMandaI. Am 8.10. erteilt Clinton den US-Streitkraften einen Aktivierungsbefehl, die Kontaktgruppe beschlieBt die Entsendung von Holbrooke nach Belgrad. China und Russland lehnen einen Militarschlag ab, Russland stellt sich aber hinter die Forderung nach einer OSZE-Beobachter-Mission. Am 12.10. willigt Milo§evie gegeniiber Holbrooke in einen serbischen Truppenruckzug, eine Erweiterung der Selbstverwaltung des Kosovo und die Stationierung von 2.000 OSZE-Beobachtern dort sowie einer Luftraumiiberwachung durch die Nato ein. Die Nato setzt dennoch ihre Vorbereitungen fur Luftangriffe fort. In Kroatien tritt am 12.10. Verteidigungsminister (und Arzt Tudmans) Andrija Hebrang (ir.) zuruck, ebenso der Stabschef Hrvoje Sarinie. Wegen der Defizite in der kroatischen Demokratie schiebt die EU Verhandlungen tiber
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ein Kooperationsabkommen hinaus. Am 16.10. beginnnt die Nato mit Aufldlirungsfliigen iiber dem KosoIn Serbien wird gegen die SchlieBung regierungskritischer Zeitungen und Rundfunksender demonstriert. Ein neues Mediengesetz schafft mit harten Strafen fOr ,,Defaitismus" die Grundlage fUr weitere Unterdriickung der Opposition. Nachdem die Ermordung von drei serbischen Polizisten durch die UI;K bekannt wurde, fordert die EU diese auf, alle Provokationen einzustellen. Am 24.10. bekraftigt der UNSicherheitsrat in Res. 1204 die zuvor zwischen OSZE und Jugoslawien vereinbarte Beobachter-Mission (KVM, Kosovo Verification Mission). Am 26.10. werden - kurz vor Ablauf des Nato-Ultimatums - die serbischen Truppen urn einige Tausend Mann reduziert. NOVEMBER 1998: In Makedonien verliert nach dem zweiten Wahlgang am 1.11. das regierende "Biindnis filr Makedonien" mit nur noch 28 der bisher 61 (von 120 Sitzen), Sieger wird die VMRO-DPMNE unter Ljup~e Georgievski zusammen mit der Demokratischen Alternative mit 58 Sitzen. An ihrer Regierung wird mit filnf Posten die albanische Demokratische Nationalpartei beteiligt. Am 7.11. verlegt die serbische Zeitung Dnevni telegrafihren Redaktionssitz von Belgrad nach Montenegro, nachdem der Verleger Slavko Curuvija eine hohe Strafe fOr "Nachrichten zur ZerstOrung der OffentIichen Ordnung" erhalten hat. Der fUr Serbien bestimmte Teil der Auflage wird am 18.11. an der serbisch-montenegrinischen Grenze beschlagnahmt. Am 13.11. beschlieBt die Nato die Stationierung von 1800 Mann zum Schutz der Beobachter im Kosovo (Exfor). Ende des Monats protestieren in Belgrad Studenten gegen Entlassungen von Professoren aufgrund neuer restriktiver Gesetze. Der jugoslawischen Generalstabschef Mom~ilo Peri§ic, der sich im Friihjahr dem Einsatz des Militars gegen die Regierung in Montenegro widersetzt hat, wird abgesetzt. Die Absetzung des langjahrigen Chefs des Geheimdienstes Jovica Stani§ic lOst viele Spekulationen aus. DEZEMBER 1998: SFOR-Soldaten verhaften den General der bosnischen Serben Radislav Krstic, der nach Den Haag zum UN-Kriegsverbrecher-Tribunal Oberstellt wird. US-VermittIer Christopher Hilllegt am 2.12. einen neuen Kosovo-Friedensplan vor, der bei keiner Seite Zustimmung fmdet. Am 6.12. beginnt die Stationierung der Exfor-Einheiten in Makedonien, die im Kriegsfall die OSZE-Beobachter im Kosovo schiitzen sollen. Die im sechsmonatigen Wechsel vorgenommene Oberpriifung der SFOR-Prasenz in BosnienHerzegowina ergibt, dass die 32.000 Soldaten nicht abgezogen werden. Der von iiber 50 Staaten beschickte Bosnien-Friedensrat beschIieBt in Madrid, dass die SFOR die Riickkehr der FliichtIinge sichern soll. Am 9.12. verleiht die EU ihren Sacharow-Preis fOr Menschenrechte an Rugova. Am 14.12. beginnt Holbrooke mit neuen Vermittlungen im Kosovo. Am 24.12. kOndigt die UI;K den Waffenstillstand im Kosovo auf, nachdem schon seit 14.12. vereinzelt Kampfe stattgefunden haben. Am 27.12. gehen die serbischen Krafte wieder zu einer Offensive iiber. Aus den jugoslawischen Streitkraften werden Kritiker Milosevies entlassen. Ende des Jahres wird in Belgrad der Versuch unternommen, 17 Parteien und Verbande zu einem erneuten Oppositionsbiindnis ("BOndnis filr Veranderungen") zusammenzuschlieBen. YO.
1999 JANUAR 1999: Kroatien weigert sich, den fiilheren FUhrer der Bihae-Enklave Fikret Abdic nach BosnienHerzegowina auszulieferen, wo er wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden soli. Am 9.1. tOten ftanzOsische SFOR-Soldaten den mutrnaBlichen Kriegsverbrecher Dragan Gagovic, den ehemaligen Polizeichef der ostbosnischen Stadt Fo~. Tags darauf zerstOrt die SFOR Waffen der bosnischen Kroaten als Strafaktion gegen die Dayton-widrige Ernennung von GeneraJen durch den kroatischen Vertreter im bosnisch-herzegowinischen Staatsprllsidiurn. 1m Kosovo vermitteln die OSZE-Beobachter, die ihre Gesamtsollstarke von 2.000 Mann erheblich unterschreiten, am 13.1. die Freilassung von serbischen Polizisten aus der Gefangenschaft der UI;K. Am 16.1. werden im Kosovo-DorfRa~ 4S Leichen gefunden, offenbar Opfer eines Massakers an Zivilisten durch serbische Krafte. Tags darauf wird yom serbischen Informationsministeriurn erklart, die UI;K habe den Leichen ihrer gefallenen KlImpfern Zivilkleidung angezogen. Die jugoslawische Regierung verweigert danach der Chefanklllgerin des UN-Kriegsverbrechertribunals, Louise Arbour, die Einreise zur Untersuchung des Massakers. Der Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, beschuldigt die Serben der Tat und wird von den serbischen Behiirden zum 21.1. ausgewiesen. Darauf und nach ergebnislosen Gesprllchen ihrer GeneraJe Wesley Clark und Klaus Naumann mit Milo§evic in Belgrad setzt die Nato am 20.1. "SicherheitsmaBnahmen" fUr ihre Truppen in der Region in Kraft. Am 22.1. wird die Ausweisung Walkers aufgehoben. Am 26.1. erklart die Nato, fUr einen Militareinsatz zur Beendigung der Klimpfe im Kosovo vorbereitet zu sein; die UI;K kiindigt die Bildung einer eigenen Regierung an. In der Republika Srpska scheitert Prasident PoplaSen beim zweiten Anlauf, seinen Kan-
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didaten Brano Milju~ yom Parlament zum Regierungschef wahlen zu lassen. Am 29.1. fordert die BalkanKontaktgruppe zu Kosovo-Verhandlungen spatestens ab dem 6.2. und einer Einigung bis zum 20.2. auf, ansonsten werde es zu einer Militiirintervention kommen. FEBRUAR 1999: Am 6.2. beginnen im Schloss Rambouillet bei Paris die Verhandlungen zwischen Serbien und Vertretem der Kosovo-Albaner einschlieBlich der V<;:K. Diese lehnen den bloBen Autonomiestatus fur die Provinz ab, die Serben sperren sich gegen die Aufstellung einer internationalen Streitmacht. Nach der ersten Woche werden die Verhandlungen planmaBig bis zum 20.2. verlangert. Eine erneute Verlangerung lauft am 23.2. ab, worauf die Nato sich einsatzbereit macht. Nachdem beide Delegationen prinzipielle Zustimmung zu einem Kompromiss signalisiert haben, stimmt die Kontaktgruppe einer Fortsetzung der Gesprache am 15.3. zu. Zugleich gehen weitere 6.500 serbische Soldaten mit 250 Panzern und 90 Artilleriegeschiitzen an der Grenze zum Kosovo in Stellung, der in Rambouillet verhandlungsfuhrende serbische Prasident Milan Milutinovic kiindigt die "Bekampfung der albanischen Terroristen mit allen Mitteln" an. MARZ 1999: Da Makedonien Beziehungen zu Taiwan aufgenommen hat, scheitert die Verlangerung des UN-Mandats der UNPREDEP am Veto Chinas im Sicherheitsrat. Am 2.3. tritt in der Fiihrung der U<;:K der als radikal geltende Adem Demaqi zuriick. Der Leiter des politischen Direktorats der U<;:K, der Verhandlungsfuhrer in Rambouillet Hashim Thaqi, wird von der U<;:K a1s kiinftiger Regierungschef im Kosovo nominiert. Am 3.3. kiindigt der Prasident der Republika Srpska Popl~en die Entlassung des mit Parlamentsmehrheit regierenden Milorad Dodik an. Zwei Tage darauf wird Popl~en selbst Yom Hohen Reprasentaten in Bosnien-Herzegowina Westendorp abgesetzt. Am 5.3. gibt auch der Verrnittler fiir den Status der Stadt Brcko, Robert Owen, a1s Schiedsspruch bekannt, dass die nach massiven Vertreibungen 1992 nun mehrheitlich serbisch bewohnte Stadt ein neutraler Distrikt werden soil. Dem massiven bosnischserbischen Protest dagegen schlieBen sich auch gemaBigte Politiker wie Dodik an, der seinen Riicktritt erklart, ihn in der Foige aber zuriicknimmt. Am 7.3. billigt das Parlament der Kosovo-Albaner die Vereinbarungen von Rambouillet, U<;:K-Vertreter fordern danach die Einstellung a1ler serbischen Militaraktionen bevor sie einwilligen konnen. Die Nato verstarkt ihre in Makedonien stationierten Krlifte. Serbische Einheiten riicken im Kosovo weiter vor, schieBen Dorfer in Brand und vertreiben daraus ihre Bewohner (Operation "Hufeisen"). Die serbischen Behorden verhangen gegen albanische Zeitungen Geldstrafen, am 17.3. wird die Zeitung Kosova Sot beschlagnalunt. An diesem Tag stellt das finnische Untersuchungsteam in Prishtina seine Ergebnisse vor, wonach die 45 Opfer in Ra~ak im Januar Zivilisten waren. Am 18.3. unterzeichnet nach der Wiederaufnalune der Verhandlungen in Paris die U<;:K das Kosovo-Abkommen, nach Belgrads Weigerung sind die Verhandlungen am 19.3. endgiiltig gescheitert. Tags darauf beginnen die 1.400 OSZE-Beobachter den Abzug aus dem Kosovo, Holbrooke iiberbringt Milosevic eine "letzte Warnung". Die Jugoslawische Arrnee beginnt eine neue Offensive. Am 23.3. wird die Ende Januar yom NatoRat an den Nato-Generalsekretar Javier Solana erteilte Vollmacht, einen Angriff anzuordnen, wirksam. Am 24.3. beginnen die Luftangriffe der Nato auf Jugoslawien, Jugoslawien ruft den Kriegszustand aus und bricht am 25.3 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland, den USA, GroBbritannien und Frankreich abo An diesem Tag wird der kosovarische Menschenrechtsanwalt Bajram Kelmendi mit seinen beiden Sohnen in Prishtina von serbischen Polizisten festgenommen und umgebracht. Am 26.3. werden zwei jugoslawische MiG-29 iiber bosnischem Territorium abgeschossen. Tags daraufverliert die Nato ein amerikanisches Flugzeug yom Typ F-117 ("Tarnkappenbomber"), der Pilot wird geborgen. Am 31.3. geraten drei US-Soldaten an der makedonisch-jugoslawischen Grenze in serbische Gefangenschaft. Die in immer groBeren Zahlen fliehenden Kosovaren berichten von schweren Verbrechen der serbischen Einheiten. Nach UNHCR-Angaben sind mittlerweile eine halbe Million Kosovaren vertrieben, die Hiilfte von ihnen hat das Land verlassen. APRIL 1999: Am 1.4. zeigt das serbische Fernsehen Rugova, der das Ende der Luftangriffe fordert. Am 2.4. wird erstmals die Innenstadt von Belgrad angegriffen und das Gebaude des Innenministeriums zerstort. Am 3.4. sprengt die SFOR die Bahnverbindung zwischen Serbien und Montenegro auf bosnischem Gebiet. Ab 4.4. werden die Kosovo-Vertriebenen mit einer Luftbriicke unterstiitzt. Am 7.4. werden zehntausende Fliichtlinge unter Zwang von der makedonischen Regierung aus dem Lager Blace weggebracht, auch die serbischen Streitkrlifte deportieren Fliichtlinge an der anderen Seite der Grenze. Am 10.4. wird in Belgrad von Unbekannten der Verleger Slavko Curuvija erschossen. Nachdem die Nato schon vereinzelt zivile Ziele getroffen hat, werden bei einem Angriff auf einen Zug am 12.4. mindestens dreiBig Menschen getotet. Am 14.4. kommen (nach serbischen Angaben) mindestens 70 Menschen bei einem Angriff auf
