4. Nachidealistische Theologie Politische Theologie ist der Versuch, von Gott zu reden, ohne diese Rede durch Hintergrundannahmen zu desavouieren, die für das zeitgenössische Be wußtsein - die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen - wie ein Hohn wirken müssen. Sie kann aber zugleich nicht regressiv hinter die Mo derne zurück: die Prozesse der Freisetzung der theologischen Dignität mensch lichen Handelns in der Welt sind irreversibel. Deswegen kann der unter kon servativen Theoretikern beliebte Ausweg der Annahme einer Verfallsgeschichte nicht in Frage kommen, da in ihm letztlich die Möglichkeit zur Differenzierung der neuzeitlichen Prozesse verschwindet - Heideggers Gleichsetzung von Fa schismus, Amerikanismus und Bolschewismus ist dafür ein beredtes Beispiel. Wo die Politische Theologie eine Perspektive zur Überwindung der Aporien der Moderne sucht, die sich durch die Katastrophe von Auschwitz darstellen, ist das nur durch die Prozesse der Aufklärung hindurch möglich und nicht an ihnen vorbei. Davon hatte Metz bereits Anfang der 70er Jahre ein klares Be wußtsein. Diese Konstellation ließ die Politische Theologie auch die Auseinan dersetzung mit dem Exponenten aufgeklärten Denkens suchen, der in der in tellektuellen Landschaft Deutschlands beherrschend war - und ist: Jürgen Ha bermas.
Die Grenzen der Kommunikationsgemeinschaft Helmut Peukert unternahm in der ersten Hälfte der 70er Jahre die Anstrengung einer großangelegten wissenschaftstheoretischen Reflexion auf die besondere Stellung der Politischen Theologie hin.1 Der Weg dieser Untersuchung führte geradewegs zur Auseinandersetzung mit Habermas und Karl-Otto Apel, deren gemeinsames Anliegen der Ausarbeitung einer „Theorie kommunikativen Han delns“ sicherlich eine der avanciertesten Formen aufklärungsorientierten Den
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kens darstellte.2Mit großer Problemsensibilität spürt Peukert die Wurzeln einer kommunikativen Handlungstheorie in den Traditionen der Aufklärung und unter dem Licht des linguistic tum in der Philosophie auf, um den Impuls einer solchen Theorie auf die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft hin aufzu weisen. Diese ist das vielleicht nicht selber normative,3 aber jedenfalls normge bende Ideal der Theoriegestalt Haberm as’ und Apels.4 Als ein solches Ideal ist nun aber nach Peukert die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft in sich selbst widersprüchlich. Denn ihr Begriff fordert einen Begriff ebenso unbe grenzter Solidarität als für die Kommunikationsgemeinschaft konstitutives Element reziproker Anerkennung (bzw. solche Anerkennung präsupponierend implizierenden bzw. kontrafaktisch antizipierenden Handelns, wie im weiteren Ausbau der Theorie die entsprechenden Termini lauten werden5). Genau diese Forderung ist aber aporetisch, da sie nach Peukert zum „Paradox anamnetischer Solidarität“6 führen muß. In der Erläuterung seines Gedankens bezieht er sich gerade auf die Traditionen Habermas’ selbst, die Frankfurter Schule, genaugenommen auf den Briefwech sel zwischen Horkheimer und Benjamin über die Unabgeschlossenheit der Ge schichte,7 den Peukert nicht ansteht „eine der theologisch bedeutsamsten Aus einandersetzungen unseres Jahrhunderts“ 8 zu nennen. Die „Verzweiflung“, die nach Horkheimer aus der durch nichts aus der Welt zu schaffenden Faktizität des vergangenen Leidens stammt, affiziert und falsifiziert nach Peukert auch 2
Zu der Apel zu dieser Zeit mit seiner „Transformation der Philosophie“ (Apel 1973) mehr vorzuzeigen hatte als Habermas, dessen „Theorie des kommunukativen Handelns“ 1981 erschien.
3
Mit den Worten von Burkhard Liebsch: „D er Glaube an eine solche prozedurale Rationalität der Erfahrung selbst, den die idealistische Dialektik zu begründen suchte, hat immer wieder von einer Logik der Geschichte im Sinne eines wenn nicht teleologischen, so doch wenigstens teleonomen kollektiven Lernprozesses träumen lassen ... Aufheben, Integrieren, Erinnern [im Sinne der Phänomenologie des Geistes], Vergegenwärtigen, das sind noch immer die begrifflichen Ecksteine der kollektiven Hoffnung, daß keine Wahrheit auf der Strecke bleiben wird und daß der kollektive Fortschritt im Namen einer universalen Vernunft nicht um den Preis eines wesentlichen Vergessens erkauft werden muß“ (Liebsch 1996a, 104f.).
4
Tatsächlich haben beide diesen Charakter in den folgenden Jahren mit unterschied licher Akzentuierung ausgearbeitet; als gemeinsamer Bezugspunkt ist diese Idee aber in beider Werk konstant zu finden.
5
Vgl. dazu z.B. Habermas 1983, 98; Habermas 1991a, 174; Habermas 1992, 186.
6
Peukert 1976,2 1988, 308.
7
S dazu den zweiten Abschnitt des Adorno-Exkurses dieser Aibni
das Projekt einer Theorie des kommunikativen Handelns. Die Grundintuition seiner Kritik, daß dieses Projekt (natürlich) diachronen Charakters sei, Solidari tät aber nicht nur de facto, sondern aus theorieimmanenten Gründen nur syn chron in den Blick bekommen könnte, scheint mir durch die Entwicklung der Theorie kommunikativen Handelns und auch durch die direkten Erwiderungen Habermas’ nicht widerlegt zu sein.9 Die an den Text Horkheimers anschließende Kritik enthält einige wichtige Prämissen, an die die Politische Theologie anknüpfen kann oder muß. Hork heimer bezieht, wie gezeigt wurde, auf einer Ebene die „ewige Wahrheit“ und die „unendliche Liebe“ auf ein transzendentes Prinzip, daß er mit dem Wort „Gott“ theologisch chiffriert. Nun erscheint in seinem Text „Wahrheit“ als konzeptueller Leitbegriff der Theorie, wie „Liebe“ traditionell der konzeptuelle Leitbegriff von Praxis ist. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist ei tel“, lautet der bekannte und von Theologen zu gern affirmativ zitierte Satz Horkheimers.10 Aber für die vergangenen Leiden ist keine Möglichkeit einer Sinngebung mehr denkbar, nicht einmal durch das Werk eines Gottes, der die Toten auferweckt - so lautet der zutiefst ethische Impuls, der dem europäischen Geist seit dem Protest Iwan Karamasoffs gegen eine jenseitige Allversöhnung vertraut ist. So ist die .unendliche Liebe* ebenso unmöglich wie die ,ewige Wahrheit*.11 Besitzt dann der Wahrheitsbegriff noch irgendeine Signifikanz? An dieser Stelle ist wieder ein Einstieg in die Theoriebildung der Politischen Theologie bei Metz möglich, in die Reflexionen des „Konzept“-Teils von Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Wie sieht sie die „Wahrheitsfrage innerhalb einer praktischen Fun 9
Auf beides wird in Kürze näher eingegangen. - Gerade weil Peukerts Kritik hier so treffsicher ist, möchte ich erwähnen, daß m.E. sein theologischer Gegenentwurf nicht überzeugt. Im Rekurs auf eine „Fundamentale Theologie als Theorie des kommunikativen Handelns und der im Handeln erschlossenen und erfahrenen Wirklichkeit Gottes“ (Peukert 1976,2 1988, 333ff.) in Kontinuität zu den „Grundund Grenzerfahrungen kommunikativen Handelns in der jüdisch-christlichen Tra dition (aaO. 3 Uff.) setzt auch er nämlich ein zu ungebrochenes Verständnis von Geschichte voraus, das sich die Politische Theologie verbieten muß.
10 Horkheimer 1985a, 184. 11 Bei Horkheimer finden sich überaus weitgehende Formulierungen, was die Aussa gestruktur der Rede überhaupt im Verhältnis zu diesem Verlust betrifft. Sein trauri ges Urteil über das Ende der Moderne läßt der Reflexion nicht einmal mehr die Möglichkeit offen, diesen Vorgang zu verstehen oder ihm Ausdruck zu verleihen: „das Bemühen ist paradox; denn die traditionelle Satzform und die Worte setzen eben jenen Sinn voraus, dessen Verlust sie auszudrücken suchen.“ (Horkheimer 1985a, 196).
damentaltheologie“, d.h. „unter dem Primat der Praxis“ ?12 Auf dieser Stufe der Konzeption vertritt Metz einen empathischen Begriff von Praxis, dessen nor mative Aufgeladenheit den Verdacht nahelegen könnte: Wird hier Wahrheit nicht der „Praxis“ schlechthin untergeordnet? Wird damit aber „Wahrheit“ nicht in „Relevanz“ umgedeutet? Und wird durch solche U m deutung (d.h. durch semantischen Betrug!) nicht nur verdeckt, was da eigentlich geschieht: nämlich die Liquidation des Wahrheitsbegriffs, insofern eine selbst nochmals auf Praxis hin verzweckte Wahrheit eben keine mehr ist?134 1
Wenn Politische Theologie als eine Theologie unter dem Primat der Praxis kei nen subjektlosen Wahrheitsbegriff anerkennen kann (ohne den Begriff der Pra xis in Beliebigkeit aufzulösen), kann der Wahrheitsbegriff nur vor kontextualistischen oder relativistischen Mißverständnissen geschützt werden, indem seine Universalisierung über den Subjektbegriff selber läuft. „ Wahr ist das, was für alle Subjekte relevant ist - auch fü r die Toten und Besiegten. “u Allein auf Praxis (oder gar auf eine „Orthopraxie“) zu rekurrieren, reicht für die Problemlage der neuen Politischen Theologie nach allem Gesagten nicht aus. Die heterogenen Elemente in Glaube in Geschichte und Gesellschaft lassen sich nicht auf den Nenner einer Gegenposition bringen. Allerdings ist methodisch auch klar, aus welchem Raum der Subjektbegriff für die ihm zugedachte Rolle reflexiv ge wonnen werden muß: aus dem Raum der Praxis, die er je überschreitet, inso weit sie ohne idealistisch (oder genausogut historisch-materialistisch15) beschö nigende Konstrukte von geschichtlichem und gesellschaftlichem Handeln und Leiden in den Blick kommt. Die Politische Theologie „versucht..., an einer ständig ganzen Doppelstruktur, an einer gegenseitigen Priorität von Subjekt und Geschichte/Gesellschaft festzuhalten.“16 Was das im Blick auf die anste hende Emstnahme dessen, was ,Geschichte“ noch bedeutet, heißen muß, zeichnet sich langsam ab.
12 M etzl977b,51992, 72. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Deswegen hielte ich den Begriff einer ,nachmetaphysischen“ Theologie für geeigne ter und werde ihn ab und an synonym gebrauchen. Vgl. allerdings einen Diskussi onsbeitrag von Metz in Reikerstorfer 1999: „Ich mag den Terminus .nachmetaphy sisch“ nicht so sehr. Wenn jemand dem Denken so viel Wahrheitsfälligkeit zutraut, wie Habermas das - bis jetzt - tut, dann behauptet er m.E. immer noch die Mög lichkeit von Metaphysik“ (S. 52).
Das nachidealistische Paradigma von Theologie Der Text, in dem die theoretische Gestalt der Politischen Theologie unter den Prämissen einer „Theologie nach Auschwitz“ reflektiert wird, ist der Beitrag „Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie“17 aus dem Jahr 1985. Im Jahr zuvor bereitet ein in Conciliwn erschienener Artikel mit dem tonangeben den Namen „Theologie im Angesicht und vor dem Ende der Moderne“ 18 die Analyse zur Lage der Theologie in der (wie es wenig später heißen wird) „Noch- oder Nachmodeme“19 vor. Hier wird versucht, die durch die Prozesse der Aufklärung (die hier als Kem des mit „Neuzeit“ oder „Moderne“ zu unge nau bezeichneten Phänomens benannt wird) induzierten Krisen der Theologie in vier Stichworten zu beschreiben. Hierher gehört (a) „zunächst der Zerfall der religiös-metaphysischen Weltbilder in diesen Prozessen der Aufklärung ... Die ser Zerfall hat das Stadium der kognitiven Unschuld der Theologe beendet“,20 weil in seinem Horizont nicht mehr die Bestreitung, sondern die ideologiekntischen Überbietung des Christentums die eigentliche theologische Herausforde rung darstellt, der - wie schon früher gesehen wurde - nicht mehr rein theore tisch, sondern nur praktisch, d.h. in geschichtlich-gesellschaftlicher Verant wortung begegnet werden kann. Wenn also die Theologie, wie seit den 60er Jahren von Metz gefordert wird, damit auch die Verantwortung für die prakti schen Implikationen ihrer Theoreme übernehmen muß, kommt aber die Hy pothek der wenig ruhmreichen Geschichte der Kirche in diesen für das moder ne Bewußtsein konstitutiven Befreiungsprozessen umso stärker zum Tragen. Sowohl - und diese Doppelschneidigkeit ist wichtig zu sehen - als Oppression von Seiten der Gesellschaft wie auch als regressive Reaktion der Kirche selbst ist deswegen (b) die Theologie selbst von einer zweifachen Reduktion bedroht, die gleichzeitig so etwas wie eine konstitutionelle Dauerkrise der Theologie darstellt. Einmal läßt sich von einer privatistischen Reduktion der Theologie sprechen ... Zum ande ren kann man offensichtlich von der Gefahr einer rationalistischen Reduktion der Theologie sprechen.21
Genau besehen erscheinen diese Tendenzen allerdings gegenläufig, da doch im Horizont der Aufklärung gerade der Rekurs auf Rationalität die angezielte Uni 17 18 » 20 2>
Metz 1985b. Metz 1984d. Metz 1987d, 130. Metz 1984d, 14. AaO. 15. 119
versalität sichern soll: transzendentale Universalität anstatt transzendent ver bürgter Universalität. Deswegen ist nach Metz (c) als Folge dieser Prozesse der Theologie „in neuer Weise die Frage nach den Subjekten und Orten und nach den Interessen des Theologietreibens aufgedrängt“ und sie „durch die Ent wicklung der Dialektik von Theorie und Praxis die Theologie auf das praktische Fundament ihrer Weisheit und ihrer Theoriebildung .zurückgeworfen'.“22 Das allerdings betrifft in gleicher Weise auch das Schicksale der Aufklärung selbst, die durch die Katastrophe von Auschwitz erneut vor die Notwendigkeit einer Reflexion auf dieses Verhältnis gestellt ist (d). Der gemeinsame Boden einer Begegnung von Aufklärungs- und theologischen Traditionen im Hinbhck auf eine gemeinsame, befreiende Praxis unter der Norm unversehrter und freier Subjektivität ist damit weggebrochen - nicht in dem Sinn, daß Praxis damit de facto belanglos würde, aber doch so, daß aus ihr keine de yhre-Legitimationen mehr gewonnen werden können. Angesichts solcher Katastrophen wird die Theologie vom Singular „der Ge schichte“ auf den Plural der Leidensgeschichten verwiesen, die niemals ideali stisch verklärt, sondern allein in praktischer Absicht erinnert werden können.23
In den Punkten (c) und (d) hegt zwar nicht der Ansatz zur Überwindung der Krise, wohl aber eine gewisse Offenheit auf weitere Erwägungen hin. Die erste Möglichkeit einer Rückfrage (immer unter den bescheidenen Prämissen einer .Theologie nach Auschwitz') könnte lauten, ob in der zögerlichen Haltung (freundlich ausgedrückt) der Kirche zu den Aufklärungsprozessen denn nur ein historisch tatsächlich überholtes bzw. zu überholendes „Gegen“ steckt oder nicht vielleicht auch die Spur eines Wissens, das diese Prozesse eben nicht in sich aufzuheben fähig waren. Wenn in besonderer Weise die Katholiken nun einmal die „Legastheniker in der Schule der Freiheit“24 sind, sind sie vielleicht auch empfänglicher für gewisse Sensibilitäten für die Grenzen der Aufklärung; würde hier die memoria-These einen Platz finden können? Metz will darauf noch nicht hinaus. Hier schließt er eine zweite Überlegung an, die als versuchs weise gekennzeichnet ist und auch vorläufig bleiben wird. Sie läuft auf den Ver such der Identifikation einer unverstellten, authentischen Praxis, wie sie im von
22 Ebd. 23 Ebd. Ich möchte mir an dieser Stelle nicht den Hinweis verkneifen, daß der Pathos für den „Plural der Leidensgeschichten“ im Widerstreit J.-F. Lyotards, der 1983 in der Originalausgabe erschien, die Hauptrolle spielt. Auf diese unterirdischen Ver bindungen wird im Lyotard-Exkurs ausführlich einzugehen sein. 24 Metz 1984d, 16; vgl. bereits den Text „Produktive Ungjeichzcitigkrit“ in den von J. Habermas hcrausgegebenen Stichwo ,Geistigen Situation iln Zeit' (Metz
der Katastrophengeschichte der Aufklärung vergifteten europäischen (und ame rikanischen) Kulturraum nicht mehr möglich ist, in den Basisbewegungen der lateinamerikanischen Kirchen hinaus. Dies mag für uns, für unsere überkomplexe Situation im späten Abendland, oft zu vereinfachend erscheinen, sozusagen zu vortheologisch, zu vorhermeneutisch, zu unkritisch. Es geschieht jedoch, genau besehen, mit jener Hermeneutik der Wahrnehmung von Gefahr, in der es ernst wird um die Sache des Glaubens und der Theologie, und die deshalb in einer neuen Weise zusammendrängt, was bei uns abstrakt geschieden und arbeitsteilig getrennt ist: Theorie und Praxis, Logik und Mystik, Gnade und Leiden, Geist und Widerstand.25
Dies ist eine interessante Wendung und ein erster Schritt zum gewiß wichtigen Konzept einer „kulturell polyzentischen Weltkirche“ ,26 aber es löst nicht die Beunruhigung über das Ungenügen der theologischen Begründungslogik auf. Wie sollte sich denn auch die Begegnung zwischen der Kirche der „ersten“ und der „dritten“ Welt gestalten, was könnten sie voneinander lernen, wenn nicht die Konstitution der je eigenen Tradition bereits ein Stück weit fortgeschritten ist - oder die europäische Kirche maßt sich an, ohne die historische Verant wortung für die Verwüstungen von fünf Jahrhunderten Kolonialgeschichte mit den eigenen Opfern ungefragt zu fraternisieren.27 Daß deswegen die Wahrneh mung und alle innere Zustimmung zu den Basisbewegungen in den verschiede nen Kulturkreisen die eigene Theoriearbeit nicht ersetzen können, wird Metz sehr schnell klar. Als Perspektive bleibt aber der Blick auf „Dritte Welt“ Be standteil gerade einer Politischen Theologie in den beginnenden Prozessen der Globalisierung. Der Text „Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie“ strafft gegenüber dem Vorjahr die begrifflichen Kategorien der Zeitdiagnose. Leitmotiv dieses Entwurfes (mit einem für die Texte von Metz auch seltenen Anspruch von Kohärenz und Vollständigkeit) ist die Suche nach einem „nachidealistischen Paradigma“28 von Theologie. Ein solches wäre notwendig, da die gängigen
25 Metz 1984d, 17. 26 AaO. 16. 27 Auf diese Ebene bezieht sich m.E. zutreffend die Kritik von Paulo Suess (Suess 1996). ;k
Metz 1985b, 211. „Bekanntlich wurde dieses Begriffspaar - Paradigma, Paradig menwechsel - durch Thomas Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967) in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführt. Ich ver wende es indessen nur in jener allgemeineren Bedeutung, in der es sich inzwischen auch in sogenannten geisteswissenschaftlichen Sprachgebrauch eingebürgert hat. In der spezifischen Bedeutung, die das Begriffspaar bei Kuhn hat, ist es auf Theologie
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theologischen Paradigmen: das defensiv-neuscholastische und das transzen dental-idealistische zwangsläufig an der Bearbeitung der drei großen Krisen ge genwärtigen Theologietreibens scheitern müssen: [1.] Die marxistische Herausforderung oder die Theologie angesichts des Endes ihrer kognitiven Unschuld und angesichts des Endes eines dualistischen Ge schichtsverständnisses. [2.] Die Herausforderung der Katastrophe von Auschwitz oder die Theologie angesichts des Endes aller subjekdosen idealistischen Sinn- und Identitätssyste me. [3.] Die Herausforderung der Dritten Welt, d.h. die Herausforderung einer sozi al antagonistischen und kulturell polyzentrischen Welt oder die Theologie am Ende ihres sogenannten Eurozentrismus.29
Im Licht des Vorjahrstextes ist es verführerisch, das zu lesen als Krise der Theologie im Angesicht (1) und vor dem Ende (2 ad intra, 3 ad extra30) der Moderne. Es ist aber nicht ganz zutreffend, da es der zweite Punkt ist, in des sen Bannkreis sich die gesamte Analyse bewegt (und der selbst abgedunkelt bleibt). Das zeigt sich in der Entfaltung der Herausforderungen, an deren An fang die Wiederaufnahme des von Glaube in Geschichte und Gesellschaft her lie gengebliebenen Fadens des Zusammenhangs von Subjekt, Praxis und Wahrheit steht. Die Frage lautete bereits dort: wenn sich die Wahrheitsfrage der Theologie nur praktisch entscheiden läßt, daß heißt in subjektorientierten Handlungskategori en, wird dann nicht die Wahrheitsfrage herabgedeutet zu Relevanzfrage (der Rekurs auf ein nicht-praktisches Vorauswissen des handelnden Subjekts wie auch der bestimmten Kommunikationsgemeinschaft „Kirche“ ist von den Prämissen her untersagt)? Die Antwort, die Metz anbietet, ähnelt stark jener aus „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“, ist aber in der wechselseitigen Zuund theologische Prozesse nicht anwendbar.“ (aaO. 230 Anm.l). Worin dieser Vor behalt besteht, macht der Text „Theologie im neuen Paradigma: Politische Theolo gie“ (Metz 1986c) deutlich. Dort heißt es: „Kuhns Fortschrittsverständnis orientiert sich ausdrücklich an einer ateleologischen Evolutionslogik und formuliert sich des halb auch in neodarwinistischer Terminologie ... Jedenfalls können für den Logos dieser Theologie z.B. .Tradition“ und .Erinnerung“ nicht einfach durch historische Rekonstruktion“ auf evolutionistischer Basis ersetzt werden! Es ist nicht ersichtlich, wie das Evolutionsmodell einen normativen oder gar kanonischen“ Gebrauch von Geschichte zuläßt“ (aaO. 119). 29 Metz 1985b, 21 lf. 2
Ordnung der Begriffe einen entscheidenden Schritt weiter. Die Formulierung lautet nun: Nein, sie stellt sich nur in einer neuen Gestalt. Sie lautet nun: Gibt es wahrheits fähige Interessen? Wahrheitsfähig können Interessen nur dann sein, wenn sie universal bzw. universalisierbar sind, d.h. wenn sie auf alle Menschen bezogen bzw. beziehbar sind. Denn Wahrheit ist entweder Wahrheit für alle, oder sie ist überhaupt nicht. In diesem Sinne spricht die neue politische Theologie von ei nem universalen bzw. universalisierbaren Interesse, das in den biblischen Tradi tionen selbst begründet ist: es ist der „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“, nach Gerechtigkeit für alle, für Lebende und Tote, für gegenwärtige und ver gangene Leiden. Die Wahrheitsfrage und die Gerechtigkeitsfrage sind aufeinan der bezogen ... Das Interesse strikt universaler Gerechtigkeit gehört in die Prä missen der Wahrheitssuche. Insofern hat die Erkenntnis der Wahrheit ein prak tisches Fundament.31
Umgekehrt gilt aber dann auch: nur die Praxis hat überhaupt ein Fundament (auf dem man über einen Begriff wie „Sinn“ oder „Wahrheit“ reden könnte), wenn es noch nicht mit der Geschichte der vergangenen Leiden zu Ende ist, wenn hier - auch und gerade dem Christentum und der Theologie - noch et was fehlt. Dieser Fehl ist notwendigerweise die Signatur jeder .Theologie nach Auschwitz1. Und dieser Fehl wird mit der zitierten Formulierung aus „Theolo gie im Angesicht und vor dem Ende der Moderne“ als Rückverwiesenheit „an den Plural von Leidensgeschichten“ gekennzeichnet, d.h. als ein Verlust jeder Möglichkeit eines Ganzen, daß die Heterogenität, die Nicht-Identität der Ge schichte umgreifen oder unterfangen könnte. Dieser nicht empirische, auch nicht philosophische, sondern geschichtstheolo gische32 Blickwinkel auf die Geschichte, wie er der Politischen Theologie seit der Emstnahme der Katastrophe von Auschwitz eigen ist, stellt natürlich auch die Möglichkeit von geschichtlicher Erkenntnis und kommunikativer Reprä sentation dieser Erkenntnis radikal in Frage. A n diese entscheidende Stelle tritt nun, und in dieser Verbindung liegt der große theoretische Fortschritt, die me- moria-These. Der Text von 1985 macht das noch nicht ganz ausdrücklich. Es wird aber bereits impliziert in der Formulierung: Gerade weil Christen an einen endzeitlichen Sinn von Geschichte glauben, kön nen sie geschichtliches Bewußtsein wagen: den Blick in den Abgrund; gerade deshalb können sie eine Erinnerung wagen, die nicht nur das Gelungene, son dern das Zerstörte, nicht nur das Verwirklichte, sondern das Verlorene erinnert und sich so - als gefährliche Erinnerung - gegen die Identifizierung von Sinn