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einen Konvoi mit FIOehtlingen urn; Nato und Jugoslawien besehuldigen sieh gegenseitig, spater gibt die Nato die Mogliehkeit eines Fehlers zu. Naeh langeren Diskussionen sehlieBt am 18.4. Nato-Generalsekretar Javier Solana Bodentruppen nieht mehr aus. Am 22.4. trifft die Nato eine Villa Milosevics, tags darauf einen Femsehsender. Erst jetzt wird von EU und Nato ein Olembargo gegen Jugoslawien verhangt. Am 25.4. sehlieBt der jugoslawische Vizeprasident Vuk DraSkovic eine UN-Truppe im Kosovo nieht aus, drei Tage spater wird er abgesetzt. Gegen Monatsende meldet der UNHCR mittlerweile 371.000 FIOehtinge aus dem Kosovo. Am 30.4. seheitert der russisehe Jugoslawien-Vennittler Wiktor Tsehemomyrdin beim Versuch, Milosevic zum Einlenken zu bewegen. MAl 1999: Am 1.5. trifft die Nato einen Bus und totet 40 Mensehen. Am 2.5. werden die drei USSoldaten aus jugoslawiseher Gefangensehaft freigelassen. Am 3.5. legt die Nato mit Bomben Teile der Stromversorgung in Jugoslawien lahm. Am 6.5. einigen sieh die sieben fOhrenden Industriestaaten und Russland (G 8) Ober eine politisehe Losung, einsehlieBlich einer intemationalen Truppe im Kosovo unter FOhrung der UNO. Am 7.5. kommen bei einem Angriff der Nato auf die chinesische Botschaft in Belgrad drei Menschen urns Leben. Am 9.5. wird Fehmi Agani, Vertreter der Albaner in Rambouillet, im Kosovo ennordet. Am 10.5. wird vor dem Intemationalen Gerichtshof in Den Haag die Klage Jugoslawiens gegen die beteiligten Nato-Staaten verhandelt. Belgrad gibt einen Truppenruckzug aus dem Kosovo bekannt, der von der Nato angezweifelt wird. Die Nato steigert ihre Angriffe am 11.5. auf Ober 600 Einsatze an einem Tag. 87 Opfer am 13.5. bei einem Nato-Angriff auf das DorfKorisa, worauf die Nato Jugoslawien beschuldigt, Albaner als "menschliche Schutzschilde" einzusetzten. Am 14.5. Obemimmt der finnisehe Prasident Martti Ahtisaari im Aufrag der EU die VerhandlungsfOhrung mit Jugoslawien. Am 16.5. schlagt der italienische Ministerprasident Massimo D' Alema eine einseitige Waffenruhe der Nato vor, droht mit dem Einsatz von Bodentruppen. Am 18.5. erstrnals groBerejugoslawisehe Demonstrationen gegen diejugoslawische KriegsfOhrung, nachdem seit Beginn der Angriffe Kundgebungen ausschlieBlich gegen die Nato stattfanden. Am 19.5. einigen sieh Vertreter der G-8-Staaten auf einen Resolutions-Entwurffur den UN-Sicherheitsrat. Milosevic willigt gegenOber Tschemomyrdin in eine Liisung auf UN-Basis ein, will allerdings nur "Ieicht bewaffnete Blauhelme" akzeptieren. Am 24.5. beschlieBt die Nato, dass die kOnftige Truppe fur das Kosovo 50.000 Mann stark werden solie. Mittlerweile ist die Zahl der aus dem Kosovo Vertriebenen auf insgesamt 800.000 angestiegen. Am 27.5. wird yom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Anklage gegen Milosevic erhoben (seit der Grondung die 84. Anklage), auBerdem gegen vier weitere Regierungsmitglieder, darunter der JV-Oberbefehlshaber Ojdanic und Milan Milutinovic. Die Nato steigert weiter ihre Angriffe und fliegt 772 Einsatze allein am 31.5. JUNI 1999: Am 2.6. einigen sich die Nato-Staaten und Russland auf dem Petersberg bei Bonn auf einen Friedensplan fOr das Kosovo. Martti Ahtisaari und Tschemomyrdin fliegen naeh Belgrad. Am selben Tag weist der Intemationale Geriehtshof in Den Haag die Klage Jugoslawiens gegen die Nato-Staaten zuruck, da sich die Beteiligten zuvor nicht der Reehtspreehung des Gerichts unterworfen hatten und eine davon unabhangige Verfahrensaufnahme nur im Faile eines Volkermordes moglieh sei. Presseberiehte Ober konkrete Oberlegungen fOr Nato-Einsatze am Boden, auch erstmals Ober eine LuftunterstOtzung der Nato fOr die UCK. Am 3.6. billigt zuerst das serbische Parlament mit 136 gegen 74 Stimmen (der Radikalen Partei Seseljs) und danach Milosevic den Friedensplan, der den volligen Abzug der serbisehen Truppen, die ROckkehr der FIOchtlinge und die Stationierung von Truppen unter UN-Mandat vorsieht. Die territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens soli gewahrt und die UCK entwaffnet werden. Die Luftangriffe der Nato sollen erst eingestellt werden, wenn der serbische Abzug und das Ende der GewaltrnaBnahmen verifiziert ist. Darauf beginnen Verhandlungen zwischen der Nato unter dem britischen General Michael Jackson und serbischen Militars Ober Details des Abzugs, die in der Nacht yom 6. zum 7.6. abgebrochen werden, worauf die Nato-Angriffe verstarkt werden. Am 8.6. einigen sich die AuBenminister der G-8-Staaten in Koln auf einen Text fOr eine UN-Sicherheitsrats-Resolution, die der KFOR ihr Mandat verleihen soli, wenn der serbische Truppenabzug in Gang is!. Am Abend des 9.6. wird nach langem Verhandeln das Militarabkommen zwischen der Nato und Jugoslawien geschlossen, das den Abzug der serbischen Streitkrafte in elf Tagen regelt. Am 10.6. Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats Ober eine zivile Ubergangsregierung im Kosovo (UNMIK) und die Entwaffung der Albaner. Die Nato gibt die vorlaufige Einstellung der Luftangriffe bekannt und warnt vor Verziigerungen beim ROckzug der 40.000 serbischen Soldaten. Am II. 6. rOckt Oberraschend ein 200 Mann starkes russisches Kommando mit SFOR-Einheiten alJS Bosnien-Herzegowina nach Prishtina vor und besetzt dort den Flughafen. Am 14.6. tritt die Radikale Partei aus der
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serbischen Regierung als Protest gegen das Friedensabkommen zuriick, macht dies wenige Tage spater auf Druck des Priisidenten wieder rUckgangig. Das britische Au/3enministerium erkliirt am 17.6., serbische Einheiten hatten iiber 10.000 Kosovo-Albaner ermordet. Am selben Tag erkliirt US-Priisident Clinton, Serbien werde unter Milo~evic keine west1iche Wirtschaftshilfe erhalten. Am 20.6. verkiindet die Nato auf dern G-8-Gipfel in KOIn die definitive Einstellung der Luftangriffe. In Belgrad ergeht der Aufruf an die nach UNHCR-Angaben ca 33.000 serbischen Kosovo-Fliichtlinge, zuriickzukehren. Ein Militarabkommen zwischen Russland und den USA regeJt die russische Beteiligung an der KFOR, ohne dass eine russische Zone gebildet wird. Seit dem 20.6. finden in Belgrad Protestdemonstrationen gegen Milosevic statt. Am 21.6. unterzeichnen General Jackson und Hashim Thaqi ein Abkommen iiber die Entwaffung der U<;:K. Am 23.6. beteiligen sich serbische Reservisten an den sich ausbreitenden Protesten gegen die Regierung. Tags daraufwerden die meisten Kriegsrechtsbestimmungen in Jugoslawien aufgehoben. Immer wieder kommt es im Kosovo zu Obergriffen zurUckgekehrter Albaner auf Serben, teilweise auch auf Roma. Die USA setzen funf Mio. US $ als Kopfgeld fur Milo~evic aus. Am 29.6. einigen sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf die Emennung des vorigen deutschen Kanzleramtsministers Bodo Hombach zum EU-Balkan-Koordinator, der Osterreicher Wolfgang Petritsch sol1 als Nachfolger von Carlos Westendorp Hoher Repriisentant in Bosnien werden. JULI 1999: Der jugoslawische Regierungschef Momir Bulatovic kiindigt am 1.7. ein neues Kabinett an, dem wieder vojislav Seselj angehtiren soil. Nach Nato-Angaben konzentriert Belgrad Truppen in Montenegro und besetzt Schliisselpositionen mit loyalen Serben. In der vojvodina werden offen Unterschriften fur eine Riickttittsforderung an Milo~evic gesarnmelt. Nach Abhtirskandalen und anderen Geheimdienstaffiiren emennt der kroatische Priisident am 2.7. seinen Sohn Miroslav Tudman zum Chef der kroatischen Sicherheitsdienste. Kroatien verklagt vor dem Intemationalen Gerichtshofin Den Haag Jugoslawien wegen volkermordverbrechen ab 1991. Nachdem verhandlungen zwischen Nato und Russland iiber dessen Unterstiitzung der KFOR stockten, erklaren Ungam, Rumanien und Bulgarien am 4.7., russischen Transportmaschinen keine Oberquerung ihres Territoriums zu gestatten. Einen Tag spater wird Einigung iiber die russische Beteiligung erzielt. Der UNHCR erkliirt am 5.7., dass seit Ende des Krieges fast 590.000 KosovoFliichtinge zurUckgekehrt seien. Am 8.7. beginnt die Riickfiihrung der in Deutschland aufgenommenen Fliichtlinge. Immer wieder entdecken KFOR-Soldaten Massengraber im Kosovo, das grOBte im Juli gefundene enthiilt bis zu 350 Tote. Die serbische Opposition demonstriert gegen Milo~evic, besonders heftig in Orten wie valjevo, wo wegen der Zerstiirung der Riistungsbetriebe die wirtschatIiche Basis der Beviilkerung verloren ist. 1m Kosovo kommt es zu Kundgebungen gegen die russischen KFOR-Soldaten. Die OSZE beschlieBt am 10.7. die Entsendung von 700 Beratem ins Kosovo. Ober 100.000 Serben sollen das Kosovo verlassen haben. Es wird bekannt, dass jugoslawische Militargerichte wiihrend der Nato-Angriffe iiber 23.000 verfahren gegen Wehrdienstverweigerer eingeleitet haben. Weiterhin befinden sich Hunderte albanischer Zivilgefangener in serbischer Haft. Am 12.7. sind nach UNHCR-Angaben noch etwa 100.000 Kosovo-vertriebene auBerhalb ihrer Heimat. Die serbische Oppositionsbewegung bereitet zur Monatsmitte einen Protestmarsch auf Belgrad vor. In Montenegro wird verstarkt iiber eine Unabhangigkeit von Serbien diskutiert. Am 14.7. beginnen montenegrinisch-serbische verhandlungen iiber die Neugestaltung des innerjugoslawischen verhiiltnisses. Am 14.7. kehrt Ibrahim Rugova nach Prishtina zuriick. Immer wieder kommt es im Kosovo zu Gewalttaten. Nachdem am 23.7. in Gracko 14 serbische Bauem umgebracht worden sind, erkliirt KFOR-Oberkommandierender Jackson am 26.7., dass in den zurUckliegenden sechs Wochen 73 Serben und 72 Albaner getiitet worden seien. Der montenegrinische Ministerpriisident vujanovic fordert Milosevic zum Riickttitt auf. Am 28.7. werden die ersten von internationalen Organisationen erhobenen Zahlen iiber die Zerstorungen im Kosovo vorgelegt. Demnach wurden von 200.000 registrierten Hausem 120.000 ganz oder teilweise zerstOrt. Daraus errechnet sich ein Bedarf an Wiederaufbauhilfe fiir 1999 in Hohe von 300 Mio. Euro, fur das Folgejahr von mindestens 500 Mio. Euro. Am 30.7. treffen sich in Sarajevo 31 Staats- und Regierungschefs, urn den Stabilitatspakt fur Siidosteuropa zu verabschieden.
Glossar, Abkiirzungen und Aussprache Matthias Vetter
In dieses Glossar wurden in erster Linie BegrifIe und Abldlrzungen aufgenommen, die im Handbuch mehr als einmal vorkommen, aber nur einmal im Text er!dart werden. Wenn nichts anderes vermerkt ist, entstammen die fremdsprachlichen Begriffe dem KroatischIBosnischlSerbischen bzw. dem Englischen. Geographische Begriffe - wenn sie nicht historisch-politisch bedeutsam sind - wurden nicht aufgenommen, ebenso Begriffe und Kilrzel, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kOnoen (etwa "Orthodoxie", ,,Nato" usw.). Direkte deutsche Aquivalente der Begriffe sind in AnfiIhrungszeichen gesetzt. Ajan: Gewlihlter ReprlIsentant im osmanischen Bosnien. Arbanas: Albaner", pI. Arbanasi, von Arber, dem Namen fur die Albaner bis zur Osmanischen Zeit, danach fiIr die Albaner, die nach Italien aussiedelten. Amaut: ,,Albaner" (ttlrk.), in den slawischen Sprachen oft pejorativ gebraucht. Aromunen: Andere Bezeichnung fiIr die ~ Wlachen, vor allem fiIr die im heutigen Makedonien lebende romanischsprechende Minderheit, teilweise auch als Makedorumlinen und Kutzowalachen bezeichnet. Autokepbalie, autokepbaJ: "Selbstbestimmung" (griech.), im orthodoxen Christentum gebrauchte Bezeichung fiIr eine unabhlingige, zumeist nationale Kiche mit eigenem Patriarchen. Ban, Banus: ,,Landesherr", ursprQnglich avarischer Begriff, historisch bei den Kroaten gebraucht, seit dem 12. Jahrhundert Bezeichung fiIr den Statthalter des ungarischen KOnigs in Kroatien, ab Mitte des 12. Jahrhunderts Bezeichnung der bosnischen Herrscher, danach auch fiIr die Befehlshaber der ungarischen Grenzregionen (,,Markgraf'). Banovina: ,,Banschaft", unter den Habsburgem als ,,Banalkroatien" das Gebiet unter der Herrschaft des ~ Bans, entspricht ~ Zivilkroatien im Gegensatz zur ~ Militargrenze. 1m KOnigreich Jugoslawien nach 1929 territoriale Einheit ohne Identitllt mit historischen Grenzen. Banovina Hrvatska bezeichnete 1939 (~ Sporazum), die zusanunengeschlossenen und urn einige Gebiete in Bosnien und der Herzegowina erweiterten zwei Banschaften (Save und KilSte) mit mehrheitIich kroatischer BevOIkerung. Banus: ~ Ban, latinisierte Form. Beglerbeg: GroBgouvemeur im Osmanischen Reich, steht einem Beglerbegluk vor. Bjelali: "WeiSe", montenegrinische Anblinger des Zusanunenschlusses mit Serbien 1918, nach der weiBen Farbe der Stimmzettel. Bljesak: ,,Blitz", kroatische Operation zur Rilckerberung von Westslawonien im Mai 1995. Bogumilen, Bogomilen: "Gottesfreunde", mittelalterliche Haresie mit dualistisch-manichaischem Weltbild, die sich besonders in Bulgarien ausbreitete. Spater irrtilmlich mit der ,,Bosnischen Kirche" g1eichgesetzt. Bosaneiea: In Bosnien im Mittelalter gebrauchliche Form der kyrillischen Sehrift. Bosansb Krajina: "Bosnisehe Krajina", Teile Nordwestbosniens mit mehrheitIieh serbischer BevOlkerung unter serbische Kontrolle, im September 1991 proklamiert. Boinjak: ,,Bosniake", unter der Habsburger Herrsehaft, und dann - Muslim als ethnisehe Bezeichung ablOsend - wieder seit Mitte der neunziger Jahre gebrauchte Benenoung der sich nieht als Kroaten oder Serben (oder AngehOrige der Minderheiten) definierenden Bosnier (ethnisch neutral: Bosanac). Bunjevzen, Bunjewatzen: An der ~ Militargrenze angesiedelte katholische BevOlkerung romanisehwlachiseher Herkunft, die im 16. Jh. aus dem osmanisehen Herrsehaftsbereieh ins Habsburgerreich geflohen waren. Teilweise auch von den Tilrken als Grenzer angesiedelt. Andere Bezeichnung: Sehokzen. Cemiyet, Dlemijet: "Vereinigung", (ttlrk.) Kurzform von: Islam Mufahaza-YI Hukuk Cerniyet, ,,Islamisehe Vereinigung zur Verteidigung der Gerechtigkeit", Tilrkiseh-albanische Partei im Kosovo und Makedonien und Interessenvertretung der Muslime im ersten Jugoslawien, albanische Sehreibweise: Xhemijet, identisch mit der Bezeichnung Bashkim.
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l:etovanje: ,,Bandentwn", Mischfonn aus Raubertum und Aufstandsbewegung gegen die Osmanen in Serbien und Montenegro im 19. Jahrhundert (~ Haiduken, ~ Tschetnik). l:iftluk: ,,Bauernhof' (ttlrk. <;:iftlik), privates Landgut im Osmanenreich. Cma Gora: "Schwarzer Berg", Eigenbezeichnung Montenegros seit dem 13. Jahrhundert. Crna Rub: "Schwarze Hand", terroristische Geheimorganisation in Serbien seit Beginn des 20. Jahrhunderts, weitgehend identisch mit der Organisation Ujedinjenje iii smrt ("Vereinigung oder Tod"). Denar: Wahrung in Makedonien heute. DeYfirme: ,,Knabenlese" (ttIrk.), zwangsweise Rekrutierung christIicher Jungen durch die Osmanen. Domobranci: "Heimwehren" (slowenisch), Antikommunistische Milizen in Slowenien zur Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Dutchbat Niederlandische Unotruppen in Srebrenica 1995. Eparchie: ,,DiOzese" (griech.) , ostkirchliche Bezeichnung eines Gebietes unter einern Bischof. Exarchat (griech.) Innerhalb der Orthodoxen Kirche ein Gebiet mit einer gewissen Eigenstandigkeit, das von einern Vertreter des Patriarchen (Exarch) geleitet wird. Eyalet: GroBprovinz des Osmanischen Reichs unter einern ~ Beglerbeg, auch Beglerbegluk genannt (ursprOnglich nur die Bezeichnung von Amt und Wilrde des Beglerbeg, ab Ende des 16. Jhs. auch sein Herrschaftsbereich), 1864 durch die Bezeichnung ~ Vilayet ersetzt. G1agoliza: Auf die Slawenmissionare Kyrill und Method zuriickgehendes Alphabet zur Verschriftlichung des Slawischen, auch nach der AblOsung durch die kyriUische bzw. lateinische Schrift noch bis in die Neuzeit in Kroatien in der Liturgie gebraucht. Grune Barette: Zelene beretke, bewaffnete muslimische Organisation in Bosnien-Herzegowina, 1992. Guslar Sanger von Volksliedem und -epen, der sich auf dern Saiteninstrument "Gusla" begleitet. Haiduken, Heiducken: Urspriinglich ungarischer Begriff fur Hirten, dann fur Grenzer zurn Schutz gegen das Osmanische Reich, schlieBlich historischer Oberbegriff fur antiosmanische bewaffnete Gruppen, auch Rauberbanden, ~ Tschetniks. Herceg-Bosna: Kroatische Separatstaatsbildung in Bosnien-Herzegowina im Juli 1992 bis zurn Washingtoner Abkommen MlIrz 1994. Hohe Pforte: Auch kun: Pforte, ursprOnglich Eingangsbereich des Sultanspalasts in Istanbul, AuBenministerium des Osmanischen Reichs, oft fur dieses insgesamt gebraucht Hoher Reprisentant: High Representative, Verantwortlich in Bosnien-Herzegowina filr die Verwirklichung des Dayton-Abkommens, emannt vom Dayton-Lenkungsausschuss, in dern die G-8-Staten, die EU-Ratsprasidentschaft und die EU-Kommission sowie die Organisation der Islamischen Konferenz vertreten sind, Nominierung wird vom UN-Sicherheitsrat bestatigt. Hum: ~ Zahumlje, Herzegowina D1yrer: UrsprOngliche indoeuropi!i.sche BevOlkerung des Westbalkans, davon abgeleitet der rOmische Name Dlyricum filr die Gebiete Ostlich der Adria. Die Anhanger des ~ Dlyrismus hieBen Dlyrier. D1yrismus: SUdslawische politische StrOmung im 19 Jh., vor a1lern aIs Einigungs- und Selbstandigkeitsbewegung im habsburgischen Kroatien. Janitscharen: Eigtl. ,,Neue Truppe" (ttlrk. Yeni ~ri), osmanische Elitetruppen, die ursprOnglich auf die ,,Knabenlese" (~ dev~inne) in der christlichen BevOlkerung zuriickgehen, ab dem 17. Jahrhundert aber vorwiegend anders rekrutiert wurden. Ka~ak ,,Rebell" (alb., tilrk. eigentlich "Fltichtling"), antiserbischer a1banischer Aufstandischer im Kosovo, nach 1912 und in der Zwischenkriegszeit. Kapetanija: pI. Kapitanije, ,,Hauptmannschaft", von einern Kapetan (ursprUnglich Militiirkommandeur im Grenzgebiet) verwaltete Region im osmanischen Bosnien. Katun: In allen Balkansprachen vorkommender, evt. urspr. a1banischer Begriff flIr einen Verwandtschaftsverband bzw. eine Ansiedlung auf der Grundlage gemeinsamer Weidewirtschaft (~ Transhumanz). Kmet: Leibeigener Bauer, teilweise Pachter im osmanischen und k.u.k. Bosnien. Knez: ,,FUrst", historisch vor a1lern in Montenegro auch Bezeichnung eines Dormtesten oder Starnmesoberhaupts, ahnlich ~ Vojvode. Kontaktgruppe: GegrQndet 1993 von USA, GroBbritannien, Deutschland, Frankreich, Russland, hinzu kam Italien, a1s infonneller Rat dieser Staaten zur Koordinierung ihrer Balkanpolitik. Konvertibilna Marka: Einheitliche Wahrung in Bosnien-Herzegowina seit Juni 1998.
Glossar, Abkiirzungen, Aussprache
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Kosmet: Bis 1968 in Jugoslawien flir das Kosovo gebrauchte Abkiirzung Kosovo-Metohija. Krajina: "Grenzland", serbisch besiede1te Gebiete in Kroatien, basierend auf der Institution der 7 Militiirgrenze. Der Begriffwurde von serbischen Nationalisten 1990 bei der Proklamation ihrer "autonomen Provinz" in Kroatien iibemommen. Kuna: Wiihrung in Kroatien heute. Militiirgrenze: Auch Confm, im Grenzbereich des Habsburger Reiches zu den Osmanen im 16. -18. Jahrhundert mit eigenen Rechtsstatus eingerichtet. A1s 7 Vojna krajina in Kroatien und Slawonien mit starken serbischen Bevolkerungsanteilen. Millet: Eigtl. "Nation" (rurk.), nicht-muslimische Religionsgemeinschaft (im Wesentlichen Christen und Juden) mit Selbstverwaltungsrechten im Osmanischen Reich. Nahija, Nabiye: Untere Verwaitungseinheit(Kreis) im Osmanischen Reich. Naprednjaci: ,,Fortschrittler", Partei in Serbien Ende des 19. Jahrhunderts. Narodno-oslobodilafka vojska: "Volksbefreiungsarmee", kommunistische Partisanenarmee im Zweiten Weltkrieg. Narodnost: "Volkerschaft", ,,Nationalitat", Minderheit von einem Yolk, dessen Mehrheit auBerhaib Jugoslawiens lebte, z. B. A1baner, Ungam, Tschechen etc. Nernanjici: "Nemanjiden", serbischesHerrschergeschiechtvom 12. bis 14. Jahrhundert. Oluja: "Sturm", kroatische Operation in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, August 1995. Papak Eigtl. ,,Huf, Klaue", PI. Papci, im bosnischen Sprachgebrauch primitiver Mensch biiuerlicher Herkunft, in den neunziger Jahren verwendet zur Kennzeichnung der Aggressoren gegen die 7 Raja. Paschalyk auch pa§aluk, tUrk. p~allk, osmanische Provinz unter einem Pascha Patriotische Liga: Patriotska liga, bewaffnete muslimische Organisation in Bosnien-Herzegowina 1992. Pirin-Makedonien: Heute aufbulgarischem Staatsgebiet Iiegender Tei! des historisch-geographisch verstandenen Makedonien. Poglavnik "Oberhaupt", ,,FUhrer", Eigenbezeichnung des 7 Ustascha-Chefs Pavelic. Preporod: "Wiedergeburt", Bezeichnung dernationalen Bewegungen der Siidslawen im 19. Jahrhundert. Ragusa: Historische Bezeichnung der Republik Dubrovnik. Raja, raya: Eigtl. "Herde" (arab./rurk.), urspriinglich die steuerpflichtige, nicht dem Militiir und der Verwaltung angehorige und dam it hauptsiichlich nicht-islamische Bevolkerung unter den Osmanen, im bosnischen Sprachgebrauch dann aile osmanischen Untertanen, zuletzt die einfache urbane Bevolkerung. Raska: "Raszien", historische Bezeichnung fur Serbien. Raszier oder Raitzen, ursprunglich Aussiedler aus Siidserbien bzw. Kosovo, wurden lange Zeit in Osterreich aile Serben genannt. Reis-ul-U1erna: ,,Haupt der Religionsgemeinschaft" (arab./tiirk.) Oberhaupt der Muslimgemeinde, in Bosnien-Herzegowina 1882 eingefUhrtes Amt. Republika Srpska: "Serbische Republik", ab 1992 innerhalb Bosnien-Herzegowina Rhomiier: ,,Romer" (griech.) Selbstbezeichnung der eigentlich griechischen Bewohner von Byzanz. Rilindja: "Wiedergeburt" (alb.) Nationale Bewegung der A1baner im 19. Jahrhundert. Rusinen, Ruthenen: Sprecher einer ostslovakisch-ukrainischen Mundart, die im siidslawischen Bereich des Habsburgerreichs angesiedelt wurden, uniert-katholische Ukrainer. Sabor: "Versarnm1ung", kroatisches Parlament bis 1918 und heute. Sandschak, SandZak Eigtl. ,,Falme" (rurk., in tiirkischer Schreibung sancak), Regierungsbezirk im osmanischen Reich, Einheit unterhalb des 7 Wilajets. Die Bezeichnung des Sandschak Novi pazar wurde im 17. Jh. zu "SandZak" reduziert und hielt sich so fur ein muslimisch besiedeltes Gebiet Serbiens und Montenegros. Savezno Vece: ,,Bundesrat", proportional zur Bevolkerungszahl bestellte Kammer des jugoslawischen Parlaments nach der Verfassung von 1974. Serbische Freiwilligengarde: Srpska dobrovoljacka garda, Freischiirler im Krieg in Bosnien-Herzegowina unter dem Kommando von Zeljko RaZrijatovic, genannt Arkan, beriichtigte 7 TschetnikFormation, auch unter dem Namen "Tiger". Serbische Tschetnikbewegung: Srpski cetnicki pokret, Freischiirler in Kroatien und Bosnien-Herzegowina unter Se§elj. Sipabi, Spahi: ,,Reiter" (rurk., urspr. persisch), im Osmanischen Reich fUreinen MilitiirangehOrigen gebraucht, der flir seine Verdienste ein Lehensgut erhiilt.
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Sknpitina: VolksversammJung, Parlament in Serbien seit clem 19. Jahrhundert. Slavophone: im heutigen Griechenland gebrauchte Bezeichung fiir die slawisch (makedonisch) sprechende Minderbeit, deren AngehOrige als Griechen gelten. Sporazum: "Verstandigung", serbisch-kroatischer Ausgleich 1939. Stecak pI. steeci, mit Ornamenten verziertes Grabmonument aus dem bosnisch-herzegowinischen Mittelalter. Stokavisch: Nach dem Fragepronomen ,,§to" ("was") benanote Variante des SOdslawischen, Grundlage des heutigen Serbischen, Kroatischen und Bosnischen. Tanzimat: "WoWwollende Anordnung" (tiirk.), Reformara im Osmanischen Reich ab 1839. Thema: (griech.) Militarische Verwaltungseinheit des byzantinischen Reiches. Tolar: Siowenische Wahrung heute. Torbrii: Slawischsprechende Muslime im heutigen Makedonien. Transhumanz: Wanderviehhaltung, vorherrschende Form des Hirtenwesens im gesamten Mittelmeerraum, wichtig fiir die Sozialstruktur des Balkans (-7 Wlachen). Tschetnik Plural Tschetniks, korrekt Cetnik, pI. Cetnici (von Ceta = Bande, Schar), serbische, auch bulgarisch-makedonische Freischarler gegen die Osmanische Herrschaft im 19. Jahrhundert (-7 Cetovanije), 1941 bis 1945 Bezeichnung der serbischen antikommunistischen und monarchistischen Partisanen, aufgegriffen nach 1990 von serbischen Freischarlern. Uskoken: ,,FIOchtiinge", "UberUlufer", Walachen (orthodoxen, auch katholischen, manchmal sogar islamischen Glaubens), die sich der osmanischen Oberhoheit entzogen hatten und im Gebiet der habsburgischen -7 Millitargrenze ansiedelten. Ustascha: "Aufstandiger", Plural Ustaschas, korrekt: Usta§a, PI. Usta§e, AngehOriger der faschistischen Bewegung in Kroatien ab 1929, bisweilen als Kunbezeichnung fur die Ustascha-Bewegung (Usta§a Hrvatska Revolucionarna Organizacija) gebraucht. Vardar-Makedonien: Zentraler Teil des groBeren, historisch-geographisch verstandenen Makedoniens, weitgehend identisch mit der heutigen Republik Makedonien. Vece Republika i Pokrajna: "Rat der Republiken und Regionen", gieichmiillig aus Vertretem der fOderalen Einheiten zusammengesetzte Kammer des jugoslawischen Parlaments nach der Verfassung von 1974. Vidovdan: "Veitstag", 28. Juni, Feiertag des HI. Veit, Datum mit mehreren fur die serbische Geschichte bedeutenden Ereignissen. Vilayet, Wilajet: GroBprovinz des Osmanischen Reichs ab 1864, zuvor -7 Eyalet oder Beglerbegluk genanot
Vladika: ,,Herrscher", montenegrinischer Fiirstbischofim 16. bis 19. Jahrhundert. Vojna krajina: -7 "Miliwgrenze" in Teilen Kroatiens und Slawonien. Vojvode, vojvoda: ,,Heerfuhrer", Aquivalent zu Herzog. Auch historisch gebraucht fiir die Dorfllltesten vor allern in Montenegro, entspricht -7 Knez. WeiDe Adler: Beli orlovi, serbische Freischarlergruppe in -7 Tschetnik-Manier, in Kroatien unter Mirko Jovic, in Bosnien-Herzegowina gefuhrt von Dragoslav Bokan. W1achen, Walachen, Vlachen: Auch -7 Aromunen, Zinzaren, tOrkisch auch eflaki. UrsprOnglich balkanische Wanderhirten, romanisch sprechende (Iatinisierte) Nachfahren der wahrscheinlich iIIyrischen Balkanbevolkerung vor der Einwanderung der Slawen. "WI ache" wurde im Lauf der Jahrhunderte auch zur Bezeichung der Orthodoxen generell. Zadruga: ,,Hausgerneinschaft", historischer GroBfamilienverband bei den SOdslawen. Zahumlje: Mittelalterliche Territorialbezeichnung, ungefllbr entsprechend der heutigen ostlichen Hercegovina, auch Hum. Zajedno: "Gemeinsam", serbisches OppositionsbOndnis 1996 - 97. Zbor: "VersammJung", mitgiiederschwache serbische faschistische Bewegung, die nach 1941 eine Kollaborationsregierung stellte. Zelenali: "GrOne", montengrinische Autonomisten 1918 (nach der grOnen Farbe ihrer Stimmzettel). Zeta: Historische Bezeichnung fiir den Kern des heutigen Montenegro (A1tmontenegro). Zivilkroatien: Die Gebiete Kroatiens, die in der Zustandigkeit von Ban und Sabor verblieben. Zupan: Oberhaupt einer fupa, eines "Gaues"; von den Avaren entlehnte, vor allem bei den Siidslawen bekanote Bezeichnung fiir einen Herrschaftstrager. Zupanija: "Gespanschaft", ,,Komitat", Gau, Provinz, vor 1918 und heute in Kroatien verwendet.
G1ossar, Abkiirzungen, Aussprache
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Abldirzungen
ARBiB: Annija Republike Bosne i Hercegovine, ,,Arrnee der Republik Bosnien-Herzegowina", seit Mai 1992. ASNOM: Antifa!istifko Sobranije na Narodnoto Osloboduvanje na Makedonija, ,,Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Makedoniens", 1944. AVNOJ: Antifa!istifko Vijete Narodnog Oslobodenja Jugoslavije, .,Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens", 1942. BdKJ: Bund der Kommunisten Jugoslawiens, Name der KP ab 1952, Obersetzung von ~ SKJ. BiB: Bosna i Hercegovina, .,Bosnien und Herzegowina". DEMOS: Demokratiffia Opozicija Slovenije, .,Demokratische Opposition Sloweniens", neunziger Jahre. DEPOS: Dernokratski Pokret Srbije, ,,Dernokratische Bewegung Serbiens" in den neunziger Jahren. DOJ: Dobrovoljafke Omladinske Jedinice ,,Freiwillige Jugendeinbeiten", 1990 in Kroatien. DS: Dernokratska Stranka, ,,Demokratische Partei", Oppositionspartei in Serbien in den Neunzigern unter Dindic, gegriindet 1990, Vorsitzender Dragoljub Micunovic, nach der Spaltung loran Dindic. EJ: Enciklopedija Jugoslavije, ,,EnzykIopAdie Jugoslawiens". EXFOR: Extraction Force, in Makedonien stationierte Truppen der NATO zur Sicherung und Evakuierung der OSZE-Beobachter im Kosovo, ab Dezember 1998. FNRJ: Federativna Narodna Republika Jugoslavija, .,FOderative Volksrepublik Jugoslawien", Bezeichnung ab 1945 bis 1963. FRJ: Federativna RepubUka Jugoslavija, ,,Foderative Republik Jugoslawien", ,,Bundesrepublik Jugoslawien", im April 1992 als Nachfolgerin der SFRJ aus Serbien und Montenegro gebildet, im Handbuch: FR Jugoslawien. FYROM: Former Yugoslavian Republik of Macedonia, seit der Unabhllngigkeit international auf politischen Druck Griechen1ands gebrauchte AbkiiIZUDg und Bezeichnung Makedoniens. HDZ: Hrvatska Demokratska Zajednica, ,,Kroatische Demokratische Vereinigung", Regierungspartei in Kroatien in den neunziger Jahren, auch in Bosnien-Herzegowina HOS: Hrvatske Obrambene Snage, ,,Kroatische Verteidigungskriifte", bewaffneter Flugel der Kroatischen Rechtspartei (~ HSP) in Bosnien 1992 aktiv, dann aufgelost. HRSS: Hrvatska Republikanska Seljafka Stranka, .,Kroatische Republikanische Bauernpartei" (Bezeichnnung der ~ HSS bis 1925). HSK: Hrvatsko-Srpska Koalicija, ,,Kroatisch-serbische Koalition" in Kroatien Anfang. des 20. Jhs. HSLS: Hrvatska Socijalno-Liberalna stranka, ,,Kroatische sozial-liberale Partei" im heutigen Kroatien. HSP: Hrvatska Stranka Prava, .,Kroatische Partei des Rechts", rechtsstehende Partei historisch und im heutigen Kroatien. HSS: Hrvatska Seljafka Stranka, ,,Kroatische Bauernpartei", bis zum Krieg einflussreichste politische Organisation der Kroaten, unter gleichern Namen in den neunziger Jahren. HV: Hrvatska Vojska, Kroatische Annee ab September 1991. HVO: Hrvatsko Vijece Obrane, ,,Kroatischer Verteidigungsrat", kroatische Streitkriifte in BosnienHerzegowina, ab April 1992. IDS: Istarski Demokratski Sabor, ,,Istrische Demokratische Versammlung" im heutigen Kroatien. IFOR: Implementation Force, eingesetzt von der NATO im Dezember 1995 zur Durchfilhrung der Bestimmungen des Dayton-Abkommens in Bosnien-Herzegowina IKRK: Intemationales Komitee des Roten Kreuzes. IMRO: lnnere makedonische revolutionllre Organisation, seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, im Deutschen gebrlluchlich als Kurzel filr makedonisch: VMRO, 1990 als Bezeichnung wieder aufgegriffen, ~ VMRO-DPMNE. IMRO-DPMNE: ~ VMRO-DPMNE. ITCY: International Tribunal on Crimes in the Former Yugoslavia, 1993 in Den Haag gegriindet. JMO: Jugoslovenska Muslimanska Organizacija, ,,Jugoslawische Muslimorganisation" in der Zwischenkriegszeit. JNA: Jugoslovenska Narodna Annija, ,,Nationale Volksarmee" ~ JVA. JVA: Jugoslawische Volksarmee, im Deutschen gebrlluchlich filr die ~ INA. KDOM: Kosovo Diplomatic Observer Mission, Sommer 1998.