11 Metz 1985b, 214f. 32 Metz 1984d, 14.
und Wahrheit mit der Sieghaftigkeit des Gewordenen und Bestehenden wen det.33
Nur eine Erinnerung, so lautet die These, die die memoria passioms Jesu Christi als memoria resurrectionis tradierbar macht: eine endzeitlich formierte Erinne rung, Erinnerung in apokalyptischem Horizont, kann die Leidensgeschichte der Menschheit auch repräsentieren, ohne vergangenen Leiden zu negieren oder sich praktisch-theoretisch aus dem Handlungszusammenhang gemeinsamer Welt auszuschließen. Oder in einer Formulierung aus dem Jahr 1984: Die Katastrophe von Auschwitz kann nicht einfach historisch rekonstruiert, sie muß geschichtlich erinnert werden. Und unsere historischen Theologien müssen deshalb den „Kampf um die Erinnerung“, um das subjektbezogene Erinne rungswissen in das öffentliche Geschichtsverständnis erneut einführen.34
Man kann diese Sätze von Metz fast prophetisch nennen: zwei Jahre darauf brach der deutsche Historikerstreit aus.35
Apokalyptik: Theologie der Zeit in praktischer Absicht Geschichtlich erinnert bedeutet: „moralisch erinnert“,36 denn im Spannungsfeld von Apokalyptik, Theorie und Praxis kann diese Erinnerung nur handlungsbe zogen sein. Auschwitz muß erinnert werden - das könnte als „kategorischer Imperativ“ (Adorno) auch der Politischen Theologie gelten. Wo diese Erinne rung fehlt, ist mit ihr das Fundament der Gottesrede verschwunden. Und sie fehlt, nicht zuletzt weil sie aus den gesperrten jüdischen Wurzeltraditionen des Christentums stammt. Auch daher wäre mit dem Wort Elie Wiesels in Au schwitz nicht das Judentum, sondern das Christentum gestorben: „... weil uns der Geist, der in Auschwitz endgültig ausgelöscht werden sollte, fehlt; weil uns der Geist der Erinnerung fehlt, der nötig wäre, um wahrzunehmen, was in einer solchen Katastrophe auch mit uns, mit Europa und schließlich mit unserer Re de von Gott und Mensch geschah.“37 Nur eine Theologie, die den Mut hat, dem jüdischen Erbe folgend radikal apokalyptisch zu sein,38 könnte aus ihrem
33 Metz 1985b, 218. 34 Metz 1984b, 384. 35 Vgl. dazu Manemann 1995, bes. 66ff. 36 So schon Metz 1979a, 122. 37 So eine spätere Formulierung aus dem Jahr 1989, die noch oftmals auftauchen wird: Metz 1989f, 18.
apokalyptischen Potential solche Erinnerung ermöglichen. Gerade als Apokalyptik würde sich diese Theologie als Theodizee formulieren.39 Gerade als praktisch-memorative Apokalyptik wäre sie „widerständig“ zu den Traditionen der Moderne, die nach Auschwitz der Dialektik der Aufklärung verfallen. „Apokalyptik“ darf also nicht als „müßige Spekulation“40 über Katastrophen sucht oder Weltuntergangsphantasien, sondern muß als theologisch präziser Begriff, als fundamentaltheologischer Reflexionsbegriff in Stellung gebracht werden, „um den Faktor ,Zeit‘ in der christlichen Theologie neu zu thematisie ren und das Verhältnis ,Gott und Zeit“ besprechen zu können.“41 Also kein Er setzen der theologischen Anstrengung durch ein credo quia absurdum, sondern eine hermeneutische Auseinandersetzung mit den normativen Grundlagen der Moderne. Sie scheitert an der Unmöglichkeit einer Vermittlung der Katastrophe von Auschwitz mit ihrem konstitutiven evolutionistischen Zeithorizont. Dage gen lautet, provokativ formuliert, die These: Deshalb riskiere ich hier, drastisch verkürzt, den Umkehrschluß: Wer dem Da hinschwinden des M enschen widerstehen will, wer seinen sanften oder dramati schen Tod verhindern will, wer den uns vertrauten und anvertrauten Menschen retten will, seine subjekthafte Identität, seine Verständigungsmöglichkeiten, sein Gedächtnis und seinen ungesättigten Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, der kann das, wenn es denn zum Schwure kommt, nur aus der Kraft des Gottesge dächtnisses. Und was die auf den Tod des Menschen eingeschworene Noch oder Nachmoderne in Rechnung zu stellen hätte, ist die Subversion dieses G ot tesgedächtnisses, das uns auch heute noch von Humanität und Solidarität, von Entfremdung, Unterdrückung und Befreiung reden und gegen himmelschreien de Ungerechtigkeit, gegen Verelendung und zerstörerische Armut kämpfen läßt.43
Der Tod Gottes und der Tod des Menschen: das ist das Thema Nietzsches. Auf Nietzsche also konzentriert sich jetzt der, wie es Glaube in Geschuhte und Gesellschaft nennt, „geschichtliche Kampf um den Menschen“.43 Nicht auf
chung der Moderne“ sind großteils aus dem Text „Im Angesicht der Gefahr. Theologische Meditiation zu Lukas, Kapitel 21 und zur Apokalypse des Johannes“ von 1984 (Metz 1984a) entnommen. 39
Vgl. aaO. 218. Damit wird das Postulat von 1977 wieder aufgenommen, als im Ho rizont einer praktischen Christologie nach Auschwitz von der Umwendung der Theologie in Theodizee die Rede war (s.o.).
40
Metz 1985b, 229.
41
Metz 1987b, 20.
41
Metz 1987d, 140.
43
Metz 1977b, 83ff.
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Nietzsche als Paten des atheistischen Bewußtseins der Moderne, sondern als seinen kongenialen Exegeten. Auch die Auseinandersetzung mit Nietzsche, das ist wichtig im Auge zu behalten, ist eine Auseinandersetzung ,nach Auschwitz4 und letztlich um Auschwitz. Denn nur wenn diese Katastrophe repräsentiert werden kann, kann auch moralisches Handeln noch begründet werden.44 Die Frage geht also um den Grund der Moderne, (immer noch) anschließend an die Analysen der Dialektik der Aufklärung um den „Mythos der Moder ne“.45 Obwohl auch Horkheimer und Adorno bei Nietzsche ansetzen, um der Moderne auf die Spur zu kommen,46 ist der Ansatz von Metz hier völlig anders geartet. Der Mythos, genauer gesagt: der „Großmythos,47 der selbst weder be gründungsfähig noch begründungsbedürftig erscheint, der als mythische Tota lität im Hintergrund der Moderne wirksam ist und unter dessen anonymem Druck wir .vernünftig“ denken und handeln, ist ein Zeitmythos“ .48 Mit dem Be griff des Mythischen soll also jene Totalität begriffen werden, die - nach Au schwitz - nur mehr als konstruierte, als falsche Überblendung der Nichtidenti tät in identifizierendes Denken möglich ist. In den Vermutungen darüber, wieso es überhaupt zu diesem Mythos kommen konnte, unterscheidet sich Metz frei lich sehr von Horkheimer/Adorno. Ist es dort die (allerdings auch nur post festum erkennbare) unauflösliche Verschlingung von Aufklärung und Mythos im Gründungsakt der Moderne, in dem sich das Subjekt selbst zum Opfer bringt - in der Entsagung des Selbst, die durch schiere Not beginnt und durch schiere Repression immer wieder gefordert wird49 - so ist es für Metz, dessen theologisches Interesse die Anerkennung der Freisetzung von Subjektivität ist, die Ausweglosigkeit einer Situation, in der Geschichte als das nicht mehr Ver antwortbare erscheint und doch kein Notausgang aus ihr zu finden ist.50 Das ist das uneingestandene Hintergrundinteresse der
44 Die expliziten Aussagen dazu trifft Metz erst in der ersten Hälfte der 90er Jahre. 45 Metz 1988b, 191. - Dem Text liegt ein Vortrag am 14. Kongreß der Deutschen Ge sellschaft für Philosophie im Gießen 1987 zugrunde; vgl. Metz 1990d. 46 Horkheimer/Adorno 1969, 68. 47 Um sich von einer als „polymythisch-polytheistisch“ bezeichneten scheinbaren Überwindung der Moderne, die Metz später (und fragwürdig) als „postmodern“ ru brizieren wird, abzusetzen (vgl. Metz 1988b, 187). Dazu W. Welsch: „Man muß [Nietzsche] arg strapazieren, um ihn umstandslos zum Vordenker der Postmoderne zu stilisieren“ (Welsch 1987,41993, 181 Anm. 18). 48 Metz 1988b, 191. 49 Horkheimer/Adorno 1969,79. 50 Vgl. dazu bcs. Metz 1988a, passim.
... Imagination von Welt im Horizont unbefristeter, evolutionistisch entfristeter Zeit. Das verschwiegene Interesse der herrschenden Rationalität ist die Fiktion von Zeit als einer leeren, überraschungsfreien Unendlichkeit, die allenfalls ver endet, nie aber endet und in die alles und alle gnadenlos eingeschlossen sind und die jede substantielle Erwartung zersetzt. Die Herrschaft dieses Zeitmythos vollendet sich im Tod der Geschichte und des uns geschichtlich vertrauten und anvertrauten Menschen.51
Dieses Interesse ist selbst keinesfalls unschuldig, und auch ihre Spiegelung „durch die noch- oder nachmodeme Mythologie, durch das neue Lob der Polymythie“52 ist es nicht, sondern reproduziert die Ohnmächdgkeit des Subjekts. Der Tod Gottes bedeutet bei Nietzsche selbst den Tod den Menschen.53 Für die Theologie würde der Tod des Menschen als Subjekt geschichtlicher Praxis endgültig das Ende der Rede von Gott bedeuten. Dagegen stellt sie eben die apokalytisch-memorativen Traditionen ihrer Gottesrede, den „Versuch der Aufdeckung des befristeten Wesens der Weltzeit selber“ .54 Nicht nur der messianische Stachel des Judentums, auch und gerade die Christologie selbst ist „Logik befristeter Zeit“;55 nicht in einem undialektischen „gegen“ zur Moderne, sondern von ihren Grenzen und Rändern her gegen ihre Mythisierung.56 Diese Logik muß, nach allem Gesagten, anamnetische Logik sein. Hier, um 1988, beginnt Metz den Terminus „anamnetische Vernunft“ als Kennzeich nung der gesuchten Theorie zu verwenden.57 In seiner Ausbildung ist der Be griff direkt gegen den Begriff einer „kommunikativen“ bzw. „diskursiven Ver nunft“, gerichtet: als alternativer theoretischer Basisbegriff, als (in der Theolo gie aufbewahrtes) „Geistangebot“ der jüdisch-israelitischen Denkgeschichte.
Anamnetische vs. Kommunikative Vernunft Die neue Politische Theologie, deren apologetisches Interesse nicht an einem „Gottesbeweis“ aus einer kategorialen Vemunftkritik gelegen sein kann, müßte ihre Kritik am Konzept der kommunikativen Vernunft daraus gewinnen, aus ihrer ursprünglichen theologischen Kompetenz „die unbedingt fordernde Au
51 Metz 1988b, 191. 52 Eb d. gegen Odo Marquard. 53 Vgl. schon Metz 1987d. 54 Metz 1988b, 188. ,’s AaO. 190; vgl. Reikerstorfer 1998b. Vgl. dazu besonders Metz 1999b, Metz 2000a.
torität der Freiheit und Gerechtigkeit und die einklagende Autorität des Leidens nachhaltig vertreten“ zu können58 - nachhaltiger und praktisch wirksamer, als ein Typus kommunikativer Vemunfttheorie das im gemeinsamen Anhegen der neuzeitlichen Prozesse der Freisetzung humaner Subjektivität vermag. In dem Text der Festschrift für Jürgen Habermas, in der Metz diese Auseinanderset zung skizziert, nennt er drei Themenbereiche, an denen die Einführung eines anamnetisch orientierten Begriffs von Vernunft unverzichtbar erscheint. Sie lauten (1) die Möglichkeit einer Rettung von Sinn in den sich beschleunigenden und anonymisierenden Geschichtsprozessen, die das Feld möglicher Praxis (mit den beschriebenen Konsequenzen) zu verschließen drohen; (2) die Möglichkeit einer Rettung des Subjekts aus dem „wissenschaftstheoretisch bereits angekün digten und kulturindustriell immer mehr beförderten ,Tod des Menschen““,59 also des intelligiblen und verantwortlichen Subjekts möglicher Praxis; und (3) die Möglichkeit eines produktiven Umgangs mit der faktischen kulturellen und ethnischen Diversifikation der global gewordenen Gesellschaft, die Ort der Bewährung von Universalität und damit von Wahrheit sein muß - gerade, wie man sich vor Augen halten muß, angesichts der „gemeinsamen“ Geschichte der letzten Jahrhunderte, die keine neutrale, sondern eine zu Tätern und Opfern qualifizierende ist und damit das Problem der Universalisierbarkeit ideologie kritisch verschärft.60 Was berechtigt zur Annahme, daß anamnetisch verfaßte Vernunft besser mit diesen Problemen umgehen könnte als diskursiv verfaßte? Es ist zunächst die schlichte Tatsache, daß Habermas’ theoretische Schriften von Auschwitz schweigen.61 In der Festschrift für Habermas verzichtet Metz darauf, diesen Punkt zu betonen; man kann sich sicher sein, daß er ihn Haber mas bereits zuvor und auch danach zu Gehör gebracht hat.62 Wo aber die diachrone Universalisierungsfähigkeit nicht gewährleistet ist, dort ist auch, so deutet Metz auf der schon von Peukert verfolgten Schiene an, die synchrone
58 Metz 1977b,5 1992, 54. 59 Metz 1989h, 738. 60 AaO. 737ff. 61 „Warum z. B. kommt bei Habermas selbst die Katastrophe von Auschwitz nur in seinen Kleinen politischen Schriften“ vor - und dort bekanntlich in ebenso dezi dierter wie einflußreicher Weise -, nicht aber, und zwar mit keinem Wort, in seinen großen philosophischen Schriften zur kommunikativen Vernunft? Auch die Kom munikationstheorie heilt offensichtlich alle Wunden! Wie aber wäre dann verallge meinerungsfähig von dem zu sprechen, was Unheil blieb, was nicht geheilt werden kann, was nicht hinter dem Schild kultureller Amnesie verschwindet, was sich nicht in fugendichte Nor lität einschlicßen läßt?“ (Metz 1997a, 12)
Universalisierbarkeit nicht glaubwürdig zu vertreten. Das Modell kommunikati ver Vernunft „stellt deshalb die Anerkennungsbereitschaft der Vernunft m E . unter Gleichzeitigkeitsvorbehalt.“63 Damit hat sie sich aber von der Möglichkeit abgeschnitten, die Folgen der Katastrophe von Auschwitz zu verstehen und auf sie zu antworten. Der Theorie der kommunikativen Vernunft droht es so wie jedem überalterten Theorieparadigma zu ergehen: aus mangelnder Fähigkeit zur Wahmehmung der Krisen in der Gesellschaft verliert sie, zuerst wohl langsam, an Plausibilität, bis ihre Beschreibung die gesellschaftliche Realität nicht mehr repräsentieren kann. Dazu braucht es - nach Metz - das Konzept einer anamnetischen Vernunft. Denn in ihr verlautbaren sich jene Traditionen, in denen das Interesse an Frei heit ... entstand. Und sie widersteht dem Vergessen vergangener Leiden. Die Autorität der Leidenden definiert ihren rezeptiven Charakter. Sie dient nicht der rationalisierenden Einebnung der Diskontinuitäten und geschichtlichen Brüche im Interesse individueller und kollektiver Identitätssicherung der gegenwärtig Lebenden. Sie sichert vielmehr die Unbeliebigkeit des öffentlichen Gebrauchs der Geschichte. Sie ist und bleibt in diesem Sinn „gefährlich“. Denn sie wider steht der Auffassung unserer Lebenswelt als (wie J. Habermas treffend kritisiert) „fugendichte Normalität dessen, was sich nun einmal durchgesetzt hat“ .64
Habermas hat mit diesem Einwand, dem seine Intention und seine kritischen Invektiven in die politischen Debatten so stark zuwiderlaufen, naturgemäß sei ne Schwierigkeiten. Bereits 1984 hatte er die Kritik Peukerts aufgenommen und versucht, ihr Rechnung zu tragen. In den Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie kommunikativen Handelns 65 nimmt er Peukerts Argumentation an ihrer Schlüsselstelle, der Kontroverse von Benjamin und Horkheimer, auf.66 Haber mas stimmt der Position Benjamins, die er als „mitleidende Solidarität mit der vergangenen Verzweiflung der Geschlagenen und Gepeinigten, die das Nichtwiedergutzumachende erlitten haben“67 kennzeichnet, zu. Er weist allerdings dieses „Mitleiden“ als einen Topos der Theorie explizit zurück. Das Postulat anamnetischer Solidarität wird akzeptiert, aber nur als „Grenzbegriff“ der Theorie „jenseits moralisch-praktischer Einsichten.“ 68 Die Architektonik von
63 Metz 1989h, 735. 64 AaO. 736f. 65 Habermas 1984. 66 AaO. 515ff. Erstaunlicherweise spielt diese wichtige Stelle in der theologischen Dis kussion um Habermas kaum eine Rolle. 67 AaO. 517. 68 Ebd.; vgl. Habermas 1987, 141. Zu fragen wäre, welche Auswirkungen diese Ein schränkung auf den Begriff der Universalität hat; vgl. dazu Reikerstorfer 2000, 119f.