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KFOR: Kosovo Force, internationale Truppe fur das Kosovo zur Sicherung der Riickkehr der Fliichtlinge nach dern Krieg ab Juni 1999. KOS: KontraobavjeStajna Slufba, "Gegenaufklllrungsdienst" Geheirndienst der jugoslawischen Arrnee, politische Polizei inner- und auJ3erhalb der 7 JVA KPJ: Kornmunistische Partei Jugos1awiens, Bezeichnung in der Zwischenkriegszeit. KSHS: Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca, "Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen" nach dem Ersten Weltkrieg bis 1929. KVM: Kosovo Verification Mission der OSZE, Anfang 1999. LDK: Lidhja Dernokratike e Kosoves, ,,Dernokratischer Bund des Kosovo", seit Dezember 1989. MANAPO: Makedonski narodni pokret, ,,Makedonische Volksbewegung" ab 1936. NDH: Nezavisna DrZava Hrvatska, "Unabhllngiger Staat Kroatien" (1941-45). NDS: Nezavisna Dernokratska Stranka, "Unabhangige Dernokratische Partei", Zwischenkriegszeit. NFS: Narodna Federativna Stranka, "Fiiderative Volkspartei" im osmanischen Makedonien Anfang des 20. Jhs. NO ZB: Narodna Odbrana Zapadne Bosne, "Volksverteidigung Westbosniens", militarische Formation der Gefolgsleute Fikret Abdics in der a1s autonorne Provinz prokiamierten Bihae-Enk1ave ab 1993. NOO: Narodnooslobodilalki Odbori, "Volksbefreiungsausschiisse" in der Friihzeit der kommunistischen Herrschaft. NOV 7 Narodnooslobodila&a vojska, "Volksbefreiungsarmee" im Zweiten Weltkrieg. NZ NarodnaZa§tita, "Volksschutz", 1990 in Kroatien. OZNA Odjeljenje za Za§titu Naroda, "Abteilung zurn Schutz des Vo1kes" (politische Polizei) in der Friihzeit der kornmunistischen Herrschaft. PL Patriotska liga 7 ,,Patriotische Liga", Bosnien-Herzegowina 1992. RRF Rapid Reacton Forces, 1995 aus franz.Osischen und englischen Einheiten in Sarajevo eingesetzt. RS Republika Srpska, "Serbische Republik", 1992 in Bosnien-Herzegowina prokiamiert. RSK Republika Srpska Krajina, ,,Republik Serbische Kraj ina", in Kroatien 1991 prokiamiert. SANU Srpska Akademija Nauka i Umetnosti "Serbische Akademie der Wissenschaften und Kiinste". SAO Srpska Autonomna Oblast, "Serbisches autonomes Gebiet" (Krajina) in Kroatien 1990 ausgerufen. SDA Stranka Demokratske Akcije, "Partei der Demokratischen Aktion", muslimisch-bosniakische Partei unter Izetbegovic, seit 1990. SDP Stranka Demokratskih Promjena, "Partei der demokratischen Verllnderungen", Sozialdemokratische Partei Kroatiens, 1990 aus dem 7 SKH hervorgegangen. SDS Srpska Demokratska Stranka, "Serbische demokratische Partei", 1990 in Kroatien a1s Ableger der DS gegriindet, danach unter demselben Namen in Bosnien-Herzegowina unter Fiihrung von KaradZic. SFOR Stabilization Force, Nachfolger der 7 !FOR, ab Dezember 1996. SFRJ Socijalisticka Federativna Republika Jugoslavija, "Sozialistische foderative Republik Jugoslawien" (1963 bis 1992). SGJ Statisticki Godi~njak Jugoslavije, "Statistisches Jahrbuch Jugoslawiens". SHS Srba, Hrvata i Siovenaca, (Konigreich) "der Serben, Kroaten und Siowenen" nach dem Ersten Weltkrieg. SKH Savez Komunista Hrvatske, ,,Bund der Kornmunisten Kroatiens" bis Mai 1990 an der Macht. SKJ Savez Komunista Jugoslavije, ,,Bund der Kornmunisten Jugoslawiens" (ab 1952) 7 BdKJ. SLS Siovenska Ljudska Stranka, "Slowenische Volkspartei" Vor 1914 und Zwischenkriegszeit. SNS Srpski Narodni Savez, "Serbischer Volksbund", in der Republika Srpska von Plav~ic im August 1998 gegriindet. SOK Serbische Orthodoxe Kirche. SPO Srpski Pokret Obnove, ,,serbische Erneuerungsbewegung" unter Dra§kovic in den neunziger Jahren. SPS Socijalistilka Partija Srbije, "Sozialistische Partei Serbiens", im Juli 1990 umbenannte KP Serbiens. SRS Srpska Radikalna Stranka, "Serbische Radikale Partei" in den neunziger Jahren unter Se~e1j in AnIehnung an die historische Radikale Partei im 19. Jahrhundert und im ersten Jugoslawien. SSP Serbische Selbstllndige Partei im Habsburger Kroatien. SVK Srpska Vojska Krajine, "Serbische Arrnee der Krajina", ab Oktober 1992. TO Teritorijalna Obramba (slowenisch), Teritorijalna Odbrana (serbisch) "Territorialverteidigung". U(X Ushtria <;:lirimtare e Kosoves "Befreiungsarmee des Kosovo", ab 1996.
Glossar, Abkiirzungen, Aussprache
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UDBa Uprava DrZavne Bezbednosti "Staatssicherheitsverwaltung", Geheimdienst im sozialistischen Jugoslawien. UJDI Ujedinjenajugoslavenska demokratska inicijativa, "Vereintejugoslawische demokratische Initiative" in den neunziger Jahren. UNCRO UN-Confidence Restauration Operation in Croatia, Bezeichnung fiIr die UNPROFORinKroatien 1995. UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees. UNMIK United Nations Interim Administration Mission in Kosovo, ab Juni 1999. UNPA United Nation Protected Area, UN-Schutzzone, 1992 erstmals in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens eingerichtet. UNPREDEP UN Preventive Deployment Force in the Fonner Yugoslav Republic of Macedonia, seit 1995 verwendete Bezeichnung fiIr die 1993 bis 1999 in Makedonien stationierte UN-Schutztruppe. UNPROFOR United Nations Protection Force, abEnde 1991. UNTAES United Nations Transitional Administration for Eastern Slavonia, Baranja and Western Sinniurn, von Anfang 1996 bis Anfang 1998. VJ Vojska Jugos1avije, "Annee Jugoslawiens", im Mai 1992 gebildete Neufonnierung der ~ NA. VMRO VnatreSna makedonska revolucionarna organizacija ~ IMRO. VMRO-DPMNE, (auch IMRO-DPMNE) Vnatre§na makedonska revolucionarna organizacija - Demokratska partija za makedonsko nacionalno edinstvo, "Innere Makedonische Revo1utionllre Organisation - Demokratische Partei fiIr die makedonische nationale Einheit" in den neunziger Jahren in Makedonien VRS Vojska Republike Srpske "Annee der serbischen Repub1ik (Bosnien-Herzegowina)", im Mai 1992 gebildete Abspaltung der NA. ZNG Zbor Narodne Garde, "Versanun1ung der Nationalgarde", im Mai 1991 in Kroatien gegrllndet. Zur Ausspracbe SUds1awische Sprachen c C C d, dj dZ j §
z ~
A1banisch
Tilrkisch
c q ~
gj xh
j sh
z
zh
x db th
e
c y ~
z
Ungefl!bre Anssprache "ts", entsprechend dt. ,;£' zwischen dt. "tsch" und "g" Wie dt. "tsch" zw. "dj" und "dsh" (stimmhaft) stimmhaft wie englisches ,jam" wie dt. ,j" wie dt "sch" stimmhaftes ,,s", wie dt. "Sonne" stimmhaft wie frz. "Journal" stimmhaftes "ds" wie englisch stimmhaft "this" wie englisch stimm10s "thick" dumpfer Vokal zw. ,,0" und "U"
Eine Bemerkung zur Schreibweise: Beim Angleichen der Texte im Handbuch wurde angestrebt, nach MOglicbkeit die verbreitetsten, aber auch in sich logische und philologisch exakte Schreibungen zu verwenden. Daher "Sarajevo" und nicht "Sarajewo", aber ,,Bosnien-Herzegowina", da bei "Hercegovina" der vorangesteHte Namen ,,Bosna" lauten mUsste. Auch bei der Wahl zwischen a1banischen und serbischen Namensfonnen ("Kosova" vs. ,,Kosovo") haben wir uns fiIr die gangigeren Fonnen entschieden, politische Aussagen sind damit natilrlich nicht intendiert. Wir wissen, dass Schreibweisen nie widerspruchsfrei durchgehalten werden kOnnen und bitten urn die Nachsicht derer, die an manchen SteHen anders verfahren wilrden
Die Autorinnen und Autoren
Mark Almond, Dozent fur Neue Geschichte am Oriel College, Oxford. VeroffentIichungen u. a. Europe S Backyard War: the War in Yugoslavia, 1994, und Revolutions, 1996. Ivo Banae, Historiker an der Yale Universitiit und an der Central European University in Budapest, dort Leiter des OSIICEU Sudost-Europainstituts. Publikationen u. a. The National Question in Yugoslavia: Origins, History, Polities, 1984, With Stalin against TIto: The Comiriformist Splits in Yugoslav Communism, 1988, Cijena Bosne, 1994 ("Der Preis Bosniens"). Dimitrije Boarov, Redakteur der Belgrader Ekonomska Politika (1971-1974), dann 14 Jahre bei TV Novi Sad. 1989 Mitbegriinder der Belgrader Wochenzeitung Vreme, seit 1996 Redakteur der Belgrader Tageszeitung Nasa Borba. Autor von: !ma lijos Vojvodine, 1996 ("Gibt es die Vojvodina noch"), undApostoli srpskih jinancija, 1997 (Die Apostel der serbischen Finanzen"). Alida Bremer, Literaturwissenschaftlerin. VeroffentIichungen zu Iiteraturtheoretischen und -historischen Themen, zum Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, Promotion uber ,,Dekonstruktion des Kriminalromans. Zur Poetik der postmodemen Kriminalromane". Herausgeberin von Jugoslawische (Sch}erben. Probleme und Persepektiven, 1993. Tbomas Bremer, 1985-1995 und seit 1999 Hochschullehrer am Okumenischen Institut der KatholischTheologischen Fakultat der Universitat Munster. Veroffentlichungen u.a.: Ekklesiale Struktur und Ekklesiologie in der Serbischen Orthodoxen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, 1992, als Herausgeber: Religion und Nation im Krieg aufdem Balkan, 1996, zus. mitN. Popov und H.-G. Stobbe Serbiens Weg in den Krieg, 1998. Dalibor Brozovic, seit 1991 Direktor des Lexikographischen Instituts "Miroslav Kr1eza" in Zagreb, 1ehrte an Universitiiten in Kroatien, Deutschland und den USA, Autor wichtiger Arbeiten im Bereich der slawischen Philologie. Janusz Bugajski, 1984-85 bei Radio Free Europe Miinchen. Seitdem Direktor fur Osteuropaische Studien am Zentrum fliT Internationale und Strategische Studien in Washington. VeroffentIichungen u.a.: Ethnic politics in Eastern Europe. A Guide to Nationality Policies, Organizations and Parties, 1994, Nations in Turmoil: Conflict and Cooperation in Eastern Europe, 1993 u. 1995. Herbert Biisebenfeld, von 1965 bis 1980 ordentIicher Professor an der Padagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, bis zur Emeritierung 1991 ordentlicher Professor fur Geographie an der Universitiit Miinster. Autor U.a. von: Jugoslawien (Klett Liinderprojile), 1981, Kosovo. Nationalitiitenkonflikt im Armenhaus Jugoslawiens, 1991. Sima Cirkovic, 1958 bis zur Emeritierung 1994 Professor der Universitiit Belgrad. Fachgebiet Geschichte des Mittelalters auf dem Balkan, VeroffentIichungen u.a.: !storija srednjovekovne bosanske driave, 1965 ("Die Geschichte des mittelalterlichen bosnischen Staates"), La Serbie au Moyen Age, 1992; Rabotnici. VOjnici. Duhovnici. Dru.i'tva srednjevekovnog Balkana, 1997 ("Fronarbeiter, Soldaten, GeistIiche. Die Gesellschaft des mittelalterlichen Balkan"). Ivan Colovit, wissenschaftlicher Berater des Ethnographischen Instituts der Serbischen Akademie der Wissenschaften. Veroff. u.a.: Vreme znakova, 1988 ("Zeit der Zeichen"), Bordell der Krieger. Folklore, Politik und Krieg, 1994. Politika simbola. Ogledi 0 politickoj antropologiji, 1997 ("Politik der SymboIe. Abhandlungen zur politischen Anthropologie"). Miomir Dasic, Historiker, Mitarbeiter an der Montenegrinischen Akademie der Wissenschaften und Kiinste in Podgorica. Darko Dukovski, Historiker, seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Piidagogischen Fakultiit Pula. VeroffentIichung u.a. Fa.i'izam u lstri 1918-1943 ("Faschismus in Istrien"). Ivo Goldstein, Historiker, 1991-96 Leiter des Instituts fur kroatische Geschichte der Philosophischen Fakultat in Zagreb, Veroffentlichung u.a. Bizant na Jadranu, 1992 (,,Byzanz an der Adria"); Hrvatski rani srednji vijek, 1995 ("Das kroatische Friihmittelalter").
Die Autorinnen und Autoren
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Slavko Goldstein, nach Teilnahme am Zweiten Weltkrieg a1s Partisan Mitarbeiter der Wochenzeitung VUS, und Redakteur bei Radio Zagreb. Von 1970--1983 Chefredakteur des Verlagshauses Stvarnost und Direktor des Universitatsverlags Liber; seit 1993 Chef seines Verlags Novi Liber. Cheftedakteur der Kulturzeitschrift Erasmus. James Gow, seit 1990 am Centre for Defense Studies in London, ab 1994 ITCY-Berater in Den Haag. Verof. u.a. Triumph of the Lack of Will: International Diplomacy and the Yugoslaw War, 1997. Igor Graovac, seit 1972 Mitarbeiter des Kroatischen Instituts fi1r Geschichte (zuvor Institut fi1r die Geschichte der Arbeiterbewegung Kroatiens, dann Institut flir Zeitgeschichte) in Zagreb. Rudolf GruIich, 1972-1982 wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung Katholische Tbeologie der Ruhruniversitat Bochum, 1982-1988 Direktor der Informations- und Dokumentationsabteilung von "Kirche in Not" in Konigstein und Leiter des ,,Institutum Balticum", seit 1988 Wissenschaftlicher Direktor des ,,Instituts fi1r Kirchengeschichte von BOhmen-Mabren-Schiesien". Mustafa Imamovie, Professor fi1r Staatsrecht an der Universitat Sarajevo, verOffentlichte u.a.: Povijest Boanjaka. 1998 (Geschichte der Bosniaken). Zeljko Ivankovie, seit 1979 Mitarbeit bei zahlreichen Periodika, zuletzt Slovo und Izraz. von 1992 bis 1996 Direktor der staatlichen Nachrichtenagentur Bosien-Herzegowinas BH PRESS. VerOffentlichungen u.a.700 dana opsada (,,7oo Tage Belagerung"). Mirjana Kasapovie, 1980--1986 Assistentin, bis 1991 Dozentin und heute auBerordentliche Professorin an der Fakultat fi1r Politische Wissenschaft der Universitat Zagreb. VerOffentlichungen u.a. Izborni i stranacki sustav Republike Hrvatske. 1993 (" Wahl- und Parteiensystem der Republik Kroatien"); Demokratska tranzicija i politicke stranke, 1996 (,,Demokratische Transition und politische Parteien"); Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa (mit Dieter Nohlen), 1996. Karl Kaser, seit 1980 Mitarbeiter der Abteilung flir Slldosteuropaische Geschichte an der Universitat Graz, seit 1996 dort ordentlicher Professor, seit 1998 Direktor des Center for the Study ofBalkan Society and Culture at University ofGraz. Wichtigste Monographien: Hirten. Kampfer, Stammeshelden, 1992, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan, 1995, Macht und Erbe. Mannerherrschaft. Besitz und Familie im listlichen Europa. 1500--1900, 1999.
Radoslav Kati~ie, ab 1961 Dozent fllr Indogermanische und Allgemeine Sprachwissenschaft, auch fllr Indoiranische Philologie in Zagreb, 1977 bis 1988 Professor fi1r slawische Philologie in Wien. Wichtigste Bucher: Ancient Languages of the Balkans. 1976. Sintaksa hrvatskoga knjizevnog jezika. 1986, 1991 ("Syntax der kroatischen Literatursprache"), Illyricum mythologicum, 1994, Ein Ausblick auf die slawischsprachige Volkerwelt im Siidosten, 1996. Literarum studia, 1998. Ozren Kebo, Politologe, Journalist und Schrifststeller. Mitarbeiter der Sarajevoer Zeitschrift Slobodna Bosna; verOff. u.a. Sarajevo za poeetnike, 1996 ("Sarajevo fi1r AnflInger", ftanzOsisch 1997, schwedisch 1998). George Kenney, ab 1988 im U.S. State Department tatig, zuletzt a1s leitender Beamter im Washingtoner European Bureau fi1r jugoslawische Angelegenheiten. Rllcktritt im August 1992 aus Protest gegen die US-amerikanische Jugoslawienpolitik. Von Oktober 1992 bis September 1994 Berater am Carnegie Endowment for International Peace.
Tarik Kulenovie, Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitat Zagreb; Redakteur der Zeitschrift Polemos (Zeitschrift fUr interdisziplinare Erforschung des Krieges und des Friedens); VerOffentlichungen im Bereich Militargeschichte und -soziologie. Judith Kumin, seit 1979 filr den UNHCR in Genf und Thailand tatig, 1989 bis 1993 Repriisentantin des UNHCR in Belgrad. Danach bis 1997 UNHCR-Vertreterin in Bonn, dann in Genf. Sbkelzen Maliqi, Mitarbeiter der Universitat Belgrad, dann in zahlreichen Kultureinrichtungen des Kosoyo. Erster Redakteur der Zeitschrift MM Seit 1994 Arbeit fi1r die Soros-Stiftung in Prishtina, zuerst a1s Koordinator fllr Medien, Kunst, Kultur und Verlagswesen, seit Ende 1995 auch fllr das Erziehungswesen im Kosovo. VerOffentlichte u.a. ShqiptariH dhe Evropa, 1994 ("Die Albaner und Europa"), Separate Worlds,1998.
Martin Mayer, Slldosteuropahistoriker, Mitglied der OSZE-Mission in Kroatien. Verschiedene Veroffentlichungen zur Bildungsgeschichte im ehemaligen Jugoslawien, u.a.: Elementarbildung in Jugoslawien 1918-1941,1995.
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Die Autorinnen und Autoren
Viktor Meier, 1956 bis 1966 Korrespondent der Neuen Zurcher Zeitung fur Ost- und Siidosteuropa, dann in Washington und ab 1970 in Wien. Ab 1975 bis zur Pensionierung Ende 1993 Korrespondent fur die Lander Ost- und Siidosteuropas der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Wien und Budapest. Biicher: Neuer Nationalismus in Sudosteuropa, 1968, Wie Jugoslawien verspielt wurde, 1995. Dunja Melfi"; Philosophin und Publizistin, 1996-1997 Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts fiir europiiische Rechtsgeschichte in Frankfurt in einem Forschungsprojekt zu Totalitarismusforrnen im ehemaligen Jugoslawien. Seit 1997 Mitarbeiterin des "Ost-Westeuropiiischen Kultur- und Studienzentrums "Palais Jalta". Mitarbeiterin an der Sonderausgabe von Praxis International "The Rise and Fall ofYugoslavia", 1994; Beitriige in E. Rathfelder (Hg.), Krieg auf dem Balkan, und Europa im Krieg, 1992, Herausgeberin von Das Wort im Krieg. Ein bosnisch-kroatisches Lesebuch, 1995. Stefan Oeter, ab 1987 wissenschaftlicher Referent am Max-P1anck-Institut fur auslandisches offentliches Recht und Yolkerrecht in Heidelberg. 1991-1995 Koordinator einer Arbeitsgruppe zum Minderheitenrecht der europiiischen Staaten, Mitarbeit an der Erstellung der Militiirdienstvorschrift ,,Humanitiires Yo1kerrecht in bewaffueten Konflikten". Tiitig fur Europarat und OSZE in Mittelost- und Osteuropa, Lehrstuhlvertretung an der Universitiit Frankfurt/Oder. Latinka Perovic, Historikerin; Herausgeberin der Zeitschrift des Instituts fur Neuere Geschichte Serbiens und mehrerer Samme1werke zur Modernisierung der Gesellschaft Serbiens im 19. und 20. Jahrhundert, Autorin zah1reicher Aufsiitze und Biicher zur Geschichte der serbisch-russischen Beziehungen und der sozialistischen und revolutioniiren Bewegung in beiden Landern. Yeroff. u.a. Zatvaranje kruga 1991 ("Das SchlieBen des Kreises"). Erich Rathfelder, seit 1985 Osteuropa-Redakteur der tageszeitung, Berlin, fur diese und andere Zeitungen seit 1991 Korrespondent aus dem ehemaligen Jugoslawien. Yeroffentlichungen u.a.: (Hg.), Krieg auf dem Balkan 1992; Sarajevo und danach. Sechs Jahre Reporter im ehemaligen Jugoslawien, 1998. Matthias Riib, seit 1989 Redakteur bei der FAZ, seit 1994 deren Korrespondent fiir Mittel- und Siidosteuropa mit Sitz in Budapest. Autor von Balkan Transit. Das Erbe Jugoslawiens, 1998. Jacques Rupnik, Forschungsdirektor am Centre d'Etudes et de Recherches Internationales Paris. 1995 Exekutivdirektor der International en Balkan-Kommission des Aspen-Institute Berlin und des Carnegie Endowmentfor International Peace. Yeroffentlichungen, De Sarajevo aSarajevo. L 'Echec Yougoslave, 1992, Le dechirement des nations, 1995. Joscha Schmierer, Historiker und politischer Publizist, bis Mai 1999 Chefredakteur der Monatszeitschrift Kommune, z.Z. Berater im Planungsstab des Auswiirtigen Amtes. Yeroffentlichungen u.a.: Die neue Alte Welt oder wo Europa liegt, 1993, Mein Name sei Europa. Einigung ohne Mythos und Utopie, 1996. Ludwig Steindorff, Professor fiir Geschichte Ost- und Siidosteuropas an der Universitat Miinster; 1997 OSZE-Supervisor in Bosnien-Herzegowina. Publikationen u.a. Hochschulreform in Kroatien, 1995; "Der Kroatische Friihling", in: Der Balkan 1997, "Yon der Konfession zur Nation: Die Muslime in BosnienHercegovina", in: Religion und Gesellschaft in Sudosteuropa, 1997. Matthias Vetter, Osteuropahistoriker, seit 1996 Leiter des Frankfurter Ost-Westeuropaischen Kultur- und Studienzentrums Palais J alta, Yeroffentlichungen u. a. als Hg: Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert, 1996. Peter Vodopivec, Professor fur moderne europaische und amerikanische Geschichte an der Universitat Ljubljana. In der letzten Zeit Leiter der Arbeitsgruppe zur Yorbereitung der neuen Geschichtslehrplane und Geschichtslehrbiicher in Slowenien. Ivo Zanic, Ethnologe, Redakteur der Zeitschrift Erasmus und freier Autor. Seit Beginn der achtziger Jahre Untersuchungen zu Ritualen und Symbolen im politischen Diskurs. Yeroffentlichung u.a.: Ukradena povijest. Guslarska estrada, kult hajduka i rat u Hrvatskoj i Bosni i Hercegovini 1990--1995, 1997 ("Die gestohlene Geschichte. Estrade der Guslaren, Heiduckenkult und der Krieg in Kroatien und 80snien-Herzegowina"). Ozren Zunec, Soziologieprofessor an der Universitiit Zagreb, Chefredakteur der Zeitschrift Polemos; Veroffentlichungen zu Militiirgeschichte und -soziologie: Planet mina, 1997 ("Der Planet der Minen"), Rat i druStvo. Ogledi iz socialagije vajske i rata, 1998 ("Krieg und Gesellschaft. Abhandlungen aus Kriegsund Militiirsoziologie").
NameDS- uDd Sachregister
A
Aromunen 14,21,143,255 Arsenije Cmojevic (Patriarch)
Beckovic, Matija 280, 308,
Abdic, Fikret 360,362,404,
12,88,97,231 ASNOM 142 Athen 448, 554 Auschwitz 187
Bektaschi 122 Belgrad 72,89,96,152,167,
427, 555, 557, 558, 560, 566 AdZic, Blagoje 346, 386 Agani, Fehmi 568 ahd-name von Fojnica 78 Ahmici 401,438 Ahtisaari, Martti 568, 567 Akashi, Yasushi 556, 557, 559 AkrnadZic, Mile 552 Albaner 16,17,19,21,24, 109,143,145,181,196, 222,233,238,240,264, 309,334,335,347,408, 536 Albright, Madeleine 323 Aleksandar I. (Konig im 20. Jh.) 86,91,141,155, 157-158,469 Aleksandar (19. Jh.) 81,101, 153 Aleksandrov, Todor 141 Alt-Montenegro Ill, 116 Amselfeld ~ Kosovo Andelic, Pavo 66 Andric, lvo 273,278,279 Annexion 79, 84, 119 "antibiirokratische Revolution"
322,337,454 Antikriegskundgebungen 302 antiosmanische Aufstiinde 150 Aquileia 28 Aralica, Ivan 270 Arbanasi 309 Arbeiterselbstverwaltung 194 ARBiH 298,356,394, 397,
399,402,404,435,437, 499,550,552 Arbour, Louise 562, 567 Arkan (Zeljko RaZnjatovic)
350,354-356,372,403, 549,550 Armee der Republika Srpska ~VRS
Armee Jugoslawiens Amauten 413
~
VJ
ausliindische Freiwillige ~ Soldner Autonomes Gebiet Westbosnien
404 autonome Regionen, serbische
365 AVNOJ 61,92,142,179,191, 217 Avramovic, Zivota 347 B B 92 (Radio) 325 BaSagic, Safet-Beg 295,298 Babic, Milan 339, 345, 348 Badinter-Kommission 130,
483,547,548,549,551 Backa (Batschka) 88, 169 Bakaric, Vladimir 198, 199, 200 Baker, James 464,547 Balli Kombetar 181 Baliiici 110 Balkankriege 58, 84 106, 107, 118, 124, 140,214 "Balkenrevolution" 545 Banac,lvo 433 Banat 88, 169 Banija 172,345,414,560 Banja Luka 73,245,247,352, 356,362,397,444,447, 450, 548, 550, 559, 560, 564 Banovina (Banschaft) 86, 158, 160, 163, 386, 432 Banus Kulin ~ Kulin Ban Bar 110, ll6 Baranja 88,414,448,547,
560 Bartholomew, Reginald 553 Bauempartei ~ HSS
BdKJ 195,218,337,544
310,312,321
180,219,220,223,232, 333,346,355,357,384, 447,471,481,568 Benediktiner 229 Berisha, Sali 132 Berliner Kongress 79, 102, 116, 118, 123, 139,471 Bihac 69,72, 142,354,357, 360,361,362,385,400, 401,402,445,446,554, 555,558,560 Bijeljina 355, 356, 549, 557 Bildt, Carl 449, 559, 563 Bilino polje 65, 68 Biserko, Sonja 325, 528 Blace 530, 568 BlaSkic, Tihomir 563 Blauhelme ~ UN-Friedenstruppen Bled 142 "Bljesak" (Operation Blitz)
382,445,559 Blockfreie 195,291 Boban, Mate 361,430,433,
434,438,442,549,550, 551, 553, 556 Bobetko, Janko 392 Bodin (Konig) 64, 110 Bogdani, Pjete 122 Bogdanovic, Bogdan 332 Bogumilen 67,71, 137,230,
295,297,298,299 Boka Kotorska 66, 114, 116,
160 Bokan, Dragoslav 403 Bonn 450, 567 Borba (Zeitung) 317 Boric (Banus) 64 Borovo selo 324, 345, 546 Bosancica 65,68,274 Bosanska Krajina 396,399,