Habermas’ Theorie scheint hier wenig andere Optionen offenzulassen. Der Kontext, in dem Peukerts Kritik behandelt wird, macht deutlich, wogegen sich die Theorie hier zu Wehr setzt: es geht um die Zurückweisung der Übertragung moral -analoger Empfindungen in den Bereich normativer Geltungsansprüche. Habermas akzeptiert die grundlegenden moralischen Intuitionen, die zu diesem Postulat führen; er schließt aber die Möglichkeit aus, daß daraus handlungsrele vante Ja-/Nein-Stellungnahmen, die allein Gegenstand der Moraltheorie sein können, folgen.6970 Nun ist die Stoßrichtung dieser Argumentation klar, die Art, in der sie durchge führt wird, allerdings sehr fraglich. Denn das Katgegorienpaar, nach dem hier argumentiert wird, ist nicht Vernunft und Geschichte, sondern Vernunft und Natur7° Das hat die fast tragikomische Konsequenz, daß Peukerts Problem: die Möghchkeit moralischer Praxis angesichts von Auschwitz, methodisch auf einer Ebene mit Fragen der Tier- und Umweltethik abgehandelt wird. - In die sem Kontext zeigt sich in Habermas’ scheinbarer Konzession einer grenzbe grifflichen anamnetischen Solidarität ein fundamentales Mißverständnis der Absichten der Kritik, dessen Ursachen sich auf der Spur zu bleiben lohnt. Habermas’ Moraltheorie geht von einem zweistufigem Ansatz aus. Zunächst geht es um die Rekonstruktion von Normen ihrem materialen Gehalt nach. Da für gibt es wiederum zwei Quellen: die in der Gesellschaft quasi inkarnierten Normvorstellungen71 und die moralischen Intuitionen des Subjekts.72*Formale Normativität gewinnt keine dieser Vorstellungen durch ihre Genese - also we der im Sinne transsubjektiver Sittlichkeit oder intrasubjektiver Unbedingtheit, mit der in den theologischen Diskursen gewöhnlich das Gewissen aufgeladen wird -, sondern nur durch die im praktischen Diskurs bewährte, vernünftige VerallgemeinerbarkeitP Diese Bestimmung des normativen Charakters begrün det die Abweisung der genetischen Bedeutung: die Diskursethik dient „nicht der Erzeugung von gerechtfertigten Normen..., sondern der Prüfung der Gül tigkeit Vorgefundener, aber problematisch gewordener und hypothetisch erwo gener Normen.“74 Was aber aus dieser Perspektive tun mit religiös vermittelten „semantischen Potentialen“, wie Habermas es nennt? Jedenfalls erscheint die berühmte Stelle aus dem Buch Nachmetaphysisches Denken, in der Habermas
69 70 71 72 71 74
Vgl. Habermas 1983, 27. Habermas 1984, 514. Vgl. z.B. Habermas 1991a, 25 u.ö. Vgl. z.B. Habermas 1991a, 30 u.ö. Habermas 1983, 74ff. Habermas 1991a, 34.
konzediert: „Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare se mantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophi schen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Dis kurse noch harren, wird Philosophie ... Religion weder ersetzen noch verdrän gen können“,75 in dieser Perspektive normativer Geltungsansprüche weniger erfreulich für die Theologie, als ihre Rezipienten meist anzunehmen scheinen. Denn auch wenn der Theologie hier eine gewisse Relevanz in bezug auf die neuzeitlichen Emanzipationsprozesse nicht abgesprochen wird, fragt sich doch, ob eine „nachidealistische Theologie“ nicht ein hölzernes Eisen bleibt. Wo im Theoriegebäude der kommunikativen Vernunft sollen sich die für Metz unver zichtbaren Inhalte der anamnetischen Vernunft, die der für die Theorie kom munikativen Handelns vorausgesetzten moralischen Praxis noch vorausliegen ,76 ansiedeln? An dieser Stelle ist die Wurzel der Differenzen von kommunkativen und anamnetischen Rationalitätsmodell verortet. Kann kommunikative Ver nunft so der „Kolonialisierung der Lebenswelt“77 widerstehen oder bedarf es dazu doch dessen, was Metz ungeschützt die rettende „Kraft des Gottesge dächtnisses“78 nannte? Wenn die theoretischen Prämissen stimmen, die eine Antwort auf diese Frage nur im Feld der Praxis zu suchen zulassen: ist die politische Praxis, die Haber mas selbst nahelegt und vertritt, durch die Theorie gedeckt, oder - vorsichtiger formuliert - ist diese Theorie der passende hermeneutische Schlüssel zu der von Habermas angezielten Praxis und damit glaubwürdige Rekonstruktion des grundlegenden moralischen Impulses? Wie ließe sich Habermas’ Engagement im Historikerstreit und sein Plädoyer: „Diese Toten [von Auschwitz] haben erst recht einen Anspruch auf die schwache anamnetische Kraft einer Solidarität, die Nachgeborene nur noch im Medium der immer wieder erneuerten, oft ver zweifelten, jedenfalls umtreibenden Erinnerung üben können“79 denn selbst theoretisch reflektieren? Burkhard Liebsch konstatiert m.E. sehr zutreffend, es müsse im Horizont des Entwurfs von Habermas „unverständlich bleiben, war- um man sich auf ein solches Affiziertwerden zu beziehen hat .“80 Immerhin geht es ja hier nicht um den Ausdruck einer Intuition, sondern sehr wohl um einen verbindlichen Geltungsanspruch in politisch-praktischer Absicht!
75 Habermas 1988, 60. ' I labcrmas 1983, 119; Habermas 1991a, 29 und 135 u.ö. " So das Leitmotiv von Habermas 1981a. 78 Metz 1987d, 140.
79 I labcrmas 1987, 141. 1,(1 l.iebsch 1996a, 381; He rvorhebung von mir.
Wohl im Horizont dieser Kontexte kann man tatsächlich von einem gewissen Entgegenkommen sprechen, wenn Habermas in seinem Text „Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits“81 - in dem er zu den theologischen Re zeptionen und Anfragen der Theorie kommunikativen Handelns Stellung nimmt - schreibt: Die anamnetisch verfaßte Vernunft, die Metz und Peukert gegen eine platonisch verkürzte, zeitunempfindliche kommunikative Vernunft mit Recht immer wie der einklagen, konfrontiert uns mit der skrupulösen Frage nach einer Rettung der vernichteten Opfer. Dadurch werden wir uns der Grenzen jener ins Dies seits gerichteten Transzendenz von innen [der Theorie kommunikativen Han delns] bewußt; aber sie vermag nicht, uns der Gegenbewegung einer ausgleichen den Transzendenz aus dem Jenseits zu versichern.82
Freilich kann man fragen, ob diese Gegenbewegung oder gar ihre Versicherung das Ziel nachmetaphysischer Theologie sein muß.83 Tatsächlich ist auf die G e stalt dieser Gottesrede noch zurückzukommen. Für Habermas bleibt festzu halten, daß der theoretische Anspruch des Konzepts anamnetischer Vernunft84 von ihm neuerlich zurückgewiesen wird. In einer gemeinsamen Publikation85 nimmt er nochmals zum Problemfeld „Israel und Athen“ Stellung; aber auch hier kommt der theoriefundierende Anspruch der memoria-These nicht in den Blick. Zwar ist der ganze Beitrag von großem (und keineswegs onkelhaftem) Wohlwollen getragen.86 Aber der Kem des Anliegens scheint doch verfehlt, wenn Habermas schreibt: Metz versammelt diese nicht-griechischen Motive in dem einen Fokus des Ein gedenkens. Er versteht die Kraft der Erinnerung im Sinne Freuds als die analyti sche Kraft des Bewußtmachens, vor allem aber im Sinne Benjamins als die my stische Kraft einer retroaküven Versöhnung. Das Eingedenken rettet, was uns
81 Habermas 1991b, 127-156. 82 AaO. 142. 83 Wenngleich die theologische Habermas-Rezeption diesen Einwand manchmal na helegen kann. 84 Habermas weiß genau, daß die „Zuordnung“ der beiden Begriffe, von denen Metz im Festschriftartikel spricht: „Darum wäre sie [die kommunikative Vernunft] unbe dingt in Beziehung zu setzen und in Verbindung zu bringen mit der anamnetischen Verfassung der Vernunft“ (Metz 1989h, 735f.) aus theorieimmanenten Gründen für Metz auf eine Dominanz der anamnetischen Vernunft hinauslaufen muß: Habermas 1994, 54. 85 Me tz/G inz el/G lotz /H ab erm as/S ölle 1994. 86 Die Texte dieses Buches dokumentieren ein Sym posium dei Universität Münster
als unverlierbar gilt und doch in höchste Gefahr geraten ist, vor dem Verfall. Dieser religiöse Begriff der Rettung übersteigt gewiß den Horizont dessen, was die Philosophie unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens plausibel machen kann.87
Hier sind einige Verschiebungen in der Wahrnehmung des Theorieanspruchs der memoria-These aufgetreten. Zuerst spielt der Begriff der Erinnerung zwi schen den (Habermas wohlvertrauten) Traditionen von Marcuse und Benjamin: es Heß sich zeigen, daß einerseits Marcuses Erinnerungsbegriff für die memoriaThese bestenfalls ein Sprungbrett dargestellt hat, andererseits Benjamin gerade in seinem „messianischem“ Horizont rezipiert wird, der das zeitliche Kontinu um, an das der Begriff der „retroaktiven Versöhnung“ doch gebunden er scheint, bereits sprengt. Ob das bereits einen „religiösen Begriff der Rettung“ voraussetzt, sei vorläufig dahingestellt; die Pointe der Argumentation von Metz geht jedenfalls dahin, daß die Voraussetzungen von „Philosophie unter den Be dingungen nachmetaphysischen Denkens“ selbst gefährdet sind, indem die Fol gen von Auschwitz die Möglichkeit glaubwürdiger Praxis untergraben. „Gewiß“, so Metz, „für viele ist Auschwitz längst hinter dem Horizont ihrer Erinnerungen verschwunden.“ Aber den anonymen Folgen einer solchen Katastrophe entgeht niemand. Die theologische Frage nach Auschwitz heißt ja nicht nur: Wo war Gott in Au schwitz? Sie heißt auch: Wo war der Mensch in Auschwitz? ... Wie auch kann man an den Menschen oder gar - welch großes Wort in diesem Zusammen hang - an die Menschheit glauben, wenn man in Auschwitz erleben mußte, wo zu „der Mensch“ fähig ist?88
In der Tat stellt das eine Art von Anfrage an Habermas, die innerhalb der Dis kurstheorie nicht zu verorten ist. Sie stellt nicht deren Prozeduren oder Ergeb nisse in Frage, sondern anders die Plausibilität bzw. die Relevanz dieser Proze
87 Habermas 1994, 55. Zusammenfassend kommentiert Edmund Arens trocken, aber zutreffend die Position von Habermas: „...die semantischen Potentiale der Glau benssprache [werden] mit ihrer Festlegung auf den Trost funktionalistisch sowie in dividualistisch als auf Kontigenzbewältigung abhebend verkürzt. Sie werden zudem einseitig expressiv aufgefaßt, während ihre regulative und erst recht ihre konstativpropositionale Dimension unterbelichtet bzw. außer acht bleiben muß“ (Arens 1997, 150f.) Ob die Kritik an der Überbetonung der expressiven Dimension nach den Modifiaktionen der Theorie kommunikativen Handelns noch zu halten ist, scheint fraglich, vgl. dazu die Bemerkungen von Habermas, er hätte dem nach der ersten Kritik an der in der Theorie kommunikativen Handelns nahegelegten expressivistischen Ästhetik bereits Rechnung getragen: Habermas 1991a, 146. 88 Mel/. 1995b, lOlf.
duren und Ergebnisse. Das läßt fragen: läßt sich bei Habermas ein formativer Theorierahmen identifizieren, gegen den die Anfrage gewendet werden kann? Die Hinweise von Metz dazu sind spärlich. Anschließend an den „Gleichzeitig keitsverdacht“, unter den er die kommunikative Vemuft stellt, heißt es etwa in einer Formulierung aus dem Jahr 1992: „Die Trauer gehört - wie die Freund lichkeit, die Dankbaikeit und das Erbarmen - zu den messianischen Tugenden, die keinen Marktwert besitzen und deshalb heute eher ein verschwindendes Da sein führen.“89 „Messianisch“ contra „gleichzeitig“: das stellt die Alternative von anamnetischer und kommunikativer Vernunft in den Horizont des Kamp fes um die „Logik der Zeit“. Der Vorwurf des „Gleichzeitigkeitsvorbehaltes“90 wird polemisch verschärft zu einer „Logik des Marktes oder des Tausches ... einem verdeckten, uneingestandenen Maikt-Apriori“,91 der gegenüber Haber mas natürlich eine besonders bösartige Spitze darstellt, aber doch präzis be nennt, wo er Metz zufolge scheitert: in der Überwindung der Aporien der Mo derne im Horizont der Einsichten der „Dialektik der Aufklärung“. Schon Horkheimer und Adorno zufolge ist die Logik der ,bürgerlichen Vernunft“, de ren Paradigma eine Logik des Tausches ist, eine Logik der Temporalität: der Kontinuität gegen die Unterbrechung, die auch die memoria-These der Politi schen Theologie einklagt. Das wird exemplarisch in Adornos Wort von den Gedichten, die nach Auschwitz nicht mehr geschrieben werden könnten; Metz kommentiert: Hatte sich da nicht einer extremistisch vergriffen? Klingt dieses Wort nicht so, als wolle einer „nach Auschwitz“ den Vögeln das Singen, den Blumen das Blü hen und der Sonne das Leuchten verbieten? Doch was unterscheidet den Men schen von den Vögeln, den Blumen und der Sonne? Ist es nicht ein Erschrekken, ist es nicht dieses Entsetzen über die Offenbarung der Unmenschlichkeit des Menschen, die sich in Auschwitz ereignete: dieses Erschrecken, das ihm die Sprache verschlägt, seinen Gesang unterbricht und ihm die Sonne verfinstert? Sind wir Menschen wirklich menschenfreudlicher, wenn wir solches Erschrekken des Menschen über den Menschen erfolgreich vergessen können?92
Habermas würde demzufolge daran scheitern, die geschichtsphilosophischen Prämissen, deren Plausibilität die Katastrophe von Auschwitz zerstört hat, nicht in sein Modell nachmetaphyischen Denkens transformiert zu haben, sondern
89 90 9> 92
Metz Metz Metz Metz
1992a, 32. Hervorhebungen von mir. 1989h, 735. 1995e, 34. 1993i, 6.
sie ungebrochen in Geltung zu belassen. Gibt es für diesen Vorwurf Anhalts punkte?93 Bereits gegenüber Peukert hatte Habermas konzediert, dessen „Monitum, den Zeitdimensionen des verständigungsorientierten Handelns Rechnung zu tragen sehr ernst“94 zu nehmen. Tatsächlich befinden sich die Dinge hier bei Haber mas - bis heute - im Fluß. In der Reflexion auf die Grundbedingungen nachmetaphysischen Denkens betonte Habermas 1988 den Einbruch prozeduraler Rationalität in die Logik philosophischer Erkenntnis, den der Problem druck angesichts der Infragestellung des philosophischen Erkenntnisprivilegs durch empirisch operierende Naturwissenschaften ausgelöst hat95 - an sich ein Problem des 17. und 18. Jahrhunderts, das aber erst im 19. und 20. eine Ant wort erfuhr. Philosophie „muß sich auf das fallibilistische Selbstverständnis und die Verfahrensrationalität der Erfahrungswissenschaften einlassen“ ,96 wenn sie unter den Bedingungen der Moderne überhaupt noch kommunikabel bleiben will, ohne in die Aporien einer dem Wahrheitsideal mathematischer Logik blind nacheifemder Angleichung zu fallen.97 In seinen jüngsten Reflexionen auf den Theoriestatus nachmetaphysischer Philosophie und ihrer Grenzen98 wird der Bezug zu den »metaphysischen4ge schichtsphilosophischen Hintergrundannahmen folgendermaßen bestimmt: Die Geschichtsphilosophie hatte mit dem Totalitätsdenken der Metaphysik kei neswegs gebrochen, sondern die teleologischen Denkfiguren nur von der Natur aufs Ganze der Weltgeschichte übertragen. Das fallibilistische Bewußtsein der Wissenschaften ist jedoch inzwischen in die Philosophie eingedrungen und hat deren historisches Denken von metaphysischen Resten entschlackt. In den an onymen Schicksalen und Strukturwandlungen der Geschichte manifestieren sich keine verborgenen Intentionen mehr.99
93 Vgl. de Vries 1989, 33-65; zur theologischen Kritik von Habermas’ Geschichtsden ken s. Arens 1991; Lamb 1995; Bernstein 1995; Arens 1997. 94 Habermas 1991b, 147. 95 Habermas 1988, 42-47. 96 AaO.45. 97 Hier ist nicht der Ort zu einer Entfaltung der Altemativstrategien vom „Positivis musstreit“ über „Erkenntnis und Interesse“ und der wichtigen Auseinandersetzung mit dem Realismusbegriff Hilary Putnams bis zu den letzten Publikationen Haber mas, die sich wieder verstärkt dieser Fragestellung widmen. 98 Habermas 1999, 7-64 und 319-333.
99 AaO. 323f
Hier muß man bereits die Frage stellen, ob der Impuls zur Abweisung einer auf die Weltgeschichte projizierten Totalität hier zutreffend rekonstruiert ist oder ob sich diese Kritik nicht immer an der konkreten Leidensgeschichte der Menschheit entzündet hat (anstatt an wissenschaftstheoretischen Erwägungen). Habermas fährt fort: In diesem Zusammenhang richtet sich die Kritik ... gegen die Projektion von überlebensgroßen Aktoren auf die Leinwand der Weltgeschichte. Ordnungsbe griffe wie .soziale Klasse“, Kultur“, .Volk“ oder .Volksgeist“ suggerieren so etwas wie Subjekte im Großformat. Aber die Intentionen der einzelnen Subjekte bün deln sich bestenfalls in intersubjektiven Meinungs- und Willensbildungsprozes sen zu bewußten Eingriffen in kritische gesellschaftliche Entwicklungen.100110
Die Distanzierung solcher Metasubjekte trifft sich bestimmt mit den Intentio nen der Freisetzung subjekthafter Identität der Politischen Theologie. Aber der problematische Begriff in diesen Ausführungen bleibt die „Weltgeschichte“, die eben keine neutrale Leinwand ist, wie Habermas’ Wortwahl hier nahezulegen scheint. Paradigmatisch für die intersubjektiven Meinungs- und Willensbil dungsprozesse bleiben für ihn in bester Aufklärungstradition Lernprozesse, die Deren Umfeld „jenen Bogen bilden, der alle zeitlichen Distanzen überbrückt“ ist auch dann, wenn es um die für diese Gesellschaften konsumtiven Begrün dungsdiskurse geht, prinzipiell unschuldig und leer; nur dann ist die Annahme symmetrisch-reziproker Aneikennung sinnvoll. Aber die Prozesse verständi gungsorientierten Handelns, in denen sich die Übereinkunft der einzelnen Sub jekte zu ereignen hätte, ist für eben diese Subjekte immer schon die Geschichte von Opfern und Tätern, der Raum, der durch die gemeinsame Geschichte de formiert ist. Diese Präformation kann auch der Formalismus der Diskurstheo rie, der die Universalisierbarkeit sichern102 soll, nicht mehr aufheben. Insofern gibt es neben den eingestandenen Limitierungen der Diskurstheorie als einer Rekonstruktion von „gesellschaftlichen Kontexten, die selber schon vernünftig sind“103 und damit ihrer Unübertragbarkeit auf Verhältnisse, in denen Unter drückung und schreiendes Unrecht herrschen, auch eine uneingestandene Lim i- tierung in Bezug auf die vorausgesetzten Existenzbedingungen gesellschaftlicher Praxis, die nur in ihrerseits nicht moralisch qualifizierter Hinsicht beschrieben
100 AaO. 324. 101 So mit Peirce Habermas 1991a, 158; Hervorhebungen von mir. Vgl. für unseren Zusammenhang auch Habermas 1988, 57: „...Bildungsprozesse, die beides in ei nem ermöglichen: Vergesellschaftung und Individuierung.“ 102 Vgl. die Auseinandersetzung mit Hegels Kritik am Formalismus des hämischen Eiliik I labermas 1991a, 2 I
werden können. Genau das ist der „blinde Fleck des Prozeduralismus“,104 den Metz kritisiert und der die Diskurstheorie unsensibel für die epistemologische und praxisfundierende Bedeutung anamnetischer Vernunft macht, deren Handlungen nicht in der Bedeutung kommunikativer Aspekte aufgehen.105 Im übrigen gibt es bei Habermas selbst immer wieder Stellen, die sich nicht in diesen Theorierahmen einfügen. Dazu gehört die zitierte Stelle seiner Partei nahme im Plistorikerstreit; dazu gehört die über die erlaubte präsuppositionsanalytische Erschließung hinausgehende Rekonstruktion des utopischen Impul ses jeder kritischen Moraltheorie überhaupt: ... solche [versöhnten] Lebensformen [freier, reziproker Anerkennung] sind uns, diesseits der prophetischen Lehren, nicht einmal in Aussicht gestellt, auch nicht in abstracto. Von ihnen wissen wir nur, daß sie... durch unser eigenes... solida risches Zusammenwirken produziert werden müßten. „Produzieren“ heißt aller dings nicht Herstellen nach dem Modell der Verwirklichung intendierter Zwck ke; es bedeutet vielmehr das nichtintendierbare Hervorgehen aus der fehlbaren und immer wieder mißlingenden kooperativen Anstrengung, die Leiden vcrsehrbarer Kreaturen zu mildern, abzuschaffen oder zu verhindern.106
Schließlich ist auch eine Stelle bemerkenswert, die m.W. im Werk I labermas’ selbst keinen Widerhall gefunden hat und den Primat des rein prozeduralen Moralprinzips doch fundamental in Frage stellt. Kontext ist wiederum che Frage nach dem Potential einer formal-prozeduralen Theorie, moralisch gehaltvolle Resultate zu liefern. Habermas verteidigt naturgemäß diese Möglichkeit mit Kant gegen Hegel. Dann aber heißt es abschließend überraschenderweise mit deutlichem Anklang an Adorno: Schwieriger zu beantworten ist die prinzipielle Frage, die Hegel darüber hinaus im Sinn hat: ob es überhaupt möglich ist, Begriffe wie universale Gerechtigkeit, normative Richtigkeit, moralischer Gesichtspunkt usw. unabhängig von der Vi sion eines guten Lebens, vom intuitiven Entwurf einer ausgezeichneten, aber eben konkreten Lebensform zu formulieren. Nun mag die kontextunabhängige Bestimmung eines Moralprinzips bisher nicht befriedigend gelungen sein; Aus
104 Metz 1995e, 32. i°5 Vg] dazu Habermas 1991a, 136. - Es wäre auch wichtig, dem Problem unter der Flinsicht der Zuordnung von Kommunkations- und Repräsentationsfunktion der Sprache bei Habermas nachzugehen, zumal in den letzten Publikationen eine gewis se Neuorientierung einsetzt, die selbstkritisch von einer „Uberverallgemeinerung“ der Struktur des moralischen Urteilens spricht und in diesem Sinne eine Neufassung des Wahrheitsbegriffs versucht (Habermas 1999, 15f. und 230ff.) 106 Habermas 1988, 186. Vor allem die religiöse Semantik dieser Formulierungen („Krctilur"/) finde ich bemerkenswert.
sicht auf Erfolg haben aber indirekte Fassungen des Moralprinzips, die das Bil- derverbot beachten, sich aller positiven Beschreibungen enthalten und, wie z.B. der diskursethische Grundsatz, negatorisch a uf das beschädigte Leben beziehen, statt affirmativ aufs gute}07
To be continued?
Memoria passionis als Organon von Universalität Gegenüber dem formalen Universalisierungsprinzip der Diskursethik schlägt die Politische Theologie ein materiales Universalisierungsprinzip vor - Leidens erinnerung, memoria passionis. Innerhalb einer bestimmten Theoriegestalt, die den Prämissen nachidealistischer Theologie entspricht, wird anamnetische Ver nunft zum Organon von Universalität.107108 Sie entstammt aber nicht einem ab strakten Bemühen um dekontextualisierte Allgemeingültigkeit, sondern spricht aus dem Kem der jüdisch-christlichen Tradition selber: ja sie ist dieser Kern als Theologie, die aus der Rede zu Gott kommt, als Rückfrage an Gott selbst. Von ihren biblischen Wurzeln sind die Theologen in die Rolle der „letzten Universalisten“109 gedrängt, unabhängig von ihren Intentionen zu kritischer Zeitge nossenschaft. Diese kann nur nach einer der neuzeitlichen Befindlichkeit ange messenen Formulierung des genuin theologischen Universalisierungsprinzips suchen. Metz findet seinen Ansatz in einer Reformulierung der Theodizeefra ge.110 Von Walter Dirks läßt sich Metz erzählen, was dieser bei seinem Besuch bei dem bereits vom Tode gezeichneten Romano Guardim erlebte: Der es erlebt, wird nicht vergessen, was ihm der alte Mann auf dem Krankenla ger anvertraute. Er werde sich im letzten Gericht nicht nur fragen lassen, son dern auch selber fragen; er hoffe in Zuversicht, daß ihm dann der Engel die
107 Habermas 1991a, 22; Hervorhebungen von mir. - In diesem Zusammenhang ist abschließend daran zu erinnern, daß die Einführung des prozeduralen Rationali tätstypus in die Philosophie für Habermas aus einer bestimmten historischen Kon stellation entstanden ist, eben dem Erfolgsdruck durch die nach empirischer Me thode verfahrenden Naturwissenschaften. Ist im heutigen Bewußtsein diese Über tragung noch plausibel oder sind nicht gerade die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit dem in jeder Hinsicht freigesetzten Agieren der Wissenschaften eher dazu an getan, das Desiderat eines nicht-prozeduralen Vemunfttypus zu schärfen? 108 Die Formulierung vom „Organon“ findet sich erstmals - mit noch leicht schwan kender Bedeutung - in Metz 1990c, 112 und Metz 1992f, 166 und HO. 109 So bereits der Titel von Metz 1996c. 110 Vgl. Metz/Reikerstorfer 1999.
wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine ,Theodizee' und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: Warum Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?111
Auf welchen Wegen Guardini dazu kommt, das als Summe seines theologi schen Fragens zu benennen, ist hier nicht nachzuzeichnen. Metz: „Im Be wußtwerden der Situation nach Auschwitz' drängte sich mit die Gottesfrage in ihrer merkwürdigsten, in ihrer ältesten und umstrittensten Version auf, eben in der Gestalt der Theodizeefrage... “ .u2 Diesen Grundzug seiner Theologie macht Metz in den letzten Jahren immer deutlicher, und er entdeckt ihn neu in den biblischen Texten. War Israel glücklich mit seinem Gott? War Jesus glücklich mit seinem Vater? Macht Religion glücklich? Macht sie ,reif‘? Schenkt sie Identität? Heimat, Ge borgenheit, Frieden mit uns selbst? Beruhigt sie die Angst? Beantwortet sie die Fragen? Erfüllt sie die Wünsche, wenigstens die glühendsten? Ich zweifle. Wozu dann Religion, wozu dann ihre Gebete? G ott um G ott zu bitten, ist schließlich die Auskunft, die Jesus seinen Jüngern über das Gebet gibt (Vgl. Luk 11,1-13, spez.11,13). Andere Tröstungen hat er, genau genommen, nicht in Aussicht ge stellt.113
Wenn man das dem Christentum sowenig ansieht, so deswegen, weil es - aus welchen Motiven114 auch immer - seine ursprüngliche Leidensempfindlicbkeit bald gegen ein übersteigertes Sündenbewußtsein getauscht hat,115 das sich in den Kategorien griechischen Denkens ausformulierte und dem gegenüber die Be reitschaft schwand, sich auf die jüdische Denktradition anamnetisch fundierter Vernunft einzulassen.116 Demgegenüber wäre der biblische Gottesglaube als ein „pathischer Monotheismus mit einer schmerzlich offenen eschatologischen Flanke“ 117 zur Geltung zu bringen. Dieses Bewußtsein entspricht für Metz der zeitgemäßen Situation nachidealistischer Theologie ,nach Auschwitz'. Bei solcher Wiederaufnahme des Theodizeethemas in der Theologie geht es nicht, wie das Wort und die Wortgeschichte insinuieren mögen, um den Ver-
m Metz 1989e, 252. Die Begebenheit ist dem Buch von Eugen Biser: Interpretation und Veränderung, Paderborn 1979, 132f. entnommen. 112
Metz 1990c, 104.
113
AaO. 115.
114
Vgl. o. die Ausführungen zum Themenkomplex der „bürgerlichen Religion“.
115
Vgl. Metz 1990c, 107 ff. u.ö.
116
AaO. lllf.
112
Metz /Peters 1991, 27.
such einer verspäteten, einer gewissermaßen trotzigen „Rechtfertigung Gottes“ durch die Theologie angesichts der Übel, der Leiden und des Bösen in der Welt. Es geht vielmehr - und zwar ausschließlich - um die Frage, wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, „seiner“ Welt. Das ist in meinen Augen „die“ Frage der Theologie; sie darf von ihr weder eliminiert noch überbeantwortet werden. Sie ist „die“ eschatologische Frage, die Frage, auf die die Theologie keine alles versöhnende Antwort ausar beitet, sondern für die sie immer neu eine Sprache sucht, um sie unvergeßlich zu machen.118
Diese Theologie ist in eminenter Weise eine Theologie des Vermissens, eine Negative Theologie, die sich um die Erfahrung der Abwesenheit Gottes herum artikuliert; eine Theologie, deren Wissen ein „Vermissungswissen“119 ist und die dieses beständig und öffentlich einzuklagen versucht. Gerade als solche, und nur als solche ist für Metz die Theologie verläßliche Teilnehmerin an den zeitgenössischen Diskursen der pluralistischen und multi kulturellen Gesellschaft. Denn der Impuls der Empörung am ungerechten Lei den, der Erinnerung an die Opfer der Geschichte ist zugleich beides: Kem ge rade der jüdischen Erbschaft des Christentums und Basis einer universellen Mo- ral. „Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“:120 mit die sem Satz aus der Negativen Dialektik ist eine Basis für ein materiales umversalisierbares Moralprinzip gefunden. Memoria passionis ist Basis moralischer Pra xis: Diese Moral läßt sich durchaus mit dem erreichten Stand der Autonomie sittli chen Handelns verbinden, wenn man einmal davon ausgeht, daß Autonomie und Emanzipation nicht etwa eine abstrakte Gehorsamsverweigerung, eine pure Verneinung jeglicher Autorität bedeuten, sondern daß sie gerade die unbedingte Anerkennung einer Autorität fordern: nämlich die Autorität der Leidenden.121
Nur eine Praxis, die sich in der Leidensgeschichte der Menschheit situieren und in ihr moralisch relevante Handlungsprinzipien ausmachen kann, hat die Chan ce, auch nach dem Kollaps idealistischer Geschichtsbilder (im weiteren Sinn) plausibel handlungsorientierend wirksam sein zu können. Die „Anerkennung der Autoriät der Leidenden“ ist die anamnetische Repräsentation der Leidens 118 Metz 1995b, 82f. 119 Metz 1995e, 29. Wie behutsam hier vorgegangen werden muß, zeigt z.B. die m.F. diesen Kern der Bestimmtheit anamnetisch fundierter Gottesrede bei aller richtigen Intention verfehlende Fomulierung Willi Oelmüllers vom „Ringen um die Erfali rung der Gegenwart Gottes in seiner Abwesenheit“ (Oelmiiller 1995, 78). Metz 1994d u.ö. (Adorno 1966, 27). 121 Metz 1993g bzw. 1994h, 87. 120
geschichte und ihre Öffnung auf mögliche Praxis hin, die nicht von einem „Verständigungsapriori“, sondern einem „Leidensapriori“122 geleitet ist. Kriti sche Praxis unter diesem Anspruch ist auf einer quasi vortheoretischen Ebene umversalisierungsfähig, weil alteritäts- und negativitätsorientiert. „Der hier an gesprochene Universalismus (des Leidens) ist ein .negativer Universalismus“; als solcher kann er ideologie- und mythenfrei auf dem Boden der Moderne formu liert werden.“ 123 Er kann jene geteilten Lebenswelten im kreativen Handeln von Personen erzeugen, aus denen geteilte und kommunikativ vermittelbare Gel tungsansprüche erst erwachsen.124 An dieser Stelle ist es wichtig, ein Mißversändnis abzuwehren. Die Behauptung der Universalisierbarkeit stützt sich bei Metz nicht auf empirische Evidenzen mit dem argumentationsstrategischen Ziel, die Träger dieser Evidenzen - etwa Kirchen und Religionsgemeinschaften - gesellschaftlich stark zu machen. Die Argumentation ist, in expliziter Absetzung etwa zu einem pragmatistischen Vorgehen wie etwa dem Hans Küngs,125 ebenso normativ gehaltvoll wie Ha bermas’ formalpragmatische Rekonstruktion der Voraussetzungen moralischen Handelns - und nur so auch modemitätsverträglich. Man sage nicht, auf der Basis der Gedächtnisorientierung ließe sich keine Ver ständigung der unterschiedlichen Kulturwelten erreichen. Alle Kulturen sind zunächst einmal dies: angehäuftes, nicht preisgegebenes Leidensgedächtnis, memoria passionis. Universeller, interkulturell kommunikativer als die Sprache unserer westlichen Rationalität, als unsere Wissenschaftssprache, ist allemal die Sprache, in der sich das Leidensgedächtnis der Menschen artikuliert.126
122 M etz 1996g, 271 bzw. Metz 1997b, 183. 123 Metz 1996g, 278 Anm. 20. 124 An anderer Stelle wird dieses Verhältnis mit Bezug auf Zygmunt Baumans „P ost moderne Ethik“ herausgestrichen: „Doch in strikt theologischer und nicht nur reli gionspolitischer Hinsicht ist der sittliche Universalismus kein Konsensprodukt. Er wurzelt in der Anerkennung der Autorität der Leidenden. Dieser Autorität gegen über gilt, was der Soziologe Zygmunt Bauman vom moralischen Gewissen sagt: Es verlangt .Gehorsam ohne Überprüfung, ob dem Folge geleistet werden sollte ... Es kann weder überzeugen noch erzwingen ... Nach den grundlegenden Maßstäben der modernen Welt ist Gewissen schwach“[Bauman 1995, 371]. Eben dies gilt von der Autorität der Leidenden. Sie kann nicht nochmals hermeneutisch vorbereitet oder diskursiv gesichert werden. Ihr gegenüber geht der Gehorsam der Verständigung und dem Diskurs voraus - und zwar um den Preis jeder Moralität.“ (Metz 1997b, 202; Hervorhebungen von mir.) 123 Vgl. z.B. Metz 1997b, 202. 126 Metz 1993c, 222.
Der Begriff der Compassion134 zielt demnach auf die Frage nach der Möglich keit verläßlicher Handlungsorientierung in strittiger Praxis. Das ist die Art von Universalismus, auf die es letztlich ankommt und die an Leidenserinnerung, Erinnerung fremden Leids orientierte Praxis zu erreichen vermag. Eine solche Praxis - und hier zeigt sich eine der durchgängigen Limen der Theologie von Metz - ist beides zugleich: kulturell gebunden als Handeln in der Nachfolge Je su; „Jesu erster Blick galt nicht der Sünde der anderen, sondern dem Leid der anderen.“ Sie ist aber auch interreligiöse und interkulturelle Brückenkatego rie,135 der es dämm geht, „die Züge dieses ,schwachen“ Monotheismus in den Traditionen aller drei großen monotheistischen Religionen“ - und darüber hin aus - „anzurufen und einzuklagen“. Handeln unter dem praktischen Primat der Wahrnehmung fremden Leidens so könnte eine weitere Kurzformel für den Begriff der Compassion lauten „protestiert gegen einen Pragmatismus der Freiheit, der sich vom Leidensge dächtnis losgesagt hat und so zunehmend moralisch erblindet.“ In der Aner kennung der Autorität der Leidenden Hegt in praktischer Hinsicht die Möglich keit, Handlungsräume angesichts der katastrophischen Geschichte der Welt zu erschließen, ohne die Opfer dieser Geschichte auszuschließen und so planmäßig die Sensibilität der grundlegendsten moralischen Intuition: der Empörung über das ungerechte Leiden, zu demontieren. In theologischer Hinsicht ist für Metz diese Anerkennung „die einzige, in der sich die Autorität eines richtenden Gottes in der Welt für alle Menschen manifestieren kann.“ Auschwitz hat gewissermaßen die metaphysische und moralische Schamgrenze zwischen Mensch und Mensch tief abgesenkt, hat das Band der Solidarität zwi schen allem, was Menschenantlitz trägt, verletzt. So etwas überstehen nur die Vergeßlichen. Oder die, die schon erfolgreich vergessen haben, daß sie etwas vergessen haben. Aber auch sie bleiben nicht ungeschoren. Denn man kann auch auf den Namen „des Menschen“ nicht beliebig sündigen. Nicht nur der einzelne Mensch, auch die Idee des Menschen und der Menschheit ist verletz bar. Nur wenige bringen die gegenwärtigen Humanitätskrisen mit Auschwitz in Ver bindung ... Sind das nicht alles auch Mißtrauensvoten gegen den Menschen und
134 „Immer wieder habe ich versucht, ein überzeugendes deutsches Wort für die ele mentare Leidempfindlichkeit der christlichen Botschaft zu finden. Mitleid1verweist zu sehr in reinen Gefühlswelt, Empathie“ klingt mir zu unpolitisch, zu wenig ge rechtigkeitsorientiert. So bleibe ich bei dem Wort, mit dem ich bei nicht deutsch sprachigen Zuhörern selten Schwierigkeiten hatte: bei Compassion. (Einigermaßen verläßlich könnte man es deutsch allenfalls mit dem Wortungetüm Mi'leidcnschaftlichkeit“ ausdrücken.)“ (Ebd.)
seine Moral? Es gibt eben nicht nur eine Oberflächengeschichte der Gattung Mensch, sondern auch eine Tiefengeschichte, und an die hat diese Katastrophe gerührt. Beginnt hier womöglich die radikale Krise der europäischen Moral? Liegen hier die Wurzeln für die sog. moralische Ers chöpfung Europas?136
Wenn dem so ist: Kann dem eine Praxis der Compassion widerstehen? Offensichtlich ist diese Frage nicht theoretisch zu beantworten. Die theoretische Anstrengung kann nur dahin gehen, den heuristischen Wert einer an den Kategorien anamnetischer Vernunft orientierten Rekonstruktion der moralische Prinzipien und Intuitionen aufzuweisen und die Aporien des öffentlichen Diskurses darüber aufzuzeigen und zu verorten. Ihre Plausibilität kann sich aber in nur den praktischen Feldern selbst zeigen, wo sich die Intentionen der Theorie als handlungsleitende Prinzipien bewähren müssen.
136 Metz 1995e, 30.
Exkurs: Lyotard oder die Unmöglichkeit der Kommunikation Zur Ehrenrettung der Postmoderne
Es will mir scheinen, als diktiere d as Gedächtnis der En dlösung gerad e d ieses Denken. Ja cq u e s D errida 1
Die französische Postmoderne stellt eine Denkrichtung dar, die mit dem durch Habermas repräsentierten philosophischen und politischen Aufklärungsidealen radikal bricht. Das hat ihrer Rezeption im deutschen Sprachraum nicht sonder lich gut getan. „Postmodeme“ ist zu einem feuilletonistischen Kampfbegriff geworden, unter dem (immer noch) verschiedenste Theorien - oder eigentlich: Theoretiker - subsumiert werden, denen der Vorwurf des Apolitischen und Antimodemen gemacht werden soll. Auch in der Politischen Theologie hat man „Postmodeme“ aus dieser Perspektive wahrgenommen. Es scheint ange zeigt, diese Frontstellung, die sich teils aus absurden Mißverständnissen ergibt, zu verlassen und im Denken der Postmodeme Grundintentionen und -motive des eigenen Entwurfs wiederzuerkennen.2 Bereits der Begriff „Postmodeme“ ist auffallend unbestimmt; Umberto Eco hat ihn einen „Passepartoutbegriff, mit dem man fast alles machen kann“,3 genannt - genau so wird er auch gebraucht. Die Situation wird nicht einfacher dadurch, daß kaum einer der führenden Vertreter (anders als in der Architektur oder Li teraturwissenschaft) sich selber als „postmodem“ bezeichnet sehen möchte. Im Folgenden werde ich mich ausschließlich auf Jean-François Lyotard als den
1
Derrida 1991, 125.