546 Bosanska Krupa 357,560 Bosanski Samac 356
Namens- und Sachregister
580
Bosanski Brod 79, 355,435, 436,549 Bosanski Novi 357 Bosanski Petrovac 352, 357 Bosansko Grahovo 560 Bosic, Boro 563 Bosniaken 83,87,156,187, 222,240,299,301,306, 424,427,428,435,442 Bosniakisch-Kroatische FOderation 440, 448, 490, 502, 504, 505, 529 Bosnien-Herzegowina 18,37, 55, 102, 106, 107, 110, 111, 116, 150, 152, 156, 170,176,186,187,212, 229,232-237,255,258, 262, 298, 311, 329, 349, 352,368,375,381,393, 413,417,449,458,463, 465,475,484,485-488, 531,534,537,546,549, 565 Bosnifizierung 74 Bosnische Kirche 20, 22, 65, 68,71,230,295,296 bosnische Kroaten 58, 210, 426,458,491 Boutros-Ghali, Boutros 553, 556,557,559 Branimir (Konig) 41, 229 Brda 110,111,112,114 Brcko 355-357,361,449, 550,563,564,567 Breshnew, Leonid 204 Brezovo Polje 357 Brioni (Brijuni) 547 Briquemont, Francis 555, 556 Brkovic, Jevrem 280 Brlic-Mafuranic, Ivana 278 Budak, Mile 270 Budapest 81, 100, 232 Budisa, DraZen 200, 338, 348, 433,456,551 Budimir, Zivko 500, 503 Bugojno 360, 443 Bukoshi, Bujar 131, 550, 560 Bulatovic, Miodrag 280, 284 Bulatovie, Momir 546, 553, 564,567 Bulgaren 17,21,26,229,309 bulgarisches Exarchat 138 Bundeswehr 146,359,559
Bunjewzen 70, 409 Burgenkroaten 412 Bush, George 446,489,551 Bushati, Mustafa 75 Bushatli, Mahmud Pascha 114 Byzanz 16,17,64,121,135, 137,229,275,292
c Cankar, Ivan 215,276 Capljina 73 Carrington, Lord 547, 548, 551 Causevie, Mehmed (Reis ulU1ema) 82,241 Cazinska Krajina 382 <;:e1ebi, Ev1iya 74 Cemiyet 155,217 Cerie, Mustafa (Reis-u1-U1ema) 247,299 Cerska 360 Cesarie, Augustin 278 Cetinje 111,112,115,116, 231 Cetniks 7 Tschetniks Cengic, Smail-Aga 75, 302 Cemozemski, Vladimir 141 Chirac, Jacques 445, 469 Christentum 17,20,28, 69, 72,76,77,122,135,227, 299,306,307 Christopher, Warren 447 Chruschtschow, Nikita 195, 198 Churchill, Winston 180, 182, 191 CIA 320 Cicak, Ivan 439 Clark, Wesley 567 Clemens TIl (papst) 110 Clinton, Bill 322, 438, 446, 447,466,489,553 Colovic, Ivan 283, 322 Cos ie, Bora 282 Cosic, Dobrica 34,218,223, 268,270,335,551,552, 554 Cot, Jean 556 Cmeevie, Brana 324 Cmjanski, Milos 149,281 Cmojevie, Arsenije 7 Arsenije
Cmojevic, Stanisa 111 Crouch, William 505 Crvenkovski, Branko 145,552 Cubrilovic, Vaso 125,413 Curuvija, Slavko 566, 568, 556,567 Curipeschitz, Benedict 86 Cvetkovie, Dragisa 160, 162, 432 Cvijie, Jovan 214 D
Dabeevie-Kucar, Savka 199, 219,348,456 Dachauer Prozesse 276 Dakovo 65, 83, 234, 389 D' Alema, Massimo 568 DaIj 350, 547 DaImatien 19, 40, 46, 53, 72, 75,81,114,121,152, 153,171,180,213,234, 249,262,352,357,386, 432,443,547 DaImatin, Juraj 230 DaImatinska Zagora 172 Danas (Zeitschrift) 325, 327 Dani (Zeitschrift) 329 Danilo, Furst 113 David, Filip 284,331 Davidovic, Ljubomir 155, 159,157 Davico, Oskar 283 Dayton 403,440,444,447, 464,465,473,489,499, 529, 532, 561 DDR 349 de Casamare, Johannes 65 de Dominis, Marko Antun 234 de Lapresle, Bertrand 556, 561 Debeljak, AleS 276 Dedakovie, Mile 351,376 Dedinac, Milan 282 Decani 97 Decanski, Stefan 137 Delcev, Goce 139 Delic, Rasim 499 Delo (Zeitung) 320 Delors, Jacques 464 Demaqi, Adem 127,131,565 Demeter, Dimitrija 273 DZemijet 7 Cemijet
581
Namens- und Sachregister
Demirel, SOleyman 473 Demokratische Partei ~ DS Dernokratische Partei der AJbaner (OPA) 146 DEMOS 36, 544, 549 Den Haag 439,547,548,555, 560,561,562,563,568, 567 ~ auch ITCY DEPOS 553, 556 Deutschland 79, 116, 118, 126, 160, 168,204,465, 468,472,480,483,528, 529, 530, 531 Dev§irme 71 Di Micheli, Gianni 346 IJilas, Milovan 195, 317 Dimitrijevic, Dragutin (Apis) 107 Dimitrov, Georgi 127, 142 IJindic, loran 224,341,557, 562 Doclea (Duldja) 109 Diokletian 228 Divjak, Jovan 356,502 Dizdar, Mak 280, 298 IJogo, Gojko 268 Dnevni avaz (Zeitung) 329 Dodik, Milorad 450, 503, 567, 564 Dolanc, Stane 35,201,203, 221 Dole, Robert 446 Domanovic, Radoje 282 Dominikaner 65 Donat, Branimir 272 Donji Kraji 64, 66 DPMNE 143,145 Dra§kovic, Graf Janko 273, 209,290 Dra§kovic, Vuk 143,271,340, 403, 545, 562, 554, 563, 568 Drenica 132, 564 Dretelj 438 Drijeva 73 DrZislav (FOrst) 41 Drnov§ek, Janez 38, 339, 544, 550,553,563 Drvar 180, 352, 357 DS 91,352,556,563 Duklja 109 DU§an, Stefan (Herrscher) 66, 95,110,137,231
Dubrovnik 42,64,66,67,78, 114,229,274,351,367, 481,548,551,552 Duga (Zeitschrift) 322, 324 Dukagjin 19,11, 120 IJukanovic, Milo 342, 343, 553, 564 Duklja 18,94,109,110,228 Dumas, Roland 468 Dutchbat 447,559 Duvno 357
E Eagleburger, Lawrence 553 EFfA 558 EG 37,346,463,547,548, 549, 550, 551 England 79,116,139,179, 445,465,470 Erdemovic, DraZen 489, 562 Erster Weltkrieg 59,81,118, 125,140,214 "ethnische Sauberung" 93, 357,365,377,378,431, 506 EU 442,476,528, 541, 558, 563,564,566,568 Europarat 548, 551, 562 Exfor 146, 566 Exilregierung im Zweiten Weltkrieg 118, 162, 179
F Fabrio, Nedjeljko 271 Feral tribune (Zeitschrift) 329 Ferdinand (Erzherzog) 43 Ferhad-beg Pascha Sokolovic 69 Ferhad-Moschee (Banja Luka) 73 Filipovic, Muhamed 299, 305 Flugverbot 401,402,552 FNRJ 142 FOderative Republik Jugoslawien 550 Foca 69,73,74,177,355,549 Fojnica 67,437 Fortschrittler (serbische Partei) 103, 104, 105 "Fortschrittliche Jugend" ~ "Nationalistische Jugend"
,,Forum 21" 328 Frankopan (Herrscher) 41 Frankreich 47,114,125, 140, 209,234,465,469,528, 559,561 Franz-Joseph (Kaiser) 52, 148, 152 Franziskaner 22, 58, 67, 68, 74, 78, 83, 86, 229, 230, 240,247,279 Frasheri 124 Friedjungprozess 58 Fundamentalismus, islamischer 242 FYROM 144,554
G G-8-Staaten 535, 568, 567 Gagovic, Dragan 567 Gaj, Ljudevit 47,209,273, 276 Gara§anin, I1ija 101,150,211 Garrod, Martin 502 Gavrilo (patriarch) 235 Gazi, Husrev-Beg 72, 296, 299 Gazimestan ~ Kosovo Geheimdienst 365,327, ~ auch KOS, UDBA Gelbard, Robert 564 Genf 447, 548, 553, 555, 558, 560 Genfer F10chtlingskonvention 531 Genfer Rotkreuz-Konvention 481 Georgievski, LjupCe 145,566 German (patriarch) 245 Glagoliza 42, 68, 229, 256, 272,274,136 Glamoc 560 Gligorov, Kiro 143, 145,205, 545, 546, 558, 561 Globus (Zeitschrift) 326, 329 Go§ev, Petar 143, 145 Goldstein, Slavko 433 Goldstone, Richard 562 Golf-Krieg 474 Goli otok 194,276,321 Go~njak, Ivan 198 Gost Radin, 68,74
Namens- und Sachregister
582 GoraMe 73,77,355,360, 361, 549, 551, 552, 554, 556, 557, 560 Gorbatschow, Michail 465 Gomji Vakuf 443, 555 Gorski Kotar 172 Gospic 350, 352 Gostivar 145 Gotovac, Vlado 199,204,279, 433,456 Gracanin, Petar 354 Gracko 568 Gra~Cevic, Husein-Kapetan 75,296 Granic, Mate 442, 528 Grbic, Gordana 326 Gregor VII. (Papst) 11 0 Gregor von Nin (Grgur Ninski), 229 Griechen, Griechenland 21, 107, 116, 123, 124, 137, 138, 140, 142, 144, 145, 150,231,409,551,556, 560 grieehische Orthodoxie 138, 275 Grol, Milan 182 GroBkroatien 290, 503 GroBserbien 163,175,218, 381,384 Grilne Sarette 397,433 Gubee, Matija 44, 288, 292, 293 Guca Gora 360 Gundulic, Ivan 277 H
Habsburger 24,28, 43, 46, 69, 83, 112, 149, 151-154, 208,213,232,262,281 HadZic, Goran 339, 546, 549 Heiducken 70,98, 113, 304 Halilovic, Sefer 356, 397, 399, 400,431,502 Han Pijesak 352, 356, 357, 394 Haxhiu, Saton 331 Hatt-i ~erif von Giilhane 76 HDZ 326,327,338,389,392, 400,426,430-434,442, 454,456-458,460,502, 544,545,549,551,563
Hebrang, Andrija 194, Gr.) 566 Helsiniki Watch Committee 325 Herceg-Sosna 361,433,400, 435,502,548,552,555 Herceg Novi 74 Herder, Gottfried 208, 210 Hersek-zade Ahmed Pascha 74 Herzegowina 19,24,37,73, 74,76,79, 110, Ill, 112, 114,115,116,172,174, 262,426,550 Herzog, Roman 547 Hikmet, Arif 233 Hilandar (Kloster) 95 Hill, Christopher 565, 566 Hitler, Adolf 159,160, 162, 167, 176, 178,470,536 Hodidjed 69 Hodscha, Enver (auch: Hoxha) 126,127,206 Hofinan, Sranko 276 Hoher Reprlisentant 330, 563, 567 Holbrooke, Richard 447,463, 537,560,565,566 Holiday Inn (Sarajevo) 355 Hombach, Bodo 567 HOS 349, 354, 358, 389, 395, 403,433,434,550,551 Hoxha, Fadil 126, 128 Hrvatski tjednik (Zeitschrift) 318 HSK 57,153 HSLS 338,459, 544, 551 HSP (historisch) 48, 50, 52, HSP (gegenwlirtig) 349, 389, 432,434 HSS 153-160,173,182,217, 459 Hum ~ Zahumlje Hurd, Douglas 470 HV 348,349,361,370,376, 391-395,404,433,445, 498,501 HVO 354,356,358,361,376, 395,399,400,403,433, 435,436,438,500,505, 550,551,552
I
IDS 459 IFOR 362,403,449,472,561 Igman (Berg) 361,555 Ignjatovic, Jakov 91 IIidfa 449 IIinden 139 lllyrer (Volk) 16,40, lllyrismus 47, 148,208,209, 210,249,273,297 lllyricus, Flaccius 230 IIIyrische Provinzen 30, 46, 209,210,234 IIustrovana politika (Zeitschrift) 323 lmotski 73 lMRO 139, 141, 142, 156 lnnozenz ill. (papst) 65 International en Wahrungsfonds 553 Intemationaler Strafgerichtshof fUr Kriegsverbreehen ~ITCY
Iran 398, 403, 563 IRKR 523 Isakovic, Antonije 283, 322 Ishakovic, Gazi Isa-beg 72 Islam 23, 68, 80, 84, 113, 122, 233,247,275,295,306, 307,399,403,404,424, 475, 502, 551, 555, 560 "Islamische Deklaration" 242, 428 Islamisierung 71,74,138, 295,297,299 Istanbul 71,77,78,79,84 Istrien 46, 53, 54, 153, 182, 193,210,231,234,249, 254,330 Italien 41,67,118, 121, 124, 126,142,153,154,159, 168,169,176,178,180, 187,222,254,263,275, 470,531,558 ITCY 487,553,555, 559, 562,563,568 Ivankovic, Nenad 328 1zetbegovic, A1ija 205, 242, 329,354,378,428-430, 433,435,437439-441, 448,502,505,546,550, 551-555, 558, 562, 565
583
Namens- und Sachregister
J
K
Jablanica 360, 437 Jackson, Michael 567 Jajce 69, 70, 73, 78, 142, 179, 191,217,359,362,435, 436,552 J alta 182, 469 Jansa, Janez 347 Jancar, Drago 276 Janevski, Slavko 285 Janina 123 Janitscharen 71,98 Janvier, Bernard 362, 446, 560,561 Jasenovac 62, 172, 324 Jashari, Kaqusha 129,337, 543 Jelacic, Josip 49, 90, 234 Jelavic, Ante 502, 565 Jelzin, Boris 556, 565 Jesuiten 44, 234 JMO 86,155,156,157,217 "Joghurt-Revolution" 337, 543 Johannes Paul II. (papst) 238, 557 Joseph II. (Kaiser) 46, 98, 262 Jovanovic, Siobodan 103,161 Jovanovic, Vladimir 103 Jovic, Borisav 321,339,543, 544,546 Jovic, Mirko 350, 354 Juden 24, 77, 78, 84, 138, 142,169,171,186,187, 243,244,305 Jugoslawisches Komitee (London) 152,215 Jugoslawismus 31, 51, 48, 148,151,302,325,409 Jungbosnien ~ Mlada Bosna Jungtiirkische Revolution 106, 124,140 Jutamji list (Zeitung) 329 JVA 37,144,198,319,320, 336,345,346,347,349, 351,353,366,369,372, 381,390,393,396,398, 404,414,431,434,479, 484,500,524,546,547, 548, 549, 550, 551
k. u. k. Monarchie ~ Habsburger Ka~ 156 Ka~ik (Kacanik) 130, 545 Kadijevic, Veljko 320, 336, 339,346,366,368,383, 395,405,472,546,543, 550 Kakanj 437 K{!llay, Benjamin 80, 83 Kalocsa 65 Kalter Krieg 463,471,473 Kapetan Dragan 313 Kapetanovic, Mehrned-Beg 295 KaradZic, Radovan 301,341, 352,355,356,433,437, 446,450,545,548,549, 550, 553, 554, 555, 556, 557,558,560,562 KaradZic, Vuk 52,55,100,150, 210,213,258,274,311 Karadorde Petrovic 98, 99 Karadordevic, A1eksandar 101,153 Karadordevic, Petar 106 Karadordevic, Petar II. 162 Karadordevo 200, 439, 546 Karahasan, Drevad 271,279 Kardelj, Edvard 34, 198,200, 201,205,218,220 Karlovac 232, 348, 352, 555 Karlowitz ~ Sremski Karlovci katholische Kirche 20, 22, 34, 65,78,81,83,109,172, 201,213,237,262,275, 295,307,350,425,426 Katun 19,21,24,70,110 Kavcic, Stane 35, 199, 200, 219 Kelmendi, Bajram 568 Keraterm 357,417,550,551 KFOR 526, 530, 534, 567 Kbuen-Hedervary, Karoly (Banus) 55, 84 Kis, Danilo 273, 283 Kijevo 348 Kirchenslawisch 255,271 Klein, Jacques 416, 450 Klis 69, 72, 73
Kljuc 64, 357 Kljujic, Sljepan 430, 549 Knefevic, Veljko 328 Knin 174,178,313,345,348, 352,357,362,384,386, 388,446,483,544 KnjiZevna ree (Zeitschrift) 320 Knjirevne novine (Zeitschrift) 320,542 Kocbek, Edvard 34 Kocevski Rog 183 Kocic, Petar 279 KOCovic, Bogoljub 185 Koha Ditore (Zeitung) 330 KolaSin 117 Koloman (Ban) 65 Koisek, Konrad 347 Kolisevski, Lazar 143 Kollar, Jan 209 Komarica, Franjo 247 Kominform 142,194 Komintern 141, 157, 162, 175,216 Kommunismus 32,156,157, 159,175,177,179,182, 183 Kommunistische Partei Jugoslawiens ~ KPJ Komnenic, Milan 283 Koneski, BlaZe 285 KOnigreich Bosnien 295 KOnigreich der Serben, Kroaten und Siowenen ~ SHS KOnigreich Kroatien 149 KOnigreich Serbien 91 KOnigsdiktatur 159,216,217, 223 Konjevic Polje 360 Konstantin VII. Porphyrogennetos 64,228 Konstantinopel 22, 77, 228, 231,297 Konstantinovic, Radomir 282 Kontaktgruppe 448, 560, 564, 557, 567 Kontic, Radoje 553, 564 Kopitar, Jemej 210 KOprii1u, Mehrnet 122 Korac, Maksim 309 Kordic, Dario 563 Kordun 172,345,386,414, 560