2
M.W. wurde diese Verwandtschaft bisher nur von Lieven Bocvc angedeutet (Boeve
1999).
zentralen Denker beziehen, dessen Buch L a condition postmodeme 1979 die In itialzündung der philosophischen Postmodeme-Diskussion war.45 Lyotards Hauptwerk ist allerdings das 1983 im franzöischen Original erschienene Der Widerstreit (Le différend)? Auch Lyotard schätzt den Ausdruck „Postmodeme“ nicht sonderlich, wenn er ihn selbst auch in seinen späten Publikationen ver wendete. In einem Vortrag mit dem Titel „Die Moderne redigieren“ (im Origi nal rewrite bzw. réécrire)6 aus dem Jahr 1986 setzt er sich kritisch mit dem „post-“ der Postmodeme auseinander. Er macht deutlich, daß es nicht um eine Distanzierung der Moderne als Epoche oder ihrer Errungenschaften geht, son dern um jenes der Moderne selbst innewohnende Moment, das sie ständig über sich selbst hinauszutreiben tendiert - zunächst äußert es sich in der für die M o derne konsumtiven Vorstellung von sich selbst als „Projekt“ oder „Entwurf“, aber auch diesen Horizont ist es zu einem bestimmten geschichtlichen Zeit punkt aus immanenten Gründen zu überschreiten genötigt. „Die Moderne geht konsumtiv und andauernd mit ihrer Postmodeme schwanger.“7 Der Gegenbe griff zur Moderne wäre nicht die Postmodeme, sondern vielmehr die Klassik. Schließlich, darauf scheint Lyotard hier anzuspielen, ist der Begriff der Moderne selbst ja nur ein negativer Gegenbegriff zu einem bestimmten Stand der histori schen Entwicklung, der diesen überwinden will. In diesem Sinn selbst ein Tassepartoutbegriff1, taucht er in der abendländischen Geistesgeschichte im 5. nachchristlichen Jahrhundert als Übernahme eines weit älteren Topos auf als „das historische Selbstbewußtsein, im Anbruch einer neuen Zeit zu stehen“,8 das wechselnde, fast beliebige Inhalte annehmen kann. Positive Bestimmtheit erlangt der Begriff der Moderne erst, als er sich mit einem konkreten historisch politischem Projekt verbindet: dem Projekt der Aufklärung. Das aufklärerische Emanzipationsideal wird zum Zeichen des Modernen und umgekehrt - auch dort, wo der Modemebegriff primär ästhetisch gebraucht wird, etwa im Gefol ge Adornos bei A. Wellmer u.a. Die Diskussion im deutschen Sprachraum ist dieser Identifikation verfallen. So ist denn auch die Rezeption der „Postmoder ne“ von einigen merkwürdigen Wahmehmungsdefiziten bestimmt. An der Wurzel dieser Debatten steht wohl die folgenreiche Adomopreisrede von Habermas aus dem Jahr 1980 unter dem programmatischen Titel „Die Moderne - ein unvollendetes Projekt“.9 In ihr polemisiert er gegen die „sich 4 5 6 7 8 9
Deutsch Lyotard 1986a. Lyotard 1987,21989. Lyotard 1989a, 51-69. AaO. 53. Jauss 1971, 412. Habermas 1981b, 444-464.
entschieden als eine Antimodeme“ gebende Postmodeme, jener ,,affektive[n] Strömung, die in die Poren aller intellektuellen Bereiche eingedrungen ist und Theorien der Nachaufklärung, der Postmodeme, der Nachgeschichte usw., kurz einen neuen Konservatismus auf den Plan gerufen hat.“10 Gegen drei Konservatismen meint Habermas das Projekt der Moderne verteidigen zu müs sen: den der „Jungkonservativen“ (Bataille, Foucault, Derrida), der „Altkonser vativen“ (Jonas, Spaemann) und der „Neukonservativen“, die wohl die instrumentell-technischen Aspekte der Moderne affirmieren, nicht aber ihre politi schen und gesellschaftlichen Gehalte (keine Namensnennungen).11 Lyotard, der im Vorjahr Das postmodeme Wissen veröffentlicht hatte (das einem verbreiteten Vorurteil zufolge eine Apologie der aufkommenden Digitalisierung - ,Computerisierung“ - des Wissens darstellen soll), kommt dem Namen nach nicht vor.12* Wolfgang Welsch, dessen Buch Unsere postmodeme Modemeu einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Situation und zum Verständnis des Phänomens leistete, beschreibt die paradoxe Situation, daß tatsächlich eine bestimmte Form von Konservatismus sich als „postmodem“ gab und wahrgenommen wurde: „Da formierte sich ... ein Postmodemismus ganzheitlicher Option“ , dem allerdings ein, vielleicht das entscheidende Moment des Originals gänzlich abging: das Pathos für Alterität und Nichtidentität, das überhaupt den Nerv der französi schen Philosophie des 20. Jahrhunderts ausmacht. „Der erstere - sozusagen homophile - Postmodemismus ist vorwiegend deutscher, der andere - sozusa gen heterophile - vorwiegend französischer Provenienz.“ 14
10 AaO.444. 11 Vgl. aaO. 462f. 12 Ebensowenig übrigens in Der philosophische Diskurs der Moderne (Habermas 1985). - Daran knüpft sich natürlich der Verdacht, daß Habermas hier gegen einen Phantomgegner kämpft. Die Einleitung des Vortrags, die die Biennale in Venedig erwähnt, läßt vermuten, daß er es auf die postmodeme Architekturtheorie abgese hen hat. Zwar nennt er weder Namen noch bringt er Zitate, aber man könnte ver muten, daß Charles Jencks als Adressat seiner Angriffe gelten könnte, der zu dieser Zeit unschöne Attacken gegen Lyotard ritt, an den er die Stellung als .führender Theoretiker der Postmoderne“ verloren hatte. Jencks über die Grenzen der Archi tekturtheorie hinausgehendes Konzept hat allerdings mit den Anstrengungen eines Lyotard, eines Derrida etc. nichts gemein. In seinem großen Aufsatz „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“ (Habermas 1988, 153-186) gesteht Ha bermas Lyotard (mit Berufung auf den Widerstreit) wenigstens das Fortleben alter metaphysikkritischer Absichten bzw. Motive zu, vgl. aaO. 153. Vgl. zum Ganzen Welsch 1987,41993.
Lyotard seinerseits reagiert auf die anonyme Maßregelung scharf. Im schon dem Titel nach programmatischen Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Postmodem?“ 15 nimmt er gerade jene Denktradition, auf die Habermas sich beziehen möchte: diejenige Adornos, für sich und sein Projekt einer immanen ten Kritik der Moderne in Anspruch. Daß er sich den Intentionen Adornos damit näher fühlt als Habermas mit der Fortschreibung einer historisch politischen Kontinuität über die Katastrophengeschichte des Jahrhunderts hin aus, erscheint nachvollziehbar. „Nicht nur Wittgenstein und Adorno haben die se Kritik begonnen, sondern auch einige Denker, ob nun Franzosen oder nicht, die indes nicht die Ehre hatten, von Professor Habermas gelesen zu werden was ihnen freilich erspart, sich wegen Neo-Konservatismus eine schlechte Zen sur zuzuziehen.“ 16 In der Tat ist bereits ein Blick auf die Biographie Lyotards geeignet, solche Vorurteile zu erschüttern. Lyotard gehört zu jener Generation französischer Intellektueller, für die das Politische und das persönliche Enga gement das selbstverständliche Medium der Reflexion bilden.17 Als junger D o zent in Algerien, anschließend als Gymnasiallehrer (die klassische Laufbahn des französischen Philosophen) kam er mit der linksradikalen Gruppe Socialisme ou Barbarie um Cornelius Castoriadis, Claude Lefort und Pierre Souyri in Kontakt, also dem Kem der nicht dogmatisch-marxistischen Linken. Innerhalb der Gmppe in erster Linie für den Algerienkonflikt zuständig,18 blieb er deren Mit glied von 1954 bis zur Spaltung im Jahr 1964, bei der er sich der eher orthodox marxistischeren Gmppe um Souyri anschloß (.Pouvoir ouvrier )19, von der er sich 1966 - im Jahr, als Socialisme ou Barbarie sich endgültig auflöste - allerdings auch wieder trennte. 1968 während der Studentenunruhen war er an der Un i versität Nanterre, einem Zentrum der Unruhen, aktiv und engagierte sich in der Bewegung Daniel Cohn-Bendits.20 Eine seltsame Laufbahn für einen Konser vativen gleich welcher Couleur, deren Beschwörung allerdings auch nicht die argumentative Auseinandersetzung ersetzen kann. Wie also stellt sich Lyotards Bezug zu Adorno und seine Stellung zum „Projekt der Moderne“ dar?
15 Lyotard 1987, 11-31. Lyotard hat Habermas sicherlich genauer gelesen als umge kehrt. Im Postmodemen Wissen finden sich durchaus differenzierte Stellungnahmen zu verschiedenen Aspekten aus Habermas’ Texten. 16 AaO. 14. 17 „... je me suis toujours donné pour excuse d’écrire une raison politique. J ’ai tou jours pensé que ça pourrait servir“ (Lyotard/Thébaud 1979, 34.). 18 Vgl. Gane 19 98,149ff. 19 Vgl. dazu die hochinteressante rélecture, die Lyotard diesen Ereignissen im Text „Ein Denkmal des Marxismus“ gibt: Lyotard 1989b, 89ff. 20 Vgl. Sim 1996,9ff.
Es ist eine der Merkwürdigkeiten der (nicht nur deutschsprachigen) LyotardRezeption, daß die Linie zu Adorno nicht ausgezogen wird, obwohl Lyotard selber das an mehreren Stellen nicht nur nahelegt, sondern geradezu fordert. Adorno ist für Lyotard nicht nur Bezugspunkt postmodemen Denkens, son dern geradezu schon ein Teil von ihm; Liest man jetzt und mit diesen Namen [Derrida, Foucault, Serres, Levinas, Deleuze - jenen Denkern, denen das Etikett „postmodern“ angeheftet wird] im Kopf Adorno, insbesondere Texte wie die Ästhetische Theorie, die Negative Dialektik oder die Minima Moralia, so gewahrt man, wie sehr er in seinem Denken schon das Postmoderne vorwegnahm . ..21
So wie der Stil des Philosophierens es bei Adorno zu einer heiklen Sache macht, die Negative Dialektik als sein Hauptwerk zu bezeichnen, verhält es sich mit Lyotard und dem Widerstreit. Mit schon wieder ironisch distanzierender Gebärde schreibt er auf die Umschlagrückseite der französi schen Originalausgabe: „M on livre de philosophie1, dit-il.“ Dennoch ist es ent scheidend, daß das zentrale 4. Kapitel des Widerstreits auf einen Teil der Nega- tiven Dialektik zurückgeht, näherhin auf die „Auschwitz“ gewidmeten .Medi tationen zur Metaphysik“.22 Der Widerstreit beginnt und endet mit der Frage nach Auschwitz und den Folgen; ja die ganze Fragestellung des Ereignisses [ArrivetiD] ist in Wirklichkeit die Frage nach Auschwitz.23 Wie für Adorno ist für Lyotard Auschwitz die Situation der Philosophie, an der sich jede Anstren gung des Denkens messen muß. Auschwitz ist damit zugleich das Paradigma für die Selbstinterpretation der Gegenwart, gelesen als das Verhältnis der Ge genwart zur Moderne. Angesichts dessen haben das aufgeklärte Emanzipations ideal, seine Begriffe Potentiale ihren Kredit verspielt. Sie gehören ... zu den Mitteln des Vergessens: zu vergessen, daß es in jedem Geist und in der Gesamtheit der Geister der republikanischen Gemeinschaft etwas gibt, das kein Recht auf Geltung hat und jenseits von Gerechtem und U n gerechtem über den Geist des einzelnen und aller hinausgeht ... Die klare Erin
21 Lyotard 1985a, 87. 22 Lyotard 1987, 2 1989, 152ff.; Adorno 1966, 354ff. Dieses Kapitel „D as Resultat“ geht auf einen selbständigen Text mit dem Titel Streitgespräche, oder: Sprechen „nach Auschwitz“ (Lyotard 1982) und nimmt im Widerstreit eindeutig eine beson dere Stellung ein (Vgl. Burger 1996, 134.). 23 Vgl. Lyotard 1994, 175. Neben Adorno ist die zweite maßgebliche Quelle eines „Denkens nach Auschwitz“ für Lyotard natürlich Emmanuel Levinas. Vor allem dem ungetrösteten Begriff der „Diachronie“ , den Levinas in Autrement (¡u'etre ou
nerung widersteht dem Unerinnerlichen, daß sie bedroht, vom Weg abbringt und erschöpft ... Ebenso wird unser gegenwärtiges Verhältnis zur Aufklärung durch die Finsternis einer Nacht verändert. Durch die Nacht von Elie Wiesel.24
Um die kritischen Potentiale der Moderne zu retten, bedarf es einer andersarti gen Rekonstruktion der Geschichte der Moderne, eines „Neuschreibens“ (einer réécriture) ihres Textes. Denn Moderne“ ist als Geschichte wesentlich Text, nicht die Situation gegenwärtiger Unmittelbarkeit, sondern einer Distanziert heit, die die Notwendigkeit der Interpretation und des Urteils erfordert. In die sem Sinne ist die jüdische Tradition der Schriftlichkeit die Avantgarde der Mo derne.25 In Frage steht aber nicht die Auslegung oder Anwendung dieses Tex tes, sondern „nach Auschwitz“ das Textbuch selber. Wenn das bei Lyotard eher schwach wahrgenommen wird, so aufgrund der spezifischen Konsequenzen, die Lyotard für die philosophische Methode aus seinen Prämissen zieht. Der Widerstreit ist über weite Strecken sprachanalytisch bzw. sprachphilosophisch orientiert. Die Titelthese, die Lyotard, ohne sich lan ge aufzuhalten, in den ersten Sätzen des Vorwortes präsentiert, lautet bekannt lich: Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend ] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen ent schieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteils regel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, daß die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht [tort] zu (einer von ihnen zumindest, und al len beiden, wenn keine von ihnen diese Regel gelten läßt).26
Mindestens drei Elemente, die im Verlauf der Untersuchung unterschieden werden, sind hier unter „Argumentation“ subsumiert: Satz-Regelsysteme [régi- mes de phrases), Diskursarten [genres de discours] und Sprachspiele [jeux de lan- gage] im Sinne Wittgensteins. Satz-Regelsysteme bestimmen die Bildung eines Satzes als argumentativen, beschreibenden, erzählenden, fragenden etc. Sätze verschiedener Satz-Regelsysteme sind nicht ineinander transformierbar,27 doch hegt in dieser Tatsache der „Widerstreit“ der Argumentationen nicht begründet, wenngleich die falsche Einordnung eines Satzes einen Widerstreit erzeugen kann. Diskursarten sind die Modi der Verkettung von Sätzen, die auch ver
24 Lyotard 1998, 169. 25 Vgl. Lyotard 1988b, 47; Lyotard 1994, 162f. 26 Lyotard 19 87 ,2 1989, 9.
27 AaO. 10
131
schiedene Satzregelsysteme umgreifen können, zum Erreichen eines bestimm tes Ziels: des „Spieleinsatzes“. Schon im postmodemen Wissen hatte Lyotard die Vorstellung vom „Sprachspiel“ zu einem „Kampf“ (agon)2* umgebaut, der das Diskursverhalten der Teilnehmer zur Erreichung eines Ziels bestimmt. Sprache dient also nicht, wie bei Habermas, zur Herstellung von Konsens, sondern pri mär zur Artikulation von Differenz. Die Diskursarten sind Strategien2829 mit ei ner bestimmten Zweckmäßigkeit {finalité unique ].3031Mit der Stufe der Dis kursarten ist die Grenze des Analysierbaren erreicht, es gibt kein „Subjekt“ die ser Strategie, sie stammen „von niemandem“.31 Mit diesem Begriff entfernt sich Lyotard von der Terminologie Wittgensteins, die ihm noch immer zu stark ein (vorkonstitutiertes) Subjekt »hinter der Sprache, das sich ihrer bedient, zu evo zieren scheint.32 Von einem sprechenden Subjekt auszugehen, ist für Lyotard eine illegitime Überschreitung des Gegebenen: der Diskurse. Auch dieses Ab sehen kündigt sich bereits im postmodemen Wissen an, wo die Idee des Subjekts auf den Kreuzungspunkt von Sprachereignissen reduziert wird, deren Produkte „keine sprachlich notwendigerweise stabilen Kombinationen [bilden], und die Eigenschaften derer, die wir formen, sind nicht notwendigerweise mitteilbar.“33 Das „Ich“, das „Du“ werden aufgelöst in „Wolken“ sprachlich vermittelter Konnotationen. (Später, 1988, wird Lyotard auf die „Wolke“ als Grundmeta pher seines Denkens überhaupt zurückkommen.34) In einem Kommentar zum Widerstreit hält Lyotard fest: ... ich weiß nicht, was das denn sein soll, das Subjekt. Das vielleicht Bemer kenswerteste an der Hypothese über die Sätze in Le Différend ist ja, daß der Be griff des Subjekts bestritten wird.35
Ich habe allerdings den Eindruck, daß die „Diskursarten“ Lyotards die Sprachspiele Wittgensteins funktional mehr oder weniger substituieren. Ihr Auftreten ist ebenso vielfältig und unbegrenzt, wie es der Einzigartigkeit ihrer Zweckbe stimmung {finalité unique ] entspricht. Auch wenn manche Passagen den An schein erwecken, man könnte Diskurse unter eine bestimmte Anzahl von Dis kursarten subsumieren, scheint es letztlich ebensoviele Diskurse wie Dis
28 29 30 31 32 33 34
Lyotard 1986a, 40. Lyotard 1987,2 1989. 228. AaO. 216. AaO. 228. Smart 1998, 53; vgl. Lyotard 1987,2 1989. 217. Lyotard 1986a, 15. Lyotard 1989b, 15ff.
kursarten zu geben: die Begriffe sind unterschieden, aber koextensiv, eher ein Motiv der Beschreibung im Hinblick auf das Verhalten der Akteure als analyti sche Kategorien. Deswegen können sich auch verschiedene Diskursarten wi dersprechen, ohne daß ein Widerstreit entsteht: es handelt sich dann um ver schiedene Strategien oder überhaupt um verschiedene Spieleinsätze. Wenn man von einem Widerstreit sprechen kann, dann nur innerhalb einer Diskursart sel ber: Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet ... Im Widerstreit .verlangt1etwas nach .Setzung“ und leidet unter dem Unrecht, nicht sofort .gesetzt“ werden zu können.36
Ganz offensichtlich stellt das „etwas, das wartet“ hier eine ziemlich wolkige Metapher dar, die Lyotard nichtsdestotrotz begründbarer - oder tragfähiger erscheint als die des Subjekts. Lyotard bringt, etwas verwirrend, parallel auf ver schiedenen Ebenen einige Perspektiven eines „Widerstreits“ . Er setzt ein mit der revisionistischen Leugnung des Holocaust: wie kann man beweisen, daß es Gaskammern gegeben hat, wenn alle, die ins Gas geschickt wurden, tot sind? Das Zeugnis der Überlebenden ist ein Zeugnis gegen die Gaskammern, denn sie sind nicht tot. Das Zeugnis der Toten - ist kein Zeugnis. Ergo: es gibt keine Gaskammern.37 Man kann dieser Logik nicht widersprechen, und man kann in ihr nicht das, was „Auschwitz“ ausdrücken will, angemessen zur Sprache bringen - das ist das Dilemma der „Histonsierung“ des Holocaust, das im deutschen Historiker streit schlagend wurde. Die Ebene des Widerstreits hegt darin, daß es kein Idi om, keinen Diskurs gibt, der die im revisionistischen Diskurs wirksamen Hin tergrundannahmen außer Kraft setzen könnte. In diesen liegt die Tiefenstruktur des Widerstreits: die illegitime Usurpation des Raumes der möglichen Diskurse durch einen bestimmten Modus der Satzverkettung, der andere ausschließt. Das affiziert die anderen Diskursarten selbst. Denn jede Diskurssituation fordert ihre Fortführung, die weitere Verkettung von Sätzen: „man muß verketten“ [il faut enchainer p 8 - „fordert“ hier nicht als Präskription, sondern als Beschrei bung zu verstehen: die Kommunikationssituation ist zeitlich unabgeschlossen, und alles in ihr hat bedeutenden Charakter; auch das Schweigen ist ein Satz, der verkettet und verkettet wird. Der revisionistische Diskurs verändert die Be deutung des Schweigens der Überlebenden und macht sie halb zu Komplizen, 367*