Namens- und Sachregister
584
Korfu 107 Kori§a 568 Koric, Davor 303 Koro§ec, Anton 32,156,215, 240 KOS 199,346,382 Kosaca, Stjepan Vukcic 73 Koschnick, Hans 442, 502, 557,561 Kosmet ~ Kosovo Kosovac, Obrad 328 Kosovo 60,75, 116, 118, 141, 145, 155, 156, 169, 181, 200,202,217,221,225, 233,237,242,254,262, 264,281,283,308,321, 328,330,334,335,347, 348,378,382,412,420, 451,471,475,479,493, 529,534,544,545,547, 551,556,558,564,565, 566,568 Kosovo polje 96, 542 Kosovo-Mythos 268,312 Kossuth, Lajos 90 Kostic, Branko 548 Kotromanic, Stjepan 67 Kotromanic, Tvrtko 66, 73, 298 Kovac, Mirko 321,433 KovaCevic, Ante 433 Kozarac 550 Kozic, Du§an 557,561 KPH 175 KPJ 126,155,157,158,161, 162, 175,216,217,263 Kragujevac 176 "Krajina" 70,247,345,356, 386,414,417,446,479, 482,489,500,527,546, 547,551,552,556,558, 560 Kraljevic, BId 358, 403, 434 Kraljevo 176 Kranjeevie, Silvije Strahimir 280 Krbava 69 Kre§evo 67 Kre§imir IV, Petar 41 KriZanie, Juraj 44, 148,234, 276 Kriegsverbrechertribunal ~ITCY
Kr1eZa, Miros1av 161,277, 278,297 Krnjevie, Milan 162 Kroaten 18,20,24,25,26,85, 86,93,152,154,209, 211,212,213,228,229, 237,263,273,295,297, 299,301,305,309,355, 408,425,428,435,441, 442 Kroatien 21,37,64,66,67, 72,75,80, 83,90, 130, 14~ 152, 153, 181, 186, 187,214,219,222,237, 262,311,324,325,345, 357,374,375,381,387, 398,410,412,424,425, 426,430,445,463,465, 471,479,482,483,484, 488,499,503,534,544, 562 kroatisch-orthodoxe Kirche 172 Kroatisch-Serbische-Koalition (HSK) 57 Kroatische Annee ~ HV Kroatische Nationalpartei 53 "kroatischer Friih1ing" 220, 239,279,456 Kroatischer Verteidigungsrat ~HVO
Krstic, Radislav 450, 566 krstjani 23, 68, ~ auch Bogumilen Kru§evac 96 Kru§evo 139 Krva§ (Furst) 65 KSHS ~ SHS KSZE 463,547,549,550,551 Kucan, Milan 36, 38, 346, 544,552,564 Kuharic, Franjo (Kardinal) 246,247 KukuIjevic, Ivan 273 Kulenovic, DWer-beg 432 KuJin Ban 64, 230, 296, 299 Kupres-Pass 435,436, 354, 357,361,558 Kvaternik, Dido 172 Kvaternik, Eugen 50,52,213 Kyrill (Slawenapostel) 18, 136,228,255,284 Kyrilliza, 136
L
Lagumdfija, Zlatko 554 Laibach ~ Ljubljana Lalie, Mihai10 283 Latas, Omer-Pascha 76,116 Lazar Hrebljenovic (FOrst) 66, 96, 122 LDK 129,131,544,550 LOS 38 Leopold I. (Kaiser) 88 Lepoglava 234 Leskovac 124 Liga von Prizren 123 Lika 69, 172, 174, 345, 352, 386,414,560 Lilic, Zoran 554, 563 Linhart, Anton Tomd 30 Lissabon 549 Ljiljan (Zeitschrift) 329 Ljotie, Dimitrije 162, 169, 177,182 Ljubicic, Nikola 336 Ljubjankie, Irfan 559 LjUbljana 28, 169, 182,210, 215,223,234,240,346, 543,547 London 59,107,140,179, 551,557,560 Loveen 110 Lovrenovie, Ivan 279,427 Lovrie, Je1ena 325 Luka (Brcko) 357, 550 M
Maastricht 465 Madrid 566 MaCek, Vladko 154, 159, 160, 162,173,432 Maeva 65 Maglaj 361 Mahajlov, Ivan-VanCe 141 MahmutCehajie, Rusmir 306, 307 Major, John 445,466,470 Makarije (patriarch) 231 Makarska 72 Makedonien, Makedonier 18, 21,26,102, 107, 135, 143, 145, lSI, 156, 169, 181,187,200,218,222, 232,254,258,262-264,
Namens- und Saehregister
484, 530, 535, 537, 547, 548, 549, 554, 556, 558, 559.560,562,566,567 "makedonisehe Frage" 107 Makedonisehe Orthodoxe Kirehe 143,236 Maksimovic, Desanka 283 Mamula, Branko 319, 336, 542,451 Manjaca 357,417,550,551 Manolic, Josip 439 Maria Theresia (Kaiserin) 113, 262 Markovic, Ante 205, 206, 339,346,350,464,543. 549 Markovic, Draia 202 Markovic, Mihajlo 223, 310, 336 Markovic, Mira 334, 336 Markovic, Sima 157,217 Markovic, Svetozar 103,212 Marseille 141 Martie, fra Grgo 279 Martie, Milan 339,341,345, 348,352,354,558,559, 560 Martolose 70 Marulic, Marko 277 Masaryk. TG. 56 Masleniea-Brueke 352, 445 Massenvergewaltigungen 7 Vergewaltigung Matic, Dusan 282 Matica srpska 91, 100,210 Matos, Antun Gustav 278 Maiuranic, Ivan 54, 273, 277 Mazowiecki, Tadeusz 482, 551,552,560 Medak-Tasehe 352 Medugorje 240 Mehmed Il. el-Fatih (der Eroberer) Sultan 69, 74, 78, 230,298 Memorandum der SAND 335, 542 Mesic, Stipe 350, 439, 545, 546,547,549 Method (Slawenapostel) 18, 136,228,231,255,284 Metohija 120 Mestrovic, Ivan 59, 217 Micunovic, Dragutin 223
585
MihajIo (Fiirst) 101, 102, 110 Mihajlovic, Draia 174, 181, 191 Mihalic, Slavko 279 Mikelic, Boro 546 Mikulic, Branko 205, 298, 543 Milan (Fiirst) 105 Milesevo 66, 77 Miletic, Svetozar 91,101, 212,214 MiMic, Milan 275 Militiirgrenze 43, 45, 70. 152, 232, 409, 411 Miljevae 352 MiJlet 77, 138,262,424 Milos (FOrst) 100, 101 Milosevic Siobodan 36, 88, 92, 129,132,144,206,207, 222,225,237,271,347, 369, 388, 411, 420, 430, 432,446-448,452,465, 534, 542, 562, 563, 566 Milovanovic, Manojlo 503 Milutin (FOrst) 95, 137 Milutinovic, Milan 564, 568 Minovic, Zivorad 322 Misirkov, Krste 138 Mitevic, Dusan 323, 332 Mitsotakis, Konstantinos 144 Mitterrand, Frans:ois 445, 466, 469,485,551 M1ada Bosna 85, 107 M1adic, Ratko 339, 348, 356, 362,370,394,402,437, 445,446,450,503,550, 553, 554, 559, 560, 562 Mladina (Zeitsehrift) 319, 542 Mohiles (Mohac) 43, 69, 72 Mojsov, Lazar 543 Monitor (Zeitschrift) 330 Montenegro 20,24,26,102, 110,113,123,124,153, 156,169,174,176,177, 181, 18~213,231,25l 262,263,336,354,355, 408, 529, 535, 543, 546, 549,553,564 Morava 66 Morillon, Philippe 360, 552, 553 Morina, Rahman 543 Morlaken 70
Moskau 157.175,180,472 Mostar 65,73,74,77,82, 240,354,357,359,360, 400,433,434,435.438, 442,448,502,551,552, 555,557,561,562 MrkSic, Milovan 387 Mudsehaheddin 404 Musicki, Lukijan 100 Muratovic, Hasan 561 Muslime 20,59,81,86, 109, 170,172,186,195,241, 247,273,299,306,309, 354,355,375,408,413, siehe aueh Bosniaken Mussolini, Benito 159,160 N
Nadin 547 "nacertanije" I 0 I, 7 GaraSanin Naletilic, Mladen (Tuta) 435 Nambiar, Satish 351 Napoleon 46, 99, 234 National (Zeitsehrift) 329 "Nationalistisehe Jugend" (Partei) 5684, 149,214 "Nationalkomitee" (1918) 59, 91,153 Nato 144,146,342,362,402, 446,463,472,489,499, 499,506,534,537,551, 552, 556, 558, 559, 560, 564,566,568,567 Nato-Intervention 222, 525, 530 Naumann, Klaus 567 Nazor, Vladimir 278 NDH 60,61,162,169,176, 183,235,238,241,244, 425 Nedeljkovic, Dusan 323 Nedic, Milan 162,169,177, 182 Nemanjiden 18,65,66,94, 95,110, 114, 122, 137, 231 Neretva 178 "Neuer Kurs" 84,214 Nis 124,396 Nikezic, Marko 200, 204, 219 Niksic 102,116
Namens- und Sachregister
586
Nikola (FUrst) 115, 116, 117 Nikolaus I. (Zar) 99 NIN (Zeitschrift) 322 Ninoslav (Banus) 65 Nizlla (Konzilsort) 231 Njegos, Petar I. Petrovic 112, 114 Njegos, Petar II. Petrovic 100, 113,114,311 NO ZB 404, -7 auch Abdic Nobilo, Mario 441 Nova revija (Zeitschrift) 35, 319 Novak, Siobodan 279 Novak, Viktor 158 Novakovic, Stojan 104 Novi list (Zeitung) 327,329 Novi pazar 111, 343 Novi Sad 91, 243 Nurnberger Kriegsverbrechertribunal 184, 487
o Obradovic, Dositej 98, 100, 211 Obrenovic, A1eksandar 105 Obrenovic, Milan 102, 105 Obrenovic, Milos 75,99, 116 Ogata, Sadako 531 Ohrid 22, 136, 138, 143,231 Okucani 351,352 Olovo 67 "Oluja" (Operation Stunn) 382,387,446,499 Omarska 357,417,550,551, 559 Omerovic, Hilmi-Efendi 84 Omladina 101,103 Opacic, Jovan 544 Open Cities Initiative 529 Oralije 359, 400 Orbini, Mavro 276 Orfelin, Zaharija S 149,210 Oric, Naser 362 "Orientalische Frage" 79, 116, 139,211 Orthodoxe Kirche 67,77,81, 95,97,114,149,150, 154,161,213,232,234, 275,295,307 Orueevic, Safet 443 Osijek 351, 547, 548
Oslobodenje (Zeitung) 305, 329 Osmanen 6, 22, 42, 68, 69, 70,73,86, 110, Ill, 112, 121, 122,123, 137, 139, 209,231,233,244,253, 262,295,301,408,412, 413,424,427,441 Qsterreich-Ungam 79, 102, 106,116,124,152,413, 424, -7 Habsburger "Ostslawonien" 414,416,448, 528,560,561,564 OSZE 133, 144, 146,489, 490,504,562,566,567 Ovcara 351 Owen, Lord David 436,551, 552, 554, 558 Owen, Robert 567 Owen-Stoltenberg-Plan 554, 555 OZNA 181
p Pakrac 72, 232, 352, 546 Pale 355, 448, 449, 550, 553, 557, 559, 563 Panic, Zivota 397 Panic, Milan 131,552,553 Papandreou, Andreas 470 ParaCin 542 Paraga, Dobroslav 439,433 Pardew, James 502 Paris 140, 184, 193 Partei der demokratischen Prosperitllt (Makedonien) 145 Partei des Rechts -7 HSP Partisanen (2. Weltkrieg) 176, 182,183,298,394,441 Partnerschaft fur den Frieden (Partnership for Peace) 499,556,561 Parun, Vesna 279 Paliic, Nikola 59, 104, 125, 151,152,156-158,215, 224,270 Passarowitz (Pozarevac) 45, 75, 88, 97, 112 patriarchal ische Kultur 24, 112,115, -7 auch Katun
Patriotische Liga 354, 397, 398,433 Palitrovici 20 Paul (Prinz) 159, 160, 162 Pavelic, Ante 141,159,163, 170,181 Pavic, Milorad 284 Pavle (patriarch) 237, 246, 416 Pavlovic, Dragisa 332 Pavlovic, Miodrag 282 Pee 22,77,97,110,116,231, 235 Pecanin, Senad 329 Pesic, Vesna 562 Pesic-Golubovic, Zagorka 223 Pekic, Borislav 283 Pellnas, Bo 557 Perovic, Latinka 200, 219, 225 Petar (Konig) 167, 191 Peterle, Lojze 549 Petranovic, BoZidar 67 Petrinja 547 Petritsch, Wolfgang 567 Petrov, Rl\iko Nogo 268 Petrovac 357 Petrovic, Danilo 115, 117 Petrovic Njegos, siehe Njegos Pirjevec, Dusan 34, 218 Pirocanac, Milan 103, 104 Plavsic, Biljana 450, 503, 562,563565 Plitvice 345, 546 Podgorica 102, 116, 118 Podrimija, Ali 330 Podujevo 379 Pozega 72 Pogacnik, laze 240 Politika ekspres (Zeitung) 318,322 Poos, Jacques 346,464,468 Popa, Vasko 282 Popit, France 35, 200 Pop1alien, Nikola 450, 565, 567 Popov, Nebojsa 223, 225 Popovic, Bogdan 282 Popovic, Danilo 224 Popovic, Danko 271 Popovic, Justin 236 Popovic, Koca 198, 219 Popovic, Nenad 433
587
Namens- und Sacbregister
Popovic, Skerlic 282 Posavina 75, 359, 426, 548, 561 Pozderac (Briider) 298, 427 Praxis-Gruppe 223, 336 Predojevic, Hasan-Pascha 69 PreSeren, France 30,210,275 Preporod 273, ~ lllyrismus Preradovic, Petar 273, 290 Prespa 136 Prev1aka 552 Protic, Stojan 154 Pribieevic, Svetozar 58, 91, 153,157,158,214,217 Pribojevic, Vinko 208, 276 Prijedor 356, 417, 550 Princip, Gavrilo 85 Prishtina (PriStina) 127, 128, 206,265,335,337,542, 563, 565 Prizren 111,116, 121, 127 Protestantismus 209, 230 Prozor 65 Puljic, Vinko (Kardinal) 247 Pucnik, Joze 36, 544 Puhovski, Zarko 225
Q Qosja, Rexbep 131,330 R Ra~ 325,567 Racin, Koca 284 Radic, Stjepan 56,153-159, 278 Radi§ic, Zivko "565 Radikale Partei (historisch) 91, \03-105, 155, 158 Radikale Partei (SRS) 564, 567 Radio 101 329 Radio Zid 330 Racan, Ivica 338 Racki, Franjo 51,67, 148, 212,214,295 Ragusa 234, ~ Oubrovnik Rajacic, Josif 90 Rajic, Jovan 211 Rakic, Milan 283 Ra§kovic, Jovan 339, 352, 544
RAM 339,545 Rambouillet 534, 538, 567 Ramjatovic, Zeljko ~ Arkan Rankovic, A1eksandar 127, 196, 198, 223 Rapid Reaction Forces (RRF, auch RDF) 403, 445, 559 Raszien, auch Ra§ka 65, 66, 94, \09, 110, 111, 114, 136 Ravno 548 Rechtspartei ~ HSP Redman, Charles 439 Republik Serbische Krajina, ~ "Krajina" Republika (Zeitschrift) 325 Republika Srpska 247,330, 444,447,448,500,527, 528, 530, 532, 549, 550, 551,557,559,561,562, 563, 564, 567 Reschid, Mustafa Pascha 75 Revolution von 1848 48 Rijeka 45, 54, 153, 390 Rilindja (Bewegung) 121, 123 Rilindja (Zeitung) 330, 545 Ristic, Jovan 102 Ristic, Marko 282 Rizvanbegovic, Ali 75, 76 Rom 65,68,77,229,297 Roma 143, 169, 171, 186, 187,244,255 Romanija 547 Romisches Reich 14, 121, 228,249 ,,rosa Zonen" 352,482, 553 Rose, Michael 556, 558 RS ~ Republika Srpska 503 RSK ~ ,,Krajina" RTS (TV-Sender) 321,324 Rugova Ibrahim 129-133, 544,550,556,558,562, 563,564,565,566,568 ~ Ruthenen Rusinen Russland 75,80,99, \02, 105, 112, 113, 115, 117, 136, 139,149,152,403,472, 534,538,539,556,564 Ruthenen 24, 240, 254
s Sabor 41,48,50,51,153 liacirbegovic, Muhamed (liacirbey) 441,559 liafafik, Pavel J. 209 liakic, Oinko 565 lialamun, TomaZ 276 Salona 73 Saloniki (Thessaloniki) 72, 78, 135, 136, 138, 139 SamardZic, Radovan 309 San Stefano \02,116, 123, 139 SandZak (Sandschak Novi pazar) 118,177,181, 217,343,529,548,556 Sanski Most 357, 362, 561 liantic, A1eksa 279 SANU (Serbische Akademie) 549, 551 Sarajevo 72, 75, 77, 78, 79, 82,85, \07,205,233, 242,296,299,300,324, 354, 355, 356, 359, 360, 361,384,392,400,401, 426,430,433,437,445, 447,449,471,526,548, 549, 550, 552, 554, 555, 556,559,560,561 liarinic, Hrvoje 566 Sava (Heiliger) 18, 95, 228, 231 Savic-Rebac, Anica 281 IiCepan Mali 113 Schutzzone 360,401,418, ~auchUNPA
"Schwarze Hand" 106 SOA 298, 299, 329, 343, 430, 434,443,451,502,544, 545,562,563 SOP 389, 458, 459 SOS 301,302,339,352,386, 396,544,545,546,548, 549,563 Sekulic, BoZidar Gajo 225 Sekulic, Isidora 281 Selenic, Slobodan 283 Selimovic, Me§a 273 Senta 88 lieper, Franjo (Kardinal) 245
588
Serben 18,20,21,24,25,26, 77, 85, 86, 123, 143, 149, 152,154,171,186,187, 210,211,212,213,228, 235,246,252,273,292, 293,295,297,299,301, 305,345,349,355,408, 425,426,428,438,457 Serbien 24,67,75,84,94, 110,116,117,121,124, 140, 141, 143, 152, 161, 168,174,176,181,186, 214,231,262,263,332, 352,354,355,365,410, 413,424,454,463,465, 472,485,535,566 Serbisch Orthodoxe Kirche 23,73,83,89,141,143, 235 "Serbischer N ationalrat" 545 Serbische Radikale Partei 7SRS Serbokroatisch 253, 258 Sclelj, Vojis1av 93,143,345, 350,354,403,417,551, 562-564, 567 sexuelle Gewalt 418, 420 SFOR 449,472, 505, 562, 563,566,568,567 SFRJ 550, 552 Shkodrani, Vase Pashe 123 SHS (KOnigreich) 59,91,119, 140,216,263 Sibenik 351,555 Siber, Stjepan 356, 502 Sicherheitsrat 7 UN-Sicherheitsrat Sidak, laroslav 68 Sidran, Abdulah 280 SilajdZic, Haris 441,555,557, 563 Simic, Antun Branko 278 Simovic, DuSan 162, 167 Simunovic, Dinko 270 Sisak 18, 43, 69, 70 Skabmja 547 Skadar 123 Skenderbeg, Gjergj Kastriota 19,122 Skerlic, Jovan 214,278,281, 424 SKH 454,458 SKJ 454
Namens- und Sacmegister
Sklawinien 16 Skopje 72, 95, 136, 137, 138, 139,236,347,561,565 Skutari 110,116,118 Siaming, Ivan 270 Siavonski Brod 435 "slawische Wechselseitigkeit" 7 Jugoslawismus Slawonien 41,69,72,75,152, 153,213,231,243,262, 345,350,386,482,547, 548 Slawophone 140,144 Siobodna dalmacija (Zeitung) 327 Siowaken 24, 222, 254 Siowenen 152, 154, 156, 211, 212,213,230,238,240, 243,263 Slowenien 129, 130, 143, 161, 219,222,262,319,346, 365,381,383,385,410, 425,465,471,479,480, 483,527,534,536,546, 552, 556, 558, 561, 562, 563 Siowenische Volkspartei 32, 157 Smith, Rupert 445, 558 Sofia 139 Sokolac 352 Sokolovic, Ferhad-Beg 73 Sokolovic, Mehmed-Pascha 296,298 Solana, Javier 567,567 Soldner 350, 403 Solevic, Miroslav 337 Soli (Tuzla) 64, 65 Soljan, Antun 277,279 Sowjetunion 142,159,175, 264,465,466 Spaho, Fehim 241 Spaho, Mehmet 82, 86, 156, 432 Spegelj, Martin 323,347,388, 389, 546 Split 65, 69, 73, 229, 234, 548, 559 SPO 340,403 Sporazum 160, 162,432 SPS 321,545,553,556,562
Srebrenica 67, 78, 355, 360, 362,399,401,402,418, 445,447,523,533,552, 553,554,559,560 Srebmik 64 Sremski Karlovci 44, 75, 89, 90,232 SRNA 324 SRS 7 Serbische Radikale SS-Division ,,Prinz Eugen" 178 Stabilit!itspakt fur Siidosteuropa 541 Stadler, losip 83 Stalin, Josif 157,161,182, 194,217,218,297,317 Stambolic, Ivan 332, 542 Stambolijski, Aleksandar 141 Stani§ic, Jovica 339, 372, 559 Stanisavljevic, Miodrag 282, 325 Stankovic, Borisav 270 Stankovic, Milovan 503 Starrevic, Ante 50, 51, 60, 148,154,213,290 Start (Zeitschrift) 326 steCak 297-299 Steiner, Michael 439, 448 Stepinac, Alojzije 171, 173, 193,204,238,565 Stevanovic, BoZidar 370 Stojadinovic, Milan 160 Stojanovic, Lazar 323 Stolac 360 Stoltenberg, Thorvald 554, 558, 559, 561 Stratimirovic, Dorde 90 Stratimirovic, Stefan 98, 100 Strossmayer, Josip Juraj 51, 53,83,148,212,234,273 Studenica 95 Student (Zeitschrift) 320 Stupni Do 360, 438 Su§ak, Gojko 392,432, 503 Suba§ic,lvan (Ban) 160, 162, 182,191 Subic, Mladen 66 Subic-Zrinski, Nikola 43, 44 Siileyman der Pr!ichtige 69,72 Supilo, Fran 57-59, 152,214, 215 Surroi, Veton 330
589
Namens- und Sachregister
Sutjeska 178 Svetosavlje ~ Sava (HI.) SVK 387,395,552
T Tadic, Dusko 559, 562, 563 Tadic, Ljuba 223 Takovo 99 Talic, Momir 503 Tanjug 323, 328 Tanzimat 75, 138,262,424 Temesvar 89, 90 Tepavac, Mirko 204 Territorialverteidigung 336,
346, 352, 355, 365, 369, 372, 383, 394, 544 Tetovo 143, 145 Thaqi, Hashim 567, 567 Thatcher, Margaret 470 "Tiger" 350, 354, 549, Arkan Tisma, Aleksandar 271,283 Tito, Josip Broz 86, 126, 127, ~
142,157,161,175,176, 17~ 182,184,191, 19l 203,217,218,221,223, 238,239,292,297,301, 318,320,382,410,427 Tomac, Zdravko 338, 348 TomaSevic, Stjepan 69, 70 Tomislav (Konig) 41,64,229, 287,291,293 Tomislavgrad 357,400 Torbarina, Tanja 326 Torbesi 138, 143 Torkar, Igor 276 Travnik 75, 360, 361, 443 Trebinje 73 Trepca 337,543 Trialismus 151,212,215 Triest 182, 193,194,218 Trifunovic, Bogdan 544 Tripalo, Mika 199,219,456 Tmopolje 550,551 Trpimir (Konig) 40 Trubar, Primoz 29, 230, 275 Trumbic, Ante 57,59,152, 215 Tschemomyrdin, Wiktor 568, 567
Tschetniks 140,174,177,
Ungam 24,45,65,66, 75, 79,
183,184,188,241,354, 395,441,547 Tucovic, Dimitrije 125 Tudman, Franjo 61,199,204, 293, 294, 300, 328, 338, 339,347-352,361,388, 393,426,430-435,438440, 446, 448, 455, 456, 546,551-554,558,561, 563 Tudman, Miroslav 567 Tupurkovski, Vasil 146 Turajlic, Hakija 553 Tiirkei 125, 143, 403, 472, 505,530
80,83,91-93,96, 168, 169,187,210-213,222, 229,231,243,263,412, 445,549 UNHCR 527-532,551,552, 553, 568, 567 Unitarismus 149,158,163, 215,458 UNMIK 567 UNPA 351,549, 555, ~ auch
Tiirken ~ Osmanen Tiirkenkriege 44,78,88,412 Tus, Anton 349,351,391,392 Tuzla 64, 82, 355, 360, 400,
437, 552, 554, 556, 558, 559,562 VZ (Sender) 327 "two-way return" 416, 528
u U<;K 132, 146,534,539,562,
564, 565, 567, 567 UDBA 204 Udbina 558 UdSSR ~ Sowjetunion Oskiifi, Muhanunad Hawa'i
280
Schutzzonen UNPREDEP 144,146,559,
565, 567 UNPROFOR 351,359,401,
402,445,446,482,549, 551,552,555,556,559 UNTAES 527 Uros (Konig) 66 USA 131,355,361,445,446, 449,463,473,500,505, 528, 530, 547, 548, 550, 554 Uskoken 70, 113, 232 Usora 64,65 Ustascha 60, 159, 160, 170, 181,183,187,291,324, 426,432,441,565 Ustavobranitelji (Konstitutionalisten) 101 Sustersic, Ivan 2 I 5 Suvar, Stipe 221, 325, 338,
543, 545
Ugresic, Dubravka 268 Uzice 396 UIDI 225 "Ujedinjenje iii smrt" 106, 107 Ujevic, Tin 278 UN-Friedenstruppen 351,377,
v
401,484,486,534,560 UN-Sicherheitsrat 349, 446, 472,481,534,547- 555, 558,559,561,562,564, 565,568,567
Vance-Owen-Plan 436,437,
Unabhiingiger Staat Kroatien ~NDH
UNCRO 559
Vajanovic, Filip 565, 568 Vakuf 72, 80, 84 Van den Broek, Hans 346 Vance, Cyrus 351,436,463,
548, 549, 552 448,489,553,554 Vance-Plan (Kroatien) 351,
482 VaraZdin 389 Vares 82,360,437, 555 Vamava (Bischof) 236 Vasic, DragiSa 161 Vatikan 173, 235, 239, 549 YeiSer (Zeitung) 320 Vecemje novosti (Zeitung)
324
Namens- und Sachregister
590
Vecemji list (Zeitung) 318 Veitstagsverfassung 141, 155 Velika Kladusa 357,360,404, 557-558 Velikic, Dragan 271 Velimirovic, Nikolaj 235, 309 Venedig 42, 46, 66, 70, 73, 110,112,113,114,234 Vergewaltigung 418,420,553 Versailles 469 Vertreibungen 186,368,414, 431,7 auch "ethnische Sauberungen" Veselica, Marko 204, 456 Veselinov, Jovan 92 Vico, Ratomir 324 Vinkovci 350, 389 Vis (lnsel) 180 Visegrad 177 Viskovic, Velimir 268 Vitez 400,437 Vitezovic, Ritter Pavao 45 VJ 369,379, 395,447,499, 550 Vjesnik (Zeitung) 328 VlIasi, Azem 129,206,337, 542,543,544 Vlora, Ismail 124 VMRO-DPMNE 143,145, 545, 558, 566 Vocin 351,548 Vojvodina 24,88,180,193, 202,221,232,243,252, 254,262,281,330, 334, 337,383,412,416,543, 545 Volksdeutsche 175,187 Volksziihlung von 1991 37, 227,410 Volksziihlung von 1948 185 Volksziihlung von 1953 227 Voranc, Prezihov 276 Vranje 124 Vraz, Stanko 210,273 Vrdoljak, Antun 328 Vreme (Zeitschrift) 323 Vrhbosna 69, 72 VRS 353, 369, 394, 396, 402, 403,404 Vucelic, Milorad 321 Vuco, Aleksandar 282, 283 VukaSin (Herrscher) 95 Vukan (Herrscher) 65
Vukovar 328, 349, 350, 376, 414,481,547,548,552
w Waffenembargo 349, 356, 398,401,437,554,557, 558, 561 Walker, William 567 Washington 438,440,442, 445 Washingtoner Abkommen 361,393,399,403,423, 437, 556 WeiBe Adler 350, 354, 395, 403 Weltkirchenrat 246 Westendorp, Carlos 450,451, 506,563,564,567,567 Westslawonien 247,348,351, 352,361,386,414,445, 489, 559 WEU 551 WHO 554 Wien 72,81,90, I14, 138 Wlachen 14,16,17,19,21, 24,43,70,74,77,97, 109, III, 138, 143,232, 254,409,412 Womer, Manfred 556
z Z-4 Friedensp1an 416,483, 558 Zadar 53,67, 153,234,349, 351,431,547 Zadruga 43,48 Zagreb 54,153,170,182, 220,223,234,318,324, 345,347,349-351,383, 386,390,430,457,500, 548,555,559,561,565 Zahumlje 64-66,73, 109 Zajedno 132, 342, 562, 563 Zarkovic, Vidoje 543 Zanko, Milos 220 Zemunik 402 Zenica 65, 82, 437 Zepa 355, 360, 362, 445, 554, 559 Zepee 360 Zerdin, Ali 331
Zerjavic, Vladimir 185, 525 Zeta 64,66,94,109,110,114, 118 Zica 231 Zitomislici 77 Zivilkroatien 44 Zlobec, Ciril 276 ZNG 388, 389, 392, 546 Zrinski 7 Subic Zsitva-Torok 43 Zubak, Kresimir 499, 502, 557,561,565 Zvizdovic, Angelus 78 Zvonimir (Konig) 41, 292, 287,293 Zvomik 67,69, 324, 355, 356, 550 Zweiter Weltkrieg 79, 86, 92, 126,142,162,217,394 Zerjavic, Vladimir 185, 525 ZupanCic, Oton 276
Kriege, Krisen, Konflikte und deren Bewaltigung Ernn.()l'lo Czemplel
Burkhard Wehner
Pramierung des Friedens Aiternaliven zum 'humaniloren' Krieg 1999. 128 S. Sr. co. DM 24,00 ISBN 3-53 I-I 3421-3 Wie sollen Staaten, in denen die Menschenrechle respekliert werden, mit ienen Staalen umgehen, die im eigenen Lande Minderheilen menschenrechtswidrig behandeln? Die palitische Praxis scheint weit dovon endernt zu sein, hierauf eine universelle Antwort geben zu kbnnen. Der Essay leistet eine systematische Analyse der meg lichen - und bisher in Theorie und Pro xis vernochkissiglen - Alternoliven zum Krieg. Dabei wird dieokanamische Unsinnigkeit der kriegerischen Option 015 Ausgongspunkt gewohlt, um dos unousgeschopke Konsenspotenti01 einer ouf ~iedliche Anreize gegrundeten und doher ouch moralisch zweilelsfrei uberlegenen politischen Strotegie aulzuzeigen. Simone Richter
Journalls.... zwlsche.. de.. Fro......
Kriegsberichterstattung om Beispiel Jugoslawien 1999. ca. 250 S. Br. ca. DM 48,00 ISBN 3-531-13423-X Es gibt keinen eleganten Krieg, das erfahrenJournalisten, die vor Ort vom Krisenherd berichten toglich Vor allem Pressereporter mussen versu'chen, hinter die schmutzigen Kulissen zu blicken und vom Konflikt aus erster Hand zu berichten. Dabei wird der romantische Mythos des publizierenden Kriegshelden entzaubert: Realjournalismus lindet unter hortesten Arbeitsbedingungen und in einer obsoluten Ausnahmesituation stott.
W..Id..,lIche. Verlag
ErnstDtto Czempiel
Friede..sstrategien Eine systematische Dorstellung auBenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga 2., uberarb. und aktual. Aufl. 1998. 317 S. Br. DM 38,00 ISBN 3-531-13234-2 Viele groBe Theoretiker der Politik haben sich mit den Strategien befaBt, die den Frieden erzeugen: Machiavelli und Montesquieu, Kant und Kautzky, Fichte und Fried. Es istfrappant, daB sie aile die gleichen Strategien empfehlen: die Demokratisierung der Herrschaftssysteme und die Zusammenarbeit in internationalen Organisationen. Dos Buch untersucht, was uberhaupt als Friede zu verstehen ist. Erst dieser komplexe Begriff erschlieBt den in der politischen Theorie vorhandenen Reichtum des Wissens. Anderungen vorbehalten. Stand: August 1999.
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Aus dem Programm Politikwissenschaft
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Rahmenbedingungen - Entwicklungen Perspektiven 1999. ca. 665 S. Br. ca. DM 98,00 ISBN 3-531-13182-6 Aus politischer Sicht wird in dem Sonderheft der 'Politischen Vierteljahresschrift' eine Bilanz der vergangenen 50 Jahre der Bundesrepublik gezogen. Der Band umfaBt mehr als 40 Einzelbeitrege, die, in der Form knapper wissenschaftlicher Essays, in insgesamt 6 Abschnitten zusammengefaBt werden: Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik und der DDR, Verfassung und Verfassungswandel, Kontinuitet und Vercnderung der offentlichen Aufgoben, Die Gebietskorperschaften und ihre Verflechtung, Institutionen und Verfahren der Politik, Akzeptanz und Erneuerung.
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