36 Lyotard 1987,2 1989, 33.
37 AaO. 17ff. '« AaO. 59.
halb zu imglaubwürdigen Erzählern. Ehe Wiesel, Primo Levi und wie sie alle heißen können ihre Bücher schreiben, sie werden hilflos gegen die vorgebliche Wissenschaftlichkeit der Revisionisten bleiben; oder sie müssen sich ihrem ei genen Diskurs gemäß ins Unrecht setzen, indem sie an die Stelle der Opfer treten und für sie, als diese sprechen. Wie könnte man sich eine Schlichtung des Widerstreits vorstellen? Die Chan cen einer Einigung auf eine für beide Parteien legitime Diskursart scheinen eher schlecht zu stehen. Eine Strategie ist die Auseinandersetzung mit den Revisioni sten auf Basis des wissenschaftlichen Diskurses (die vermutlich, eine „Böswil ligkeit“ des Gesprächspartners unterstellend, nicht zum Ziel - dem Konsens führen wird39). Deshalb ist etwas anderes dringlicher: die Freisetzung des alter- nativen Diskurses in seinem Eigensinn und seiner eigenen Gesetzlichkeit. Das widerlegt nicht die Revisionisten, aber es verhindert das Unrecht, daß dem Op ferdiskurs widerfahren würde ( - widerfahren ist). Die Wahrheit der Opfer und die der Täter ist nicht in kompatiblen Systemen darstellbar. Daher lautet die Maxime, die in Wirklichkeit eine ethische ist, im Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Postmodem?“ : Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöh nung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunikativer Er fahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Gan zen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, ret ten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.40
Nun scheint Lyotard hier ins Messer des Vorwurfs des performativen Selbstwi derspruchs (das alle deutschen Philosophen offen in der Hosentasche tragen) zu laufen. Denn offensichtlich gibt es so etwas wie ein Vermögen, zwischen den Diskursarten zu wechseln und andersartige Diskurse zu verstehen bzw. we nigstens sich auf sie beziehen zu können. Gerade dämm kreisen nicht zuletzt seine eigenen Arbeiten nach dem Widerstreit. Also setzt diese Argumentation
39 Vgl.aaO.43. 40 Lyotard 1987, 30f. - Diese Formulierungen knüpft an ein Motiv der frühen Philo sophie Lyotards an, die normalerweise gern von seiner postmodernen Phase abge grenzt wird (vgl. dazu Burger 1996, 10ff., dort weitere Literatur). In einem der er sten Werke von „Lyotard I“, der 1974 erschienenen Economie lihiilinale (dt. Lyo tard 1984) heißt es: „Kämpfen wir also gegen den weißen Terror der Wahrheit, mit und für die rote Grausamkeit der Singularitäten“ (S. 131); ubn
gerade das, was sie leugnet: die einheitsstiftende Vernunft (sei es in ihrer tran szendentalen, transzendentalpragmatischen, universalpragmatischen, ästheti schen etc. Version) selbst voraus. Also urteilt beispielsweise Manfred Frank„Lyotards Différend ist geradezu ein Paradebeispiel für einen solchen performativen Widerspruch.“41 Etwas differenzierter versucht Wolfgang Welsch die Frage nach den Übergängen zwischen den Diskursarten zu stellen. An den ent scheidenden Stellen rekurriert Lyotard auf das Modell der Einheit der Erkenntisvermögen bei Kant. Wie verschiedene Inseln im Meer liegen sie voneinander getrennt, aber doch umschlossen von einem gemeinsamen Medium (Kant: „Feld des Übersinnlichen“42), das selbst gegenstandslos ist, aber den „Über gang“ ermöglicht.43 Sowohl im Widerstreit als auch im Enthusiasmus 44 bezieht Lyotard sich auf Kants Bild des „Richters“, der die Einteilung der möglichen Gegenstände der verschiedenen Erkenntisvermögen vomimmt und sie damit in Relation zueinander setzt, das er weiterentwickelt zum Bild des „Admiralfs], der von einer Insel [Satzfamilie] zur anderen Expeditionen ausschickte mit dem Ziel, auf der einen darzustellen, was auf der anderen gefunden (erfunden, im ursprüngliche Sinn von imxniré) wurde und der ersteren als ,Als-obAnschauung“ zu ihrer Validierung dienen könnte.“45 Welsch sieht in diesem Vermögen des Übergangs das Durchbrechen einer bei Lyotard niedergehalte nen Vernunftproblematik, die dazu führt, die eigentliche Struktur der Dis kursarten: ihre Bezogenheit aufeinander und damit die Struktur des Widerstreits selbst zu verfehlen.46 Denn dieser Admiral, der auf keiner der Inseln des Archi pels mehr verortet werden könne und keine Sprache spricht (sprechen kann), ist gerade nach den Grundannahmen Lyotards eine schlechterdings inexistente Figur. Lyotard: „Ich weiß nicht, hatte ich da tatsächlich von einem Admiral gespro chen? Ja, doch - L ’enthousiasme ist eben kein sehr gutes Buch. Wie konnte ich
41 So offensichdich unter Einziehung jeglicher moderner Ausdifferenzierung des Ver nunftbegriffs Frank 1988, 61; vgl. dazu kritisch Keicher 1995, 60ff. 42 Kritik der Urteilskraft A XIX, B XIX 43 „Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mir dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wo von der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Er kenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigentümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen, zu der nach Prinzi pien der anderen, möglich macht“ (aaO. A XX , B XX; Hervorhebung von mir). 44 Der Enthusiasmus. Kants Kritk der Geschichte (Lyotard 1988a). 45 Lyotard 1987,2 1989 218f.
nur von einem Admiral schreiben!“47 Das Bild des Admirals evoziert tatsächlich einiges (Macht: Kanonen, Kartographie), für das sich im Bild des Archipels kein Platz findet. Lyotard schlägt vor, den Admiral zu einem „armen isländischen oder malaiischen Fischer“48 zu degradieren, von dem man sich wohl vorstellen müßte, daß er mehr oder weniger zufällig, wahrscheinlich durch widrige Um stände zu einer anderen Insel verschlagen wird und dort die - vermutlich er schreckende - Erfahrung macht: „Diese Insel hier hat überhaupt nichts mit der zu tun, die ich gerade gesehen habe!“49 Die festgestellte Beziehung zwischen den Inseln muß nicht über die der Beziehungslosigkeit \un rapport du ncn rapport] hinausgehen (und vieles spricht dafür, daß das der Regelfall ist). Die Zurückstufung des „Admirals“ läßt das Bild zwar in völlig anderem Licht erscheinen, löst aber nicht die Differenz zu Welsch auf: Eher werden die Hete rogenität der verschiedenen Diskursarten und die Unmöglichkeit des Über gangs noch betont; das diesem Sachverhalt zugeordnete Erkenntnisvermögen wird in jenem Meer, daß gleichzeitig trennt, was es verbinden soll, aufgelöst und ohne weitere Ableitung .gesetzt1. Demgegenüber erscheint Welschs Kon zept einer „Vernunft im Übergang“50 noch immer als zu starke Idee angesichts der Klüfte, die die Diskursarten trennen.51 Diese Spaltungen sind für Lyotard durch kein vereinheitlichendes Vermögen überbrückbar eben das ist die Situa tion des Denkens „nach Auschwitz“. Den Diskurs, der kein „Außen“ hat, sich selbst totalisiert, nennt Lyotard den „spekulativen“.52 Er ist für das moderne Bewußtsein die bestimmende Katego rie, ohne die das geschichtliche Bewußtsein nicht praktisch (politisch) werden kann. Kant hatte im interesselosen Enthusiasmus der Zuschauer der Französi schen Revolution noch das entscheidende „Geschichtszeichen“ zu sehen ver mocht, das die Korrelation des moralischen Strebens mit dem Weltlauf ver 47 Lyotard/Bedorf/Keicher 1995, 35; vgl. Lyotard 1988a, 33, aber auch im Wider- streit: Lyotard 1987,21989, 218. 48 Ebd. 49 AaO.37. 50 Welsch 2 1990, Welsch 1995. 51 ln der Vergeblichkeit des Versuchs, diesen Zirkel sprachlich aufzubrechen, zeigt sich schließlich auch schon etwas von der Grundlosigkeit ethischer Praxis. Natür lich könnte Welsch an dieser Stelle sein Argument einfach widerholen und auf der Selbstbezüglichkeit der Aussage Lyotards bestehen. Darauf kann man, so Lyotard, am Ende nur so reagieren wie er und Thebaud am Schluß von A u juste, wo sie nachdem Thebaud mit dem Retorsionsargument zu sticheln beginnt in gemein sames Gelächter ausbrechen (Lyotard/Thebaud 1979, 189),
bürgt; „denn ein solches Phänomen in der Menschheitsgeschichte vergißt sich nicht mehr“ .53 Auschwitz zwingt zur Revision dieser Hintergrundannahme. Jede der großen Emanzipationserzählungen, welchen Genre sie auch immer die Hegemonie eingeräumt hat, ist in den letzten fünfzig Jahren in ihrem Prinzip verstümmelt [invalider ] 54 worden. Alles, was real ist, ist rational, alles, was rational ist, real: „Auschwitz“ widerlegt die spekulative Doktrin.55
Die Realität von Auschwitz kann auf keinen Begriff gebracht werden, kein Diskurs ist denkbar, dessen Resultat „Auschwitz“ wäre. Für die Anstrengung des Begriffs ist Auschwitz „die wirklichste Wirklichkeit“56 und zugleich „offener Abgrund“,57 als unableitbares Ereignis und Unmöglichkeit der Verkettung fordert es ein Paradigma der Reflexion, das die Abwesenheit des Begriffs, in dem es aufgehoben werden könnte, repräsentiert. Das Schweigen, das Auschwitz verlangt, ist „Zeichen“58 des irreparablen Sprungs, der Spaltung, die das universale Subjekt eine Universalgeschichte erlitten hat. Man weiß nicht, wie man die Vernichtung denken soll. Sie widersteht schlechthin dem Denken ... Etwas hat getroffen, man weiß nicht, was das heißt, man weiß nicht, was es von uns fordert, [aber] man weiß, daß es von uns fordert, unablässig, und daß es deshalb nicht vergessen wird. Aber da man nicht weiß, was, wird es vergessen, man weiß nicht, wie man sich daran erinnern soll. Es gibt da eine furchtbare Verschuldung, deren man sich nie entledigen wird.59
Diese Forderung zerstört nicht den Eigensinn des Politischen, sie versucht ihn unter den Bedingungen einer „in Auschwitz“ liquidierten Moderne freizusetzen. „Ich fürchte diejenigen, die nostalgisch der Politik als einer Tragödie nachtrauem“,60 so wehrt Lyotard die moralische Uberaffirmation der Politik ab, die mit der unmittelbaren Identifikation von moralischen und politischen Normen die Entgrenzung der Gewalt erst förderte.61 Demgegenüber wäre die Verpflichtung abzuleiten, aus der Spaltung des Selbst „dessen Anmaßung zu zer-
53 Streit der Fakultäten, AA Bd. 7 S. 84 und 88; Lyotard 1987, 21989, 281. 54 „ Invalider“ i.S. der angesonnenen „Validierung“ der Vernunftpostulate durch das Vermögen des Übergangs, s.o. 55 Lyotard 1987, 45. Vgl. schon im Widerstreit: Lyotard 1987,21989, 295f. 56 AaO. 107; „Die massenhaft hingemordeten Juden sind, abwesend, gegenwärtiger als jedes Gegenwärtige“ (Lyotard 1988b, 53). 57 Lyotard 1988a, 108. 58 Lyotard 1987,2 1989, 105 59 Lyotard 1994, 175. 60 AaO. 179. 61 Lyotard 1987,2 1989, 241 ff.
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stören. Daran zu erinnern, daß das Gesetz jegliche Einsicht transzendiert.“62 An dieser Stelle stößt Lyotard auf die Zeitproblematik. Man wagt den Nazismus nicht zu denken, weil er wie ein tollwütiger Hund er schlagen wurde, durch Polizeimaßnahmen und nicht nach den Regeln, die von den Diskursarten seiner Gegner anerkannt werden (die Beweisführung des Libe ralismus, der Widerspruch des Marxismus). Er wurde nicht widerlegt. Schweigen statt eines „Resultats“. Dieses Schweigen unterbricht die Kette, die von ihnen, den Deportierten, von ihnen, der SS, bis zu uns reicht, die wir über sie spre chen.63
Gefordert wäre also ein Denken, das - ohne das Grauen zu instrumentalisieren - versucht, es zu denken ( - zu erinnern? Wer aber könnte Träger dieser Erin nerung sein?64). Es dürfte sich die Latte nicht zu hoch legen; tatsächlich darf es nicht mehr wollen als „Zeit gewinnen“.65 Die politische Klasse fährt fort, einen Diskurs gemäß der Rhetorik der Emanzi pation zu führen. Aber es gelingt ihr nicht, die Wunden zu heilen, die dem Ideal der „Moderne“ in etwa zwei Jahrhunderten Geschichte beigebracht worden sind ... Man kann allen diesen Wunden Namen geben. Wie verborgene Hindernisse bei der ungestörten Fortsetzung des Projekts der Moderne übersäen sie das Feld unseres Unbewußten. Unter dem Vorwand, dieses Projekt zu bewahren, haben die Männer und Frauen meiner Generation in Deutschland seit vierzig Jahren ihren Kindern auferlegt, über das „nationalsozialistische Zwischenspiel“ zu schweigen. Dieses der Anamnese entgegengesetzte Verbot kann als Symbol für das ganze Abendland gewertet werden. Kann es einen Fortschritt ohne Anam nese geben?66
Die Anamnese - vorsichtigerer Begriff als „Erinnerung“ - würde versuchen, Zeugnis für die Gegenwart des undarstellbaren Ereignisses in der Geschichte abzulegen,67 mit der die Politik rechnen muß, von dem sie sich beunruhigen lassen muß. Hier setzt sich Lyotard, angeregt in erster Linie von Buber und Levinas, auf die Spur des jüdischen Denkens (zu der er schließlich auch in Abset zung von Heidegger, dessen „Ereignis“-Begriff er nahesteht, gelangt).68 Worum es ihm dabei geht, ist
62 AaO. 183. 63 AaO. 182. 64 „Aber Gedenken an niemanden, von nichts und für niemanden“ (aaO. 174f.) 65 AaO. 14; vgl. aaO., 299 und Lyotard 1989a, 14ff. 66 Lyotard 1987,107. 67 Lyotard 1987,2 1989, 299.
... daß der Philosoph, wenn er ausschließlich griechisch ist, die Mittel zu dieser Beunruhigung nicht hat ... Was es jedoch mit einer unbezahlbaren Schuld auf sich hat, gehört offensichtlich nicht zum griechischen Denken ... es hat zumin dest eine weitere mächtige und nicht weniger manifeste Tradition im Abendland gegeben, die christliche, die ihrerseits aus einer im Inneren einer noch älteren Tradition angefachten Revolution hervorging, der jüdischen.69
Diese Tradition müßte angerufen werden, um in der Situation „nach Au schwitz“ leben zu können. Und von jenem Zugang zur Zeit, den sie eröffnet, muß man das Denken der Postmodeme verstehen.70 Die Umsetzung dieses Paradigmas in das Feld des Politischen hat Lyotard be reits früh beschäftigt. 1979 erschien der gemeinsam mit Jean-Loup Thébaud verfaßte Gesprächsband Au juste,71 der für die praktische Dimension seines Denkens von eminenter Bedeutung ist. Bald wurde er (unter dem kongenialen Titel Ju st gaming 71) auch ins Englische übersetzt und prägte dort wesentlich die Wahrnehmung nicht nur Lyotards, sondern der neueren französischen Philo sophie überhaupt.73 Ins Deutsche wurde das Buch bislang nicht übersetzt, es findet in der Rezeption auch kaum Beachtung.74 Auch \n Au juste findet sich,
(Auschwitz) sind nicht Beiwerk, sondern essentiell“ (Welsch 1987,4 1993, 249). Bill Readings spricht von einem „tum to Judaism“ im späteren Werk Lyotards (Readings 1993, xxiii). Zur Auseinandersetzung mit Heidegger vgl. Lyotard 1988b. 69 Lyotard 1994, 168f. - In der Emphase des jüdischen Erbes des Denkens stellt sich Lyotards Haltung zum Christentum zwiespältig dar; während hier doch ein gewisses Verständnis des Christentums für das jüdische Erbe herauskommt (in der Dialektik, daß es durch Traditionen, die ständig am Rand der Häresie und der Unterdrückung waren, erst geistesgeschichtlich wirksam wurde), betont er an anderer Stelle (in Hei- degger und „die Juden “) den unüberbrückbaren Abstand zwischen Judentum und Christentum, „damit man aufhöre, uns (?) mit der Rede von einer angeblich jü disch-christlichen Tradition in den Ohren zu liegen ... Jude n“ und Christen [sind] zweierlei“ (Lyotard 1988b, 52). Vgl. dazu auch Lyotard/Gruber 1995. 70 Lyotard 1989a, 135 mit Bezug auf Derrida, Deleuze, Levinas - und wohl auch sein eigenes Denken. 71 Lyotard/Thébaud 1979. 72 Minneapolis 1985. 73 Der „angloamerikanische“ Lyotard ist mehr oder weniger Postmodem condition und Just gaming, dafür weist die Rezeption des (sehr kontinentaleuropäischen) L e diffé- rend ihre Defizite auf (vgl. Beardsworth 1992, 43). Zu Lyotards Erfahrungen mit der amerikanischen Philosophie vgl. Lyotard 1985b.
74 (Die ansonsten äußerst instruktive Arbeit von Dominique Burger [Burger 1996] gehl so weit, „Jean-Loup Thébaud“ als leicht entstelltes Anagramm von J.-F. Lyo-
hier unter ständiger Rücksicht auf Levinas,75 der Bezug zum Judentum, wenn gleich eher verstreut und wenig systematisch; vor allem auf die die Sphäre der Präskription überschreitende Verpflichtung. Lyotard interessiert hier die da durch erreichte Selbständigkeit (aber dieses Wort ist eigentlich zu schwach) des Ethischen,76 die durch die rigide Zurückweisung der Ontologie77 erreicht wird: Ce qui me frappe dans les prescriptions du judaïsme, c’est qu’en principe il n’y a ja m ás un tel discourse: la loi est présentée comme fá san t obligation, m ás elle n’est pas justifiée ... le jeu de langage de la prescription est mántenu dans son caractère pur, ... il n’est pas envahi par le discourse ontologique.78
Auch wenn hier noch vom „Sprachspiel“ die Rede ist, kann die Linie, die von hier zu den heterogenen Diskursarten im Widerstreit führt, leicht gesehen wer den. Verwirrung richtet allerdings an, daß Lyotard parallel hierzu seine Lieb lingsmetapher aus den späten 70er Jahren,79 die des Heidentums [paganisme], noch reichlich gebraucht. Also nennt er im gleichen Atemzug (oder wenigstens im selben Gespräch) das Moment des Verpflichtet-seins, der Heteronomie, „heidnisch“: „Il est essentiel au paganisme de reconnaître l’hétéronomie.“80 Diese Heteronomie meint die Unableitbarkeit der Präskription, die die Ver pflichtung des Angesprochenen aus seinem bloßen Angesprochen-sein (im Wi- derstreit wird es heißen: seiner Position als Adressat) begründet: ... quand Lévinas dit, en citant un passage du Talmud qui est matière à beaucoup de commentaires, quand il dit: „Faire, avant d’entendre, les juifs firent, et ensuite ils entendirent“, il place exactement le problème: on voit bien qu’il s’agit non pas
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tard zu interpretieren und daraus recht weitgehende Interpretationen über die Auto renschaft Lyotards anzustellen. - Thébaud war Herausgeber von L ’esp rit) Zur Bedeutung von „Lévinas, dessen Bücher mich zwanzig Jahre lang begleitet ha ben“ (Lyotard 1989b, 78), vgl. aus dem Widerstreit das Kapitel „Die Verpflichtung“ sowie den Levinas-Exkurs (Lyotard 1987,2 1989, 183ff.) Man darf hier nicht der Versuchung erliegen, das Ethische mit dem Politischen kurzzuschließen; vom Übergang zwischen diesen Sphären wird in Kürze die Rede sein. „Il est très évident que s’il y a une question à laquelle le judaïsme se refuse, c’est bi en celle-là“ (Lyotard/Thebaud 1979, 102f.). - Auch der Diskurs des Christentums wäre für Lyotard bereits ontologisch überformt, insofern die ethischen Weisungen als Wege zum Ewigen Leben, quasi nur mehr als hypothetische Imperative gegeben sind. Lyotard/Thebaud 1979, 124. Assoziationen zu Carl Schmitt verbieten sich an dieser Stelle aus naheliegenden Gründen. Vgl. Lyotard 1977a und 1977b. Lyotard/Thébaud 1979, 70.
d’abord d’entendre, il s’agit d’abord d’agir à partir de cette obligation qui émane du simple fait qu’on me parle, que tu me parles, et puis, seuelement après, d ’essayer de comprendre ce qui a été reçu.81
Das Faktum der Verpflichtung (Ebene der Norm82) ist dem Inhalt der Ver pflichtung (Ebene der Präskiiption), der sich nur performativ im Befolgen der Norm erschließt, vorgängig. In diesem Prozeß ist das eigentliche Feld des „Po litischen“ und seine diskursive Erschließung situiert; die Normadvität bleibt in diesem Sinne unbegründet. „Ein Satz ist verpflichtend, wenn sein Empfänger verpflichtet ist. Warum er verpflichtet ist - er mag glauben, daß er es erklären kann“ , 83 so Lyotard, aber seine Erklärungen können dieses Faktum nicht ein holen. Das Problem der Rechtmäßigkeit einer Präskripdon bedeutet im Feld des Poli tischen die Frage nach dem gerechten Urteil. Sie ist auf diesen Prämissen offen sichtlich unentscheidbar, da in der Entscheidungssituation verschiedene (bzw. verschiedenartige) Geltungsansprüche konkurrieren. Sie widerlegen bereits ei nen postulierten sensus communis, auf dessen Basis ein gerechtes Urteil gefällt werden könnte. An dieser Stelle interveniert Thébaud: „Pourtant on juge bien, il doit bien avoir un sensus communis .“ Lyotard entgegnet: „Non. On juge sans critère.“84 Die Vorstellung eines Urteils ohne Kriterium widerspricht zunächst dem gängigen Begriff des Urteils als regelgeleiteter Entscheidung (von der sich Thébaud im weiteren Verlauf nicht scheint freimachen zu können), ist aber als ästhetisches Urteil der Schlüssel zum Verständnis der modernen Kunst, ihrem experimentellem (nicht nur innovativen) Charakter.85 Diese Situation der Not wendigkeit des Urteils ist über den Bereich der Ästhetik hinaus das Paradigma der Postmodeme (die in Au juste noch die „wahre Moderne“ bzw. eben an manchen Stellen die „heidnische Moderne“ gemäß dem Impuls der Selbstüber schreitung ist):
81 AaO. 80; Hervorhebungen von mir. An dieser Stelle stockt offensichtlich auch Thebaud und wirft ein, daß die heidnischen Götter nicht sprächen; Lyotard geht darüber hinweg mit dem Hinweis, daß auch der jüdische Gott nicht spreche, son dern Zeichen setze [signifier ]. 82 Zu Norm und Präskription vgl. Lyotard 1987,2 1989, 170 83 AaO. 184. Auch eine Selbstverpflichtung ist nur im Präskriptiven und nicht im normativen Sinn möglich. „Nicht weil man frei ist, weil dein Gesetz mein Gesetz ist, ist man verpflichtet, sondern weil deine Forderung nicht mein Gesetz ist, weil man den anderen erleidet“ (aaO. 191). Jede präskriptiv bewährte Norm bezeugt letztlich eine ursprüngliche Heteronomie. 84 Lyotard/Theba ud 1979, 30. 83 1)azu grundlegend Lyotard 1993a.
Quand je parle de paganisme, ce n’est pas un concept, c’est un nom, qui n’est ni plus ni moins mauvais que d’autres, pour désigner précisément une situation dans laquelle on juge, et on juge, non seulement en matière de vérité, mais aussi en matière de beauté (d’efficacité esthétique), et aussi en matière de justice, c’està-dire de politique et d’ethique, sans critères. C ’est cela que je veux dire par „pagansime“.86
Der Widerstand gegen diese Konzeption ist Lyotards Vermutungen zufolge in erster Linie durch die Angst motiviert, einer möglichen Widersprüchlichkeit in den Urteilen Tür und Tor zu öffnen. Er hält diese Sorge für unbegründet, oder genauer: er wäre damit zutiefst einverstanden. Hat man die irreduzible Vielfalt der Sprachfamilien bzw. der Inseln des Archipels akzeptiert, kann man auch zugeben: „Auf dieser oder jener Insel macht der Widerspmch Sinn. Daß aber das Ethische widersprüchlich sein kann, dafür gibt es tausend Beispiele. Zum Beispiel im Leben der Heiligen. Und? Was macht das?“ 87 Die wirklichen Gefah ren für Politik und Ethik hegen anderswo: in der Banalität dessen, was Gegen stand des Konsenses werden kann. In diesen Urteilen zeigt sich eine Bewegung der Selbstüberschreitung an, die im Widerstand gegen geschehenes Unrecht die Unableitbarkeit der ethischen Norm wieder herzustellen sucht. Die Überschreitung ist die Gerechtigkeit, die angezeigt wird durch das Gefühl [sentiment] des Unrechts;88 aber diese Trans 86 Lyotard/Thébaud 1979, 31. 87 Lyotard/Bedorf/Keicher 1995, 59. 88 AaO. 133; Im Widerstreit zeigt das „Gefühl“ das Vorliegen eines Widerstreits an, Lyotard 1987,2 1989, 33. - „Gefühl“ als Ausdruck einer vorbewußten Spontaneität ist natürlich eine heikle Kategorie; sie markiert als „Zeichen“ das andere Ende des Raumes, aus dem Transzendenz sich ereignen kann. Das Gefühl markiert als Ge schehen zwischen „ich“ und „Körper“ (zwei wesenlose Konstrukte) die untere Grenze der Realität (so in etwas könnte man die Körperparagraphen“ des Wider- streit lesen: Lyotard 1987, 2 1989, 147f.). In der Economie libidinale dominiert hin gegen die Bedeutung des Körpers, und ganz ohne diese Konnotationen wird man auch die Passagen des Widerstreit nicht verstehen dürfen. - Eine beunruhigende Koinzidenz: Adornos Reflektionen auf den Körper als Basis seiner Moraltheorie (s.o.) sind in einer Vorlesung von dem Hinweis begleitet: „Ich glaube, in der Bil dung, die wir als Studenten etwa erfahren, ist die einzige Stelle, wo wir vielleicht von diesen Dingen etwas erfahren, die Anatomie in dem Studium der Medizin; und die Art der furchtbaren Erregung, mit der bei Studenten des ersten Semesters diese Zone besetzt ist, - das alles scheint eben darauf hinzudeuten, daß es da eigentlich steckt, und daß alles darauf ankäme, daß wir uns der zivilisatorischen Verblen dungsmechanismen entäußem, die dieser Sphäre immer wieder uns verhüllen. Es ist ja beinahe so, als ob die Philosophie - und zwar große, die tiefe, die konstruktive
zendenz ist leer. Das macht den Akt des Transzendierens zu einem heiklen, in höchstem Maß falliblen Vorgang. Das Gelingen des Versuchs, Gerechtigkeit wiederherzustellen, wird durch keine externe Instanz verbürgt, schon gar nicht durch die Geschichte. Dennoch Hegt in ihm die Möglichkeit der Kommunikati on des Gerechten: nicht im Fluchtpunkt der (idealen) Gemeinschaft, die von allen Anstrengungen angezielt wird, sondern als Ort der Erfahrung der Diffe renz, die die Einheit sprengt. „Les Américains étaient en train de faire au Viet nam, ou les Français de faire en Algérie [und in besonderem Maße und engültig die Deutschen in Auschwitz], justement quelque chose qui interdit que le tout des êtres raisonnables puisse persister ,“89 Ihre Handlungen haben die Grundlagen der Gerechtigkeit zerstört; nur im Überschreiten der Gerechtigkeit können sie wiederhergestellt werden.90 Diese Grundlagen, eine „Ethik des .arriv e-t-il?“91 wären nur aus der Offenheit für die Präskription des Anderen [L ’Autre], die sich im Anspruch des anderen [l’autre] konkretisiert, zu haben; dieses Verhält nis ist der Spielraum der Ethik. Unschwer erkennt man den Gedanken Levinas’ wieder, gebrochen allerdings durch die Emphase seiner unvollkommenen sprachlichen Vermittlung, die als Resultat nur zuläßt: „C’est à voir à chaque fois.“« Keiner dieser Fälle wird sich in der Transzendenz häuslich einrichten können, die gerechte Gesellschaft nie (mehr) erreicht werden können nach dem, was ge schehen ist. Trotzdem gibt es das benennbare Unrecht. Ungerecht ist das, was verhindert, die Frage nach der Gerechtigkeit zu stellen, die „Pragmatik der Ver pflichtung“ [pragmatique de l ’obligation] zerstört. Voilà ce qui est unjuste, non pas le contraire du juste, mais ce qui interdit qur la question du juste et de l ’injuste soit et reste posée. Alors évidemment toute Ter-
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wo Aas, Gestank und Fäulnis ist“ (Adorno 1998a, 183f.) Der Beginn der Economie libidinale scheint sich alle Mühe zu geben, dem Leser genau diese Erfahrung litera risch spüren zu lassen: Mehrere Seiten hat er das hypnoide Gefühl, Zeuge einer Sektion, vielleicht einer Vivisektion zu sein (Lyotard 1984, llff.). Lyotard/Thebaud 1979, 134; Hervorhebung von mir. Daraus ergibt sich bei Lyotard eine gewisse Sympathie für revolutionäre Bewegun gen, deren Aufkommen auch dort, wo es sich - wie etwa bei der RAF - um terrori stische, keinesfalls zu legitimierende Gruppen handelt, primär ein Problem anzeigt, das außerhalb des gängigen (herrschenden“) Rechtfertigungsdiskurses angegangen werden muß. Lyotard/Bedorf/Keicher 1995, 71. Lyotard/Thebaud 1979, 187. - Hier wird diese Postion als „chassidisch“ bezeich net.
reur, l’anéantissement, le massacre, etc., ou leur menace, par définition sont inju stes.93
„Per Definition“ bedeutet nicht die Festlegung eines also-doch-Kriteriums, sondern die im Sinne von Lyotards Gerechtigkeitsbegriff .transzendentale* Be dingung der „Pragmatik der Verpflichtung“ .94 Das gilt keineswegs nur für den .herrschenden Diskurs*, sondern ebenso für den Protest gegen ihn. Es erlaubt schließlich auch die Beurteilung des Terrorismus als solchen (in Abgrenzung zum der Differenz verpflichteten Widerstand). Es umfaßt jede Form der Un terbrechung des gemeinschaftlichen Lebenszusammenhanges {rupture du lien social]: „l’intemement, le chômage, la répression, la famine, tout ce qu’on vou dra“.95 In der Rhetorik der 70er Jahre nennt Lyotard das alles „Tod“; die Per spektive des Widerstreits klingt hier leiser und beschränkt sich auf das Sprachereignis, indem sie den Protest gegen eine totalitäre Politik wie den terroristi schen Kampf dagegen zusammenfaßt: Darum kann für die Politiker der Spieleinsatz nicht im Guten, sondern nur im kleinsten Übel bestehen. Oder, wenn man das vorzieht: das kleinste Übel müßte das politisch Gute sein. Unter Übel verstehe ich (und man kann nichts anderes darunter verstehen): das Verbot jederzeit möglicher Sätze, einen Argwohn gegen das Vorkommnis, die Geringschätzung des Seins.96
Die gemeinsame politische Anstrengung wäre der Kampf gegen das Vergessen der Unableitbarkeit dieser „Pragmatik der Verpflichtung“. Er fordert nicht nur zur Toleranz, sondern zur Solidarität all derer, die sich um die Erhaltung der Pluralität des Feldes des Politischen bemühen.97
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AaO. 128f; Hervorhebung von mir. AaO. 128. AaO. 188. Lyotard 1987,2 1989, 234. - Übrigens ist das die einzige Stelle des Buches, die den Begriff des Seins verwendet. Es müßte, so Lyotard später, natürlich „Ereignis (ar- rivetil f)" heißen (Lyotard/Bedorf/Keicher 1995, 79). 97 Smart 1998, 57.
5. Elemente einer anamnetischen Ethik Das Konzept der anamnetischen Vernunft schreibt sich in die Tradition der von Kant begründeten Linie des Primats der praktischen Vernunft ein.1Indem sie das Vermögen der Vernunft mit der (realen, nicht spekulativ konstruierten) Freiheitsgeschichte der Menschheit verbindet, kommt sie zugleich dazu, aus de ren Vollzug die Architektonik der klassischen Vemunfttheorie, die das Vermö gen der theoretischen und der praktischen Vernunft streng voneinander ab grenzt, zu hinterfragen. Über die Idee hinaus, daß die Erfahrungen bzw. Widerfahmisse der praktischen Vernunft die Postulate der theoretischen validieren könnten, stellt sie die aufgeklärte Neufassung des Vemunftbegriffs in Frage: Die Aufklärung „entfaltet ihr praktisches Vemunftverständnis als Kritik an au toritären und freiheitsgefährdenden gesellschaftlichen Kontexten, ohne freilich - wie es scheint - ihre eigene Kontextualisierung im europäischen Zusammen hang hinreichend mitreflektiert zu haben. So mußte ihr Anspruch, Vemunftuniversalität vor allem als Freiheit auch für andere zu verdeutlichen, seltsamer weise dadurch aporetisch werden, daß sie ihn mit einer geschichtslosen und er innerungsunwilligen Vernunft zu begreifen suchte.“2 Demgegenüber will die anamnetische Vernunft das „Interesse, daß ihr Praktischwerden leitet“,3 selbst noch im Modus der memoria kommunikativ halten und so die Erinnerung als eigentliches „Organon der Universalität“ einsichtig machen. So hat sich von unterschiedlichen Seiten her eine Diskussion um das Konzept einer „anamnetischen Ethik“ entwickelt, die versucht, sich an die Aporien der Situation der Moderne „nach Auschwitz“ zu heften und diese Aporien über den Begriff der Erinnerung praktisch kommunikabel zu machen.4 Es gehört zu den Grundoptionen der Politischen Theologie, daß dieser Versuch nicht im
1 Vgl. Metz 1977,51992, 65f. 2 Reikerstorfer 1996, 23. 3 Metz 1973a, 394; Metz 1977.51992,188. 4 Vgl. Rottländer 1993; Lenzen 1995, v.a. 175ff., und Lenzen 1997; Liebsch 1997a; Lcsch 1999; Lienkamp 1999; Manemann 1999.
Gegensatz zum Projekt der Moderne stehen muß, sondern als relecture dieses Prozesses Teil einer „Aufklärung der Aufklärung“ (W. Oelmüller) sein und sich nur in diesem Rahmen geschichtlich-gesellschaftlich artikulieren kann. In die sem Sinn wird sie einer Selbstinterpretation der Moderne den Vorzug geben, die in historischer Perspektive die theoriefundierende Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft bereits unterlaufen sieht. Aus dieser Sicht wären alle intellektuellen Anstrengungen, die im Horizont der Moderne als Formulierungen ontologischen Status beanspruchen (z.B. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren), um aus ihm normativ prak tische Geltung abzuleiten, in Wirklichkeit Verweise auf eine bestimmte Praxis, die eine andere, ebenso bestimmte Praxis negiert. In den Worten Agnes Hellers: „Ihr ontologischer Charakter ist reine Fiktion. E s handelt sich um ethische und politische Prinzipien ,“5 Das Fundierungsgefälle verläuft also genau umgekehrt: Ihre Gültigkeit beziehen sie nirgendwo her als aus der konkreten Erfahrung des Übergangs von einer Form gesellschaftlicher Praxis und ihrer Reflexion zu ei ner anderen. Der Satz Alle Menschen etc. wäre dann selbst normativ nur als Erinnerung an die Leidensgeschichten, die von einer wachsenden Anzahl von Befreiungsbewegungen unter dieser Überschrift geschrieben worden sind. Zu gleich enthält er die Warnung davor, diese Praxis selbst absolut zu setzen, da die Erinnerung immer die Erinnerung an ein bestimmtes Ausgeschlossensein aus der universalen Semantik des Satzes ist.
R. Rortys Rekonstruktion der Moderne Richard Rorty plädiert besonders entschieden für ein Verständnis der Tradition der Aulklärung als einer glücklichen Fügung (als einige „erfreuliche Zufällig keiten der jüngsten Entwicklung“6), die es einer überraschend großen Anzahl von Menschen ermöglicht hat, in Würde und frei von Furcht zu leben. Sie ver dankt sich - und es ist für Rorty ein Akt moralischer Unreife, das nicht sehen zu wollen - keiner metaphysischen Geschichtsteleologie, sondern ist das durch und durch kontingente Ergebnis kollektiver Anstrengung, Solidarität und Op ferbereitschaft. Diese Sicht der Dinge ist, wie Rorty betont, dem gängigen Vo kabular der Formulierung unserer moralischen Intuitionen gegenläufig, ja gera dezu widerwärtig. Darin drückt sich ein nachvollziehbares Unbehagen aus. Denn sie bürdet der konkreten gesellschaftlichen, vor allem aber im engeren Sinn politischen Praxis einen wesentlich höheren moralischen Kredit auf, als wir ihr aus unseren alltäglichen Erfahrungen zu gewähren bereit sind. Diese Er-1
11 Heller 1995, 171. 6 Rorty 1988, 8. 106
fahrungen sind in der Regel nicht dazu angetan, in der realen Politik den einzi gen Motor zur Beförderung von Humanität zu sehen, weswegen wir sie gerne irgendwie transzendental abgestützt wissen würden. Unser Widerwille stammt aus einem Ressentiment gegen die Vorstellung, wir müßten darauf warten, daß die Starken ihre kleinen Schweinsaugen auf das Leid der Schwachen richten. Wir hoffen inständig, daß ein Stärkerer kommt und Mächtigerer kommt, der den Starken etwas antut, falls sie von sich aus nicht da zu bereit sind - wenn nicht gar ein rächender Gott oder ein zur Rache bereites Proletariat oder ein strafendes Gewissen oder zumindest die beleidigte Majestät des Kantschen Gerichtshofs der reinen praktischen Vernunft. Die inständige Hoffnung auf einen nichtkontingenten, mächtigen Verbündeten ist ... der ge meinsame Kern des Platonismus, der religiösen Vorstellung göttlicher Allmacht und der Kantschen Moralphilosophie.7
Neben der moralischen Regression, die in dieser Vorstellung liegt (bzw. in der Weigerung, ohne eine entsprechende Rückversicherung die Risken solidarischer Praxis auf sich zu nehmen), erzeugt sie eine fatale Desorienderung unserer oh nehin limiderten Kapazitäten. Denn das Einverständnis mit der Tatsache, daß keine metaphysische Instanz den Lauf und Ausgang der Geschichte verbürgt, würde uns deutlich machen, daß nicht die Entwicklung von Erkenntnisstrategi- en (deren Ergebnisse sich letztlich auf gleichermaßen uninteressante und prak tisch irrelevante Binsenweisheiten beschränken8), sondern die Entwicklung von Handlungsstrategien praktische Priorität hätte. Das hätte Folgen für die Theorie bzw. für die Plausibilität von Theorieprogrammen. Man könnte es Rorty zufol ge dann unterlassen, von einem exklusiv kognitivistischen Standpunkt aus eine Rekonstruktion unserer moralischen Intuitionen als unzureichend abzulehnen, weil sie nicht jedermann argumentativ und zweifelsfrei zum rechten Handeln zwingen kann - sei es in der Form von Einsicht in metaphysische Wahrheiten, sei es in der Form wechselseitiger Anerkennung von Geltungsansprüchen. „Es wäre besser gewesen“, so Rorty, „Platon hätte sich, wie nach ihm Aristoteles, zu der Einsicht durchringen können, daß mit Leuten wie Thrasymachos und Kallikles nicht viel anzufangen ist und man deshalb lieber verhindern sollte, daß Kinder so werden wie die beiden.“9 Diese Formulierung hinterläßt nun ein am bivalentes Gefühl; sie klingt zunächst ein wenig nach Sozialtechnologie. Aber das ist für Rorty nebensächlich. Worum es ihm primär geht, ist der Verdacht, daß die herkömmliche, an der Kategorie der Rationalität orientierte Rekon struktion moralischen Handelns das eigentliche Dilemma des Handelnden fun-
7 Rorty 1996, 163. 8
damental verfehlt. Der hochintelligente, kognitivistisch orientierte Soziopath ist nicht der eigentliche Adressat der Moraltheorie oder sollte es zumindest nicht sein. Unter dem direkten Eindruck der Greueltaten der Balkankriege schreibt Rorty: Der rationale Egoist ist gar nicht das Problem. Das Problem ist der höfliche, ehrbare Serbe, der in den Muslimen beschnittene Hunde sieht. Das Problem ist der tapfere Soldat und gute Kamerad, der seine Kameraden liebt und von ihnen geliebt wird und der die Frauen für gefährliche und böswillige Huren hält.10
Die Andeutungen laden ein, diese Liste zu vervollständigen; es geht, kurz ge faßt, um den „weitaus üblicheren Fall des Menschen, der sich gegenüber einem engen Bereich federloser Zweifüßler moralisch tadellos benimmt, aber gleich gültig bleibt gegenüber dem Leid all derer, die außerhalb dieses Bereichs stehen und ihm nur als pseudomenschliche Wesen gelten.“ 11 Es scheint keine über zeugende Form zu geben, diese Konstellation unter dem Leitfaden der Ratio nalität zu erfassen. Denn es wäre ein Anschlag auf jene erst identitätsbildenden Vorstellungen, die moralisches Handeln überhaupt ermöglichen, würde man verlangen, diese Differenz aufzuheben; es wäre geradezu eine moralische Zu- mutung, weil sie das konstitutive Vokabular der Moralischen negiert (höflich , ebrhar, tapfer, gut).
Handlungsleitend müßte also stattdessen das Bemühen werden, die Grenzen jenes Bereichs, in dem Solidarität - auch unter Opfern - und ethische Hand lungsmuster etwas selbstverständlich Praktiziertes sind, auszuweiten und in sei nen Grenzen prinzipiell unabgeschlossen zu halten; „darauf zu drängen, daß wir versuchen müssen, in unser Verständnis von ,wir‘ auch Menschen aufzu nehmen, die wir bis jetzt zu den ,sie‘ gezählt haben.“ 12 Der Weg dorthin führt nach Rorty keineswegs über den Versuch, demjenigen ein falsches Bewußtsein anzudemonstrieren, der diese Grenze nicht zu überschreiten bereit ist. Die fehlende Bereitschaft dazu scheint ihm aus zwei Quellen zu stammen: dem Mangel an Sicherheit (wobei nicht eindeutig ist, ob damit eine physische Bedro hung oder die psychische Verfaßtheit gemeint ist) und dem Mangel an Sympa- thie (auf den ich gleich zurückkommen werde). Dem wäre durch den Versuch zu begegnen, unser Wahrnehmungsvermögen über die Grenzen gegebener Er fahrungshorizonte hinaus zu richten: Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. Sie wird dadurch geschaf fen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes
und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Arten von Menschen stei gern.13
Das geschieht in erster Linie auf der narrativen Ebene, durch „jene langen, traurigen, sentimentalen Geschichten, die etwa so beginnen: Denn so mußte sie leben, fern von zu Haus und unter Fremden“ oder Denn vielleicht wird sie einmal deine Schwiegertochter sein“ oder Denn ihre Mutter würde um sie trau ern“.“14 Die Frage, ob damit nicht erst recht wieder anthropologische Konstan ten oder transzendentale Kategorien eingeführt bzw. vorausgesetzt werden müssen, ist für Rorty schlichtweg uninteressant (und es ist ein Zeichen morali schen Fortschritts, daß das Interesse an diesen Fragestellungen abnimmt15). Denn der Wahrheitswert moralischer Reflexion bemißt sich für ihn (in pragmatistischer Tradition, James und Dewey vor allem) im Ergebnis der Bemühungen um die Erzeugung von Solidarität; ihre Wahrheit ist, wie es mit William James heißt, „das Gute im Hinblick auf unsere Überzeugungen“ .16 Läuft Rorty aber nicht gerade damit auch Gefahr, die ungeheure und lähmende Traumatisierung zu unterschätzen, die unser moralisches Selbst durch die Wahrnehmung des „Schmerzes und der Demütigung anderer“ erfahren kann? Ist nicht der Blick auf das Übermaß des Leidens eben nicht mehr moralischer Ansporn zur Freisetzung von Humanität, sondern deren Negation? An einer Stelle jenes Textes, der am Höhepunkt des Balkankrieges entstanden ist, spricht Rorty mit bewunderungswürdiger Rückhaltlosigkeit aus: Wir in den sicheren, wohlhabenden Demokratien haben dieselbe Einstellung zu den serbischen Folterern und Vergewaltigern wie diese gegenüber ihren musli mischen Opfern: Sie ähneln eher Tieren als uns selbst ... Die Verachtung, die wir für Verlierer empfinden - für die Juden in den dreißiger Jahren, für die Muslime heute - verbindet sich mit unserem Ekel vor dem Verhalten der Sieger zu der halbbewußten Neigung, beiden Seiten die Pest an den Hals zu wün schen.17
An anderer Stelle schreibt Rorty zwar ebenso deutlich: „Manche Intellektuelle vor allem in Frankreich und Deutschland sind heute überzeugt, der Holocaust
13 AaO . 16.
14 Rorty 1996, 166. Ich sehe davon ab, daß diese Sätze nicht wie der Anfang, sondern das Ende verschiedener Geschichten klingen - es ist für die Argumentation auch ir relevant. 15 Vgl. aaO. 147.
16 Rorty 1988, 6. - Zu Rortys Bezugnahme auf den Pragmatismus vgl. Rorty 1981, vor allem zur sprachphilosophisch gewendeten Form Davidsons Rorty 1990.
habe gezeigt, daß die im neunzehnten Jahrhundert entstandene Hoffnung auf menschliche Freiheit veraltet ist ... Doch selbst diese Intellektuellen tun in ih ren weniger eifernden und sententiösen Augenblicken alles, um dieses Projekt voranzubringen. Und das sollten sie auch, denn noch niemand hat ein besseres vorgeschlagen.“ 18 Aber diese Interpretation wird, gerade in seiner pragmati schen Zielperspektive, den heuristischen Ansprüchen an die Krise der europäi schen Moral offensichtlich nicht gerecht. Rorty fällt hinter seine eigenen Stan dards zurück, indem er den Versuch, das Entsetzen zu verstehen, das die Kata strophe von Auschwitz auslöst, durch den Hinweis auf die Fortdauer morali scher Praxis überspielen will. Ist es doch gerade die Erfahrung der NichtTragfähigkeit, Nicht-Verläßlichkeit und auch des Nicht-Genügens dieser Pra xis, aus der die Beunruhigung stammt. Die Moderne, auch die der Rekonstruktion Rortys, kann offenbar mit den Op fern nicht umgehen. Indem wir sie aus unserem Bewußtsein eliminieren, ver stümmeln wir die eigene Fähigkeit zur Sympathie mit dem Schmerz der ande ren und berauben uns damit der moralischen Grundlagen, um deren Rettung Rorty bemüht war.
Der „Leidschatz“ der Menschheit Dem will eine anamnetische Ethik widerstehen. Es ist nicht die triumphierende Gebärde des deus ex machina, mit der die Politische Theologie hier sagt: Es gibt m.E. eine Autorität, die in allen großen Kulturen und Religionen aner kannt ist und die durch keine Autoritätskritik überholt oder widerrufen ist: die Autorität der Leidenden. Auf sie macht uns diese anamnetische Ethik aufmerk sam. Fremdes Leid zu respektieren ist danach Bedingung aller großen Kulturen und fremdes Leid zur Sprache zu bringen ist die Voraussetzung für alle univer salistischen Ansprüche.19
Es war zu zeigen, daß diese anamnetische Ethik nicht eingeführt wird, um die Probleme zu lösen, sondern um sie zu schärfen. Im Kontrast zum Optimismus Rortys über die Bemühungen, die Bedingungen humanen Daseins zu erzeugen, zwingt sie den Blick auf die wunden Stellen, die mit unseren moralischen Ge fühlen im Widerstreit liegen. Als „gefährliche Erinnerung“ gefährdet sie sich zunächst selbst, indem sie die eigene subjekthafte Integrität durch den Blick auf das Unfaßbare in Frage stellt.20 Aber wenigstens vermeidet sie es, um des Er-
18 AaO. 169 Anm. 8.
folgs der sei’s moralisch noch so gerechtfertigten Interessen eine Spaltung in das Subjekt einzuführen, die auf Dauer nicht lebbar wäre.21 Was zeigt diese Unmöglichkeit deutlicher als der Umgang mit den Opfern in den Ländern der Täter. Das Programm einer anamnetischen Ethik beginnt mit dem Anrennen gegen eine Aporie: der Unmöglichkeit des Vergessens und der gleichzeitigen Unmög lichkeit der Erinnerung. Der Imperativ „ Erinnere Dich!“ ist im Blick a u f A u - schwitz, das die Grenzen der Sprache sprengt, paradox unmöglich. Das Einge denken der Opfer kann nie erreichen, was es eigentlich möchte: ihre Reprä sentation; und es darf nicht zur bloß funktionalen Tröstung der Lebenden wer den, um ein ,Weitermachen“ zu ermöglichen. Dies wäre ein Vergessen, „das ge rade in einem Erinnern beschlossen sein könnte, das sich ganz und gar einer projektierten Zukunft unterwirft, um nur deren Geschichte zu bewahren“.22 Der Begriff der Erinnerung, um den es hier geht, kann nicht von einem Inter esse her konstruiert werden, auch wenn dieses legitim umversalisierbar wäre. Kann ein Andenken, das sinn- und zwecklos ist, aber überhaupt moralisch ge fordert werden? Vielleicht wäre es hilfreich, diese Forderung eher als ein me taethisches Prinzip dessen zu sehen, was in der ethischen Reflexion nie .verges sen“ werden darf, aus dem sich eine bestimmte (oder zumindest in gewissen Grenzen bestimmbare) Formation der ethischen Begriffe ergibt. Der Begriff der anamnetischen Ethik stellt den Anspruch an seine Gehalte, kommunikabel zu sein. Im Zusammenhang mit dem Konzept einer anamneti schen Vernunft muß ihre Vermittelbarkeit in einer bestimmten, durch dieses Konzept vorgezeichenten Weise einsehbar sein. Das Problem der intersubjektiven Vermittlung kann dabei durch den Begriff eines „sozialen“ bzw. „kulturel len Gedächtnisses“ oder einer „kollektiven Erinnerung“ von vornherein unter laufen werden. Ausgehend von der Wiederentdeckung des Werkes von Maurice Halbwachs seit den 80er Jahren und der folgenden erstaunlich breiten Rezepti on seines Konzepts in der neu erwachenden kulturwissenschaftlichen For schung sind diese Begriffe zu gängigen Termini der Diskussion geworden.23 In
21 Dieses Argument soll nicht die epistemologische Priorität des Begriffs der anamne tischen Vernunft in Frage stellen, die aber selbst bloß spekualtiv bliebe, wenn sie sich von der Reflexion auf die Bedingungen ihres Praktischwerdens völlig abschnei den würde. 22 Liebsch 1997a, 220. 23 Es ist wohl auch legitm, in der starken Fokussierung der Kulturwissenschaften auf das Problem der Erinnerung im deutschsprachigen Raum, die kein Gegenstück in den angloamerikanischen Cultural Studies hat, einen Hinweis auf die spezifische Problem- und Bewußtseinslage hierzulande zu sehen.
der theologischen Rezeption ist mit ihnen vielleicht ein wenig zu sorglos umge gangen worden. Die Zustimmung zu ihnen darf nicht über einige Schwierig keiten hinwegtäuschen, die damit verbunden sein könnten; zumindest folgende drei wären namhaft zu machen und für die weitere Reflexion zu berücksichti gen: Erstens ist der Begriff des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs her24 zu
nächst eine Funktion bestimmter Gesellschaftsformen, die primär sozialintegrativen Zwecken dient, auf die hin seine gesellschaftliche Reproduktion aus gelegt ist. Er ist ausschließlich auf auf den Standpunkt einer wirklichen und lebendi- gen gen Gmppe bezogen, weil mit ihrer Lebenswelt verknüpft“.25 Von daher ist er nur mittelbar und unter bestimmten Voraussetzungen als kritischer Begriff in Stellung zu bringen. Damit hängt zweitens zusammen, zusammen, daß es nicht ohne weite res plausibel ist, warum im Rekurs auf das kollektive Gedächtnis schon ein Po tential zur Universalisierung der doch partikular verorteten Geltungsanspüche geht. Empirische Befunde stützen das jedenfalls nicht. „Während Psychologen zuvor eine beschränkte, partikulare Sicht der Dinge für erklärungsbedürftig ge halten hatten, stellt sich jetzt heraus, daß ein universalisierender, rationaler In tellekt mindestens ebenso eine Erklärungsbedürftigkeit darstellt wie ein .lokali sierender“.“26 Dies gilt umso mehr für ein Konzept, das dem Individuum eine mehr oder weniger befriedigende Vergesellschaftung bereits verschafft hat (über die synchrone und diachrone kollektive Identität des gemeinsamen, typi scherweise rituell und institutionell abgestützten Gedenkens). Drittens , und das erscheint mir am Wichtigsten, ist aber prinzipiell fraglich, ob die Grundaporie der anamnetischen Ethik einem ungebrochenen Begriff der Erinnerung, auch dem kollektiven Gedächtnis, überhaupt zugänglich ist. Für die Situation „nach Auschwitz“ scheint vielmehr zu gelten, was Burkhard Liebsch konstatiert hat: Jedenfalls sind wir weit entfernt davon, dem kollektiven Gedächtnis eine nach wie vor ungefährdete und unschuldige geschichtliche Kontinuitätsstiftung zu schreiben zu können. Das kollektive Gedächtnis ist vielmehr mit einer Alterität konfrontiert, deren uns zugängliche Nachwirkungen nur mit Metaphern der Verwundung, der Verfolgung oder der Traumatisierung sich denken lassen. Nicht erscheint weniger selbstverständlich, als daß diese Alterität sich noch ei nem erinnernden Vergangen Ve rgangenheitsbe heitsbezug zug erschli erschließt.2 eßt.27 7
Die Grundbegriffe von Verfolgung und Träume verweisen hier einmal mehr auf Emmanuel Levinas. Bereits bei ihm bezeichnen sie nicht nur die Dringlich 24 Vgl. Ha Halb lbwa wach chss 1985. 25 J. Assman Ass mann n 21997, 2 1997, 39; Hervorhebungen Hervorhebunge n von vo n mir. mir. 26 Br
1998, 1998, 50.
keit des Moralischen, sondern auch seine Aporie. Elisabeth Weber hat beson ders herausgearbeitet, wie in seinem Denken „Wiederholung und Notwendig keit der Wiederholung des Unwiederholbaren“ im Mittelpunkt stehen, aber ge rade Aufgrund der traumatischen Struktur seiner Erfahrung nicht repräsentier bar sind: „Das Trauma verhindert selbst seine Vergegenwärtigung, seine Vor stellung.“28 Der Akt der Traumatisierung selbst ist nicht repräsentierbar, denn als dieser Akt ist er eine „Unterbrechung des Logos“, die uneinholbar bleibt.29 Die Erinnerung sieht sich damit auf die Spuren verwiesen, die dieses Ereignis sen hinterlassen hat und die von „Verfolgung und Verwundung“ zeugen; sie sollte aber damit rechnen, daß sie nur indirekt und mit hohem hermeneutischen Aufwand zu erschließen sind. Bereits die zeitgenössische Kritik (u.a. Marc Bloch) warf Halbwachs seine viel leicht etwas naive Übertragung individueller psychologischer Kategorien auf Kollektive vor.303 vor.301Daß 31Daß aber das Trauma als solches nicht repräsentierbar ist, gilt für das Individuum ebenso wie für das Kollektiv - darauf hat unabhängig von Halbwachs und ebenso wie dieser schon in den 20er Jahren vom Standpunkt der Kulturgeschichte her Aby Warburg hingewiesen. „Orgiastische ebenso wie traumatische Erfahrungen aber, das ist eine Einsicht, die er [Warburg] mit Freud teilte und auf die Kultur übertrug, können vom betroffenen Kollektiv werden. Sie gehen ins kollektive Unbewußte ein ... weder erinnert noch vergessen werden. Dieses Menschheitsgedächtnis nannte Warburg den , Leidschatz der Mensch- heit'.“21 Er ist - für Warburg und die an ihn anschließende kulturwissenschaftli che Perspektive - am ehesten der Kunst Kun st zugänglich; zugänglich; innerha innerhalb lb der kunsttheo retischen Diskurse hat er für die Auseinandersetzung mit der Katastrophe von Auschwitz Bedeutung gewonnen.32 Seine Versprachlichung ist jedenfalls heikel. Denn gerade im Medium der Sprache ist die Darstellung des Nichtrepräsentier baren eine fast unlösbare Aufgabe.33
28 29 30 31
Webe We berr 19 1990, 90, 106. Vgl. Vgl . ebd. und un d aaO. aaO . 141. Vgl. Straub Strau b 1 99 998, 8,97f. 97f. A. Assmann 19 1999 99,, 372: 372: Hervorhebungen Hervorhebungen von mir. mir. Zu Warburg Warburg vgl. Brede Brede-kamp/Diers/Schoell-Glas 1991; Gombrich 1992. 32 Vg). A. As Assm sman ann n 1999, 375-382. 33 Dieser Dies er Aspekt Aspek t war übrigens schon dem Nachdenken Nachde nken Augustinus’ Augusti nus’ über die mavona bewußt: vgl. I'erretti 1991, 361. 173
Imperativ Impe rativ der Compas Compassion sion A fortiori gilt dies für den Versuch einer Erinnerung der Shoah. „Weh uns!“, ruft deshalb Ehe Wiesel aus, „der Feind hat wenigstens darin gesiegt, daß er uns Dinge zugefügt hat, für die es keine Worte gibt, um darüber zu reden.“34 Er, dessen Werk der paradigmatische Versuch ist, die Erinnerung an Auschwitz ins Wort zu bringen, benutzt für diesem Satz den Indikativ. Er entspricht dem Im perativ: Auschwitz gebietet Schweigen, der das eigentliche, das ,wahre* Gebot wäre.35 In seiner im Original 1973 erschienenen Erzählung Der Schwur von Kol- villag 36 setzt Wiesel seinen Protagonisten genau einer solchen double bind- Situation aus: er ist durch einen Schwur ans Schweigen gebunden; indem er aber sein Schweigen bricht, hätte er die Chance, Leben zu retten. Das Schwei gen an die Sprache zu verraten, ist der einzige Ausweg. So kommentiert S.D. Breslauer anhand der Situation, in der sich Wiesels Figur befindet, die Situation der Sprache schlechthin „nach Auschwitz“: „He chooses to betray silence through speech. That is the lesson modem Jewish moralists draw. The price demande dem andedd by silenc silencee is too high high ... a Jewish Jew ish morality must learn to speak even at the risk of not saying enough or of saying too much. Even the legacy of the Shoah stands between the morality of silence and the necessary betrayal of of spe ech.“^ Das macht die melancholische Grundierung des Projekts einer anamnetischen Ethik aus. „Wo der Davongekommene noch Worte findet und ihnen zutraut, das Ohr des Anderen zu erreichen, da geschieht dies nicht im vollen Vertrauen auf die Sprache, auf die Erzählung, sondern trotz tiefen Mißtrauens in ihre Kraft, im Wissen, daß es keinen anderen Weg gibt.“38 Das Gegenstück zu die ser Melancholie scheint mir eine gewisse nervöse, u.U. hypersensible Scheu zu sein, die die Praxis bestimmt. Sie führt, wie sich vielleicht überraschenderweise bei Adorno gezeigt hat, zur Wahrnehmung des Körpers als basalem Feld von
’4 Wiesel 1987, 109. - Lawrence Langer hat in seiner eindrucksvollen Studie mit dem Titel Holocaust Ho locaust Testi Testimonie monies. s. The R uins uin s o f Memory Memory die Unmöglichkeit des Zeugnis ses selbst bei den Überlebenden dokumentiert. Dies ist auch der Standpunkt Adornos, der über Beckett schreibt er habe „auf die Situation des Konzentrationslagers, die er nicht nennt, als läge über ihr ein Bilder verbot, so reagiert, wie es allein ansteht“ (Adorno 1966, 373).
Praxis. Elaine Scarry hat sich in ihrer großen Untersuchung The Body in P ain 39 eindringlich mit der Möglichkeit der dauerhaften Repräsentation der Erfahrung der Negation des Körpers als politischem Akt, in Folter und Konzentrationsla ger, beschäftigt. Sie weist darauf hin, daß das sprachliche Zeichen dieser Reprä sentation „durch ein hohes Maß an Instabilität ausgezeichnet ist“. Es gehöre „zu den wichtigsten Aufgaben der Zivilisation ..., dieses elementare Zeichen zu stabilisieren ,“404 1Die Praxis einer anamnetischen Ethik müßte darauf abzielen, den Körper zum Medium dieser Erinnerung zu machend ihn als das „G e - schichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, Prognostiken) “42 zu ver- stehen. Jedenfalls kann sie ohne ihn wohl nicht auskommen. Der ethische Dis kurs müßte auf dem Versuch aufbauen, Plausibilität dafür herzustellen, aus der Perspektive der Verwundbarkeit des Körpers - des anderen Körpers, des Kör pers des Anderen - zu denken. Dabei mag sich heraussteilen, daß Rortys Ziel perspektive zutreffend ist: „die Erkenntnis, daß uns die Verletzbarkeit durch Demütigungen gemeinsam ist, sei das einzige soziale Band, daß wir brauchen.“43 Zweifellos ist es allen Menschen gemeinsam, einen Körper zu haben, und zwei fellos ist die Erfahrung dieses Körpers weniger abstrakt als diejenige, Teil „der Menschheit“ zu sein. Von daher hat die Forderung nach dem Respekt für die „Autorität der Leidenden“, die Metz als das Universalisierungsprinzip der anamnetischen Vernunft exponiert, ihr Fundament.44 In ihr scheint sich die Möglichkeit einer nicht verstellenden Wahrnehmung von Alterität abzuzeich nen, die Raum für gemeinsames, authentisches Handeln eröffnet.45 So wäre die Sprache einer anamnetischen Ethik der Versuch der Achtsamkeit für das Leiden der anderen. Wenn Metz gegenüber Habermas unbeirrt die Fra ge stellt, „ob es denn so ausgemacht sei, daß der Ursinn der menschlichen
39 Dt. Scany 1985. 40 AaO. 25; Hervorhebung von mir. 41 Nur andeutungsweise kann hier auf eine jüngere Diskussion innerhalb des Juden tums hingewiesen werden, die den Körper als Medium der Erinnerung begreifen will. Howard Eilberg-Schwartz hat die Formel geprägt, gerade das Judentum sei nicht nur als People o f the Book, sondern ebenso ursprünglich als People o f the Body zu verstehen. S. dazu seinen sowie die diesen Topos entfaltenden Beiträge in Eil berg-Schwartz 1992; vgl. auch Wyschogrod 1990; Breslauer 1998, 53ff. 42 Kant, Streit der Fakultäten, AA Bd. 7 S. 84; vgl. die Ausführungen im LyotardExkurs. 43 Rorty 1989,156. 44 Vgl. dazu schon sehr früh Metz 1973a, 340; weiters sind besonders wichtig: Metz 1979a, 122; Metz 1980, passim; Metz 1989h, 737; Metz 1994b, 87 u.v.m. 43 Vgl. dazu Gabriel 1998, 116ff.; dort weitere Zitate.
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Sprache die Verständigung sei und nicht vielleicht doch - der Schrei“46 klagt er diese vergessene Dimension kommunikativer Sprachpraxis ein. Noch einmal mit Rorty kann man ihren Imperativ formulieren: „nimm wahr, was einer tut, und hör vor allem zu, was andere Menschen sagen. Denn es kann sich dabei zeigen, und es zeigt sich sehr oft dabei, daß diese Menschen versuchen, dir zu sagen, daß sie leiden.“47 Nicht nur die Stimme der Vernunft, auch die der Klage ist meist leise, und sie zu überhören, wäre fatal. In den Worten von Metz könnte man das den „Imperativ der Ccmpassion “48 nennen: „fremdes Leid wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen ".49 Eine dis kursiv verfaßte Rationalität wird diesen Imperativ rational nicht begründen können; eine anamnetisch verfaßte Rationalität wird auf die Forderung nach einer rationalen Begründung darauf verweisen, daß uns „weniger die Gedanken fehlen als die Augen, die zunächst einmal sehen lernen und sehen lehren, was unbedingt ... bedacht sein will“.50 Diejenige Leerstelle, die sich die Politische Theologie hartnäckig auszufüllen weigert und die der paradoxe Imperativ der Erinnerung markiert, zwingt zu diesem Sehen. Nur die Anerkennung der Un- ahleitbarkeit dieser Verpflichtung wird dem Bewußtsein der Bedeutung dieser Erinnerung gerecht.
1997b, 211. vgl. ebd. 1997f; Hervorh ebung vo n mir. 49 Ebd; Hervorhebung von mir